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]]> H. v. Sybel über die Gesetze des historischen Wissens. Bonn, 1864. Max Cohen
und Söhne.
Die vorstehende kleine Schrift unseres Historikers, ursprünglich eine
Festrede am Geburtstage. Friedrich Wilhelms des Dritten, in der Aula zu
Bonn gehalten, zeichnet in glänzender Form und mit sicherer Hand die Grenz¬
linien, innerhalb deren auf dem Gebiete der Geschichte die Möglichkeit sicherer
objectiver Erkenntniß gegeben ist. Im Anschlusse an sie hat es sicherlich
ein Interesse, uns nach jenen „angeblichen Thatsachen, welche die Forschung
als irrige Annahmen früheren Halbwissens über Bord geworfen hat" (S. 3.)
näher umzusehen.
Zu diesem Zweck wird uns vergönnt sein, den zahlreichen Beispielen,
welche jene Schrift enthält, noch eine Reihe anderer hinzuzufügen. Freilich ist
die Zahl des hier zu Erwähnenden so groß, daß trotz der Beschränkung auf
Mittelalter und Neuzeit, um nicht bei einer bloßen dürren Nomenclatur stehen
zu bleiben, nur die wichtigeren dieser discreditirten Geschichten hervorgehoben
werden konnten. Zugleich soll schon die Bezeichnung disereditirte Geschichten
d. h. solche, welche früher einmal den Credit wirklicher Thatsachen gehabt
haben, diejenigen Erzählungen ausschließen, welch? einen sagen- oder legenden¬
haften Charakter so deutlich an der Stirn tragen, daß die Kritik mit ihnen zu
verhandeln nicht nöthig hat.
Daß der Gründer des atheniensischen Staates Theseus ein fabelhaftes Un-
gethüm, den Minotaurus. im Labyrinth zu Kreta erlegt, daß in der Schlacht
am See Regillus die Götter Castor und Pollux auf weißen Rossen herbeigeeilt
seien, um den Römern Beistand zu leisten, so etwas hat die Wissenschaft nicht
nöthig zu bekämpfen, ebenso wenig wie die Legende von der heiligen Elisabeth,
welche gegen das Verbot ihres Gemahls im Schoße ihres Gewandes den
Armen Speise trägt, von diesem überrascht und dieselben für Rosen ausgiebt,
worauf ein Wunder, die Unwahrheit rechtfertigt und, die Speise in Rosen ver-
wandelt.
Aber auch in Fällen, wo ein directer Widerstreit mit den Naturgesehen
nicht vorlag, war doch oft die innere UnWahrscheinlichkeit zu groß, als daß
solche Erzählungen jemals den Credit wirklicher Thatsachen hätten erlangen
können und z. B. die Abstammung der alten Franken von den Trojanern, die
Gründung von Kloster Leubus durch die Schwestern Julius Cäsars, die Thaten
der Helden aus der Tafelrunde des Königs Arthus hat kaum jemals jemand
zum Gegenstand historischer Ueberzeugung gemacht.
Dagegen tritt uns gleich an der Schwelle des Mittelalters eine großartige
Erdichtung entgegen, der zufolge Kaiser Konstantin bei seiner Taufe dem Papst
Sylvester den Westen. Italien und die Inseln des westlichen Meeres überlassen
habe, worauf gestützt dann am Ende des elften Jahrhunderts Papst Urban
der Zweite sich die Insel Korsika unterwarf und fast ein Jahrhundert später
Papst Hadrian der Vierte das Recht in Anspruch nahm, Irland an den König
von, England zu verschenken. Diese Fabel repräsentirt eine ganze Classe von
Erfindungen, die wir als tendenziös bezeichnen mögen, sie ward gemacht in
der unverkennbaren Absicht, der weltlichen Macht des Papstthums ein Substrat
zu gewähren, ebenso wie die unter dem Namen der pseudoisidorischen Decretalen
bekannte gleichfalls unechte Sammlung päpstlicher Decrete dies für die geistliche
Seite gethan. So werden dem Fremden noch heute im Dogenpalast zu Vene¬
dig zwei, durch den Pinsel Tintorettos verherrlichte historische Scenen gezeigt,
die Niederlage Friedrichs des Ersten zur See und dessen Demüthigung vor
Papst Alexander dem Dritten, welcher seinen Fuß auf des Kaisers Nacken
seht; die betreffenden Facta haben immer nur in der Phantasie der päpstlichen
Eiferer existirt.
Daneben mag man Erzählungen sehen, welche aus der gerade ent-
gegengeschten Strömung hervorgingen, so jene Fabel von einer Päpstin Jo¬
hanna, welche als Johann der Siebente den päpstlichen Stuhl besessen, eine
Erzählung, die mit allerlei scandalösen Einzelheiten verseht, lange geglaubt
wurde, wie ja denn noch, selbst der berühmte Leibnih in gewisser Weise
für ihre Glaubwürdigkeit in die Schranken getreten ist. Und ebendahin gehört
auch die Erzählung vom Tannhäuser, welche allerdings inS sagenhafte über¬
gehend durch ein Wunder den Stab des Papstes sich begrünen und dadurch
dessen erbarmungsloses Verdammungsurtheil zu Schanden werden läßt. Daß
serner jenen Sagen aus der Zeit der Völkerwanderung, die uns in dem Ni¬
belungenliede so großartig ausgebildet entgegentreten, nur ein verschwindend
kleiner Kern von wirklicher Geschichte zu Grunde liegt, daß die wenigen histo¬
risch erkennbaren Persönlichkeiten, z. B. der Hunnenkönig Attila (Esel) und
der Ostgothenkönig Theodorich (Dietrich von Bern) ganz umgestaltet worden
sind, und daß von den Uebrigen die historische Ueberlieferung so gut wie nichts
Weiß, braucht kaum gesagt zu werden, wenn gleich noch heutzutage im Oden-
Walde der Baum gezeigt wird, an dem Siegfried erstochen wurde. Sind doch
ebenfalls die beiden in den meisten Geschichtsbüchern aufgeführten Anführer
der Angelsachsen bei ihrem Zuge nach England, Hengist und Horsa, rein
mythische Persönlichfeiten.
Aber auch Karl der Große ist zum Helden der Sage geworden, ihn um¬
giebt ein weiter Kreis von Mythen, und vieles davon ist lange Zeit für
historische Wahrheit angesehen worden. Glaubte man doch bis in die Neuzeit
die Aufzeichnungen eines Zeitgenossen, eines Theilnehmers der Tafelrunde des
großen Königs, den Erzbischof Turpin zu besitzen, bis die Kritik das ganze
Buch als ein Machwerk des späteren Mittelalters erkannte. Jetzt freilich muß
man schon ein älteres Geschichtsbuch sich hervorsuchen, um noch die schöne Er¬
zählung zu finden, wie Karls Tochter Emma des Nachts ihren Geliebten Egin-
hard auf ihren Schultern über den Hof der kaiserlichen Pfalz trägt, damit
nicht seine Fußtapfen auf dem frisch gefallenen Schnee ihre Zusammenkunft
verrathen. Auch von Karls Zuge nach Jerusalem Pflegen wir auch nur aus
Uhlands schöner Ballade: „König Karls Meerfahrt" zu hören. Aber noch viele
neue Geschichtsbücher haben der Versuchung nicht widerstehen können, aus dem
fast unerschöpflichen Reichthum der Sage etwas hinüberzuretten in die ärmlich
bedachte Geschichte, und es mag Vielen unbekannt sein, daß z. B. von dem
großen Helden Roland kaum die Existenz eines Helden dieses Namens glaub¬
würdig überliefert ist, und daß von der Roncevalschlacht, die schon ein Dichter
des zwölften Jahrhunderts so ergreifend zu besingen wußte, die historische Kritik
nur die dürre Thatsache übriggelassen hat, daß im Jahre 778 bei einem Ueber¬
falle des fränkischen Heeres durch kriegerische Gebirgsvölker der Pyrenäen viele
angesehene Männer aus des Königs Gefolge ihren Tod gefunden haben. In
die letzte Zeit der Karolinger gehört auch noch die Sage von dem Erzbischof
Hatto, den zur Strafe seiner Grausamkeit und Hartherzigkeit die Mäuse überall
verfolgten, und der selbst, als er sich bei Bingen auf einer Insel den allen
Rheinreisenden erinnerlichen Mäusethurm hatte erbauen lassen, seinen Verfolgern
nicht zu entgehen vermochte. Die Entstehung der Sage ist nicht zu erklären,
wir kennen keinen Umstand aus Halloh Leben, an den sie sich hätte anlehnen
können. Uebrigens hat sie ihr vollkommenes Seitenstück an der polnischen
Sage von König Popiel und dem Mäusethurm im Goplosee.
Und nun weiter; wer hätte nicht von Heinrich dem Finkler oder Vogel¬
steller und zugleich dem Städtegründer gehört? In Wahrheit verdient er keinen
dieser Namen; daß er Städte gegründet, zu deren Vertheidigung darin einen
Theil des vom Lande hereingerufenen Adels mit besonderen Freiheiten angesiedelt
und so eigentlich auch das städtische Patriziat geschaffen habe, ist eine irrige
Meinung, entstanden aus dem Mißverständniß einer Stelle, welche aber nur
von der Anlegung von Burgen, nicht von Städten spricht; und daß er vom
Vogelheerde auf den Thron berufen worden sei, hat nicht mehr Glaubwürdig«
keit, als die gleichfalls im Miitelalter in Cours gesetzte Erzählung, er habe sein
Herzogthum Sachsen dem Papst geschenkt. Merkwürdig entstellt ist auch die
Geschichte Heinrichs des Vierten; doch ist es nicht die Sage, welche die
Schuld trägt, sondern die Parteileidenschaft hat hier die Geschichte vielfach ge¬
trübt. Selbst die Besseren der Chronisten jener Zeit haben sich von einer
Animosität gegen den gefurchteren Feind der Kirche nicht insoweit frei zu er¬
halten gewußt, um nicht die zahlreichen Scandalgeschichten über denselben, welche
der geschäftige Parteihaß bis zu ihnen trug, gläubig aufzunehmen, der Ge¬
schichtsschreiber unserer Tage wird ihnen allen nur in sehr beschränktem Maße
Glauben schenken.
Dagegen fand die Säge wieder die reichlichste Nahrung in den Kreuzzügen.
Wir haben es hier nicht mit den zahlreichen Fabeln zu thun, in welchen
die erregte Phantasie der Pilger und Kreuzfahrer die Wunder des Morgenlandes
ihren Landsleuten darstellte, aber auch der wirkliche Verlauf der Thatsachen,
namentlich in Betreff des ersten Kreuzzuges war schon ein Jahrhundert später
wesentlich sagenhaft umgewandelt worden. Der das große Unternehmen in
Scene gesetzt hatte, war Papst Urban der Zweite, welcher von seinem mäch¬
tigen Gegner Kaiser Heinrich schwer bedroht, eine wirklich geniale Diversion
machte, indem er, die geistige Strömung seiner Zeit richtig erfassend, sich an
die Spitze jener europäischen Bewegung stellte und sich an den Hundert¬
tausenden, welche sich um das Banner des Kreuzes schaarten, ebenso viel er¬
gebene Anhänger schuf, deren er sich auch wider seinen Gegner ganz geschickt zu
bedienen wußte. An seine Stelle nun schob man später den Eremiten Peter
von Amiens und ließ ihn durch allerlei Wunder und Visionen das Werk voll¬
führen; ebenso entzog man das Hauptverdienst an der Leitung der kriegerischen
Operationen dem schlauen und kühnen Normannenfürsten Boömund, um allen
Ruhm dem frommen Gottfried von Bouillon zuzuwenden. Und in dieser ent¬
stellten Form ist dann die Geschichte des ersten Kreuzzuges immer weiter über¬
liefert worden, so hat sie Tasso zu seinem unsterblichen Epos begeistert und
erst in neuester Zeit hat Sybel auf eine strenge Kritik der Quellen gestützt
die eigentlichen Hauptacteure wieder hervorzuziehen und ihnen die gebührende
Stelle anzuweisen vermocht.
Von jenen an die Kreuzzüge anschließenden Sagen mögen nur einige wenige
hier Erwähnung finden. Als im zwölften Jahrhundert ein innerasiatischer
Stamm, bei welchem christliche Missionäre in einem gewissen Ansehen standen,
die Türken bedrängte, verbreitete sich im Abendlande die Sage, fern im Osten
bestehe ein mächtiges christliches Reich unter dem Priester Johannes, in welchem
die Einen den Evangelisten Johannes, den Jünger, der nach des Heilands^
Worte nie sterben sollte, andere den Nachkommen eines der heiligen drei Könige
erblickten. Bald circulirte ein Brief von ihm an die Herrscher des Abend¬
landes und Papst Alexander hat wirklich eine Gesandtschaft an ihn abgesendet,
über deren Schicksale wir freilich nicht unterrichtet sind. Eng zusammen mit
den Kreuzzügen hängt auch die vielbekannte Geschichte des Grafen von Gleichen,
dem 1227 auf einer Pilgerfahrt nach dem gelobten Lande eine Türkin das
Leben und die Freiheit rettete, und der dieselbe dann mit in seine Heimath
brachte und nach einem Uebereinkommen mit seiner Gemahlin als seine zweite
Frau proclamirte, welche Bigamie dann auch wirklich der Papst zuließ. Sein
Bett und sein und seiner zwei Frauen Leichensteine wurden lange in Erfurt ge¬
zeigt. Doch ist die ganze Anekdote erst seit dem Ende des sechzehnten Jahr¬
hundert in Cours gesetzt worden. Fromme Gemüther haben mit Recht schon
immer an der Voraussetzung Anstoß genommen, daß ein Papst solche Doppel¬
ehe habe gutheißen können.
Schlesien hat bekanntlich in dem Tartareneinfall gleichsam ein Widerspiel
der Kreuzzüge erlebt, statt der sonstigen Kriegsfahrten nach dem Morgenlande
ist hier das Morgenland zu uns gekommen, und die Schlesier haben sich der
entsetzlichen Gäste sehr schwer erwehren können. Auch hier fehlt es nicht an
Sagen, die uns immer aufs Neue bald ganz unbefangen, bald mit dem Vor¬
behalt eines „es soll" oder „wie die Sage erzählt" in den Geschichtserzählungen
aufgetischt werden. Da erfahren wir von der Ermordung einer durchreisenden
tartarischen Fürstin in Neumarkt, welche dann den Rachezug ihrer Landsleute
veranlaßt, sowie, von der schrecklichen Waffe der Tartaren in der Schlacht b«i
Wahlstatt, einem Ungeheuerkopfe, dem ein erstickender Dampf entquollen sei,
welcher den Christen die Besinnung geraubt habe. Alles dies ist unglaubwürdige
Erfindung späterer Chronisten, die Säcke mit abgeschnittenen Christenohren nicht
ausgeschlossen, welche neuerdings wieder in den schlestschen Provinzialblättern
gespukt haben.
Freilich auch anderwärts pflegt man an gewissen eingebürgerten Geschichten
aller Kritik zum Trotze festzuhalten. Dies gilt z. B. von einer der zahlreichen
Erzählungen, deren Schauplatz die ehrwürdige Wartburg war. Landgraf Al¬
brecht der Entartete wollte, so heißt es, verführt durch seine arglistige Buhle,
seine Gemahlin, eine Tochter Kaiser Friedrichs des Zweiten, ermorden lassen,
doch der gedungene Mörder, ein Eselstreiber, wird von Reue erfaßt, warnt die
Landgräfin und verhilft ihr selbst zur Flucht. Beim Abschiede aber von ihren zwei
schlafenden Kindern beißt sie von Schmerz übermannt den ältesten in die Wange,
daß die Narbe und davon der Beiname ihm für immer bleibt. So vielfach
nun die Geschichte auch in Bild und Lied verherrlicht worden ist, so können
wir uns in Wahrheit doch nur freuen, daß sie nicht wahr ist und wir uns nicht
mit dem psychologischen Räthsel zu Plagen brauchen, wie es denkbar wäre, daß
eine zärtliche Mutter ihr schlafendes Kind so grausam verletzen könne.
Ein anderes psychologisches Problem stellt uns die Sage von Teils Apfel-
schuß vor, denn mehr als eine Sage ist auch dies nicht; die gleichzeitigen Chro¬
nisten, die den Freiheitskampf der Schweizer erzählen, wissen nichts davon und
erst Jahrhunderte später hat irgendein wenig gewissenhafter Annalist die nor¬
dische Sage von Palnatoke, welche die bekannte Erzählung Zug um Zug wieder¬
gibt, in schweizerisches Gewand gekleidet einzubürgern vermocht. Es mag noch
heutzutage auf einer Schweizerreise nicht überall gerathen sein, diese Ueber¬
zeugung laut werden zu lassen, doch die gebildeten Schweizer haben der Mehr¬
zahl nach schon ihren Nationalhclden fallen gelassen. Desto fester aber haben
sie einmüthig für einen anderen Helden gekämpft, jenen Winkelried, der in der
Schlacht bei Sempach mit seinem Herzblute der Freiheit eine Gasse machte,
und wirklich ist der östreichische Historiker, der auch diesen in das Reich der
Mythe verweisen wollte, unterlegen.
Fast in derselben Zeit wie Tell spielt eine an die Schlacht bei Mühldorf
anknüpfende Geschichte. Der siegreiche Kaiser Ludwig der Baier habe, so seist
es, nach der Schlacht Hunger leiden müssen, Lebensmittel seien nirgends auf¬
zutreiben gewesen, bis man endlich einen Korb mit Eiern herbeigebracht, welche
dann der Kaiser redlich mit seiner Umgebung getheilt habe, so daß auf jeden
eins gekommen sei. Das einzige dann übrige habe er seinem getreuen Feld¬
herrn Schweppermann, dem erden Sieg hauptsächlich verdankte, mit den Wor¬
ten gereicht: „jedem Mann ein El, dem braven Schweppermann aber zwei".
Die späte Entstehung der Geschichte vernichtet auch hier den Credit, der Histo¬
riker Palacky erklärt sie für eine läppische Erfindung.
Nur vorübergehend möge einer ganzen Reihe von Geschichten Erwähnung
gethan werden, welche sämmtlich darauf hinauslaufen, einem großen Manne
oder einem ganzen Herrschergeschlecht einen dunklen und niedrigen Ursprung zu¬
zuschreiben. Im Mittelalter wo die Standesunterschiede eine so tief ein¬
schneidende Bedeutung hatten, wie wir es uns jetzt kaum mehr vorstellen können
und eine nicht leicht zu überspringende Kluft den Niedriggebornen von den
Großen der Erde schied, hatte es einen eignen abenteuerlichen Reiz, einen stolz und
hoch emporgeschossenen Baum aus dem unscheinbarsten Samenkorn hervorgegangen
zu denken, und die Chronikenschreiber, welche von ihrer stillen Zelle aus
die großen Thaten der Mächtigen schilderten, verweilen mit einem gewissen
moralischen Behagen bei der Darstellung eines solchen Wechsels der Dinge,
solchen Spieles der Gegensätze, wo jemand aus den dunkelsten Tiefen zu den
höchsten Höhen des Lebens jäh emporgerissen wird. So entstanden die Sagen
von den Stammvätern des polnisch-schlesischen und des böhmischen Herrscher¬
geschlechts Piast und Przemisl. so die von der bäuerischen Abkunft des sächsischen
Herzoghauses der Billunger und des stolzen Geschlechts der Colonna in Rom
von einem durch das Finden eines Schatzes reich gewordenen Schmiede, so er-
fand man zur Erklärung des Rades im mainzer Wappen die Erzählung von
dem Wagnerssohn Willigis und machte den großen Papst Gregor den Sieben¬
ten zum Sohne eines Zimmermanns.
Aus dem fünfzehnten Jahrhundert soll nur einer Geschichte gedacht werden,
welche bis in die neueste Zeit unzählige Mal wiederholt worden ist. daß näm¬
lich die Mark Brandenburg durch ein Pfandgeschäft in den Besitz der Hohen-
zollern gekommen. Dank Riedels gründlichen Forschungen wissen wir jetzt, daß
die Sache sich doch etwas anders verhalten. Als König Sigismund zu Kose-
mitz dem Burggrafen Friedrich von Nürnberg die Mark übergab, bekannte er
allerdings demselben 400,000 Goldgulden schuldig zu sein, doch hatte er diese
Summe nie von jenem erhalten, seine Absicht war nur zu verhindern, daß nicht
z. B. im Falle seines schnellen Todes ein Nachfolger dem Burggrafen sein neues
Land, dessen Besitzergreifung weder ohne Mühe noch ohne Geldopfer möglich war,
ohne weiteres wieder abnähme. Ohne eine solche oder ähnliche Garantie -hätte
bei dem damaligen verwahrlosten Zustand der Mark sich kaum ein Verweser
derselben finden lassen, wenigstens keiner, der die Einführung geordneter Zu¬
stände sich wirklich Ernst hätte sein lassen.
Auch das Reformationszeitalter entbehrt nicht der Mythen, und aus Lu¬
thers Leben selbst heben wir, indem wir die zahlreichen, nie recht geglaubten
Erfindungen des Hasses und der Verläumdung mit Stillschweigen übergehen,
zwei Anekdoten heraus. Welcher Besucher der Wartburg hat nicht den immer
wieder aufgefrischten Fleck gesehen, der einst entstanden, als Luther das Tinten¬
faß nach dem Teufel warf, und wer erinnert sich nicht wenigstens aus den so
viel verbreiteten Kupferstichen zu Luthers Leben der Scene, wo ein Blitzstrahl
an Luthers Seite seinen Freund Alcxius todt niederstreckte? Die Geschichte von
der Vision ist durch nichts verbürgt, und die letztere reducirt sich darauf, daß
der plötzliche Tod eines Freundes, der jedoch weder Alexius hieß noch vom
Blitze erschlagen wurde, einen nachhaltigen und tiefen Eindruck auf Luther ge¬
macht hat.
In der neueren Zeit haben weniger die Sagen, obwohl solche zu allen
Zeiten sich bilden, der historischen Kritik zu thun gemacht, als die Neigung der
Chronisten und namentlich der Memoirenschreiber, die Situationen epigramma¬
tisch oder wenigstens pikant zuzuspitzen, eine Kunst, in der bekanntlich die Fran¬
zosen excelliren. Wie oft sind da nicht Ursachen und Wirkungen auf eine wohl
frappante, aber keineswegs wahrheitsgetreue Art nebeneinandergestellt und wie
viele schöne Aussprüche erzählt worden, welche ganz wohl an der betreffenden
Stelle hätten gethan werden können, wenn nämlich wirklich ein ernster kritischer
Moment dem Menschen nur auch immer ein treffendes bon mot auf die Lip¬
pen legte.
Wer kennt nicht wenigstens aus dem hübschen scribeschen Lustspiele die
wunderbaren Wirkungen des Glases Wasser, welches die Herzogin Marlborough
aus das Kleid der Königin Anna vergoß? Ueber die Schicksale Europas, über
das Wohl und Wehe von Millionen, über den Ausgang eines langjährigen
blutigen Krieges sollte dasselbe entschieden haben, nicht blos nach der Darstellung
des französischen Lustspieldichters, sondern auch nach der mancher Historiker, z. B.
nach Voltaires, welche in solcher abgeschmackten Kleinigkeit einen Schlüssel für
den damaligen Umschwung in der englischen Politik suchen, statt in der großen
Thatsache des Todes Kaiser Josephs des Ersten, worauf England, um nicht
auf dem Haupte des letzten Habsburgers die Kronen von Deutschland und Spa>
rien vereinigt zu sehen, sich wieder mehr Frankreich näherte.
Auch die weltbekannte Geschichte vom El des Kolumbus existirte lange
schon vor der Entdeckung Amerikas, und die witzige Wendung Molieres, mit
welcher er seinem Publikum das Verbot des Tartüffe angezeigt haben soll: „Der
Herr Präsident will nicht, daß man ihn auf die Bühne bringe," kann vielleicht
in engerem Kreise gesprochen worden sein, aber vor dem Theaterpublikum be¬
stimmt nicht, so wenig wie Ludwig der Dreizehnte sein berühmtes Wort l'^tat,
e'est owl in einer Parlamentssitzung des Jahres 1666 gesprochen hat. Ebenso
wird der Ausruf des von der Inquisition zum Widerruf seiner Ansichten über
die Drehung der Erde gezwungenen Galilei: „e xur si muovs — und sie be¬
wegt sich doch" mit gutem Grunde bezweifelt; nicht minder auch jene Abstim>
mung des Abb6 Sieyes bei der Verurteilung Ludwigs des Sechzehnten mit
den kurzen Worten la mort sans xlrrasg. Das stolze Wort des Führers der
alten Garde in der Schlacht bei Belle-Alliance: die Garde stirbt, doch sie er¬
giebt sich nicht, ist gleichfalls vor der Kritik zu Schanden geworden, wenigstens
ist es erwiesen, daß der General, dem jenes Wort zugeschrieben wird, Cam¬
bronne, die Gefangenschaft dem Tode vorgezogen und sich dem hannoverschen
General Halkett ergeben hat.
An die glorreiche Schlacht bei Fehrbellin knüpfen sich zwei von der Poesie
und Malerei verherrlichte Erzählungen, die allbekannte von dem Opfertode des
Stallmeister Froben, welcher gewahrte, wie das glänzend weiße Schlachtroß
des Kurfürsten das Ziel der feindlichen Kugeln wurde, diesen unter einem Vor-
wande zum Tausch der Pferde bewog und gleich darauf von einer Kugel getroffen
niederstürzte. Dann die Erzählung von der Absicht des großen Kurfürsten, einen seiner
Generale, den Prinzen von Homburg, wegen eigenmächtiger Handlungsweise
zum Tode verurtheilen zu lassen, beide merkwürdigerweise ganz besonders erst
durch die Memoiren Friedrichs des Großen in der Geschichte eingebürgert.
Beide sind nicht wahr, von Froben wissen wir nichts, als daß er in der Schlacht
und zwar in nächster Nähe seines Herrn den Tod gefunden und selbst die Er¬
klärung Rankes, er habe dem Kurfürsten insofern das Leben gerettet, als die
Kugel, welche ihn niederstreckte, wenn sie nicht dieses Hinderniß getroffen, den
Kurfürsten erreicht haben würde, wird sehr fraglich, wenn wir in Schlachtberichten
lesen, daß Froben hinter seinem Herrn einherreitend getroffen wurde. Wenn
in allerjüngster Zeit eine neue Version aufgetreten ist, welche die Geschichte von
dem Pferdetausche aufrecht erhalten und dieselbe nur von Froben auf den
Leibjäger Uhle wenden will, so erscheint diese in Wahrheit noch schlechter ver¬
bürgt als die srobensche. Sie beruht auf einer Bolkstraditivn, die augenschein¬
lich jene Sage von Froben schon kannte, dieselbe That aber, wie dies bei Sagen¬
bildungen so häusig geschieht, einer anderen Person zuschrieb. Was den Prin¬
zen von Homburg anbetrifft, so finden wir in den gleichzeitigen Berichten nur
eine schwache Andeutung darüber, daß seine Verdienste in der Schlacht nicht
genug anerkannt worden seien, alles Weitere ist viel spätere Erfindung.
In dieselbe Classe pikanter Erfindungen gehört die Anekdote, welche den
Helden des achtzehnten Jahrhunderts, Friedrich den Großen, mit dem der Re¬
volutionskriege. Napoleon, in eine gewisse visionäre Verbindung setzen will. Es
war im Sommer 1769 zu Breslau, so heißt es. als ein Offizier seiner Instruc-
tion gemäß den König um 5 Uhr weckte, und sogleich von der Frage begrüßt
wurde: „Kann Er Träume deuten?" Nein, Ew. Majestät, antwortete derselbe,
und Friedrich sagte: „Nun so merk' Er sich doch den Traum, welchen ich in
dieser Nacht hatte. Mir träumte als sähe ich einen hellen Stern sich herab¬
senken auf die Erde, der mit wunderbarem überschwenglichen Lichte sie umschloß
und bedeckte, dergestalt, daß ich, umhüllt davon, durch seinen unendlichen Glanz
mich kaum hindurcharbeiten konnte." — In jener Nacht ward Napoleon gebo¬
ren. — Obwohl nun jener Offizier selbst immer als Gewährsmann angeführt
wird, so stimmen doch Ort und Zeit in keiner der Versionen richtig zusammen*).
Aus der Epoche Friedrichs des Großen sind vor Kurzem eine ganze Reihe
von Erzählungen, welche sämmtlich der Zeit nach den zwei schlesischen Kriegen
angehören, als Sagen aufgedeckt worden**), hier mögen noch einige andere ihre
Stelle finden. Wenn ich z. B. der Erzählung gedenke, dem jungen Friedrich
habe nach seinem Fluchtversuch hauptsächlich die nachdrückliche Verwendung des
Kaisers bei seinem erzürnten Vater das Leben gerettet, so thue ich es in Er¬
innerung an die Behauptung Macaulays in seinem Pamphlet über Friedrich
den Großen, der König habe gegen das Haus Oestreich die größten persönlichen
Verpflichtungen gehabt, sein Leben sei ihm durch die Verwendung desselben Fürsten
erhalten worden, dessen Tochter er geplündert habe. Noch nicht zu der Zeit,
wo der Engländer dies schrieb, aber wohl zu der, wo sein Schriftchen bei uns
verbreitet und bekannt wurde, d. h. fünfzehn Jahr später, hatte Ranke das Un¬
wahre jener Erzählung auf das schlagendste nachgewiesen, indem er zeigte, daß
Friedrich Wilhelm der Erste das den Kronprinzen freisprechende Urtheil des Kriegs¬
gerichts ohne Widerspruch entgegengenommen und nur bezüglich des Spruches
über Friedrichs Mitschuldigen Katte sich nicht einverstanden erklärt, der östrei¬
chische Gesandte aber erst einige Tage darnach das Jntercessionsschreiben des
Kaisers übergeben habe.
Auch die durch das Menzelsche Bild so bekannt gewordene Scene möge
hier erwähnt werden, wie Friedlich bei der Huldigung Schlesiens im bres-
lauer Fürstensaale 1741 das Reichsschwert vermißt hal'e, welches Schwerin
neben ihm halten sollte und statt dessen nun seinen siegreichen Degen ge¬
zogen und sich dessen bei der Ceremonie bedient habe. Die Geschichte ist die
Erfindung eines sehr unzuverlässigen Memoirenschreibers, die älteren offi-
ciellen Berichte wissen nichts davon, und Schwerin war damals gar nicht in
Breslau.
Aus neuester Zeit will ich nur noch einen charakteristischen Zug anführen.
Wir alle erinnern uns, daß im Jahre der Bewegung 1848, als das deutsche
Parlament zu Frankfurt tagte und es sich um die Wahl eines Reichsverwesers
handelte, Erzherzog Johann durch nichts so sehr empfohlen wurde, als durch
einen Toast, den er einige Jahre vorher bei festlicher Gelegenheit ausgebracht,
und dessen Sinn man damals so recht conform den herrschenden Ideen in die
Worte zusammenfaßte: Kein Oestreich, kein Preußen mehr, ein einig Deutsch¬
land nur; man kann wohl behaupten, daß Johann wesentlich aus Grund dieses
Toastes gewählt worden ist. Nun erhoben sich wohl zwar schon damals Stim¬
men, welche die richtige Wiedergabe jener Worte bezweifelten, aber der allge¬
meine Jubel übertönte die Zweifel, und der Erzherzog selbst hat, so Viel mir
bekannt ist, jene Fassung nicht desavouirt. Aber die Zweifel kehrten wieder,
und in unserer Zeit hat ein deutsches Blatt auf das Ueberzeugendste nachgewie¬
sen, der Erzherzog habe eigentlich nur auf das Zusammengehn von Oestreich
und Preußen im gemeinsamen deutschen Interesse seinen Trinkspruch ausgebracht
und in der That machten dies die begleitenden Umstände auf das Höchste wahr¬
scheinlich.
Wenn wir nur diesen einen Fall ins Auge fassen, der in unserer Zeit spielt,
wo eine Menge Ohrenzeugen jener Worte vorhanden waren, wo alle möglichen
Zeitungen unmittelbar nachher Bericht erstatteten, wenn da solche folgenschwere
Verschiebung und Veränderung möglich geworden ist, wollen wir da uns wun¬
dern, daß unsere Ueberlieferungen aus dem Mittelalter, wo ein einsamer Mönch
in seiner Klosterzelle niederschrieb, was von den großen Haupt- und Staats¬
actionen bis zu ihm drang, sehr der Kritik bedürfen? Aber freilich, die Beispiele
liegen noch viel näher. Die Zeitungen gewähren uns fortwährend das Schau-
spiel, daß der eine Tag die Angaben des vorigen demcntirt und discreditirt,
ja jeder einzelne von uns würde sich aus seinen Kreisen auf Geschichten besinnen
können, weiche vielfach wiedererzählt werden, ohne daß wir sie für wahr halten,
die edroiüque selmckllöusö, deutsch gesagt: der Klatsch, ist überall thätig und
es bat zu allen Zeiten auel an historischen Klatschgeschichten nicht gefehlt.
Man sagt es den meisten der Persönlichkeiten, welche die Gesellschaft als ge¬
wandte Erzähler lobt, nach, daß sie die Wahrheit gern mit etwas Dichtung
Versehen, daß sie ihre Geschichten ein wenig zu redigiren Pflegen, sie aufputzen
und zuspitzen. Und sollte es in der Geschichte anders sein? Bleibt ja doch selbst
beim besten Willen und der Absicht der größtmöglichster Wahrheitstreue die
Täuschung nicht ausgeschlossen, der unbedeutendste und klarste Gegenstand wird
niemals von zwei Gewährsmännern in gleicher Weise dargestellt, und derselbe
Erzähler wird, wenn er dieselbe Geschichte mehrmals erzählt, sich nicht ganz
gleich bleiben, kurz es ist. wie Sybel es ausdrückt (S. 9). psychologische That¬
sache, daß kein objectiver Thatbestand durch die Ausfassung und Darstellung
eines Menschengeistes hindurchgeht, ohne aus der Substanz dieses Geistes mehr
oder minder erhebliche Umwandlung zu erleiden.
Freilich Pflegen grade aus solchen Wahrnehmungen manche Gegner der
historischen Kritik überhaupt ihre Waffen herzunehmen. Sie sagen: eben weil
jede menschliche Ueberlieferung so sehr dem Irrthum und der Täuschung aus¬
gesetzt ist. erscheint es wenig zweckmäßig, mit so rigoroser Kritik gegen Einzel¬
nes vorzugehen, während doch das Uebrige. was ihr uns großmüthig lassen
wollt, keineswegs so fest steht, daß es nicht auch dem Zweifel erreichbar wäre.
Wo ist die Grenze — sollen wir uns Geschichten, die sich jahrhundertlang im
Bewußtsein des Volkes fest eingelebt haben, nun auf einmal rauben lassen, blos
weil einige zweifclsüchtige Kritiker finden, daß sie einige Procent mehr.von der
Unsicherheit an sich tragen, die aller menschlichen Ueberlieferung anhaftet? Und
soll die oft beklagte nivellirende Tendenz der Zeit auch auf die Geschichte aus¬
gedehnt werden, sollen auch hier alle charakteristischen individuellen Züge heraus¬
gebrochen werden, damit endlich nur der dem kahlen Verstände mundgerechte
allgemeine welthistorische Brei übrig bleibe?
Solche Einwürfe theoretisch zu widerlegen wäre hier nicht der Ort, aber
wohl darf man Thatsachen ihnen entgegenhalten und z. B. darauf aufmerksam
machen, daß, wie sehr auch sonst grade in der Geschichte die Standpunkte und
die aus ihnen abgeleiteten Urtheile differiren, doch über die Kritik der That¬
sachen in der wissenschaftlichen Welt eine merkwürdige Uebereinstimmung herrscht,
die Verbiete des unsichtbaren Areopags der öffentlichen Meinung finden hier die
vollständigste Anerkennung und ich glaube von allen den hier angeführten Ge-
schichten behaupten zu können, daß sie in den Kreisen der Wissenschaft allgemein
für rechtskräftig verurtheilt gelten, während wir andrerseits z. B. in dem an-
geführten Falle mit Winkelried Beispiele freisprechender Erkenntniß haben, die
dann nicht minder anerkannt werden. Es scheint also doch Wohl eine in der
wissenschaftlichen Welt überall empfundene und respectirte Grenzlinie vorhanden
zu sein, welche das Glaubwürdige von dem Fabelhaften scheidet. Und nicht
minder sehen wir jenen zweiten Vorwurf einer durch die Kritik hervorgebrachten
Verarmung der Geschichte thatsächlich auf das Glänzendste widerlegt. Jener
mächtige Fortschritt der Wissenschaft, welcher eben an die kritische Richtung an¬
knüpft, hat nicht nur eine gewaltige Vertiefung des Studiums, sondern auch
überall eine gradezu überraschende Vermehrung des historischen Materials her¬
beigeführt, welche an die Stelle der oft sehr schlecht unterrichteten späteren Chro¬
nisten, auf die man sich bisher verließ, eine Fülle lebendiger gleichzeitiger Zeug¬
nisse setzte.
Weniger leicht zu entkräften ist ein anderer Vorwurf, daß mit jenen Sagen
und Charakterzügen ein guter Theil Poesie aus der Geschichte verschwinde. Wir
sind ganz darauf gefaßt, daß nächstens einmal jemand die Klage um diese dis-
creditirten Sagen etwa im Tone der Götter Griechenlands von Schiller in
Verse bringt und die Worte des Dichters:
aufs Neue anwendet. Man könnte sich einen solchen Versuch als ganz wohl¬
gelungen denken, aber daß es dem Verfasser rechter Ernst damit wäre, würden
wir kaum glauben. Denn so wenig wir annehmen werden, daß Schiller im
Ernst es bedauert haben sollte, nicht mehrz in der Lage zu sein, an der
Bekränzung der Altäre der Venus Amathusia persönlich theilzunehmen, oder
dem Helios sein Morgengebet zu verrichten, ebenso wenig würden wir es für
möglich halten, daß jemand sich von dem Werk eines Ranke, Sybel. Mommsen
zu den Anekdotenfundgruben der alten Zeit, einem Bredow oder Rohheit zurück¬
sehnte. Außerdem gilt' ja das schöne Schlußwort des Schillerschen Gedichtes
auch für unseren Fall:
Auch jene aus der Geschichte verbannte Mythen sind ja nicht verloren,
sie leben ja gleichfalls gerettet im Bereiche der Dichtung, die nach wie vor
aus ihnen ihre Stoffe zu wählen vermag. Denn wahrlich, es wäre doch sehr
thöricht, sich die Freude an den uhlandschen Rolandballaden auch nur zum
kleinsten Theile durch die Erinnerung an das Unhistorische jener Stoffe beein¬
trächtigt zu denken, und ebenso wenig ist es jemandem eingefallen, eine Herab¬
setzung des Schillerschen Don Carlos darin zu erblicken, wenn neuere For-
schungen uns aus bester Quelle überzeugt haben, der spanische Infant sei
in Wahrheit eine so durch und durch verwahrloste, ungesunde, verkrüppelte
Persönlichkeit gewesen, daß selbst sein klägliches Ende kaum unsere Theilnahme
erregen kann.
Ja die Dichter haben nicht einmal nöthig, auf die historische Treue zu
verzichten, wenn sie gleich zu Stoffen jener Gattung greifen. Denn wie viel
auch in der Fabel des Schillerschen Wallenstein unhistorisch ist, so verdient doch
das ganze Werk im vollsten Sinne den Namen eines historischen, das Bild
jener schweren Zeit, welches es vor uns aufrollt, ist von ganz unübertrefflicher
Wahrheit. Wenn in Kleists Drama: „Der Prinz von Homburg" der ganze
Hergang, auf dem das Stück basirt, von der Geschichte geläugnet wird, so wird
doch auch der Historiker gegen die Schilderung des großen Kurfürsten und seiner
Umgebung wenig einzuwenden finden.
Aber wie gern wir auch zugeben, daß die Sage an sich poetischer ist, als
die Geschichte, so müßten wir es doch in der That für schweres Unrecht halten,
wollte man verlangen, daß der Historiker, der vor allem nach Wahrheit streben
soll, sich gefallsüchtig mit den Schleiern der Dichtung drappire.
Wer einen poetischen Reiz in der Geschichte sucht, der möge ihn in der
lebendigen Kraft der Darstellung finden, welche uns vergangene Zeiten in vollem
warmen Bilde wie gegenwartig vor die erschütterte Seele führt, wer aber bei
der Darstellung der römischen Parteikämpfe vor den licinischen Gesetzen in
Mommsens Meisterwerke die Anekdote des Livius vermißt, welche das gro߬
artige Ereigniß, das jene abschließt, von der kleinlichen Eitelkeit eines Weibes
ableitet, oder wer, wenn er in Sybels ergreifender Darstellung das lawinen¬
artige Anwachsen der revolutionären Bewegung in Frankreich verfolgt, über
den Mangel an poetischer Stimmung zu klagen hat und sich nach den Anek¬
doten und Bonmots umsieht, mit denen uns die französischen Darsteller jener
Epoche abzuspeisen pflegten, nun für dessen geschichtliches Bedürfniß dürften
wohl die sogenannten historischen Romane, an denen unsere Zeit so fruchtbar
ist, vollkommen ausreichen.
Wir dürfen es nicht verschweigen, daß grade 'die Meister moderner Ge¬
schichtschreibung überhaupt sich äußerst spröde gegen diese Gattung von
Anekdoten und Charakterzüge verhalten, daß sie bei weitem nicht bis an die
Grenzlinien vorzugehen Pflegen, welche die historische Kritik gezogen, und daß
eine große Anzahl von Geschichtchen. welche eigentlich nie in Untersuchung ge-
Wesen, geschweige denn verurtheilt worden sind, sichtlich gemieden werden, wie
charakteristisch sie auch sein mögen. Und doch wird schwerlich jemand unserer
modernen Geschichtschreibung den Vorwurf machen, daß sie uns ausschließlich
mit allgemeinen philosophischen Ideen abspeise. Im Gegentheil macht sich
die realistische Tendenz, welche man ja allgemein unserer Zeit zuschreibt, auch
in der Geschichte geltend, und das Streben nach durchaus concreter lebendiger
Darstellung herrscht überall.
Es liegt nun auf der Hand, daß jene sichtliche Abneigung der modernen
Historiographen gegen alles Anekdotenhafte noch einen anderen Grund hat. als
die Kritik, und wir finden denselben leicht in der veränderten Methode der
Darstellung. Die ältere Art der Charakteristik machte es sich leicht genug, sie
mahnt an jene Bilder früherer Zeiten, wo die Personen sogenannte Spruch¬
bänder an sich haben, auf denen ihre hauptsächlichsten .Aussprüche verzeich¬
net stehen, oder an Wachsfigurencabinete. wo eine Reihe historischer Per¬
sönlichkeiten in fast gespenstiger Leblosigkeit uns in die Angen springen, mit
allerlei charakteristischen Aeußerlichkeiten begabt, an welchen gleichsam mechanisch
die Erinnerung haftet. Dazu kam dann höchstens als Etiquette die Censur,
in welcher der Historiker von allgemeinem ethischen Standpunkte aus die mora¬
lische Qualität der Persönlichkeit feststellte. Ungleich schwerer, hat es jetzt der
Historiker. Von ihm verlangt man. daß er verfährt gleich dem Maler, der ein
geschichtliches Bild in großem Stile componirt, wo er neben den Haupt¬
personen zur Staffage auch noch eine Reihe anderer Persönlichkeiten braucht,
gleichsam als Objecte für jenes Thun und als Follen derselben. Grade an
ihnen, in ihren Zügen, ihrer Stellung und Haltung sucht der Beschauer den
Reflex der geschilderten Begebenheit, und die gesammte Staffage, ja selbst die
leblose Umgebung muß wesentlich mitwirken zu dem beabsichtigten Effecte leben¬
diger Charakteristik.
Für diese feinere Manier der Darstellung will sich nun die grobe Deckfarbe
der Anekdote wenig eignen, und doch ist dies Charakterisiren aus der Zeit her¬
aus keineswegs nur ein Vorrecht einzelner Viriuvsen der Geschichtschreibung,
sondern wenigstens das Streben darnach ist ein ganz allgemein anerkanntes
Princip; es wird kaum einen modernen Historiker geben, der nicht die sorgfäl¬
tigste Ausmalung des historischen Hintergrundes zu einer Hauptpflicht machte
und aus dem geistigen Leben der Zeit das Hauptmaterial für die Charakteristik
seiner Helden zu entnehmen suchte. Und nachdem ihm dies gelungen, schiebt
er gar manche jener überlieferten Charakterzüge, die einen als in ihrer Trivia¬
lität zu wenig, die anderen in ihrer anekdotischen Zuspitzung zu viel charakte-
risirend bei Seite. Es ist durch diese Veränderung in der Methode der Dar-
stellung keine geringere Revolution hervorgebracht worden, als durch die Kritik,
und wir könnten auch hier eine ganze Anzahl geschichtlicher Persönlichkeiten
aufzählen, deren Portraits in der neueren Geschichtschreibung ganz andere
Züge, eine wesentlich veränderte Physiognomie erhalten haben, als wir sie auf
älteren Bildern zu sehen gewöhnt waren.
Nachdem wir so erkannt haben, daß die beiden mächtigen Impulse, welche
die Neuzeit der Historie gegeben, beide jenen anekdotischen Charakterzügen, welche
früher die Geschichte beherrschten, dem Princip nach feindselig sind, daß die¬
selben die doppelte Gefahr bedroht, nicht nur von der Kritik bekämpft und
widerlegt, sondern auch trocken gelegt, d. h. absichtlich ignorirt und' todt¬
geschwiegen zu werden, so vermögen wir uns der Ueberzeugung nicht zu ver¬
schließen, daß sie, wie zäh auch die Volksmeinung an einzelnen derselben
festhält, doch in nicht gar langer Zeit verschwinden werden, und wir dürfen
uns nicht wundern, wenn schon die jetzt heranwachsende Generation gar vieles
als irrig und unglaubwürdig in den Schulen bezeichnen hört, was die Väter
noch als feststehende historische Wahrheit gelernt und behalten haben. Wir mö¬
gen das eben hinnehmen, wie wir es mit ansehen müssen, daß so man¬
ches andere, für das wir eine gewisse Anhänglichkeit fühlen, weil es mit aller¬
lei freundlichen Kindheitserinnerungen eng verwebt ist, von dem Rade der Zeit
in den Staub geworfen wird. Eine ruhige Vorurtheilsfreie Ueberlegung der
vielfachen Segnungen fortschreitender Entwickelung vermag bei allen solchen
Das preußische Justizministerium hält die Juristen des Staates in'Athem.
Vor etwa einem Jahre warf es die langersehnte Hypothekenvrdnung ins Volk;
die neue juristische Examenordnung und eine Zahl anderer wesentlicher Verord¬
nungen griffen, während der Zwist der drei gesetzgebenden Factoren nur küm¬
merliche Früchte der Legislatur zeitigen läßt, inzwischen rege in das Räderwerk
des Rechts und der Verwaltung ein. Jetzt, vor wenigen Tagen, trat das Gespenst
des neuen Strafproceßentwurfes in die Zimmer der erschreckten Rechtslehrer
und Praktiker und rief sie zum Urtheil. Auch dies Blatt trägt sein Votum
zum Dingplatz. Die sehr tief greifende Bedeutung gerade dieses neuen Ge¬
setzentwurfes macht den Organen der öffentlichen Meinung eine eingehende Be¬
sprechung doppelt zur Pflicht.
Der neue Entwurf trägt eine Devise auf dem Schilde seiner Einleitung,
die fast glauben läßt, die Einleitung sei theilweise schon vor dem Entwürfe
selbst abgefaßt. Denn sie athmet, wie es scheint, den Geist der Jahre 18S8
bis 1860. Nach Hinweis auf die Widersprüche der Criminalordnung und der
wichtigsten Strafproceßgesetze vom 3. Januar 1849 und 3, Mai 1852 heißt
es: „Es ist vielleicht nicht zu bedauern, daß die gesetzliche Ausbildung des Straf¬
verfahrens in so unvollkommenen Formen erfolgte. Die gerichtliche Praxis
war nun genöthigt, ihrerseits die Lösung der Aufgabe zu überneh¬
men, welche der Gesetzgeber unerfüllt gelassen hatte. Ihr fiel es jetzt zu, die
disparaten Elemente des ihren Händen übergebenen Strafproceßrechtes mit
einander in Einklang zu bringen. Diese Art und Weise der Fortentwicklung
unsres Strafproceßrechts hat den unläugbaren Vorzug gehabt, daß sie nicht aus
blos theoretischen Constructionen hervorgegangen, sondern sich allmälig, nach
Maßgabe der hervortretenden praktischen Bedürfnisse und Ersahrungen, und an
der Hand der hierdurch in ihren Gesichtspunkten erweiterten wissenschaftlichen
Erkenntniß vollzogen hat. Jetzt nach anderthalb Jahrzehnten sei es aber an
der Zeit, statt der wuchernd in die Lücken der Gesetze hineingeschobenen prak¬
tischen Entscheidungen ein harmonisch ausgeführtes Gesetz zu stellen. Es gelte
ferner, ein für die östlichen und westlichen Provinzen Preußens gleiches Straf¬
proceßrecht zu schaffen. Aus diesen Erwägungen sei der vorliegende Entwurf
entstanden, welcher kein neues Recht geben durfte noch wollte, sondern „sich
zur Richtschnur nimmt, sich, auch in der Ausführung des Einzelnen an das
Bestehende so viel als möglich anzulehnen, weil nur auf diese Weise
die mit diesem Rechtszustande verwebten Ergebnisse der Erfahrung und der
Rechtsprechung für die Gesetzgebung nutzbar gemacht werden können."
Daß die Vermuthung, die Einleitung sei verfrüht oder gar unrichtig, dem
Inhalte des Entwurfes selbst gegenüber begründet ist, wird sich aus der näheren
Betrachtung des letzteren ergeben. Diese soll sich vornehmlich auf einen Kern¬
punk! jeder und so auch der hier entworfenen neuen Strafproceßordnung er¬
strecken, auf das Schwurgericht und zwar zunächst auf dessen Kompetenz
(Zuständigkeit). Die historische Einleitung aber des Entwurfs und seine ein¬
gehende und entscheidende Beurtheilung erzwingen eine kurze historische Erörte¬
rung, welche allen folgenden Punkten der Besprechung dient.
Das Untersuchungsprincip im Strafprocesse beruht darauf, daß der
Staat schon bei der ersten Anzeige eines verübten Verbrechens, durch einen Be¬
amten, der zugleich der Untersuchungsrichter ist, jede Spur des Verbrechens und
alle Materialien zur Entdeckung des Thäters verfolgen, alle möglichen Beweis¬
quellen benutzen, alle Beweismittel gegen den Angeklagten sammeln läßt, damit
aus Grund derselben der Richter ohne eine bestimmte Anklage urtheilen könne,
welches Verbrechens jemand und in welchem Grade schuldig sei. Bei dem An-
Nageprincip dagegen werden durch einen zur Verfolgung und Durchführung
der Sache bestellten Beamten oder durch einen Privatmann die Anklagemate-
ralien gesammelt, und wenn die Anklage zugelassen ist, muß Ankläger seine Be¬
hauptungen beweisen, die Verhandlung zwischen ihm und dem Angeklagten wird
auf Grund einer bestimmten Anklage geführt, welche auch Zielpunkt der Ent¬
scheidung ist. Jedes dieser Principien bestimmt alle Theile des Verfahrens,
die Eröffnung, die Beamten, die Stellung des Inquirenten, des Beschuldigten
(Beschuldigung und Beweise werden ihm offen dargelegt oder nicht), Form und
Charakter der Verhandlung, die Ausdehnung des Verfahrens, die Urtheilsfällung.
Bei jedem Volke kommt anfangs nur der Antlageproceß vor, im Zu¬
sammenhange mit den Culturverhältnissen, den Ansichten von Strafe. Ent¬
wickelt sich mehr das öffentliche Interesse an der Verfolgung der Verbrechen,
erscheint es gefährlich, diese von der Privatanklage abhängen zu lassen, so
keimen allmälig inquisitorische Elemente im Strafverfahren. Gleichgiltigkeit,
Furcht vor Mühe, vor Kosten, vor Rache bestärken das Jnquisitionsprincip.
In England hielt es der Zwang zur Anklage fern, sodann der gleichzeitig
fungirende öffentliche Ankläger, die gute Polizei, die zur Verfolgung ge¬
gründeten öffentlichen Anstalten und Vereine. In Deutschland dagegen, wo
diese Momente nicht genügend zur Geltung kamen, gewann seit dem sechzehnten
Jahrhundert das Jnquisitionsverfahren besondere Stärke durch die Carolina,
das gewaltig durchgreifende Strafgesetz Karls des Fünften. Die Schöffen wur-
den allmälig nur Beisitzer des Richters. die Richttage dienten nur zur Verkün¬
dung des Urtheils ohne weitere Verhandlung. Mit dem langsamen Hinschwin¬
den der Folter, auf welche die Carolina gegründet war, gewann die Willkür
des einzelnen, von Geschäften überhäuften Gerichtsbeamten gefährliche Kraft;
die Processe dauerten erschrecklich lange, mit ihnen die unter dem Einflüsse der
Polizei weit geübte Untersuchungshaft; denn der Verdächtige sollte — ein Stolz
für die Kunst, oft für die List des Inquirenten — ohne physischen Folterzwang
gestehen; die Ungehorsamsstrafen, die ewige Angst des Beschuldigten, seine Wider¬
sprüche. Unwahrheiten, Widerrufe folterten ihn geistig schrecklicher, als die kör-
Perlichen Martern; die schriftlichen Verhandlungen und ihre Acten gaben nur
ein mittelbares unklares Bild, vor der Entscheidung mußten daher zeitraubende
Ergänzungen der bisherigen Verhandlungen kümmerlich aushelfen, wo das
mündliche Verfahren allein gründlich bessern konnte. Eine Vertheidigung war
ganz ausgeschlossen, oder erheblich beeinträchtigt dadurch, daß eine Anklage, also
der wichtige Angriffspunkt sehlte; der Vertheidiger hatte keinen Einfluß auf die
Benutzung der Beweismittel, ja es war ungewiß, ob die Verteidigungsschrift
vor den Richter gelangte. Die gesetzliche Beweistheorie war in feste Schranken
eingehegt, welche sie zu eng und zu weit machten.
Noch schlimmer gestaltet sich das Bild dieses Jnquisitionsprocesses, welcher
bis zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts mehr oder weniger modificirt
unser Deutschland bedrückte, dort, wo der allein die Untersuchung führende
Richter selbst das Urtheil sprach; da fehlt alle Unparteilichkeit, alle Gleichheit
zwischen Ankläger und Beklagten, der Richter und Ankläger in einer Person
muß den Proceß durchführen und den Verdächtigen verurtheilen, weil der Pro¬
ceß einmal begann.
Mitten in diese Misere, welche zumal für die Wehrlosigkeit der vielen po¬
litisch Verfolgten keines erklärenden Zusatzes bedarf, traf das Gewitter von
1848. Fort, hieß es, mit dem alten Strafproceß; wir brauchen den Anklage-
Proceß, wie er in Frankreich ist. So erklärten denn die neuen Grundrechte
und Verfassungsurtunden Deutschlands, künftig sollte der Anklageproceß gelten.
Was indeß darunter zu verstehen, darüber war man keineswegs einig, man wußte
z. B. nicht, ob der bei dem Processe fungirende Staatsanwalt den Proceß zu
einem Anklagcproceß mache, oder ihn Jnquisitionsproceß bleiben lasse. Beson¬
ders hielt man Anklagcprincip und -form für gleichbedeutend und glaubte durch
letztere den öffentlichen Forderungen zu genügen. Hierdurch erklärt sich die
Gestaltung des Strasprocesscs seit 1848 in Deutschland. Zwei Perioden müssen
hier unterschieden werden.
Die Zeit von 1848 bis 1849 wird dadurch charakterisirt, daß die Gesetze
in den einzelnen deutschen Staaten den Strafproceß ohne Hintergedanken auf
den — theilweise nur mißverstandenen — Grundlagen des französischen Ver-
fahrens aufführten. Hierzu gehören einmal die Gesetze, welche mündliches Ver¬
fahren, Anklageprvceß, Schwurgerichte erstrebten, ohne doch ihre Strafproceß-
oidnungen vollständig zu refvrnmen, so daß zunächst nur das Verfahren in der
Hauptverhandlung geordnet werden, im Uebrigen die alte Proceßordnung fort¬
bestehen sollte. Der Art sind die Gesetze von Bayern, Hessen, Nassau von 1848,
die preußische sogenannte „Verordnung", eigentlich das Gesetz vom 3. Januar
1849, das von Baden vom 19. Februar 1849. Sodann fallen in dieselbe
Periode diejenigen Gesetze, welche völlig neue Strafproceßordnungen einführten,
so in Braunschweig vom 22. August 1849, in Hannover vom 8. November
1850 und in den thüringischen Ländern vom 20. Mai 1850.
Seit 1850 beginnt die zweite Periode. Man widerstrebt Seitens der deut¬
schen Regierungen den Schwurgerichten und sucht die im Allgemeinen anerkann¬
ten Grundsätze des neuen Strafverfahrens doch aus politischen Rücksichten mög¬
lichst zu beschränken. Dahin gehören einmal die Gesetze, in welchen unter Er¬
gänzung der Gesetzgebung von 1848 die Ideen im Sinne der neuen poli¬
tischen Richtung modificirt wurden;' so das preußische Gesetz vom 3. Mai 1852,
eine Revision des Gesetzes von 1848, hervorgegangen aus den bekannten Poli¬
tischen Parteikämpfen jener preußischen Aera, ferner das badische Gesetz vom
5. Februar 1851, welches ebenfalls das Gesetz von 1849 unter argen Incon-
sequenzen in der Stellung des Staatsanwalts gegenüber dem alten Inquisitions-
Processe wesentlich änderte, weil man viele Vorschriften des letzteren für zu libe¬
ral hielt. Sodann fallen hierher diejenigen Gesetze, in denen die Competenz
der Schwurgerichte möglichst beschränkt wurde, weil man aus ihrer Beibehal¬
tung für politische und Preßvergehen Gefahren des Staatswesens folgerte und
fürchtete, so die hessischen Gesetze von 1851 und 1853. Endlich ist hierunter
zu rechnen diejenige Gesetzesgruppe, in welcher Oeffentlichkeit. Mündlichkeit des
Verfahrens und eine Art Anklage anerkannt ist. die Urtheilsfällung von den
Staatsrichtern ausgesprochen wird. Dahin gehören das östreichische Gesetz vom
13. Juli 1853 und das königlich sächsische vom 15. August 1855. Die Ver¬
schiedenheit der hier genannten Gesetze liegt hauptsächlich darin, daß in ihnen
eine gesetzliche Beweistheorie entweder anerkannt ist. oder nicht.
Die deutschen Schwurgerichte zeichnen sich vor den französischen dadurch
aus. daß in Deutschland die Gerichte mehr mit wissenschaftlich gebildeten Män¬
nern besetzt sind, der Thatbestand sorgfältiger hergestellt, für die gerichtliche
Medicin mehr gethan wird, als in Frankreich. Die Stellung des Präsidenten
unserer Schwurgerichte ist eine angemessenere-, zweckmäßig wirken die Beschrän¬
kung der Befugnisse des Staatsanwalts, die schützenderen Vorschriften gegen
willkürliche Verhaftung; die Rechte der deutschen Vertheidiger sind wenigstens
nach einigen Gesetzen, wie nach dem bayerischen, ausgedehnter, als im Nachbar¬
lande, das System der Fragestellung gestattet unsern Geschwornen theilweise
eine freiere Erfüllung ihrer Pflichten, man fordert für die Geltung ihrer Ver-
biete eine größere Stimmenzahl (so in Braunschweig, Zürich) als in Frankreich.
Am meisten bei der braunschweiger Gesetzgebung zeigt sich das Bestreben, den
früheren Jnquisitionsproceß zu beschränken; so muß dort dem Angeschuldigten
— wie in England — gesagt werden, daß er nicht zu einer Antwort dem
Richter verpflichtet sei, er kann selbst in der Voruntersuchung sich einen Ver¬
theidiger halten, und nur Stimmeneinhclligkeit der Geschwornen vermag ihn
zu verurtheilen.
Wenn andrerseits die deutschen reformirten Strafproceßordnungen nicht
den Vortheil gewähren, den sie geben könnten, so liegt dies — abgesehen von
der Erbärmlichkeit der politischen Zustände, welche trefflich geordnet in der
Schweiz für dieses sonst dem unsern so sehr ähnlich entwickelte Gebiet der
Rechtspflege gute Früchte tragen — darin, daß man in angstvoller Hast seit
1848 jene französischen Normen bei uns nur halb einführte. Man behielt
daneben die alte Gerichtsverfassung in den meisten deutschen Ländern bei; daher
fehlen uns eine Reihe zweckmäßiger Einrichtungen ? Frankreichs, statt deren
blüht hier noch das Jnquisitionsprincip und das aus rechtsgelehrte Richter
berechnete Strafverfahren.
Von dieser für die Charakteristik des.preußischen bisherigen StrasvrocesseS
so hochwichtigen Entwicklung kennt die Einleitung des neuen Entwurfes nur
die äußere Weltgeschichte. Kaum einige Hindeutungen auf seine Einwirkung
erringt sich das Jahr 1848; von jener Kluft zwischen dem Gesetze vom
3. Januar 1849 und dem des 3 Mai 1852, den beiden Fundamentalgesetzen
des preußischen Strafprocesses, erfährt man nichts. Betrachten wir die neueste
Geschickte des preußischen Strafprocesses genauer.
Schon vor 1848 begann hier durch das von Savigny geleitete Ministerium
der Gesetzesrevision die Reform des Strafprocesses für die acht östlichen Pro¬
vinzen. Diese Reform brachte einen Entwurf folgender Zwittergestalt'. Münd¬
liches Verfahren vor dem erkennenden Gerichte, mit Staatsanwälten, aber —
ohne Geschwornengerichte! Es galt ihre Verwirklichung, die Prüfung ihrer
Lebensfähigkeit. Die sehr umfangreiche Untersuchung wegen der revolutionären
Ereignisse in den vormals polnischen Landestheilen, welche damals schwebte und
nach dem Jnquisitionsverfahren sich endlos hingezogen hätte, forderte dringend,
wenn auch zunächst nur für die unmittelbar dabei betheiligten berliner Gerichte,
die Einführung eines mündlichen Verfahrens. So brachte denn das Gesetz
vom 17. Juli 1846 interimistisch, probeweise die allernothwendigsten Aende¬
rungen des Strafprocesses. Inzwischen ließ Savignys Ministerium das Resul¬
tat seiner Vorarbeiten für dieselbe Reform in einer ausführlichen Denkschrift
drucken, doch — nicht veröffentlichen.
Zwei Jahre Ruhe, dann 1848. Schon am 21. März 1848 erklärt Frie¬
drich Wilhelm der Vierte in der „Proklamation an mein Volk", eines der Fun-
damente der Versöhnung zwischen Krone und Volk sei: Einführung der öffent¬
lichen und mündlichen Rechtspflege, in Strafsachen gestützt auf Geschwornen¬
gerichte. In dem Gesetze vom 2. April 1848 „über einige Grundlagen der
preußischen Verfassung", welches dem „vereinigten Landtage" vorgelegt wurde,
heißt es (§. 2.): die Untersuchung und Bestrafung aller Staatsverbrechen soll
nicht, wie bisher, durch besondere, sondern durch die ordentlichen Gerichte ge¬
schehen. Die octroyirte Verfassung vom 3. December 1848 bringt die Ge-
schwornengerichte bei allen schweren, allen politischen und Prcßverbrechen in An¬
wendung. Vom 3. Januar 1849 schon datirt das neue Strafproceßgesetz, welches
wir oben kurz charakterisirten. und dessen wesentliche einzelne Bestimmungen im
Vergleiche mit dem Gesetze vom 3. Mai 18S2 und mit dem neuen Entwürfe
wir näher kennen lernen werden. Die Einleitung des letzteren sagt über die
eben berührte Zeit nur: „Die Zeitverhältnisse gestatteten es nicht, jene Grund¬
sätze (der octroyirten Verfassung) zu einem vollständigen, den gestimmten Straf-
Proceß umfassenden Systeme auszuprägen. Man beschränkte sich vielmehr bei
Erlaß der Verordnung vom 3. Januar 1849 darauf, das Gesetz vom 17. Juli
1846 svergl. oben) zu Grunde zu legen und dasselbe, abgesehen von einigen
wesentlichen Verbesserungen, nur insoweit zu ergänzen, als dies zur Aufnahme
des Instituts der Geschwornengerichte erforderlich war."
Seit dem Gesetze vom 3. Januar 1849 läßt sich der politische
Rückschritt nun Punkt für Punkt in der Geschichte des preußischen
Strafprocesses lehrreichst verfolgen. Die revidirte Verfassung vom
31. Januar 18S0 weist zwar auch noch den Schwurgerichten alle schweren, alle
Politischen und Preßverbrechen zu, doch fügt sie bei: „welche das Gesetz nicht
ausdrücklich aufnimmt". Leider fehlt der im Plenum der zweiten Kammer be¬
schlossene Zusatz: „wegen Geringfügigkeit der Strafen ausnimmt"; das Plenum
der ersten Kammer verwarf ihn und ermöglichte dadurch eine tendenziös-poli¬
tische Ausbeute des Zusatzes. Wohin diese zielen würde, zeigte bereits die den
Kammern zugehende Ncgierungsproposition vom 7. Januar 18S0, welche einen
neuen Artikel (96) folgenden Inhalts der Verfassung einzuverleiben wünschte:
„Es kann im Wege der Gesetzgebung ein besonderer Gerichtshof errichtet
werden, dessen Zuständigkeit die Verbrechen des Hochverraths und andere Ver¬
brechen gegen die innere und äußere Sicherheit des Staates begreift.
In wiefern über diese Verbrechen alsdann auch von den gewöhnlichen Straf¬
gerichten erkannt werden kann, bestimmt das Gesetz". Die Negierung hielt es
nämlich, wie die Motive dieser Proposition offen aussprechen, für „bedenklich"
Verbrechen, wie die bezeichneten, dem „gewöhnlichen Verfahren" (!) zu un¬
terwerfen. Nur ein außergewöhnlicher Gerichtshof werde möglicherweise die
hierbei nöthige „Umsicht. Energie und Unparteilichkeit" anwenden. Die Reol.
sionscommission der zweiten Kammer lehnte diese ProPosition ab. Denn Artikel
7 und 34 der Verfassung ständen ihr entgegen, ein Mißtrauen gegen die jungen
und unvollkommen in ein unvollkommenes Strafrecht und eine aufgeregte Zeit
Hineingesetzen Schwurgerichte sei ungerechtfertigt; auswärtige Beispiele hätten
auch nicht „vor Revolutionen geschützt"; „das Vertrauen des Landes
werde sich solchen Gerichtshöfen niemals zuwenden; ihre Recht¬
sprechung werde in der Auffassung des Volkes für einen Act der
Rache angesehen werden, die von ihnen Verurtheilten als poli¬
tische Märtyrer." Man merkte also klar, wohin die Regierung steuerte. Trotz¬
dem nahm das Plenum der zweiten Kammer den Vorschlag der Negierung an,
nur schob man in dessen Anfang die Worte: „durch ein mit vorheriger Zustim¬
mung der Kammern zu erlassendes Gesetz" und verbesserte, was viel wichtiger,
das bedenklich unbestimmte „Gerichtshof" in „Schwurgerichtshos". So
trat unter Zustimmung der ersten Kammer und der Regierung zu der geänder¬
ten Fassung der verhängnißvolle Artikel 95 in die revidirte Verfassung, welcher
zur Fesselung der wichtigsten Kompetenz der Schwurgerichte den StaatslLnkem
die schon fertigen Fesseln bot.
Für kurze Zeit verharrte man noch bei den bisherigen Normen der Zustän¬
digkeit der Schwurgerichte. Nach §. 60 der Verordnung vom 3. Januar 1849
urtheilen diese 1) über die Verbrechen, welche in den Gesetzen mit einer Härte-
ren als dreijährigen Festungsstrafe bedroht sind und nicht zu den vor die Cri-
minalgerichtsabtheilung gehörenden Fällen zu rechnen sind. 2) über die poli¬
tischen und Preßverbrechen. Die Bestimmung des §. 61 desselben Gesetzes
dürfen wir wegen seines Zusammenhanges mit dem alten preußischen Straf¬
gesetze (A. L. N. Th. II. Ti. 20) fortlassen. Das neue Strafgesetz vom
14. April 1831 theilt nun in §. 1 nach der Härte der Strafen die Criminal-
fcille in a) Verbrechen (bei Todes-, Zuchthausstrafe und Einschließung über fünf
Jahre), d) Vergehen (Einschließung bis fünf Jahre. Gefängniß über sechs Wo¬
chen, Geldbuße über SO Thlr.). e) Uebertretungen (Gefängniß bis sechs Wochen,
Geldbuße bis SO Thlr.), und das Einführungsgesctz dieses neuen Strafgesetz¬
buches, ebenfalls vom 14. April 18S1, verweist noch ganz unbeschränkt die Ent¬
scheidung über Verbrechen den Schwurgerichten (Art. 13. 14); außerdem specia-
listrt es grade über den uns vornehmlich wichtigen Punkt im Art. 19: Belei¬
digung des Königs, des königlichen Hauses, eines anderen deutschen (resp, außer¬
deutschen Herrschers), Aufforderung zum Widerstände gegen die Staatsgewalt,
zu Haß und Verachtung der Staatsangehörigen gegen einander, Verläumdung
(resp. Beleidigung) des Staats und der Obrigkeit, der Kammern und Kammer¬
mitglieder, anderer politischer Körperschaften, öffentlicher Behörden, Beamten,
Religionsdiener, Soldaten, Geschwornen, Zeugen, Sachverständigen in Aus¬
übung ihres Berufes oder in Beziehung auf diesen gehören nur, so weit obige
allgemeine Norm es bedingt, zur Kompetenz der Schwurgerichte. Dagegen
fallen der Entscheidung der Schwurgerichte unbedingt anheim folgende politische
Vergehen: Hochverrath eines Preußen im In- oder Auslande und eines Aus¬
länders in Preußen gegen einen deutschen Staat oder Regenten; ferner Hinde¬
rung der Ausübung des staatsbürgerlichen Wahl- oder Stimmrechts durch An¬
drohung von Gewalt, Verbrechen oder Vergehen; ferner Fälschung des Wahl-
und Abstimmungsresultates, Kauf oder Verkauf der Wahlstimme; endlich Theil¬
nahme an geheimen und gesetzwidrigen Verbindungen.
Auf diesen Grundlagen erwuchs sodann das zweite der oben bereits kurz
charakterisirten großen preußischen Strafproceßgesetze vom 3. Mai 18S2, welches
in der nunmehr siegreichen politischen Richtung, wie wir unten sehen werden,
die Verordnung vom 3. Januar 1849 modificirte, über die Competenz der
Schwurgerichte dagegen nichts festsetzte, weil die Regierung bereits einen andern
Weg zu diesem wichtigen Ziele betreten hatte.
In der ersten Kammer nämlich stellte schon im Januar 18S2 Dr. Klee
den Antrag, im erwähnten Artikel 34 der revidirten Verfassungsurkunde die
Ausdehnung der Competenz- der Schwurgerichte auf die politischen Verbrechen
durch Streichung der betreffenden Worte zu beseitigen. „Denn seit Einführung
der Geschwornengerichte sei täglich mehr die Erfahrung hervorgetreten, wie
wenig grade bei politischen Verbrechen, zumal in politisch aufgeregten Zeiten
ein unbefangener, mit der Gerechtigkeit in Einklang stehender Spruch von den
Geschwornen zu hoffen flehe." Und gleichzeitig mit ihm beantragte in derselben
Kammer Graf v. Jtzen plitz unter ausdrücklichen Zurückgreifen zu der doch,
^>e gezeigt, so erheblich modificirten Proposition der Regierung vom 7. Januar
1850, in verfassungsmäßigen Wege den oben citirten Artikel 95 der Verfassungs¬
urkunde dahin abzuändern: „Es kann durch ein mit vorheriger Zustimmung
der Kammer zu erlassendes Gesetz, ein besonderer Gerichtshof errichtet wer¬
den, dessen Zuständigkeit die Verbrechen des Hochverrathes und diejenigen
schweren Verbrechen gegen die innere und äußere Sicherheit des Staates, welche
ihm durch das Gesetz überwiesen werden, begreift." Denn die Geschwornen
erschienen, diese Verbrechen zu entscheiden, am wenigsten geeignet. Der Staats¬
gerichtshof könne aber nicht ein Schwurgerichtshof sein; ohne ganz über¬
wiegenden Einfluß der Regierung auf die Besetzung des Schwur¬
gerichts würde die Sicherheit des Staates und seiner Verfassung
bei einem Staatsschwurgerichtshofe nicht geborgen sein, und be-
eilten solchen überwiegenden Einflüsse der Negierung könne jeder augenblickliche
Machthaber das Schwurgericht leiten. Commission und Plenum der I. Kammer
nahmen mit unwesentlichen Aenderungen diese tief einschneidende Neuerung an.
Ihre Hauptgründe stehen in schneidendem Gegensatze gegen die von der Mino¬
rität in Commission und Plenum betonten Resultate wissenschaftlicher Forschung
und unbeeinflußter praktischer Erfahrung über die Wirkungen und Vorzüge der
Schwurgerichte. Aber sie zeigen auch, daß eben die Natur selbst des> Schwur¬
gerichtes den Kammermitgliedern verwerflich schien, und so richten ihre Gründe
sich selbst. Es heißt darin, die Schwurgerichte hätten als Ergebniß politischen
Fortschritts gegolten, in ihnen sollte sich das Volk an dem Rechtsprecher be-
theiligen, und dadurch eine besondere, von dem Beamtenthume unabhängige
Garantie'sür die Rechtssicherheit bieten, aber diese Erwartungen seien getäuscht.
Dasselbe Rechtsinstitut passe nicht für alle unter sich zu verschiedenen Landes¬
theile. In etlichen derselben habe man die Geschwornenpflicht als lästige und
kostspielige Beeinträchtigung der bürgerlichen Freiheit angesehen; der Spruch
der Geschwornen sei nicht von der öffentlichen Meinung getragen, sondern ein
Ausdruck variirender Zeitrichtung und solcher Einwirkungen, welche eine gerechte
und unparteiische Entscheidung über Freiheit. Ehre, Leben nicht garantirten.
Viele Stimmen im Lande hätten völlige Beseitigung des Instituts gefordert.
Vornehmlich die Politischen Vergehen und Verbrechen müsse man
wieder der Entscheidung der „ordentlichen" Gerichtshöfe unterbreiten; denn das
Urtheil der Schwurgerichte grade über sie habe das Rechtsbewußtsein des
Volkes tief verletzt, da es stets nur den Ausdruck politischer Partei¬
ansicht darin erkannt, oft den politischen Muth vermißt habe. Ge-
schwornengerichte seien am wenigsten geeignet, sich den politischen Tageseinflüsscn
zu verschließen. Die II. Kammer gab dem Inhalte obiger Beschlüsse unter
Annahme seiner wesentlichen Theile die Form, welche darnach, von der I. Kam¬
mer und der Regierung gebilligt, in dem Gesetze vom 21, Mai 1852, also
nur achtzehn Tage nach der Veröffentlichung des Strafproceßgcsctzes vom 3. Mai
18S2, publicirt wurde.
Durch das Gesetz vom 21. Mai 1852 blieben also den Schwurgerichten
nur die Verbrechen zu entscheiden, so weit ein Gesetz sie nicht ausnahm.
Dagegen kann gesetzlich ein Gerichtshof über Hochverrath und über die ihm
gesetzlich überwiesenen Verbrechen gegen die innere und äußere Sicherheit des
Staates errichtet werden, — So riß man auch die letzten von der II. Kammer
1850 aufrecht erhaltenen Schutzwehren für die Competenz der Schwurgerichie
in politisch-eifernden Rückschritte nieder und gab dieses so hochwichtige, in er¬
regten Zeiten aber wichtigste Institut der Criminalrechtspflege dem Fanatismus
der herrschenden Partei preis. Wie eine Ruine des Volksrechtes im Straf¬
processe ragt der im Innern längst wirkungslose §. 60 des Gesetzes vom 3. Januar
1849 aus seiner um ihn wucherten Umgebung seit 1852 hervor.
Auf der Grundlage des Gesetzes vom 21. Mai 1852 brauchte man nur
weiter zu bauen, die in ihm enthaltenen Keime nur unter der Sonne der Re¬
action sich entfalten zu lassen, so erfüllten sich die sehnlichsten Wünsche der
manteuffelschen Negierung in betreff des Strafprocesses. Und das geschah schnell.
Nach dz. 60 des Gesetzes vom 3. Januar 1849 hatte das Schwurgericht
über alle Preßverbrechen zu entscheiden; nach Art. 94 der revidirte» Verfassung
sollte es über alle Preßvergehen urtheilen, „welche das Gesetz nicht ausdrücklich
ausnimmt". Infolge des kleeschen Antrages und seiner oben erörterten ver-
hängnißvollen Resultate waren die Preßvergehen ganz aus dem Art. 94 ver¬
schwunden. Hierüber hatte bereits das am 12. Mai 1851 publicirte — also
auch im Strome dieser an Gesetzen einheitlichsten Charakters so merkwürdig
fruchtbaren Zeit entsprungene Preßgesetz (§. 27) vorgeschrieben, nnr die mit
Freiheitsstrafen von mehr als drei Jahren bedrohten Vergehen der Presse sollten
zur Competenz der Schwurgerichte gehören, im Uebrigen sollten über die von
der Presse begangenen strafbaren Handlungen die oben angegebenen allgemeinen
Competenzgrenzen des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuche (Art. XIII—XV)
zur Anwendung kommen.
Einen Tag nach dem soeben geschichtlich näher verfolgten Gesetze vom
21. Mai 1852 minderte aus Nützlichkeitsgründen — um die Schwurgerichte
von einer endlosen Kette unbedeutenderer Criminalfälle zu befreien — ein neues
Ergänzungsgesetz die Zuständigkeit der Geschwornengerichte dahin, daß es alle
schweren Diebstähle, außer denen im zweiten und öfteren Rückfalle, alle ein¬
fachen Diebstähle im zweiten Rückfalle, alle Hehlerei und sämmtliche Verbrechen
und Vergehen der Personen unter sechzehn Jahren von den Schwurgerichten an
die Gerichtsabtheilungcn (weiche von drei gelehrten Richtern gebildet sind) zur
Entscheidung überwies. (Art. I. §. 1 und Art. IV. des Gesetzes vom 22. Mai
1852.) Für die Rheinprovinz bestimmte erst das Gesetz vom 4. Mai 18S3,
das Hauptverfahren wegen einfachen Diebstahls und einfacher Hehlerei, beide
in wiederholtem Rückfalle, solle, im Falle mildernder Umstände durch den
Anklagescnat des Appellationsgerichtshofes zu Köln an das Zuchtpolizeigericht
verwiesen worden.
Kaum ein Jahr später, am 25, April 1853. pflückte die Negierung Man-
teuffel-Westphalen die ersten völlig reifen Früchte jenes Baumes der reactionären
Rechtspflege, welchen sie einst als zartes, aber zukunftfrohes Reis durch ihre
Proposition vom 7. Januar 1850 gepflanzt hatte, und an dem sie in den be¬
sprochenen „durchaus selbständigen" Anträgen des Grafen v. Jtzenplitz und
Dr. Klee vom Januar 1852 die ersten vielverhcißenden Blüthen begrüßen konnte.
Laut dem unter obigem Datum publicirten Gesetze wurde die Untersuchung und
Entscheidung wegen Hochverrathes, Landesvcrrathcs, Thätlichkeiten gegen den,
König, die Königin, den Thronfolger u. a, Mitglieder des königlichen Hauses,
wegen Hochverrathes eines Preußen im In- oder Auslande, oder eines Aus-
länders in Preußen gegen einen der deutschen Staaten oder Herrscher, mit Ein¬
schluß des Versuchs, der Theilnahme und der mit allen diesen Verbrechen
cvnnexen strafbaren Handlungen für den ganzen Umfang der Monarchie dem
Kammergerichte übertragen, d. h, dem Gerichte zweiter Instanz in Berlin.
Hierzu wurden und werden im Kammergerichte zwei Senate gebildet, deren
einer von sieben Mitgliedern über die Versetzung in den Anklagestand beschließt,
der andere von zehn Mitgliedern auf Grund mündlicher, öffentlicher Verhandlung,
jedoch ohne Mitwirkung von Geschworenen, über die Schuld des
Angeklagten und über die Anwendung des Gesetzes erkennt. Nur die Vor-
Untersuchung findet noch vor den Gerichten statt, welche ohne das Gesetz vom
25. April 1853 zuständig sein würden, die Hauptverhandlung (das mündliche
Verfahren) nur dann, wenn auf Antrag des Staatsanwalts das Kammergericht
durch den Anklagesenat dies beschließt. Der Anklagesenat des Kammergerichtes
kann auf Antrag der Staatsanwaltschaft bei demselben eine jede zur Zustän¬
digkeit des Gerichtshofes gehörige Sache zur Einleitung oder Fortsetzung der
Voruntersuchung an sich ziehen. Bei der Hauptverhandlung im Kammcrgerichte
kommen die für das Verfahren wegen Verbrechen (also für das Verfahren im
Schwurgerichtshvfc) bestehenden Vorschriften insoweit zur Anwendung, als die.
selben sich nicht auf die Mitwirkung von Geschwornen beziehen. Für Erlassung
des Urtheils sind die bei den Gcrichtsabtheilungen (also nicht bei den Schwur¬
gerichten) bestehenden Vorschriften maßgebend. Bei Stimmengleichheit gilt die
dem Angeklagten günstigere Meinung. Die Appellation findet aber gegen die
Erkenntnisse dieses Urtheilssenates nicht statt, sondern nur die Nichtigkcits-
beschwerte. In diesem wichtigen Punkte hat man also, trotzdem gelehrte Richter
urtheilen und für ihr Urtheil das Gesetz der Gerichtsabtheilungen maßgebend
sein soll, letzteres Gesetz zum Nachtheil des Angeklagten durch die zweite, bei
Schwurgerichten geltende Norm beschränkt, deren Erkenntnisse — aber eben
doch, weil sie Schwurgerichtserkenntnisse — auch nur der Nichtigkeitsbeschwerde,
nicht der Appellation unterworfen sind.
Auf das Kammergericht hatte man zurückgegriffen und es mit dieser odiösen
Zuständigkeit belastet, weil dasselbe seit dem Bundesbeschlusse von 1833 nicht
blos für alle Verbrechen gegen Verfassung und öffentliche Ordnung, sondern
anch für Hochverrätherische Unternehmen das ordentliche Gericht bildete. Diese
Kompetenz währte bis 1848, dann wurde sie aber, wie gezeigt, durch die
königliche Proclamation „an mein Volk" vom 21. März 1848 beseitigt. Wohl
hatte sie in dem dargelegten Umwege jetzt ihre alte Ausdehnung wiedergewonnen,
wohl waren die Artikel 94 und 95 der Verfassungsurkunde den Angriffen der
politischen Reaction erlegen, mindestens gefüge gemacht, aber der lehrreiche
Umweg lag und liegt doch vor aller Augen, und wie wollte man das Gesetz
vom 25. April 1853 mit dem ausnahmslosen und unverletzten Artikel 7 der
Verfassung vereinbaren: Niemand darf seinem gesetzlichen Richter
entzogen werden, Ausnahmegerichte und außerordentliche Com¬
missionen sind unstatthaft! Hier zeigt sich der krasse Widerspruch, des
Schritt um Schritt, fast heimlich angebahnten Ausnahmerechts einer scheinbar
konstitutionellen Regierung gegen das offen und schwer errungene, klare, höchste
Verfassungsrecht des wahrhaft constitutionellen Volkes.
Am 6. März 1854 hielt dieselbe Regierung eine nicht mehr abzuwehrende,
nach der bisherigen Saat und Ernte folgerechte Nachlese. In dem Gesetze
dieses Datums minderte sie auch für die von dem Preßgesetze (§. 27) und von
dem Gesepe vom 25. April 1853 den Schwurgerichten noch belassenen poli¬
tischen und Preßvergehen die Competenz der verhaßten Volksgerichte dadurch,
daß sie ihnen nur die nach den allgemeinen Competenzgrundsätzen (Art. XIII
bis XV des Einführungsgesetzes zum Strasgesetzbnche; vrgl. oben) zukommen¬
den politischen und Preßverbrechen ließ, welche selbstverständlich fast alle
bereits gemäß dem Gesetze vom 25. April 1853 dem Kammergerichte unter¬
worfen waren. Damit erklärte sie den oben näher besprochenen Art. XIX des¬
selben Einführungsgesetzes und §. 27 des Preßgesetzes für aufgehoben. Die
Art. 94 und 95 der Verfassungsurkunde zu berücksichtigen, schien überflüssig;
der K. 60 des Gesetzes vom 3. Januar 1849 blieb unberührt und verwies und
verweist noch immer wie zum Hohne (oder zur Mahnung?) alle politischen und
Preßverbrechen vor die Geschwornengerichte; den Art. 7 der Verfassungsurkunde
aber wagte man nicht zu berühren. Oder war die Hast des Rückschrittes
zu groß, so daß sie nicht mehr die nöthige Rücksicht auf diese den Neuerungen
kroß entgegenstehenden Gesetze wenigstens durch deren ausdrückliche Aufhebung
nehmen konnte? Oder war die Regierung der neuen Aera seit 1850 zu sicher,
als daß sie eine solche radicale Aufhebung der ihr widerwärtigen Gesetze noch
für nöthig gehalten hätte?
Von dieser für die Gestaltung des Strafprocesses äußerst wichtigen Umkehr
der Anschauungen bei den maßgebenden Behörden, von dieser dadurch erzeugten
Geschichte der Kompetenz der Schwurgerichte weih unser neuer Entwurf gar
nichts. Er sagt unmittelbar nach der zur Verordnung vom 3. Januar 1849
oben citirten Stelle, die Regierung habe nunmehr die Ausarbeitung einer voll¬
ständigen Strafproceßordnung für die ganze Monarchie begonnen, aber weder
diese im September 1850 beendeten und 1851 im Justizministcriaiblatte ver¬
öffentlichten Arbeiten, noch die Menge der über sie einlaufenden Gutachten der
Praktiker konnten zu einer definitiven Gestaltung benutzt werden. „Denn es
hatten sich inzwischen gegen die Herstellung einer vollständigen, den ganzen
Strafproceß umfassenden Strafproceßordnung Hindernisse (also wieder, wie
oben) erhoben, welche das Staatsministerium zu dem Beschlusse führten, von
der Vorlegung eines solchen Gesetzes zur Zeit abzusehen." So sei denn aus
der Verordnung vom 3. Januar 1849 unter Hinzufügung „der in der
Praxis nöthig gewordenen Aenderungen und Ergänzungen" das
Gesetz vom 3. Mai 1852 entsprungen.
Dann kein Wort von den eben quellenmäßig vorgeführten Eingriffen in
die Grundlagen des ganzen Strafprocesses, von den fundamentalen Aenderun¬
gen der wichtigsten Theile desselben, von der leitenden Ansicht, dem vernünf¬
tigen Plane, welcher die Regierung hierbei geführt. Vielmehr folgen nun die
beim Beginne dieses Aufsatzes charakterisirten Abschnitte von der Ausbildung
des gesetzlich unvollkommenen und sich widersprechenden Strafproccsses durch
die Praxis der Untergeriehte und durch die Entscheidungen des Obertribunals.
Daran schließt sich der Hinweis darauf, wie nothwendig eine übereinstimmende
innere und äußere Gestaltung des öffentlichen, und so auch des Strafproceß-
rechtes für die östlichen und westlichen Theile der Monarchie, welche letztere
bisher französisches Strafproceßrecht unter nicht geringem Einflüsse der Rechts¬
sprüche des pariser Cassationshofes ausübten.
Noch mehr als hier indeß läßt der neue Entwurf die wichtige bisherige
Entwicklung des heutigen Strafprocesses dort außer Acht, wo er grade ausspricht,
in welchem Sinne er abgefaßt sei. Er will in keiner Hinsicht die jetzt leiten¬
den gemeinsamen Grundsätze des preußischen Strasprocesses in Frage stellen.
Denn die Aufsuchung und Durchführung neuer Principien würde nicht nur der
angestrebten Einheit der Gesetzgebung neue Hindernisse bereiten, sondern auch
alle die Gefahren in sich schließen, welche mit neuen, im Leben unerprobten
Einrichtungen naturgemäß verbunden sind. Vielmehr ist es Richtschnur des
Entwurfs, sich auch in der Ausführung des Einzelnen „an das Bestehende
so viel wie möglich anzulehnen, weil nur auf diese Weise die mit diesem
Rechtszustande verwebten Ergebnisse der Erfahrung und der Rechtsprechung für
die Gesetzgebung nutzbar gemacht werden können. Einen weitaus andern Sinn
haben diese Worte jetzt, beim Hinblick auf die vorn dargestellte Entwicklung
unsres Schwurgerichtshofes, als es beim ersten Hören derselben schien. Zum
Ausgangspunkt genommen ist der Strafproceßentwurf von 1851.
In dem Entwürfe selbst bleibt denn auch die aus der Geschichte der Com-
petenz des Schwurgerichtshofes resultirende gewichtige Lehre unberücksichtigt.
Die §H. 11 bis 14 halten im Wesentlichen die Grenzen für die Kompetenz des
Einzelrichters, der Gerichtsabtheilungen (hier Strafkammern genannt) und der
Schwurgerichte fest, welche sich aus den oben erörterten Gesetzen zusammen¬
stellen lassen und für die Schwurgerichte zusammengestellt worden sind. Nur
sind der schwere Diebstahl sowohl, wie die schwere Hehlerei, beide im Rückfalle,
dem Schwurgerichte überwiesen. So lautet §. 14 des Entwurfs: „Vor die
aus fünf richterlichen Mitgliedern bestehenden Schwurgerichtshöfe gehört das
Hauptverfahren und die Entscheidung in Ansehung der Verbrechen, in so
weit nicht einzelne derselben vom Gesetze einer anderen Zustän¬
digkeit überwiesen sind.
Die Schwurgerichtshöfe verhandeln und entscheiden, in so weit nicht eine
Erledigung durch Schuldbekenntnis; eintritt, unter Mitwirkung von zwölf Ge¬
schwornen, bei Vermeidung der Nichtigkeit."
Und daß unter den Ausnahmegesetzen vor allem dasjenige vom 25. April
1853 begriffen ist, welches die Kompetenz des Kammergerichtes zur Untersuchung
und Entscheidung der Staatsverbrechen feststellt, lehrt die dem Titel II. des
Entwurfs S. 19. beigefügte Vorbemerkung, welche diesen an sich ausdrücklich
festgehaltenen Punkt dem Einführungsgesetz der neuen Strafproceßordnung vor¬
behält. So wurde selbst dieser Ausnahmezustand, dieses Ausnahmegericht als
Ausnahmen in der Form gekennzeichnet, indem man sie nicht, wie den Inhalt
der übrigen oben dargelegten Gesetze, z. B. des Einsührungsgesetzes vom
14 April 1851, des Gesetzes Vom 22. Mai 1852, 4. Mai 1853, 6. März
1854 in den fortlaufenden Text des Strafproceßgcsetzes verarbeitet, sondern
ihnen eine außcrtextliche Stelle anweist. Aber man behält die Gewinne der
Rückschrittsjahre von 1850 bis 1858 bei, man billigt die damaligen Hand¬
lungen der Regierung, man verwirft die entgegenstehenden, sehr gegründeten
Resultate der Wissenschaft und der Praxis.
Jedes wissenschaftliche Lehrbuch des Criminalprozesses erweist als nützlich,
als nothwendig, daß die Competenz der Schwurgerichte ausgedehnt werde, wie
sie es 1848—51 war. Die Hauptautoritäten des Criminalrcchtes in Preußen
in Deutschland, im Auslande lehren das in Wort und Schrift. In der Ge-
richtspraxis Preußens, Deutschlands und des Auslandes ist man nicht minder
hierüber in überwiegendster Majorität der Stimmen und Kapacitäten einig.
Das preußische Justizministerium hat sicher nicht an diese Kernfrage der Schwur-
gericbtscomvetcnz gedacht, als es in der Einleitung zu dem neuen Entwürfe
aussprach, gerade das Resultat der praktischen Erfahrungen sei in dem Entwürfe
zum Ausdrucke gelangt. Das preußische Justizministerium hat sicher nicht an
diese Kernfrage gedacht, als es hier behauptete, der neue Entwurf verarbeite,
vereinige die bisher vielfach sich entgegenstehenden preußischen Gesetze, die den
Strafproceß berühren.
Denn zwar Artikel 94 und 93 der Verfassungsurkunde sind in das Gegen¬
theil ihres früheren Inhaltes umgeformt; aber noch trägt der Artikel 7 das
Gepräge der Volkstagc von 1848, den echt constitutionellen Satz: „Niemand
darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden, Ausnahmegerichte und außer¬
ordentliche Commissionen sind unstatthaft." Will das jetzige Justizministerium
mit Wahrheit den Namen eines Ministeriums im constitutionellen Staate
tragen, so darf es keine Silbe dieses Arikel 7 antasten, so muß es vor allem
das Ausnahmegericht für Staatsverbrechen, das Gesetz vom 2S. April 1863
beseitigen und seine neuentworfene Strafproceßordnung in Einklang bringen
mit Artikel 7 der Verfassungsurkunde. Der K. 60 des Proceßgesetzes vom
3. Januar 1849 muß wieder Leben erhalten im Gesetze, wie er im Volke es
nie verlor, die politischen und Preßvergehen und Verbrechen muß er dem Schwur¬
gerichte wieder und nur diesem zuweisen, dann ist einer der Grundpfeiler der
wahrhaft constitutionellen Monarchie wieder aufgerichtet, und sicherer als heute
durch die im Volke fremde und feindliche Zuständigkeit des Kammergerichtes
ruht das constitutionelle Königthum in der Volksrechtspflege der Geschwornen.
Eine Phrase der gelehrten Criminalisten, eine Parole der liberalen Partei
nennen.es die Gegner. Ist das noch Phrase, was in deutschen und außer¬
deutschen Ländern den Beweis geschichtlicher Thatsachen von Jahren, Jahr¬
zehnten, Jahrhunderten führt? Ist das noch Parteiparole, was dort in den
erregtesten Zeiten, im Wechsel der verschiedensten Parteihcrrschaft gleichmäßig
der Ausdruck der wahren Rechtsüberzeugung im Volke war, den sichersten
Schutz der im Volke wurzelnden Königskrone gegen Staatsverbrechen gewährte!
Darum ist es Pflicht der Presse, nun der neue Entwurf des Strafprocesses
dem Volke vorgelegt wird, das unerquickliche Bild der Geschichte unseres
Schwurgerichtes aufzurollen, aus den Quellen zu beweisen, wie wir die
Fesseln unserer Volksgerichte gewannen, was unser Schwurgericht war, was es
sein müßte und was es zu werden, wie was es zu bleiben droht.
Darum ist es auch Pflicht der Criminalisten auf Hochschulen und in
Gerichtssälen, denen dieser Entwurf zur Prüfung vorgelegt ist, der Regierung
mit Gründen der Theorie und praktischer Erfahrung das Unhaltbare solcher
Schranken der Geschwornencompetenz darzulegen, der Regierung die wirkliche
Meinung der Praxis zu sagen, welche das Ministerium mit dem neuen Ent¬
wurf getroffen und ausgesprochen zu haben glaubt.
Darum ist es endlich Pflicht des Abgeordnetenhauses, sein Veto einzulegen
ge.M die Mißgestaltung dieses wichtigsten Gerichtes. Hier droht dem wahren
Constitutionalismus in der Rechtspflege schwere Gefahr, welche durch ein neues
Gesetz auf lange Jahre Kraft gewinnen soll. Die wahren Vertreter der großen
Majorität des Volkes halten sich nicht mehr zurück von ihren Pflichten als
Staatsbürger, wie einst in den Trauerjahren seit 1830. Wohlan! erfüllen sie
ganz diese Pflichten, daß sie nicht selbst ein Uebel verstärken, welches durch die
unselige Zurückhaltung ihrer Parteigenossen so lange schon auf dem Lande lastet.
Alle Verbrechen, alle politischen und Preßverbrechen und
-vergehen für die Entscheidung der Schwurgerichte, das ist es, was
wir fordern müssen und fordern.
Als vor etwa achtzehn Monaten die Nachricht nach Deutschland kam, daß
der Gesundheitszustand des Königs von Dänemark eine Erledigung des Throns
in Aussicht stelle, war den Liberalen zweifellos, daß die größte Anspannung
der Kräfte nothwendig sei und die neue Situation benutzt werden müsse, die
Herzogthümer gänzlich von Dänemark zu lösen und mit Deutschland zu verbin¬
den. Die politische Lage war ungünstig. Sowohl das Ministerium Bismarck
als Oestreich hatten durch die Behandlung derselben Frage am Bunde bewiesen,
daß sie einen kriegerischen Conflict mit Dänemark nicht wollten, es war zu
befürchten, daß der neue König, welcher durch die londoner Verträge zur Herr¬
schaft bestimmt war. einer nachdrücklichen Pression der deutschen Großmächte
einige Concessionen machen werde, sobald er den dänischen Fanatismus nicht
mehr als Hinderniß seiner Inthronisation zu fürchten habe, und daß die Gro߬
mächte ihm so lange weitere Nachsicht gönnen würden, bis er thatsächlich in
seinen Ländern festgesetzt sei. Das gesammte Ausland war dem deutschen In¬
teresse abgeneigt. In den Herzogthümern selbst war an einen offenen Widerstand,
der über Proteste und Erklärungen muthiger Männer hinausging, nicht zu
denken. Die Landschaften hatten seit dem Jahre 1848 einen großen Theil ihrer
Intelligenz durch Auswanderung oder Tod verloren, die Schleswig-Hvlsieiner,
welche an der dreijährigen Erhebung theilgenommen hatten, sahen über ganz
Deutschland zerstreut, im Lande selbst war man nicht vorbereitet und fast hoff¬
nungslos, die Kraft des Widerstandes war nicht erschöpft, aber sie war durch¬
aus nicht organisirt, in dem gequälten Schleswig herrschte tiefe Erbitterung, in
Holstein eine kalte Abneigung gegen die Dänen, beide Länder mußten von
Deutschland aus den Impuls und Hilfe erhalten.
Unter diesen Verhältnissen war einer Agitation, welche von Privaten aus¬
ging, der Weg genau vorgeschrieben, auf welchem sie vorzugehn hatte. Dao
Erbrecht des herzoglichen Hauses von Augustenburg mußte den londoner Ver¬
trägen entgegengestellt, die öffentliche Meinung in Deutschland und den Her-
zogthümern mußte dafür gewonnen werden, die Kammern der einzelnen Staa¬
ten mußten einen Druck auf ihre Regierungen ausüben, deutsche Regierungen,
welche seit Jahren in dieser Frage Popularität erstrebt hatten, mußten gewon¬
nen werden. Es galt eine Bewegung zu erregen, welche dem Auslande im-
ponirte, die deutschen Großmächte, wenn auch wider ihren Willen, aus der
Unschlüssigkeit oder Gleichgiltigkeit herauftrieb. Alles mußte versucht, das
Aeußerste darangesetzt werden, den festen Willen der Nation zu erweisen. Je¬
dem Besonnenen war klar, daß die Herzogthümer nur durch militärische Unter¬
stützung deutscher Staatsmächte befreit werden konnten, aber es war ebenso
offenbar, daß diese Unterstützung der Sache Schleswig-Holsteins nur dann wer¬
den würde, wenn das deutsche Volk und der Fürst, dessen Erbrecht die Hand¬
habe zur Befreiung der Herzogthümer bot. den festen Entschluß erwiesen, im
Nothfall offene Gewalt den Dänen entgegenzusetzen.
Von diesem Gesichtspunkt aus begann die Agitation. Sie fand im Volk
einen Boden, der durch vergossenes Blut, durch Schlachten und Niederlagen,
durch Schmach und bittere Empfindungen in fünfzehn langen Jahren reichlich
gedüngt war. Die Bewegung verbreitete sich blitzschnell über den Westen und
Süden Deutschlands, Vereine bildeten sich, die Presse arbeitete mit einem Eifer,
den sie seit vielen Jahren nicht erwiesen hatte, Volksversammlungen, Deputa¬
tionen. Erklärungen fuhren umher.
Es ist an der Zeit, daran zu erinnern. Denn auch den Liberalen scheint
durch die Ereignisse der spätern Zeit die stolze Freude beeinträchtigt, daß ihre
Agitation während der letzten Monate des Jahres 1863 in der That die Befreiung
der Herzogthümer von der dänischen Herrschaft möglich gemacht hat und daß
diese Agitation grade alles das bewirkt hat, was sie unter, einem Zusammen¬
wirken günstiger Umstände erreichen konnte. Ein leidenschaftliches Aufglühen des
Volkswillens hat zuerst einige wohlgesinnte Regierungen ermuthigt, dann die
Mehrzahl der Mittelstaaten auf die deutsche Seite der Frage gestellt, die Oppo-
sition gegen das selbständige Vorgehn kleinerer Regierungen, die Abneigung und
Besorgniß vor einer demokratischen Bewegung hat die Großmächte auf einen
Weg getrieben, der zunächst die Volksbewegung demüthigen sollte, der aber
endlich schrittweise zu der ersehnten Befreiung der Herzogtümer führte.
Die Patrioten, welche nach dem Tode des Dänenkönigs im Volke agitir-
icn, gehörten nur zum Theil der preußischen Partei an. Nur von der stillen Auf¬
fassung unserer Freunde kann hier berichtet werden. Ihnen waren die Ansprüche
des Herzogs deshalb höchst werthvoll, weil sie die einzige Aussicht boten, deutsche
Länder von Dänemark abzulösen. Allerdings nicht für seine Person, sondern um
seines Volkes und um Deutschlands willen haben sie dies Recht verkündigt und
dasür geeifert. Mancher von ihnen hat wahrscheinlich für unnöthig gehalten,
sich selbst aus den alten Verträgen das Urtheil über den Werth der augusten-
burgischen Ansprüche zu bilden, und der Streit über den gottorpschen Antheil,
über die Grafschaft Nanzow, über den Werth gewisser Verzichtungsurkunden
ist ihnen nur soweit von Bedeutung gewesen, als diese Erörterungen etwa die
Ansichten der Leute in den Herzogthümern oder der Cabinete beeinflußten.
Auch war der deutsche Liberale durchaus nicht der Meinung, daß von den Erb¬
ansprüchen des Hauses Augustenburg allein sei» Recht aus die Herzogthümer
hergeleitet werden dürfe. Wenn der entschiedene, laut ausgesprochene Wille der
Bevölkerung Holsteins den Erbprinzen zum Regenten forderte, so galt uns die¬
ser Rechtstitel für ebenso werthvoll, als sein historisches Recht. Denn wir
haben die Ueberzeugung, daß ein Volk das Recht besitzt, einen Fürsten nach
grober und fortgesetzter Verletzung seiner Regentenpflichten von seinem Amte
zu entfernen und, allerdings unter möglichster Berücksichtigung bestehender Rechte,
den Andern dafür zu berufen, welcher sich als geeignete Persönlichkeit für solche
Stellung erweist.
Nicht weniger deutlich war den Liberalen der preußischen Partei bei dem
Tode des Dänenkönigs, daß die Befreiung der Herzogthümer zugleich eine Ver¬
stärkung der deutschen Großmacht werden müsse, daß ein von den Dänen ge¬
löstes Territorium als Kleinstaat durch das bloße Bundeöverhältniß nicht genü¬
gend zu schützen sei, daß selbst, wenn ein Bestehen, wie etwa das von Hcssen-
Darmstadt, an der Nordmark möglich wäre, eine solche separirte Existenz wenig
Werth für das gemeinsame Vaterland haben würde, daß der große Gewinn der
Bewegung uns Allen nur dann werden könne, wenn die Marine und militärische
Position Preußens dadurch erhöhte Bedeutung gewönne, ja daß vielleicht die
Hauptbedeutung einer günstigen Lösung darin liege, daß Preußen durch die
Herzogthümer zu einer Position an der Nordsee und zum deutschen Bunde
komme, welche ihm neue Zielpunkte und mit den Rechten auch höhere Pflichten
gebieterisch auflege.
Daß eine Einverleibung der Herzogthümer in den preußischen Staat die
beste Lösung sein würde, wurde damals von Tausenden empfunden und zuwei¬
len ausgesprochen, es war im Herbst 1863 unnütz daran zu denken, so wie es
jetzt unnütz sein würde, dafür zu agitiren, wenn nicht die Ansprüche des Her¬
zogs im vorletzten Winter die treibende Gewalt gewesen wären, welche die Ab¬
lösung bewirkte. Denn bei der Stellung, welche die damalige Regierung Preu¬
ßens in Europa, beim Bunde, zu Oestreich und den Herzogthümern selbst ein¬
genommen hatte, mußte auch der leidenschaftliche Freund Preußens eine
Agitation zu diesem Zwecke für unmöglich halten. In Preußen selbst war
dafür weder im Volke noch im Ministerium guter Wille. Zuletzt wußte man,
daß die Mitglieder des preußischen Königshauses, auf welche es vor allem an¬
kam, den Ansprüchen der Augustenburger nicht abgeneigt waren, und in ihrer
Unterstützung, so weit sie möglich sein würde, einen preußischen Vortheil
erkannten.
Es hat jetzt nur ein historisches Interesse, aber es soll doch ausgesprochen
werden, daß nirgend vielleicht diese Verhältnisse patriotischer und mehr im preu¬
ßischen Interesse betrachtet wurden als in der Nähe des Herzogs selbst an jenen
Wochen, welche der Abfassung seiner ersten Proclamation vorausgingen und folgten.
Wie die Herzogtümer von Dänemark abgelöst wurden, ist bekannt. Der
Tag des Friedensschlusses fand in Deutschland selbst nur wenige Herzen, welche
sich die hohe Freude eines großen Erfolges nicht durch den Gedanken verküm¬
mern ließen, daß der Sieg nicht ganz auf dem Wege gewonnen sei. den sie
gewünscht hatten.
Und doch waren die Nordmarkm Deutschlands den Dänen entrissen, und
doch hatte der Enthusiasmus und die Aufregung in den Wintermonaten von
1863 alle die großen Folgen gehabt, welche wir Liberalen mit Recht von kräf¬
tiger Volksäußerung erwarten durften. Die Aufregung der Nation hatte die
Cabinete in Bewegung gesetzt, daß ein Kroncandidat vorhanden war. dessen
Recht selbst den Dänen legitimer erschien als das ihre, hatte nächst dem lauten
Ruf der Hvlsteiner nach ihrem angestammten Herzog und ihren Huldigungen
dem Ausland Zurückhaltung abgenöthigt. Zum ersten Male seit dem Jahre
1848 hat eine kräftige Forderung der Nation auf das Thun der deutschen Re¬
gierungen entscheidenden Einfluß geübt, die Politik der Herrn v. Bismark und
Rcchberg begann ihre Thätigkeit mit dem Vorsatz, die Integrität Dänemarks
gegen die Forderungen der liberalen Partei zu bewahren und der Zwang der
Ereignisse hat doch die preußischen und östreichischen Waffen dahin geführt, das
ruhmvoll zu thun, was die liberale Agitation allein niemals in Jahresfrist
bewirkt haben würde, was aber auch niemals im vergangenen Jahre ohne die
liberale Agitation und ohne die Erbansprüche des Herzogs erreicht sein würde.
Schnell wechseln die Zielpunkte der Regierungen, ebenso schnell die Partei¬
tendenzen. Mit der Befreiung der Herzogthümer, zumeist durch preußische Waffen,
ist in Preußen selbst der Wunsch erwacht, die Herzogthümer völlig dem preu¬
ßischen Staat einzuverleiben. Der preußische Junker, welcher um Neujahr 1864
die Idee einer Eroberung der Herzogthümer als demokratischen Schwindel ab¬
gewiesen hätte, ruft jetzt laut nach Annexion, der Liberale, welcher im December
1863 mit dem Herzog von Schleswig-Holstein zürnte, weil dieser ihm zu lange
säumte, das Erbe seiner Väter zu betreten, betrachtet jetzt dieselben Erbansprüche
als einen längst überwundenen Standpunkt. Auch außerhalb Preußen ist unter
de» Liberalen die Einigkeit geschwunden; zwischen denen, welche den Standpunkt
der liberalen Partei vom Standpunkt 1863 noch heut festhalten wollen und
zwischen denen, welche fordern-, daß die preußische Regierung die gegenwärtige
Lage rücksichtslos aufhenke, hat sich eine weite Kluft aufgethan, wir hören,
daß begeisterte Stimmen aus Süddeutschland völlige Einverleibung der Herzog¬
thümer in Preußen fordern und wir hören, daß eine süddeutsche Kammer ihre
Regierung auffordert, durch alle Mittel auch nur einen näheren Anschluß der
Herzogthümer an Preußen zu verhindern.
Während das deutsche Volk, welches jetzt wieder in die bescheidene Stel¬
lung eines zuschauenden u»d kritisirenden Publikums zurückgetreten ist, über die Zu¬
kunft der Herzogthümer polemifirt, ist es nicht uninteressant, nach den Stimmungen
in den Regierungskreiscn und an denjenigen Höfen Deutschlands umzuschaun,
welche wie das deutsche Volk gegenwärtig nur Zuschauer sind. Darf man aus
den Aeußerungen unserer regierenden Herren und ihrer Minister, wie sie etwa
dem Einzelnen zugängig werden, einen Schluß ziehen, so ergiebt sich für die
deutschen Höfe das auffallende Resultat, daß dort grade die Mehrzahl, welche nicht
im preußischen Interesse ist, zwar zunächst jedem Machtzuwachs Preußens ab¬
geneigt ist, wenn aber ein solcher unvermeidlich sein sollte, lieber die Annexion
als den Anschluß ertragen will. Man fürchtet dort vor allem einen Präccdenz-
fall. Was sich ausführbar in den Herzogthümern zeigt, mag bei erster Ge-
' legenden jedem Rachbar Preußens zugemuthet werden. Das eigene Volk kann,
sobald das preußische Wesen ein wenig populärer wird, einen solchen Anschluß
fordern, der dem angestammten Souverain doch die Landeshoheit und innere
Verwaltung läßt. Es ist unverträglich mit deutscher Fürstenwürde, zu solcher
Dependenz herabgedrückt zu werden. Incorporiren die Preußen Schleswig-Hol¬
stein als herrenloses Gebiet, so wird ein Staat, den man nicht liebt, zwar
vergrößert, aber auch mit neuen Verwickelungen bedroht, er bleibt zu den be¬
stehenden Bundesregierungen in dem alten Verhältniß, das alte Verhältniß
bleibt auch zwischen den Völkern, der Bayer und der Sachse werden einem
gemüthvollen heimischen Regiment voraussichtlich nicht die Zumuthung stellen,
daß man rund und ohne Vorbehalt preußisch werde, Bayern und Sachsen hat
nicht zu fürchten, daß im Norden el» Beispiel und eine ewige Mahnung eta-
blirt werde, wie man allmälig und ohne radicalen Umsturz einer preußischen
Oberhoheit untergeordnet werde. So lebhaft ist diese Empfindung, daß man
wohl sagen darf, von unsern Regierenden wünschen die Wenigen, welche mit
Preußen zu gehen geneigt sind, den Anschluß der Herzogtümer durch feste Ver¬
träge, die Mehrzahl dagegen, wenn eine Machterweiterung Preußens unvermeid.
lich sein sollte, immer noch lieber die Annexion. Daß Oestreich dieselben Ge¬
sichtspunkte hat, ist bereits durch seine Presse verkündet.
Uns Liberalen hat solche Auffassung wenig Gewicht für oder gegen die
Einverleibung. Wenn zunächst Deutschland und Preußen und in zweiter Linie
die Herzogthümer selbst durch die Incorporation an Gedeihen und an Kraft zu¬
nehmen, so soll uns nicht kümmern, daß dadurch ein Präcedenzfall und ein
Muster für künftige Bundesvevhältnisse verloren wird, die Gelegenheit zu preu¬
ßischen Bündniß- und Anschlußverträgen wird auch in Zukunft nicht aus¬
bleiben. In diesem Sinne darf jedes Mitglied der preußischen Partei für die
Annexion sein.
Aber jeder Einzelne wird sich nach Charakter und zufälligen Beziehungen
des eigenen Lebens die Frage, ob Einverleibung, ob Anschluß, in diesem Augen¬
blicke anders beantworten. Er hält vielleicht die Incorporation der Herzog¬
thümer auf dem von Herrn v. Bismarck betretenen Wege für unausführbar, so
lange nicht in Preußen selbst zwischen der Regierung und dem Volk ein guter
Friede hergestellt ist. Er hält sie vielleicht auch dann für ein Wagniß, welches
die Kräfte der jetzt regierenden Persönlichkeiten übersteigt. Ein Anderer hält
den Werth der Einverleibung für so groß, daß er das rücksichtslose Vorgehen
und das kühnste Wagen für die Pflicht jedes preußischen Staatsmannes erachtet.
Dem Einen gilt die Mitbestimmung der Herzogthümer für unwesentlich, die An-
sprüche des Herzogs für ein Nichts, der Andere fühlt sich gebunden durch sein
eigenes Thun in den vergangenen Jahren zu Gunsten des Herzogs, er hat ihm
gehuldigt und ist zu gewissenhaft, um sich nach Jahresfrist von einem feierlichen
Versprechen zu lösen, oder er fühlt lebhaft, daß wir zuerst vor allem der Person
des Herzogs die Befreiung von Schleswig-Holstein von den Dänen verdanken
und hält es deshalb für undankbar, ihn jetzt kurzweg als gemeinschädlich zu be¬
seitigen. Der Eine steht unter dem Zwange früherer Worte und Thaten, der
Andere tritt neu und ungefesselt durch persönliche Verpflichtungen in den Kampf
ein. Sehr verschieden ist demnach in diesem Augenblick die Stellung auch der
preußischgesinnten Liberalen zu der Annexionsfrage, und obgleich die neue
Situation auf jeden ihre Wirkung übt, ist doch nicht zu hoffen, daß in der
liberalen Partei sich daraus in kurzem cinmüthiges Handeln entwickeln wird.
Und doch ist nothwendig, daß eine Grundlage gefunden werde, auf welcher sich
die verschiedenen Schattnungcn derselben patriotischen Partei zu gemeinsamem
Entschluß erheben könnten.
Denn immer stärker droht die Spannung der Gegensätze zu werden, wo
verschiedene Ueberzeugungen heftig gegen einander arbeiten, bleibt die persön¬
liche Gereiztheit nicht aus und solche Gemüthsstimmung ist nicht geeignet, die
Kämpfenden einander zu nähern. Es wild also hohe Zeit, zu suchen, ob noch
ein gemeinsamer Boden für Verständigung festzuhalten ist, sowohl innerhalb
der nationalen Partei in Deutschland, zumeist aber zwischen Schleswig-Hol-
steinern und Preußen.
In dieser Zeit sind wir der Indiscretion Dank schuldig, welche detaillirte
Mittheilung über die Forderungen Preußens in die Oeffentlichkeit getragen hat.
Hier ist — wenn man von dem Wortlaut absieht — ein genau sormuiirter
officieller Ausdruck des Staatswillens gegeben, und er ist allerdings dazu ge¬
eignet, auch das Programm der preußischen Partei zu werden. Welche weitern
Pläne man auch Herrn v. Bismarck mit gutem Grunde zuschreibe, was er über
diese Forderung hinaus will, sind noch Projecte eines elastischen Geistes, welche
sich jeden Tag nach der innern Lage Preußens oder nach einem Wechsel in den
Stimmungen seines Königs modificiren können.
Die Forderungen sind bekanntlich 1) das Heer ein Theil des preußischen
mit gleicher Aushebungsweise, Organisation und preußischem Fahneneid, 2)Iriegs-
hafen und Landeshoheit über das Terrain, welches für militärische Zwecke be¬
festigt werden muß, 3) Bau des Kanals durch Preußen und preußisches Ober¬
aufsichtsrecht. 4) Post und Telegraphie preußisch, S) Eintritt der Herzogthümer
in den Zollverein. Wohl hätte man preußischerseits die Armecforderung we¬
niger schroff ausdrücken können, aber, wie sie ist, liegt ihre Ausführung in
allen Hauptpunkten ebenso sehr im Interesse der Herzogthümer selbst als Deusch-
lands. Die geographische Lage des Landes ist nicht so, daß ihm das Still¬
leben eines kleinen Bundcscontingents gegönnt werden kann. Wenn die deut¬
schen Großmächte unsere Bundcskriegsverfassung und die kleinen Armeen unserer
Mittelstaaten ertragen, so geschieht das, weil solch kleiner Heerkörper doch nur die
Friedensorganisation einer Landschaft ist, deren Grenzen gegen Osten undMcsten
von preußischen Heeren gedeckt werden. Im Fall eines großen Krieges würde
die Bundeskriegsverfassung und das Kriegshcrrnthum der meisten Mittel- und
Kleinstaaten thatsächlich ein schnelles Ende erreichen, ihre Contingente würden
zu Theilen des östreichischen oder preußischen Heeres. Wozu in den Herzog¬
thümer» die zahlreichen Uebelstände neu organisiren, an denen kleine Heerkörper
bei dem besten Willen der Führer leiden? Immer noch drückt die preußische
Hecresverfassung das edle Princip am reinsten aus, daß jeder Mann Soldat
sein solle und daß die dienende Mannschaft nicht aus Berufssoldaten bestehn
dürfe. Es wird den Schleswig-Holsteincrn ihr Selbstgefühl nicht vermindert
werden, wenn sie als Soldaten den straffen preußischen Dienst erlernen und es
wird nicht wenig zu ihrer militärischen Tüchtigkeit beitragen, wenn wenigstens
einzelne Waffengattungen in preußischen Garnisonen ihren Dienst thun, dem
Lande aber wird es die Sicherheit wahrlich nicht verringern, wenn Preußen
das Recht erhält, grade die Truppen, welche ihm am meisten geeignet scheinen,
an der gefährdeten Nordgrenze aufzustellen, — Unter den übrigen preußischen
Forderungen ist die der Post- und Telegraphenverwaltung wahrscheinlich aus
militärischen Rücksichten eingeführt, die unbestimmte Abfassung des betreffenden
Paragraphen, aus welchem nicht deutlich wird, ob die Ertragsüberschüsse der
Landesregierung zu Gute kommen, macht hier Modificationen möglich. Darüber
würde sich nachträglich noch verhandeln lassen.
Man ist genöthigt diese Forderungen als das Programm der preußischen
Regierung zu betrachten, man darf von Herzen damit einverstanden sein. Denn
jetzt ist keine Zeit an Einzelheiten zu mäkeln. Vielmehr ist dringend zu wün¬
schen, daß man an den beiden Stätten deutschen Bodens, wo die beistimmende
Aufnahme dieser Forderungen am wichtigsten ist, sich offen dafür ausspreche.
Zunächst ist dies von dem Herzog Friedrich und seinen Räthen zu wün¬
schen. Wir haben stets für ein Unrecht gehalten, daß man bei den Verhand¬
lungen über die Zukunft der Herzogthümer die Person des Herzogs als un¬
wesentlich beiseite gehest hat, wir sind uns wohl bewußt, daß nur'die Existenz
dieses Fürsten, dessen'Erbrecht jeder Liberale vor anderthalb Jahren als natio¬
nales Glück im Munde führte, die Möglichkeit darbot, daß die Herzogthümer
dänenfrei wurden. Wir haben nie sein gutes Recht verläugnet, aber wir haben
ihm auch nie verborgen, daß sein gutes Recht einem bessern nachstehn muß,
wie jedes Recht, auch das des höchsten Fürsten, dem Gemeinwohl nachstehen muß.
Es ist die Zeit gekommen, wo ihm dies Opfer zugemuthet werden darf. Denn jetzt
ist nach allem, was versäumt und vergeblich versucht wurde, vielleicht letzte Ge¬
legenheit für ihn, aus seiner abwartenden Stellung herauszutreten. Noch ver¬
mag er jetzt durch Annahme der preußischen Vorschläge sich eine Beachtung zu
erzwingen, welche ihm eine Zukunft in den Herzogthümern sichert. Weder die
Unterstützung Oestreichs noch die abmahnenden Rufe anderer deutscher Höfe werden
ihn sicher davor bewahren, daß die Menge, weiche nach den Erfolgen ihre Rech¬
nung anstellt, allmälig auch in den Herzogthümern ihm fremd wird. Der Weg,
die Änncxionsversuche des Herrn v. Bismarck durch Betonung des Paticularismus
in den Herzogthümern zu bekämpfen, führt zu keinem Ziele. Die Verhandlungen
der Schleswig-holsteinischen Vereine mit Männern des Sechsunddreißigeraus-
schusses sind'in diesem Augenblick, wie wir fürchten, durchaus fruchtlos. Das
Spiel, welches über den' Herzogthümern beginnt, ist sehr gewagt für Preu¬
ßen, es ist aber noch gefährlicher für die Erbansprüche eines Fürsten. In
Preußen mögen die Personen wechseln, aber auch ein neues Ministerium wird
die Sachlage vom preußischen Standpunkt nach der grade vorhandenen Situa¬
tion beurtheilen.
Auch das hohe Haus der preußischen Abgeordneten findet in den Forderungen
seiner Regierung eine Basis, auf welcher die Parteien für diese Angelegenheit
sich im Kompromiß vereinigen können. Die formulirten Forderungen vertreten
deutsches Interesse, preußisches Interesse. Sie gestatten die möglichst schnellste
Lösung, welche weniger Verwickelungen und Gefahren darbietet als die völlige
Einverleibung durch ein reaktionäres Ministerium, die diesem nur durch ein
System des Cäsarismus möglich ist. und deshalb eine liberale Opposition mehr
als einmal in die gefährliche Lage bringen kann, entweder große reale Staats¬
interessen zu bekämpfen oder Maßregeln der Willkür und verächtliche Behand¬
lung eines Volkswillens schweigend zu ertragen.
Vor einigen Wochen wurden die Holstein» durch die Kunde von einer
geheimnißvollen Zusammenkunft preußisch gesinnter Männer in Rendsburg in
Aufregung versetzt. Dunkle Gerüchte über die dort geschmiedeten schwarzen
Pläne flogen hin und her; man nannte einige früher gefeierte Namen, welche
man aber seit längerer Zeit mit Argwohn oder gar Abscheu auszusprechen sich
gewöhnt hatte, sogar zwei junge kieler Professoren wurden von der eifrigen
Schleswig-Holsteinschen Zeitung als Mitschuldige des grausen Werks genannt,
jedoch für dieses Mal noch in'Anbetracht des mildernden Umstandes,' daß sie
„kaum noch das Ende des vierhundertjährigen Kampfes gegen Dänemark mit¬
erlebt hätten", mit einem gelinden Verweis wegen ihrer Unbesonnenheit ent¬
lassen. Man kannte nicht alle Einzelheiten, aber so viel war sicher-. Die
„Flensburger" wollten das auserwählte Volk des Herrn rettungslos an den
dösen Preuhen verkaufen, und vielfach wurde wiederum das große Wort eines
eifrigen Mannes variirt, der da schon im vorigen Sommer geschrieben hatte:
„Der Verrath rüstet sich zum Sprunge!"
Was nun die Uebelthäter wollten, das kam zwar einstweilen formell nicht
an die Oeffentlichkeit, aber da sie sich durchaus nicht verpflichtet hatten, aus
ihren Ansichten und Bestrebungen ein Geheimniß zu machen, so konnte jeder
Verständige bald erfahren, daß sie auf alle Fälle den „engsten Anschluß an
Preußen" wollten, nicht als ein trauriges, durch die Noth der Zeit abgezwungenes
Opfer, sondern als einen Schritt zur Annäherung an das große Ziel der natio¬
nalen Einigung, und daß ihnen dieser Anschluß noch hoher stand, als die Ein¬
setzung der'augustenburgischen Dynastie. Die Mehrzahl der Vereinigten wünscht
allerdings aufrichtig, daß der Herzog unter den nothwendigen Beschränkungen
zu Gunsten Preußens die Regierung bekäme, aber keiner war unter ihnen, der
nicht die Annexion an Preußen der Schöpfung eines vollkommen souveränen
Kleinstaats vorzöge.
Das waren denn Tendenzen, die allerdings sehr gegen die landesübliche -
Rechtgläubigkeit verstießen. Man hatte aber früher auch in viel weiteren
Kreisen von „Anschluß an Preußen" gesprochen; jetzt drängten nnn diese ent¬
schiedenen Bestrebungen die Einsichtigeren unter den gemäßigten Particularisten
dazu, sich auch etwas deutlicher in diesem Sinne auszusprechen, zumal da man
allmälig einsah, daß durch die sogenannte Vierziger- oder Umschiagserklä-
rung, welche mit echt deutscher Aufrichtigkeit statt des Anschlusses an Preußen
den'unklaren Ausdruck „Anschluß an Deutschland" gebraucht hatte. Preußen
zu stark vor den Kopf gestoßen und mithin eine der Landessache ungünstige Wirkung
erreicht war. So erschien denn wieder in Kiel, dem Hauptsitz der Gemäßigten,
eine Erklärung der Hauptleiter für den Anschluß an Preußen, die freilich weder
Hörner noch Zähne hatte. Man wollte Preußen einige, und zwar nicht un¬
bedeutende Vortheile geben, aber unter Wahrung des Selbstbestimmungsrech¬
tes der Herzogthümer,'d. h. man verlangte, Preußen sollte den Herzog einsetzen
und dann ruhig abwarten, ob er und die Stände ihm das gewähren würden,
was es fordern muß. Daß nun aber eine Schleswig-holsteinische Ständeversamm¬
lung aus freien Stücken Preußen große Zugeständnisse machen würde, erscheint
bei der herrschenden Stimmung als eine Illusion. Allein auf jeden Fall zeigte
sich hier doch guter Wille: man gab zu verstehen, daß die eigenen Ziele von
denen der nationalen gar nicht so fern ablägen. Aber ganz anders klang es
von anderen Orten her. Die von Kiel früher ausgegebene Parole hatte ge¬
wirkt; das Volk hatte sich die unklaren Satze auf seine Weise ausgelegt. Als
vierzehn Tage nach der Versammlung der nationalen die Delegirten der Schles-
wig-holsteinischen Bereine in Rendsburg zusammenkamen, da war die Majorität
consequent und die Kieler erlitten mit ihren Anträgen, die bei aller Schwäch¬
lichkeit doch wenigstens ein gewisses Wohlwollen gegen Preußen zeigten, eine
vollständige Niederlage. Der ungeschminkte Particularismus siegte; bezeichnend
war vor allem, daß der Redacteur der prcußcnfresserischen Schleswig-Holsteinischen
Zeitung, ein Jsraelit aus Schlesien Namens May, in den engeren Ausschuß
gewählt ward. Neben mehren Gesinnungsgenossen dieses Herrn waren zwar
auch einige gemäßigtere Männer gewählt, aber diese sanden die Gesellschaft doch
zu gemischt und lehnten ab. Die Schleswig-holsteinischen Vereine sind fortan
als rein particularistische Clubs anzusehn.
Dieser Ausgang überraschte die Kieler etwas unangenehm. Einige der
Führer traten aus dem Vereine aus, andere legten wenigstens ihre Vorstands¬
ämter im Localverein nieder; andere wären auch wohl gern ausgeschieden, blieben
aber aus höheren diplomatischen Rücksichten im Verein: man konnte ja nicht
wissen, ob man nicht dereinst durch günstigere Umstände die verlorene Leitung
wieder in die Hände bekäme. Aehnliche Erscheinungen zeigten sich an anderen
Orten: Rücktritt der Vorstände, Austritt zahlreicher Mitglieder, selbst Auflösung
ganzer Vereine. In Flensburg, dem Ort, an welchem die preußische Partei
noch am stärksten zu sein scheint, faßte der Schleswig-holsteinische Verein ein¬
stimmig den Beschluß, sich aufzulösen. Manche Männer wurden natürlich durch
die Niederlage der halben und die Siegesfreude der ganzen Particularisten zu
den Grundsätzen der nationalen hinübergedrängt.
Die Bestrebungen derselben hatten mit überraschender Schnelligkeit als
Hecht im Karpfenteich gewirkt und wesentlich zur Klärung der Parteiverhältnisse
beigetragen. Wenig Aufsehen machte dagegen die jetzt stattfindende Veröffent¬
lichung des rendsburger Programms dem Wortlaute nach. Alles Wesent¬
liche war ja schon bekannt geworden, und dann wurde das Interesse daran
durch das grade in diese Zeit fallende Bekanntwerden der preußischen For¬
derungen verdunkelt. Wenn auch der Wortlaut dieser Forderungen nicht vor¬
liegt, so ist doch so viel deutlich, daß Preußen sür sich noch etwas weniger
fordert, als ihm die nationalen einräumen möchten. Natürlich schließen sie
sich diesen Forderungen entschieden an. Etwas unklar bleibt die Stellung
der kieler Vermittlungspartei, die sich nirgends deutlich über das Verlangen
Preußens äußert. Im Interesse des Herzogs ist es sehr zu bedauern, daß sich
seine Rathgeber nicht rasch offen für dasselbe aussprachen. Ob man wirklich
glaubte, daß man dereinst doch noch bessere Bedingungen bekommen würde?
ob man durch eine Kundgebung für Preußen Oestreich und die Mittelmächte
zu verletzen fürchtete? oder ob man noch tiefere Gründe hatte? man war diplo¬
matisch und schwieg ganz. Mit Entrüstung verwarfen natürlich die Partien
laristen Preußens Anmaßungen.
Oestreich hat abgelehnt und trägt die Schuld, wenn sich das Provisorium
noch in unabsehbare Ferne hinzieht. Unsere Particularisten, namentlich die
sogenannten Demokraten lassen sich freilich durch die von Zeit zu Zeit vor¬
gebrachten, den populären Wünschen schmeichelnden östreichischen Redensarten
blenden, als ob der Kaiserstaat je das Geringste aus reiner Menschenfreundlich¬
keit gethan hätte. Kommt Oestreich einmal in eine Lage, welche ihm die Freund¬
schaft Preußens nöthig macht, mag oder vermag Preußen ihm ein Aequivalent zu
bieten — etwa ein klingendes! — dann wird des ohne die geringsten Gewissens-
zweiscl Preußen geben, was es verlangt, und das wird dann wohl mehr sein,
als das letzte Mal. Wer weiß, wie bald el» solcher Fall eintreten kann? That¬
sächlich sind die Herzogthümer ja doch in preußischem Besitz. Daß der Frei¬
herr v. Zedlitz durch die neuen Jnstructionen, welche sein östreichischer College
bekommen haben soll, sehr gehemmt wurde, verlautet bis jetzt noch nicht. Aber
freilich wird dieser Zustand auf die Dauer höchst unbehaglich, schon wegen des
Mitgefühls, das uns das Heimweh der armen Kroaten, Magyaren und andrer
deutschen Brüder einflößt, welche wir so gern in ihre schöne Heunalh entließen.
Den Anblick der bösen Pickelhauben werden wir ja freilich so wie so nicht
wieder los werden.
Mit banger Erwartung richten wir nationalen unterdessen unsere Blicke
auf das preußische Abgeordnetenhaus. Allgemein ist anerkannt, daß das¬
selbe beim Wiederausbruch des Schleswig-holsteinschen Streits nur zögernd im
Spätherbst 1863 seine hohe Aufgabe übernahm. Die Erbitterung des parla¬
mentarischen Kampfes konnte damals für den Mangel an rascher Entschlossen¬
heit als Entschuldigung dienen; es war ja viel verlangt, daß man plötzlich mit
dem Ministerium, das man so heftig bekämpfte, Frieden schließen sollte, um
vereint mit ihm die höchsten deutschen Interessen zu vertreten. Inzwischen hat
dies selbe Ministerium doch den Kampf für Deutschland zu einem ehrenvollen
Ende geführt; diese Thatsache läßt sich nicht wegstreiten. Aber noch stehn große
Interessen auf dem Spiel. Gelingt es Oestreich/die Eonstituirung eines selbst¬
ständigen Kleinstaats nördlich von der Elbe durchzusetzen, dann ist el» großer
Theil des Gewinnes wieder preisgegeben. Die Abgeordneten haben jetzt Zeit
genug gehabt, sich über die Lage klar zu werden. Könnten sie wirklich ein
Parteuntercsse über das der Nation stellen, so würde der gesunde Sinn des
preußischen Volkes, sich von seinen Vertretern mit Trauer abwenden, aus
welche eS bisher so stolz war. Was man hier von der Stimmung liberaler
Abgeordnetenkreise hört, was gelegentlich in den Worten Einzelner zum Vor¬
schein kommt, klingt wenig tröstlich; aber noch geben wir die Hoffnung nicht
auf, daß die Mehrheit das thue, was ihre Pflicht verlangt. Eine offene Er¬
klärung der Abgeordneten, bah auch sie die nach Wien gerichteten preußischen For¬
derungen als das Minimum des zu Verlangenden ansehen und daß in dieser
Frage' die Regierung das ganze Volk hinter sich habe, würde nicht ohne blei¬
bende Wirkung auf die Herren in Wien, Kiel und Frankfurt sein. Es
ist freilich hart, daß man mit Herrn v. Bismarck gehn soll, aber thut
man es nicht, so zeigt man, daß man persönliche Antipathien über die
Sache des Vaterlandes setzt. Glaubt man, daß man durch eine Unterstützung
des Ministeriums in dieser Frage den liberalen Interessen schade, so bedenke
man doch, daß man ihnen durch Widerstand in ihr noch weit mehr schaden
wird, denn eine Neuwahl wird nach einem solchen Auftreten die Liberalen
wahrscheinlich vieler Stimmen berauben, und wir nationalen in den Herzog-
thümern würden dann leider in der widerwärtigen Lage sein, ein solches Resultat
erfreulich finden zu müssen.
KÄI
Evang. Joh. 1,8. Vers 23.
Die Schleswig-holsteinische Angelegenheit ist noch immer ein Gegenstand
staatsrechtlicher Untersuchung und Debatte. Noch sind die preußischen Kron¬
juristen mit ihrem Gutachten über die Erbfolge beschäftigt, während die Staats¬
weisen der Trias darthun, daß die neuen preußischen Forderungen mit dem
Begriff der staatlichen Souveränetät und dem deutschen Bundesrecht unvereinbar
sind. So wird es wohl auch uns erlaubt sein, für .eine kurze Nachweisung
Raum und die Aufmerksamkeit der Leser zu erbitten.
Von vornherein sei bemerkt, daß wir in der Erbfolgefrage auf dem
augustenburgischen Standpunkt stehen; der Anspruch des Herzogs Friedrich er¬
scheint uns ohne Zweifel als der am besten begründete. Andererseits freilich
— darin müssen wir Treitschke beistimmen -— ist überall kein historischer Fort¬
schritt möglich gewesen, ohne daß nicht minder gute und ebenso wohlerworbene
Rechte verletzt oder geopfert worden sind; das Recht der lebendigen Entwickelung
eines Volkes geht über den todten Buchstaben der Stammbäume hinweg. Je¬
doch wie die Sachen einmal verlaufen sind, ist es erklärlich, daß selbst klar
sehende patriotische Männer in Schleswig-Holstein nicht zu allem die Hand
bieten, noch weniger direct mitwirken mögen. Wir begreifen vollkommen, warum
die neue nationale Partei dort den Anschluß an Preußen und nicht die Annexion
auf ihre Fahne geschrieben hat; die großen allseitigen Vortheile der letzteren
kann man nicht verkennen, aber man fühlt sich durch die eigene Vergangenheit
doch noch einigermaßen gefesselt.
Also Anschluß im Sinn der bekannten preußischen Forderungen, die ja
im Wesentlichen mit dem Programm der nationalen Partei in Schleswig-
Holstein übereinstimmen. Und dieser Anschluß muß und wird, im wahren In¬
teresse Schleswig-Holsteins und des ganzen Deutschland, durchgesetzt werden,
mögen sich die Particularisten noch so sehr dagegen sträuben. Dabei wird nun
freilich der feste Wille und die Macht Preußens das Beste thun und den Aus¬
schlag geben müssen. Aber vielleicht trägt es doch auch dazu bei, einige Wider¬
strebende zu versöhnen, wenn wir im Nachstehenden nachweisen, daß das alte
Staatsrecht Schleswig-Holsteins für die gewünschte neue Ordnung der Dinge
einen Anhalt bietet.
Wir knüpfen an den wiener Frieden an. Es liegt auf der Hand und ist
schon durch die geographischen Verhältnisse bedingt, daß die in jener Acte von
den alliirten Mächten erworbenen Rechte im Ernst und auf die Länge nur
Preußen zu Gute kommen können. Oestreich wird früher oder später dem un¬
fruchtbaren Mitbesitz entsagen.
Man hat vielfach sich entrüstet und gespottet über den Artikel III. des
Friedensvertrages, in welchem der König von Dänemark für sich und seine
Nachfolger allen seinen Rechten auf die Herzogthümer zu Gunsten der alliirten
Monarchen entsagt. König Christian der Neunte, meinte man, habe niemals
Rechte gehabt, höchstens den factischen usurpirter Besitz; es sei unwürdig, solche
Abtretung entgegenzunehmen, und wie die Redensarten alle lauten. In der
That verhält es sich jedoch ganz anders; es ist das nicht nur die herkömmliche
völkerrechtliche Formel, sondern der Artikel giebt wirklich werthvolle Rechte
auf und ist für die ganze Zukunft der Herzogthümer von höchster Bedeutung.
Zunächst kann es nicht zweifelhaft sein, daß Christian der Neunte damit
alle Rechte und Ansprüche aufgegeben hat, welche ihm und seiner Nachkommen¬
schaft als Mitgliedern des oldenburgischen Gcsammthauses auf die eventuelle
künftige Erbfolge in den Herzogthümern zustanden; diese eventuellen Rechte
hätten sonst im Friedensvertrag ausdrücklich vorbehalten werden müssen. Erlischt
also der Zweig AuguFcnburg und der Zweig Glücksburg kommt an die Reihe,
so kommt doch die Linie Christians des Neunten nicht mehr in Betracht, sie wird
einfach Übergängen. Wir haben also nicht mehr zu fürchten, daß in solcher
Weise auf dem Wege Rechtens die Personalunion zwischen Dänemark und
Schleswig-Holstein wiederhergestellt werden könnte.
Für Holstein mag die Sache damit erledigt sein; aber was das Herzog-
thum Schleswig anbetrifft, so hätte dort, ohne den Artikel III, jeder König
von Dänemark, ohne Unterschied der Abstammung, jetzt und künstig wichtige
Rechte geltend zu machen gehabt.
Bekanntlich erscheint Schleswig beim Anfang der beglaubigten Geschichte
als ein Bestandtheil, eine Provinz des dänischen Reiches; doch erlangte das
Land bald eine abgesonderte selbständige Stellung. Schon im elften und zwölf¬
ten Jahrhundert haben dort Herzoge aus dem dänischen Königshaus gewaltet,
und seit 12S2 wird das Herzogthum thatsächlich zu einem erblichen Lehn für
die Nachkommenschaft des Königs Abel. Als diese erlosch, ging Schleswig in
derselben Eigenschaft an die schauenburgischen Grafen von Holstein über; schon
1386, jedenfalls aber 1440 ist die Belehnung mit, dem Herzogthum als einem
rechten Erblehn mit ausgestreckter Fahne erfolgt; und so ist es auch während
der beiden ersten Jahrhunderte der oldenburgischen Herrschaft geblieben. Erst
dann kam eine Veränderung; der siegreiche Schwedenkönig Karl der Zehnte er¬
zwang im rothschilder Frieden von Dänemark das Zugeständnis;, daß sein
Schwiegervater Herzog Friedrich von Gvttorp für seinen Antheil am Herzog¬
tum Schleswig von der dänischen Lehnshvheit befreit werden solle. So ge¬
schah es; durch die Urkunde vom 12. Mai 1658 hat der damalige dänische
König Friedrich der Dritte den Herzog Friedrich von Gottorp und seinen männ¬
lichen ehelichen Descendenten die Lehnsempfängniß über Schleswig erlassen und.
so lange deren einer am Leben sein wird, die Souverainetät über" den gottor-
pischen Antheil an diesem Herzogthum eingeräumt. An demselben Tage stellte
König Friedrich der Dritte ein zweites Diplom aus. wodurch er auch sich, selbst
als Herzog von.Schleswig und seine ehemännlichen Nachkommen in derselben
Weise von der Lehnspflicht entbindet und die volle Souveränetät über den
königlichen Antheil am Herzogthum verleiht. Es ist dabei in beiden Urkunden
ausdrücklich ausbedungen, daß „dieses Herzogthum Schleswig großentheils oder
ganz der Krone und Unsern (seil, königlichen) Successoren zum Nachtheil nicht
zu veralieniren, sondern im jetzigen souveränen Stand und seiner Konsistenz,
so lange respective die königliche und die gottorpische Linie im Leben sein wird,
zu lassen sei."
Die Bedeutung dieser Acten von 16S8 ist klar genug: Dänemark hat den
Gottorpern nicht mehr eingeräumt als nothwendig und der andern Linie eben
soviel, aber auch nicht mehr. Das Land Schleswig ist dadurch keineswegs un¬
bedingt und für immer ein souveränes Herzogthum geworden, wie z. B. Hol¬
stein durch die Auflösung des deutschen Reichsverbandes, sondern die dänische
Lehnshoheit wird nur suspendirt, sie soll ruhen, so lange die königliche und die
gottorper Linie regieren; nachher tritt sie wieder in Kraft. — Vergebens hat
Lornsen (Unionsverfassung Dänemarks und Schleswig-Holsteins, herausgegeben
von Beseler S. 377 u. ff.) versucht, gegen diese Auffassung zu polemisiren.
Waitz (Schleswig-Holsteins Geschichte Bd. II S. 636) gesteht geradezu: „Es
war eine Verleihung an die beiden regierenden Linien; für den Fall, daß sie
erlöschen, war auf das Recht der dänischen Krone zurückzukommen."
Insbesondere hatte die dritte abgetheilte sonderburger Linie kein Recht,
für sich aus den Diplomen von 16S8 Vortheile zu beanspruchen; für sie bestand
die Lehnsqualität Schleswigs fort, und Mitglieder dieses Hauses haben denn
auch 1663 und später noch die Belehnung wie für ihre abgetheilten Herrschaften
so mit der gesammten Hand an dem Herzogthum Schleswig als zu einem „recht
fürstlich altväterlich ererbten Fahnenlehn" erbeten und erhalten. (Vgl. Votum
des königlich bayerischen Bundestagsgesandter v. d. Pfordten. S. 18—19.)
So auffällig und unlogisch der Gegenwart ein solches Verhältniß erschei¬
nen mag, zu jener Zeit war es nichts Ungewöhnliches. Dem Vorgang von
1668 entspricht vollständig, was fast gleichzeitig für Ostpreußen geschehen ist.
^
Bekanntlich war dies vormalige deutsche Ordensland, das alte Herzogthum Preu¬
ßen, seit 1525 ein polnisches Erblehn. Nun erlangte der große Kurfürst Frie¬
drich Wilhelm von Brandenburg durch Artikel V des Vertrags zu Welau,
19. September 1657, von der Krone Polen die Befreiung von der Lehnshoheit
und die Souveränetät in Preußen, aber nur für sich und seine ehelichen männ¬
lichen Descendenten. Dabei wird in dem folgenden Artikel VI ausdrücklich
vorbehalten, daß daraus keine xerpötua, toucti MguMo folgen soll, sondern
wenn die kurfürstliche Linie erlischt, so tritt das alte Recht des Königs und
der Republik Polen (das supreiuum äominium) wieder in Kraft, und die bran¬
denburgisch-fränkischen Agnaten von Kulmbach (Bayreuth) und Ansbach sollen,
wenn sie zur Succession (zum clomimuin utile) zugelassen werden, das Herzog¬
thum Preußen wieder in der früheren Weise von Polen zu Lehn nehmen (Pfef-
fingers Vitriarius illustr^of. Bd. II. S. 929).
Diese Clausel ist für Ostpreußen endgiltig durch den völligen Umsturz des
polnischen Reichs beseitigt worden; bekanntlich sind auch die beiden fränkischen
Nebenlinien ausgestorben, und nur das kurfürstlich königliche Haus blüht fort.
Dagegen für Schleswig und die sonderburger Linie hat dasselbe Rechtsverhält¬
niß bis auf die neueste Zeit unverändert fortbestanden*).
Was ist nun die praktische Consequenz? Die gottorpische Linie hat ihren
Antheil an Schleswig durch Verzicht und Tausch aufgegeben, die königliche Linie
ist ausgestorben; damit wurden die Souveränctätsdiplome von 1658 hinfällig.
Ging es nun nach dem alten Schleswig-holsteinischen Staatsrecht, so mußte nach'
dem Tode des Königshcrzogs Friedrich des Siebenten der nächstberechtigte Son¬
derburger, also Herzog Friedrich, das Herzogthum Schleswig wieder von Däne¬
mark zu Lehn nehmen; ebenso nach ihm alle Augustenburger und Glücksburgcr.
Ob die Gottorper, wenn sie nach dem Erlöschen der sonderburger Linie an die
Reihe kämen, wieder auf das Diplom von 1658 für den alt-gottorpischen An¬
theil zurückgreifen dürften, mag dahingestellt bleiben. Jedenfalls sobald das
oldenburgische Gesammtbaus erloschen wäre, müßte Schleswig als erledigtes
Lehn an die Krone Dänemark zurückfallen.
König Christian der Neunte von Dänemark hatte also bei seiner Thron¬
besteigung zwar keinen gerechten Anspruch auf den Besitz, aber doch jedenfalls
die Lehnshoheit (Suzeränetät) und das Heimfallsrecht über Schleswig. Diese
Rechte hat er durch den wiener Frieden auf die alliirten deutschen Großmächte
übertragen. Das Recht des Heimfalls kann für spätere Eventualitäten von
Wichtigkeit werden; daß die Suzeränetät einen Anhalt bietet für eine Ordnung
der Dinge, wie Preußen sie fordert, für den sogenannten engen Anschluß, scheint
uns nicht zweifelhaft; doch wird das einer weiteren staatsrechtlichen und politischen
Erwägung bedürfen, welche nicht hierher gehört.
Alles dies gilt, wie gesagt, nur von Schleswig; aber soll wirklich die Ein¬
heit und Unteilbarkeit als der wichtigste Grundsatz des Schleswig-holsteinischen
Staatsrechts gelten, so wird Holstein dem Bruderlande sich anbequemen müssen.
Jedenfalls würde sich vom Rechtsstandpunkt wenig dagegen einwenden lassen,
wenn die alliirten Mächte Titel und Wappen von Schleswig-Holstein und
Lauenburg als Anspruchswappen annähmen. Hat man doch sogar dem König
von Dänemark nicht verwehrt, eben diese Jnsignien als Gedächtnißwappen
fortzuführen.
Der Anspruch des Herzogs Friedrich auf die Erbfolge, aus das ctominium
utilo, bleibt bei alledem unverändert.
''
Noch eine Schlußbemerkung. Vielleicht wird mancher Leser fragen, wie es
zugeht, daß in der ganzen langwierigen Erbfolgeliteratur der letzten Jahre dieser
wichtige Punkt gar nicht zur Sprache gekommen ist? Das erklärt sich leicht.
Die deutschen Publicisten hatten allerdings keine Veranlassung, ein Rechts¬
verhältniß zu betonen, das, wie Lornscn (a. a. O. S. 393) ganz richtig be¬
merkt, nur dazu hätte dienen können, auch für die Zukunft ebenso nutzlose als
gehässige Reibungen mit Dänemark hervorzurufen. Diese Rücksicht ward für
uns hinfällig, seit die Schleswig-holsteinische Frage eine ausschließlich innere An¬
gelegenheit Deutschlands geworden ist.
Die dänischen Publicisten ihrerseits haben offenbar auf dies minus dem
Gewicht gelegt, weil sie ein irmM in Händen zu haben glaubten, nämlich ti
sogenannte Incorporation Schleswigs vom Jahr 1721. (Vgl. darüber das,
Votum von v. d. Pfordten Ur. XX. XXXVI und XXXVII.) Diese Incor¬
poration ist allerdings „eine Erfindung der neuern Zeit", wie Herr v. d. Pfordten
sagt; aber die eiderdänische Schule, welche seit lange die Publicistik und
Politik Dänemarks beherrschte, hatte dieselbe zu einem Hauptglaubensartikel
erhoben. Und zwar bedeutete nach eiderdänischer Auffassung der Vorgang von
1721 nichts anderes, als daß Schleswig dem Königreich einverleibt und der
Thronfolgeordnung des dänischen Königsgesetzes unterworfen sei; dieser Verän¬
derung sollten auch gleichzeitig die sonderburgischen Herzoge sich gefügt und
dieselbe eidlich anerkannt haben. Verhielt es sich so und war damit der
Besitz Schleswigs der dänischen Krone für immer gesichert, so war es aller¬
dings überflüssig, auf das gedachte Rechtsverhältniß einzugehen; man durfte
davon schweigen.
Zeitungen sind entweder Parteiorgane oder industrielle Unternehmungen,
oder sie werden — den Verhältnissen nach der am häusigsten vorkommende
Fall — von gemischten Rücksichten in ihrer Haltung bestimmt und haben, ob¬
wohl auf die Existenz einer Partei oder einer politischen Stimmung hin be¬
gründet, mehr oder minder merklich zugleich das materielle Interesse des Ver¬
legers oder Besitzers im Auge. Reines Parteiorgan war die „Süddeutsche
Zeitung". Einen ähnlichen Charakter hatte die „Berliner Allgemeine Zeitung".
Ferner gehören hierher alle Regierungsblätter, wenn auch die Redacteure und
Mitarbeiter derselben oft mehr Industrielle, als Politiker sind. Als rein
industrielle Unternehmungen dagegen werden wir beispielsweise, ohne beachtens-
werthen Widerspruch fürchten zu müssen, fast die sämmtlichen großen Zeitungen
Hamburgs bezeichnen dürfen.
Der Grund, aus dem gerade diese letzteren hier hervorgehoben werden,
liegt darin, daß die Hamburger Presse lange Zeit hindurch die Versorgung der
nach Tagesneuigkeiten verlangenden Theile der deutschen Bevölkerung Schleswig-
Holsteins fast allein vermittelte, und daß die von dieser Presse gelieferten
journalistischen Waaren noch jetzt, da Hamburg in vielen Beziehungen die
eigentliche Hauptstadt der Herzogthümer ist, bis über die Eider hinaus zahlreiche
Abnehmer finden. So möchten einige Andeutungen über den Charakter dieser
Blätter, soweit derselbe unseren Zweck angeht, der Betrachtung des eigentlichen
Gegenstandes unseres Aufsatzes vorauszusenden sein.
Im Allgemeinen versteht sich nach dem Obigen von selbst, daß die Mehr¬
zahl der Hamburger Zeitungen keine stark ausgeprägte politische Meinung ver-
tritt, vielmehr, wenn wir von der allen bis auf zwei gemeinsamen liberalen
Färbung absehen, so ziemlich allen Parteien, um die sichs im Folgenden handeln
wird, gleich bereitwillig ihre Spalten öffnet. Hierher gehören zuvörderst die
„Bvrsenhalle" und die „Hamburger Nachrichten", von denen jene,
durch ihren mercantilen Theil unentbehrliches Bedürfniß der kaufmännischen
Welt im ganzen deutschen Norden, in ihrer politischen Haltung beinahe völlig
gesinnungslos ist, bald, und zwar am häusigsten, eifrig für Oestreichs Interesse
in die Schranken tritt, bald für die Ansprüche des Großherzogs von Oldenburg
Liebhaber zu werben sucht, bald wieder die Vortrefflichkeit der preußischen Erb¬
rechte in den Herzogthümern in langen Abhandlungen zu illustriren bestrebt ist.
Die „Nachrichten", die einige gute Korrespondenten haben, sind etwas kon¬
sequenter und neigten stets mehr nach preußischer Seite hin, ließen aber in der
Schleswig-holsteinischen Frage aus Geschäftsrücksichten eine Zeit lang gelegentlich
auch dem gelinderen Particularismus die Thür offen. Jetzt und schon seit
einigen Monaten stehen sie der Partei des engen Anschlusses an Preußen sehr
nahe, und selbst annexionistischen Artikeln ist die Aufnahme nicht verwehrt.
Was für eine Ueberzeugung im Frühling oder im Sommer bei dem Haupt¬
redacteur und Besitzer die vorherrschende sein wird, laßt sich mit Sicherheit
nicht voraussagen. Erfolgen keine beträchtlichen Abbestellungen aus den Herzog-
thümern. so wird die Firma Hartmeyer und Co. vermuthlich auf dem neuer¬
dings eingeschlagenen Wege beharren, und so kann das Blatt für Leser im
Binnenlande als Barometer dienen, der mit ziemlicher Genauigkeit die Stim¬
mung in den wohlhabenderen und gebildeteren Schichten der Schleswig - holstei¬
nischen Bevölkerung angiebt. Mit ziemlicher Genauigkeit sagen wir; denn
einmal hält man die „Nachrichten" nicht blos wegen ihrer politischen Mit¬
theilungen, und dann giebt es in jenen Schichten Kreise, die sie überhaupt
nicht lesen. Der Ton des Blattes ist übrigens durchweg anständig, und die
erwähnten preußenfreundlichen Korrespondenzen ließen immer auf einen Autor
von ebensoviel Bildung als Gesinnung schließen.
Der „Unparteiische Korrespondent" war bisher ein conservatives
Blatt und in der Herzogthümerfrage entschieden für die Befriedigung der preu¬
ßischen Ansprüche. Jetzt in andere Hände übergegangen, soll er liberaler werden
und, wie man wissen will, zugleich augustenburgisch. In Betreff des neuen
Besitzers oder Hauptactionärs ist zu beachten, daß die Redaction schon vor
einigen Wochen einen Anlauf nehmen zu wollen schien, in kieler Zuschriften auch
die Gegner der Sache, die sie bis dahin allein vertreten, zu Worte kommen zu
lassen. Ist dies fortgesetzt worden, so dürsten die recht vermuthet haben, die
damals aus der auffälligen, wenn auch nur kurzen Schwenkung des Blattes auf
ome Verständigung zwischen Kiel und Herrn Runkel schließen zu müssen meinten.
Der „Freischütz", nur für die niedrigsten Kreise des Zeitungspublikums
geschrieben und, wie wir hoffen, in Schleswig-Holstein nur in diesen verbreitet,
giebt weniger politisches Räsonnement als Anekdoten und Hamburger Stadt¬
ereignisse. Die „Reform", demokratisch und deshalb früher sehr dänenfreund¬
lich, ist uns in den Herzogtümern nur selten und in den letzten Monaten gar
nicht zu Gesicht gekommen. Welchen Uebergang der Geschäftssinn ihres
Herausgebers aus der frühern Haltung des Blattes gefunden hat, welchen
Standpunkt dasselbe jetzt einnimmt, vermögen wir darum nicht zu sagen. Doch
ist dies auch nicht von Wichtigkeit, da dieses in der traurigen Periode der
Dänenherrschaft leider in Holstein sehr viel gehaltene Organ eines vaterlands¬
losen Kosmopolitismus kaum noch viele Schleswig-Holsteiner zu Lesern haben
wird und diese jedenfalls nur unter den Liebhabern schlechter Späße zu suchen
sein werden, mit denen die Redaction ihre Nummern zu würzen Pflegt.
Häufiger begegnet man, wenigstens in Mona und Kiel, der „Nessel"
des Herrn Marr, die mit großem Eifer für die Annexion Propaganda zu
machen sucht, damit aber schwerlich bis jetzt Erfolg gehabt hat, noch eher haben
wird, als bis sie sich entschließen kann, eine anständigere Sprache zu reden.
Der Herausgeber des Blattes ist ohne Zweifel ein Mann von Geist. Er hat
manche sehr beachtenswerthe Wahrheit gesagt, manchen guten Einfall, manchen
gelungenen Witz vorgebracht. Er versteht sogar als Gentleman, ja glänzend
zu schreiben. Leider aber mangelt ihm, wie es scheint, in der Regel die
Neigung, von letzterer Fähigkeit Gebrauch zu machen, und wenn er seine
Wahrheiten in der Sprache der Grogschenken vorträgt, so können sie die,
welche in solchen Instituten nicht Verkehren, nur abstoßen, nicht überzeugen.
Das „Neue Hamburg", ein noch junges Blatt und herzoglich ge¬
sinnt, kommt wenig in Betracht, da es bis jetzt mehr ausgeboten und ver¬
schenkt, als gehalten wird. Dasselbe gilt in noch höherem Grade von der
„Hamburger Zeitung"^, einem vor etwa drei Jahren entstandenen und
jetzt, wie allgemein bekannt, aus den Mitteln des Herzogs von Augustenburg
erhaltenen Journal, welches den starrsten Particularismus auf seine Fahne
geschrieben hat. Mit großer Liberalität gratis vertheilt, findet es gleichwohl
kaum dankbare Gemüther, die es lesen mögen, und so nützt es wohl nur
dem Redacteur und dem linker Agenten des erlauchten Patrons, welcher
letztere auch vor 1848 in der Wahl seiner Preßwerkzeuge keine recht glückliche
Hand hatte. Der Ton des Blattes ist unbillig langweilig. In dem Streit
um die Gewerbefreiheit vertrat es die Partei der Zünftler — natürlich,
es galt ja, das „alte gute Recht" gegen die Ansprüche der neuen Zeit zu
vertheidigen, Hauptmitarbeiter soll jener Agent sein, und gutem Vernehmen
nach gönnt auch eine vornehmere Hand der Zeitung bisweilen einen eigen¬
händigen Leitartikel. Hoffen wir, daß gewisse Auslassungen gegen Preußen, die
namentlich in der letzten Zeit die Spalten des Blattes verunzierten, nicht von
dieser Hand gewesen sind. Lesen zu müssen, wie die gegenwärtigen Bestrebungen
Preußens zur Gründung einer Marine als „Flottenschwindel" bezeichnet werden,
stärkt dem Patrioten nicht gerade die etwa noch vorhandene Neigung, bis zu
einem gewissen Grade das selbständige Schleswig-Holstein unter der Dynastie
zu empfehlen, unter deren Aegide solche Redensarten ins Land gehen. Aehn-
liches aber leistet die Hamburgerin fast alle Tage.
Die in Schleswig-Holstein selbst erscheinenden Zeitungen (von den kleinen
Stadt- und Kreisblättern, deren es hier einige zwanzig giebt, reden wir nicht)
sind, nach der Größe ihrer Abonnentenzahl in absteigender Linie geordnet,
folgende: die „Jtzchoer Nachrichten", die „Schleswig-Holsteinische Zeitung",
der „Altonaer Mercur", die „norddeutsche Zeitung", die „Kieler Zeitung",
die „Schleswiger Nachrichten" und die dänisch geschriebene „Nordslesvigsk
Tidende". Ordnen wir sie nach dem zu Anfang dieses Aufsatzes Gesagten, so
gehören der „Altonaer Mercur" und die „Jtzehoer Nachrichten" als industrielle
Unternehmungen zusammen, doch gilt diese Bezeichnung für das letztgenannte
Blatt, wie sogleich zu zeigen sein wird . nur mit Einschränkung. Die übrigen fünf
Journale sind Parteiblätter. Eine Zeitung, welche man, wenn der Herzog bereits
als regierender Herr zu betrachten wäre, als Regierungsblatt anzusehen hätte,
existirt im Lande nicht, womit indeß nicht behauptet werden soll, daß die Landcs-
presse von Kiel aus nicht, soweit sie sich irgend willig zeigt, beeinflußt würde.
Die „Jtzehoer Nachrichten", seit Anfang vorigen Jahres von dem
Würtenberger Rommel redigirt, nur dreimal wöchentlich, aber in sehr großem
Format erscheinend, sind noch jetzt, wie früher, wo sie „Jtzehoer Wochenblatt"
hießen, das verbreitetste Blatt der Herzogtümer; sie zählen jetzt zwischen 9
und 10,000 Abonnenten und werden vorzüglich auf dem Lande bis hinauf an
die dänische Sprachgrenze viel gehalten, so daß ihr Einfluß, wenn sie ein reines
Parteiorgan wären, ein sehr bedeutender sein würde. Wie die Sachen liegen,
ist dieser Einfluß theilweise gehemmt. Das Blatt ist ein Tummelplatz der ver¬
schiedensten Parteien. Die Redaction und Christian Raon, einer der Haupt¬
mitarbeiter, sind gute deutsche Patrioten und infolge dessen aus Seite derer,
welche engen Anschluß Schleswig-Holsteins an Preußen vor allem fordern.
Die Leser dagegen nehmen zum Theil einen andern Standpunkt ein und ver¬
langen, Wie es scheint, häusiger als bequem und nützlich ist, baß man sie auch
als Mitarbeiter gelten lasse. Die industrielle Seite des Blattes nöthigt, darauf
einzugehen, und die Folge ist, daß nicht selten spaltenlange Auslassungen eines
ziemlich derben Particularismus erscheinen, die durch die unbeholfne Form, in
der sie auftreten, nicht genießbarer werden. Die Partei der Redaction aber
weiß sich zu helfen. Sie kann die betreffenden Artikel nicht ablehnen, wohl
aber widerlegen, und das thut sie mit einer UnVerdrossenheit und einem Ge¬
schick, die alles Lobes werth sind, und die dem Blatte immerhin einen gewissen
Parteistempcl aufdrücken, zumal da ihre Bemühungen, Verstand zu predigen,
durch Beiträge von Gesinnungsgenossen fleißig unterstützt werden. Sehr ergötzlich
ist, zu sehen, wie so ein langathmiger Particularist in dem Blatte in der Regel
unmittelbar auf seinen Fersen den Redacteur oder einen gleichdenkenden Freund
mit ebenso langem Athem, aber bessern Gründen hat. Denn lang und breit
muß die Predigt sein, sonst ist sie nicht gut. Bauer Peter oder Paul will
etwas für sein Geld haben, und wer lang hat, der läßt lang hängen, sagt
das Sprichwort.
Das dabei nicht hinter dem Berge gehalten und mit sehr kräftigen Wahr¬
heiten ins Feld gerückt wird, mögen einige Auszüge bezeugen. Als die thörichte
Phrase vom „Anschluß an Deutschland" durch die Vierziger-Erklärung von Kiel
aus in Umlauf gesetzt worden, sagte das Blatt am 2. Februar:
„Glauben etwa diejenigen, welche für einen Anschluß der Herzogtümer
an Deutschland Plaidiren, damit der Frage über den Anschluß an Preußen
auszuweichen? Wahrlich, zu solchem Wahn gehört eine unübertroffne Kurzsichtig¬
keit. Dazu gehört der Köhlerglaube, daß Preußen harmlos genug sei, sich
mit solchen Redensarten abfertigen zu lassen. Freilich, es giebt Leute, welche
meinen, damit einen ganz klaren und präcisen Gedanken ausgesprochen zu baben.
Wir aber sind überzeugt, wenn alle diejenigen, welche jetzt den Anschluß an
Deutschland betonen, sich über die Bedeutung dieser Worte erklären sollten, so
würde sich herausstellen, daß dieses Motto ein Wort für alles sei. Einige
würden darunter das altbekannte nordschleswigsche: „öl vit hupe spät öl er"
verstehe», Andere die Reichsverfassung mit dem Schützenkönig Ernst, Andere
Personalunion mit Dänemark, wieder Andre Oestreich mit dem Fürstentag, noch
Andrem „nur nicht preußisch werden". Man kann wohl mit Recht von den¬
jenigen, welche der Anschluß an Deutschland zusammenführt, sagen: diese wissen
nicht, was sie wollen, ober sie wagen nicht zu sagen, was sie wollen."
„Wenn Manche sich damit trösten, daß wenigstens die liberalen Elemente
Preußens sich mit einem solchen Anschluß an Deutschland genügen lassen und
doch nicht so unmenschlich sein würden, zu verlangen, daß die Herzogtümer
sich ohne Vorbehalt für eine Unterordnung unter Preußen erklären sollen, so
ist dieser Trost gewiß sehr kindlich. Jeder Preuße empfindet es ganz klar, daß
der Anschluß an Preußen eine Wirklichkeit, der Anschluß an Deutschland leere
Redensart ist, und daß Preußen ein Recht hat. zu fordern, daß man sich ihm
rückhaltslos unterordnet. Deutschland ist in politischer Beziehung zur Zeit noch
ein Chaos, und an ein solches lehnt man sich nicht an. Ein Staat ferner,
welchem seine Unterthanen im Interesse Deutschlands große Opfer gebracht
haben, wird sich nicht mit einigen sympathischen Phrasen zufriedenstellen und
seine berechtigten Forderungen von der Entscheidung eines Factors abhängen
lassen, für dessen Existenz die maßgebenden Normen noch nicht festgestellt sind."
„So lange man allerdings meint, ein Anschluß an Preußen sei unthun-
lich, weil dort eine dreijährige Dienstzeit existirt, ist freilich ein näheres Ein¬
gehen auf die Frage nicht nöthig; denn so lange man so oder ähnlich raison--
rire, wird der Anschluß an Preußen offenbar nur aufgefaßt als Gefälligkeit
unsrerseits, auf die wir nur einzugehen nöthig hätten, wenn man auch uns
große Zugeständnisse machte, namentlich das eine Zugeständnis,, daß der Staat
Preußen nach unserem Geschmack regiert werde. Die Sache liegt aber so, daß
der Anschluß an Preußen, selbst wenn er uns Opfer auferlegt, im Interesse
deutscher Entwickelung nothwendig ist."
Und ebenso im Interesse Schleswigs-Holsieins, sagt ein anderer Artikel des
Blattes. „Bergessen wir nicht, daß es sich vorzugsweise darum handelt, Preußen
zu gewinnen. Es mag richtig sein, daß Preußen gegen den entschiedenen Wider-
Spruch Oestreichs nichts würde durchsetzen können, aber ebenso gewiß hätten
wir dann ein endloses Provisorium zu erwarten, das unter allen Aussichten
unbestimmt die schlimmste wäre. So lange die gegenwärtige Stimmung,
welche man leider beinahe preußenfeindlich nennen muß, in den Massen
herrscht, haben wir nicht die geringste Aussicht, daß unsere Landessache auf dem
Wege des Landesrechts zum Austrag gebracht wird. Diese Stimmung ist zu¬
nächst durch die Maßregeln der preußischen Politik wie durch den Ton einiger
preußischen Preßorgane hervorgerufen. Aber das ist nicht der einzige Grund.
Es hat auch ein Theil unsrer Presse, es haben verschiedene (von Kiel ausgehende)
Agitationen besonders in neuester Zeit dazu beigetragen, diese Stimmung noch
bedeutend zu steigern, die Abneigung gegen Preußen noch zu vergrößern. Man
hat nicht bedacht, in welchem Widerspruch man sich bewegt, wenn man erklärt,
der Landesversammlung die Entscheidung für den Anschluß anheimstellen zu
wollen, und dabei das Volk so bearbeitet, daß die von ihm gewählten Vertreter
gegen denselben stimmen, gerade als ob Volk und Landesversammlung nichts
miteinander gemein hätten, während diese doch ohne Zweifel so entscheiden
wird wie jenes jetzt urtheilt.
Spätere Nummern enthielten ähnliche und zum Theil noch entschiedener
gegen die Verkehrtheiten der Particularisten auftretende Artikel, und wie wir
hören, fährt das tapfere Blatt trotz aller Schwierigkeiten, die es zu bekämpfen
hat, noch jetzt damit fort. Daß es dafür von den Gegnern tüchtig mit Schmutz
beworfen, als von Preußen bestochen verschrien und in anderer niedriger Weise
verunglimpft wird, kann dem, welcher gewisse Chorführer der demokratischen
Fraction der Schleswig-holsteinischen Particularisten kennt, nicht Wunder nehmen.
Es ist dieselbe Sorte von Politikern wie die, welche eine Zeit lang den Herzog
Friedrich mit berliner Bicrschenkenspaßen verhöhnte, nur zufällig in ein anderes
Local gerathen.
Der „Altonaer Mercur", der circa 4.000 Abonnenten haben soll und
besonders von Geistlichen und Schullehrern gehalten wird, hat nur in Betreff
kirchlicher Dinge eine bestimmte Meinung, und zwar trägt er in dieser Beziehung
den schwarzen Rock und das weiße Halstuch der Rechtgläubigst. In politischen
Fragen ist er jetzt völlig farblos, heute für die rothe Annexion, morgen für
den himmelblauen, übermorgen für den hochrothen Particularismus, wie die
Zusendungen gerade einlaufen, bisweilen in einer und derselben Nummer ein
Schillern in allen Farbennuancen, am häusigsten ein Ausdruck der Ansichten
und Wünsche der Partei Scheck-Plessens, die von hier aus ihre Bomben gegen
das augustenburgische Lager zu werfen pflegt.
Die eigentlichen Parteiblättcr zerfallen in solche, die dem entschiedenen
Particularismus als Organ dienen, in solche, die für einen gewissen Anschluß
an Preußen, jedoch zugleich für das Selbstbestimmungsrecht des Schleswig-
holsteinischen Volkes und Anerkennung des Herzogs vor allen Zugeständnissen
an Preußen kämpfen, und die wir deshalb als Wortführer des verschämten
Particularismus aufzufassen haben, endlich in solche, deren Redacteure und
Mitarbeiter den engen Anschluß an Preußen vor allem und in der Weise be¬
tonen, daß sie das Selbstbestimmungsrecht der Herzogtümer abweisen, das
Erbrecht des Herzogs erst in zweite Linie stellen und. wenn sie nur die Wahl
zwischen der absoluten Selbständigkeit Schleswig-Holsteins und der Einver¬
leibung in Preußen hätten, sich ohne Bedenken für die letztere entscheiden
würden.
Der entschiedene Particularismus wird von der in Altona erscheinenden
„Schleswig-Holsteinischen Zeitung" vertreten. Redacteur ist ein Herr
May, Preuße mosaischer Konfession, seit einigen Jahren in Holstein angesiedelt.
Hauptmitarbeiter der Advocat Jessen in Altona, welchem sich in der letzten
Zeit ein besonders eifriger Korrespondent in Hannover, von dem wir für jetzt
nur bemerken wollen, daß er die Seele des nunmehr entschlafenen „Wochen¬
blattes des deutschen Refvrmvereins" war. ein ebenfalls recht schreibseliger
Herr v. Neergaard-Oevelgönne und ein gewisser ziemlich hochstehender und eigent¬
lich nicht ganz in diese Gesellschaft gehörender kieler Journalist zur Bekämpfung
Preußens und seiner Freunde angeschlossen haben. Abonnenten soll das Blatt
3,000, nach Anderen 4,000 haben; Wohlunterrichtete wollen wissen, daß die
erstere Zahl die richtigere sei.
Den Charakter der „Schleswig-Holsteinischen Zeitung" lassen wir uns zu
nächst von jenem hannöverschen Mitarbeiter bezeichnen. Derselbe gab ihr Ende
October vorigen Jahres im Wochenblatt des Refvrmvereins folgendes Lob:
„Die Sckleswig-Holsteinische Zeitung darf unzweifelhaft mehr wie irgend eine
andere Zeitung des Landes den Ruhm in Anspruch nehmen, daß sie stets das
deutsche Princip höher gehalten hat als das preußische. Sie ist es auch ge¬
wesen, die fast allein sich nicht gescheut hat, ganze Leitartikel aus großdeutschen
Blättern, ja aus den als ultramontan verschrieenen „Kölnischen Blätter" ohne
Randglossen zum Abdruck zu bringen. Sie hat am tapfersten gegen die Flens-
burgerin gekämpft und sehr viel gethan, damit die Arbeit der gutgesinnten
unter den deutschen Mittelstaaten, sowie die des deutschen Volkes und der
deutschen Wissenschaft nicht vergessen werde."
Dieses Lob ist wohlverdient. Das Blatt, von particularistischen Demo¬
kraten gegründet, später auch von Legitimisten mit Beiträgen unterstützt, hat in
der That niemals für Preußen, oft dagegen für Oestreich und zu allen Zeiten
für das Recht, die Großthaten und die Bedeutung des deutschen Bundes ge¬
schwärmt. Preußen herabzusetzen, das jetzt dort herrschende Regiment noch schwärzer
zu malen, als es ist, war stets seine Lieblingsbeschäftigung und wurde beinahe mit
derselben Virtuosität betrieben, mit welcher die „Neue Frankfurter Zeitung"
sich einen Namen gemacht hat. Die glogaucr Affaire wurde monatelang zu
diesem Zweck ausgedeutet, aus jedem kleinen Skandal in Preußen ein neuer
schrecklicher Popanz für die gläubigen Leser des Blattes angefertigt. Wieder
und immer wieder, obwohl zehnmal von den berliner Officiösen für Fabel er¬
klärt, tauchte, gewöhnlich von Wien hergeschwommen, die abgeschmackte See¬
schlange von der preußischen Verschwörung mit dem Kaiser Napoleon auf. nach
welcher Herr v. Bismarck sich die Erlaubniß Frankreichs zur Annexion Schleswig-
Holsteins durch das Versprechen gesichert haben sollte, Nordschleswig wieder an
die Dänen abzutreten. Es ist wahr, bisweilen hatte die Zeitung des Herrn
Jessen Anwandlungen, in denen sie Zugeständnisse an Preußen für erlaubt,
richtiger für geboten hielt, Sie hatte einmal die Güte, den Eintritt der
Herzogthümer in den Zollverein für selbstverständlich zu erklären, und sie ließ
sich herbei, einen gewissen maritimen Anschluß an Preußen zu befürworten.
Auch andere Concessionen schienen (kurz vor der letzten Delegirtenversammlung
in Rendsburg und in der Zeit, wo die milderen Particularisten in Kiel sich
mit den schrofferen über ein Programm zu einigen suchten) dem erwähnten
kieler Journalisten nicht gerade in das Capitel des Hochverraths zu gehören.
Aber immer wieder kehrte der Jnstinct des Blattes auf die Straße zurück, die
der hannöversche Correspondent desselben als die allein richtige bezeichnen wird,
und die — wenn unser Herrgott die Bäume in den Himmel wachsen ließe —
zu einem absolut selbständigen Schleswig-Holstein führen würde, weiches natür¬
lich nach den demokratischen Grundsätzen des Herrn Redacteurs eingerichtet und
verwaltet und vermuthlich von einem nach kolbschem Recept gebackenen Miliz¬
heere vertheidigt werden würde. Die eigentliche Meinung der Zeitung war im
Grunde und trotz eines gelegentlich von Kiel her aus Gründen der Zweck¬
mäßigkeit angeregten freundlicheren Blicks nach Berlin hin identisch mit dem
Programm der großdeutschen Demokratie, und ihr Glaubensbekenntniß ist jetzt
noch das vor einigen Wochen von der politischen Weisheit des Herrn v. Neer-
gaard-Ocvelgönne formulirte. Die Heils g.IIilrveö der Herren May und Neergaard
mit dem Sechsunddreißiger-Ausschuß und etlichen Mitgliedern der preußischen
Fortschrittspartei kann hieran nur scheinbar ein wenig geändert haben —
oxpellAs t'ürea u. s. w. Jenes Glaubensbekenntniß aber lautete ungefähr
(wir haben die betreffende Nummer des Blattes nicht bei der Hand, entsinnen
uns aber des Inhalts ziemlich genau) folgendermaßen:
Preußen hat nur seine Schuldigkeit gethan, als es im vorigen Jahre
Schleswig-Holstein befreite. Es hat nicht das Land, sondern nur seine Verlorne
Ehre wieder erobert. Es hat nicht das Geringste von uns zu fordern. Reden
einige von Anschluß an diesen Staat, um aus dem Provisorium herauszu¬
kommen, so kann man dem nur mit einer sehr bestimmten Einschränkung bei-
Pflichten. Jede Concession an Preußen, jede Einräumung von Einfluß auf
unsre Gesetzgebung oder Verwaltung und wäre sie noch so unbedeutend, ist,
wenn sie Preußen als europäische Großmacht, nicht als deutsche Bundesmacht
erlangt, der Anfang zur Einverleibung. Nur solche Verpflichtungen halten wir
für bindend, welche der Herzog und die Landesversammlung gutgeheißen haben.
Und nur solche Beschränkungen unsrer Unabhängigkeit dulden wir als zu Recht
bestehend, welche uns vom deutschen Bunde als im Interesse desselben dictirt
werden.
Der Ton des Blattes ist bisweilen anständig, häufig das Gegentheil.
Wer eine andere Meinung hat als die Herren May und Genossen muß — es
geht, wie es scheint, nach dem Vorstellungsvermögen der Redaction durchaus
nicht anders — dasür entweder schon baare Bezahlung empfangen oder ein
Honorar in Klingendem, ein Amt oder anderes der Art zu erwarten haben.
In höchst unsaubrer Weise wühlte man in der glogauer Geschichte. Und wenn
die obige Lobrede die Bekämpfung der Flensburgcrin durch die Altonaerin eine
„tapfere" nennen zu dürfen glaubte, so könnte sie damit nur recht haben. wenn
sie die Tapferkeit gemeint hätte, welche die Gemeinheit der Gasse dem
Gentleman gegenüber an den Tag legt, dem seine Natur verbietet, sich mit
ihr herumzuschlagen.
Etwas weniger particularistisch ist das oben erwähnte dänische Blatt, die in
Hadersleben erscheinende von Dr. Janssen redigirte „Nordslesvigsk Tidende",
welche an die Stelle der berüchtigten „Dannevirke" zu treten bestimmt war,
aber, wenig Eignes bringend, fast nur von übersetzten Leitartikeln deutscher
Journale lebend und überhaupt mit wenig Geschick redigirt, schwerlich viel
Einfluß auf das Volk Nordschleswigs hat und im Süden so gut wie gar
nicht gelesen wird.
Als Mundstück des verschämten Particularismus oder desjenigen Partei-
conglomerats, welches, aus den milderen und verständigeren Particularisten
und den weniger entschiedenen, weil weniger klaren Nationalgesinnten zusammenge¬
flossen, den Preußen theils mehr, theils weniger Zugeständnisse machen will, vor¬
ausgesetzt, ^daß sie das Recht des Herzogs anerkennen, sich auf Unterhand¬
lungen mit den Räthen desselben einlassen und der Landesvertretung die Be-
fugniß einräumen, diese Zugeständnisse zu debattiren, zu amendiren und zu
limitiren, ist die „Kieler Zeitung" thätig. Man hat sie für das Organ
der Umgebung des Herzogs angesehen. Doch ist dies nicht begründet, wenn
auch gelegentlich zu diesem Kreise Gehörige sich in ihr vernehmen lassen. Be¬
sitzer und Genius des Blattes ist vielmehr der Bankier Uhlemann, Doctor der
Philosophie und früher Pnvatdvcent an der kieler Universität, Redacteur ein Herr
Hinsching, vormals in gleicher Eigenschaft beim „Altonaer Mercur" beschäftigt.
Die Mitarbeiter gehören zum Theil den Kreisen der Universität an. und so
giebt es zuweilen nicht blos gutgemeinte, sondern auch wohlgeschriebene Ar-
eitel. Indeß sind die unklaren und in der Form mittelmäßigen häufiger, und
das ganze Blatt leidet schwer von der Natur seiner Partei und dem daraus
hervorgehenden Bestreben, Nichtzuvcreinigendes zusammcnzulöthen, auf zwei
Achseln zu tragen und fünf gerade sein zu lassen. Wie die Partei sich keiner
Erfolge rühmen kann, so auch die Zeitung: letztere hat, wenn wir recht unter¬
richtet sind, noch keine tausend Abonnenten, obwohl sie in wenigen Wochen
ihren ersten, Geburtstag feiern wird und der Besitzer zwar mit seinen journali¬
stischen Versuchen nicht glücklich, aber ein außerordentlich rühriger und Pläne-
reicher Mann ist. Möglich wäre, das man die Bezeichnung des Blattes als
eines Organs des verschämten Partikularismus übelnähme und auf die auch
hier ? anerkannte vermittelnde Tendenz desselben und die von ihm wiederholt
kundgegebne Bereitwilligkeit, Preußen beachtenswerthe Concessionen zu machen
hinwiese. Dagegen fragen wir: wie kommt es, daß diese „Anschlußmäuner"
ihre Polemik immer nur oder doch vorwiegend gegen die Partei des engen
Anschlusses, nie oder doch sehr selten gegen die Partei richten, die gar keine»
Anschluß will? Und ist es etwa nicht Particularismus, wenn man den Willen
eines kleinen Theils der deutschen Nation für berechtigt erklärt, sich nach Be¬
lieben für oder gegen das zu entscheiden, was, wie die Herren selbst zugestehen,
das nationale Interesse fordert? Oder wäre man auf der Redaction der „Kieler
Zeitung" und unter denen, die sie gelegentlich mit Leitartikeln suvvenuoniren.
in der Ueberwindung particularistischer Velleitäten wirklich etwa schon so weit,
daß man die preußischen Forderungen in sein Programm aufgenommen hätte?
Bor drei Wochen (am 9. März) waren sie noch nicht so weit gediehen. Da
hieß es in einem 4 Spalten langen Artikel gegen die „norddeutsche Zeitung",
der stark officiös aussah, zum Schlüsse:,
„In diesem Sinne (nämlich, daß das Recht sich der nationalen Entwi¬
ckelung dienstbar machen soll) hallen wir fest an unserem Programm: eine so
enge Verbindung mit Preußen, als es gleichmäßig die nationale Bedeutung
öde preußischen Staates und unser eignes Interesse fordert; aber diese Ver¬
bindung nur in den Formen des Rechts, d. h. durch den Vertrag des Herzogs
und die gesetzliche Mitwirkung der Landesvertretung."
Sehr großmüthig sagte der Verfasser: „Wir begreisen, daß das Mißtrauen
(der Nordd. Zeit, und ihrer Partei) in einer unklaren Situation entsteht, in
der nur die eine Seite reden kann, die andere schweigen muß. Wir tragen
dem volle Rechnung." Als ob man nicht an gewisser Stelle hinreichend hätte
merken lassen, was man möchte und was nicht, und wenn man wirklich mehr
zu sagen hat, weshalb muß man denn schweigen?
Recht gut ferner bemerkte der Artikel weiter: Wenn der Herzog Forder¬
ungen Preußens zurückwiese, „um den vollen Inhalt einer prätendirten Sou-
veränetät nach den Regeln althergebrachter Theorien zu wahren, so würden
wir ihm, der uns ein anderes Vertrauen einflößte, die volle Verantwortlichkeit
für die Wirren dieses Landes und für sein eigenes Schicksal zuschieben."
Brav und schön dieser Vorsatz; daß aber Deutschland damit gedient sein wird,
wenn die Herren ihn ausführen, bezweifeln wir; denn der Herzog ist offenbar
nicht wieder zu beseitigen, wenn er einmal erst souverän ist.
Für die Stellung des Blattes zu den jetzt bekannt gewordenen preußi¬
schen Bedingungen endlich war folgender Passus des Artikels charakteristisch:
„Wir fürchten, daß die preußische Politik durch das Ziel weit überschie¬
ßende Forderungen, mag Oestreich zustimmen oder sich weigern, Zustände
zu schaffen sucht, die durch ihre Unerträglichkeit das Land für weiter gehende
Pläne mürbe machen sollen." Das soll heißen: sagt Oestreich ja, so werden
wir Preußen zweiter Classe, und so wird der jetzige Particularismus sich über
kurz oder lang fragen: wozu dann noch Civilliste? sagt es nein, so dauert
das Provisorium fort, und das ist ebenfalls die langsame Annexion. Dieses
Räsonnement mag ziemlich richtig sein, aber wie zu helfen, was darauf hin
zu thun, sagt der Verfasser nicht. Er „fürchtet" blos, und das ist eben der
Fehler dieser ganzen Partei, daß sie niemals aus dem Fürchten, aus dem
Schwanken, aus dem Anblicken nach einer Hinterthür heraus und zu einem
großen, kühnen und nobeln Entschlüsse kommt.
Hauptorgan der entschieden nationalen Partei, die vollen dauernden An¬
schluß der Herzogthümer an Preußen und zwar vor Einsetzung des Herzogs
und Zusammentritt der Volksvertretung will, die namentlich Abtretung der
Kriegshoheit zu Wasser und zu Lande verlangte und die jetzt im Begriff ist,
die preußischen Forderungen rein und unverkürzt zu ihrem Programm zu ma¬
chen, ist die in Flensburg seit Anfang März v. I. erscheinende und in etwa
2000 Exemplaren vorzüglich in Mittelschleswig verbreitete „norddeutsche
Zeitung," die wir hiermit unseren Gesinnungsgenossen als sehr wacker gelei¬
tet warm empfehlen*). Ihr Chefredacteur, der Advocat Römer, früher in
Elmshorn, ist einer der wenigen Freunde des verewigten Theodor Lehmann,
die dieser echte Patriot jetzt noch als Freunde ehren würde, und auch der
Mitrcdacteur Bleit'en, ein Friese von Sylt, der früher einige Monate lang
in der Umgebung des Herzogs thätig war, jetzt sich aber schon geraume Zeit
von da zurückgezogen hat, verdient, obwohl noch nicht viele Jahre über die
Universität hinaus, das Lob einer tüchtigen mannhaften Gesinnung und einer
klaren Vorurtheilsfreien Auffassung der Dinge.
Ein paar Beispiele mögen zeigen, was die „norddeutsche Zeitung" glaubt
und wie sie spricht. Sie verlangt nicht nur volle Vereinigung der maritimen
und mien Klitärischräfte des Landes mit den preußischen, sondern auch unbe¬
schränkte Verfügung über jene Machtmittel zu jeder Zeit. „Die nicht souve¬
räne Qualität der Herzogthümer im Verhältniß zu Preußen," sagte sie. „ist die
Grundlage oder Voraussetzung aller übrigen Bestimmungen des Anschlusses.
Auch in Frankfurt würde künftig der Name der Herzogthümer in den Ma¬
joritätsabstimmungen nicht figuriren. Das Ausscheiden des Bundeslandes Hol¬
stein aus der Reihe souveräner deutscher Staaten — und wir hoffen, daß nun
auch Schleswig deutsches Bundesgebiet werden wird — wäre also immerhin
schon eine thatsächliche, wenn auch nur theilweise Reform des Bundes. Die
Existenz des letzteren würde sich in den Herzogthümer» nur mit Rücksicht auf
das Contingent und die Matricularumlage geltend machen. Schleswig-Hol¬
stein würde nur einen diplomatischen Vertreter haben, nämlich in Berlin. Es
wäre dies ein Geschäftsträger, dessen Wirksamkeit natürlich durch die Qualität
des Staates vorgezeichnet wäre, den er reprcisentirte."
Das Erbrecht des Herzogs erkennt das Blatt an, ordnet es aber dem
Recht der deutschen Nation auf möglichste Herstellung ihrer Einheit unter und
stellt in Folge dessen den Wunsch, dasselbe möge anerkannt werden, der For¬
derung auf engsten Anschluß an Preußen, das „werdende Deutschland", voran.
Dem Bunde will es keinerlei Einmischung in die Herzogthümerfrage mehr ge¬
stattet wissen. Gegen das Selbstbestimmungsrecht der Schleswig-Holsteiner
endlich sagte es in einem wohlgeschricbenen Leitartikel, den wir dem Chef¬
redacteur zuschreiben möchten, ungefähr Folgendes:
„Die Geschichte achtet kein Recht der Selbstbestimmung ohne die ent¬
sprechende Selbstthätigkeit zur Verwirklichung desselben. Jedes Volk muß sich
selbst seiner Haut wehren nach außen wie nach innen. Kann es dies nicht,
so geht es zu Grunde. Es ist aber Thatsache — und nur Thatsachen, nicht
Wünsche und Velleitäten gelten in dem geschichtlichen Verlauf der Dinge —
daß nicht wir selbst unsre Unabhängigkeit gegen Dänemark durchzusetzen ver¬
mochten. Unsere Befreiung ist ein Werk der deutschen Nation, wenn man
will, vor allem aber, wenigstens im entscheidenden Augenblicke, eine That des
im preußischen Staat organisirten Theiles derselben. Die Gegenwart, wie sie ist,
haben wir uns nicht selber geschaffen; wir haben deshalb auch kein Recht, ein¬
seitig über die Zukunft zu verfügen." Die deutsche Nation, heißt es weiter,
könne die weitgreifenden Interessen, um die es sich hier handle, unmöglich allein
oder auch nur vorzugsweise dem politischen Verstände des Volkes der Herzog¬
thümer. d. h. der Mehrheit der jetzt lebenden Schleswig-Holsteiner zur Ent¬
scheidung anheim geben. „Die deutsche Nation (der Verfasser meint selbstver¬
ständlich auch hier nur die Mehrzahl der Denkenden) will eine Flotte, will
einen Anfang gemacht wissen mit der Zusammenfassung ihrer Wehrkraft und
mit einer einheitlichen staatlichen Organisation. Sie will dies kraft ihres Selbst¬
bestimmungsrechts, wenn man dies Wort zu brauchen liebt, und weit mehr
noch, sie hat sich im Lauf der Zeiten im preußischen Staat einen Organismus
geschaffen, der die Macht hat, diesen Willen und dieses Recht wenigstens bis
zu einem gewissen Grade zu verwirklichen. Sich diesem mit Macht bekleideten
Rechte der Nation unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht des Schles-
wig-holsteimschcn Volkes, d. h. höchstens eines dreißigsten Theiles diese-r Nation,
entgegenstemmen zu wollen, wäre ein Versuch, der, falls er überhaupt angestellt
würde, nothwendig scheitern müßte."
Wir halten dieses Räsonnement für durchaus richtig. Wirft man ein, die
Schleswig-Hvlsteiner hätten ja 1848 bis 1850 tapfer und opfermüthig für
ihre Selbständigkeit gestritten, so sind wir die letzten, die das bestreiten, aber
die damalige Erhebung hätte sich ohne die Preußen kein halbes Jahr gehalten,
und als später ein gutes Heer geschaffen war, und zwar wieder mit Hilfe der
Preußen, hätte dasselbe vielleicht Holstein, nimmermehr aber auch ganz Schles¬
wig den Dänen abgenommen. Einnvch geringeres Resultat aber würde jetzt er¬
reicht worden sein, wenn Preußen nach Einmarsch der Bundestruppen in
Holstein den Schleswig-Holsteinern überlassen hätte, den besser als damals ge¬
rüsteten Landesfeind aus Schleswig zu verjagen. Die Jugend des Landes hätte
sich in kühnen Stürmen verblutet, aber noch heute läge man vordem Danne-
werk, der Düppclstellung nicht zu gedenken.
Wir schließen unsern Bericht mit einem Auszug aus dem von Advocat
Johannsen in Schleswig redigirten und die äußerste Linke der Anschlußpartei,
soweit sie sich öffentlich aussprechen kann, vertretenden „Schleswiger Nach-
ri es tendie wöchentlich dreimal erscheinen und zwischen ö und 600 Abonnenten
haben sollen. Die betreffende Stelle charakterisier die aus den rein nationalen
Elementen sich jetzt organisirende Anschlußpartei, die wir bis zu einem gewissen
Grade mit ihren Gegnern (welche auch die unseren sind) die preußische nennen
dürfen, folgendermaßen: Sie versteht darunter nur diejenigen, welche „den
Anschluß an Preußen als Selbstzweck verfolgen, nicht nur wider Willen als
Concession einräumen, und die unter Anschluß eine wirkliche militärische Ein¬
heit Schleswig-Holsteins mit Preußen begreifen. Die Berechtigung dieses
Strebens bedarf jetzt keines Nachweises mehr, die Partei hat aber wohl bis¬
her zu viel Kraft damit vergeudet, die Idee eines selbständigen Schleswig-
Holstein und die straffere staatliche Gestaltung Deutschlands möglichst schonend
mit einander zu verbinden. Solches Ausgleichungsbestreben erzeugt nothwendig
eine gewisse Schwäche. Erst da, wo jener Anschluß an Preußen, die militärische
Einheit, unbedingt als Ziel und Programm aufgestellt wird, kann diese Partei
wirklich wieder politisches Leben gewinnen. Wir glauben, daß die letzten parti-
cularistischen Massenäußerungen dieser Parteibildung sehr günstig gewesen sind.
Man mißverstehe uns hierbei nicht. Jene Partei verfolgt nicht die Annexion,
sondern die Verbindung in jenem einzelnen Stück als absolut geboten im na¬
tionalen Interesse, überläßt aber die Art der Auseinandersetzung mit anderen
Ideen und Wünschen den Verhältnissen, ohne damit noch ferner überflüssige
Kraft zu verschwenden."
Die „Angler Zeitung", die bisweilen von den feudalen Blättern
Berlins citirt wurde, als ob sie eine Partei hinter sich hätte, ist ohne allen
Einfluß. Dem Vernehmen nach mit Mitteln aus Oldenburg gegründet, in
Cappeln von einem dunkeln Ehrenmann redigirt und wöchentlich zweimal er¬
scheinend, bekämpft sie den Herzog Friedrich zu Gunsten des Großherzogs Peter
mit Waffen, die sich durch ihre unhonorige Art der Kritik entziehen, und deren
man sich in Oldenburg, wohin, wie man sagt, die ganze zwei Dutzend Exemplare
starke Auflage geht, schämen sollte und zweifelsohne wirklich schämt.
Von dem großen Werke ist jetzt der erste Band in vierter Auflage erschienen,
gegen die erste Auflage um die Hälfte erweitert. Die freudige Aufnahme, die
das Werk vor zehn Jahren gefunden, ist auch den späteren Auflagen entgegen¬
gekommen. Der Verfasser hat an demselben während einer erstaunenswerthen
Thätigkeit aus andern Gebieten der Alterthumswissenschaft in der Stille fortgear¬
beitet, viele specielle Untersuchungen desselben — über Inschriften. Münzen,
Zeitrechnung, über römische Geschlechter, über Recht der Familien und der Ge-
meinden, über römische Staatsverfassung sind vielleicht durch seine Geschichte
veranlaßt und den späteren Bearbeitungen zu gute gekommen. Die Per¬
sönlichkeit des Verfassers ist in diesem Jahrzehnt auch dem größeren Publikum
werth geworden, er ist uns einer der großen Gelehrten unserer Nation, auf
d«ren Besitz wir mit Recht stolz find. Seine ungewöhnlich organisirte Kraft ist
in ganz besonderer Weise geeignet, die Augen der Zeitgenossen auf ihn zu richten.
Er gehört zu den bevorzugten Naturen, deren Scharfblick und Divinationsgabe
fast wunderbar, deren Kenntnisse erstaunlich, deren Arbeitskraft fast schrankenlos
erscheint.
Als Historiker ist Herr Mommsen ein Repräsentant der neuen Zeit,
welche von ihren Geschichtschreibern warmen Antheil an den Interessen der
Gegenwart, ein Herz, fest in Lieb und Haß und eine Bildung fordert,
welche über den Kreis des gelehrten Faches hinausreicht. Unter den
Philologen ist er ein ausgezeichneter Vertreter der neuen Richtung, welche
außer den Autoren des Alterthums reichlich und sorgfältig andere Quellen
auszubeuten versteht. Er hat in Italien jahrelang Inschriften gesammelt, die
schöne Sammlung der neapolitanischen Inschriften, die Herausgabe der schwei¬
zerischen waren Vorgänger des großen Sammelwerkes der römischen Inscriptio-
nen, welches durch die Akademie der Wissenschaften in Berlin veranlaßt wurde,
und dessen Mittelpunkt er geworden ist. Diese weitläufige Arbeit, die damit ver¬
bundenen Reisen in die Länder Europas, welche dieser Sammlung reichere Aus¬
beute verheißen, haben ihm die Schöpferkraft nicht beeinträchtigt, welche fast
auf jedem Gebiet der römischen Alterthümer eine umgestaltende Thätigkeit er¬
weist. Seine Werke über das römische Münzwesen, über römische Chronologie,
über die ältere Staatsverfassung der Republik haben sowohl kritisch als con-
struirend diese Disciplinen umgestaltet, auch die Gegner sind gezwungen, sich
unablässig mit seinen Resultaten zu beschäftigen.
Sein Werk ist Gemeingut der Gebildeten geworden. Wer hat sich nicht an
der geistvollen Darstellung und schönen Weise erfreut, in welcher er Wesen
und Eigenheit der alten Bauern Latinas darstellt, aus ihren Zuständen die
Anfänge Roms construirt und das originale Leben dieser Hauptstadt der
italienischen Bundesgenossen in Familienleben und Sitte, in Religion und
Recht, in Handel und Ackerbau, in Schrift, Maß und Gewicht, in Literatur
und Kunst, in der Staatsverfassung und in politischem Schicksal, vom Beginn
der historische» Zeit darlegt? Vielfach besprochen ist auch die kurze Energie,
mit welcher er die historischen Sagen der Königszeit weggeworfen hat; sogar
edi Namen der sieben römischen Könige wird man aus seinem Buche schwerlich
zusammen bringen. Wenn es gut war, einmal diese erfundene Geschichte
da gänzlich abzuschaffen, wo sie sich seit zwei Jahrtausenden ohne Recht ge¬
lagert hat, so wäre doch sehr dankenswerth, wenn Mommsen dieselbe in
einem spätern Abschnitte des Werkes kritisch behandeln wollte, sei es an der
Stelle, wo er die Methode der römischen Geschichtschreiber darlegt, oder
wo er von dem Aussterben der Patricierfamilien und dem Werthe ihrer Ge¬
schlechtstraditionen spricht. Denn auch diese Sagenbildung ist charakteristisch für
das römische Wesen. Einige der Sagen sind wahrscheinlich bewußte heraldische
oder politische Fälschung, andere sind offenbar alte Gentilsagen, wie die der
Valerier, Fabler, Horatier, noch andere sind überkommenes Erbe der Stadt,
Localtraditionen. darunter hier und da sicher eine historische Erinnerung, nur
daß diese für uns nicht von der erfundenen Zuthat zu lösen ist. Niemand ist
mehr dazu geeignet. Lehrreiches über Entstehung und Umbildung dieser Ueber«
lieferungen zu berichten als der Verfasser.
Fast in jedem wichtigen Punkte der römischen Geschichte hat die Arbeit
Mommsens entweder zuerst eine neue Auffassung eingeführt, oder von Andern
gewonnene Resultate neu hineingearbeitet. Nur an einige dieser Resultate
soll hier erinnert werden. Rom ist ihm ein Jmportmarkt und Grenzschutz der
italischen Bauergemeindcn gegen die Etrusker, unter einem Zusatz von nahe
verwandtem Sabinerblut sehr allmälig aus der Landschaft entwickelt. Die Ver¬
fassung der römischen Gemeinde, welche wir bis zu den Anfängen der Republik
zurück verfolgen können, vermag im Laufe der Jahre den Uebergang aus einer
Stadtverfassung zu der Verfassung eines Großstaates nicht aus sich zu ent¬
wickeln. Schon als man den Kampf zwischen den privilegirten Vollbürgcrn und
den Plebejern durch Einrichtung des Tribunals zu zeitweiligen Abschluß
bringt, legt man den Keim des Untergangs in das Staatsleben der aufblühenden
Stadt. Je weiter die Wucht und ausdauernde Kraft der römischen Bundes¬
genossenschaft sich räumlich ausbreitet, desto mißlicher wird der jährliche Wechsel
der Magistrate in Rom, desto bedenklicher die Familienfactionen und Volks¬
beschlüsse einer Stadt, welche jetzt berufen ist, die meisten Länder des Mittel¬
meeres zu beherrschen. Ein großer Theil der Mißerfolge und innern Ge¬
fahren, welche Rom mehr als einmal an den Rand des Unterganges bringen,
stammt aus diesen innern Widersprüchen. Doch so lange die Urkraft des Bodens
vorhält, das harte, zähe Geschlecht der alten freien italischen Bauern, werden die
Gebrechen der Staatsverfassung immer wieder durch die tüchtige Volkskraft
gut gemacht.
Als nach der furchtbaren Verwüstung Italiens im zweiten punischen
Kriege dies kostbare Material sehr verringert ist. als der Raub aus reichen
Ländern in Rom zusammengehäuft wird, als das käufliche, städtische Prole¬
tariat einer Anzahl reicher und privilegirter Familien gegenübersteht und durch
Bestechung in ihren Dienst gezogen wird, schwinden die festen Grundlagen der
römischen Republik, der Boden wird hohl unter den Staatsmännern, welche
als Plantagenbesitzcr durch ihre Sklavenheerden den römischen Acker bauen und
welche die Herrschaft der Stadt über fremde Nationen schamlos benutzen, sich und
ihre Parteigenossen zu bereichern. Durch das erste Triumvirat kommt die innere
Fäulniß des Staatswesens zu Tage, die Zeit tritt ein, wo nur die völlige
Umwandlung der Verfassung und der Staatseinrichtungen retten kann, und
solche Umwandlung ist nicht möglich ohne das Genie und das Principal eines
Einzelnen. Die Art, in welcher Mommsen diese unläugbaren Thatsachen aus¬
führt und begründet, ist vielleicht das größte Verdienst seines genialen Werkes.
Es ist bemerkenswerth, daß grade einige Stellen der römischen Geschichte,
in denen die originale Auffassung Mommsens am großartigsten die Zu-
stände und Personen begreift, am meisten Opposition gefunden haben. Zu¬
weilen weil sie hergebrachten Anschauungen zuwiderläuft, welche Bildungsstoff
unseres Jugendunterrichts geworden sind. Denn auch in der Philologie giebt
es eine conservative Fraction, welche sich zum großen Theil aus unsren Pä¬
dagogen recrutirt. Ungern sieht der Lehrer Anschauungen und Erzählungen,
welche seit Jahrhunderten Theile des Jugendunterrichts waren, ihrer alten
Autorität entkleidet. Nicht nur die Anecdoten der römischen Sagenzeit hört er
traurig mit Nichtachtung behandelt, auch die herkömmliche Beurtheilung der
Charaktere und Parteizwecke liegt ihm am Herzen. Noch immer wird der
Mordversuch und die verbrannte Hand des Mucius Scävola als Beispiel he¬
roischer Menschenkraft berichtet, noch immer sind Brutus und Cassius staunens¬
werthe Männer, welche das Ungeheuere für die Freiheit thun, und Cäsar der
herrschsüchtige Tyrann. Noch immer wird der beschränkte Pompejus nach den
Erfolgen seiner Jugend geschätzt und ganz unerträglich ist ihnen die Verurtheilung
des politischen Charakters an Cicero. Es kann für diese conservative Richtung,
welche man auch bei gewissenhaften Lehrern wahrnimmt, manches Entschuldigende
gesagt werden. Es ist durchaus nicht nur Schlendrian in überkommenen Vor¬
stellungen, es ist in der That ein Interesse der Schule, welche sie vertreten.
Ohne Zweifel ist wünschenswert!), daß dem Gemüth der Schüler die alte Zeit zu¬
erst durch charakteristische Anekdoten, welche in fesselnden Beispielen hohe
Menschenkraft zeigen, vermittelt werde; die Phantasie sowohl als der Vereh¬
rungstrieb der Jugend fordern Gestalten, denen sie sich bewundernd hingeben
können. Curtius, welcher für das Vaterland in den Abgrund springt, der alte
Brutus, der seine Söhne richtet, sind heroische Beispiele für eine Lebenszeit, in
welcher man Liebe und Haß freigebig austheilt, und in welcher das Auge für die
Farvennüanccn zwischen schwarz und weiß noch ungeübt ist. Es ist allerdings
unbequem, Jünglingen, welche, wie jetzt noch Brauch ist., jahrelang mit dem
Stil des großen Redners und Philosophen Cicero gefüttert werden, offen zu
erklären, daß der politische Charakter dieses Mannes keineswegs hoch stehe,
Und doch ist nicht zu läugnen, daß eine männliche Betrachtung der Charaktere
jener alten Zeit, ob sie der Geschichte oder Sage angehören, den Musterwerth
der meisten für unsere Bildung verringert.
Nirgend vielleicht wird dieser Unterschied in der Auffassung bemerkbarer, als
vor der Gruppe von Charakteren, welche im letzten Jahrhundert der Republik gegen
Cäsar stehn. Die traditionelle Beurtheilung und die Erkenntniß der Gegenwart
treten hier in schneidenden Gegensatz, und dieser Gegensatz wird dadurch noch
lebhafter, weil der Urtheilende leicht Zuneigung oder Abneigung gegen den mo¬
dernen Cäsarismus in sein Urtheil hereinträgt. Uns erscheint das abfällige
Urtheil Mommsens über die Gegner Cäsars: Cato, Cicero, Pompejus, in der
Sache ebenso wohl begründet als seine warme Anerkennung der genialen Menschen-
kraft, welche den zerfallenden Staat am Rande des Abgrundes auf neue Grund¬
lagen stellte, deren Werth für die Entwickelung des Menschengeschlechts von der
nächsten Generation ad durch mehrhundertjährige Dauer erwiesen werden sollte.
Was kümmert es den Geschichtschreiber, wenn der moderne Cäsarismus in
jenen vergangenen Zuständen Vertheidigungsgründe für sein eigenes System
sucht? Was damals die höchste Berechtigung hatte, mag heut mit bestem Grunde
als unberechtigt verurtheilt werden. Es giebt keine trostlosere Aufgabe als
Aehnlichkeit zwischen der Zeit Julius Cäsars und der Zeit Napoleons des Drit¬
ten aufzufinden. Im Alterthum die verdorbene Aristokratie einer herrschenden Stadt,
welcher die unlösbare Aufgabe geworden war. aus sich selbst und der zerrütteten Ver¬
fassung einer großen Commune die Organisation eines Weltreichs zu entwickeln;
in unserer Zeit die aufblühende Kraft einer großen Völkerfamilie, welche das
Geheimniß bereits gefunden hat. die Staaten unter gesetzlicher Herbeiziehung der
Intelligenz selbstkräftig und nach eigenen Lebensbedingungen zu verjüngen. Im
Alterthum die Grundanschauung, daß der Mensch an sich ein friedloses und wehr¬
loses Object sei und nur durch politische Vorrechte, als Bürger, das Recht einer
selbständigen Existenz erhalte, in unserer Zeit das Bestreben. Menschennatur, auch
die des kleinsten Mannes, des Fremden, hoch und edel zu fassen. — Zur Zeit der ab¬
sterbenden Republik war die Herrschaft des Einen über den Erdkreis und das
daraus für ihn hervorgehende Interesse, alle seine Untergebenen in gedeihlicher
Lage zu erhalten, ein hoher Culturfortschntt, welcher den Krieg der Völker,
Stämme Städte bändigte, und das Individuum allmälig heraufhob. Mit Recht hat
der ehrgeizige und starke Charakter, welcher in solcher Zeit durchsetzt, Herr
der Welt, zu werden, Anspruch auf unsere Sympathien, denn sein Egois¬
mus hat die höchste Berechtigung. Er ist Träger der besten weltgeschicht¬
lichen Ideen, er ist auch in unserem Sinne Werkzeug der Gottheit. Wie sehr
seine Person mit Schwächen und mit nicht zu rechtfertigenden Thaten belastet
sei, es ist grade für das freiste Urtheil unmöglich, seine Person ohne
Liebe, seine Erfolge ohne warmen Antheil zu betrachten. Und es ist auch
maßvollen und gerechtem Urtheil unmöglich, von den Personen seiner Geg¬
ner den Schatten wegzuwischen, in den sein besseres Recht unvermeidlich stellt.
So lange es Geschichtschreiber gegeben hat, und so lange es Männer geben
wird, welche nicht die traurige Kunst gelernt haben, bei Darstellung menschlicher
Natur auf das zu verzichten, was allein die richtige Schilderung von Charakteren
möglich macht, auf Liebe zu menschlichem Fortschritt, so lange werden solche Ge¬
stalten einer rücksichtsvollen und warmen Behandlung durch die dankbare Nach¬
welt sicher sein, und kleines Urtheil über sie wird auf den Urheber zurückfallen.
Dergleichen Charaktere sind für die neue Geschichte Luther. Friedrich der Große,
Cromwell und Wilhelm der Oranier, aber Napoleon der Erste nur in einer kurzen
Zeit seines politischen Lebens. Wenn deshalb ein Gegner Mommsens
(K. Peter in der Einleitung zu seiner Geschichte Roms) gegen dessen
Auffassung Cäsars und. wie er annimmt, auch der Kaiserzeit, polemisirt, so ver¬
urtheilt er, wie uns scheint, dadurch seine eigene Auffassung stärker als ein
wohlwollender Beurtheiler seines eigenen Werkes zu thun im Stande wäre.
Die specifisch römischen Tugenden der Republik wurden nicht durch Cäsar und
seine Nachfolger unterdrückt, sondern Cäsar und die Kaiser, die Guten wie
die Schlechten wurden deshalb möglich und nöthig, weil der Gemeinsinn des
römischen Volkes bereits verloren, sein politischer Charakter tief verderbt
war, weil die römische Freiheit ein elendes Possenspiel in den Händen von
Intriguanten und räuberischen Fractionen geworden, weil die letzten Grunde
lagen jeder staatlichen Existenz, Sicherheit und Wohlstand der Millionen Kleinen
in Frage gestellt war. Die Nichtswürdigkeit der römischen Zustände, schon
lange vor Cäsar ein Unglück Italiens, Verderb der Provinzen, wurde da¬
durch nicht besser, daß die Parteien immer noch römische Tugend und Freiheit
der Republik im Munde führten. Wer sich durch solche Phrasen täuschen läßt,
wer das politische Thun des Cicero, Cato, Brutus nach den Stilübungen be¬
urtheilt, welche sie selbst anstellten, oder welche über sie geschrieben wurden,
dem ist der große Strom des antiken Lebens nicht so durchsichtig, als wir einem
Geschichtschreiber wünschen.
In den Sachen hat Theodor Mommsen gegen solche Gegner, welche ihn
selbst einer Vorliebe für den Cäsarismus beschuldigen, durchaus Recht, und er
soll von der sichern Höhe, auf welcher er steht, mit Ruhe dergleichen Aus¬
stellungen ihrem Schicksal überlassen. Dagegen ist nicht zu läugnen, daß er im
Ausdruck seines Urtheils zuweilen eine Schärfe zeigt, welche wohl einmal zum
Widerspruch reizen kann. In seiner energischen Weise die Personen zu besprechen,
ist, wo er mißbilligt, Eifer und sittlicher Unwille zuweilen lebhafter aus¬
gedrückt, als dem behaglichen Leser mit der majestätischen Würde des Geschicht¬
schreibers verträglich erscheint. Es wäre vergebliche Mühe eines Kritikers, gegen
diese Eigenheit durch artige Vorstellung anzukämpfen, denn sie ist innig ver¬
bunden mit dem gescnnmten Schaffen des bedeutenden Mannes, in welchem ein
klarer und sicher abwägender Geist von den Schwingungen eines leidenschaft¬
lich bewegten Gemüthes durchzuckt wird. Wäre er anders, er wäre wahr¬
scheinlich nicht immer so völlig und so warm; und wir Andern werden uns
bescheiden müssen, mit einem Lächeln oder einem leisen Seufzer zuzusehn, wie
dieser Tell unserer Alterthumswissenschaft hier und da auf scharfem Felsgrate
einer kühnen Behauptung dahin schreitet. Den Boden unter seinem Fuß ver¬
liert er doch nicht. ,
Der erste Band seines Werkes reicht bis zum Ende des dritten macedo-
nischen Krieges, die neue Auflage der beiden nächsten Theile, welche bis zur
Dictatur Cäsars führen, wird voraussichtlich in kurzer Frist folgen. Von
Cäsar rechnet Mommsen den Beginn monarchischer Herrschaft in dem römischen
Staat. Die Kämpfe, welche Cäsars Ermordung folgten, die Veränderung und
Fortsetzung seiner Pläne durch den vorsichtigen Octavianus, eine lange Reihe
römischer Kaisergestalten würden eine Zahl weiterer Bände füllen. Die Kaiser¬
geschichte darf man von ihm mit Wärme fordern, obgleich er mit großer Arbeit
fast übermäßig beladen sein mag. Alle seine Leistungen, die Richtung seines wissen¬
schaftlichen Geistes, seine ganze Persönlichkeit befähigen ihn vor allen Andern zu
dieser Geschichte. Tief empfindet man den Mangel eines solchen Werkes,
welches die letzten fünf oder sechs Jahrhunderte des Alterthums im Sinne
unserer Bildung erfaßt und aus der Menge neu entdeckter Quellen öde Stcppcn-
räume unseres historischen Wissens mit grünem Leben schmückt. Was Mommsen
in solcher Arbeit für unsere Erkenntniß jener geheimnißvollen Jahrhunderte
schaffen würde, in denen der Germane zum Erben des Römers herauswuchs,
das vermag Schreiber dieser Zeilen nicht abzuschätzen. Doch darf man aueh.
maßen, wie er einige Seiten dieses historischen Dramas betrachten würde. Er
hat in der Periode, wo sich die römische Kraft aus den Ackerschollen Latinas
erhob. Rom gefaßt als die Blüthe der stammverwandten mittelitalischen Völker¬
schaften, und er hat dargestellt, wie das römische Wesen und die römische
Republik aus der Bundesgenossenschaft italischer Gemeinden unter der strengen
monarchischen Führung der Hügclstadt zur gebietenden Macht Europas emporwuchs.
Die Geschichte des römischen Kaiserstaats ist nicht mehr eine Geschichte Roms
und der Nachkommen alter Lateiner und Samniter. Denn wenige Jahrzehnte
nach der Schlacht bei Antium ist die große Mehrzahl der Bürger, die große
Mehrzahl der Soldaten nicht mehr italischen Ursprungs, die Mehrzahl der
Senatoren, bald sogar die Kaiser selbst sind Provinzialen, deren Großväter
vielleicht noch gegen römische Legionen gekämpft haben. Ja Rom ist die
große Prägstätte geworden, auf welcher unaufhörlich Fremde vom Indus und
vom Guadalquivir mit römischem Stempel und Namen versehen werden, als
Freigelassene. Adoptirte. Bürger. Schon hundert Jahre nach Augustus sind die
großen Familien der Republik verdorben und fast ausgerottet. Schon der große
Geschichtschreiber Tacitus vermag schwerlich noch seine Abstammung von dem
zähen vielästigen Holz der pcitrici sehen Cornelier nachzuweisen, der spätere
Kaiser Tacitus rühmt sich gar nicht mehr altitalischen Ursprungs, nur daß
der Geschichtschreiber unter seinen Ahnen sei. Das Römerthum ist unter¬
gegangen, aber seine Resultate: Sprache. Literatur, Recht, Heeresordnung,
Staatsverfassung formen unablässig Millionen Fremde zu Neurömern um.
Und diese Resultate des römischen Lebens treten in die engste Bundesgenossen¬
schaft mit anderen Volkswesen des Alterthums, mit semitischer, hellenischer,
ägyptischer, neidischer und afrikanischer Art und Volkskraft. Durch dieses Zu¬
sammenwirken entsteht der große Culturstaat der alten Welt. Immer neue
Völker werden in diese Culturbewegung hineingezogen und fördern den
Proceß der Umformung und der Neubildung, bis zuletzt das Barbaren-
thum, zumal der Germanen, im westlichen Rom so massenhaft etablirt ist,
daß es die alten Staatsformen, die aus dem Ende der Römerzeit über¬
kommen sind, zerstört.
In dieser Universalmonarchie des Alterthums haben lange die Persön¬
lichkeiten der Kaiser vorzugsweise den Geschichtschreiber beschäftigt, Tugenden
und Laster dieser Repräsentanten des Staats, der Anekdotenkram ihrer Höfe,
bestimmte das Urtheil über Werth und Unwerth ihrer Regierungen. Erst in
dem großen Werke Gibbons ist die Kaisergcschichte zu einer Geschichte des
antiken Staates geworden, so weit die mangelhaften Detailuntcrsuchungen
seiner Zeit dies gestatteten. Und doch liegt für diese Jahrhunderte das Haupt¬
interesse keinesweges in den Characteren der Kaiser, den Entleibungen der Senatoren
und den Scandalgeschichten der Höfe, sondern weit mehr in den stillen Fortschritten,
welche Cultur und Behagen der Individuen durch Jahrhunderte selbst während
arger Mißrcgierung machten. Denn die Kaiserzeit ist zugleich die Periode des
Alterthums, wo alle die Millionen, welche an der alten Cultur einen Theil
hatten, durch Jahrhunderte ein Glück des Daseins genossen, das in der Welt
ganz neu war. den Segen der Civilisation, Frieden, strenges Recht, geordnete
Staatsverhältnisse, eine bis dahin unerhörte Sicherheit des Lebens. Sie waren
Schützlinge oder Bürger eines großen Staats geworden, sie hausten oder fuhren fried¬
lich bis an das Ende ihrer Welt, viele Millionen Einzelne lebten ein thätiges und be¬
scheidenes Dasein vom Euphrat bis zu den Säulen des Herkules, in besserem Beha¬
gen als in irgend einem Jahrhundert der Republik, in irgend einem früheren Jahr¬
hundert des Menschengeschlechts. Der Werth des einzelnen Lebens war auch
damals noch beträchtlich geringer als jetzt, und nicht jeder Lebende genoß den
Vorzug, als Person betrachtet zu werden, um deren Recht und Gedeihen sich
der Staat kümmerte; aber wie unvollständig das Gesetz ihn schützte, der Völker¬
mord , der verwüstende Krieg der Nachbarstädte und Stämme hatte in dem
großen Reiche aufgehört. Der Beamte des Kaisers drückte ihn, die Lasten
waren hoch und die Bestechungen mochten zuweilen einen beträchtlichen Theil
seines erworbenen Capitals in Anspruch nehmen, aber fast die ganze bekannte
Erde war ein offenes Gebiet für seine Waaren, und Gelegenheit zu Erwerb
war dem Thatkräftigen reichlich geboten. Während die Häupter, welche hoch
aus der Menge ragten, durch den Argwohn und die Habsucht der Herrschenden
gefährdet wurden, während hoher Adel, hoher Sinn, ungewöhnlicher Reich¬
thum in der Nähe des Hofes ihren Besitzern tödtliche Gefahren bereiteten,
hatten auch lasterhafte Kaiser, so lange der Wahnsinn ihnen nicht das Urtheil
ganz verderbte, dringende Veranlassung, in ihrem weiten Gebiet Gesetz,
Ordnung, Sicherheit und Wohlstand der großen Menge zu fördern.
Und dies stille Gedeihen der Mehrzahl war auch für die späte Folgezeit nicht
resultatlos. Daß der eingewanderte Handwerker in Paris und Köln hämmerte,
daß der iberische Kaufmann auf seinen Frachtschiffen sicher von Gades nach
Alexandrien fuhr, daß römische Landstraßen. Colonien. römische Sprache und
römisches Recht von der Atlantis bis zum Pontus durch Jahrhunderte friedlich
herrschten, diese Erfolge des römischen Kaiserreichs sind auch die Grundlagen
geworden, auf denen die praktische Tüchtigkeit der neueren Völker den Riesen¬
bau ihres Wohlstandes und ihrer Industrie errichten konnte. Für Handel und
Verkehr der Nationen, für Handwerk und Erfindungen sind die Jahrhunderte
von Octavianus bis Theodorich eine Zeit gewaltiger Fortbildung, der auch wir
zahllose Einzelheiten verdanken, welche unser Leben erfüllen. Oft verdarben
Gewaltthaten der Regierungen, Bedrückung, Münzverschlechterung, zeitweise den
Wohlstand ganzer Länderstrecken, zuletzt verwüsteten Schwärme barbarischer Krieger
eine Provinz nach der andern. Aber die große Ausdehnung und die Bedeutung,
welche Verkehr und Production in den ersten Jahrhunderten des Weltreiches
erlangt hatten, bewahrten das weite Becken des Mittelmeers noch in der
schlechtesten Zeit vor völligem Untergang des praktischen Erwerbes und der
industriellen Thätigkeit. Lange nachdem die Kunst des Bildhauers verlernt
hatte die reinen Formen griechischer Schönheit wiederzugeben, vervollkommneten
sich die Handgriffe in den Werkstätten der Handarbeiter, welche dem Bedürfniß
des täglichen Lebens dienten. Die Kraft des Wassers wurde grade in der
spätern Kaiserzeit für Maschinenarbeiten reichlicher benutzt, die Webstuhle ver¬
fertigten die kunstvollsten Gewebe grade zu der Zeit, in welcher Altilas
Krieger begehrlich auf die Fäden des Goldstoffes blickten. Der Einfluß, welchen
die alte Cultur auf die einbrechenden Barbarenhaufen ausübte, ist vorzugs¬
weise der intensiven Verbreitung antiker Industrie in den südlichen Ländern
Europas zuzuschreiben, welche die Kaiserzeit möglich machte. Denn die emsige Ar¬
beit der zahllosen Kleinen wurde durch die Völkerwanderung gestört und verringert,
zu keiner Zeit ganz unmöglich gemacht. Die Culturpflanzen, Obstbäume, Garten-
blumen Italiens wanderten in die Klostergarten deutscher Mönche und in die Hof¬
güter Karls des Großen. Die Töpfer, Tischler, Weber, Maurer. Steinmetzen,
die Schreiber der Handschriften und die Händler mit den Wollstoffen Galliens und
den Seidengeweben Kleinasiens saßen und zogen in den Wohnstätten der
fremden Eroberer umher, unter Gothen, Langobarden, Franken. Wie groß der
Rückschritt war. den einzelne Industriezweige machten, die Elemente ihrer Technik
haben sich fast in jedem erhalten, und mit ihnen die Tüchtigkeit und die Be¬
dürfnisse, denen sie dienten und welche sie erregten. So kam es. daß die
praktische antike Bildung in unsre Zeit dauern konnte. Hätte kein Cäsar
Gallien und Spanien unterworfen, hätten die Legionen römischer Kaiser nicht
drei Jahrhunderte lang den einheitlich eingerichteten Culturstaat gegen den
Anprall wilder Völkerwogen geschützt, hätten die Heerhaufen des Ariovist oder der
Helvetier und Sequaner sich in dem jungen römischen Gebiet gelagert und
die Alpenpässe überschritten, so wären die verdorbene Republik und das verödete
Griechenland schon zu der Zeit, in welcher Christus in Galiläa lehrte, eine
Beute fremder, gänzlich uncivilisirter Barbaren geworden, und die engen Culturkreise
des damaligen Europa wären einer Zerstörung erlegen, welche späten Geschlechtern
nur spärliche Früchte antiker Arbeit überliefert hätte. Das römische Kaiserreich
hat die antike Bildung der Menschheit gerettet, indem es alle Völker der be¬
kannten Erde zwang, durch zwölf Generationen die Kraft seiner Legionen zu
ehren, das geprägte Geld seiner Imperatoren zu nehmen und seine Gebote
zu scheuen, — ja sich selbst als Zugehörige des großen römischen Weltreiches
zu betrachten.
Daß auch für höhere Bildungskreise, für die Ausbreitung des Christen¬
thums, für den großen Proceß der gemüthlichen Vertiefung des Menschengeschlechts,
die Kaiserherrschaft und das Weltreich der Cäsaren Grundlage und Vorbedin¬
gung geworden, ist oft nachgewiesen. Einer Kaisergeschichte, welche Mommsen
uns schriebe, würde freilich auch die Aufgabe zufallen, zu berichten, daß selbst
der neue Idealismus der Christen, seit er in dem Staate nach Geltung rang,
viel von der erhebenden Kraft verlor, welche wir den ersten verachteten Ge¬
meinden der christlicher! Märtyrer gern zuschreiben. Denn die herrschsüchtigen
und schmarotzenden Bischöfe sind unter den vielen häßlichen Gestalten der rö¬
mischen Höfe sicher nicht die schlechtesten, aber für unsere Empfindung die wider¬
wärtigsten. Auch auf diesem Gebiet liegt die ganze Fülle des Segens, welche
durch hie Kaiseizeit dem Menschengeschlecht wurde, in der leisen Umwandlung
und Erhebung der abertausend Kleinen, in der allmäligen Humanistrung des
harten Egoismus, in der praktischen Bethätigung der christlichen Bruderliebe
gegen Arme, Fremde, Sklaven, in der Besserung der Familicnzucht, und vor
allem in der neuen Bundesfreundschaft, welche den Bürger mit dem Barba¬
ren vereinte, wenn beide ihr Haupt vordem Zeichen des Gekreuzigten beugten.
Dieser unermeßliche Segen der Kaiserzeit für die Geschlechter der Erde
wurde vorzugsweise dem Leben der Kleinen; an dem Kaisersitz und fast allem,
was der Purpur verbrämte, nagte durch Jahrhunderte der Wurm des Ver¬
derbens. Mancher Kaiser wurde ruchlos und wahnsinnig und doch war seine
Herrschaft ein Glück für Unzählige. Solche Zeit zu beschreiben ist schwer, denn
die Zerstörung auf den Höhen wird von den Zeitgenossen deutlich gesehen und
berichtet, das stille Grün in den Thälern war ihnen selbstverständlich und über¬
kommen. Uns aber in der Entfernung von anderthalb Jahrtausenden ist es nicht
leicht sichtbar. Es gehört viel Wissen und ein scharfes Auge dazu, um von
den Einzelheiten ein Bild zu geben, und nicht zuletzt gehört dazu ein ausdauerndes
und freudiges Herz, welches unter dem Schutt und Trümmerhaufen die ver-
witterten Schriftzüge hervorzuholen weiß, in denen der einzelne kleine Mann
mit dürftigen Worten berichtet, wie er lebte und was seine Ehre, sein Glück
und Leiden war.
Darum wäre gut, wenn Hr. Theodor Mommsen die Geschichte der Kai-
serzeit für uns schriebe. Seine römische Geschichte war die große Arbeit eines
genialen Mannes, die Kaisergeschichte aber vermöchte unter den Zeitgenossen,
welche wir kennen. Niemand so zur Freude und Ehre deutscher Wissenschaft zu
schreiben, als gerade er.
Wie Griechenland für Philosophie und Kunst. Rom für das Privatrecht,
so ist England für das öffentliche Recht und dessen naturgemäße Entwicklung
das Muster der Erdenvölker. Nach den fundamentalen Reformen Cromwells
pflückte hier das Volk im dreißigsten Regierungsjahre Karls des Zweiten eine
der wichtigsten Früchte seiner Kämpfe, die Acte: „zur Sicherung der Freiheit
der Unterthanen und zur Verhütung der Einsperrung in überseeische Gefängnisse",
die bahnbrechende, nachkommenreiche Habcas-Corpus-Acte, welche vornehmlich
die Zeit für Begründung einer Haft und für gerichtliche Vernehmung oder
Entlassung eines Verhafteten unter delaillirter Strafe der Zuwiderhand¬
lungen kürzte.
Uns setzte erst der Sturm von 1848 unvorbereitet in die Lage, ein ähn¬
liches Gesetz zu erwerben. Seit der Regierungsvorlage vom 20. Mai 1848
(§ 5.) bildete sich unter wesentlichster Mitwirkung von Waldeck, theilweise auch
von Reichensperger, der heutige Artikel 5 unsrer Verfassungsurkunde: „Die
persönliche Freiheit ist gewährleistet. Die Bedingungen und Formen, unter
welchen eine Beschränkung derselben, insbesondere eine Verhaftung zulässig ist,
werden durch das Gesetz bestimmt." Die Einschaltung „insbesondere eine Ver¬
haftung" soll darauf hinweisen, daß nicht blos die gerichtliche Verhaftung, son¬
dern auch die polizeiliche Verwahrung, ja diese vorzugsweise in der Beschrän¬
kung der persönlichen Freiheit gemeint und durch ein Gesetz zu regeln sei.
Auf alle Militairpersonen findet indeß der Art. S nur so weit Anwendung, als
die militärischen Gesetze und Disciplinarvorschriften nicht entgegenstehen. (Art. 39
der Verf. Art.)
Dieses Gesetz ist, nach Beseitigung des lückenhaften Gesetzes vom 24. Sep¬
tember 1848. dasjenige vom 12. Februar 1850. Es regelt in § 1—6 die
Beschränkung der Freiheit auf Grund einer richterlichen und polizeilichen Ver¬
fügung. in § 7—13 das amtliche Eindringen in eine Wohnung. Hier handelt
es sich nur um die erstere Beschränkung, welche nach dem Gesetze in drei Arten
zerfällt, 1) die Verhaftung kraft eines schriftlichen richterlichen Befehles,
2) die vorläufige Ergreifung und Festnahme ohne solchen richterlichen
Befehl durch Beamte oder Privatleute wegen einer strafbaren Handlung, deren
der Verhaftete schuldig oder dringend verdächtig ist, 3) die polizeiliche Ver¬
wahrung aus noch anderen, im Gesetze bestimmten Gründen. Außerdem sind
die Regierungsbehörden vom Ministerium des Innern 1850 und 1864 durch
Rescripte dahin instruirt worden, daß außer den im obigen Gesetze vom 12.
Februar 18S0 behandelten Fällen Gefängnißhaft als Executi onsmitte l
polizeilicher Anordnungen statthaft sei. Wir sprechen zunächst von der
Untersuchungshaft.
Die Verhaftung darf nur kraft eines schriftlichen, die Beschuldigung und
den Beschuldigten bestimmt bezeichnenden richterlichen Befehls bewirkt werden.
Der Befehl muß bei der Verhaftung oder spätestens imLaufedes der Verhaftung fol¬
genden Tages dem Verhafteten zugestellt werden. (Z 1 des Geh. v. 12 Februar 1850.)
Die Gründe einer Verhaftung bestimmt noch heute die alte Criminalordnung
vom 11. December 1805. Gemäß dieser (§ 206 ff.) muß vor der Verhaftung
eines Verdächtigen die Existenz eines Verbrechens wahrscheinlich sein; ob der
Verdacht gegen eine Person aber zu ihrer Verhaftung genüge, muß der Richter
in jedem Falle mit besonderer Sorgfalt erwäge» und hierbei vornehmlich die
Größe des Verbrechens und der Fluchtgefahr des Verdächtigen berücksichtigen.
Diebe, Betrüger und ähnliche Verbrecher sollen in der Regel jederzeit verhaftet
werden, andere Verbrecher in der Regel nur, wenn die Strafe, welche sie zu
erwarten haben, wahrscheinlich einjährige Einsparung übersteigt. Ist durch
Bekenntniß oder sonstigen Beweis der Verbrecher ermittelt, so muß in den eben
genannten Fällen, ferner wenn der Richter die gegründete Besorgniß hat. der
Verbrecher werde fliehen oder die Wahrheit verdunkeln und die Untersuchung
erschweren, der Verbrecher verhaftet werden. Liegt der Verdacht der Flucht
oder der Verdunklung der Wahrheit nicht vor. oder leistet der Verdächtige eine
angemessene Caution, so wird er nicht verhaftet, wenn seine bevorstehende
Strafe eine dreijährige Gefängnißhaft wahrscheinlich nicht erreicht. Erreicht sie
diese, so muß er, im Falle obige Bedingungen vorliegen, stets verhaftet werden.
(§ 206—11.) Wurde bei einem Auflaufe oder einer Schlägerei ein Verbrechen
schwerer Art begangen, und dessen Urheber noch nicht ausgemittelt, so werden
alle diejenigen, welche an dem Auflaufe oder an der Schlägerei Theil nahmen,
bis zur Entdeckung des Urhebers in Verhaft genommen. Nur derjenige Teil¬
nehmer ist hiervon ausgenommen, welcher wegen seiner bekannten Rechtlichkeit
oder anderer Verhältnisse das Verbrechen füglich nicht begangen haben kann (§213).
— Daran schließen sich die Vorschriften über die Verhaftung einer Person auf
Requisition der Vorgesetzten, des Richters und der in- oder ausländischen Ge¬
richte; über Freistätten gegen Verhaftung; über die Verhaftung derer, welche
der Gerichtsbarkeit des Verhaftenden nicht unterworfen sind, in dringenden!
Fällen, über die Verhaftung von Militcnrpersonen (§ 212—16); von Mit¬
gliedern des königlichen Hauses, des Fürstenstandes, der Gesandtschaften, von
Fremden (§ 231 — 59); endlich ausführliche Bestimmungen über die Caution
und andere Mittel zur vorläufigen Befreiung des Verhafteten (§ 223 — 36).
auf welche unten besonders Rücksicht genommen werden soll.
Vergleichen wir mit diesen wichtigen Vorschriften nun den neuen Entwurf.
In seinem II. Abschnitt, § 119—160 behandelt er die bisherigen drei Arten
der Beschränkung der persönlichen Freiheit, die Untersuchungshaft, die vor¬
läufige Festnahme und die polizeiliche Verwahrung. Es ist zu billigen, daß er
nicht, wie das unserer heutigen Habeas-Corpus-Acte vorausgehende Gesetz vom
24. September 1848, die beiden ersten wesentlich unterschiedenen Beschrän¬
kungen zusammenfaßte. Die Bedingungen der Untersuchungshaft sind hier
fast wörtlich dieselben, wie im Gesetze vom 12. Februar 1850. man hat eben
letzteres Gesetz anerkennungswertherweise in die neue Strafproceßordnung
Verarbeitet.
Hören wir nun aber die neuen Gründe der Untersuchungshaft, gegenüber
den obigen der alten Criminalordnung. In beiden Gesetzen setzt die Haft
die wahrscheinliche Existenz einer strafbaren Handlung voraus, sowie die ge¬
gründete Besorgniß der Flucht und der Verdunklung der Wahrheit. Der Flucht
gleich stellt der neue Entwurf die Verheimlichung des Aufenthaltes; die Ver¬
dunkjung specialisirt er durch Verabredung mit Zeugen, Mitschuldigen oder
durch Vernichtung der Spuren der That. Da diese Specialisirung höchstens
durch ganz allgemeine und nicht beabsichtigte Auslegung der letzten Worte
die Möglichkeiten der Verdunklung erschöpft, so ist die alte, einfache Ausdrucks¬
weise richtiger und vorzuziehen.
Nun die Ausführung dieser zwei Rubriken. Bei Urkundenfälschung,
sagt der neue Entwurf, in gewinnsüchtiger Absicht, Diebstahl, Betrug
und Hehlerei ist die Besorgniß der erschwerten Untersuchung immer als vor¬
handen anzunehmen, wenn sie nicht durch besondere Umstände ausgeschlossen
erscheint. Die sehr weitgreifende Zufügung der Criminal-Ordnung: „und ähn¬
liche Verbrecher" ist hier allerdings glücklicherweise beseitigt; warum bei den
einzelnen angegebenen strafbaren Handlungen die Urkundenfälschung so nach-
drücklich hervorgehoben und von Betrug überhaupt getrennt wird, ist ebenso
wenig abzusehen, als, warum in merkwürdigem Gegensatze gegen § 247 des
Strafgesetzbuches gerade die gewinnsüchtige Absicht der Urkundenfälschung betont
wird. (Doch nicht gegenüber dem „zum Schaden Anderer?") Dafür ist die
Logik der alten Criminalordnung besser, welche aus der Natur obiger Ver¬
gehen die Nothwendigkeit der Untersuchungshaft herleitet, nicht, wie der neue
Entwurf, daraus, daß Urkundenfälscher, Diebe, Betrüger und Hehler stets fliehen
oder die Wahrheit verdunkeln. Aber eben, weil letzterer Grund hinfällig ist,
die Strenge der Criminalordnung andererseits sich aus ihrer Zeit erklärt,
müssen wir nun doch einmal gegenwärtige Menschen dringend verlangen, daß
nicht mit bestimmten Vergehen von vornherein die Haft unrettbar verknüpft
werde, nun gar mit den obigen, alltäglichsten, unzählbaren, „dem täglichen Brote"
der Criminalrichter. Der milderndeZusatz „außer, wenn die Besorgnis? der Fluchtoder
Verdunklung durch besondere Umstände ausgeschlossen erscheint." legt den Richtern
nur um so dringender die so fast ausnahmlose Regel nahe. Denn „besondere
Umstände" sind eben Umstände nicht alltäglicher Art, die ovigen Vergehen aber sind
fast allstündliche. Und wenn bisher die hierher gehörige Vorschrift der Criminal¬
ordnung nicht zu verzweifelter Härte gegen die Staatsangehörigen führte (man
denke, daß es sich ja hierbei um die vorläufige Haft vor der Untersuchung
handelt), so lag das in der praktischen Ausführung jener Vorschrift, welche
wegen ihres Alters eine nur milde, maßvolle Anwendung verlangte; lebt diese
Vorschrift aber in dem Gesetze der Gegenwart wieder auf, so fordert sie von
den Richtern die strengste Verwirklichung. Nun. dann mögen wir unsre Leiber
rüsten; dieser Satz des neuen Entwurfes fällt aber, oder wir bekommen noch
eine Reorganisation, die der Gefängnißbauten und des Gefängnißwesens.
Doch dies ist noch nicht der Höhepunkt der Strenge des Entwurfs.
Unmittelbar nach obiger Bestimmung heißt es: „In andern Strafsachen ist
unter der nämlichen Maßgabe die Gefahr der Flucht stets dann als begrün¬
det anzusehen, wenn der Beschuldigte nach Lage des gegebenen Falles' voraus-
sichtlich eine längere als einjährige Gefängnißstrafe zu erwarten hat, oder
wenn seine Verurt Heilung zu einer sechsmonatlichen oder längeren
G efängnißstrase, wenn auch noch nicht rechtskräftig erfolgt ist."
Der erstere Satz entspricht dem oben citirten § 208 der Criminalordnung
in seiner zweiten Hälfte, und von ihm gilt, was oben über die Untersuchungs¬
haft bei den speci alisirten Verbrechen gesagt wurde, die Gegenwart bedingt
nicht eine Erneuerung, sondern durchgreifende Milderung der alten Haftgrund
Sätze. Auch ist hier ebenfalls die Logik der Criminalordnung eine bessere,
mindestens eine aufrichtigere; denn sie folgert nicht aus der mehr als einjährigen
Gefängnißstrafe unbedingt die Gefahr der Flucht. — So weit aber verstieg
sich selbst die Criminalordnung von 1805 nicht, daß sie die Flucht besorgte
und Haft vorschrieb, wo jemand zu nur sechs Monaten Gefängniß, wenn auch
nicht rechtskräftig verurtheilt ist. Ein nicht rechtskräftiges Erkenntniß macht
den Verurtheilten noch nicht schuldig. Wer aus der Praxis weiß, welche große
Zahl gerade der Strafsachen dieses unbedeutenden Strafmaßes in den höheren
Instanzen umgeändert, aufgehoben werden, und welche enorme Zahl von Straf¬
fällen verschiedenster Gattung von diesem Strafmaße betroffen werden, muß
die unerhörte Ausdehnung der Untersuchungshaft als Schablonenarbeit des
Bureaukratismus, oder geradezu als Zeichen der Unkenntnis), oder was das
Verwerflichste, als Ausfluß und Handhabe einer absichtlichen Härte des Crimina-
listen, ja des mit Macht begabten politischen Parteimannes ansehn. In jedem
dieser Fälle ist eine so abnorme Vorschrift mit Entschiedenheit, um nicht zu
sagen mit Entrüstung zu verwerfen.
Die dieser hervorragenden Stelle zur Erklärung beigefügte Note erklärt
nichts und mildert noch weniger die Härte. Sie verweist darauf, die Be¬
stimmung des Entwurfes von 1861 sei nicht aufgenommen, wonach gegen
Verurteilungen zu einer Freiheitsstrafe wegen Vergehen oder Uebertretungen
die Nichtigkeitsbeschwerde von Seiten des Verurtheilten nicht eher stattfinden
sollte, als bis er sich in Untersuchungshaft begeben hatte. Die Vorschrift des
neuen Entwurfs ist darin sogar härter, als letztere, daß sie bereits von der
Verurtheilung erster Instanz die Haft unbedingt anfangen läßt. Wenn aber
der Entwurf von 18S1 auch darin sich vorragend streng erweist, daß er alle
Fälle der Freiheitsstrafe in Vergehen und Uebertretungen trifft, und daß er
das höchste Rechtsmittel geradezu erst von der Haft in seiner Zulässigkeit ab¬
hängig macht, so soll doch das keine Entschuldigung der neuen Härte sein, daß
ältere Gesetze noch härter, barbarischer, ungerechter waren. Der Charakter
des Jahres 1851 zumal ist wahrlich kein neutraler für das Entstehen einer
gerade auch politisch'so wichtigen Bestimmung, ihre herbe Vorschrift läßt die
Worte des neuen Entwurfs doppelt hart erscheinen, politisch und juristisch
(menschlich), darum doppelt verwerflich. Bekehrten denn die zum Theil mit
großer Entschiedenheit 1861 ausgesprochenen Verwerfungen jenes K 465 des
damaligen Entwurfs durch die preußischen Appellationsgerichte nicht das heutige
Justizministerium, daß schon damals die heute zum Theil erneuerten Grund¬
sätze verwerflich seien? Die Note sagt weiter, „um zu verhindern, daß die Ein¬
legung der Rechtsmittel nicht dazu benutzt werde, um in der hierdurch ge¬
wonnenen Zeit die Anstalten zur Flucht mit Muße ausführen zu können, er¬
scheint es nothwendig, die Höhe der Gefängnißstrafe, mit welcher die Gefahr
der Vermuthung der Flucht eintritt, in denjenigen Fällen niedriger zu bestim-
men, in denen bereits in einer Instanz eine Verurtheilung erging." Ueber die
Zahl solcher Fluchtfälle ist unsers Wissens eine statistische Untersuchung nicht an¬
gestellt , ja sie konnte in der allein maßgebenden Genauigkeit gar nicht angestellt
werden. Aus jedem Paragraphen des Strafgesetzbuches aber und aus dem
Munde jedes vorurteilsfreien Rechtspraktikers sieht und hört man, welche Härte
durch diese neue Vorschrift den preußischen Staatsangehörigen droht. Wenn
heute schon über die lange Voruntersuchungshaft immer schwerere Klagen er¬
tönen (man entsinne sich des eben in erster Instanz beendeten Polenprocesses), wie
erweitert sich ihre Last, nun die selbst bei schnellster Rechtspflege nicht abzukürzende
Zeit einer Reihe von Monaten für die Verhandlungen zweiter und dritter
Instanz (zumal bei erneuerten Beweisaufnahmen zweiter Instanz) hinzukommt.
Und noch viel häufiger und schwerer, als die Gebildeten in den Verhältniß-
mäßig immer seltnen Processen politischen Inhalts wird die Masse des großen
Volkes, welche mit Tagarbeit sich und ihre Familien unterhält, von diesem
Drucke getroffen, weil eine große Menge der von gewöhnlichen Leuten vornehm¬
lich begangenen Vergehen, z. B. Beleidigung und Widerstand gegen Beamte
im Amte (§ 102 Se. G. B.), Körperverletzung in ihren verschiedenen Stufen
(§ 187 ff. ebend.) meistens unter den citirten Paragraphen des neuen Entwurfs
fallen. So steht dieser wenig hinter der Strenge des verworfenen Planes von
1851 zurück, fast auf jede strafbare Handlung dehnt er die Untersuchungshaft
aus. gegen politisch Verfolgte bietet er eine treffliche Handhabe, sie ihrer Zeit
und Partei zu entziehen und ihre Agitationen mürbe zu machen. Das Krimi¬
nalgericht der Gegenwart in Theorie und Praxis charakierisirt vor allem milde
Menschlichkeit, in der Untersuchungshaft größtmögliche Beschränkung. Wie
wird der greise Mittermaier in Heidelberg den Kopf schütteln, wenn er am
Ende seiner Tage, die so viele köstliche Denkmale criminalistischer Milde in
deutschen Gesetzen und Gerichten aufführten, diesen Paragraph des neuen
preußischen Strafprozeßentwurfs sieht. Genug seiner Schüler, genug Ver¬
treter des wahren Criminalrechts der Gegenwart sitzen in preußischen Gerichts¬
höfen, lehren auf preußischen Hochschulen, berathen und beschließen im preußischen
Volkshaufe. Sie Alle müssen ihr Nein entgegenwerfen diesem gefährlichen,
weil „richterlichen" Eingriffe in unsre Habeas-Corpus-Acte.
Auch das nächste Alinea desselben Paragraphen verschärft die Criminal-
ordnung. Ist die voraussichtliche oder anerkannte Strafe Zuchthaus oder noch
mehr, so wird die Haft unbedingt. Hierfür fordert die alte Criminalordnung drei
Jahre Gefängniß, läßt indeß selbst in diesem äußersten Falle Befreiungen von
der Haft offen. — Sehr wenig hilft die letzte, sehr beschränkte Ausnahme des ver-
hängnißvollen Paragraphen des neuen Entwurfs, wonach wegen Uevertretungen
und solcher Vergehen, bei deren Bestrafung auch außer dem Falle der mildern¬
den Umstände von einer Freiheitsstrafe abgesehen werden kann, die Haft nie
blos wegen Gefahr der Verdunklung eintreten soll. Das „abgesehen werden
kann" läßt hier selbst die geringe Ausdehnung dieser Ausnahme und gerade
hinsichts der Vergehen zweifelhaft. Die oben angeführten Hauptfälle z. B.,
an denen sich die Härte der neuen Untersuchungshaft vornehmlich oft zeigen wird,
erfreuen sich letzterer Ausnahme nicht.
In der dem § 213 der Criminalordnung von der Schlägerei und dem Auflaufe
entsprechenden Bestimmung des neuen Entwurfs wird vornehmlich Gewicht ge¬
legt auf den „Aufruhr oder einen als Aufruhr zu bestrafenden Auflauf" (?),
auf „andere strafbare öffentliche Zusammenrottungen". In allen diesen Fällen
kann gegen alle dann verwickelten Personen die Untersuchungshaft bis auf
Weiteres verhängt werden, wenn die Personen sich von dem Verdacht einer
strafbaren Betheiligung nicht sofort reinigen. Auch hier ist — abgesehen von
der vorwaltenden politischen Färbung — der neue Entwurf strenger, als die
oben zu vergleichende Criminalordnung.
Endlich fügt der neue Entwurf noch einen Grund der Untersuchungshaft
an. Eröffnet die Anklagekammer (zweite Instanz) gegen einen Angeschuldigten das
Hauptverfahren und verweist sie ihn, wenn auch nur wegen eines Vergehens, vor
den Schwurgerichtshof, so muß sie die Verhaftung desselben stets dann be¬
schließen , wenn aus seinem Ausbleiben in der Hauptverhandlung ein Nachtheil
für einen Mitangeklagten entstehen kann. Hierbei kann sie aber bestimmen,
daß die Haft erst nach Anberaumung der Hauptverhandlung erfolgen soll. Diese
neue Vorschrift bedarf wohl keiner Bemerkungen.
Soweit die Gründe der in Aussicht genommenen Untersuchungshaft. Wie
Viele weiteren Fälle der Criminalordnung hierbei fortgelassen sind, ergiebt der
Vergleich mit der obigen kurzen Zusammenstellung; derselbe lehrt auch, daß
dieses Fortlassen in einigen wesentlichen Punkten den neuen Entwurf lückenhaft
macht, in andern, z. B. in den Ausnahmebestimmungen für die Mitglieder des
Königshauses und andere ihn der Gegenwart anpaßt. Ein endgiltiges Urtheil
hierüber ist erst nach Einsicht der Aufhebungsbestimmungen des neuen Ent¬
wurfs zu fällen, welche indeß noch nicht vorliegen, sondern der Schlußredaction
des Entwurfes als Gesetz vorbehalten sind.
Die Befreiung von der Untersuchungshaft durch Caution ist ebenfalls'
erheblich beschränkt. Zulässig bleibt sie nur, falls keine Gefahr der Verdunk¬
lung der Sache obwaltet und der Verlust der Caution wahrscheinlich den Be¬
schuldigten empfindlicher, als die zu erwartende Strafe träfe. Gar nicht statt¬
haft ist sie bei voraussichtlicher oder erkannter Zuchthaus- oder schwerer Strafe,
geleistet wird sie nur in Geld und inländischen Staatspapieren (nach dem Ta-
gescurse, doch nicht über den Nennwerth). Denn, wie die Note ausführt,
Bürgen verhinderten nicht wirksam die Flucht des Beschuldigten, dieser
schadet zunächst damit nur jenen, nicht sich. (!) Durch Hypothekencaution er¬
wachsen dem Strafrichter ungehörige Verwicklungen bei Prüfung der Sicherheit,
Substanzänderungen, Subhastationen. Trotz dieser eingreifenden Schranken meint
der Entwurf, die Ausschließung der Caution bei Zuchthausstrafe (gerade bei dieser
ist das Erfordernis; der Cautionsberechtigung am fühlbarsten) rechtfertige sich selbst.
„Gegenüber einer Strafe, die so empfindliche Folgen für die bürgerliche Existenz
des Verurtheilten hat, (eben deshalb!) muß der Verlust einer noch so hohen
Geldsumme stets als geringeres Uebel erscheinen." Der weitere Zusatz mildert
in seinen wiederholten Schranken den herben Mißstand nicht. Es heißt da,
die Kaution sei ja zulässig, wenn nur die Anklage auf Zuchthausstrafe laute.
Aber sie ist wieder unzulässig, sobald eine „überwiegende Wahrscheinlichkeit der
Vermtheilung vorhanden ist." Welch eine Milde, welch' ein sicherer Maßstab!
Der neue Entwurf, der, wie wir sehen werden, den Staatsanwalt als eine
Säule des Strafprocesses ansieht, glaubt doch selbst nicht an eine häufige Un-
wahrscheinlichkeit der Verurtheilung gegenüber der Anklage? Und noch mensch¬
licher stellt sich der Zusatz, selbst bei überwiegender Wahrscheinlichkeit der Ver¬
urteilung würde, wo mildernde Umstände erlaubt sind, der Richter zu erwägen
haben, ob die Annahme solcher Milderungsgründe „mit Recht erwartet werden
kann". — Durch die Härte dieses Cautionsrechtentwurfs steigen die obigen
Grundsätze der verschärften Untersuchungshaft erheblich und wird ihre Ableh¬
nung um so mehr rathsam, zu nothwendig.
Die weiteren, theilweise im Wesen der Kaution begründeten Vorschriften
übergehen wir. Sie verliert selbst ihre beschränkte Wirkung schon, wenn „Um¬
stände eintreten, welche die Verhaftung doch erforderlich machen." Darin liegt
der Satz, eine Kaution hilft nichts, verhaftet wird jeder. Sie verfällt 1) bei
Flucht des Beschuldigten, 2) bei Contumaz in der Hauptverhandlung. 3) wenn
er „eine andere Aufforderung zur persönlichen Gestellung nicht rechtzeitig be¬
folgt," — bei 2. u. 3. falls nicht Naturbegebenheiten oder andere unabwend¬
bare Zufälle, welche eine vorgängige Anzeige oder Bescheinigung nicht zuließen,
das Erscheinen hinderten, wenn der Verhinderte in 10 Tagen danach dies
anzeigt. — Wir behalten lieber § 224—236 unsrer guten Criminalordnung
von 1806.
Neben diesen Normen würde selbstverständlich der Art. 84 der Verfassungs¬
urkunde bestehen bleiben, laut welchem kein Mitglied einer Kammer ohne deren
Genehmigung während der Sitzungsperiode wegen einer strafbaren Handlung
zur Untersuchung gezogen oder verhaftet werden kann, außer wenn es bei Aus¬
übung der That oder im Laufe des folgenden Tages nach derselben ergriffen
wird. Höchst wünschenswert!) erscheint es, diesen Artikel an der systematisch
nöthigen Stelle einer neuen Strafproceßordnung einzuverleiben, damit die
Verfassungsurkunde sich auch äußerlich als geltendes Recht darstelle und jeder
tendenziösen Beiseitsetzung ihrer wichtigen Bestimmungen, zumal durch die
Staatsanwaltschaften, vorgebeugt werde.
Nur auf Antrag des Staatsanwalts kann nach dem neuen Ent¬
würfe (§ 71) wie im bisherigen Strafprocesse (Verord. v. 3. Januar 1849
§ 6) die Verhaftung vom Gerichte beschlossen werden, außer bei Gefahr
im Verzüge, wo das Gericht auch ohne jenen Antrag verhaftet, die Verhand¬
lungen alsdann aber dem Staatsanwalte mittheilt. — Die Staatsanwaltschaft
darf nach heutigem Rechte (§ 7 der Verord. v. 3. Jan. 1849) Verhaftungen (im
Gegensatze gegen vorläufige Festnahme) nur bei den Behörden (Gericht, Polizei)
beantragen, sie selbst darf sie nur bei Gefahr im Verzüge und bei Ergreifung
auf frischer That vornehmen. Nach dem neuen EntWurfe bleibt bei der, wie
später dargestellt werden soll, bevorzugten Machtvollkommenheit der Staats¬
anwaltschaft jene wichtige Sicherung der persönlichen Freiheit gegen die Ein¬
griffe dieser Verwaltungsbeamten zweifelhaft. Denn § 37 erklärt sie — wie
das heutige Recht nirgend — „in ihren Amtsverrichtungen von den Ge¬
richten unabhängig." Der dem obigen § 7 der Verordnung v. 3. Jan.
1849 entsprechende § 39 des Entwurfes läßt gerade den obigen Theil jenes
§ 7 fort. (Vrgl. auch § 69.) Dagegen räumen § 38 u. 123 ff. des Ent¬
wurfs der Staatsanwaltschaft nur die Befugniß „aller ihr erforderlich scheinenden
Anträge zur Vorbereitung, Einleitung und Führung der Untersuchung" ein.
Der vorn citirte § 119. des Entwurfs läßt die Sache ebenfalls zweifelhaft.
Denn er setzt zwar unbedingt einen richterlichen Befehl als Grundlage der Un¬
tersuchungshaft voraus, doch braucht der Haftbefehl erst im Laufe des der
Verhaftung folgenden Tages dem Beschuldigten vorgelegt zu werden. Und
wie diese schon im Gesetze vom 12. Februar 1850 enthaltene Vorschrift leider
die Praxis in der Jnnehaltung eines der wichtigsten Grundrechte des Staats¬
bürgers lax gestatten ließ, ist bekannt. Eine genauere Präcisirung der hier
betheiligten Rechte und Pflichten der Staatsanwaltschaft, entsprechend dem § 7
der Vorrede v. 3. Januar 1849 ist deshalb ebenso erforderlich für den neuen
Entwurf,'als eine Reform von § 119 desselben und § 1 des Gesetzes v. 12.
Februar 1850 dahin wünschenswert!,, daß ausdrücklich vorgeschrieben wird, der
gerichtliche Haftbefehl muß unbedingt vor der Verhaftung erlassen sein und
bei der Verhaftung, nicht später, dem Beschuldigten zugestellt werden. Das
Gesetz eines constitutionellen Staates komme eher dem einzelnen Unwürdigen
zu Gute, als daß es die persönliche Freiheit Aller zu beeinträchtigen vermag
und beeinträchtigt.
Genügt es nach dem neuen EntWurfe im Falle der Verhaftung auf Grund
eines Steckbriefes oder der Requisition eines auswärtigen Gerichtes, wenn dem
Beschuldigten eine Abschrift des Steckbriefes oder Nequisitionsschreibens zuge¬
stellt wird? Der Entwurf sagt es nicht (vrgl. dessen § 143—146).
Mit der Wiederaufhebung des Haftbefehls beschäftigt der Ent-
wurf sich anerkennenswertherweise eingehend. Er bestimmt, der Haftbefehl
muß aufgehoben werden, wenn dessen Gründe fortfallen, besonders wenn der
Beschuldigte nach Abschluß der Voruntersuchung außer Verfolgung gesetzt wird,
oder im Hauptverfahrm freigesprochen wird. Rechtsmittel der Staatsanwalt¬
schaft hiergegen sind einflußlos betreffs der sofortigen Freilassung des Verhaf¬
teten. In allen Fällen indeß kann dessen Wiederverhaftung, besonders beim
Hervortreten neuer Verdachtsgründe, beschlossen werden.
Zuvor aber schreibt der Entwurf vor, erging der Haftbefehl vor Einleitung
des gerichtlichen Strafverfahrens, so muß der Staatsanwalt binnen 14 Tagen
nach Vollstreckung desselben entweder seine Aufhebung beantragen oder die Ein¬
leitung des gerichtlichen Strafverfahrens gegen den Verhafteten bewirken. Eine
unannehmbare Concession gegen die Geschäftsleitung der Staatsanwälte
auf Kosten der unschätzbaren persönlichen Freiheit. Wie lauten dagegen § 4,
§ 6 unsrer Habeas-Corpus-Acte von 12. Februar 1860: Bei jeder Verhaftung ist
sofort das Nöthige zu veranlassen, um den Beschuldigten dem Richter vorzu¬
führen, welcher den Befehl dazu erlassen hat. Jeder Verhaftete muß spätestens
im Laufe des folgenden Tages nach seiner Vorführung vor den zuständigen
Richter so vernommen worden, daß ihm der Gegenstand der Anschuldigung mit¬
getheilt und ihm die Möglichkeit zur Aufklärung eines Mißverständnisses gegeben
werde.
Diese unveräußerliche Grundlage des Schutzes der persönlichen Freiheit
kennt der hier einschlagende Abschnitt des Entwurfs in §§ 137. 139. 140.
147 ebenfalls; aber was helfen dem Jnhaftirten die noch so schleunigen Ver¬
nehmungen, wenn die Staatsanwaltschaft erst zwei Wochen nach dem Anfange
seiner Freiheitsberaubung die ersten Schritte der Verfolgung seiner Sache bei
dem Gerichte zu thun verbunden ist. Auch diese letzte Norm des Entwurfs läßt
die oben gerügten Grundsätze desselben als äußerst harte und mit Recht ver¬
werfliche erscheinen.
Die Erörterung der weiteren Freiheitsbeschränkungen des neuen Entwurfs,
seiner Vorschriften über die Staatsanwaltschaft und über die Voruntersuchung
wird uns wiederholt Veranlassung geben, auf die hier behandelte Untersuchungs¬
haft zurückzukommen.
Ein vielfach Interesse gewährendes Lebensbild aus dem ersten Drittel des dreißig¬
jährigen Krieges sowie aus den Kämpfen, welche zur Unterdrückung des Protcstan-
tismus in Oberöstreich führten — ein Bild, das um so interessanter ist, als wir
hier einen protestantischen Fürsten auf kaiserlicher und katholischer Seite fechten sehen,
und als die Lage der Dinge in Schleswig-Holstein im Jahre 1627 Achnlichkeit mit
der heutigen hat. Der Grund zu dieser ungewöhnlichen Stellung des Herzogs
war getäuschter Ehrgeiz und Haß gegen das verwandte dänische Königshaus, wel¬
ches ihm in Christian dem Vierten bei seiner Bewerbung um das Coadjutorat des
Erzbisthums Bremen entgegengetreten war und ihm diese „Versorgung" genommen
hatte. Christian hatte damals die Absicht, die Rolle in Norddeutschland zu spielen, die
später Gustav Adolph spielte, er dachte, gestützt auf Bündnisse mit norddeutschen
Fürsten als Führer der Protestanten gegen den Kaiser aufzutreten, und ebenfalls
zu .diesem Zwecke erwarb er für seinen Sohn die Coadjutorstelle in Bremen und
damit für sich eine gewisse Machtstellung auf norddeutschen Boden, Dies trieb Her¬
zog Adolph in die Dienste seines Gegners, des Kaisers. 1623 focht er unter Tilly
als Oberst eines Reiterregiments im Treffen bei Stadtlohn mit. 1625 warb er
für Waldsteins Heer ein Regiment Fußvolk, mit dem wir ihn im folgenden Jahre
erst in Thüringen und Hessen, dann im Nassauischen und zuletzt in der Schlacht
bei Effcrding finden, welche dem Aufstand der oberöstrcichischen Bauern «in Ende
machte. 1627 stand er aus Besehl des Kaisers dem König von Polen gegen die
Schweden bei, dann zog er mit seinem Regiment nach Rügen, wo letzteres bis HU
Anfang des Jahres 1629 in Garnison verblieb.
Mittlerweile hatte der Dänenkönig seine Pläne ins Werk gesetzt, war aber in
der Schlacht bei Lutter geschlagen worden, und im Herbst 1627 war die ganze
cimbrische Halbinsel von dem Heere Waldsteins überschwemmt. Waldstein hatte jetzt
sehr großartige Gedanken: er dachte daran, die dänische Monarchie völlig zu ver¬
nichten, am liebsten im Bunde mit Schweden, das Norwegen und die Provinzen
jenseits des Sundes erhalten sollte. Die dänische Krone sollte der Kaiser nehmen
und auf der Ost- und Nordsee als „General des Baltischen und Oceanischen Meeres"
die Herrschaft Deutschlands zur See begründen. Als man daraus verzichten mußte,
hielt er wenigstens die Absicht fest, die ganze Halbinsel für Deutschland zu gewinnen,
und noch 1629 forderte er von Christian nicht nur vollständigen Verzicht auf den könig¬
lichen Antheil an Schleswig-Holstein, sondern auch Abtretung Jütlands an den Kur¬
fürsten von Sachsen, damit derselbe es so lange als Pfand besitze, bis seine Forder¬
ungen an den Kaiser bezahlt seien. Schon vorher begann der kaiserliche Generalissimus
hier frei zu schalten und zu walten: es hieß, die Aemter und die confiscirten Güter
seien zur Belohnung und Bezahlung der kaiserlichen Offiziere bestimmt, und wirklich
wurden mehre der letzteren auf solche Güter und Aemter angewiesen. Da mischte sich
Herzog Adolph ein und machte, indem er sich darauf berief, daß er und das ganze
Haus Gottorf die Belehrung zur gesammten Hand besitze und daß er dem Kaiser
„mit Dransetzung alles Seinigen, ja Leibes und Lebens Kriegsdienst geleistet habe,
den Versuch, den Kaiser zu bestimmen, „ihn mit dem xroMr crimen laesav majs-
statis a LeZö pinus, tNirMirm Vuoo Holgatias, eommissum verwirkten Part am
Haus und Land Holstein allergnädigst zu providiren." Der wiener Hof ging je¬
doch darauf nicht ein. Auch die Bemühungen des Herzogs um einzelne Landestheile,
Südcrditmarschen und das Amt Brcitenburg bleiben erfolglos. Ebenso natürlich der
wunderliche Plan Adolfs, von dem Kaiser die Belehnung mit Norwegen zu erbat>
ten, den jener damals durch seinen Kanzler Heinrich von der Loo damit empfehlen
ließ, daß Otto der Erste Bischöfe in Norwegen ernannt, Kaiser Lothar dem Erz-
bischof von Hamburg einmal die christliche Jurisdiktion über Norwegen, Island und
Grönland übertragen, Kaiser Friedrich der Erste Waldemar den Großen mit Däne¬
mark und Norwegen invcstirt habe und was dergleichen Gründe mehr waren. Der
Kaiser ging weder auf diese schlechten noch auf gute Rechtsansprüche ein. Die Schleswig»
holsteinische Angelegenheit wurde eben schon damals als bloße Machtfrage behandelt.
Wieder in seinen Hoffnungen betrogen, wandte sich Herzog Adolf wieder dem
Kriegshandwerk zu. Im Mai 1630 finden wir ihn mit seinem Holsteinischen Regiment
zu Hagenau im Elsaß und bald darauf in Worms. Im Frühjahr 163 t hilft er, der
Protestant, das unglückliche Magdeburg stürmen und verwüsten (er griff das Kröken-
thor an), am 17. September desselben Jahres endlich, in der Schlacht bei Breiten-
fcld, ereilt ihn sein Schicksal. Mit seinem Regiment aus dem äußersten linken Flügel
Tillvs stehend, wurde er von den Schweden angegriffen und niedergeworfen. Die
Mehrzahl seiner Leute blieb auf dem Platze, er selbst, von einer Bleikugel in den
Oberschenkel getroffen (wie seine Grabschrift in der Fürstengruft im Dom zu
Schleswig sagt), wurde nach Eilenburg gebracht, wo er am 19. September starb.
Wenn irgendwo, so lag hier die Versuchung nahe zu einer moralischen Wäsche,
wie Ouro Klopp und Genossen sie andern Helden dieser Periode angedeihen zu
lassen sich gedrungen fühlten. Darauf hat sich indeß der Verfasser nicht eingelassen;
er läßt es unverhüllt, daß sein Held weder ein Tugendspiegel noch ein großer
Kriegsmann war.
Die Darstellung Handelmanns ist eine einfache und streng urkundliche, sie beruht
vorzüglich auf Originalacten, welche jedenfalls aus dem gottorfischen Hausarchiv
stammen, jetzt aber Eigenthum des Verfassers sind. Die Mittheilungen über den
Herbst und Winter 1626—27 bestehen nur in Briefen und Regesten des Herzogs
Adolf. Letztere ergänzen die Geschichte des Bauernkriegs in Oberöstreich wesentlich
und enthalten namentlich Interessantes über die Treffen bei Gmunden und Vöckla-
bruck, sowie über die Lage des Landes nach dem Kriege, und so werden sie vorzüg¬
lich östreichischen Historikern und Geschichtsfreunden willkommen sein. Die Lücken,
welche das genannte Material ließ, sind überall, soweit überhaupt möglich, aus der
gedruckten Literatur mit Fleiß und Sorgfalt ergänzt.
Die Schilderung der dresdner Maitage. weiche die erste Hälfte des Buches bildet,
enthält nichts Neues und ist ganz aus der Perspektive der damaligen Demokratie geschrie¬
ben. Lcscnswerth dagegen sind die darauf folgenden Mittheilungen aus den Beobach¬
tungen und Erlebnissen des Verfassers während seines Aufenthaltes in Waldheim.
Sie sind recht anschaulich und lebendig erzählt und fast durchaus leidenschaftslos
gehalten, und wenn man somit kaum Ursache hat, auf Uebertreibungen zu schließen,
so ist wohl der Ausruf erlaubt! Was für abscheuliche Zustände!
Als Herr Stcihr seine „Rettungsanstalt für sittlich verwahrloste Heiden"
mit Tiberius eröffnete, ließen sich die Grenzvoten von ihrer angeborenen Gut¬
müthigkeit hinreißen, bei der Beurtheilung desselben von den Anforderungen, die
man sonst an einen Historiker und Philologen stellt, fast völlig abzusehen, auch
darüber ein Auge zuzudrücken, daß Tiberius ganz ebenso im Grunde schon
von Merivale gerettet worden, durchaus den Verfasser, der in seiner Jugend
ein gutes Buch über Aristoteles geschrieben hat, als einen zu behandeln, der
nach langer Pause zu Studien zurückkehrt, denen er bereits fremd geworden,
mit einem Worte, dem beliebten Belletristen einen sueeös ä'östims zubereiten.
Es sollte uns aufrichtig leid thun, wenn jene wohlmeinende Anwandlung
anders gedeutet worden wäre, namentlich wenn wir sehen, wie Herr Stahr
weiter rettet.
Wir sind auch jetzt noch nicht so unbarmherzig, an seine Kleopatra den
Maßstab einer Quellenforschung zu legen, wie man sie von der neueren Ge¬
schichtschreibung erwartet. Nur Kleinmeisterei wird über den weisen Anhörens
des Lucan, der S. 32 leibhaftig im Rathe des Ptolemäus auftritt, die Nase
rümpfen, oder darüber, daß Herr Stahr alles Ernstes Cäsarn sein Herz an
die „Ägyptische Zaubrerin" verlieren läßt und in vollster Unschuld Suetons
Versicherung nachschreibt, daß Cäsar mit Kleopatra eine Vergnügungsreise nach
Aethiopien beabsichtigt habe und an der Ausführung nur durch das Murren
seiner Veteranen verhindert worden sei; und in dem Bemühen des Verfassers,
über alle möglichen Nebenpersonen Details anzubringen, die leider fast allemal
falsch sind, werden wir ein Aufdrehen von Genauigkeit billigerweise nicht ver¬
kennen — obgleich wir nicht verhehlen wollen, daß ein befreundeter Unter¬
tertianer uns sein Erstaunen darüber ausdrückte, Kleopatra S. 47 den bekannten
Pharnaces als König von Armenien figuriren zu sehen. Der Wohldenkende
wird dies Herrn Stahr nachsehen, wie auch, daß er von den Resultaten der
Philologie in den letzten Jahrhunderten nicht überall den wünschenswerthen
Nutzen gezogen hat und z. B. durch sein ganzes Buch Cäsar als den Verfasser
der Schrift über den alexandrinischen Krieg behandelt. Ueber steine Uebersetzungs-
fehler wird man Wohl thun rasch hinwegznlescn, z. B. wenn S. 128 «^>« vom
Lebensalter des Octavian verstanden, oder wenn S, 96 r^«/-xc>v, «co^-xov
Tr^aV/como^ durch „tragisches, komisches Gesicht" wiedergegeben wird. Freilich
konnte unser Untertertianer hier eine Regung kindlicher Bosheit nicht unter¬
drücken und meinte, ein solches (juicl xro <Mo sei bei einem alten Philologen
eigentlich tragikomisch.
Doch lassen wir die Zergliederung des gelehrten Beiwerks den Splitter-
ricl'dem von Profession; wir werden hier Rücksichten der Menschlichkeit walten
lassen, an den Verfasser nur den Maßstab eines gebildeten Dilettanten legen
und uns unter diesem Gesichtspunkte seine Rettung von Kleopatra und An-
tonius etwas näher ansehen. Da thut es uns nun wahrhaft wehe, das;
S. 125 der Recensent, der etwa nicht einsehe, daß Herr Stahr nicht rechtfertigen,
sondern nur erklären wolle, schon im Voraus ein Schiefohr genannt wird.
Wir bitten Herrn Stahr inständig, doch ja mit uns nicht zu hart ins Gericht
zu gehen - wir können wahrhaftig nichts dafür, daß uns sein Buch nun einmal
ganz den Eindruck eines Advocatenplaidoyers hinterlassen hat.
Leider ist es für den Richter ebenso mißlich wie für den Advocaten, wenn
er Actenstücke, die für den Ausgang des Processes von entscheidenden Einfluß
sind, gar nicht kennt, wie das Herrn Stahr S. 89 passirt ist. Die Vergiftung
des jüngern Ptolemäus durch seine Schwester Kleopatra weist er „bei dem
Völliger Schweigen aller alten geschichtlichen Zeugnisse" als eine böswillige
Erfindung sehr später Zeit zurück, und übersieht, daß schon Josephus dasselbe
wie Porphyrius berichtet, daß letzterer zu unseren vorzüglichsten Quellen gehört,
und daß Dio freilich fälschlich den Ptolemäus mit Arsinoe zugleich ermordet
werden läßt, begreiflicherweise aber darum doch nicht als Entlastungszeuge auf¬
geführt werden kann, Übersicht endlich, daß alle übrigen Zeugen nur darum
von der Mordthat schweigen, weil außer jenen drei überhaupt niemand eine
Nachricht über den Tod des Ptolemäus aufbewahrt hat. Noch mißlicher ist es,
wenn wir denselben Vertheidiger hier indignirt sehen, wie man seiner Clientin
ein solches Verbrechen habe zutrauen können, der nur zwei Seiten vorher in
der Lage war, den notorischen, durch nichts zu beschönigenden Schwestermord,
den Kleopatra an Arsinoe beging, berichten zu müssen.
Indeß die moderne Geschichtschreibung ertheilt ja unschwer ihren Helden
Dispens von den Gesetzen der bürgerlichen Moral, vorausgesetzt, daß sie nur
wirklich die Träger höherer politischer oder sonstiger Ideen gewesen sind. Das
soll denn auch bei Kleopatra der Fall gewesen sein: wir erfahren durch Herrn
Stahr S. 46, daß ihr Ziel gewesen sei. an der Seite des römischen Siegers
die Weltherrschaft zu theilen, und S. 183. daß ihr ganzer Ehrgeiz sich darauf
gerichtet habe, das Reich ihrer Ahnen zu einer zwischen den Parthern und Rom
stehenden, von beiden unabhängigen Macht zu erheben. Jammerschade, das;
das zwei Ziele sind, die sich einander ausschließen, so daß nothwendig ent¬
weder Kleopatra oder Herr Stahr nicht gewußt haben, was sie wollten.*)
Das Bestreben des Octavianus, in der Weise, wie es Louis Philipp mit
Louis Napoleon machte, den Antonius als i'-zuno 6touräi hinzustellen, der
politisch unzurechnungsfähig sei, schimmert freilich aus unseren Quellen noch
deutlich hervor; nicht minder gewiß aber ist es, daß Octavianus zu seinem
Urtheile besseren Grund hatte als Louis Philipp. Daß in den Berichten von
Antonius und Klcopatras letzten Schicksalen mancher Zug im Interesse Octa-
vians verfälscht worden ist, wußte man schon vor Herrn Stahr; dessen eigene
weitere Rettungsvorschläge sind von etwas zweifelhaftem Werthe. Daß An¬
tonius aus Ungeduld nach der Wiedervereinigung mit Kleopatra sich bei dem
Feldzuge gegen die Parther übereilte, mag gehässige Insinuation der Gegner
sein; daß er sich übereilte und daß diese Uebereilung sammt der Unkenntnis; des
Terrains der wesentliche Grund des Scheiterns der Expedition gewesen ist, der
wirkliche oder vermeintliche Verrath des Artavasdcs nur als ein untergeordnetes
Moment hinzukam, ist aber deutlich genug. Herr Stahr enthüllt uns dagegen
einen schwarzen Verrath, den Octavianus durch Artavasdes gesponnen habe,
und beruft sich dafür kurzweg auf Dio, der mehre Jahre später von Ver¬
bindungen spricht, in denen der Armenierkönig mit Octavianus gestanden
habe; viel wahrscheinlicher schreiben sich diese aus der Zeit her, nachdem An¬
tonius sich mit dem Mederkönige, Artavasdes Erbfeinde, alliirt hatte.
Der die Römer tödtlich verletzende Pomp, mit dem Antonius und Kleo¬
patra sich als neuer Dionysos und neue Isis, ihre Kinder als Könige der
Könige proclamirten, war nach S. 161 keine sinnlose Mummerei, sondern
ein Act von hoher politischer Bedeutung, eine der Volksreligion ihrer grie¬
chischen und ägyptischen Unterthanen dargebrachte Huldigung. Zugegeben:
war aber eine solche Huldigung nöthig, um sich den Gehorsam derselben zu
erhalten? und war es der orientalische Sklaventrvß oder die römischen Legionen,
auf denen in letzter Instanz die Hoffnung des Sieges für Antonius beruhte?
Der politische Fehler erscheint also in der apologetischen Beleuchtung Herrn
Stahrs nur als ein um so gröberer. Hat jenen beiden eine politische Idee
vorgeschwebt, so kann es nur die gewesen sein, schon jetzt die Trennung der
römischen und der orientalisch-griechischen Welt durchzuführen, die sich dann
im vierten Jahrhundert wirklich vollzogen hat, und in einer etwas romanisirten
Fon die Alexandcnnonarchie fortzusetzen. Jeder nicht ganz hoffnungslose
Rettungsversuch müßte hiervon ausgehen und das folgerichtig durchzuführen
suchen. Allein wir hegen die ernstesten Zweifel, ob sich an dem Bilde, welches
uns Plutarch hinterlassen hat, überhaupt Wesentliches retouchiren laßt: wir
vermissen in dem Treiben der beiden jede Spur einer über den nächsten Augen¬
blick hinaussehenden Berechnung; mag in dem Nebenwerke Einzelnes übertrieben
oder entstellt sein, die Thatsachen sprechen zu laut, vor allem das Uebergehen
der ältesten und erprobtesten Anhänger des Antonius vor der Entscheidungs¬
schlacht, der maßgebende Einfluß des eitlen Weibes im Kriegsrathe, ihre feige
Flucht in einem Momente, wo ihre Existenz auf dem Spiele stand, das ge¬
wissenlose Imstichlassen des treuen Heeres durch Antonius, um ihr nachzueilen.
Wir können Herrn Stahr das Lob nicht versagen, daß er dem Leser die
Jämmerlichkeit beider durch seine fortgesetzten schwächlichen Beschönigungs¬
versuche erst recht zum Bewußtsein gebracht hat. Es wird wohl dabei bleiben,
daß Kleopatra keine höheren Ziele gehabt hat, als die Befriedigung weiblicher
Herrschsucht und Eitelkeit, und daß Antonius ein im Grunde braver, nur
dem Bachus und der Venus über die Maßen ergebener Militär gewesen
ist, der nach einer stürmisch durchlebten Jugend einer mit allen Hunden gehetzten
Kokette in die Hände fällt, bei der er allerdings den höheren Schliff erhält,
dafür aber sich vcrliegt und sein Handeln gegen bessere Einsicht ihren klein¬
lichen Gesichtspunkten unterordnet. Kurz, der politische Standpunkt ist bei
einem Rettungsversuche des Paars womöglich noch übler angebracht wie der
moralische.
Der neueste Retter legt denn auch das Hauptgewicht darauf, daß Antonius
und Kleopatra Ritter vom Geiste gewesen seien. Herr Stahr ist so galant,
alles an Kleopatra genial zu finden: als sie sich in einen Teppich gewickelt zu
einem Stelldichein mit Cäsar tragen läßt, redet Herr Stahr von der Anmuth
und „Würde", mit der Kleopatra sich ihm aufgedrungen hahe, und geräth in
Ekstase über die übermüthige Kühnheit dieses Wagnisses; und selbst die bekannte
Anekdote vom Auflösen der kostbaren Perle in einer Säure, um die Genug¬
thuung zu haben, zehn Millionen Sestertien auf einmal verschlucken zu können,
zeigt Herrn Stahr im schlimmsten Falle nur den genialen Uebermuth der
„schönen Zaubrcrin vom Nil". Hier scheint uns Herr Stahr geniale und
brutale Genußsucht zu verwechseln. Nur „moderne Stubengelehrte, die nie
den Sturm der Leidenschaft im eignen Innern empfunden und ausgelebt haben",
können — versichert Herr Stahr S. t24 mit einem mitleidigen Seitenblick auf
Drumann — in dem Benehmen des Antonius gegen die edle Octavia bloße
niedrige Untreue eines wankelmüthigen und blasirten Wüstlings sehen. Wenn
Antonius, meint Herr Stahr, drei Jahre friedlich an Octavias Seite gelebt,
so sei das nicht zu verwundern gewesen, da Antonius überhaupt immer unter
dem Pantoffel gestanden und selbst neben einer Fulvia ausgehalten habe; zwar
Antonius sei nicht blind für ihre Tugenden gewesen, wohl aber habe Octavia
kein Verständniß für die geniale Liederlichkeit ihres Gemahls gehabt, mit einem
Worte, sie sei zu tugendhaft für ihn gewesen (S. 126): so sei denn, als
Antonius die Octavia treulos verließ, nur geschehen, was geschehen mußte.
Eine seltsame Rettung! Wir sind in der That in Verlegenheit, ob wir Herrn
Stahr mehr bedauern sollen, daß er bei seinem Streben zu retten gerade auf
Kleopatra und Antonius verfallen mußte, oder das unglückliche Paar, daß es
gerade von Herrn Stahr gerettet werden mußte.
Nicht jeden schuf Mutter Natur zum Historiker, nicht jeden zum Advocaten;
es wäre Grausamkeit, gerade von Herrn Stahr zu verlangen, daß er hätte
beides sein sollen. Er ist vor allem Stilist und wollte wohl auch hier vor
allem einen stilistischen Triumph feiern. An Blumen fehlt es seiner Darstellung
nicht. Ein alter Dichter, wir glauben Lucan, hat Kleopatra die Helena am
Nil genannt; diese Phrase hat Herrn Stahr zur Nachahmung begeistert, Antonius
ist ihm Rinaldo in den Zaubergärten Armidens, beide Vergleiche werden das
ganze Buch hindurch fast Seite für Seite wiederholt: wenn der Leser an diesem
Todthetzen Eines Gedankens weniger Gefallen empfindet als der Verfasser, so
ist das des Lesers eigne Schuld. Daß ,der Stil schlaff und schlottrig ist und
mehr den Ton des Feuilletons als den der Geschichtschreibung anschlägt, wird
geschickte Berechnung sein, um im Leser einen harmonischen Eindruck hervorzu¬
rufen: schlaff und schlotterig sind ja auch die von Herrn Stahr gezeichneten
Charaktere; nur stilistische Pedanten werden an dem Sultan Mithndates oder
an der Tageslöwin Cytheris Anstoß nehmen. Hören wir lieber, wie ergreifend
Herr Stahr S. 214 die Schlacht bei Antium zu schildern weiß: „Kein Rauch
des Geschützfeuers hüllte, wie in unseren Tagen, das grause Schauspiel in
seine dunklen Schleier, sondern der helle Tag beschien den fürchterlichen Kampf!"
Bedauerlich! Noch bedauerlicher aber, daß wir uns den Genuß dieser Pracht¬
stelle durch den schon genannten Untertertianer mit der Bemerkung vergällen
lassen mußten, es wäre noch viel mehr zum Erstaunen gewesen, wenn man
sich 31 vor Christus bei nachtschlafender Zeit mit Kanonen beschossen hätte.
Unser junger Freund ist eben eine prosaische Natur! Was für ein verstocktes
Gemüth muß das sein, das bei so schönen Stellen wie S. 29 unempfindlich
bleibt! Da wird Kleopatra eingeführt als „das Weib, das als die Königin
dieses wilden Carnevals die romantische Personification desselben in ihrem eignen
Leben darstellen sollte, wie ihr Ausgang den düstern Aschermittwoch desselben
bildet." Wir richten an den blassen Neid die triumphirende Frage: Hat seit
Zieglers asiatischer Banise je in der deutschen Literatur eine Heldin auf er¬
habneren Kothurn den Schauplatz betreten? —
Eine der'wichtigsten Früchte der Eroberung Schleswig-Holsteins für das
deutsche Leben ist die dadurch gewonnene Möglichkeit, die maritime Seite dieses
Lebens weiter auszubilden. Wir — d. h. bis auf Weiteres die Preußen —
sind zu guten Häfen, zur Verstärkung unserer Schisserbevölkerung gelangt, und
wir haben es in der Hand, Nord- und Ostsee für unsere Kriegsmarine bis zu
einem gewissen Grade in Ein Meer zu verwandeln, indem wir sie durch einen
für große Schiffe fahrbaren Kanal quer durch die eroberte Südhälfte der cim-
brischen Halbinsel mit einander verbinden.
Wie nützlich dieser große norddeutsche Kanal auch in anderen Beziehungen
sein wird, ist in diesen Blättern bereits wiederholt auscinandergcsejzt. Er wird
den Seeweg des deutschen Handels von der Weser und Elbe nach Rußland
und von der Weichsel und Oder nach den Märkte» an der Nordsee, am Kanal,
am Mittelmeer und jenseits des großen Oceans wesentlich verkürzen, den Wohl¬
stand der ganzen deutschen Ostseeküste, der jetzt hinter dem der Nordseeküste be¬
trächtlich zurücksteht, sehr merklich heben und die deutsche Handelsthätigkeit über
alle Concurrenz in den östlichen Slavenländcrn siegen lassen. Darüber sind
alle Stimmen mehr oder minder einig. Die Eine» mögen sich Größeres von
den Leistungen der neuen Wasserstraße versprechen, eine stärkere Frequenz der¬
selben annehmen, die Anderen mäßigere Erwartungen hege»: die Thatsache,
daß der Kanal von höchstem Nutzen für Schifffahrt und Handel sein würde, ist
jetzt wohl so unbestritten wie die hohe Bedeutung desselben für die zukünftige
deutsche Seemacht.
Dagegen gehen die Ansichten über die Richtung, welche dem Kanal zu
geben, und die Art und Weise, wie er auszuführe», vielfach auseinander, und
da die Zeit herannaht, wo man hierüber zur Klarheit kommen und sich über
eines der vielen in den letzten Jahren aufgetauchten Projecte einigen muß,
so denken wir mit den folgenden Auszügen aus einer zu diesem Zweck in Kiel
ausgearbeiteten, bis jetzt (Mitte März) wohl nur Wenigen zugänglichen
Denkschrift*) nicht unwillkommen zu sein.
Es ist wahr, besser wäre gewesen, wenn Nichtkieler die Sache vertreten
hätten; denn immer erweckt es ungünstige Vorurtheile, wenn jemand einen
Plan für den besten unter mehren angesehen wissen will, der ihm Nutzen ver¬
heißt. Auch wird man die berliner Gegenpartei erst mit allem, was sie vor¬
zubringen hat, hören müssen, bevor sich ein vollkommen sicheres Urtheil bilden
läßt. Indeß sind die Verfasser unserer Schrift mit lobenswerther Gründlichkeit
und nicht weniger gewinnender Mäßigung zu Werke gegangen, ihre Darstellung
der Sachlage, auf wiederholter sorgfältiger Prüfung aller einschlagenden Ver¬
hältnisse beruhend, leuchtet in allen Punkten ein und möchte kaum in irgend¬
einem ihrer Hauptpunkte zu entkräften sein, und so stehen wir nicht an, uns
im Voraus für bis auf Weiteres mit ihnen einverstanden zu erklären. Jeden¬
falls werden sie das Verdienst behalten, die Gegner zu gleich ausführlicher Be¬
gründung ihrer Ansicht genöthigt und vortreffliches Material geliefert zu haben,
wenn es deren Ansicht weiter zu würdigen gilt.
Die Kanalfrage steht jetzt so. Von mehr als einem Dutzend Projecten,
die im Laufe der Zeit auftraten, handelt es sich eigentlich und im Ernst nur
noch um drei: um die Linien Eckernförde-Schleswig-Husum, Eckernförde-
St. Margarethen und kieler Hafen-brunsbüitler Koog. Die erste, schon früher
wiederholt empfohlen, ist jetzt wieder von einem Herrn v. Puttkammer aus
Pommern befürwortet und von einem holländischen Ingenieur untersucht worden.
Die zweite, das Project eines in Berlin zusammengetretenen Comites, wurde
im vorigen Spätherbst von dem Geh. Baurath Lentzc geprüft und für die
geeignetste erklärt. Die dritte ist der Wunsch der Kieler (wir glauben, mit
alleiniger Ausnahme der Umgebung des Herzogs, welche die Preußen mit ihren
Hafen- und Kanalplänen am liebsten möglichst weit weg von Kiel hätte) und
ihre Wahl Ziel und Zweck unsrer Denkschrift.
Die wenigste Aussicht auf Verwirklichung hat die zuerst genannte Linie.
Die zweite würde zunächst wegen der zu nördlichen Lage ihrer östlichen Hälfte
politisch-militärische Gründe gegen sich haben und, falls der Kanal so auf ihr
ausgeführt würde, wie Herr Leutze ihn zu bauen gedenkt, sich auch damit an¬
fechten lassen, daß sie nicht rentabel wäre. Die dritte scheint allen Anforderugen
zu entsprechen.
Um dies klar zu machen, fragen wir mit der Denkschrift: was fordern
merkantile und militärisch-politische Zwecke von dem Kanal? Die Antwort
lautet: möglichste Abkürzung des Weges von der Ostsee in die Nordsee und
möglichste Verminderung der Gefahren der Seefahrt, also möglichstes Vermeiden
der besonders gefahrreichen Westküste der cimbrischen Halbinsel. Dann an
beiden Endpunkten sichere Häfen und Rheden und vor denselben möglichst freies
Fahrwasser zu unbehindertem An- und Aussegeln. Ein ferneres Erforderniß
ist eine hinreichende Tiefe für die Passage großer Schiffe. Sodann muß der
Kanal der für ihn zu erwartenden starken Frequenz vollkommen genügen, an
seinen beiden Mündungen Raum zur Anlage von Werften, Docks, Marine¬
etablissements und Handelsdepots bieten, die vollständig sichere Befestigung
dieser Bauten sammt den vor ihnen liegenden Flottenhäfen gestatten und —
eine Hauptforderung — sich in seiner ganzen Ausdehnung auf einer strategisch
thunlichst gedeckten Linie befinden. Endlich muh der Kanal rentabel sein, d. h.
seine Bau- und Unterhaltungskosten müssen sich durch die zu erhebende Kanal¬
abgabe verzinsen.
Giebt man die Richtigkeit dieser Sätze zu, so wird dasjenige Project,
welches in Betreff des einen oder des andern große Mängel zeigt, bedenklich,
dasjenige, welches gegen mehre verstößt, sofort zu streichen sein, und damit
fällt der Plan des Herrn v. Puttkammer, was auch die vielcolportirte „Ge¬
horsamste Vorstellung der alten bei der Schifffahrt ergrauten Schiffskapitäne"
vom 20. Januar dieses Jahres Schönes und Wunderbares über die Vor¬
züglichkeit desselben dem Ministerium und dem Landtag in Berlin ans Herz
gelegt hat, ohne Weiteres zu Boden.
Es ist richtig, die Linie Husum-Schleswig-Eckernförde empfiehlt
sich unter anderm dadurch, daß sie die bei Weitem kürzeste und. falls man an
einen Kanal, nicht mit Herrn v. Puttkammer an einen einfachen Durchstich dächte,
zwischen Husum und Eckernförde am wohlfeilsten ausführbar sein würde. Sie
leidet aber erstens sowohl für die Interessen des Handels als für die der
Kriegsmarine an wesentlichen Mängeln. Sie ist ohne strategische Deckung gegen
Norden hin, worüber später ausführlich zu sprechen sein wird, und die Hever
ist kein Flußlauf, der einem Gefälle des Wassers vom Lande her seine Ent¬
stehung verdankt, also nicht etwa als Fortsetzung der husumer An zu betrachten,
sondern ein Waldstrom, abhängig von den durch Ebbe und Fluth veranlaßten
Meeresbewegungen zwischen dem Festland und den Inseln Westschleswigs.
Jede Veränderung in den Verhältnissen zwischen diesen Punkten der Westküste
muß umgestaltend auf die Hever wirken, die z. B. wenn die Insel Nordstrand
landfest würde oder wenn sich nur zwischen dieser und dem Continent höhere
Watten bildeten, Richtung und Tiefe völlig ändern müßte. Gesetzt ferner, es
Wäre wirklich, wie verlautet, jetzt eine Tiefe von 22 Fuß und darüber auf der
Barre der Hever nachgewiesen, so genügt das noch lange nicht, da für den
Kanal 2S Fuß Tiefe verlangt werden und wegen der Bewegung der Schiffe
beim Seegange natürlich um so viele Fuß größere Tiefe auf der Hever nöthig
wäre, als die Schiffe im Wellenthale gesenkt werden. Man müßte also wenig¬
stens 28 bis 30 Fuß nachweisen können.
Sodann wäre man mit dem Nachweis unbehinderter Einfahrt in die Hever
auch noch nicht über den Berg. Von Husum aus müßten seewärts auf weite
Strecken hin gewaltige Hafenbauten ausgeführt werden, die, wenn nach den
bisher gemachten Erfahrungen überhaupt noch ein Verständiger an solche Werke
im Waldgebiete zu gehen Neigung verspürte, kolossale Summen verschlingen
würden. Und bei alledem würde sich das Fahrwasser mit dem der Elbe gar
nicht vergleichen lassen und nicht einmal Sicherheit für feine Dauer gewähren,
auch wenn es künstlich mit großen Kosten für den Anfang hergestellt sein sollte.
Zweitens aber ist der Durchstich, den die „Gehorsamste Vorstellung"
im Auge hat, gewiß etwas außerordentlich Gutes und Schönes, aber leider
nur auf dem Papier. Daß es für die Leichtigkeit des Verkehres zwischen der
Nordsee und dem baltischen Meeresbecken am günstigsten wäre, wenn die
cimbrische Halbinsel irgendwo im Süden einfach durchstochen und somit eine
offne Wasserstraße zwischen beiden Meeren geschaffen werden könnte, liegt auf
der Hand.- Dies ist aber nicht möglich, und zwar nicht etwa, weil sich d^er
Durchbrechung des dazwischen liegenden Landes bis zu der gewünschten Tiefe
des Einschnittes unüberwindliche technische Schwierigkeiten entgegenstellten,
sondern weil unabänderliche Naturgesehe die Wassermassen beider Seebecken in
Verschiedener Weise bewegen, so daß in dem Durchstich unablässig heftige und
wechselnde Strömungen entstehen müßten, welche jede Schifffahrt verhindern
und sehr bald den Durchstich selbst zerstören würden. Für den Seeanwohner
bedarf dies keiner weiteren Erörterung, für Andere einige Worte.
Die Nordsee hat starke Fluth und Ebbe, desgleichen die Unterelbe. In
der Gegend von Husum beträgt die Differenz des Wasserstandes zwischen der
ordinären tiefsten Ebbe und der ordinären höchsten Fluth etwa 10 Fuß rhein.
Die gegen den mittleren Wasserstand (nach dem sich der Wasserstand im Durch,
stich regeln müßte) vorkommenden Differenzen betragen also 5 Fuß, um welche
das Wasser bald sinkt, bald sich erhebt. Außer dieser täglich zweimal wechselnden
Hebung und Senkung des Meeresspiegels tritt zweimal innerhalb vier Wochen
eine höhere Fluth ein, die Springfluth, welche das Wasser bis zu 6 Fuß über
seinen mittleren Stand emportreibt. Endlich kommen dazu noch unregelmäßig
die Wirkungen der Stürme, welche das Aufstauen des Wassers zur Fluthzeit
bis zu außerordentlichen Höhen, den sogenannten Sturmfluthen, veranlassen
können. In manchen, allerdings seltenen Fällen dieser Art ist das Wasser selbst
in der Elbe bis zu 13 Fuß rhein. über die gewöhnliche Fluthhöhe und weiter
nördlich bis 20 Fuß über den mittleren Wasserstand angeschwellt worden.
Sturmfluthen aber von 8 bis 10 Fuß über ordinärer Fluth kommen sehr oft
vor, weil die sie bewirkenden Wirbelstürme, bei denen der Wind von Südwest
nach Nordwest umspringt, regelmäßig jedes Jahr längere Zeit hindurch eintreten.
Auf der Ostseite sind die Schwankungen des Wassers nicht so bedeutend,
weil die Ostsee keine Fluth und Ebbe hat. Dafür kommen aber hier zu un¬
bestimmten Zeiten Hebungen und Senkungen des Wasserspiegels vor. indem
bald westliche Winde das Wasser nach Osten zurückdrängen , bald östliche Winde
Anschwellungen des Meeres an den dortigen Küsten veranlassen. Diese Wechsel
fallen oft sehr plötzlich und schnell aus einander folgend ein, wenn der Wind
um Norden schwankt. Die Differenzen des Wasserstandes, welche hierbei be¬
obachtet wurden, sind verschieden: 3 Fuß Steigen oder Sinken ist sehr gewöhn¬
lich, nicht selten aber treten 4 bis 5 Fuß betragende Differenzen, bisweilen
sogar solche von 7 bis 8 Fuß ein. In der zweiten Hälfte des Jahres 1864
z. B. erlebte man wiederholt ein derartiges ungewöhnlich starkes und plötzliches
Anschwellen des Wassers. Am 24. August lief in der kieler Bucht das Wasser
in vierundzwanzig Stunden bis zu 70 Zoll über Mittel aus, hielt sich dann
nahezu vierundzwanzig Stunden auf dieser Höhe und sank darauf in etwa
ebensoviel Zeit bis zum Mittel. Am 6. November wiederholte sich diese Er¬
scheinung, nur erfolgte das Ablaufen weit rascher. Welche Strömungen in
diesen beiden Fällen in einem nach der Ostseite offenen Kanal entstanden sein
würden, läßt sich völlig genau nicht angeben, da die von den Richtungen und
Profilen desselben abhängigen Bewegungshindernisse unbekannt sind. Die vier¬
undzwanzig Stunden lang in derselben Weise wirkende Anschwellung des Wassers
am 24. August konnte unter günstigen Verhältnissen eine sich bis 18 Fuß
steigernde Stromschnelle in dem Kanäle des Herrn v. Puttkammer hervorrufen
oder würde bei Hemmung der Geschwindigkeit durch Bewegungshindernisse in¬
folge der Stauung um so furchtbarer geworden sein. Noch gewaltsamer wären
die Wirkungen am 6. November gewesen.
Vergegenwärtigt man 'sich den Einfluß dieser Verhältnisse auf einen an
beiden Enden offenen Verbindungskanal oder Durchstich und bedenkt man ferner,
daß ein Stromgefälle von 2'/s Fuß pro Meile, wie es die Elbe bei Boitzen-
burg hat, die Böschungen der concaven Uferstrecken nicht mehr zu halten ge¬
stattet, so möchte einleuchten, daß an die Erhaltung eines derartigen Kanals,
auch wenn ihn, was nebenbei zu bedenken, die Fluth des Wattgebietes im
Westen nicht verschlickcn müßte, nicht zu glauben ist. Schon die gewöhnlichen
Fluthen würden alle sechs Stunden umsetzende, bald ein- bald auslaufende
Strömungen von ziemlicher Geschwindigkeit hervorrufen, welche die Kanal¬
schifffahrt besonders an den Mündungen des Durchstichs schwer belästigen müßten.
Spnngfluthen würden in denselben mit noch größerer Gewalt eindringen, und
Sturmfluthen würden ihn völlig zerstören. Auf der Ostseite würde man alter-
nirende starke Strömungen zu ganz unbestimmten Zeiten haben , und auch diese
würden sich bei bedeutenden Schwankungen des Wasserspiegels in der Ostsee
bis zu zerstörenden Wirkungen steigern.
Der offne Durchstich ohne alle Schleichen ist folglich unmöglich, das putt-
kammersche Project eine Chimäre.
Hiernach bleiben nur noch die beiden Linien Elbe-Eckernförde, oder
das lentzesche, und Elbe-Kiel, oder das Project unsrer Denkschrift, für ein¬
gehende Prüfung übrig.
Betrachten wir zuerst die Linie Lentzes. die im Osten bei Eckernförde
beginnen, sich dann der Obereider bei Rendsburg zuwenden und in der Nähe
von Se. Margarethen in die Elbe münden soll, so hat dieselbe folgende Vor¬
züge: 1) nach den Terrainverhältnissen ist es wahrscheinlich, daß ein auf ihr
auszuführender Kanal bei gleicher Art der Ausführung für etwa 12 Millionen
Thaler, also um ungefähr ein Viertel billiger hergestellt werden kann, als ein Kanal
von der Elbe nach Kiel; 2) das mit dem eckernförder Meerbusen leicht in Ver¬
bindung zu bringende windebyer Noer ist ein Wasserbecken, welches sich vortreff¬
lich zur Herstellung eines Binnenhafens für die Marine eignet. Nachtheile
dagegen sind: 1) daß die eckernförder Bucht sich in nautischer Beziehung nicht
empfiehlt, 2) daß die Anlegung eines Kriegs- und Handelshafens an ihr oder
im Noer kostspielige Bauten erfordert, 3) daß ein solches Etablissement sich
nicht genügend befestigen läßt. 4) daß die Linie im Osten nicht strategisch
günstig ist, endlich 5) daß ein Durchstich mit nur zwei Endschleußen. wie ihn
Herr Lentze dem Vernehmen nach beabsichtigt, sehr bedeutende Summen in
Anspruch nehmen und trotzdem mangelhaft sein wird.
Die nautischen Mängel des eckernförder Busens bestehen in Folgendem:
die Weite und die Oeffnung desselben nach Osten macht, daß er bei heftigen
Ostwinden, wie sie hier im Frühling und Herbst oft Wochen hindurch wehen,
keine sichere Rhede ist. Große Fahrzeuge finden zwar in der Mitte der Bucht
guten Ankergrund, für kleinere ist aber nur an wenigen Stellen volle Sicher¬
heit zu haben, was, wenn sich bei conträren Winde viele solcher Schiffe dort
angesammelt haben, ein sehr bedenklicher Uebelstand ist. Hafenbauten in der
Bucht selbst vorzunehmen — etwa durch Herstellung langer Molen am innern
Ende — würde bei der Breite und Tiefe des Meerbusens äußerst kostspielig
sein, und wäre es vollendet, so bleibe das Ein- und Auslaufen in die Bucht
immer noch unter gewissen Umständen gefährlich, theils wegen der vor derselben
liegenden landlosen Gründe Stollergrund und Mittelgrund, theils wegen des
am nördlichen Uferrande befindlichen Bockenis Riffs, welches die Einfahrt be¬
engt. Bei trüber Witterung ferner, wo Landmarken und Feuerzeichen versagen,
ist der Meeresgrund der Bucht von Eckernförde nicht geeignet, die Schiffe mit
Sicherheit einzulothen. Dann fehlt hier die Möglichkeit, viele Schiffe mit
Süßwasser zu versorgen. Endlich gefriert zwar der eckernförder Meerbusen fast
niemals, wohl aber füllt er sich um so regelmäßiger im Winter mit Eisschollen
aus der Ostsee.
Das windebyer Noer, jetzt nur durch einen schmalen Damm vom eckern¬
förder Busen getrennt, ließe sich leicht mit letzterem verbinden und zu einem
brauchbaren Bassin für die deutsche, d. h. bis auf Weiteres die preußische
Flotte machen. Schon die früheren Peilungen und zweifelsohne die neuerdings
im Nver vorgenommenen lassen es als gewiß erscheinen, daß durch Baggerungen
und Ausgrabungen hier ein durchaus befriedigender Hafen herzustellen ist.
Indeß leidet es ebenso wenig einen Zweifel, daß diese nothwendigen Wasser¬
bauten sehr theuer und, um das gleich hier zu sagen, auf alle Fälle bedeutend
theurer sein werden, als im kieler Hafen, wo die Natur fast alles Erforderliche
darbietet, daß ferner die Einfahrt von der Bucht in das zum Hafen umgeschaffne
Noer nicht völlig zu beseitigende Mängel zeigen wird, und daß endlich, wenn
die Handelsmarine das Noer mitbenutzen soll, was nach dem Obigen nur mit
sehr beträchtlichen Kosten zu umgehen wäre, die 200.000 Quadratruthen große
Fläche desselben kaum ausreichen würde.
Ferner ist die strategische Lage des wiedebyer Noer nicht günstig, und
dasselbe gilt von der ganzen lcntzeschen Linie von Eckernförde bis zur Eider.
Die Flotte würde im Hafen hier gegen einen Angriff zur See geschützt sein,
dagegen wären alle Anstalten zu Lande und mit diesen auch die Schiffe im
Fall, daß eine feindliche Armee im Norden Schleswigs siegte, höchst gefährdet,
und wie bedenklich auch die an sich unbedeutendste Belagerung für einen Platz
ist, wo sich so große Schätze an brennbarem Material befinden, wie hier, wissen
wir von Scbastopol her. Aber nicht blos der Kriegshafen würde in solchem
Fall schwerer Gefahr ausgesetzt sein, sondern ein großer Theil des Kanals nach
Lentzes Project.
Der Kanal muß, wo er von der Landseite gefährdet erscheint, möglichst
vor jedem Angriff gedeckt liegen. Da die Seestärke Deutschlands auf der durch
ihn vermittelten Verbindung der beiden Geschwader in Nord- und Ostsee beruht,
so wird es dem Feinde, wenn er den Kanal erreicht, als das Erste und Wich¬
tigste erscheinen, die Benutzung desselben für längere Zeit unmöglich zu machen,
und so muß man der ganzen Linie eine solche Richtung geben, durch welche sie
nicht blos vor längerer Besetzung, sondern auch vor einem plötzlichen localen
Angriffe gesichert ist. Dies ist offenbar von so großer Bedeutung, daß daneben
der Gesichtspunkt der Kosten für die Kanallinie nur wenig in Betracht kommt.
So aber wäre die Richtung des norddeutschen Kanals auf Eckernförde zu
verwerfen. Jeder Angriff auf den Nordwesten Deutschlands muß vom Norden
ausgehen. In dem ganzen Gebiete vom Limfjord bis zur Elbe aber giebt es,
abgesehen von einzelnen festen Positionen, die indeß die Mitte und den Westen
der Halbinsel ungeschützt lassen, nur eine einzige, freilich aber auch sehr starke
Desensionslinie, die, quer über die ganze Breite des Landes gehend, das
Herzogthum Holstein und damit den deutschen Nordwesten gegen jeden Angriff
von Norden her deckt: die Linie des (jetzigen kleinen) Schleswig-holsteinischen
Kanals und der Eider, deren Mittelpunkt die Festung Rendsburg ist. Die
tiefen Desileen dieser Linie, der Kanal und der Fluß, sowie die Lage der
Festung nöthigen jedes von Norden anrückende Heer, diese ganze Vertheidigungs¬
stellung förmlich zu erobern, ehe es weiter vorrücken kann; ja man darf wohl
behaupten, daß ohne die Einnahme Rendsburgs der Einmarsch selbst einer
siegreichen Armee in Holstein ein sehr gewagtes Unternehmen sein würde, während
alles, was im Norden Rendsburgs liegt, von dem geschlagenen Heere voll¬
kommen aufgegeben werden müßte. Vergleicht man mit diesen Sätzen die Land¬
karte, so ergiebt sich sogleich, daß die lentzesche Linie, nördlich von Rendsburg
und dem Schleswig-holsteinischen Kanäle gezogen, sich außerhalb der soeben be¬
zeichneten natürlichen Defensionslinie befindet. Dieselbe würde bei jedem glück¬
lichen Angriffe vom Norden her entweder preisgegeben oder selber zur Operations¬
basis für die weitere Vertheidigung gemacht werden müssen. Auch im letzteren
Fall, wäre die Benutzung des Kanals unmöglich und mithin die Seemacht
Deutschlands getrennt und gelähmt, und es ist natürlich, daß die Möglichkeit
eines so wichtigen Erfolges stets einen um so kräftigeren Angriff provo¬
ciren wird.
Daß die eckernförder Linie den Besitz des Kanals und mit ihm die Ein¬
heit der maritimen Streitkräfte Deutschlands von dem Ausgang des ersten
Gefechts im Norden abhängig macht, scheint uns allein schon fast genügend,
von derselben abzusehen. Man kann allerdings eine Abhilfe darin suchen, daß
man nördlich von ihr, etwa von der Schlei nach der Treene zu, eine neue
Vertheidigungslinie errichtet. Allein diese würde bei weitem mehr kosten als
die verhältnißmäßig nicht sehr große Differenz der Kosten zwischen der kieler und
der eckernförder Kanallinie.
Nun könnte man versuchen, wenigstens einen Theil dieses Räsonnements
zu entkräften, indem man sagte: Wohlan, sühren wir den Kanal auf den eckern¬
förder Meerbusen zu, verlegen wir dagegen den Kriegshafen hinter jene Desen¬
sionslinie, in die kieler Bucht. Darauf antworten wir aus der Denkschrift:
„Wenn der Kanal den Zwecken der Marine, also namentlich dazu dienen soll,
die Flottenabtheilungcn der Ostsee und Westsee jederzeit schnell vereinigen,
Schiffe aus der Westsee ungefährdet zur Vornahme von Reparaturen oder zur
Aufnahme von Ausrüstungen u. s. w. nach dem Kriegshafen der Ostsee senden
zu können, so ist die erste Bedingung, daß die östliche Mündung des Kanals
vom Kriegshafen aus stets zugänglich sein muß, also nicht durch eine feindliche
Flotte, welche die Vereinigung der deutschen Flottenabtheilungen in Westsee
und Ostsee verhindern würde, versperrt werden kann. Dies wird am einfachsten
dann der Fall sein, wenn die Kanalmündung innerhalb des Kriegshafens liegt.
Nur wenn dies nicht ausführbar wäre, könnte man darauf ausgehen, den
Kriegshafen durch einen Seitenkanal (den bei Kiel durch einen solchen Kanal
von der eckernförder Bucht oder deren Nachbarschaft quer durch den dänischen
Wold) mit dem Hauptkanal in Verbindung zu setzen. Eine solche Trennung
des Kriegshafens von der Kanalmündung würde aber eine starke Befestigung
für jeden dieser beiden Punkte fordern, was eine ebenso große als (im oben-
gesctzten Fall) ungerechtfertigte Vermehrung von Kosten und Streitkräften
abgäbe und dennoch die Sicherheit eher verminderte als vergrößerte."
Wir kommen zum letzten Einwurf gegen das lentzesche Project. Herr Lentze
will, wie mit Bestimmtheit behauptet wird, einen Durchstich herstellen, der nur
an seinen beiden Endpunkten Schleußen hat, im Uebrigen aber so tief in das
Land einschneidet, daß er im Niveau des mittleren Ostsee- und des mittleren
Elbspiegels liegt. Die Vortheile einer solchen Anlage bestehen darin, daß bei
derselben für die Speisung des Kanals nicht zu sorgen ist, weil das Wasser
im Osten von der See, im Westen von der Elbe geliefert wird. Es fallen
also die Kosten weg, die ein Kanal mit mehr als jenen beiden Mündungs-
schleußen für die Speisung consumirt. Sodann aber wird die Zahl der Durch¬
gangshindernisse, der Schleußen, so sehr als möglich verringert und dadurch
für die Passage jedes Schiffes durch die Wasserstraße etwas an Zeit erspart.
Nachtheile des Durchstiches sind seine unverhältnißmäßigen, jede Rentabilität
ausschließenden Kosten und die Schwierigkeit, ihn gegen Verschlammung an,
der Westseite zu schützen.
Die hin und wieder lautgewordene Meinung, daß jede Schleuße mehr
immer weniger Schiffe durch den Kanal zu senden erlaube, ist eine unüberlegte
und leicht widerlegbare. „Es ist klar," sagt die Denkschrift, „daß so viele
Schiffe, als in einer gewissen Zeit durch die nicht zu vermeidende Endschleuße
ein- oder austreten können, auch durch die folgende Schleuße gehen werden
bis wieder von der ersteren neue Schiffe angelangt sind. Wenn fünf Säle hinter-
einanderliegen und sich eine Menschenzahl durch sechs Thüren vom Eintritt in
den ersten bis zum Austritt aus dem letzten hindurchbewegen soll, so können
nicht mehr Passiren, als die End- und Anfangsthüren durchlassen, mögen die
Säle unter einander frei geöffnet sein oder durch gleiche Thüren wie die am
Ende und am Anfang in Verbindung stehen, vorausgesetzt natürlich, daß sich
nicht die sämmtlichen Säle mit Menschen füllen. Stopft sich also nicht der
ganze Schleußenkanal mit Schiffen, was doch eine unmögliche Annahme ist. so
kann derselbe gerade so viele Schiffe befördern als durch die Endschleußen gehen,
d. h. gerade so viele, als der sogenannte Durchstich mit Endschleußen. Selbst-
verständlich wird daher, wenn die Frequenz berechnet werden soll, die ein Kanal
mit mehr als zwei Schleußen befriedigen kann, darnach gefragt, wie viel Zeit
das Durchschleußen bei einer Schleuße kostet, aber nicht, wie viele Male am
Tage das Schiff dieselbe Operation wiederholen muß.«
Der Nachtheil der größeren Schleußenzahl besteht folglich allein darin, daß
die Operation des Durchschleußens so viele Male mehr zu vollziehen ist, als der
betreffende Kanal mehr Schleußen hat als der Durchstich mit blos zwei Schleußen.
Das kieler Project hat. um das gleich vorwegzunehmen. 2 End- und 4 Zwischen-
schleußen, und dies giebt gegen das lentzesche. da zum Passiren einer Schleuße
nicht, wie Lentze behaupten soll, 90, sondern nur circa 20—23 Minuten er¬
forderlich sind, einen Zeitverlust höchstens von 100 Minuten — ein Nachtheil,
der augenscheinlich ein so geringfügiger ist, daß der ihm entsprechende Vortheil
nur der Vollständigkeit halber vorher unter den Vorzügen des sogenannten
Durchstichs mit aufgeführt wurde.
Der einzige wirkliche Vorzug des lentzeschen Durchstichs ist. daß er die
Anstalten zur Speisung des Kanals mit Wasser überflüssig macht. Dazu aber
bedarf es enormer Summen, die weit größer sind als das auf den Betrieb eines
Schleußenkanals zu verwendende Kapital. Wie oben angedeutet, wurde der
eigentliche Kanalbau auf der eckernförder Linie, für den Fall, daß derselbe als
Schleußenkanal ausgeführt würde, auf circa 12 Millionen Thaler veranschlagt.
Jetzt, wo man an einen Durchstich denkt, heißt es, die muthmaßlichen Aus¬
gaben würden sich auf ungefähr 34 Millionen Thaler belaufen. Also 22 Mil¬
lionen Thaler mehr zu dem einzig reellen Zweck, die Wasserversorgung des
Kanals zu sparen.*)
Zu diesem alles Maß übersteigenden Kapitalaufwande kommt aber noch
hinzu, daß der Durchstich eine Anzahl Uebelstände mit sich bringen würde,
welche die Unterhaltungskosten des Werkes vermehren und die Schifffahrt hindern
müssen, und von denen wir nur auf folgenden aufmerksam machen wollen.
Das Elbwasser enthält bekanntlich eine Masse erdiger Theile suspendirt,
von deren Ablagerung die Marschbildungen an der Westküste Holsteins abhängen,
und die sich zu den flüssigen wie 1 zu 4000 verhalten. Befindet sich die Elbe
über ihrem mittleren Stande, was 12 von den 24 Stunden jedes Tages der
Fall ist. so muß das Elbwasser beim Durchschleußen in die dortige Endschleuße
gelassen werden. Passiren also 20.000 Schiffe jährlich den Durchstich und
kommen davon die Hälfte bei Hochwasser in die Elbe oder aus derselben, so
tritt das zum Füllen der Schleußenkammer für 10,000 Schiffe erforderliche
Elbwasser erst in die Schleußenkammer und darauf in den Kanal. Nimmt man
an. daß bei Hochwasser die Elbe durchschnittlich nur dritthalb Fuß über dem
Niveau des Durchstichs steht, daß eine große Schleuße 380 Fuß lang und
64 Fuß breit, eine kleine halb so lang und dre.it ist, und daß unter jenen
10,000 Schiffen 1000 durch die große und 9000 durch die kleine gehen, so
gelangen fast 200 Millionen Kubikfuß Wasser aus der Elbe und mit diesen
60.000 Kubikfuß Schlamm in die Schleuße und die erste Strecke des Durch¬
stichs, eine Verschickung, welche die Schifffahrt stören und durch Baggerarbeiten
weggeschafft werden muß, welche letzteren nicht unerhebliche Steigerung der
Unterhaltungskosten verursachen werden.
Wir kommen zu demProject derKieler, welches wir in einem zweiten
Abschnitt ausführlich schildern wollen, und von dem wir hier nur voraussenden,
daß die Linie desselben in ziemlich gerader Richtung vom linker Hafen über den
Wcstensee und Bockelholm nach dem brunsbüttlcr Koog läuft, und daß der
Kanal kein Durchstich sein, sondern über dem Niveau der Ostsee und der Elbe
liegen soll.
Die Vorzüge dieser Linie vor der vorigen sind unerkennbar. Zunächst ist
die kieler Bucht der eckernförder in nautischer Hinsicht durchweg vorzuziehen.
Ferner ist der kieler Hafen durch Fortificationen vollkommen zu schließen und
von so günstiger Beschaffenheit, daß er die Anlage eines Marine- und Handels¬
hafens überflüssig macht. Endlich ist die Lage der ganzen Kanallinie strategisch
richtiger als die der soeben beurtheilten.
Der kieler Busen ist in nautischer Beziehung unzweifelhaft weit besser als
der eckernförder. Schon der Außenhafen zwischen Bülkhuk. Bvttsand und
Friedrichsort bietet eine gute Rhede dar, welche bei den stärksten Winden, den
östlichen und westlichen, Schutz gewährt. Der eigentliche Hafen, fünfmal so
geräumig wie das windebyer Noer,*) und deshalb bequem sowohl als Rhede
wie als Hafen zu benutzen, hat einen Ankergrund, der, aus Lehmschlick bestehend,
auch bei den heftigsten Stürmen vollkommen sicher ist, wie man erst noch am
24. August vorigen Jahres sah, wo ein Nordoststurm von einer bis dahin kaum
beobachteten Stärke in den Hafen eindrang, aber nicht einmal ein Lichterfahr¬
zeug ins Treiben gerieth. Die ausgezeichnete Reinheit und Tiefe des Hafens
von Kiel erlaubt sodann das Aus- und Einkreuzen der Schiffe ganz ohne Ge¬
fahr; auch können dieselben unmittelbar an den Bollwerken löschen und laden,
ohne daß es dazu künstlicher Bauten bedürfte. Die Landmarken und Feuer¬
zeichen für Ein- und Aussegeln sind so gut, als man sie nur irgend wünschen
kann, und die Natur des Meeresgrundes gestattet bei Nebel stets das Einkochen.
Sehr wichtig für die zu erwartende große Frequenz der Schifffahrt auf dem
Kanal ist der Umstand, daß Süßwasser zur Versorgung der Schiffe durch die
bei Neumühlen in die Bucht mündende Schwentine dargeboten wird.
Die kieler Bucht hat einen Fehler, der aber nur ein scheinbarer ist: sie
friert im Winter häufig zu. In Bezug hierauf versteht sich zunächst von selbst
und laßt sich für Ungläubige durch eine Begleichung der Tage, an denen der
jetzige Schleswig-holsteinische Kanal und der kieler Hafen mit Eis belegt war,
nachweisen, daß die Hafenmündungen mit ihrem Salzwasser stets eisfrei sein
werden, wenn es der Kanal selbst mit seinem Süßwasser ist. Das leichtere oder
schwerere Zufrieren der Mündung hat folglich aus die Benutzung des Kanales
selbst keinen Einfluß, und die Eisfreiheit jener könnte also nur insofern Werth
haben, als Schiffe später im Jahre in den Hafen ein- und früher im Jahre
aus demselben auslaufen könnten. Aber auch dieser Vortheil ist fast völlig
illusorisch. Die Schifffahrt von und nach andern Ostseehäfen ist nicht möglich,
da diese (mit Einschluß des Brackwasser-Bassins des windebyer Noers) sicher
zugefroren sind, wenn es der kieler Hafen ist. Die Schifffahrt aber von und
nach den Nordseehäfen und den ferner im Westen und Süden gelegenen war,
wie die Denkschrift nachweist, in den letzten Is Jahren siebenmal gar nicht
gehindert, in den übrigen 8 Jahren nur an 281 Tagen und zwar niemals in
den letzten, stets nur in den ersten Monaten, wo die Schifffahrt ganz unbedeutend
ist, wo also, selbst wenn das Ein- und Auslaufen völlig unmöglich wäre, dieses
Hinderniß wenig besagen würde. Eine solche Unmöglichkeit ezistirt aber nicht
einmal; denn es ist Thatsache, daß die Schiffe, welche zufällig einmal in solchen
Zeiten aus- oder einfahren wollten, sich stets mit geringen Kosten durcheisen
lassen konnten, wozu noch die fernere wohlbekannte und alljährlich zu be¬
obachtende Thatsache kommt, daß Schiffe, die vom Winter in ihrer Fahrt
überrascht wurden, es vorziehen, sich in den kieler Hafen eineisen zu lassen statt
in die eisfreie eckernförder Bucht zu gehen.
Ferner sind die Verhältnisse des kieler Busens derart, daß er die getrennte
Etavlirung der Kriegs- und Handelsmarine gestattet, und daß sich bei dem
Dorfe Wieck sehr bequem und mit verhältnißmäßig sehr geringem Kostenaufwand
ein vollständiges Etablissement für eine Kriegsmarine mit nassem Dock, Trocken¬
docks, Heiligen und Arsenälen einrichten ließe. Dann muß noch bemerkt werden,
daß das Dorf Wieck zwar an und für sich niedrig gelegen, aber in nächster
Nähe von dominirenden. wohlzubefestigenden Höhen umgeben ist. und daß auch
gegenüber die Hügel von Kitzenberg die Anlage fortificatorischer Werke gestatten,
so daß die Befestigung der östlichen Kanalmündung gegen einen Angriff von
der Landseite keine Schwierigkeiten hat. während die Batterien von Friedrichsort.
Laboe und Möltenort gegen einen Angriff zur See vollständige Sicherheit ge¬
währen. Endlich ist hervorzuheben, daß der eckernförder Meerbusen an mehren
Stellen treffliche und nur mit großem Aufwand an Geld und Truppen zu
beschützende Landungsplätze für eine feindliche Flotte mit Landtruppen an Bord
darbietet, wogegen die ganze fchleswigfche und holsteinische Küste vom Gute
Noer bis zum Gute Hohewacht eine Landung nicht gestattet.
Daß der Kanal, nach dem fieler Project ausgeführt, strategisch sehr günstig
situirt sein würde / ergiebt sich zum Theil schon aus dem Vorhergehenden und
bedarf, um begriffen zu werden, nur noch eines kurzen Nachweises. Der
kieler Hafen, von Engländern. Russen und Franzosen als ein Kleinod anerkannt,
von der Natur mit allem ausgestattet, was anderwärts durch Kunst mit großen
Kosten erst geschaffen weiden müßte, .muß nicht blos weil die Interessen der
Handelsschifffahrt dies verlangen und ein besserer und wohlfeilerer Kriegshafen
sich in Schleswig-Holstein nicht finden läßt, als östliche Mündung des Kanals
gewählt werden, sondern auch deshalb, weil er im Süden, also innerhalb der
großen im Obigen geschilderten cimbrischen Defensionslinie Deutschlands liegt.
Denke man sich die kieler Linie des Kanals über eine deutsche Meile südlich
von Rendsburg und dem jetzigen Schleswig-holsteinischen Kanäle quer durch
Holstein gezogen, so wird die Festung Rendsburg, besonders nachdem sie zu
der Stärke erhoben ist, welche sie erhalten muß, unsern großen norddeutschen
Kanal selbst im unglücklichsten Fall gegen jeden Angriff von Norden so lange
schützen, als sie selber nicht genommen ist. Selbst wenn sie belagert wäre,
würden die südlichen Eisenbahnen von Hamburg und Lübeck her schnell so viele
Truppen heranschaffen können, als für die Sicherung des Kanals erforderlich
wären, und die Belagerung Rendsburgs würde fast unmöglich werden, wenn
der Kanal die Sammlung und Aufstellung einer deutschen Armee so nahe bei
dieser Festung möglich machte. Die kieler Linie würde daher durch diese un¬
abänderliche Beschaffenheit der Tcrrainverhältnisse nicht blos erstlich selber gut
gedeckt sein und eine dauernde Communication der deutschen Ost- und Nordsee¬
flotte darbieten, sondern sie würde ihrerseits wieder eine sehr starke Deckung
Rendsburgs, des Schlüssels für den ganzen Nordwesten Deutschlands, unsrer
einzigen Festung im hohen Norden bilden.
Wir fassen die Ergebnisse, zu denen wir gelangt sind, zum Schluß dieses
Abschnittes noch einmal kurz zusammen.
Das v. puttk ammersche Project Eckernförde-Husum ist ohne Weiteres
abzuweisen, weil die Hever nicht tief genug und ein veränderlicher Waldstrom
ist, weil ferner bei Husum ungeheuer kostspielige und überdies unmöglich zweck¬
entsprechend zu erhaltende Hafenbauten nöthig wären, weil endlich ein bloßer
Durchstich ohne Schleußen nur von Leuten, die nicht Sachverständige in tech¬
nischen Fragen sind, für brauchbar und haltbar angesehen werden kann.
Das lentzesche Project ist bis auf weiteres, d. h. bis auf so lange
abzulehnen, als nicht widerlegt ist, daß der eckernförder Busen bedenkliche
nautische Mängel hat, das windebyer Noer sich nur mit größeren Kosten und
auch mit diesen nicht so gut wie die kieler Bucht in einen befestigten und sonst
zweckmäßigen Kriegs- und Handelshafen verwandeln läßt, die strategische Lage
Eckernsördes ferner und der ganzen Osthälfte des Kanals nicht so gedeckt ist,
als es die Verhältnisse fordern und gestatten, und daß endlich ein Durchstich
mit Endschleußen die Kosten nicht rechtfertigt, welche seine Herstellung und Er¬
haltung erfordert.
Das Project der kieler Denkschrift empfiehlt sich dadurch, daß es
den Kanal im Osten da enden läßt, wohin der Kriegshafen gehört, in die kieler
Bucht, die in jeder Beziehung den nautischen Bedürfnissen entspricht, reichlich
Raum auch für die Handelsmarine darbietet, nur mäßigen Aufwand für ihre
Instandsetzung zu dem angeführten Zweck erfordert, sich gut befestigen läßt und,
als» mit dem ganzen Kanal innerhalb der großen cimbrischen Defensionsstellung
Eider-Rendsburg-Schleswig-holsteinischer Kanal gelegen, strategisch sicherer vor
einem Landangriff von- Norden her ist als jede nördlichere Bucht. Wie sich zu
diesen Vorzügen der Linie Kiel-brunsbüttler Koog auch noch der sehr wesentliche
gesellt, daß die Kieler verhältnißmäßig viel wohlfeiler bauen würden, als die
Fürsprecher der eckernförder Linie, wird im Verlauf eines zweiten Artikels mit
ferneren Auszügen aus der Denkschrift zu zeigen versucht werden.
Immer größer wird der Spalt, der Preußen und das übrige Deutschland
wie zwei zusammenhangslose und verbindungsunfähige Bestandtheile geistig
auseinanderfallen zu lassen droht. Es ist als ob man hüben und drüben nicht
mehr dieselbe Sprache redete. Was in Betreff der Herzogthümer den Preußen
als einfach und selbstverständlich gilt, dafür hat man in den meisten übrigen
Theilen Deutschlands so wenig ein Verständniß, wie das, was diesen wieder
unwiderleglich scheint, in Preußen auf Anerkennung zu rechnen hat. Und es
ist nicht einmal mehr Nord und Süd, wonach sich in althergebrachter Weise
die Scheidung vollzieht. Denn auch in der norddeutschen Ebene findet der
preußischerscits erhobene Anspruch nur vereinzelte Anerkennung, und mit nicht
sehr zahlreichen Ausnahmen steht bis jetzt die Sache so, daß der alte Partei-
ruf: Hie Wels, hie Waldungen neu gestaltet auftritt als: hie Preußen, hie
Nicht-Preußen — oder, wie man im Süden lieber hören wird: hie Deutschland.
Gestatten Sie in dieser Zeit allgemeiner Verwirrung, wo ein Parteigenosse
oft den anderen nicht mehr zu finden weiß und der Vorwurf des Particularis-
mus unterschiedslos von allen Seiten erhoben wird, einem Annexionisten die
Entwickelung seiner Ansichten in Ihrem geschätzten Blatte. Wenn, wie mich
dünkt, der eben erwähnte Vorwurf zu leichtfertig oft nach links und rechts
geschleudert wird, dann scheint es mir für diejenigen, die sich bewußt sind,
nur die gemeinsame Sache des großen Vaterlandes im Auge zu haben, Pflicht,
die Begründung ihrer Anschauungen in präcisester Form zu versuchen, um
wenigstens an ihrem Theil der gegenseitigen Verbitterung nach Kräften entgegen¬
zuwirken.
Was ist es denn, das uns in Preußen, die wir mit dem System.der
gegenwärtigen Regierung nicht übereinstimmen, die wir Mittel und Wege der¬
selben vielfach mißbilligen, trotzdem unmöglich macht, den Zielen, die sie sich
in der Schleswig-holsteinischen Frage aufgestellt hat, entgegenzuwirken? Was ist
es, das uns, die wir in der bloßen Vergrößerung Preußens an sich keineswegs
unser Programm umschrieben finden, vor unserem nationalen Gewissen frei¬
spricht, wenn wir die durch den Anschluß der Herzogthümer zu bewirkende
Vergrößerung selbst gegen den Wunsch und Willen der größeren Hälfte der
Betheiligten anstreben?
Zunächst ist es die Ueberzeugung, daß nur ein Großstaat — vermöge der
ihm naturgemäß innewohnenden Bedingungen — diejenige Lösung des ver¬
wickelten Knotens deutscher Vielstaaterei anzubahnen vermag, die jeder zukünf¬
tigen Gestaltung von Gesammtdeutschland zu einem einheitlichen Ausdruck vor¬
ausgehen muß. Dies unsere erste Erwägung. Nur ein Großstaat — so lehrt
unwidersprechlich die Erfahrung — erzeugt Gegensätze. Parteiungen, Leiden¬
schaften, Conflicte, aber auch Lösungen von geschichtlicher Bedeutung.
Nur ein Großstaat häuft, ohne sich dem entziehen zu können, materielle In¬
teressen von solcher Schwergewait an, daß sie auf die Länge ein zermalmendes
Uebergewicht über künstlich geschaffene Interessen aller Art erhalten, seien dies
nun Hof-, Adel-, Cliqueninteressen oder was sonst, und sei es, daß dies Ueber¬
gewicht auf dem Wege der Reform oder des gewaltsamen Umsturzes sich Bahn
bricht. Nur ein Großstaat bewegt sich durch die gewaltigen Kräfte seiner compli-
cirten Triebwerke, denen keine Regierungskunst ganz den Weg zu verlegen ver¬
mag, mit Nothwendigkeit auf der Bahn der Entwickelung. Ein Kleinstaat
kann fortschreiten wie Baden, er kann auch endlos unberechenbar stille stehen
wie Kurhessen. Die Gesetzmäßigkeit der natürlich wirkenden Bedingungen er¬
scheint hier gelähmt, weil sie in zu geringen Quantitäten auftreten. Die Natur
wirkt in und durch die Materie. Wo die materiellen Bedingungen nur im
beschränktesten Umfang vorhanden sind, vermögen sie nichts gegen die Willkür
des Zufalls.
Wer vermöchte zu verkennen, daß in vielen Mittel- und Kleinstaaten, ja
in den meisten eine behaglichere Existenz ermöglicht, ein größeres Maß von
Freiheit gewährt ist, als Preußen augenblicklich zu bieten vermag. Allein dies
erledigt die Frage nach der Leistungsfähigkeit eines Gemeinwesens an sich nicht,
die ich dahin zusammenfassen möchte: bietet mir ein Gemeinwesen in seiner
totalen Structur diejenigen Bedingungen oder wenigstens die Möglichkeit der¬
selben, welche eine fruchtbare Unterlage für die schaffende Thätigkeit des Menschen-
geistes nach allen Richtungen hin zu gewähren vermögen?
Raum und Zeit — diese Grundbedingungen alles Daseins — sie sind es
grade, die den Kleinstaaten fehlen, denen die Zeit stille steht, weil sie überhaupt
keine Entwicklung zeitigen und denen der Schnürleib der Raumbeengung jede
Entfaltung eines reicher gestalteten Daseins unmöglich macht; sie sind anderer¬
seits aber auch gerade dasjenige, was jeder Großstaat besitzt, was mit seiner
Existenzform identisch ist, was ihn wider seinen Willen zwingt voranzuschreiten
nach den vernünftigen Gesetzen der Bewegung.
Preußens und damit Deutschlands Unglück ist, daß ersteres kein voller
Großstaat ist, daß jeder Schritt, den es vom staatlichen Egoismus getrieben
auf dieser Bahn thun will, durch die Stammeseifersucht der Uebrigen gehemmt
und behindert wird.
Viele Wege führen allerdings nach Rom, viele mögen auch zur deutschen
Einheit führen. Für den praktischen Politiker kommt es indessen doch immer
darauf an, unter den gegebenen Verhältnissen einen gangbarsten zu erkennen
und sich für diesen zu erklären. Und in dieser Beziehung, scheint mir. hat
doch gerade die neueste Entwicklungsgeschichte Deutschlands den an sich klaren
Satz besonders schlagend beglaubigt, daß jede Ausdehnung der Machtsphäre
eines Großstaates die Mumificirung und Lahmlegung der kleinstaatlichen Gebilde
bis zu deren vollständiger Abstoßung im Gefolge hat.
Hier stoßen wir nun freilich auf die größte Schwierigkeit. Ihr — sagt
man uns im übrigen Deutschland — ihr in Preußen habt gut reden. Wir
sollen also mumificirt, lahmgelegt, abgestoßen werden und diesen Proceß wo
möglich noch beschleunigen helfen. Wir sollen verspeist werden und dazu
noch „gesegnete Mahlzeit" wünschen. So lange diese Anschauung gilt —
und sie ist der ewige Grundton in den tausendfachen Klageliedern, die uns
nicht minder aus den Herzogthümern wie aus Süd- und Mitteldeutschland ent¬
gegenschallen — ist allerdings auf eine Verständigung nicht zu hoffen. So
lange diese Anschauung gilt, bleibt, falls von ihr die Gestaltung der Verhältnisse
abhängt. Preußen, statt der Kernpunkt zu sein, an dem der politische Jnstinct
der deutschen Nation befruchtend und fortbildend seine Kräfte bewähren könnte,
nur ein Torso, ein unvollkommner und unvollendeter Versuch des staaten¬
bildenden Vermögens der Deutschen, eine Zwittcrgeburt, die nichts weiter be¬
weist und documentirt als den zwitterhaften Charakter des Schooßes. aus dem
sie hervorgegangen. Und doch liegt hier das versöhnende Moment so nahe.
Es liegt in der schon angedeuteten Betrachtung, durch die wir uns gerade vom
specifischen Preuhenthum unterscheiden möchten, daß Preußen nicht lediglich ein
Product seiner Fürsten und seiner eignen Stämme ist-, sondern in letzter und
höherer Instanz als das einzige erträgliche Erzeugniß betrachtet werden muß,
welches der politische Jnsiinct und die staatsbildnerische Kraft der deutschen
Nation zu Tage gefördert hat, als ein Erzeugniß, welches insofern jeder Bruch¬
theil dieser Nation sein Eigen nennen kann, ja für dessen Fehler wie für dessen
Vorzüge er mit verantwortlich ist.
Mit der Anerkennung dieses Satzes entfällt der wider Preußen auf¬
gebauschten Stammesopposition ihr innerster Halt. Die übrigen Stämme würden
dann erkennen, daß tua res aZiwr, wenn es sich um Preußen handelt, weil
Preußen nicht sein könnte, was es ist, wenn Deutschland in seiner geschicht¬
lichen Entwicklung es nicht so weit gereift hätte.
Wir möchten dem Nationalverein empfehlen, nach diesem Satz sein Programm
in Bezug auf Preußen umzuarbeiten. Preußens Hegemonie ist an und für sich
ein ganz leerer Begriff, wenn er sich nicht vorzugsweise auf jenen Satz stützt.
Was Noth thut und wofür der Nationaiverein an seinem Theil kräftiger wie
bisher arbeiten könnte, ist, daß Deutschland aus seinem Weg zur Größe, Macht.
Concentration und einer inhaltvollen politischen Freiheit — nicht jede Frei¬
heit eines Kleinstaates verdient dies wesentlichste Prädicat — Preußen als die
vornehmste Entwicklungsstufe, die es sich selbst zu schaffen vermocht hat, be¬
trachten lerne, daß es, weil es mit seinen Kleinstaaten aus directem Wege nie
fertig wird, den indirecten Weg nicht verschmähe, der durch jede Erstarkung
Preußens ein Absterben derselben vorbereitet, daß es praktisch politischen Sinn
wenigstens so weit bewähre, daß es nicht, weil Preußen in seinem gegen¬
wärtigen Uebergangszustand niemandem sehr behagen kann, nun auf einmal
diese Entwicklungsstufe für nichts achte und statt eines an derselben festhaltenden
und deshalb stufenmäßigen Fortschreitens einen Sprung ins blaue Ideale mache,
zu dem ihm unter allen Völkern am allermeisten die Kräfte fehlen, weil es
revolutionäre Befähigung noch niemals nachgewiesen hat.
Aber sollen wir, weil diese Erkenntniß in der Masse des Volks noch nicht
vorhanden und einstweilen auch nicht so schnell zu beschaffen ist. einem Ent¬
wickelungsgang uns praktisch entgegenstemmen, für dessen Richtigkeit wir theo¬
retische Anhänger zu werben bemüht sind? Dies scheint denn doch geradezu
unmöglich.
Nach der Theorie sagen wir: je mehr Preußen sich zu wahrer Großmachts-
Stellung erhebt, desto rascher und gewisser wird es aus seinen jetzigen Ueber¬
gangsformen erlöst, desto gewisser wird das vernünftige Gesetz des Fortschritts
die nicht in innerer Nothwendigkeit gesetzten Schranken zu überwinden wissen,
desto überwiegender wird die Machtfülle des Staats über die einseitig auf¬
gefaßte Idee einer Machtfülle des Königthums, desto sicherer wird Preußen,
so gehoben, auch für Deutschland seinem Beruf genügen, mit progressiv sich
verstärkenden Kräften die Vielstaaterei zum Absterben zu zwingen und einen
politischen Organismus für die Nation zu erschaffen.
Ist diese Grundanschauung einmal gegeben, von der aus wir jede Politisch
durchführbare Vergrößerung Preußens gleichzeitig für die nationalste deutsche
Aufgabe ansehen, so wird aus dem aus mangelnder Erkenntniß hervorgehenden
Widerspruch der Betheiligten kein genügender Rechtstitel wider dieselbe herzu¬
leiten sein. Es liegt im Gegentheil selbst im Interesse der anzubahnenden
Erkenntniß, deren Wichtigkeit allerdings nicht zu verkennen, in dem gegebenen
Fall der Herzogthümer ein für deren Einverleibung in Preußen sprechendes
Moment.
Denn wenn, wie nicht zu bezweifeln, alle Erkenntniß sich durch die sinnliche
Wahrnehmung vermittelt, wenn dies der dem Individuum angewiesene Weg
ist, so wird sich eben auch sür die Nation — zur Erlangung der Erkenntniß,
die wir jetzt noch bei ihr vermissen — kein anderer Weg ermitteln lassen, als
der durch die sinnliche Wahrnehmung hindurchführt. Mit anderen Worten: je
mehr Preußen thatsächlich durch Vergrößerung seiner Machtmittel, durch Ab-
rundung seines Gebiets ze. zu derjenigen Stellung in Deutschland vordringt,
die es auch dem blödesten Auge klar macht, daß in ihm in Wahrheit das
politisch organisirte Deutschland enthalten ist, desto mehr wird auch im übrigen
Deutschland eine richtigere und vorurtheilsfreiere Anschauung seines Verhältnisses
zu Preußen — als dem vornehmsten Erzeugniß des staatenbildenden Vermögens
der Deutschen — sich Bahn brechen und dadurch den ferneren Weg erleichtern.
Daß aber die Einverleibung der Herzogtümer jene erste Voraussetzung in hohem
Grade erfüllt, ist an sich klar.
Jedenfalls — aus diesem Cirkel kommen wir nicht wohl heraus — ist
der Weg. den ich zu einer besseren Gestaltung der deutschen Verhältnisse an¬
zudeuten versucht habe, im gewöhnlichen Lauf der Dinge versperrt durch die
mangelhafte Erkenntniß dessen, was Preußen für Deutschland bedeutet, ist
andrerseits jede Erkenntniß im Allgemeinen darauf angewiesen, sich an die sinn¬
liche Wahrnehmung anzulehnen, so muß man entweder darauf verzichten jenen
Weg jemals gangbar werden zu sehen oder man darf die Umstände einer un¬
gewöhnlichen Schicksalsgunst wie die gegenwärtigen zu benutzen nicht anstehen,
die durch eine großartige Erweiterung der preußischen Machtsphäre dem nur
theoretischen Raisonnement die sinnlich erkennbaren Stützpunkte leihen. Und
hier möge denn schließlich auch noch eine Bemerkung über das Stichwort des
Tages — das Selbstbestimmungsrecht — gestattet sein. In Holstein hat man
eine Beruhigung darin gefunden, daß eine Commission des preußischen Ab¬
geordnetenhauses neuerdings das altenburgische Selbstbestimmungsrecht wahren
zu müssen und eine Grenzregulirung deshalb beanstanden zu sollen geglaubt
hat. Die Fälle liegen nicht analog; denn in letzterem Fall handelt es sich um
ein Tauschgeschäft, welches sich auf keine Weise unter den Gesichtspunkt natio¬
naler Forderungen und Ansprüche bringen läßt.
Wo aber letztere in Frage kommmen, da muß es doch in dem Anspruch
auf Selbstbestimmung irgendwo eine Grenze geben. Und diese Grenze ist überall
deutlich da gesteckt, wo das unveräußerliche Recht der Nation, sich zum vollsten,
wahrsten und mächtigsten Ausdruck ihres eigenen Wesens zu erheben, sie.ihr
zieht. Ist der Nachweis also zu führen, daß durch die Einverleibung der
Herzogthümer in Preußen Deutschland in seinem Entwickelungsgang um ein
Erhebliches gefördert wird, so ist das Ansinnen an die Herzogthümer, ihre
behagliche Stammesindividualität theilweise oder ganz zu opfern — praktisch
würde es ohnehin sich immer nur um das erstere handeln — keineswegs ein
ungerechtfertigtes.
Denn darüber, scheint mir, kann denn doch kein Streit sein: einem Stamm
gestatten, daß er seine Individualität, d. h. den breitesten Ausdruck seines an¬
geblichen Selbstbestimmungsrechtes conservire, auch wo diese Conservirung der
Lebensaufgabe der Nation widerstreitet, heißt nichts weiter als die Emancipation
des Individuums von den sittlichen Pflichten gegen die Gesammtheit proclamiren.
Es giebt wohl keine zweite Culturepoche, welche in der Architektur so wie
die unsrige die verschiedenen Kunstformen der Vergangenheit aufgenommen und
mit nachbildenden Verständniß gebraucht hätte. Denn kein Zeitalter hat so wie
das unsrige aus dem natürlichen Zusammenhang des Zeitlaufs sich losgelöst,
zwischen sich und die vorangegangene Periode das durchschneidende Bewußtsein
eines neuen Lebens und einer neuen Gesittung gelegt. Wie die französische
Revolution die politische Ordnung Europas von Grund aus umkehrte, so voll-
zog sich gleichzeitig im geistigen Leben ein Umschwung, der die ganze Bildung
der Tiefe wie der Breite nach ergriff. So Plötzlich, so auf einmal das ganze
Geschlecht umfassend war selbst das größte die Welt umgestaltende Princip,' das
Christenthum, nicht hereingebrochen.
Allein nur in die Literatur und Dichtung trat dieser Umschwung, vor¬
bereitet schon durch bahnbrechende Regungen des neuen Geistes innerhalb der
abgelaufenen Zeit, mit neuer schöpferischer Kraft ein. In der Kunst dagegen
war ebenso, wie im staatlichen Dasein, nur erst der Fade» mit den überlieferten
Zuständen abgerissen, dem Alten ein Ende gemacht, ohne daß gleich ein Neues
in bestimmter Gestalt sich zu bilden begonnen hätte. Die moderne Poesie,
darauf gerichtet, dem neuerwachten Leben des inneren, die Welt in sich zurück¬
nehmenden Menschen Ausdruck zu geben, konnte unmittelbar aus diesem schöpfen;
zudem vermag immer die Dichtkunst in dem biegsamen Stoff der Sprache auch
die noch dunklen Vorstellungen des Gesammtgeistes leicht und rasch zu gestalten.
Anders die bildende Kunst. Sie ist an die Bestimmtheit eines spröden Mate¬
rials gebunden, das zu beherrschen sie nur an der Hand der Schule und der
Ueberlieferung lernt; und in ihm kann sie den Inhalt des allgemeinen Be¬
wußtseins immer nur von einer Seite, in eine einzelne Erscheinungsform fassen.
Daher muß dieser Inhalt an sich schon zu einer gewissen Deutlichkeit aus¬
geprägt sein, um sich in einer Form wiederbilden zu lassen, welche die all¬
gemeine Phantasie mit bekannten lebendigen Zügen anspricht. So setzt eine
fruchtbare Entwickelung der Kunst immer zweierlei voraus: einmal die allmälige
Ausbildung der Form an sich im Zusammenhang und Fortschritt der Schule,
andrerseits eine gewisse Festigkeit der allgemeinen Verhältnisse, der öffentlichen
Lebensformen.
An beiden Bedingungen fehlte es natürlich der neuanhebenden Kunst, nach¬
dem sie so bewußt und entschieden, wie keine frühere, die überlieferte Form
und Anschauung abgeworfen hatte. Es blieb ihr nichts übrig, als in der
weiter zurückliegenden Vergangenheit nach Vorbildern zu greifen, an die sie sich
anlehnen könnte, nach mustergiltigen Gestalten, die dem neuen Geiste verwandt
seinen Inhalt auszusprechen vermöchten. Um so leichter machte sich diese Rück¬
kehr zu früheren großen Kunstepochen, als der moderne Geist das Bedürfniß
hatte, seine Existenz auf das Fundament einer die Schätze der Vergangenheit
in sich aufnehmenden Bildung zu gründen. Die geschichtliche Denkweise greift
durch das neunzehnte Jahrhundert und bewährt sich daher auch in der Kunst.
Vor allem fand sich die Architektur auf den Anschluß an die Bauformen
früherer Zeiten angewiesen. Gerade sie, mehr wie jede andere Kunst gebunden
an die Bedingungen des Stoffs und an objective Zwecke, bedarf eines langen
Zeitraums, um den künstlerischen Ausdruck sowohl für diese als für jene in
eigenthümlicher Weise auszubilden. Weder das Eine noch das Andere war in
den erst werdenden, schwankenden Verhältnissen der Neuzeit möglich. Und so
handelte es sich für die Architektur nicht sowohl um die Aneignung und selb¬
ständige Verarbeitung überlieferter Formen — ein Proceß, den jede Bauperiode
durchzumachen hat — als um ein nachbildendes Aufnehmen früherer, wenn
auch freigewählter Stile. .
Dem classischen Alterthum, dem sich die beginnende Epoche in ihrer Rück¬
kehr zur Natur und in ihrem Trieb nach allseitiger Entfaltung des menschlichen
Geistes verwandt fühlte, wandte sich nach dem Vorgang der Dichtung auch die
Kunst zu. Winckelmann und Lessing hatten dem Verständniß der Antike Bahn
gebrochen. In ihr war die Schönheit der vollendeten Form als das
Princip der Kunst ncuentdeckt, und diese wurde nun das Losungswort nicht
blos der betrachtenden, sondern auch der schaffenden Phantasie. Und wie wenn
alsbald die deutsche Kunst nachholen wollte, was sie Jahrhunderte lang ver¬
säumt hatte, nämlich die Bildung der schönen Gestalt als solcher: so ergab sie
sich jetzt eifriger, unbefangener und eindringender wie jede andere dem Studium
und der Nachbildung der Antike. Nicht in sklavischer Nachahmung, denn sie
erkannte, daß die classische Schönheit eine ewig giltige Schöpfung der mensch¬
lichen Phantasie selber sei und sich daher ihren Formen der Athem eines neuen
Lebens einhauchen lasse. Aber auch nicht mit selbständiger, freigestaltender
Kraft; denn dazu hätte sie die Form überhaupt beherrschen und andrerseits aus
dem allgemeinen Bewußtsein schon feste Vorstellungen empfangen haben müssen.
So nahm sie zwischen Schaffen und Nachbilden ein schwankendes, mittleres
Verhältniß an. Und auch hier war die Architektur als die strengere Kunst,
welche das willkürliche Spiel der Phantasie ausschließt, eher auf engen An¬
schluß als auf eine freie Beziehung angewiesen. Nicht nur die Einzelformen
entlehnte sie der Antike, sondern ihren ganzen Organismus; die noch unent¬
wickelte Anschauung ging bei den Alten in die Schule und schmiegte sich ihnen
an. selbst die modernen Bedürfnisse mußten sich dem Ganzen der Bauformen
fügen, das im Alterthum durch Zeit, Land und Sitte bedingt war. Wie eine
Gewalt kam die Antike über die noch zählende, suchende Phantasie der neuen
Zeit und formte sie wie weiches Wachs in ihren festen Model. In Frankreich
und England entnahm man classischen Bauresten geradezu die Gestalt für christ¬
liche Kirchen, in Berlin z. B. den Propyläen der Akropolis das Motiv für
das Brandenburger Thor.
So oft mit verjüngter Kraft die Cultur der neuen Welt eine neue Stufe
der Entwickelung betrat: immer geschah es an der Hand der Griechen und
Römer. Aber unserer Zeit ist eigen, daß sie mit entschiedenem Bewußtsein in
die alte Welt tiefer einzudringen sucht, wie jede andere, in ihr die einzig feste
Grundlage aller Bildung und Gesittung findet. Daher übersprang sie in der
ersten jugendlichen Begeisterung alle Zwischenstufen der Vergangenheit, ja, nicht
nur die Renaissance, sondern selbst das Römerthum; denn blos bei den Grie¬
chen fand sie das reine Ebenmaß der Schönheit. Fast gab sie sich selber,
ihre eigene Natur auf, um nur in dem Hellenenthum ganz heimisch zu werden.
Der durchgreifende Unterschied zwischen dieser Rückkehr und der Weise, wie die
Renaissance an die römischen Bauwerke anknüpfte, springt in die Augen. So
zerriß nach der einen Seite die Neuzeit nicht nur den nächsten geschichtlichen
Faden, sondern auch jede Verbindung mit der ganzen christlichen Zeit, wäh¬
rend sie zugleich jede innere Verwandtschaft, jede gemeinsame Empfindung, die
sie mit dieser noch hatte, zu verläugnen suchte.
So geschichtlich begründet diese Richtung war, da sie sich aus der Ent¬
artung und Unnatur des Rococo, in welche die neuere Kunst endlich ausgelaufen
war, ganz herausreißen mußte und so auch dieser sich entfremdete: so war sie
doch zugleich nothwendig einseitig und rief daher.den Gegenschlag der roman¬
tischen Anschauung nicht sowohl hervor, als sie ihn vielmehr von vornherein
an sich hatte. Geraden Weges, ohne die Vermittlung der dazwischenliegenden
Kunst auf die Antike zurückgegangen, wurde sie von dieser so abhängig, daß
sie nur im engsten Anschluß an ihre Formen die Aufgaben der modernen Zeit
wahrhaft künstlerisch zu lösen meinte. Mit diesem Eifer classischer Gesinnung,
dieser Verneinung aller geschichtlichen Zwischenstufen stand sie doch im Grunde
zur griechischen Kunst in einem unfreien Verhältniß. So konnte es kommen,
daß die romantische Richtung, fast zugleich mit ihr aufgetreten, getrieben zudem
von der Aufregung des neuerwachten Nationalgefühls, eine Zeit lang ihr den
Rang ablief und alle Aussicht hatte, sie für immer hinter sich zurückzulassen.
Allein das. was den classischen Bestrebungen zu Grunde lag, war unverwüstlich:
sowohl das Ideal der vollendeten Kunstform überhaupt, wie die besonderen
Formen und Gliederungen des griechischen Baues als der wahre, immcrgiltigc
künstlerische Ausdruck des wagerechten Aufbaues. Diese Grundlage hielt die
Richtung aufreckt, während die romantische, in die gothische auslaufend, nach
kurzem Aufschwung nun in sich zusammenfällt. Das allerdings war für ihr
Gedeihen unerläßliche Bedingung, daß sie mit lebendigem Verständniß in die
bauende Phantasie der Alten eindringe und so ihre Formen frei gebrauchen
lerne, ohne mit blos abmessender Geschicklichkeit ihre Gebäude nachzuahmen.
Denn die Antike läßt sich nicht messen, und wer da meint, ihre Verhältnisse
in Rechenexempel fassen zu können, der versteht von ihr gerade so viel, wie
der Schulknabe von Aeschylus. Gerade hierzu, zu einer freieren Nachbildung
aus tieferem Verständniß, kam dem classischen Baueifer der anregende, auf¬
stachelnde Gegensatz des Romantischen zu Statten.
Diese neuen Bestrebungen, welche vorab an die griechische Bauart an¬
knüpften, aber sie aus der Kenntniß ihres Wesens zugleich den Zwecken der
modernen Baukunst anzupassen suchten, hatten ihre vornehmsten Stätten in
München und Berlin: das eine vertreten durch Klenze. das andere durch
Schinkel. Ehe wir auf die Wirksamkeit des Ersteren, mit dem wir es hier
zu thun haben, näher eingehen, müssen wir auf den durchgreifenden Unter¬
schied aufmerksam machen, der zwischen beiden besteht. Klenze, von beschränk¬
terem Talent, schloß sich eben deshalb enger an die Antike an und kam im
Grunde über eine einsichtige, aber gebundene Nachbildung nicht hinaus.
Schinkel dagegen, ein Mann von weiter Begabung und eigenthümlich bildender,
combinirender Phantasie, suchte die classischen Formen selbständig zugebrauchen,
indem er sie aus ihrem geistigen Princip heraus „auf die Bedingungen unserer
neuen Weltperiode zu erweitern" strebte. Dieser große Vorzug, den Schinkel
vor dem Münchener Baumeister hatte, die Breite seiner Anschauung und die
fruchtbare Beweglichkeit seines Geistes, war zugleich die Ursache seiner Schwächen.
Eben diese Eigenschaften brachten ihn auf die seltsame Meinung, daß sich die
gothische Bauweise durch „Verschmelzung" mit classischen Stilelcmenten fort¬
bilden und „vollenden" lasse; sie machten ihn andererseits wenn nicht abgeneigt,
doch gleichgiltig gegen die Renaissance, weil er aus sich selber mit originalen
Mitteln eben das leisten zu können dachte, was diese geleistet hatte: eine Wie¬
dergeburt der Antike; wobei ihm zudem seine Weise insofern als die lebens¬
fähigere erscheinen mußte, als er auf die Griechen, jene auf die Römer zurück¬
ging. Vor solchen irreführender Gedanken war Klenze mit seiner engeren
Anschauung und schwächeren Phantasie freilich bewahrt; und so verschafft ihm
seine geringere Begabung das Lob, daß er zeitlebens von der Gothik sich ab¬
kehrte und unter den modernen deutschen Baumeistern als einer der ersten im
Stil der Renaissance ganz achtungswerthe Bauten zu Stande brachte. Haben
diese Vorzüge Klenzes, auf ihren Grund gesehen, nur sehr bedingten Werth:
so ist dagegen Schinkel in allem, wo es künstlerisches Schaffen und Gestalten
gilt, seinem Münchener Nebenbuhler weit voran. Die Armuth der Phantasie,
die diesen auf ein bloßes Entlehnen classischer Formen anwies, zeigt sich auch
in der Situation und Anlage seiner Gebäude. Er versteht es nicht, dieselben
mit ihrer Umgebung in harmonischen Zusammenhang zu bringen, sie mit der
Natur oder den naheliegenden architektonischen Massen zu einem wirkungsvollen
Bilde zusammenzuschließen; womit der weitere Uebelstand zusammenhängt, daß
seine Bauten fast durchgängig, in den Boden wie eingesunken, sich nicht energisch
von ihm abheben. Andrerseits gelingt ihm selten eine Raumeintheilung, welche
das Bedürfniß vollkommen befriedigt und hiervon ausgehend den Plan sowohl
organisch gliedert, als in der äußeren Gestalt künstlerisch ausdrückt. Meistens
fallen ihm Zweck und Erscheinung auseinander, so daß er vor Allem sein
Augenmerk auf die äußere Schönheit, eine wirksame Verbindung der klassischen
Formen richtet und nun nebenher die Anforderungen des Zwecks, so gut es
eben geht, noch erfüllt. Umgekehrt zeigte sich bekanntlich die Begabung Schim-
leis in dem Einklang künstlerischer und zweckentsprechender Anordnung sowohl
des Baues in sich, als in seinem Verhältniß zur Umgebung und zur Land¬
schaft; ein Vorzug, den seine Werke — nimmt man etwa den einen und an¬
deren gothischen Versuch aus — niemals vermissen lassen und der ihm um so
höher anzurechnen ist, als er nicht selten seine Pläne den ungünstigsten Be¬
dingungen und Verhältnissen anzupassen hatte. Endlich ist Klenze in der Or-
namentation weit hinter Schinkel zurückgeblieben. Die decorative Ausstattung
seiner Bauten trägt noch die schwerfälligen Züge der Kaiserzeit, welche die An¬
tike von Staatswegen — wie es vor ihr die Revolution schon gethan hatte —
zum officiellen Vorbild der modernen Kunst einsetzte und daher namentlich ihre
feineren Detailformen in Bausch und Bogen nahm, ohne tieferes Verständniß
nachbildete. Die Ornamente Klenzes. namentlich die vergoldete Stuckverzie-
rung seiner Innenräume, haben alle noch das Gepräge des nüchternen und
aufdringlichen Prunkes, in den jene Zeit die durchgebildete Einfachheit der
antiken Verzierungen vergröberte und das beseelte Spiel ihrer Formen erstarren
ließ. Gerade umgekehrt zeichnen sich Schinkel's Bauten (namentlich seine Bau¬
akademie) durch die Feinheit und Anmuth der decorativer Details aus, wie
er denn eben dadurch auf die berliner Kunstindustrie den günstigsten Einfluß
ausgeübt hat.
Werden Klenze und Schinkel verglichen, so ist immer das nicht zu ver¬
gessen, daß es dem Einen so gut wurde, fast alle seine Pläne unbeschnitten und
in der breitesten Weise ausführen zu können, während der Andere seine schön¬
sten Entwürfe in der Mappe behielt. Nach diesen ist Schinkel mehr zu beur-
theilen, als nach den wenigen monumentalen Bauten, in deren Errichtung er
zudem fast jedesmal an hemmende Bedingungen gebunden war. Klenze da¬
gegen war durch seinen königlichen Bauherrn, der das Zeitalter der Perikles
und der Medici erneuern wollte, im Reichthum der Ausführung ganz freie Hand
gegeben. Denn darin hatte die Kunstliebe Ludwigs des Ersten etwas von der
Breite der großen Zeitalter, daß er in der Verwirklichung seiner Pläne nicht
geizte und mit der Kunst nicht kleinlich marktete. Doch um Klenze gerecht zu
werden, dürfen wir auch das nicht übersehen, daß der Monarch mit dem Ehr¬
geiz, nicht blos ein Mäcenas, sondern auch ein Hadrian zu sein, seinen Archi¬
tekten die Grundzüge der Aufgaben, ja ihre Hauptumrisse vorschrieb und ihnen
daher weder in der Bestimmung der Lage noch in der Wahl der Bauart Frei¬
heit ließ. Schlimmer noch als dies war für den Baumeister der Umstand, daß
nicht wenige der monumentalen Gebäude nicht sowohl ideale als imaginäre
Zwecke hatten und ihre Entstehung willkürlichen Einfällen verdankten, die von
den objectiven Bedürfnissen des Zeitalters nicht getragen waren (z. B. Wal¬
halla. Ruhmeshalle, Propyläen). Diese Willkür war es ja, welche jene Bau-
Periode durchweg bezeichnete und sich in allem aussprach, dem bunten Neben-
einander der Stile, der Zufälligkeit der Lage und so auch in der Zweckbestim¬
mung der Gebäude. Nicht wenige davon feste man, indem man das Große
mit dem Oeden verwechselte, außer den Bereich des Verkehrs in Sandwüsten
und in eine mißtönende Umgebung; und nicht minder selten ist ihr Zweck ohne
Zusammenhang mit dem wirklichen Leben, kein Bedürfniß der allgemeinen Ge¬
sittung. Durch solche Ausgaben war der Architekt von den belebenden Bedin¬
gungen seines Zeitalters losgelöst und auf todten Prunk, auf ein kaltes Ge¬
pränge mit classischen Formen angewiesen; seine Phantasie entbehrte des an¬
regenden Zwangs der realen Verhältnisse, in deren künstlerischer Ueberwindung
sich gerade das Talent bewährt. Kein Zweifel, daß gerade ideale Zwecke für
die monumentale Architektur die wahren sind; aber die echten Ideale
stehen nicht außerhalb der Wirklichkeit, sondern fassen diese in sich, indem sie
ihre tieferen, geistigen Züge zu einem geläuterten Bilde ausprägen. Für Klenze
war jene eingreifende Willkür seines Bauherrn um so schlimmer, als er schon
von Natur aus wenig von der realen Erfüllung der Phantasie und dem genia¬
len Sinn hatte, welche das Leben zu packen, das Bedürfniß selber in die Frei¬
heit der Form zu erheben wissen. Und so fällt wieder das Ungeschick der Raum-
anordnung, das an manchen klenzeschcn Bauten sich zeigt, die Schemportale,
die Enge der Korridore, die unbeholfene Anlage der Treppenhäuser, das nüch¬
terne Verhältniß der Innenräume — das alles fällt lediglich dem Architekten
zur Last; hier rächen sich die Ansprüche des Lebens an der Ueberhebung des
Künstlers, der nur die Schönheit der äußeren Erscheinung im Auge hatte und
darüber vergaß, daß diese immer zugleich Ausdruck des inneren Organismus
sein muß. Doch das muß man ihm schließlich lassen, daß er meistens — und
oft mehr als Schinkel — diese Schönheit der äußeren Form in der kräftigen
Profilirung. dem klaren Verhältniß der verschiedenen Theile und der von allen
Seiten wirksamen Silhouette seiner Gebäude zu erreichen wußte.
Muß so Klenze, alles zusammengenommen, hinter Schinkel zurückstehen,
zum Theil durch eigene Schuld, zum Theil durch den Eigenwillen seines Bau¬
herrn: so nimmt er dagegen unter den Vertretern der Münchener Baukunst bei
Weitem die erste Stelle ein. Zwar ist es neuerdings, schon bei Lebzeiten Klcnzes
und noch mehr nach seinem (Januar 1864) erfolgten Tode in München Mode
geworden, die Fehler des Meisters über Gebühr hervorzuheben und nur nach
ihnen seine Leistungen zu bemessen. Die Schule Gärtners freilich, die sich
dünkte, in einer plumpen Anwendung romanischer Elemente und in der Ver¬
achtung aller classischen Formvollendung „national" zu sein und die Erfinder des
„neuen Stils", die aus dieser Raupe als Eintagsfliegen ans Licht gekommen
sind, haben allen Grund, die klenzeschen Bauten, neben deren Gediegenheit das
hohle aufgeblasene Wesen ihrer Machwerke vollends windig erscheint, von der
Erde wegzuwünschen. Diesen Richtungen gegenüber kann man jene classische
Bauperiode nicht hoch genug schätzen, wie denn Referent in einem früheren
Artikel aus dem Gesichtspunkte dieses Gegensatzes, ermüdet von dem trostlosen
Anblick neuester Münchener Kunst, auf die Glyptothek zurückgriff. um von ihr
nur Gutes zu sagen. Und auch das ist Klenze zum Verdienst anzurechnen,
daß er unerschütterlich an seiner künstlerischen Ueberzeugung festhielt und sich
weder auf die gothische Frömmelei noch auf den neuesten Stilschwindei einließ;
wie auch das andere, daß er auf die technische Vollendung seiner Werke sah
und sich nicht, wie die Begründer der „modernen Bauart" mit dem Ungefähr
einer rohen, sich selber überlassenen Handwerkerarbcit begnügte.
Die früheren Bauten Klenzes sind schon oft besprochen; wir bringen dies¬
mal nur auf sein neuestes Werk, die Propyläen, die Rede. In diesen
sind nun jene ungünstigen Bedingungen, die Willkür der Lage und der Zweck¬
bestimmung in wahrhaft einziger Weise zusammengetroffen. Ein Prachtlhor,
abseits gelegen, mitten in einer Straße, daher weder in die Stadt einführend,
noch sie abschließend gegen die umgebende Natur, nichts weiter als ein Hin¬
derniß des Verkehrs. Zugleich ein Denkmal der Verbindung von Griechenland
und Bayern, das also höchstens den Zweck hat, dem Durchgehenden diese
Thatsache der modernen Geschichte durch seine monumentale Gestalt in Er¬
innerung zu bringen — vollendet in demselben Augenblicke, da diese Thatsache
von der Geschichte selber — ein flüchtiger Traum — wieder gestrichen war.
Zweckloser, so mit dem offenbaren Zeichen des versteinerten Widerspruchs an
der reichgeschmückten Stirne steht wohl kein Bau der Erde. Aber hiervon ab¬
gesehen: vielleicht rechtfertigt sich das Gebäude durch den bloßen Kunstzweck,
den es außerdem noch zu haben scheint.
Offenbar war es nicht sowohl auf eine bloße Wiederholung der Pro¬
pyläen, als auf eine geschlossene Gcsammterinnerung der befestigten Akropolis
abgesehen. Daher ohne Zweifel die das Thor flankirenden Eckthürme (vielleicht
zugleich eine Reminiscenz an den byzantinischen Thurm, der aus späterer Zeit
noch auf der Akropolis steht?). Aber während das Thor der attischen Burg
auf beiden Seiten von den Flügelgebäuden eingerahmt war, von denen das
eine, die von Mikon und Polygnot ausgemalte Pinakothek, die Stimmung des
Besuchers durch das Bild der größten Heldenthaten Griechenlands erhöhte, das
andere kleinere vielleicht die Wache enthielt — während diese Gebäude dem
Auge des Aufsteigenden ihre ernste feste Seitenfront darbietend, die vorbereitende
Umgebung für die Pracht der Propyläen bildeten und so deren Wirkung steigerten:
klemmen umgekehrt die schwerfälligen Thürme des Münchener Nachbildes die
Säulenhalle zwischen sich ein und verbinden sich durch Quermauern hinter
den Frontispizen derselben, wodurch die freie Erscheinung des Mittelbaues
sowohl in seinem Abschluß nach oben als in seiner Entfaltung nach beiden
Seiten verkümmert ist. Auch gebricht natürlich dem Münchener Bau die
wirkungsvolle Anlage, mit der sich die alten Propyläen über die Stadt
erhoben und den herankommenden Festzug in sich nicht blos hinein- sondern
zugleich hinaufzogen. Die den Felsen ansteigende Treppe mit der dem mittleren
Hauptthor zuführende» Rampe für Reiter und Wagen erschien wie ein mächtiger
die Säulenhalle emporhebender Unterbau. Diese, festlich einladend dem Heran¬
nahenden sich öffnend, zeigte ihm doch zugleich ihre ernste Bestimmung, der
Eingang zu den Heiligthümern der Burg zu sein, indem ihm aus der inneren
Halle (wieder um einige Stufen erhöht und so den Festzug immer aufwärts
führend) die fünf ehernen Thore entgegenblinkten. Wie diese höchst wirksame
und stimmungsvolle Anordnung bei dem in die Ebene gesetzten Münchener
Thor wegfällt, so ist auch seine Säulenhalle selber eigentlich nur zum Schein
da, da den Fußgänger sein Weg durch den in der Mitte durchschnittenen hoben
Sockel führt und er daher, um sich zwischen den Gäulen selber zu bewegen,
eigens hinauf- und wieder hinabsteigen muß. Den Athenienser führten seine
Propyläen immer aufwärts, sie setzten in sich selber den Aufgang fort,
und während die Wagen auf der den Sockel durchschneidenden, geneigten Rampe
weiterzogen, bewegte sich das wandelnde Volt über die außer- und innerhalb
ansteigenden Stufen durch die Schiffe der Säulenhalle selbst der höchstgelegenen
Plattform der Burg zu. Wie anders der Münchener. Tapfer durchschreitet er
den Koth der Straße und geräth dann zwischen die mannshohen Wände des
durchschnittenen Sockels, um auf der anderen Seite seine todesvcrachtende
Wanderung über die dörfliche, idyllisch erweichte Gasse wieder aufzunehmen.
Darunter also, daß die Anlage der modernen Propyläen sowohl durch den
Mangel der Terrainbedingungen als den des Zwecks nothwendig eine andere
wurde, hat auch die Kunstform gelitten. Diese, in ihren Hauptzügen dem
classischen Muster nachgebildet, aber von den die Construction bestimmenden
Motiven losgelöst und durch die Veränderungen doch auch nicht hinreichend dem
modernen Boden und Bedürfniß angepaßt, hat durch diese Halbheit und Zu¬
fälligkeit den Ausdruck und die Wirkung des Vorbildes zum großen Theil ein¬
gebüßt. Auch fehlt dadurch, daß man wegen des Mangels an ausreichend
großen Steinen zu den Deckenträgern die inneren ionischen Säulenreihen ver¬
doppeln mußte, die schöne Einfachheit des Gegensatzes, den an dem Urbild die
dorische Säulenreihe mit der inneren ionischen bildete. Dazu kommt noch die
sicher unrichtige Stellung der Kapitale dieser ionischen Säulen zu den über sie
gelagerten Epistylen. Sie stehen mit ihren Vorderansichten parallel mit der
dorischen Front, also im rechten Winkel zu der Längenrichtung ihrer Architrave;
da doch immer die Lage des Kapitals sich nach diesem bestimmt, mit ihm in
derselben Richtung liegen muß und die Säulen nicht hintereinander, sondern
nebeneinander das Epistyl zu tragen haben. Dieses Gesetz liegt so noth¬
wendig im Wesen der classischen Architektur, daß sich mit Sicherheit annehmen
läßt: in den alten Propyläen haben die ionischen Kapitäle in derselben Flucht
mit den von ihnen getragenen Architraven gelegen, und datier ihre Vorder¬
ansicht nicht parallel, sondern im rechten Winkel mit der dorischen Front: eine
Anordnung, die zudem dem Gebäude den Reiz der Mannigfaltigkeit, des leben¬
digen Gegensatzes gab.
Hat sich somit Klenze in der Anordnung seines Lauch mehr als einen
Verstoß gegen das griechische Vorbild zu Schulden kommen lassen: so zeigen
dagegen die Behandlung und die Durchbildung der Detailformen, wie die
Verhältnisse von einem richtigen Verständniß der classischen Baukunst. In dieser
Hinsicht ist das Gebäude immerhin ein höchst achtungswerthes Erzeugnis; archi¬
tektonischer Kunst und weitaus das Beste, was die Architektur seit Jahren in
München geleistet hat. In der Behandlung des Einzelnen, sowie in der Aus¬
führung ist keineswegs ein blos nachahmendes Geschick, vielmehr eine feine
Empfindung für die bewegte, der blos messenden Hand unfaßbare Schönheit
der classischen Formen. Auch die Schärfe und Sauberkeit der technischen Arbeit
in dem edlen Material ist durchaus anerkenncnswerth. Und so hat das Gebäude
bei allen Mängeln eine gewisse edle Größe und Gediegenheit der Erscheinung.
Dagegen sind dann wieder die plastische Ausstattung des Aeußeren
sowie der polychrome Schmuck des Inneren ganz unglücklich ausgefallen.
Jene, zum Theil nach Entwürfen Schwanthalers von seinen „Erben" ausgeführt,
läßt sich kaum als mittelmäßig bezeichnen. Sind schon die Gestalten des Meisters,
dessen Talent, näher besehen, nur in einer beweglichen, unermüdlichen Phantasie
bestand und daher zu einer gründlichen Formenkenntniß nicht durchdrang, in
der Bewegung lahm, im Ausdruck unentschieden, in den Verhältnissen schwankend
und somit in der ganzen plastischen Erscheinung unsicher, von einem die Wirkung
der Komposition abschwächenden Ungefähr: so sind hier gar die Figuren, von
den handwerksmäßigen Händen der „Erben" ausgeführt, leblos und schemen-
haft, in der Form gebrochen und schwerfällig. Doch auf die neueste Münchener
Plastik werden wir später noch die Rede bringen und berühren sie daher nicht
näher, wie auch den Compositionen selber der lebendige Zug fehlt und die
harmonische Anordnung in den architektonischen Rahmen. Diese Verunstaltung
des Baus durch die bildnerische „Zierde" fällt natürlich nicht dem Architekten
zur Last. Wohl aber die geradezu unschöne Polychromie des Inneren. Davon
zunächst abgesehen, daß sich die farbige Ausschmückung allzu sparsam auf die
Kapitäle, Einfassung der Oeffnungen und die Bedeckung beschränkt: so ist die
Behandlung auch an sich mager, das farbige Ornament, das doch den Aus¬
druck der Dienstleistung des Gliedes steigern soll, oft an unrichtiger Stelle an¬
gebracht, daher bedeutungslos oder widersinnig, die Zeichnung klein und arm¬
selig, die Zusammenstellung endlich der hellen, trockenen, marklosen Farben —
meistens in dem mißtönenden Wechsel von Gelb, Braun, Hellgrün und Hellblau
— von der nüchternsten Tünchererfindung. Ein geschickter Zimmermaler dekorirt
mit mehr Farbensinn und Geschmack. Wie sich das gebildete Auge des Architekten
bei diesem Ergebniß beruhigen konnte, wäre geradezu unbegreiflich, wenn sich
nicht vermuthen ließe, daß sich der Baumeister über die noch immer unentschiedene
Streitfrage nach der Polychromie der Alten nicht klar zu werden vermochte und
sich daher ein verkehrtes System zurechtmachte, dessen ebenso willkürliches als
sonderbares Schema ihn im buchstäblichen Sinne des Wortes verblendete.
Bei der Frage nach der Polychromie sind wir an einem Punkte an¬
gelangt, über den endlich zu einem klaren Ergebniß zu kommen sowohl für
das tiefere Verständniß der antiken Kunst als für die richtige Beurtheilung der
modernen classischen Bestrebungen von der größten Wichtigkeit ist. -
So viel schon hat unsere Zeit über die griechische Architektur geschrieben,
so oft schon ihre Denkmäler untersucht; was aber nun unter der Mehrzahl der
Gebildeten über ihr Wesen und ihre Gesetze feststeht, scheint mir zum nicht
geringen Theil mehr auf Vorurtheil, «is auf echter Kenntniß zu beruhen. Jeder
neue Forscher trat in die Fußtapfen der älteren und so gelangten fast alle mit
geringen Abweichungen an dasselbe Ziel. Erst Semper, so finde ich, hat
mit seinem Werke entschieden den richtigen Weg betreten und mit neuen, ein¬
dringenden, fruchtbaren Ideen das echte Verständniß angebahnt, mögen auch
einzelne der polychromen Restaurationen, die er an antiken Gebäuderesten ver¬
sucht hat, nicht gelungen sein. Indessen sind die Fragen, um welche es sich
handelt, zu schwieriger und verwickelter Natur, um hier näher aus sie eingehen
zu können; wir müssen uns mit den Andeutungen begnügen die in den Gegen¬
stand unserer Betrachtung einschlagen, und auf die Stellung, welche die Gegen¬
wart zur Antike hat, einiges Licht zu werfen vermögen.
Bekanntlich hat zuerst Hittorf, dann namentlich Semper nachzuweisen
gesucht, daß auch in der Blüthezeit der griechischen Kunst die Gebäude, selbst
die in edlen Steinarten aufgeführten, ganz mit Farben überzogen gewesen und
daß die natürliche Weiße des Marmors, wo sie stehen blieb, nur die Bedeu¬
tung einer Farbe zwischen anderen gehabt habe. Eine Anschauung, welche das
System der hergebrachten Ansichten über die Antike umzuwerfen drohte und
daher von Seiten der Aesthetiker, wie der Kunsthistoriker — diese namentlich
durch Kugler vertreten — den lebhaftesten Widerspruch hervorrief. Der That¬
sache zwar, daß sich an allen griechischen Gebäudetrümmern Spuren von Bemalung
finden, ließ sich nicht mehr entgehen; aber daß sich diese über den ganzen Bau
erstreckt haben sollte, ließ man nicht gelten. Denn dies bis zur Gewißheit aus¬
zumachen, reichen allerdings die uns erhaltenen Nachrichten der alten Schrift¬
steller so wenig aus, wie die bisherigen Ergebnisse der an den Ruinen selbst
angestellten Forschungen: obwol auch das Gegentheil weder auf die eine noch
die andere Weise sich erhärten läßt (die Stellen der Alten, in denen von dem
hellen Glanz des Marmors die Rede ist, widersprechen, wie wir gleich sehen
werden, der ersteren Annahme nicht). Man nahm nun an — und diese mitt¬
lere Ansicht fand bald allgemeine Verbreitung — daß der Farbenschmuck an
den Gebäuden stellenweise angebracht war: an gewissen Gliedern, um die
architektonische Form mehr hervorzuheben, sowie als Grund der Flächen, von
denen sich die plastische Ausstattung abheben sollte, daß ferner in der Entwicke¬
lung von der dorischen zur korinthischen Ordnung die Bemalung immer mehr
zurückgetreten sei, um der Erscheinung des edlen Materials und der feineren
Steinarbeit Platz zu machen. So lange aber die Acten der Untersuchung nicht
durch eine gründliche Combination jener Nachrichten und Forschungen — eine
Arbeit, die sehr dankenswert!) wäre — geschlossen sind, so lange hat nur die¬
jenige der beiden Ansichten die größere Wahrscheinlichkeit, welche in das We¬
sen der griechischen Kunst und in das Verständniß ihrer geschichtlichen Entwick¬
lung tiefer einzuführen vermag.
Das wohl läßt sich nun mit Semper als sicher betrachten, daß die mo¬
numentale Architektur der Alten vom Princip der Bekleidung ausging.
Nicht die Erscheinung der Construction als solcher bestimmte die
künstlerische Form (wie dies in der Gothik der Fall ist), sondern diese
umschloß den Bau wie ein Festgewand, in dem die vollendete Kunst der Grie¬
chen die structive Form allerdings zum Ausdruck brachte — so daß nirgends
bloße Decoration sich zeigte, sondern in jeder bekleidenden Zierde die statische
Wirkung der Glieder wie in leiseren oder stärkerem Nachklang noch einmal
anschlug — aber ebensowol die technische Arbeit, als die Anstrengung und die
Schwere des Stoffs verdeckte. Frei also, wie gewachsen, in sich beschlossen sprach
sich in der Erscheinung des Gebäudes das zu Grunde liegende structive Schema
aus, wie etwa in der Haut des menschlichen Körpers die Thätigkeit der Mus¬
keln und das Gerüst der Knochen sich kundgiebt. Ja, so genau war das Kleid
der Kunstform zugleich der Ausdruck jenes Schemas, daß beide zu untrennbarer
Einheit in einander übergegangen sind: eine Harmonie der Bollendung, die
blos den glücklichen Griechen vergönnt war. Aber dennoch war die Construc¬
tion selber durchaus unsichtbar» der griechische Bau hatte die Angst und Mühe
des Werdens überstanden, und eine gegossene Form, wie eine ewige, unver¬
wüstlichen Schöpfung stand er vor Augen, während doch zugleich in der schönen
Oberfläche ein lebendiges Werden zu Pulsiren, sich zu bewegen schien. Es ist
hier nicht der Ort, näher zu verfolgen, wie zu dieser Freiheit des architekto¬
nischen Scheins die Kunst in allmäliger Entwicklung gelangte; wie sie von der
Inkrustation mit Metallen u. s. f. auf Holz ausging, dann den porösen Stein
ergriff, um ihn mit gemaltem Stuck zu bekleiden und endlich im edelsten Ma¬
terial, dem pentelischen Marmor, den Gegensatz von Hülle und constructivem
Stoff vollends auslöschte. Aber auch diesem gab sie das künstlerische Kleid, in-
dem sie seine großen structiven Formen mit einem feinen Farbenhauch überzog
(die /5«<xH, durch den der Glanz des Steines gemildert und erwärmt zugleich
durchschimmerte; dagegen die feineren verbindenden, vermittelnden, trennenden
Glieder, in denen, wie in den Gelenken des Körpers die bewegende Kraft des
Baues sich zusammenfaßt, durch Ornamente von ausdrucksvoller Zeichnung und
satterer Deckfarbe hervorhob. Das also war die Vollendung der griechischen
Kunst: auch hier kein Prunken mit der Kostbarkeit des Stoffes, noch mit der
Feinheit der technischen Arbeit; sondern die Materie wie die Anstrengung aus¬
gehoben in die feine künstlerische Hülle, welche die Schönheit des Steines so¬
wie die der Ausführung nur als formale Elemente durch sich hindurchleuchten
ließ; in den beseelten malerischen Schein, der das gemessene Gefüge des leblosen
Stoffes in die bewegte Welt der lebendigen Gebilde hinüberführt.*) Also
nicht ein willkürlich umgelegtes Kleid war das Festgewand der
Architektur, sondern die Erscheinung, die der bauliche Gedanke
von vorn herein als seinen noth wendigen Ausdruck in sich trug,
und so ist auch die leichte farbige Hülle, welche über den Marmor
gegossen ist, wie der letzte geistige Hauch, in dem das innere
Leben sich aus spricht. Wie sehr der antiken Kunst in ihrer Vollendung
diese Idealität des künstlerischen Scheins eigenthümlich war, beweist auch dies
daß erst dann, als sie sich ihrem Verfalle zuneigte, an die Stelle der idealen
Farbendecke die natürliche Buntheit des Materials, der vielfarbige Mar¬
mor trat.
Jenes Mittelding von Polychromie aber, das kleinere Flächen und Glie¬
derungen mit bunten Farben bedeckt und die Hauptformen in dem farblosen
Weiß des Steines beläßt — statt der Ausdruck „maßvoller" griechischer Kunst
zu sein, ist es nicht vielmehr ein echtes Erzeugniß der modernen Anschauung,
die sich so sehr in der Vereinigung der Gegensätze gefällt, aber es immer nur
zu einer unklaren Vermischung bringt? Nicht das Bild einer halbgemalten Figur,
deren Rumpf und Beine noch die graue Untermalung zeigen, Kopf, Hände und
Füße aber schon ausgeführt sind? Das glänzende Weiß des Marmors, durch
das südliche Licht ins Grelle, Blendende gesteigert, der Contrast des Bunten
und Farblosen (denn bunt wirkt immer die Farbe neben dem unvermittelter
Gegensatz des Weiß), das Halbe und Unfertige, das ein solches Neben¬
einander mit sich bringt: das alles mußte dem feinen griechischen Auge
ebenso widerstreben, als es der Entwickelung der architektonischen Kunst-
form bei den Griechen entgegen ist. Und sicher war bei ihnen, wie
jeder Zweig der Kunst, den sie pflegten, auch der farbige Schmuck der
Gebäude zur höchsten Vollendung ausgebildet: eine Stufenleiter von Tö¬
nen und Farben, von dem zartesten Hauch an, der wie eine dünne (vielleicht
meistens goldgelbe) Lasur den Glanz des Marmors nur dämpfte und belebte bis
zur kräftigen Deckfarbe, welche die Zeichnung als selbständige Form in die
Glieder gleichsam einschnitt oder plastisch von ihnen abhob.
Und wie bei den Griechen die Kunst überhaupt vom Leben ganz durch¬
drungen, das Leben in die Kunst ganz eingegangen war: so war auch das
Werk der monumentalen Architektur durchaus belebt. In ihm war nichts von
dem kühlen Ernst und der erhabenen Strenge, welche manche von den nüch¬
ternen Nachbildungen unserer Zeit auch auf jene übertragen wollen. Vielmehr,
wie dem Griechen die Natur von der frohen Schaar der Götter und Halbgöt¬
ter belebt, die Quellen von Najaden, die Wälder von Dryaden und Satyrn,
das Meer von Tritonen und Nereiden bevölkert waren, so belebten ihm die
Säulenhallen des Tempels die Gestalten der Schwesterkünste. Die Malerei
deckte die Wände, deren Flächen bestimmt waren, die reiche Fülle ihrer Bil¬
dungen aufzunehmen und in den Jntercvlumnien schienen sich die plastischen
Gebilde wie die Götter selber zu bewegen (auch diese farbig nach dem¬
selben Princip wie die Architektur; weder das Fleisch noch die Ge¬
wandung naturalistisch, sondern auch hier der Glanz des Steins gemildert
durch den warmen Hauch eines feinen Colorits, das die plastische Gestalt mit
der umgebenden Welt in Einklang brachte), Dazu kam der mannigfaltige
bunte Schmuck der Draperien und Teppiche. Und so vermittelte die Architek-
tur die Kunst mit dem Leben, indem sie jene in dieses überführte und für
beide den gemeinsamen Boden abgab, ganz ebenso, wie sich durch die Säulen¬
halle das Heiligthum selber dem Leben öffnete und der Grieche nicht zwischen
den Mauern des Privathauses sein Dasein zubrachte, sondern in heiterem
Verkehr unter freiem Himmel, im Angesicht der von den Göttern bewohnten
Tempel oder in den Arkadengängen der öffentlichen Gebäude.
Blicken wir von diesem Bilde der griechischen Architektur hinüber nach
den modernen Nachbildungen der classischen Bauweise: so befremdet uns nicht
mehr die kalte und nüchterne Wirkung, welche diese Bauten, offen gestanden,
auch für das gebildete Auge haben. Sie sind wie das prächtige Haus, das,
als es eben durch die letzte vollendete Hand seinen künstlerischen Schmuck erhalten
sollte, unfertig, unbewohnt und unbelebt stehen blieb; denn der reiche Kunst¬
freund, der es bauen Ueß. starb in demselben Augenblick, da gerade Maurer
und Steinmetzen ihre Arbeit beendet hatten. So blos steinerne Form, wenn
auch im Material durchgebildet, ist die Gestalt in der Wucht des Stoffs noch
befangen und doch zugleich, da der warme Hauch und die erfüllende Mannig¬
faltigkeit des Lebens fehlen, gespensterhaft. Das lebendige Ganze des griechischen
Baus, die charaktervolle Stätte des antiken Lebens, in seiner Gestalt bedingt
durch Land und Klima, durch die öffentlichen Zustände und den nationalen
Geist, läßt sich in unser Jahrhundert, in unsere Verhältnisse nicht verpflanzen.
Die classischen Bauformen, das haben wir früher gesehen, sind der wahre und
vollendete, d. h. immer giltige Ausdruck gewisser Gesetze, die im Wesen der
Architektur selber liegen; sie sind daher unvergängliches Eigenthum der ganzen
Menschheit. Aber die architektonische Gesammtform. zu deren Vollendung der ma¬
lerische Schmuck und die Ausstattung durch die Schwesterkünste wesentliche Ele¬
mente sind, war genau angepaßt der antiken Anschauung, den antiken Bedürfnissen.
Doch auch die griechische Bauweise als solche, ihre architektonische Anlage, die
Combination ihrer Formen widerstreben, wenn das Vorbild treu befolgt werden soll,
der modernen Zeit. In großen einfachen Verhältnissen wickelte sich — verglichen
mit den unsrigen — das griechische Leben ab; leicht und mühlos ließ sich die
Wirklichkeit nach den idealen Bedürfnissen gestalten, beschlossen in sich und in
einer klar begrenzten Ordnung der Zustände war das öffentliche Dasein. Diesem
Leben entsprach genau die Form der Gebäude, ihre Raumeintheilung und
Gliederung. Der volle Einklang von Inhalt und Form, der die ganze griechische
Gesittung kennzeichnet und nur möglich war innerhalb dieser Einfachheit, ging
naturgemäß auch auf die Architektur über; in ihr war, wie wir gesehen, die
Form zugleich der genaue, vollendete Ausdruck des structivcn Schemas, beide
in eine Einheit aufgegangen, in der sie sich deckten. Und die Einheit eben war
die Gestalt des Baus. Wo aber das Leben erweitert und verwickelt, um¬
getrieben durch das rastlose Räderwerk neuer mannigfaltiger Bedürfnisse und
Interessen jener Harmonie und Einfachheit entbehrt, da ist auch diese Einheit
zersprengt. Die Kunst entspricht dann nicht mehr ohne Weiteres der Wirklich¬
keit, die sie nicht ohne Rest in sich zu fassen vermag; die Architektur greift
wohl auch für ihre größeren umfassenderen Aufgaben noch nach den griechischen
Bauformen, aber indem sie dieselben für ihre neuen Zwecke mit neuen Elementen
verbindet und in neue Combinationen bringt, muß sie andrerseits auf die
charaktervolle Einheit jener Formen mit der Construction verzichten. Und so
wird jeder engere Anschluß an die griechische Bauweise kaum fähig sein, dem
ganz anderen Leben der Neuzeit seinen architektonischen Leib zu schaffen. Denn
die neugefundenen Bauformen späterer Zeiten, deren wir nicht entrathen können,
lassen sich organisch in das abgeschlossene System der Griechen nicht aufnehmen;
und wollte man dieses selber den modernen Bauausgaben entsprechend ausdehnen,
so würde das Band jener Einheit zerrissen und dennoch diese Aufgaben ihre
volle Lösung nicht finden. Das war es auch, was der Richtung Schinkels,
soweit sie sich enger an die griechische Kunstweise zu halten suchte, die Zukunft
abschnitt. Nachbilden wollte er nicht, sondern die griechische Bauart aus dem
tieferen Verständniß ihres Wesens „auf die Bedingungen der neuen Weltperiode
erweitern". Dies Letztere war überhaupt nicht möglich oder nur so, daß er
auf die classische Einfachheit und den bezeichnenden Hauptzug der griechischen
Architektur, Kunstform und Construction in Eins zu bilden, doch wieder ver¬
zichtete und hingegen das Eigenthümliche der römischen Bauart herzuzog.
Allerdings bemühte er sich, die Verwerthung der classischen Formen in strengerer
und der antiken Gesetzmäßigkeit mehr angepaßter Weise durchzuführen, als es
die Renaissance gethan. Aber diese Versuche, so achtungswerth sie waren,
blieben das vereinzelte Ergebniß der besonderen Phantasie des Architekten, und
so wenig diese auf seine Schule übergehen konnte, so wenig vermochten jene
die moderne Anschauung und das moderne Bedürfniß ganz zu befriedigen.
Wozu auch erst suchen, was die Zeiten in ihrem geschichtlichen Ver¬
laufe und daher erfüllt, getragen von der Kraft des allgemeinen Lebens schon
gefunden haben: nämlich die künstlerische Gestalt für die neuen Bedürfnissemit
Hilfe der classischen Formen? Rom war es ja, welche die griechische Architek¬
tur in sich aufnahm und mit ihren immergiltigen Elementen Rundbogen- und
Gewvlveformen verbindend, die Bauzwecke eines die Welt umfassenden Reiches
zu befriedigen wußte. An Rom knüpfte dann die Renaissance an, um dem
modernen Geiste, "als er aus dem Jenseits auf diese Welt zurückgekehrt von
ihr wieder Besitz ergriff, die künstlerische Stätte zu bereiten für ein echtmensch¬
liches Leben. So ist uns, wie ein früherer Artikel auseinandersetzte, durch die
Renaissance der Weg vorgezeichnet, den die bauende Gegenwart zu gehen
hat, sie hat zugleich die Brücke geschlagen, auf welcher die Antike in die
Architektur unseres Jahrhunderts einzieht. Das soll uns freilich nicht hindern,
zugleich zu der ewig giltigen Norm, dem läuternden Maß der griechischen
Formen zurückzugreifen, um an der sicher führenden Hand ihrer gesetzmäßigen
Schönheit und Klarheit die Renaissance fortzubilden. Diese aber hat die künst¬
lerische Gesammtform geschaffen, die auch unser Leben in sich zu fassen vermag.
Denn sie hat dem ersten Gesetz aller architektonischen Kunst auch für
unsere Zeit den treffenden Ausdruck gegeben: dem nämlich, daß nicht —
wie nun das Vorurtheil fast aller Gebildeten dieser nüchternen Zeit ist —der
Kunstbau blos die Construction als solche deutlich auszusprechen
habe, sondern vor allem der freie Schein eines künstlerischen Or¬
ganismus ist, entfesselt von dem Bedürfniß, soweit es der Kunst widerstrebt,
ein harmonisches Ganze schöner Formen, beschlossen in sich wie die lebendige
Gestalt, das die Arbeit der Construction und die Prosa des Zwecks in ein ge¬
diegenes Festgewand hüllt, in dem die Bestimmung des Baus und die innere
Naumanlage wohl ausgesprochen sind, aber erhoben zugleich in die Freiheit
Die Mutaziliten oder die Freidenker im Islam. Ein Beitrag zur all¬
gemeinen Culturgeschichte von Heinrich Steiner, Leipzig, 1865. 1l0 S. Octav.
Dies ebenso gründliche wie gewandt geschriebene Buch führt uns die Bestre¬
bungen einer der wichtigsten von den vielen spurlos untergegangenen Sekten des
Islams vor. Die Mutaziliten verdanken ihre Entstehung einer Reaction des gesunden
Menschenverstandes gegen die Kirchenlehre, und man hat sie daher mit Recht als
Rationalisten des Islam bezeichnet. Der Hauptpunkt ihrer Lehre ist die Behaup¬
tung der menschlichen Willensfreiheit^, von der aus sie zu mancherlei Konsequenzen hin¬
sichtlich der Natur Gottes getrieben wurden, welche von der herrschenden Lehre stark
abwichen. Eine ihrer wichtigsten Behauptungen ist ferner die, daß die heil. Schrift
nicht, wie die Orthodoxen behaupteten, Gott immanent und ewig, sondern geschaffen
sei. Die im Koran herrschende Inconsequenz und Unklarheit gab ihnen manche
Beweise sür ihre Sähe in die Hände. Muhammed war nichts weniger als ein
Meister im systematischen, abstracten Denken; der absoluten Unverträglichkeit zwischen
Prädestination und menschlicher Freiheit war er sich so wenig klar bewußt geworden,
wie manche andere Religionslehrer, daher er denn im Koran oft jene betont, nicht
selten aber, wenigstens indirect, auch für diese spricht. Die verschiedenen Parteien
hielten sich nun an die ihnen günstigen Stellen und beseitigten die andern durch
sophistische Auslegckünste. In solchen haben denn auch die Mutaziliten noch Grö¬
ßeres geleistet, als unsere Nationalisten. Wie diese hielten! sie an ihrer heil. Schrift fest
und handelten im guten Glauben, wenn sie ihre abweichenden Meinungen jener unter¬
legten. Freilich wurden die Mutaziliten durch die Konsequenzen ihrer Lehrennach und
nach mehr vom Boden des Positiven Islam weggedrängt, und bei einigen ihrer bedeu¬
tendsten Männer ist es möglich, daß ihr Glaube an den Koran nur eine Maske war.
Die Mutaziliten sind nie sehr zahlreich gewesen; sie haben im Grund mehr
eine theologisch-philosophische Schule gebildet, als eine religiöse Sekte. Ein gün¬
stiges Zeichen ihrer geistigen Selbständigkeit ist es, daß sie es zuerst unternahmen,
die kaum bekannt gewordene griechische Philosophie zu benutzen, um ein systemati¬
sches Lehrgebäude aufzustellen und mit scharfer Dialektik zu vertheidigen. Freilich
lernten ihnen ihre Gegner diese Künste bald ab.
Die Werke der Mutaziliten sind fast vollständig verloren; die Rechtgläubigen
haben für ihre Vertilgung gesorgt. Doch ist uns immer noch ein ziemlich ausrei¬
chendes Material erhalten, um von ihren Lehren eine klare Anschauung zu ge¬
winnen. Der Verfasser hat alle Quellen, deren er habhaft werden konnte, mit
Umsicht und Gründlichkeit benutzt und die Ergebnisse seiner Studien klar und
übersichtlich dargestellt. Das vortreffliche Buch ist durchaus geeignet, Leser, welche
sich für die geistige Arbeit vergangener Epochen interessiren, zu fesseln, selbst wenn sie
keine Orientalisten von Fach sind.
'
Der Verfasser hätte vielleicht gut gethan, wenn er die wenigen Bemerkungen,
welche blos sür Fachmänner bestimmt sind, ganz ausgeschieden und anderweitig ver¬
öffentlicht hätte; doch bemerken wir ausdrücklich, daß diese von dem Nichtorientali-
sten ohne Nachtheil überschlagen werden können.
Die Übersetzung der Stellen aus arabischen Schriftstellern ist sehr gewandt
und geschmackvoll, weit entfernt von der Wörtlichkcit, durch welche Haarbrücker es
so sehr erschwert hat, seine Übersetzung des wichtigen Qucllenwcrks von Schahrastani
über die Religionssekten und Philosophenschulen, das auch dem Verfasser eine Haupt-
quelle war, zu verstehn.
Aus der griechisch-römischen Periode des jüdischen Volkes von Alexander
bis zur Zerstörung Jerusalems sind uns mehre literarische Producte erhalten,
welche nur als Romane bezeichnet werden können. Erzählungen, welche nicht
unter dem Einfluß der Nationalsage, sondern frei nach der dichtenden Willkür
der Versasser gebildet sind und sich höchstens in einigen Einzelheiten an eine
Ueberlieferung halten. Abgesehen von einzelnen romanhaften Partien in
Schriften anderer Gattung aus dieser Zeit — ich erinnere nur an Einiges im
Buch Daniel, namentlich das prachtvolle fünfte Capitel — können wir hier vier
Bücher nennen: Esther. Tobie*), Judith und das Buch des Aristeas. Ich
führe die Bücher nach der muthmaßlichen chronologischen Ordnung auf. Von
ihnen sind Esther und Judith ursprünglich hebräisch geschrieben, und dem Um¬
stände, daß ersteres Buch früh als kanonisch galt, verdanken wir die Er¬
haltung des Originals, während uns Judith nur in griechischer Uebersetzung
vorliegt. Daß auch Tobie zuerst hebräisch oder aramäisch geschrieben war, wie
man gewöhnlich behauptet, bestätigt die nähere Untersuchung nicht, welche den
uns vorliegenden griechischen Text als den ursprünglichen ausweist.
Von den genannten Romanen steht das Buch Tobie bei weitem am höchsten;
das Buch Judith ist ein immer noch ehrenwerthes Erzeugnis; der makkabäischen
Heidenzeit, dagegen stehen die beiden anderen auf einer viel niedrigeren Stufe.
Indem ich mir vorbehalte, das edlere Paar einmal später zu behandeln,
wollen wir uns diesmal auf eine Besprechung der beiden anderen Bücher
beschränken.
Da das Buch Esther als kanonisch in jedem Exemplar des alten Testa¬
mentes steht, so ist vorauszusetzen, daß sein Inhalt den Lesern dieser Blätter
bekannt ist. Um jedoch ihrem Gedächtniß etwas zu Hilfe zu kommen, wollen
wir kurz die Hauptzüge der Erzählung darstellen.
Der König Ahasveros von Persien verstößt seine Gemahlin Vasthi, weil
sie sich geweigert hatte, auf seinen Befehl bei einem öffentlichen Zechgelage in
der Hauptstadt Susan allem Volke ihre Schönheit zu zeigen. Die Jüdin Esther,
die Nichte eines gewissen Mardochai, hat das Glück, unter allen Schönheiten
welche aus dem ganzen Reich zusammengesucht sind, dem König am besten zu
gefallen und zur Nachfolgerin der Verstoßenen erhoben zu werden. Ihr Oheim
entdeckt bald darauf eine Verschwörung gegen das Leben des Königs; die
Uebelthäter werden aufgehängt und Mardochais Verdienst wird in die Reichs¬
chronik eingetragen.
Darnach macht der König den Haman, einen Mann aus dem Königs¬
geschlecht der von Urzeit her mit Israel verfeindeten Amalekiter zum obersten
Minister. Mardochai versagt ihm die übliche und vom König noch besonders
allen anbefohlene Ehrenbezeugung, sich vor ihm niederzuwerfen (?ryos^t^).
Haman will seinen Zorn darüber an Mardochais ganzem Volk auslassen; er
verlangt vom König einen Befehl, daß am 13. des Monats Adar alle Juden
im ganzen Lande umgebracht werden sollen.
Durch ihren Oheim erfährt die Königin Esther von dem Edict. Da die
Todesstrafe darauf steht, wenn sich irgend jemand unberufen zum König begiebt,
es sei denn, daß derselbe sofort durch Berührung mit seinem Scepter das
Zeichen der Begnadigung gebe, so macht sie anfangs Schwierigkeiten, sich für
ihr Volk zu verwenden; doch entschließt sie sich endlich und geht, nachdem sie
selbst mit ihren Mägden ebenso wie die andern Juden in Susan drei Tage
gefastet hat, zum König. Da er sie gnädig aufnimmt, bittet sie ihn, er möge
morgen mit Haman bei ihr speisen. Bei dem Mahle bittet sie den König,
der nach ihrem eigentlichen Begehren fragt, am andern Tage mit Haman wieder¬
zukommen.
Unterdessen ist Haman wieder erboßt über Mardochai und errichtet auf den
Rath seines Weibes einen 50 Ellen hohen Galgen für ihn. Der König aber
läßt sich, weil er nicht schlafen kann, in der Nacht aus der Reichschronik vor¬
lesen und kommt dabei auf das schon vergessene und, wie er erfährt, noch un°
belohnte Verdienst Mardochais bei der Entdeckung der Verschwörung. Als nun
Haman in aller Frühe erscheint, um sich die Erlaubniß zum Aufhängen Mar¬
dochais zu erbitten, fragt ihn der König, was man dem Manne thun solle,
den der König liebe. In dem Wahn, der König meine ihn selbst, nennt
Haman hohe öffentliche Ehren und sieht sich nun gezwungen, den Mardochai im
Triumphzug durch die Stadt zu führen.
Dies ist der Anfang zum Falle Hamans, wie es sein Weib sogleich ahnt.
Bei dem Mahle bittet Esther, welche ihre jüdische Abkunft auf den Befehl ihres
Oheims bis dahin verborgen hatte, ihr und ihrem Volke das Leben zu schenken.
Der König wird über Hamans Bosheit aufgeklärt, und da Haman in seiner
Angst noch die Unschicklichkeit begeht, der Königin, die er um sein Leben bitten
will, zu nahe zu kommen, befiehlt der König, ihn sogleich an den Galgen zu
hängen, den er für Mardochai ausgerichtet. Letzterer wird an seiner Statt oberster
Minister. Aufs neue wagt die Königin ihr Leben, indem sie sich ungerufen
zum König begiebt, um ihn um Rettung für ihr Volk anzuflehn. Dieser giebt
ihr und Haman Vollmacht, in dieser'Sache zu beschließen, was ihnen gut
dünkt. So erlassen sie denn ein Edict im Namen und mit dem Siegel des
Königs, daß die Juden gerade an dem zur Vertilgung angesetzten Tage, dem
13. Adar, alle ihre Feinde mit Weib und Kind ausrotten und ihre Habe plündern
sollen. Dies Edict erregt überall Schrecken; viele gehn aus Furcht zum Juden-
thum über. Von den königlichen Beamten unterstützt metzeln die Juden 73,000
Feinde im ganzen Reich nieder, berühren aber die Beute nicht. In Susan
selbst tödten sie S00 und, da der König der Esther einen zweiten Tag der Rache
bewilligt, am 14. Adar noch fernere 300 Mann; die am ersten Tag getödteten
Söhne Hamans werden an den Galgen gehängt.
Der Tag nach der Metzelei wird als Freudenfest gefeiert, und auf Mardo-
chais und Esthers Anordnung soll dieses Fest später immer gefeiert werden, den
14. auf dem Lande, den Is. in den Städten. Das Fest wird Purim, die
„Loose". genannt, weil Haman den Vertilgungstag durchs Loos bestimmt hatte.
Mardochai schreibt die Geschichte aus. Ein kurzes Schlußwort hebt noch
die Macht des Königs Ahasveros hervor.
Dies Buch tritt ganz mit der Affectation auf, ein echtes Geschichtswerk
zu sein. Ueberall werden Jahreszahlen und Daten genannt; genaue Angaben
von Zahlen und Namen, die mehrmals in langen Reihen aufgeführt werden,
die Verweisung auf „die Chronik der Könige von Medien und Persien" am
Schluß des Buches, ja sogar die Anfangsworte „Und es geschah", durch welche
das Buch an die historischen Bücher des Alten Testaments angeknüpft werden
soll, sind solche Mittel, den Schein den geschichtlichen Treue hervorzurufen.
Und so hat man sich denn auch seit alten Zeiten täuschen lassen, und unsre
Buchstabengläubigen müssen auch jetzt noch die Geschichtlichkeit des Buches auf¬
rechterhalten, weil es den Juden beliebt hat, es in ihren Kanon aufzu¬
nehmen.
Wie durch und durch unhistorisch aber das Buch ist, geht schon aus unsrer
Analyse hervor, und eine genauere Betrachtung desselben bestätigt die Fabel-
haftigkeit desselben noch mehr. Das Buch wimmelt von UnWahrscheinlichkeiten
und Unmöglichkeiten. Wir wollen nur einige davon auszählen. Mardochai,
welcher nach 2, 6 mit König Jojachin (kurz nach 600 v. Chr. Geb.) von
Jerusalem ins Exil geführt ist, wird im siebenten Jahre des Königs Xerxes
(denn das ist Ahasveros, siehe unten) Minister, also in einem Alter von über
120 Jahren! Wenn der Ausdruck „Oheim" streng zu nehmen ist, so müßte auch
Esther, als sie Königin ward, eine bejahrte Frau gewesen sein; doch brauchen
wir das Wort wohl nicht so streng zu nehmen, obgleich alte jüdische Erklärer
nicht vor der Lächerlichkeit zurückgescheut sind, sie vorher 7S Jahre im Hause
ihres Oheims wohnen zu lassen. Durchaus unwahrscheinlich ist es. daß die
Königin sich nicht einmal beim König anmelden lassen oder ihm wenigstens
eine schriftliche Botschaft übersenden durfte. Daß Esther zum zweiten Mal ihr
Leben in Gefahr begiebt, um dem König etwas mitzutheilen, was sie ihm gleich
selbst oder durch Vermittlung des inzwischen zur höchsten Macht gelangten
Mardochcii hätte sagen können, geschieht nur, um ihren Heldenmuth ins gehörige
Licht zu setzen, ist aber ebenso sehr gegen alle Wahrscheinlichkeit, wie daß sie
dem König nichts von ihrer jüdischen Abkunft sagen darf, ein Umstand, der
aber für den Erzähler nöthig war, um der Bitte Esthers für sich und ihr Volk
den nöthigen Effect zu geben. Man rühmt vielfach die genaue Kenntniß der
Sitten des persischen Königshofs, weiche das Buch enthalte, ohne zu bedenken,
daß die hier gegebne Schilderung, soweit sie geschichtlich ist, auf alle großen
Höfe des alten Asiens paßt, während so grobe Verstöße gegen das Costüm,
wie der fortwährende Verkehr des draußen sitzenden Juden Mardochai mit der
Königin im Serail, unbeachtet bleiben. Und so könnten wir noch mehre kleine
durchaus unhistorische Züge angeben; wir wollen uns aber mit der Hauptsache
begnügen: wenn schon der Befehl zur Ausrottung der Juden im ganzen Reich
undenkbar ist. wie kann man gar an einen solchen Unsinn glauben, daß es
den Juden verstattet sei, 75,000 Unterthanen des Königs niederzumachen?
Dieser Umstand, der doch die Pointe der ganzen Erzählung ist, entscheidet schon
hinlänglich für ihre Ungeschichtlichkeit.
Ich füge hinzu, daß die ganze Entwicklung der Geschichte romanartig ist.
Jedes neue Moment muß gerade in dem Punkt eintreten, wo der Erzähler
es braucht. Trotz der genannten UnWahrscheinlichkeiten ist die Disposition und
die Darstellung in mancher Hinsicht gar nicht ungeschickt. So ist es z. B.
ganz fein, daß die Ehrenbezeugungen, welche Haman dem Mardochai zu er¬
zeigen gezwungen ist, die bevorstehende Umkehr der Verhältnisse als Omen
andeuten. Einige Scenen sind recht hübsch erzählt, namentlich das zweite
Gastmahl der Esther, in der Hamans Bosheit entdeckt und sofort bestraft wird.
Der Verfasser verläugnet übrigens seinen orientalischen Geschmack nicht. Die
für die Erzählung ziemlich gleichgiltige, Schilderung der Pracht des königlichen
Gelages, welche das Buch eröffnet, ist ihm eine wichtige Sache. Die orien¬
talische Freude an großen Zahlen, welche er auch sonst zeigt, tritt gleich hier
hervor: 180 Tage bewirthet der König die.Großen des Reichs und dann noch
7 Tage die Bürger seiner Hauptstadt! Aehnlich ist es, wenn es heißt, daß die
Mädchen, welche zum König geführt werden sollen, sich 12 Monate vorher
schmücken müssen.
Ob der Erzählung irgend etwas Geschichtliches zu Grunde liegt, ist nicht
sicher zu sagen. Der Name Ahasveros deutet allerdings darauf; denn derselbe
ist, wie jetzt allgemein anerkannt wird") identisch mit Xerxes. Möglich ist
immerhin, daß dieser eine Jüdin Esther in sein Serail aufgenommen und daß
diese mit Erfolg für ihr Volk gewirkt hat, aber das Einzelne entzieht sich
durchaus unserer Forschung. Die Erzählung, wie sie ist, hat durchaus keinen
Anspruch darauf, irgendwelchen historischen Combinationen zum Anhaltpunkt
dienen zu dürfen. Auch die vielen Eigennamen sind nicht zu gebrauchen; denn
während ein Theil derselben entschieden Persisch ist, haben manche ein sehr ver¬
dächtiges Ansehn: sie machen im Ganzen den Eindruck, als habe der Verfasser
nach dem Vorbilde von persischen Namen, die zu seiner Zeit in ganz Vorder-
asien weit verbreitet waren, andere selbst gebildet, in der Weise, wie auch wohl
moderne Romanschreiber und Dichter sclbstgebildcte orientalische Namen auf¬
treten lassen.
Der Verfasser hatte den Zweck, die Feier des Purimfcstes zu begründen
und allen Juden zu empfehlen. Ob die Einsetzung dieses dem Pentateuch
fremden Gesetzes mit einer Errettung vieler Juden aus großer Lebensgefahr
zusammenhängt, ist sehr zweifelhaft; jedenfalls können wir so viel sagen, daß die
Veranlassung dieses Freudenfestes nicht die hier genannte war. Der Verfasser
setzt übrigens voraus, daß dies Fest zu seiner Zeit schon von sehr vielen Juden
gefeiert zu werden Pflegte (9, 19); wenn es daher scheint, als wollte er an
einigen Stellen (9, 20, 30. 32) sein Buch für ein Werk des Mardochai selbst
ausgeben, so steht das im Widerspruch mit jener Voraussetzung. Die An-
deutungen über den Zweck des Buches bringen übrigens in den Schluß gegen¬
über der sonst sich rasch abwickelnden Erzählung einige Ungleichförmigkeit, welche
in neuerer Zeit zu der unrichtigen Meinung Veranlassung gegeben hat, hier
seien fremde Bestandtheile eingeschoben.
Die Abfassungszeit läßt sich nicht genauer augeben. Auf jeden Fall ist
das Buch nach dem Untergang des persischen Reichs geschrieben, da auf dieses
mit seinen 127 Provinzen, die sich von Indien bis Aethiopien (Luther: Mohren¬
land) ausdehnen, schon durchaus wie auf ein Reich der Vergangenheit hingewiesen
wird. spätestens gegen Ende des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts ward das
Buch ins Griechische übersetzt aus einer Handschrift, die vielerlei Verderbnisse zeigt,
so daß sie von der UrHandschrift schon ziemlich weit abstehn mußte. Die Periode,
in welche wir das Buch mit Wahrscheinlichkeit setzen können, begrenzt sich also
ungefähr durch die Jahre 300 und 200 vor Chr. Geb. Die stark mit aramäischen
Elementen versetzte Sprache paßt sehr gut zu dieser Bestimmung.
Der Mangel alles ethischen und religiösen Geistes in dem Buche mußte
schon früh Anstoß erregen. Man hat bereits bemerkt, daß die einzige Person
desselben, welche sich durchaus untadlig benimmt, die Königin Vasthi ist, welche
sich nicht zu einer rohen Verletzung aller Anstandsrücksichten verstehn und vor
den trunkner Unterthanen ihre Schönheit zeigen will; sie wird dafür verstoßen!
Der König wäre vortrefflich gezeichnet, wenn der Verfasser ihn als Muster
eines unfähigen Despoten hätte schildern wollen, aber das ist gar nicht seine
Absicht; er findet das Benehmen des großen Königs ganz in der Ordnung.
Freilich haben die Morgenländer von jeher nur zu viel Gelegenheit gehabt,
solche Fürsten kennen zu lernen, und wir dürfen daher gar kein Gewicht darauf
legen, daß das hier von Ahasveros entworfene Bild dem uns aus der Geschichte
bekannten des Xerxes sehr ähnlich ist: auf wie viele andre orientalische Fürsten
paßt dasselbe Bild ebenso gut! Esther verscherzt die Anerkennung, die sie durch
ihre Aufopferung für ihr Volk gewinnt, durch ihre wilde Blutgier; namentlich
die Bitte um einen zweiten Tag der Rache ist entsetzlich. An Mardochai könnte
jemand, welcher mit den Sitten des alten Orients nicht bekannt, ist, den
freien Sinn loben, mit dem er dem Haman die demüthigende Begrüßung ver¬
weigert, aber in Wirklichkeit ist dies nur ein alberner, ganz unmotivirter Trotz.
Denn wenn der freie Grieche die Begrüßung eines Mächtigen durch Nieder¬
werfen des ganzen Körpers für unmännlich hielt, so war eine solche Verehrung
unter den Orientalen seit der Urzeit ganz bekannt; die alten hebräischen Ge¬
schichtsbücher setzen diese Sitte überall voraus, und die Verweigerung der
Proskynesis gegen Haman neben dem Königspalast bedeutet etwa soviel, als
wollte jemand unter uns in der Antichambre des Fürsten vor seinem
höchsten Minister den Hut auf dem Kopf behalten. Im alten Orient wäre
einem, der sich wie Mardochai benommen hätte, sofort der Kopf zu den Füßen
gelegt worden und kein Huhn und Hahn hätte darnach gekräht. Die blutige
Rachgier theilt dieser Held unsrer Geschichte mit der Hauptheldin.
Von echt religiösem Sinn ist im Buch Esther keine Spur vorhanden. Daß
die Juden fasten, als sie das ihnen bevorstehende Unglück vernhmen, ist die einzige
Andeutung von Religion. Die herrliche religiöse Begeisterung, welche nicht
blos die prophetischen, sondern auch die poetischen und geschichtlichen Bücher
des Alten Testaments durchweht, ist hier ganz der nationalen Selbstsucht und
dem Haß gegen die Fremden gewichen. Es ist schon oft bemerkt, daß in dem
ganzen Buche das Wort „Gott" nicht vorkommt; bei einem Buche, das zur
Empfehlung eines religiösen Festes geschrieben ist, ist das wahrlich bezeichnend!
Aus diesen Gründen ist es zu erklären, daß die Heiligkeit und Göttlichkeit
des Buches Esther von Alters her wiederholt bezweifelt ist. Von Widerstand
innerhalb der jüdischen Gemeinden haben wir nur dünne Kunde, aber aus
den ersten christlichen Jahrhunderten haben wir ausdrückliche Zeugnisse, welche
das Buch unter die Apokryphen verweisen. Noch Luther, dessen gesunder Sinn
ihn so oft zur Inconsequenz gegen seine starren dogmatischen Sätze verführt,
erklärt sich in starken Ausdrücken gegen das Buch, und alle spätern Gelehrten
unbefangenen Sinnes stimmen in dieser Hinsicht mit ihm überein.
Desto höher ist das Buch immer bei den Juden geachtet worden. Es schmeichelte
der Nationaleitelkeit im höchsten Grade, schon weil es einen jüdischen Minister,
eine jüdische Königin, noch dazu von unendlicher Schönheit, und eine schmach¬
volle Niederlage der Feinde enthielt; an einem solchen Bilde erfreute sich das
Volk in seiner Schmach und Erniedrigung, die wilde Rachgier, die das Buch
durchweht, empfanden sie ja alle selbst. Und dazu kam, daß man durch das
Buch eine Urkunde über ein Fest bekam, dessen Feier schon um sich gegriffen
hatte, und dessen Einsetzung man in den heiligen Büchern schmerzlich vermißte.
Das Buch ist daher mit dem Purimfeste zugleich früh angenommen und für
kanonisch gehalten; von Widerstand dagegen haben wir, wie gesagt, nur dunkle
Kunde. Die spätern Juden haben das Buch an Werth unmittelbar neben
den Pentateuch gestellt, über alle die herrlichen Propheten, Dichter und Geschichts-
schreiber! Je trauriger der Zustand Israels war, desto inbrünstiger umfaßte
man das Buch von der jüdischen Königin. Von den Juden ist es den Christen
als kanonisch überliefert worden und steht trotz der vereinzelten Bestrebungen
dagegen noch immer in der h. Schrift.
Der romanhafte Charakter des Buches Esther bewährte sich übrigens noch durch
die wilden Schößlinge, welche es trieb. Die griechische Uebersetzung, welche
nach ^der, leider nicht ganz klaren, Nachschrift wahrscheinlich im Jahre 114")
verfaßt ist, enthält mehrere Zusätze, welche den Charakter der Erzählung zum
Theil nicht unwesentlich verändern. Diese Zusätze zerfallen in zwei Classen:
Wir haben mehre Zusätze inj ebenso hebraisirender Sprache, wie die Ueber¬
setzung des Textes. Ich halte es für nicht unmöglich, daß diese Zusätze einst
auch hebräisch vorhanden waren und von dem Uebersetzer mit dem Original
zugleich übertragen sind. Diese Zusätze sind zum Theil reine Ausschmückungen,
welche den Roman noch mehr verschönern sollten, z. B. der Traum des Mardochai,
der diese Ereignisse der Erzählung vorher abspiegelt, zum Theil aber dienen
sie dazu, einiges Auffällige im Text zu erklären. So ist hier namentlich das
Bestreben sichtbar, etwas Frömmigkeit in das Buch zu bringen, daher wir
denn Gebete Mardochai's und Esthers lesen und den Namen Gottes oft gebraucht
finden; so steht hier auch eine Entschuldigung des unehrerbietigem Benehmens
Mardochai's gegen Haman aus religiösen Gründen. Zum Theil stehn diese
Zusätze übrigens im Widerspruch mit der Geschichte selbst. So heißt es z. B.
in dem Zusatz am Anfang, daß Mardochai für die Entdeckung des Mordan¬
schlages vom König reich belohnt sei, wodurch ein wesentlicher Zug der Ge¬
schichte vernichtet wird. Nach dieser hat sichs ferner Esther zur höchsten Ehre
anzunehmen, daß sie Königin wird; die strenge jüdische Gesetzlichkeit, welche mit
gutem Fug eheliche Verbindungen zwischen Juden und Heiden verbot, mußte
hieran Anstoß nehmen, und so sagt denn Esther in einem der eingeschobenen
Gebete, daß sie nur gezwungen das Lager des verabscheuten Unbeschnittenen
theile. Und so zeigt sich durchgängig, daß wir hier spätere Zusätze haben.
Von ganz anderm Charakter sind zwei eingeschobene Briefe des Königs.
Dies sind rhetorische Uebungen eines Juden, der ohne Zweifel schon ursprüng¬
lich Griechisch schrieb. Obgleich bombastisch und breit, sind sie doch in ziem¬
lich gutem Griechisch abgefaßt. Eigenthümlich ist ihnen die Polemik gegen die
Macedonier. Es heißt hier, Haman habe die Herrschaft von den Persern an
die Macedonier bringen wollen. Man bedenke hier die mancherlei Reibereien
zwischen den egyptischen Juden und Griechen, welche letztere sich immer noch
gern Macedonier nannten.
Daß der Uebersetzer das Buch übrigens noch nicht mit religiöser Scheu
betrachtete, sehn wir an der Ungenirthcit, mit der es behandelt. Er setzt hin¬
zu, verkürzt und verändert nach Gutdünken, und da seine sehr geringen
hebräischen Kenntnisse ihn zu zahlreichen Fehlern verführten und ihm wahr¬
scheinlich eine vielfach verderbte Handschrift vorlag, so entstand ein Werk, das
seinem Urtext sehr wenig entspricht und unter allen den zahlreichen griechischen
Übersetzungen alttestamentlicher Bücher, wenn man die des Buchs Daniel aus¬
nimmt, die schlechteste ist. Hierzu kamen nun noch die Zusätze der zweiten
Art. In dieser Gestalt las es Josephus, der in seiner platten Weise dem
griechischen Text nachschreibt, indem er mit leiser Hand an Form und In¬
halt bessert.
Diese griechische Gestalt wurde nun später noch wieder einmal ganz will¬
kürlich umgearbeitet. Vieles ward verändert und umgestellt, sehr Vieles ver¬
kürzt. An einigen Stellen fügte der Bearbeiter ganz fabelhafte Zusätze hinzu,
wie z. B. daß Mardochai auf seinem Triumphwagen unsichtbar gewesen sei.
An einigen Stellen sind ihm lächerliche Mißverständnisse seines griechischen Textes
begegnet.
Beide griechische Bearbeitungen sind zwar in den Handschriften vielfach ver¬
mischt, doch gelingt es, sie wieder auszuscheiden.
Die Zusätze zu Esther sind von Hieronymus, der sehr geringschätzig von
ihnen spricht, mit Recht aus dem Text geworfen und ans Ende gestellt. Luther
hat sie ganz abgesondert und unter die Apokryphen verwiesen, für welche sie immer
noch zu schlecht find^ wenn sie auch nicht gerade so albern sind, wie die meisten
Zusätze zu Daniel.
Bei den palästinischen Juden war natürlich an eine derartige willkürliche
leichtfertige Behandlung des heiligen Textes nicht zu denken. Die Schößlinge,
welche die Geschichte trieb, konnten hier nur in Erklärungsschriften und Para¬
phrasen wuchern. Am' deutlichsten treten sie in den aramäischen Paraphrasen
(Targums) auf. Wir haben drei Targums des Buches in einer ziemlich ein¬
fachen Uebersetzung, ferner eine Erweiterung derselben durch viele Zusätze und
dann noch eine besondere abenteuerlich ausgedehnte Umschreibung. In diesen
Zusätzen zur Geschichte wuchert die wildeste Phantasie, von allen Banden der
Vernunft und des Geschmacks gelöst, und dabei zeigt sich doch derselbe Auf¬
wand von spitzfindigen Scharfsinn, wie in so vielen jüdischen Schriften. Als
Beispiele für diese Zusätze möge, nebst einem Hinweis auf die oben gegebene
Ansicht über Esthers Alter, genügen, daß sich Ahasveros in drei Jahren seinen
Thron durch Architekten aus Alexandrien bauen läßt nach dem Muster des sa¬
lomonischen, den er in seiner Gewalt hat. aber auf dem er (man sieht nicht
weshalb) nicht zu sitzen vermag, und daß die Feindschaft Hamans mit davon
abgeleitet wird, daß seine Tochter bei der Candidatur um die erledigte Stelle
Vasthis ausgeschlossen ist, weil sie sich durch göttliche Einwirkung unanständig
aufführte. Der rabbinische Scharfsinn wird aufgeboten bei der Berathung der
hamanschen Familie über die Art, auf welche Mardochai umzubringen sei,
wobei sie eine überraschende Kenntniß der heiligen Schrift zu erkennen geben.
Daß natürlich Gebete eingeschaltet und Gott und Engel in Bewegung gesetzt
werden, versteht sich von selbst.
Uebrigens muß ich wiederholt darauf hinweisen, daß solche Schriften keine
kirchliche Autorität hatten und immer nur neben dem Urtext gebraucht wurden,
während bei den Griechen die so sehr veränderte Uebersetzung das Original
ganz vertreten mußte.
Das Buch enthält den Bericht des Aristeas, eines Hofmannes Königs
Ptolemäus II. Philadelphias (284 — 247) an seinen Bruder Philokrates über
die von ihm mit veranlaßte Uebersetzung des Pentateuchs ins Griechische.
Das ganze Buch ist daher in Briefform eingekleidet. Der Inhalt ist im Aus¬
zuge folgender:
Der berühmte Demetrius Phalereus hat als Bibliothekar des Philadelphus
zwar eine erstaunliche Masse von Büchern zusammengebracht, aber es fehlen
ihm noch manche. Er stellt dem König vor, daß das Gesetzbuch der Juden
auch verdiente, in die Bibliothek aufgenommen zu werden; es müsse aber erst
übersehe werden. Der König sagt, er wolle sich wegen der Uebersetzung an
den hoben Priester wenden. Die günstige Disposition des Königs benutzt der
anwesende Aristeas, den König um die Freigebung der hunderttausend Juden zu
bitten, welche sein Vater als Kriegsgefangene nach Aegypten gebracht hat.
Der König geht gern darauf ein, läßt sich die ungeheure Summe berechnen,
welche für den Lossauf nöthig ist, meint, das sei ja nur eine Kleinigkeit, und
bewilligt sie. Es erfolgt ein Decret, welches allen Eigenthümern jüdischer
Sklaven befiehlt, sie gegen eine bestimmte reichliche Entschädigung aus dem könig¬
lichen Schatze frei zu lassen.
Demetrius muß seinen Wunsch wegen der Uebersetzung noch einmal in
einer schriftlichen Eingabe, welche hier mitgetheilt wird, auseinandersetzen.
Der König schickt dann den Verfasser und seinen Leibwächter Andreas als Ge¬
sandte an! den hohen Priester Eleazar nach Jerusalem mit einem Brief, in
dem er diesen unter Berufung auf die seinen Volksgenossen soeben erwiesenen
Wohlthaten bittet, ihm 72 fähige ältere Männer, je 6 aus jedem Stamme,
zur Uebersetzung des jüdischen Gesetzes zu schicken. Der hohe Priester geht
darauf ein, schickt auch eine Gesetzeshandschrift mit goldenen Buchstaben, bittet
jedoch, ihm die Männer nach vollzogener Arbeit zurückzusenden. Die Zwciund-
siebzig werden mit Namen ausgeführt, nach den Stämmen geordnet.
Es folgt eine Beschreibung der prachtvollen Geschenke, welche der König
nach Jerusalem schickt, und eine Schilderung dieser Stadt sowie der Erlebnisse
des Aristeas daselbst; er ist von religiöser Ehrfurcht vor der Pracht des Cultus
und der Weisheit der jüdischen Gesetze, welche ihm der hohe Priester dargelegt
hat. erfüllt.
Der König ist über die Ankunft des Gesandten hoch erfreut; eine glück¬
liche Fügung bringt es mit sich, daß der Tag gerade auch ein Freudentag für ihn
ist, nämlich der Jahrestag eines glänzenden Seefiegs über den Antigonus.^
Der König prüft darauf die Weisheit der an ihn Abgeordneten, indem er
jedem eine Frage vorlegt, auf die er jedesmal die treffendste Antwort erhält.
Dies Examen, welches sieben Tage währt ,und aus philosophischen Fragen
namentlich ethischen und politischen besteht, zeigt, daß die Weisheit der Juden
die der hellenischen Philosophen übertrifft. Der König ist sichtlich zufrieden und
schenkt jedem die Kleinigkeit von 3 Talenten (also im Ganzen über 200,000 Thlr.)
Nachdem sie so bewährt und reichlich bewirthet sind, werden sie nach der
Insel (Pharos) geführt, wo sie in stiller Zurückgezogenheit das große Werk
vollenden. Wenn sie sich über die Uebersetzung einer Stelle geeinigt haben, schreibt
Demetrius sie auf. In zweinndsiebzig Tagen sind sie mit der Übersetzung fertig.
Die alexandrinischen Juden, welche nun um ihr Urtheil befragt werden,
loben die Uebe-rsetzung höchlich und bitten sich eine Abschrift aus. Auf Geheiß
des Demetrius sprechen sie über jeden, der die Uebersetzung durch Zusätze, Ver¬
kürzungen oder Versetzungen verändern wu'rde, den Fluch aus*).
Demetrius muß dem König noch erklären, wie es komme, daß kein grie¬
chischer Schriftsteller das Gesetz erwähne; es sei zu heilig, und Gott habe es
verhindert, daß es früher schlecht übersetzt wäre. Der König ist über den
Verlauf der Sache hoch erfreut und entläßt die Uebersetzer reich beschenkt.
Das Buch giebt sich durchaus als einen authentischen Bericht. Ueberall
werden Namen und Zahlen gegeben, auf bestimmte Ereignisse, die als allgemein
bekannt vorausgesetzt werden, wird angespielt und mehre Aktenstücke stehen
darin in extenso.
Dennoch würde das Buch, wenn es jetzt etwa zum ersten Male ans Licht
träte, sofort als unecht erkannt werden. Im Alterthum war es anders. Von
Philo bis nach der Reformation ist kein Zweifel an seiner Echtheit aufgekommen;
die ersten Gelehrten, welche Zweifel aussprachen, thaten es merkwürdigerweise
aus ganz unkritischen Gründen, weil sie nämlich gewisse Fabeln, welche das
spätere Alterthum noch zu dem hier Erzählten hinzugefügt hatte, darin ver¬
mißten und deshalb schlössen, das Buch könne nicht das von den Kirchenvätern
benutzte sein. Der Erste, welcher mit richtigen Gründen das Buch anfocht, war
der große Jos. Scaliger. Der gesunde Sinn des R. Simon fühlte leicht, daß
der Geist des Buches ein durchaus jüdischer sei. Die Gründe, die er gegen
dasselbe kurz vorbringt, sind solche, wie sie sich einem wissenschaftlich gebildeten,
kritischen Leser unserer Zeit sofort bei der ersten Lectüre aufdringen würden.
Endlich brachte Humphrey Hody das schwere Geschütz zahlreicher historischer
Argumente zusammen, und vernichtete mitleidslos alle Scheingründe, welche
für dasselbe sprachen. Seit dem Erscheinen seines großen Werkes ,,of LibU-
orum töxtidus vriZmalibuL", Oxford 1705, hat niemand mehr die Echtheit
des Aristeas aufrecht erhalten können. Nicht einmal die neuere „conservative
Kritik" hat ein solches Wagstück versucht; hoffen wir, daß sie auch in diesem
Punkte folgerecht fortschreite und das von den Kirchenvätern für echt gehaltene
Werk wieder der vernichtenden Hand der glaubenslosen Kritik entwinde. Es
wäre eine herrliche Aufgabe für einen jungen rostocker oder crlcmger Heißsporn,
ein Buch zu schreiben: of libri ^ristoas aut-Kontia oder Lpistolg, Aristeas,
a eritieastrorum perversitato vir>äieA<A.
Hody operirte wenig mit allgemeinen Gründen, sondern mit ganz bestimmten
historischen Daten. Er zeigt, wie die Chronologie des Buches durchaus fingirt
ist, wie es von groben Verstößen gegen die Geschichte wimmelt. Die so zu¬
versichtlich hingeworfenen historischen Beziehungen zerfallen in ihr Nichts. Ein
einziges Moment, wie das, daß der erwähnte Seesieg des Philadelphia über
Antigonus nie stattgefunden hat, daß Demetrius vom Philadelphus beim
Regierungsantritt abgesetzt und vom Hofe entfernt ist, genügt vollkommen, die
Unechlheit zu begründen, und solche Momente hat Hodvs außerordentliche Ge¬
lehrsamkeit in größter Fülle herbeigebracht.
Das Buch stellt sich uns durchaus als ein Product jüdischer Eitelkeit dar.
Die Juden wurden, auch wo sie nicht gedrückt waren, von den gebildeten
Griechen doch über die Achsel angesehen. In dem Bewußtsein des Besitzes
geistiger Schätze, von denen die Griechen nichts ahnten, fühlten sie sich durch eine
solche Mißachtung gedemüthigt. Die Gebildeteren unter ihnen hatten auch eine
Ahnung von dem Grund derselben; es war die Fremdartigkeit ihrer Gesetze
in Form und Inhalt, welche es einem Griechen von Geschmack unmöglich
machte, an ihnen Gefallen zu finden. So suchten denn einige auch griechisch
geschulte Juden die Schätze ihrer väterlichen Ueberlieferung den Griechen in
Prosa und Versen mundgerecht zu machen. Ein Dramatiker Ezechiel schrieb
etwa um 150 vor Chr. Geb. ein Drama über den Auszug aus Aegypten in
sehr gewandter Sprache, und die Archäologie des Josephus umfaßt den ganzen
Inhalt der historischen Bücher des Alten Testaments in einer dem griechischen
Zeitgeschmack angemessenen Bearbeitung, bei der überall die Absicht durchblickt,
die Juden in einem möglichst vortheilhaften Lichte zu zeigen. Der Verfasser
des Aristeasbuches ging mit noch weniger Skrupeln zu Werke. Sahen die
Griechen den Pentateuch schon wegen seiner vulgären und hcbraisirenden Sprache
mit Verachtung an, so sollten sie nun hören, wie die größten Gelehrten des
berühmten Ptolemciers ihn hochgehalten; lachten sie über die jüdischen Speise-
gesetze, so erfuhren sie hier, wie ein hochgestellter Staatsmann sich von der
Weisheit derselben überzeugt hatte; waren ihnen die ganzen jüdischen Ritual-
und andere Gesetze zuwider, so sahen sie jetzt, daß die größten Staatsmänner
und Philosophen sie bewundert hatten. Und endlich wie hoch hatte der große
König die Juden gehalten, wie hatte er die Gesandten geehrt, den hohen
Priester wie seines Gleichen behandelt, die innigste Freude an ihrem heiligen
Gesetz gehabt und ihre Heiligthümer reich beschenkt: wie verkehrt mußte es er¬
scheinen, wenn man jetzt die Juden social so niedrig stellte! Allerlei Einwänden,
welche man gegen das jüdische Gesetz machen konnte, ward in dem Buche von
vornherein vorgebeugt, freilich nicht immer sehr glücklich, wie die oben gegebene
Andeutung über den Grund der Unbekanntschaft der ältern Griechen mit
jenem zeigt.
Die Liebe zu großen Zahlen und zu prächtigen, übertreibender Schilde¬
rungen finden wir auch in diesem Buche wieder. Die Entwicklung desselben
ist nicht fließend; Schilderungen, Briefe. Unterredungen halten den Gang der
Erzählung aus und machen uns das Buch oft geradezu langweilig. Vielleicht war
aber der Geschmack der Zeitgenossen ein anderer; besonders die 72 philosophischen
Fragen und Antworten, die einen großen Theil des Buches einnehmen, waren
ganz im Schulgeschmack der rhetorisircndcn Philosophen; für uns sind sie sehr
ermüdend.
Historische Grundlagen hat das Buch fast gar nicht. Die Ueber¬
setzung war unter den ersten Ptolemäern von alexandrinischen Juden gemacht;
diese Könige waren große Bücher- und Litcraturfrcunde; daraus combinirte
der Verfasser die Grundzüge der Erzählung. Daß der jüdische Oberpriester die
Uebersetzer bestimmen mußte, gab ihr die religiöse Weihe. Die Zahl der 72 Ael-
testen (je 6 aus jedem der 12 heiligen Stämme) war schon im Pcntateuch ge¬
heiligt (2 Mose 24); auch der hohe Rath in Jerusalem zählte so viele Mitglieder;
d.te Zahl war also besonders passend zur Erhöhung der Heiligkeit dieser Ueber-
setzung. Die Fiction, den Bericht nicht von einem Juden, sondern von
einem vornehmen Heiden ausgehn zu lassen, mußte die Wirkung vergrößern.
Auf den Namen des Aristeas kam der Verfasser vielleicht durch den Umstand,
daß wirklich ein Aristeas über die Juden geschrieben hat, wie wir aus Ale¬
xander Polyhistor (um 60 vor Chr.) wissen; dieser Schriftsteller muß aber be¬
deutend später, als Ptolemäus Philadelphias gelebt haben.
Ob das Buch trotz einer ziemlich guten Sprache auf die Heiden Eindruck
gemacht hat, ist sehr zu bezweifeln. Aber bei den Juden kam es bald zu
Ansehn, denn die Nationaleitelkeit fühlte sich dadurch sehr geschmeichelt.
Philo (um 40 nach Chr. Geb.) weist darauf hin, und wahrscheinlich hat es
schon der Schriftsteller benutzt, der gegen das Ende der Ptolemäerzeit im Namen
des Aristobulus schrieb"). Alles deutet darauf, daß das Aristeasbuch noch
unter den Ptolemäern, aber in der letzten Periode derselben geschrieben ist.
Bei den Juden und bald darauf bei den Christen fand das Buch allgemein
Glauben. Daß die Uebersetzung des Pentateuchs im dritten Jahrhundert (ob
unter Philadelphias oder etwas später, ist ungewiß) von alexandrinischen Juden
zur Befriedigung des religiösen Bedürfnisses im Dialect der jüdischen Masse mit
Beibehaltung der orientalischen Farbe des Originals verfaßt war, wurde ver¬
gessen. Man hielt es für ehrenvoller, daß das übrigens höchst ehrenwerthe
Werk") der literarischen Liebhaberei eines Gelehrten und eines Königs seinen
Ursprung verdankt. Nach und nach knüpften sich an das Aristeasbuch noch
weitere Ausschmückungen. Schon Philo hielt die Uebersetzer für inspirirt;
aus dieser Anschauung entwickelte sich dann die Sage, jeder der 72 Uebersetzer
hätte für sich besonders gearbeitet, und durch göttliche Einwirkung wären die
Uebersetzungen Wort für Wort gleichlautend ausgefallen. Die Alexandriner
ließen sich dies Wunder gefallen; dem Justinus Martyr, der ein besserer Christ
als Kritiker war. zeigte man die Trümmer der 70*) Zellen, in denen die
70 Dolmetscher, jeder für sich, gearbeitet hätten, und er beruft sich darauf als
auf einen sicheren Beweis für die Inspiration der Uebersetzung. Justinus nennt
übrigens statt des Pentateuchs schon das ganze Alte Testament; so ist es denn
üblich geworden, die alten griechischen Uebersetzungen des Alten Testaments als
„die Septuaginta" zu bezeichnen.
Andere Schriftsteller nennen statt dessen 36 Zellen, so daß sie die Ueber-
setzer paarweise arbeiten lassen. Diese Zahl stand in einer späteren, mit Fabeln
vermehrten Umarbeitung des Aristeasbriefes. von der uns Epiphanius Einiges
aufbewahrt hat. Auch zu den palästinischen Juden ist die Kunde von der
Uebersetzung des Pentateuchs durch die 72 Aeltesten gekommen, welche in ihren
72 Zellen durch göttliche Einwirkung gleichmäßig übersetzt hätten. Bei dem
Hasse, den die Juden auf die alte griechische Uebersetzung warfen, seit sich die
Christen derselben gegen sie zu bedienen ansingen, wissen die altrabbinischen
Quellen mit dieser Erzählung nichts anzufangen. Die betreffenden Stellen sind
ganz abgerissen und wären ohne die christlichen Schriftsteller der gleichen Zeit
ganz unverständlich.
Hieronymus, dessen neue lateinische Uebersetzung des Alten Testaments aus
dem hebräischen Urtext dem heftigsten Widerstand begegnete, weil man die grie¬
chische Uebersetzung mit ihren zahlreichen Abweichungen von jenem auf die ge¬
nannte wunderliche Art für inspirirt hielt, kämpft heftig gegen die Aus¬
schmückungen des Aristeasbuches, auf denen jener Glaube beruhte; er besteht
darauf, daß nach diesem nur das Pentateuch und zwar ohne besondere göttliche
Einwirkung übersetzt sei. Die Echtheit des, Buches selbst anzugreifen, konnte
aber auch seinem kritischen Geiste nicht in den Sinn kommen.
Der Kanal der Kieler, für den sich jetzt dem Vernehmen nach auch höhere
preußische Marineoffiziere ausgesprochen haben, ist ein Schleußenkanal mit sechs
Schleußen, drei auf der westlichen und drei auf der östlichen Seite des Landes.
Die oberste Scheitclhaltung liegt 24 Fuß über mittlerem Ostseespiegel oder mitt>
leren Wasserstande der Elbe. Die Länge zwischen den beiden Endhäfen beträgt
etwas mehr als 11 Meilen und damit etwa °/g Meilen mehr als die Länge
der geraden Linie zwischen diesen beiden Punkten. Die Tiefe soll 25, die
Breite in der Wasserlinie 160, in der Sohle 64 Fuß rhein. betragen, jede
Schleuße zwei Kammern, eine große von 380 Fuß Länge und 64 Fuß Breite
und eine kleine von 190 Fuß Länge und 32 Fuß Breite, haben. Jene Tiefen
und diese Längen und Breiten werden für die große Schifffahrt vollkommen
ausreichen. Nur die beiden größten Schiffe der englischen Kriegsflotte und
der Great Eastern, der 29 Fuß Tiefgang hat, würdrn den Kanal nicht passiren
können, aber auch in der Ostsee nicht recht verwendbar sein. Andere Fahrzeuge
gehen nicht über 22 Fuß tief, und die größten derselben haben nicht über
57 Fuß Breite.
Die Kosten der Erbauung des Kanals, seiner Häfen, Brücken, Ladeplätze
und der Anlagen für die Sicherung der Bespeisung desselben sind zu 16V- Mil¬
lionen Thaler, die Kosten des technischen Betriebes und der Unterhaltung zu
140,500 Thaler jährlich veranschlagt. Der Kanal ist hierbei auf eine Frequenz von
36,400 Schiffen im Jahr berechnet, die indeß, wenn jemals, sicher erst nach
Verlauf vieler Jahre eintreten wird. Für die nächste Zeit erwartet die Denk¬
schrift eine jährliche Passage von etwa 15,000, später mit Sicherheit eine von
21,000, noch später von ungefähr 25.000 Schiffen.
Die Speisung des Kanals, d. h. die Versorgung desselben mit Wasser,
für die angenommene größte Frequenz hat, wie unsre Denkschrift überzeugend
nachweist, keine Schwierigkeiten. Man braucht nach einer früheren Berechnung
für 25,000 Schiffe 2,160 Millionen, für 36,400 Schiffe 3,600 Millionen Kubik-
fuß Wasser. Die Denkschrift kommt zu einem andern Resultat. Sie sagt:
„Die erforderliche Wassermasse bestimmt sich aus zwei Factoren, erstens
aus der Zahl und Größe der Schiffe nebst ihrer Vertheilung bei der Passage,
zweitens aus dem Wasservolumen, welches die Schleußen erfordern, also den
Dimensionen der zu füllenden Schleußenkammern. Fassen wir zuerst den Haupt¬
kanal ins Auge und bestimmen das Wasserquantum für 20.000 Schiffe auf
demselben. Ist die Schifffahrt durch den Kanal 280 Tage offen, so würden
selbst bei gleichmäßiger Vertheilung auf diesen Zeitraum doch täglich circa
72 Schiffe den Kanal Passiren, also durchschnittlich 36 in jeder Richtung.
Daraus ist ersichtlich, daß es immer möglich sein wird, die Schiffe so zu com-
biniren, daß mehre kleinere zusammen durch die große oder durch eine mittel¬
große durch Zwischenthore aus der großen zu bildende Schleußenkammer be¬
fördert werden. Ferner wird immer nothwendig ein Wechsel zwischen aufwärts
und niederwärts gehenden Schiffen (Kreuzung) stattfinden. Die Voraussetzung,
daß man ein Drittel der Füllungen der Schleußenkammern durch die eintreten¬
den Kreuzungen erspart, wird man nicht zu hoch finden. Es würde demnach
die für 15,000 Schiffe ohne Kreuzung berechnete Speisung mit Rücksicht auf
die Kreuzung für 20,000 ausreichen. Dies wird man um so mehr gelten lassen
müssen, als bei unserm Project Einrichtungen getroffen sind, um noch auf
andere Weise den Wasserconsum zu verringern, nämlich dadurch, daß die große
und die mittlere Schleuße in die kleine entleert werden können, also deren
Füllung ersparen, so daß die für 15,000 Schiffe erforderliche Wassermenge nicht
blos für 20,000, sondern noch für 3000 mehr genügt."
Diese Wassermenge betragt nach Anschlag der Denkschrift rund 2,400 Mil¬
lionen Kubikfuß für den großen Kanal und für den (jetzt bereits vorhandenen)
kleinen Schleswig-holsteinischen Kanal, für den eine Frequenz von 3 bis 4000
Schiffen angenommen ist. 150 Millionen. Für je 1000 Schiffe, um welche
die Frequenz des großen Kanals zunähme, würde man rund 100 Millionen
Kubikfuß mehr bedürfen; indeß würde bei sehr starker Zunahme dieser Ansatz
viel zu hoch sein, weil alsdann schließlich ununterbrochen Kreuzung, also nur
der halbe Wasserbedarf stattfinden würde, und so täuscht sich die Denkschrift
wohl nicht, wenn sie für die Beförderung von 40,400 Schiffen (36,400 ans
dem großen und 4000 auf dem kleinen Kanal) 2,571 Millionen Kubikfuß für
ausreichend hält.
Zur Speisung des Kanals kommt das Wasser der Eider sowie der Wehr¬
aue, Lunaue und Jevenaue zur Verwendung, welche letzteren drei das ganze
Höhenplateau zwischen Hohenwestedt und Nortorf entwässern. Das Wasser-
gebiet aller vier Gewässer beträgt über 9 Quadratmeilen,, so daß eine Fläche
von mehr als 5,184 Millionen Quadratfuß in die Scheitelhaltung des Kanals
entwässert, welche nach der Denkschrift demselben (nach Abrechnung der Ver¬
luste an Niederschlag, welche durch Verdunstung, Einsickerung u. a. herbeigeführt
werden) 3,480 Millionen Kubikfuß Wasser zufließen lassen wird — eine An¬
nahme, welche im Vergleich mit zwei von verschiedener Seite bei Kiel angestellten
Beobachtungen als eine sehr mäßige, ja zu niedrige erscheint. Nach diesen
Beobachtungen wären mindestens 3,800 Millionen Kubikfuß zu erwarten, und
dieses Wasserquantum würde auch der größten Frequenz, die der Kanal jemals
zu hoffen hat, überreichlich genügen.
Wir wissen also nun in Betreff der von einigen Stimmen angezweifelten
Möglichkeit einer hinreichenden Speisung des Kanals nach dem kieler Project
Folgendes:
1) Die Einrichtung der Schleußen bei demselben genügt nach mäßiger
Berechnung der Durchschleußungszeit zu einer Frequenzsteigcrung bis auf
36,400 Schiffe ebensowohl wie bei Ausführung eines Kanales ohne Zwischen-
schleußen.
2) Die natürliche Bespeisung ist für die gewöhnlichen klimatischen Ver¬
hältnisse mehr als genügend, um jene Frequenz zu befriedigen.
3) Eine dennoch in den Kostenanschlag aufgenommene Summe für eine
künstliche Versorgung des Kanals mit Wasser würde jedenfalls so wenig ins
Gewicht fallen, daß sie gegen die Summen zur Herstellung eines diese Ver¬
sorgung unnöthig machenden Durchstichs fast völlig verschwindet. Und hierzu
kommt noch
4) die Thatsache, daß der Schleußenkanal der Kieler nicht wie der Durch¬
stich des Geheimrath Lentze im Westen der Verschlammung ausgesetzt ist, viel¬
mehr die Mittel liefert, sowohl den Kanal und die Schleußen als den Vor¬
hafen durch Spülung zu reinigen.
Der Verlauf des Kanals von Westen nach Osten ist folgender:
1) Westliche Mündung, Hafen an der Elbe im brunsbüttler Koog zwischen
Brunsbüttel und Se. Margarethen. Der Hafen zerfällt in einen durch Molen
(Faschinendämme) geschützten Vorhafen in der Elbe und einen Binnenhafen,
zwischen denen die erste westliche Schleuße mit ihren Sturmthoren, das größte
und kostspieligste Werk der ganzen Kanalanlage, angebracht ist. Südlich vom
Binnenhafen ist genügendes Terrain vorhanden, um ein großes Marine-
ctablissement unmittelbar im Anschluß an den Kanal einzurichten. Die Lage
der Mündung entspricht allen Anforderungen ^der Schifffahrt. Die Elbe hat
hier mehr als ausreichende Tiefe und ist frei von Bänken. Werden bei west¬
lichen Stürmen die Schiffe am Einlaufen in den Kanal gehindert, so finden
sie auf der frciburger Rhede einen sichern und geräumigen Ankerplatz, von
dem aus sie, wenn der Wind sich gelegt hat, mit der Ebbe ^bequem in den
Vorhafen des Kanals gelangen. Wenn auch der Hauptkriegshafen an die östliche
Mündung des Kanals zu verlegen ist, so wird doch der hiesige Binnenhafen
und das Marineetablissement einen genügenden Stationsplatz für eine größere
Flottenabtheilung darbieten. Der Bau dieses Etablissements hat in dem flachen
Marschterrain und bei dem günstigen Baugrunde keinerlei Schwierigkeiten, und
auch die Befestigung desselben sowohl gegen einen Angriff vom Lande als gegen
einen solchen vom Wasser her ist, wie überhaupt in der Marsch, leicht zu be¬
werkstelligen. Selbst wenn die Elbe an der Kanalmündung ihrer großen Breite
wegen nicht durch Fortisicationen auf beiden Ufern völlig zu schließen wäre,
würde doch die Flottenabtheilung gesichert werden können und so das Einlaufen
feindlicher Streitkräfte fast unmöglich sein. „Ich möchte," sagt der Ingenieur
Christensen im technischen Bericht der Denkschrift, „die hier projectirte Kanal¬
mündung überall als den einzigen Punkt an der ganzen deutschen Küste der
Nordsee bezeichnen, der zur Aufnahme größerer Anlagen für die Kriegsmarine
in jeder Beziehung geeignet ist."
2) Vom brunsbüttler Koog geht der Kanal in nordöstlicher Richtung auf
den Kudensee zu, durchschneidet diesen und erreicht bald nachher den Flecken
Burg, wo ein großer Loses- und Ladeplatz angelegt wird, um den Verkehr
Ditmarschens und der Wilstermarsch dem Kanäle zuzuführen und die Verpro-
viantirung der Schiffe zu erleichtern.
3) Von Burg laust der Kanal nordöstlich in fast schnurgerader Linie weiter
und fast immer durch Moorgegenden bis in die Nachbarschaft von Hohcnhörn,
wo die letzte Schleuße der Westseite liegt, und von wo sich bis zur ersten öst¬
lichen Schleuße die obere Scheitelhaltung des Werkes auf 8V- Meilen Länge
hinzieht.
4) Auf dem Kanalabschnitt von Hohenhörn bis Lütjenwistedt befindet sich
bei dem Dorfe Hanerau wieder ein Loses, und Ladeplatz. der für den Verkehr
der Landesmitte bestimmt ist.
5) In der Abtheilung von Lütjenwistedt bis zur Bockelau geht der Kanal
über die sumpfigen Niederungen der Haalerau und der Lunau hinweg. Bei
Steinberg, wo die Fuhlenau sich mit der Haalerau vereinigt, kann ein Pump¬
werk angelegt werden, welches direct aus letztgenanntem Flusse, indirect aus
der eine kleine Meile nördlich von hier fließenden Eider Wasser entnehmen
würde und zugleich die jetzt mangelhafte Entwässerung der Niederungen fördern
könnte.
6) Von der Bockelau zieht sich der Kanal, zuerst fast genau nach Osten,
dann südöstlich laufend, querüber das Wilde Moor, den Reidsbek und die
Wehrau nach dem Westensee. Bei Bockelholm kreuzt er die von Neumünster
nach Rendsburg führende Eisenbahn, und wird hier eine eiserne Drehbrücke
erbaut und ein dritter Loses- und Ladeplatz angelegt. Wäre es wünschens¬
wert!?, den Kanal mit Rendsburg und der Obereider in Wasserverbindung zu
setzen, so daß mittlere Fahrzeuge zur Aufnahme von Armirungsgegenständen
oder zur Ueberwindung nach Rendsburg gehen könnten, so^ist dies von dieser
Strecke aus leicht zu bewirken, da von Bockelholm bis zum Nobiskmg an der
Obereider ein flaches Terrain ist, welches keinerlei Schwierigkeiten für die Her¬
stellung eines nur IV» Meilen langen Seitenkanals darbietet. Der Westen¬
see, welchen der Kanal an seinem südlichen Ende durchschneidet, ist ein natür¬
liches Bespeisungsreservoir für denselben; er hat eine Oberfläche von 120 Millionen
Quadratfuß und kann, da er fast überall von hohen Ufern umgeben ist, sehr
gut zum Ausdauer von Wasser durch natürlichen Zufluß in regenreicher Zeit
oder durch künstliche Hebung benutzt werden.
7) Vom Westensee geht der Kanal endlich über Schönwold, durch den
hansdorfer See, ferner über Eckkoppel und Kielerhof, etwas über eine halbe
Meile nördlich von der Stadt Kiel nach der wiecker Bucht am linker Busen.
Die Richtung auf Wieck, wo dicht hintereinander die drei letzten Schleußen
liegen, wird den Kanal, da hier große Erdmassen zu bewältigen sind, etwas
theurer werden lassen, als wenn man ihn, wie auch vorgeschlagen worden
vom hansdorser See über den Russee und Hassee nach dem sogenannten kleinen
Kiel oder nach dem am innern Ende des kieler Hafens gelegenen Dorfgarten
führen wolle. Indeß hat jene Richtung Vorzüge, die sehr stark für ihre Wahl
sprechen. Zunächst läßt sie den Kanal an derjenigen Stelle des kieler Busens
münden, wo derselbe, von innen gerechnet, seine größte Breite erlangt hat.
Der bei Wieck 150 Ruthen in die Bucht hineinlaufende flachere Vorstrand
wird verwendet, um auf ihm die ausgegrabene Erde des letzten Kanalabschnitts
abzulagern, wozu Schienenbahnen und Locomotiven dienen. Hiermit ist Gelegen¬
heit gegeben zur Bildung eines Binnenhafens mit Dockanlagen Zugleich aber
entsteht durch die Aufschüttung ein mindestens 5000 Fuß langes Bollwerk, an
welchem die natürliche Wassertiefe 20 bis 30 Fuß beträgt und wo folglich die
größten Fahrzeuge unmittebar am Lande liegen, laden und löschen können.
Nach Herstellung dieser Zuschüttung beträgt die Breite des Hafens hier immer
noch 6000 Fuß, während sie bei den Ausmündungen der beiden andern Linien nur
etwa 1800 Fuß betragen würde. Ein Blick auf die Karte ferner zeigt, daß
das Aus- und Einsegeln bei dieser Mündung des Kanals vorzugsweise be¬
günstigt ist; denn die Linie von ihr aus nach dem Eingang des kieler Busens giebt
den Schiffen zu beiden Seiten eine Achtelmeile freies Fahrwasser, so daß sie
unter allen Umständen aus- und einkreuzen kommend Die Buchten zwischen Bellevue
und der Kanalmündung, sowie zwischen letzterer und Holtenau bieten weiteren
Raum für Schiffe, welche dort seitwärts von der Aufschüttung Winterstation
nehmen oder auf Rhede gehen wollen. Die Marine würde endlich in der
Bucht zwischen Holtenau und Friedrichsort — also auf schleswigschen Gebiet
— mehr als genügenden Platz für ihre Anlagen finden. Zugleich aber ist das
ganze Ufer von dem erwähnten kleinen Fort bis Bellevue gewissermaßen schon
eine natürliche Festung, die mit viel geringern Kosten als ein anderer Punkt an
der kieler Bucht die Deckung der gesammten Anlagen der Kriegs- und Handels¬
marine, sowie der. Kanalmündung zu bewirken erlaubt.
Unsre Denkschrift führt noch einen Umstand für die Wahl dieses Ausgangs
des Kanals an, von dem sie glaubt, daß er „vielleicht von vornherein die
weitere Erörterung über die Vortheile der einen oder andern Linie beseitigt".
Sie sagt: „Es ist schon öffentlich darauf hingedeutet worden, daß für den
Kriegshafen und die Kanalmündungcn in ähnlicher Weise, wie dies beim Jahde-
busen geschehen ist, die Abtretung der Souveränetätsrechte werden erfolgen
müssen. Natürlich würde sich das auf den Rayon der Befestigungen mitbe¬
ziehen. Wenn dieses Verhältniß vereinbart wird, so wird man selbstverständlich,
wenn möglich, zu vermeiden suchen, die Stadt Kiel in das Gebiet hinein¬
zuziehen, für welches die Landeshoheit abzutreten.ist. Dies ist nun bei Annahme der
bei Wieck endigenden Linie sehr wohl thunlich. Die wiecker und friedrichsorter
Bucht nebst einem angemessenen Theile des dahinter liegenden Landes, soweit
dasselbe für Befestigungen u. s. w- nothwendig erachtet würde, können füglich
ohne Störung der Interessen der Herzogthümer an der Stadt Kiel, sowie der
besonderen Interessen der Stadt Kiel selbst abgetreten werden. Kiel wird als
offne Stadt außerhalb der sämmtlichen Befestigungen liegen bleiben und der
besondere Handelsverkehr durch den unberührt bleibenden innern Hafentheil völlig
befriedigt werden können."
Wir sagen zu diesem Räsonnement: wenn der Verfasser der Denkschrift
keine bessern Gründe für die Wahl der Mündung des Kanals bei Wieck vorgebracht
hätte, so fiele seine Empfehlung derselben zu Boden. Der Kanal ist eine deutsche
und zunächst eine preußische Angelegenheit, und die Schleswig-holsteinische Selbst¬
sucht , die sich gar zu gern in jedes nationale Interesse hineinschiebt, der Schles¬
wig-holsteinische Particularismus, dessen Hochmuth nachgerade die Grenze des
gesunden Menschenverstandes überschritten hat, das Sonderinteresse der guten
Stadt Kiel wird hoffentlich in diese Frage nicht hineinzureden, nichts zu „ver¬
einbaren", nichts „angemessen" zu finden, nichts abzuhandeln haben.
Kann nicht ganz Schleswig-Holstein durch Vereinigung mit dem preußischen
Staat dem deutschen Interesse dienstbar gemacht werden — eine Frage, die
vorläufig noch verneint werden zu müssen scheint — so ist wenigstens zu.er¬
warten, daß der Krone Preußen von ihrer Eroberung das Stück verbleibt,
welches der Kanal durchschneidet, und daß dieselbe den ganzen kieler Hafen
von Friedrichsort bis Dorfgarten, nicht blos eine Ecke behält. Ist die Stadt
selbst dazu nöthig, so wird man sie eben in Anspruch nehmen und aller
Wahrscheinlichkeit nach bekommen. Ob die kieler Bürgerschaft und die Particu-
laristen an der Universität Ja dazu sagen, ob die Weisheit der hohen Schles-
wig-holsteinischen Landesvcrsammlung in sy<z dazu ihren Segen geben wird, ist
gleichgiltig. Die Stimme der Zukunft Deutschlands aus Preußens Munde ist
zu hören, nichts weiter, und wer das noch nicht begreift, dem wird die Fortdauer
des Provisoriums das verdunkelte Denkvermögen erleuchten, was beiläufig, wie
das schüchterne „wenn möglich" im Obigen zeigt, bei dem Verfasser unserer
Denkschrift nicht mehr dringend erforderlich sein möchte.
" Wir schließen unsre Mittheilungen aus der letzteren mit einem Auszug
aus den Kapiteln, die von der Rentabilität des Kanals und der Stellung
handeln, welche dem Staat zu dem Unternehmen gebühren möchte.
Die Frequenz des Kanals wird, wie oben erwähnt, in den ersten Jahren
15.000 Schiffe von der durchschnittlichen Tragfähigkeit von 200 Tonnen schwer¬
lich übersteigen, nach einiger Zeit aber sicher auf 20,000 solche Schiffe wachsen
und später wahrscheinlich die Ziffer von 25,000 derartigen Fahrzeugen erreichen.
Die Grenze der Schiffszahl, welche der Kanal befriedigen kann, ohne eine Ver¬
größerung der jetzt herzustellenden Anlagen und der Betriebskosten zu erfordern,
setzt die Denkschrift auf 36,400 an. Sollte, was höchst unwahrscheinlich ist.
die Schiffszahl über 36,400 steigen, so müßte jede Schleuße noch eine dritte
Kammer erhalten, und diese sechs neuen Schleusenkammern würden circa
400,000 Thlr. kosten, was bei so enorm gesteigerter Frequenz und damit ver¬
mehrter Einnahme nicht ins Gewicht fiele.
Der durchschnittliche Werth der Schiffe wird auf 60 Thlr. die Tonne, also
auf 10,000 Thlr. pro Schiff von der durchschnittlichen Tragfähigkeit von 200 Tonnen
angenommen. Der Werth der Ladung jedes Schiffs soll pro Tonne 60, pro
Schiff 12,000 Thlr. betragen, was nach der Denkschrift ein sehr mäßiger An¬
satz wäre. Der zehnte Theil der Schiffe soll in Ballast fahren.
Die Baukosten belaufen sich auf 16V- Millionen Thlr.*), wozu noch der
Zinsverlust im Verlauf von sechs Baujahren zu rechnen ist. Sollte das ein¬
gezahlte Geld während dieser Zeit zu 4 Procent verzinst werden, so betrüge
der Zinsverlust bei jährlicher Einzahlung von einem Sechstel der ganzen Bau¬
summe 2.310.000 Thlr. Dieser Betrag braucht jedoch nicht angenommen zu
werden, weil durch zweckmäßige Vertheilung der Arbeiten innerhalb der sechs
Jahre und durch halbjährige Einzahlungen eine bedeutende Ersparung mit
Leichtigkeit zu erzielen ist. Nehmen wir den Zinsverlust in runder Summe zu
zwei Millionen, so ist bis zur Eröffnung des Kanals ein Capital von 18V-
Millivnen aufgewandt und soll alsdann durch die Einnahme des Kanals ver¬
zinst werden.
Die Kosten für den technischen Betrieb und die Unterhaltung des Werkes
sind zu 140,500 Thlr. jährlich veranschlagt; rechnen wir dazu noch für die
Finanzverwaltung und die Erhebung der Kanalabgabe eine Summe von
19.600 Thlr.. so stellen sich die gesammten Betriebskosten auf 160.000 Thlr.
In diesem Betrage ist eine Summe von 20,300 Thlr. für künstliche Wasser¬
hebung enthalten, die aller Wahrscheinlichkeit nach niemals gebraucht werden
wird, also auf die etwa höher wie soeben geschehen anzuschlagenden Kosten
der Finanzverwaltung und der Erhebung der Kanalgebühr zu rechnen
sein würde.
Die Einnahmen bestehen in der Durchgangsabgabe, welche entweder blos
von den Schiffen oder von Schiff und Ladung zu erheben sein würde. Die
Denkschrift erklärt sich für letzteren Weg, und zwar aus dem Grunde haupt¬
sächlich, weil eine auf die Ladung gelegte Abgabe die Expedition der Schiffe
complicirter macht, also mehr Arbeit schafft und Zeitverlust herbeiführen kann.
Es soll mithin die Abgabe allein von den Schiffen nach ihrer Tragfähigkeit er¬
legt werden, und hierfür empfiehlt sich folgendes Verfahren.
Da der Kanal ein für den großen Weltverkehr bestimmter ist, wird am
besten das Größemciß angenommen, welches am häufigsten vorkommt, und
dieses ist die Gewichtstonne, englisch rsZistsr ton, französisch toiweg>u, die auch
in Belgien und Nordamerika im Gebrauch ist. Fast jedes größere Schiff der
deutschen Handelsmarine (die nach Schiffslasten rechnet) ist in England gewesen
und dort gemessen worden; es führt folglich den englischen Meßbrief bei sich. Wo
dieser noch fehlt, wird eine Rcductionstabelle aushelfen können.
Den Gewinn, den jedes Fahrzeug durch Benutzung des großen norddeut¬
schen Kanals macht, berechnet die Denkschrift folgendermaßen.
Kost und Heuer der Schiffsmannschaft so wie gewöhnliche Verzinsung
stellt sich durchschnittlich für die Tonne und den Monat auf 1 bis IV» THIr.
Die durch den Kanal gewährte Zeitersparnis; für Schiffe, welche vom englischen
Kanal, dem südöstlichen England, Holland und Nordwestdcutschland nach der
Ostsee oder von dieser nach jenen Küsten wollen, und nicht mit Dampf fahren,
ist durchschnittlich auf 7 Tage anzusetzen (für Klipper auf weniger, für Dampfer
auf etwa 2 Tage). Diese Zcitersparung würde also einem Geldwerth von 7 bis
9V- Silbergroschen auf die Tonne gleichkommen, wobei der Gewinn der bei
hohen Assecuranzen zu berücksichtigenden Versicherungsprämie für 7 Tage nicht
mitgerechnet ist. Der Rheder hat jedoch einen anderen Maßstab der Zeiter¬
sparnis; anzulegen: er verlangt mehr als die gewöhnliche Verzinsung, und wird
dieses Mehr zugelegt, so wird fast ein Vortheil von 10 Sgr. sür die Tonne
durch Benutzung des Kanals erreicht. Berücksichtigt man aber, daß in einer
Abgabe von 10 Sgr. pro Tonne zugleich die Ladung eine Ersparnis; in- der
Assccuranzprämie genießt, und daß diese Ersparnis; in dem Frachtsatze eine
theilweise Ausgleichung findet, so ist der Denkschrift nicht zu widersprechen,
wenn sie behauptet:
1) daß beladene Schiffe bei einer Diirchgangsabgabe von 10 Sgr. für
die Tonne ihrer Tragfähigkeit eine sehr erhebliche Ersparung machen, indem,
wie bemerkt, in dem Frachtsatze indirect die Ersparnis; an der Assecuranz der
Ladung enthalten ist;
2) daß in Ballast fahrende Schiffe bei der Hälfte jener Gebühr, also
S Sgr. pro Tonne, erheblich direct ersparen;
3) daß sür in Ballast fahrende wie für beladene die stark verminderte See
gefahr bei Gebrauch der näheren Wasserstraße von der Nordsee in das baltische
Meer ein reeller Gewinn ist.
Berechnen wir nach dem Gesagten die Rentabilität der Anlage des Kanals,
so kommen wir zu folgenden Resultaten:
Bei der geringsten Frequenz, d. h. bei einer jährlichen Passage von
15,000 Schiffen ii> 200 Tonnen, von welchen Schiffen 13,600 beladen sind,
also pro Tonne 10 Sgr. Abgabe entrichten, während der Nest als in Ballast
fahrend nur 5 Sgl. pro Tonne zahlt, werden jährlich 950,000 Thlr. eingehen.
Zieht man davon den Betrieb mit 160,000 Thlr. ab, so bleibt ein Reingewinn
von 790.000 Thlrn. oder 4,27 Procent des Anlagecapitals.
steigert sich die Frequenz nach einigen Jahren, wie mit Sicherheit zu
hoffen, auf 20,000 Schiffe. 18.000 beladene und 2,000 geballastcte. so giebt
das nach Abzug der sich gleichbleibenden Betriebs- und Unterhaltungskosten schon
einen Reingewinn von 1,106,666 Thlrn. oder 5,98 Procent des Anlage¬
capitals.
Wächst die Frequenz später, wie wahrscheinlich, aus 25,000 Schiffe an,
so folgt daraus eine Verzinsung zu 7,69 Procent; erreicht jene die Ziffer von
36.400 Schiffen, so hätten die Erbauer des Kanals mehr als 11 Procent
Zinsen zu erwarten.
Zu ungefähr derselben Einnahme, welche wir mit der Denkschrift bei einer
Frequenz von 20,000 Schiffen für den Kanal erwarten, gelangte, wenn auch
mit andern Ansätzen, eine Berechnung, die, aus der Mitte des rostocker Handels¬
standes hervorgegangen, im August vorigen Jahres in der Nationalzcitung
erschien. Es hieß dort:
Ein Schiff von 10 Commerzlasten -r 6000 Pfund würde beim Wege durch
den Kanal an Heuer 25, an Proviant 10, an Zinsen 10. an Lootseugebühr
in den Drogden gleichfalls 10. an Abnutzung der Takelage ebensoviel, im
Ganzen also 75 Thlr. ersparen. Dagegen möchten die Kosten. Schlepplvhn
im Kanal und Lootsengeld auf der Elbe, 50 Thlr. betragen. Die ersparten
25 Thlr. würden aber wiederum durch Abnutzung des kleinen Tauwerkes beim
Bugsiren im Kanal verloren gehen. Als Gewinn bliebe dann nur die kürzere
Fahrzeit und der Zinsgewinn an der Ladung übrig, und hiernach setzen die
Rostocker als Maximalhöhe für die Kanalabgabe an:
Mit diesen Zahlen wird dann die muthmaßliche Einnahme des Kanales
folgendermaßen berechnet:
Bei den, obigen summarischen Anschlägen der kieler Denkschrift sind noch
einige Punkte nicht berücksichtigt, welche auf die Erhöhung des Zinsertrages
einwirken müssen.
Erstens ließe sich die Frage aufwerfen, ob es sich nicht rechtfertigen ließe,
wenn von Dampfschiffen eine höhere Gebühr als von Segelschiffen erhoben
würde; denn diese Art Fahrzeuge haben (wegen der Möglichkeit infolge der
Zeitersparnis) mehr Fahrten zu machen, ferner wegen der größeren Kosten ihres
Betriebs und wegen ihrer stärkeren Bemannung) einen ungleich größeren Vor¬
theil von der Benutzung des Kanales als andere Schisse. Indeß mag dies
dahingestellt bleiben.
Zweitens aber sind in der Denkschrift die Renten so berechnet, als ob das
Werk von einer Privatgesellschaft ausgeführt wäre. In diesem Falle aber
würde es in der Billigkeit liegen, daß für die Benutzung des Kanales durch
die Kriegsmarine von Seiten des Staates eine Entschädigung gewährt würde.
Die Denkschrift sagt hierüber:
- „Wird der Kanal auf Staatskosten gebaut, so kann der Staat erwarten,
daß er das Anlagecapital verzinst und amortisirt und somit die für die Kriegs¬
marine so wichtige Anlage gewissermaßen umsonst herstellt.
Soll der Bau der Privatindustrie übergeben werden, so würde es wegen
des Interesses des Staates an dem Zustandekommen des Werkes sich vielleicht
empfehlen, gegen die Leistung einer kostenfreien Beförderung der Kriegsmarine
der Baugesellschaft eine Minimaleinnahme zu garantiren. Die Garantiesumme
würde sich bei der angenommenen Minimalfrequenz des Kanals (von 1S,000
Schiffen jährlich), je nachdem ein Ertrag von 4Vs oder S Procent garantirt
werden sollte, auf höchstens V» bis ^ Procent des Anlagecapitals, d. h. auf
46,250 bis 138,760 Thlr. jährlich belaufen, was als keine große Entschädigung
für die Gegenleistung der Kanalbaugesellschaft anzusehen sein dürste."
Drittens ließe sich unter Umständen sogar noch eine ^Ermäßigung der Bau¬
summe herbeiführen. Von selbst versteht sich, daß die Techniker, welche die
Kieler beriethen, ihre Voranschlägenach reiflicher Ueberlegung aufgestellt haben.
Immer aber wird es bei einem so weitschichtigen und in vielen Beziehungen
nothwendig auf Wahrscheinlichkeiten beruhenden Unternehmen manche Punkte
geben können, bei welchen die Ansichten der Fachleute von einander abweichen.
Dem Einen mag diese, dem Andern jene Position zu hoch gegriffen sein. In¬
deß zeigt die oben gegebene summarische Rentabilitätsberechnung, daß selbst bei
einer auf 20 Millionen Thlr. gesteigerten Vausumme eine ziemlich gute Ver¬
zinsung des eingezahlten Capitals zu erwarten wäre. Es hätten also die Vor¬
anschläge noch um anderthalb Millionen höher ausfallen können, ohne die
Rentabilität zu gefährden, und so sah sich der Verfasser der Denkschrift nicht
veranlaßt, solche Modificationen in der Ausführung des Kanalbaus zu berechnen,
welche, ohne die Brauchbarkeit des Werkes zu beeinträchtigen, beträchtliche
Summen ersparen lassen. Dahin gehört vorzüglich der Umstand, daß der Kanal
nicht in seiner ganzen Ausdehnung die oben angesetzte Breite von 160 Fuß
in der Wasserlinie bedarf. Diese Breite genügt beinahe, um drei der größten
Dampfschiffe neben einander aufzunehmen, während es doch offenbar ausreicht,
wenn zwei solche (überhaupt nur in geringer Zahl vorkommende) Fahrzeuge
sich bei der Begegnung ausweichen können. Aber auch für letzteren Zweck ist
es nicht erforderlich, daß der ganze Kanal eine Breite von mehr als zwei dieser
Schiffe habe, sondern es würde genügen, wenn — ähnlich den Eisenbahnen
mit ihren Weichestellen — der Kanal nur an einer Anzahl von Punkten Er¬
weiterungen hätte. Durch telegraphische Benachrichtigung von dem Eintritt
besonders großer Schiffe in die Kanalmündungen würde es sich immer leicht
einrichten lassen, daß die Begegnung an einer dieser breiteren Stellen stattfände.
Daß durch eine solche Modification der Verhältnisse des Kanales eine höchst
beträchtliche Ersparnis; erzielt werden würde, liegt auf der Hand, da hierdurch
gerade der kostspieligste Theil aller Arbeiten, die Erdbewegung, auf welche über
40 Procent der ganzen Bausumme zu verwenden sind, um ungefähr ein Drittel
vermindert wird. Hiernach ist dem Verfasser der Denkschrift „unzweifelhaft,
daß es unter allen Umständen thunlich sein wird, die Kosten für den Bau inner¬
halb der Grenzen zu halten, welche eine Rentabilität sichern, also innerhalb
20 Millionen Thalern, daß es aber sogar möglich ist, durch die angeführte,
den Werth des Kanals nicht beinträchtigende Modification der Bauausführung
zu noch günstigeren Bedingungen zu gelangen, als vorstehender Rentabilitätsbe¬
rechnung zu Grunde gelegt sind."
Und nun lassen wir die Denkschrift sich noch über die Beziehung des
Kanals zum Staate äußern.
Der Kanal der Kieler würde nach dem Vorstehenden ein Werk sein, zu
dessen Ausführung die Beihilfe des Staates nicht oder nur vorübergehend und
in sehr mäßiger Weise erforderlich wäre, und es würde somit keine Schwierig¬
keiten haben, das für das Unternehmen nothwendige Capital durch Actienzeich-
nung zu beschaffen. Indeß sprechen verschiedene Gründe dafür, daß es besser
sein würde, der Staat nähme den Bau des Kanales in die Hand.
Der Kanal ist für die Machtstellung Deutschlands in Norden und seine
maritime Entwickelung mindestens ebenso wichtig als für den allgemeinen
Handelsverkehr. So darf der Staat (natürlich Preußen; denn von einer Macht¬
stellung des deutschen Bundes kann unter heutigen Verhältnissen im Ernst
nicht die Rede sein, und einen etwaigen Staat Schleswig-Holstein möchten
wir noch weniger zum Hüter der Machtstellung Deutschlands im Norden bestellt
sehen) den Kanal nicht der bloßen Aufsicht einer Privatgesellschaft überlassen,
sondern muß sich das oberste Dispositionsrccht über die Benutzung der neuen
Wasserstraße vorbehalten. Daß aber hierdurch bisweilen Conflicte zwischen den
Interessen des Staates und den pecuniären Interessen der Actionäre entstehen
werden, leidet kaum einen Zweifel, und nichts weniger als leicht wird es sein,
im Voraus die Grenze festzustellen, bis zu welcher die Ballgesellschaft sich die
Beschränkung ihrer Privatrechte gefallen lassen mühte. Denken wir uns den
Staat als Unternehmer, so verschwindet diese Schwierigkeit sofort. Der Staat
wird immer in der Lage sein, abzuwägen, ob die im Interesse des Allgemeinen
zu treffenden Anordnungen die Opfer verlangen, welche in geringerer Rentabili¬
tät der Anlage sich ausdrücken.
Eine andere Schwierigkeit liegt für eine Privatgesellschaft in der Erhebung
der Kanalabgabe. Der Staat muß auch hier ein Aufsichtsrecht ausüben, weil
er zu überwachen hat, ob zollpflichtige Gegenstände nur durchpasstren oder im
Lande verbleiben. Zwar darf erwartet werden, daß der Staat das Unter¬
nehmen insofern begünstigen wird, als er von Erhebung eines Transitzolles
absehen wird. Jedenfalls aber wird bei der in Aussicht stehenden starken
Frequenz des Kanales ein zahlreiches Personal von Zollbeamten anzustellen
sein. Würden diese nun zugleich, wie Rücksichten der Sparsamkeit empfehlen,
zur Erhebung der Kanalgebühr verwendet, so ergäbe sich für dieselben eine
doppelte Stellung, die gewiß nicht zweckmäßig sein würde: sie wären Privat¬
beamte und Staatsdiener in Einer Person. Der Staat als Bauherr, Besitzer
und Verwalter des Kanals ist auch hier in bevorzugter Lage.
Die Kanalanlage bringt ferner mit sich, daß dieselbe viel mehr und viel
unbequemere Störungen in der Bewirthschaftung der von ihr durchschnittenen Feld¬
marken veranlaßt als etwa eine Eisenbahn. Zahlreiche Brückenübergänge (der
technische Bericht schlägt Floßbrückcn vor) können diesen Nachtheil zwar ver¬
mindern, aber nicht vollständig beseitigen Die Expropriation ist daher nicht
blos mit größeren Kosten verbunden (der technische Bericht berechnet die Kosten
des Grunderwerbs und die.Entschädigung für Betriebsstörung auf 790, 376 Thlr.),
sondern sie trifft auch den Besitzer härter. Ein auf die Kanalanlage passendes
Expropriationsgesetz besitzt man in den Herzogthümern noch nicht, und wenn
ein solches geschaffen werden soll, so macht es einen wesentlichen Unterschied,
ob eine an sich mißliebige Maßregel zu Gunsten einer privaten Gesellschaft
oder im Interesse des Staates oder wie hier des ganzen deutschen Landes getroffen
wird. Ist der Staat der Bauunternehmer, so kommen die Renten des Unternehmens
allen Angehörigen des Staates wieder zu Gute, und das Expropriationsgesetz wird
in seiner Anwendung weniger verletzen, als da, wo es wenigstens theilweise
zu demi Zwecke erlassen scheint, den Säckel einer Anzahl von Kapitalisten zu füllen.
Endlich liegt in der Rentabilität des Kanals insofern eine Veranlassung,
denselben mit Staatsgeldern zu bauen, weil daraufhin zu hoffen ist, daß die
volkswirthschaftlichen Vortheile des Werkes sich weit rascher entwickeln werden.
Dle Denkschrift sagt in Bezug hierauf:
„Während wir uns besinnen würden, es sonst zu empfehlen, daß der Staat
als Unternehmer einer Industrie aufträte, wird derselbe in diesem Falle beson-
ders dazu geeignet sein. Denn erstlich wird er wegen der Verwendung der
Zollbeamten, ferner, weil er nicht wie eine Actiengesellschaft auf Bildung
eines Reservefonds Werth zu legen braucht (die Kieler rechnen aus diesen jedes
Jahr 82,600 Thlr.), wohlfeiler verwalten. Sodann aber würde er nicht das
Interesse haben, direct hohe Zinsen aus dem Unternehmen zu ziehen, sondern
mit gewöhnlicher Verzinsung und Amortisation des aufgewendeten Capitals be¬
friedigt sein. Dann aber, wenn die Anlage sich successive frei gewirthschaftet
hätte, würde Verminderung der Canalabgabc und Erleichterung des Verkehrs
eintreten, welche eine Privatgesellschaft, wenn sie nicht rentabel sind, einzuführen
keine Veranlassung hat, die aber für den Staat von der größten Bedeutung
sind, weil dadurch indirect die materielle Wohlfahrt viel mehr gesteigert wer¬
den kann, als durch den Ertrag des Kanals.
„Wir tränken gern ein Glas die Freiheit hoch zu ehren."
Herr Professor Stintzing in Erlangen hat beim Antritte des Prorcctorats
eine Rede gehalten und nachher drucken lassen über die deutsche Hochschule in
ihrem Verhältnisse zu der allgemeinen Bildung unserer Zeit. In dieser Rede
sind die vor einiger Zeit in diesen Blättern erschienenen Artikel wider den
Geist der Universitäten angezogen als Beispiel, wie die akademische Freiheit
oft die härtesten Anfechtungen erfahren, allein wie selten die Gegner ihr
eigentliches Wesen begriffen haben. Die Rede ist übrigens durch so viele Züge
eines Geistes gekennzeichnet, mit welchem sich die Absicht jener Artikel ganz in
Uebereinstimmung fühlt, daß es sich wohl der Mühe verlohnt zuzusehen, ob
die Gegensätze der Ansichten in beiden so sehr groß sind, und ob eine Ver¬
ständigung darüber möglich ist. Herr Stintzing wünscht nicht nur wissenschaft¬
liche Fachbildung, sondern eine Pflege des Idealismus, eine Verbreitung
humaner Gesittung, edler Bildung von den Universitäten über das Vaterland
verbreitet zu sehen. Wir haben als das Ziel der Bildung, welche die Staats¬
diener von der Universität mitbringen sollen, eine Verbreitung sittlicher und
rechtlicher Strenge des Volksbewußtseins im Auge gehabt. Wie ist es nun
möglich, daß bei so verwandten Absichten der Eine lebhast vertheidigt, was der
Andere angreift. .
Herr Stintzing sagt, wir hätten deshalb gegen die akademische Freiheit an
den Geist der Nation appelliren wollen, weil sie angeblich auf dem privilegirten
Gerichtsstände beruhe und darin bestehe , daß den Studenten mancherlei nach¬
gesehen werde, was gegen bürgerliche Begriffe und Gesetze verstößt, weil also
nach unserer Meinung die akademische Freiheit nichts sei als eine privilegirte
Zügellosigkeit, woraus eine bedenkliche Verwirrung der Begriffe von Recht und
Unrecht und die Gewöhnung an junkerliche Standesprivilegien hervorgehe.
Dies ist ganz richtig. Herr Stintzing bemerkt nun dazu, es seien solche Be¬
schuldigungen zwar maßlos übertrieben; aber er wolle doch auch einer privi-
legirten Gerichtsbarkeit nicht das Wort reden. Der Vorwurf der maßlosen
Uebertreibung ist nicht näher begründet, also auch vor der Hand nicht eingehend
zu bekämpfen. Dagegen freuen wir uns zu sehen, wie Herr Stintzing ganz
in unserem Sinne den Mangel an Vertrauen zu der Entscheidung nach Recht
und Gesetz, welcher aus der Vermengung von Rechtspflege und Disciplin bei
dem patriarchalischen Forum der Senate hervorgeht, beseitigt wünscht. Er will
also gar nicht vertheidigen, was wir angegriffen haben. Er will nur, daß wir
es nicht akademische Freiheit nennen und diese schonen.
Suchen wir nun nach einem möglichst einfachen Ausdrucke für das, was
er denn nun unter diesem Namen entschieden vertheidigen will, so müssen wir
von der eben angezogenen Stelle seiner Rede aus erst Einiges überschlagen,
worauf wir später zurückkommen, und finden nun. daß er akademische Freiheit
vertritt im Gegensatze zu Studienzwang. „Denn nur in der Freiheit ist die
Arbeit, ist die Pflichterfüllung eine Ehre." In dem Ehrgefühle des Studenten
aber wurzelt die sittliche Kraft und der Adel der Gesinnung, die er als Mann
bethätigen soll? Hier finden wir uns nun abermals in vollster Uebereinstimmung.
Auch uns ist es nicht im Mindesten eingefallen dem Studienzwang das Wort
zu reden. Wir möchten sogar, was die Befreiung von demselben angeht, noch
mehr wünschen als wir schon haben, während Herr Stintzing damit genug zu
haben scheint. Wir möchten auch den Zwang abgeschafft sehen, daß jeder,
welcher sich zu den Prüfungen für die Befähigung zu Staatsämtern meldet, eine
gewisse Reihe Jahre auf Universitäten todtgeschlagen haben muß. Denn Viele,
wenn auch nicht Alle, werden sicher, auf anderm Wege in viel kürzerer Zeit
geistig weiter zu bringen sein und sittlich weniger zu verderben als dort. Wir
finden uns in diesem Punkte in Uebereinstimmung mit einem Organe, bei
welchem man sonst nicht leicht eine herzhafte radikale Kritik alter verrotteter
Institute suchen wird. Die Münchener „gelben Blätter" waren es, in denen,
vor einiger Zeit mit Recht hervorgehoben wurde, wie es heutzutage ein purer
Anachronismus sei, hundert Stunden weit zu reisen, um in öffentlichen Auditorien
Dictate nachzuschreiben, und wie- überflüssig also mindestens, die kommende
Generation zu diesem Zwecke Jahre lang den traditionellen Gemeinheiten des
akademischen Lebens anheimzugeben.
Soweit scheint es also, daß wir mit Herrn Stintzing in gar keiner Mei¬
nungsverschiedenheit sind. Er verwirft, was wir verwerfen, und was er ver¬
theidigt, vertheidigen wir auch und wollen nur etwa noch mehr davon. Es
bliebe also nur die Differenz des Sprachgebrauches, welches von beiden akade¬
mische Freiheit genannt werden soll, und in diesem Punkte würden wir uns,
wenn die Begriffe übrigens hinreichend auseinandergehalten würden, sehr gern
der authentischen Jntnpretation des Herrn Prorectors fügen. Denn wer wollte
nicht ein so schönes Wort lieber für eine schätzbare als für eine verwerfliche
Sache brauchen. So einfach ist es aber doch nicht. Denn, wie gesagt, wir
mußten um diese einfache Sonderung der Begriffe aus Herrn Stintzings Rede
auszuheben und unsere Uebereinstimmung mit ihm über beide zu constatiren,
Einiges überschlagen, worin sich die zur Verständigung dienende Sonderung in
freierem Redeschwung vermischt zeigt. Hier finden wir nun doch noch den
Grund, weshalb er gegen uns auftritt.
Nachdem nämlich, wie schon angeführt. Herr Stintzing uns in der Aner¬
kennung einer bedenklichen Verwirrung der Rechtsbegriffe durch besondere
Rechtspflege beigetreten ist und also indirect der Unterordnung unter die ge¬
meinen Gesetze das Wort geredet hat, lenkt er ein, indem er fortfährt,
es würde aber schlimm um die Hochschule stehen, wenn sie nicht höhere
Anforderungen an Sitte und Ehre ihrer Mitglieder stellen könnte als
die der criminellen und polizeilichen Unsträflichkeit. „Höhere" hört! Noch
immer sind wir einverstanden, erlauben uns aber, dasselbe von jedem gebil¬
deten Deutschen zu behaupten. Auch unsere Ehre ist nicht im Strafcodcx be¬
schlossen, wenn wir auch keine Studenten mehr sind. Die besondere Anwen¬
dung folgt aber auf dem Fuße. Aus der anderen Seite meint nämlich Herr
Stintzing, daß es der akademische Organismus wohl ertragen könne, wenn auch
die Schranken der gemeinen polizeilichen Ordnung einmal überschritten werden.
Das ist also, wie bei vielen Philosophen und Theologen das „Höhere", was
nicht nur über das Niedrige hinausgeht, sondern ihm auch widerspricht. Hieße
nun dies in praxi nichts, als daß, wie der Zusatz „in übersprudelnder Lust
und Kraft" nahe legt, eine vor übersprudelnden Bechern sitzende Gesellschaft
einmal bei Nacht ein Lied singt, so wäre das in unserem Vaterlande auch
nichts ausschließlich studentisches. Wir wissen ja aber besser, um was es sich
handelt, wenn es auch Herr Stintzing in keinem Worte seiner Rede andeutet.
Die Überschreitung gemeiner Ordnung, um deren Duldung oder Beseitigung
es sich allein handelt, und welche nicht nur so einmal im Uebersprudcln, sondern
ganz ruhig systematisch betneben wird, ist, wie jedes Kind weiß, die Paukerei,
und an ihr hängt die „höhere" Studentenehre. Ja, Herr Stirching. in dem
Ehrgefühle des Studenten soll, wie Sie oben gesagt haben, die sittliche Kraft
und der Adel der Gesinnung wurzeln, die er als Mann zu bethätigen hat.
Dies ist aber nicht möglich, so lange ihm die Anwendung aller Energie des
Ehrgefühls auf eine Sache aufgenöthigt wird, welche er am Tage, wo er die
Universität verläßt, als Narrensposse von sich werfen muß. Wehe, wenn er
dann noch kein anderes Ehrgefühl hat! Wehe, wenn er nicht zuvor schon
beides besser hat auseinanderhalten lernen, als Sie, Herr Prorector, die
wahre und falsche Freiheit auseinanderhalten.
Denn triumphirend hält uns nun ferner die Prorectoratsrede entgegen,
daß auf den bayrischen Universitäten die Aufhebung des eximirten Gerichtsstandes
in der äußeren Ausgelassenheit des Studentenlebens nichts geändert habe. Wir
wissen nicht, wie dies dort zusammenhängt. Wir zweifeln nicht, daß auch die
gewöhnlichen Staatsbehörden angewiesen werden können, den Studenten gegen¬
über bei mehr als nur polizeilichen Ausschreitungen mehr als sonst ein Auge
zuzudrücken. Wir zweifeln aber stark, ob sich das die Justiz in allen Ländern
gefallen lassen würde, und sicher würde sie sich überall schämen, so ohnmächtig
zu erscheinen wie eine akademische Behörde, welche sich dabei beruhigt, daß
man ein Duell nicht abfassen kann, weil die Universitätspolizei vor dem Haus-
rechte der Localeigenthümer Halt machen muß, eine Requisition der Staats-
execution aber der corporativen Autonomie zu viel vergeben würde. Doch
nun fährt Herr Stirching fort, uns zu belehren, daß in dem äußeren Stu-
dentenleben die akademische Freiheit nicht beschlossen, sondern daß es nur
die anmuthige Blüthe sei, welche aus einem edleren Boden hervor
sprießt. Diese „anmuthige Blüthe" der Rede des neuen Prorectors vom
Katheder der Aula ist ein würdiges Seitenstück zu den „altehrwürdigen
Traditionen" aus der eines ehemaligen an die fackeltragenden Corpsburschen, von
welcher in unserem früheren Artikel berichtet worden ist. Beide Herren Magnisici
sind gewiß Männer, denen es nicht in den Sinn kommt, absichtlich etwas
Unsittliches begünstigen zu wollen, die aber zu schwach sind, sich von dem un¬
sinnigen Vorurtheile loszumachen, ein frisches Jugendleben müsse sich nun ein¬
mal in alten verrotteten Formen äußern. Wir beneiden den Herrn in Erlangen,
wenn er sich der Illusion hingeben kann, daß wirklich nur ein im Grunde
edler Geist diesen Schaum aufwirft. In der That soll dort trotz der großen
Bierconsumtion die Haltung der jungen Burschen anständiger und namentlich
von dem schlimmsten Gifte der Unkeuschheit nicht angesteckt sein. Gehen Sie
aber einmal hinüber, edler Mann des zufriedenen Vertrauens, nach Würzburg,
oder nach Göttingen, Bonn und Heidelberg und stecken sie da die Nase in den
vollsten Duft der anmuthigen Blüthe, welche aus dem Sumpfe körperlicher
und moralischer Erschlaffung emporkeimt.
Die schöne Metapher vom Sprießen der Blüthe aus edleren Boden ist aber
die kühne Wendung, mit welcher uns Herr Stintzing von der sinnlichen Unge-
bundenheit des akademischen Lebens zur Verherrlichung wahrer Geistesfreiheit
so unmerklich überleitet, daß uns dadurch die Erhaltung der ersteren mit der
der letzteren spielend vermengt wird. Nun spricht er von der Freiheit in der
Wahl der Studien, die zu einem wahren Leben derselben erforderlich ist. Er
verkennt zwar nicht, daß auch sie zu einem Privilegium der Trägheit werden
kann, welches die moderne bürgerliche Gesellschaft nicht dulden könne. Er be¬
theuert aber, daß er sie in diesem Sinne nicht fordere, sondern nur, damit
der höchste Grad individueller Kraftentwickelung möglich werde, und bricht zu¬
letzt in die große Wahrheit aus, noch nie sei das Problem gelöst worden, dem
Menschen den Gebrauch der höchsten Güter zu gewähren — und zugleich den
Mißbrauch derselben unmöglich zu machen. So geht es weiter und ist alles
richtig. Nur daß man deshalb gar nicht so in Eifer zu gerathen braucht;
denn zu alle dem bedarf es gar keiner besonderen akademischen Freiheit. Die
Freiheit der Gewissen und Gedanken ruht wahrlich jetzt bei uns auf stärkeren
Grundlagen, als ein Zunftprivilegium der Hochschulen sie geben kann. Die
Gefahren, die ihr etwa noch drohen können, liegen im praktischen Leben in
Kirche und Staat. Ihre Beschränkung im Gebiete der Forschung ist längst eine
Unmöglichkeit und bedarf keines Schutzes durch das Recht eines Standes.
Wenn also auf dieses noch immer so ängstlich gedrungen wird, so kann es
nur geschehen, um den Zopf des burschikosen Unwesens zu retten, welcher den
alten Pflanzstätten der höhern Bildung anhängt und sie gegenüber einer allge¬
meinen Volksbildung nur lächerlich macht. Das wäre aber das Wenigste. Er
macht sie heutzutage zu Pflanzstätten der Unbildung und Unfreiheit für die
Staatsdiener, welche aus ihnen hervorgehen, da er ihren Charakter verdirbt.
So lange man es also nicht deutlicher ausspricht, daß er mit der Freiheit,
welche wir alle für die Wissenschaft fordern, gar nichts zu schaffen hat,
solange man akademische Freiheit als solche besonders zu schützen bemüht ist,
erlauben wir uns auch ferner nichts dahinter zu sehen, als den Mangel an Muth,
ein altes Uebel auszuschneiden, um das Gesunde zu retten. So lange denken
wir also bei der akademischen Freiheit an die, welche ihre Spitze im Studenten¬
duell, ihre breite Basis in der Wüstheit der Corps hat. Wer den Terrorismus
gutheißt, durch den, jährlich neue Generationen in diesen Schlamm unter¬
getaucht werden, wer es für unumgänglich nöthig hält, die größte sittliche
Rohheit mit der größten geistigen Bildung fort und fort zu widriger Begattung
in einem heiligen Raum zusammen und von der frischen Luft der ganz gewöhn¬
lichen bürgerlichen Ordnung abzusperren, der kämpfe für das Palladium desselben.
Die Freiheit des Geistes bedarf dessen nicht. Sie ist ein Gemeingut der Nation.
Jene gehört in die Rumpelkammer der Exemtionen, welche jeden Stand, der
sie festzuhalten sucht, abhält, an der freien Bewegung eines Volkes, das im
Ganzen mündig geworden ist, lebendigen Theil zu nehmen. Das sehen wir
an dem Kastendüntcl, in dem die steifen Gelehrten und ihre rohen Schüler
dem Gemeinsinne des öffentlichen Lebens so fern stehen wie das Iunkerthum.
Das wird nicht aufhören, bis sie einsehen, daß sie keine andere Freiheit
brauchen als die allgemeine. Die Freiheiten sind der Freiheit Feind.
Selbsttäuschung ist es. von unserer gegenwärtigen Landesvertretung irgend¬
eine Abhilfe unserer Mißstände, einen Fortschritt zum Besseren zu erwarten.
Es fehlt dem Landtag jede Lebenskraft, es fehlt ihm jeder Wille und jedes
Vermögen, zur gedeihlichen Entwickelung unseres Staatswesens beizutragen.
Ein lebensmüder Greis tagt er Jahr aus J.,hr ein seine Zeit ab, nur hin
und wieder aus der Lethargie aufgerüttelt, wenn einzelne Borlagen ihn' ein
wenig aufregen, d. h. dann, wenn Fragen discutirt werden, von denen Stände
eine Läsion ihrer „habenden Freyheiten und wolerbrachtcn Rechte" besorgen.
Die „Solidarität der conservativen Interessen" kommt dann zur Geltung, aber
auch nur dann. Da.erwacht der schläfrige Alte, erhebt ein grimmiges Gestöhn,
richtet aber nicht vielen Schaden an, indem er der Macht der Regierung ohn¬
mächtig gegenübersteht. Alle übrigen Fragen, die lediglich das Gemeinrecht,
nicht sein eigenes berühren, lieg-er ganz außerhalb seines Gesichtskreises: „Was
gehn mich Eure Leiden an?"
Alles dies hat die letzte Session des Landtages aufs Neue dargelegt: nichts
Positives ist auf ihm erreicht, kein Fortschritt ist ihm zu verdanken. Ohne
Interesse sah man ihn zusammentreten, ihn auseinandergehen; man hatte nichts
von ihm erwartet, nichts hat er gebracht.
Es sind wenige Sachen allgemeiner Bedeutung auf ihm verhandelt, von
denen wir hier noch einmal hindeuten auf die bekannte Debatte wegen der Be-
fugniß der Prediger, ein kirchenordnungsmäßiges (christliches) Begräbniß zu ver¬
sagen. Es ist nicht das erste Mal, daß den Predigern diese Befugniß stän-
dischcrseits bestritten worden; zur Erledigung ist freilich auch diesmal diese
Frage nicht gelangt. Derjenige, der die Discussion über diesen Punkt gelesen
hat, wird daraus die Ueberzeugung gewonnen haben, daß die Macht und der
Einfluß der Geistlichkeit bei uns zu einem Grade gediehen ist, wie sonst nirgends.
Die Unabhängigkeit der Kirche vom Staate ist nicht blos erreicht — die Kirche
ist im Begriffe und Willens, sich über den Staat zu stellen. „Wir wandeln
unsere eigenen Lahnen, unbekümmert um entgegenstehende „profane" Satzungen
und Gebote, nur folgend unseren Vorschriften, und wo diese nicht ausreichen
— unserm Gewissen."
Es war ziemlich bekannt geworden, daß der Erlaß des berüchtigten Prügel¬
gesetzes auf diesem Landtag zur Sprache, seine Abschaffung zur Frage kommen
würde. Man war deshalb ein klein wenig auf die desfallsigen Verhandlungen
gespannt. Zum Verständniß des Folgenden muß für Auswärtige doch Einiges
über den Ursprung des unerhörten Gesetzes vorausgeschickt werden.
Bereits im Herbste 1862 war den Ständen der Entwurf von der Re¬
gierung vorgelegt, das Zustandekommen jedoch beim Widerspruche der Land¬
schaft (die Städte, im Gegensatze zur Ritterschaft) gescheitert. Aufs Neue ward
er 1863 eingebracht, und wiederum erklärten die Städte, ihm ihre Zustimmung
nicht geben 'zu wollen.
Die Separaterklärungen beider Stände wurden nun im März 1864 durch
das Organ der Landstände dem engeren Ausschuß der Ritter- und Landschaft
zu Rostock zur Kenntniß der Regierung gebracht. Die Landschaft ging in ihrer
Verwahrung gegen das Gesetz etwa von folgenden Grundgedanken aus: sie
könne nicht anerkennen, daß die Erlassung eines solchen Gesetzes ein dringendes
Bedürfniß sei; sie könne ihre Zustimmung einem Gesetze nicht ertheilen, wor-
nach der Gutsherr in Fällen, wo sein eigenes Interesse in Betracht komme,
die Sache selbst polizeilich untersuchen und entscheiden dürfe.
In Entgegnung hierauf wurde nun durch ein Regiminalrescript vom
2. April 1864 dem engeren Ausschusse notificirt:
Zunächst müsse die Regierung constatiren, daß sie mit Befriedigung aus
jenem Vortrage ersehen habe, in welcher allseitigen Ein- und Umsicht die ge¬
treue Ritterschaft den Entwurf in nochmalige Erwägung gezogen habe. Bis
auf einen, minder wesentlichen Punkt sei sie mit den Amendements völlig ein¬
verstanden, von jenem aber könne sie nicht abgehen, und werde demselben eine
etwas abweichende Fassung geben. — Die von der Landschaft (d. h. den Städten)
indeß zur Begründung der Ablehnung hervorgehobenen Punkte erschienen ihr
nicht stichhaltig. Denn trotz des Ablaügnens bestände ein dringendes Be¬
dürfniß nach einem solchen Gesetze. Und der fernere Vorwurf, als würde fort¬
an der Gutsherr ^juclox in sug, eausg. sein, wäre in solcher Allgemeinheit durch¬
aus nicht begründet. „Der Entwurf." heißt es a. a. O. wörtlich, hat jenen
Grundsatz nicht neu eingeführt, sondern er hat nur das Princip, nach welchem
die Anwendung einer auf Familien- und Dienstverhältnisse bezüglichen Straf¬
gewalt dadurch, daß die strafende Autorität selbst dabei interessirt ist, nicht aus¬
geschlossen wird, ein Princip, welches in vielen Anwendungen dem bestehenden
Rechte zu Grunde liegt, nicht aufgehoben." Nach dieser Rechtserörterung fährt
dann das Rescript fort: „Jener Grundsatz entspricht daher nicht blos dem in
unserem Lande bestehenden Rechte, welches die Landschaft in Bezug auf Guts¬
obrigkeiten zu alteriren nicht berechtigt ist, sondern es ist dieses Recht in dem
Entwürfe in seiner gegenwärtigen Gestalt auch mit solchen Beschränkungen und
Sicherungen der Dienstleute gegen etwaigen Mißbrauch umgeben, daß von dem¬
selben ein nachtheiliger Mißbrauch für dieselben nicht zu besorgen ist." Das
Rescript schließt damit, daß der Gesetzentwurf trotz des Widerspruchs der Land¬
schaft sofort werde publicirt werden. Und diese Publication ist denn auch durch
Ur. 17. des Regierungsblattes von 1864 am 16. April, etwas später in
Mecklenburg-Strelitz erfolgt.
Es war nicht blos die auswärtige Presse, die dies Gesetz seines Inhalts
wegen brandmarkte, auch im Inlande wurde von urtheilsfähiger Seite vielfach
die Publication trotz des Widerspruches der Landschaft getadelt. Dieser Fall
war ein novum in unserem Verfassungsleben, von dem man sich nicht erklären
konnte, wie die Regierung sich dazu hatte verstehen mögen. Die gerechtfertigte
Sensation, die diese Verordnung überall hervorgerufen hatte, diese Verletzung
ihrer wohlangebrachten Rechte und des zustehenden Widerspruchsrechts veran¬
laßte denn auch die Städte, auf dem letzten Landtage einen Protest dawider
einzulegen und die Rücknahme des Gesetzes zu verlangen. Aus der Ritter¬
schaft selbst erhoben sich Stimmen dawider und suchten die Wiederaufhebung
herbeizuführen, so u. a. das ritterschaftliche Amt Neustadt. Der Gutsbesitzer
Lemcke auf Gr.-Dratow beantragte in einer motivirten Eingabe die Beseitigung
des Gesetzes. Die Motivirung dieses Antrags ist nun aber zu charakteristisch
für die in unsrer Ritterschaft herrschenden Anschauungen, als daß wir still¬
schweigend darüber hinweggehen dürften. Den Eingang bildet eine Abwehr
gegen die vielen Verdächtigungen und Anfeindungen, die'dies Gesetz betroffen;
dieselben beruhten auf bösem Willen, oder auf Mißverstand und Unkenntniß.
Indeß dürften sich daneben die Unzuträglichkeiten des Gesetzes nicht verkennen
lassen. Denn zunächst wären die Gutsobrigkeiten bei einer noch so milden An¬
wendung des Gesetzes nicht im Stande, den Vorwürfen zu entgehen, als hätten
sie in eigner Sache gerichtet. Es sei zwar die Beziehung des Gutsherrn zum
Inculpaten ohne allen Einfluß auf die Anschauung und Beurtheilung der un¬
tersuchenden Gutsobrigkeit, indeß sei solche Beziehung sehr geeignet, Mißtrauen
zu erwecken. Die hieraus emanirenden Einwürfe wolle er — Antragsteller —
zwar gern als „Phrase" bezeichnen, indeß fänden sie im Publikum ein nur zu
williges Ohr. Auch glaube er nicht, daß durch dies neue Gesetz ein rascheres
und weniger kostspieligeres Verfahren ermöglicht werde. Endlich aber, und das
ist der durchschlagende praktische Grund für ihn: der Auswanderungslust werde
durch die Mißliebigkeit des fraglichen Gesetzes nur neue Nahrung gegeben, zu¬
mal die arbeitende Classe kein eignes Urtheil habe und fremden Insinuationen,
namentlich denen der Auswanderungsagenten, nur zu sehr zugänglich sei. Die
Auswanderung aber bewirke eine immer mehr überhandnehmende Arbeiternoth,
und um diese zu vermindern und jene zu hemmen, müsse das Land angemessene
Maßregeln ergreifen, und zu dem Zwecke empfehle er die Aufhebung jenes
Gesetzes.
Wir wissen nicht, ob dies die wahre eigne Anschauung des Antragstellers
ist, oder ob er diesen Gedankengang nur gewählt hat, um die Sache seinen
Standesgenossen mundgerecht zu machen. Nicht utilitatis causa, nicht um einen
Anreiz zur Auswanderung abzuschneiden wünschen wir die Beseitigung, sondern
weil wir darin eine Verletzung des allgemeinen Nechtsbewußtseins erkennen,
weil wir eins der obersten Principien aller Rechtsprechung: nomo juclex in
sua causa darin verletzt finden; weil wir uns davon nicht überzeugen können,
daß, wie sich das Rescript I. e. ausdrückt, „das Princip, wonach die Anwen¬
dung einer auf Familien- und Dienstverhältnisse bezüglichen Strafgewalt durch
das coincidirende eigene Interesse der strafenden Autorität nicht ausgeschlossen
wird, in vielen Anwendungen dem bestehenden Rechte zu Grunde liege." Uns
sind solche Anwendungen nirgends bekannt: man denkt doch nicht etwa an das
Züchtigungsrecht der Eltern, Lehrer und Lehrmeister? Ist ja doch auch die Pa-
trimonialgerichtsbarkeit der Städte überall da ausgeschlossen, wo das eigene
Interesse der Commun zur Frage steht.
In einer ihr durchaus würdigen Weise verhielt sich nun in der berühmten
Sitzung vom 23. November 1864 die Landtagsversammlung zum Prügelgesetze.
In der Discussion am Tage vorher wurde landschaftlicherseits hervorgehoben:
„daß es doch wohl seine Bedenken haben könne, dem Grundsatze, daß Gesetze
gegen den ausdrücklichen Widerspruch eines Standes erlassen werden
könnten, ohne Weiteres Geltung einzuräumen." — Eine in der That beneidens-
werth zarte Ausdrucksweise. Also etwas Weiteres, etwas Energischeres ver¬
mochte die Landschaft nicht hervorzubringen! — Aus der Debatte sind einzelne
Aeußerungen hervorragender Ritter so charakteristisch, so drastisch, daß sie in
der That eine recht weite Verbreitung verdienen. Der Landrath Graf Basse-
Witz-Schwiessel meint zunächst, es würde völlig unnütz sein, auf den Antrag
Lemckes einzugehen, da Stände wüßten, welche Wichtigkeit die Negierung diesem
Gesetzentwurfe seit Jahren beigelegt habe. Das Gesetz sei vielfach mißdeutet
und entstellt worden, aber eine unvorsichtige Ausdrucksweise gebe vielleicht
Unkundigen Veranlassung zu solchen Mißdeutungen. Herr Oberhauptmann
v. Oertzen-Lübberstorf'sept sodann hervor: das neue Gesetz enthalte nichts,
was nicht auch schon in den früheren enthalten gewesen sei; es seien nur die
Unbestimmtheiten des alten Gesetzes in dem neuen aufgehoben worden. „In
Mecklenburg habe die Gutsherrschaft noch die polizeiliche Ge¬
walt; hier herrsche noch die gute alte Ordnung, und deshalb werde das
Land von außerhalb angefeindet,' namentlich von den Seiten, die alles zu zer¬
stören suchten." Lie!
Nachdem nun Herr Po gge-Blankenhof darauf hingewiesen, daß das vor¬
liegende Gesetz ein sehr unglückliches für das Land geworden sei, das es in
jüngster Zeit wie kein anderes zum Gegenstande des Spottes gemacht worden; daß
es aber jedem, der es mit dem Vaterlande gut meine', daran liegen müsse, den
guten Ruf aufrecht zu erhalten, und es niemandem gleichgiltig sein dürfe, wenn
der Höchste wie der niedrigste im Lande mit Spott überschüttet werde:
da erhob sich in seinem Zorn der edle Ritter Josias v. Pluskow auf Kol-
batz und sprach die denkwürdigen Worte: „man könne es sich nur zur
Ehre und zum Stolz anrechnen, wenn man von den Schandblät¬
tern anderer Länder so mit Spott und Hohn beworfen werde
wie eS mit Mecklenburg geschehen sei." Dem gegenüber äußerte nun
P ogge ganz richtig: daß es wohl Personen geben könne, welche sich das zur
Ehre anrechneten; jedenfalls gebe es andere, die Werth darauf legten, wenn
es nicht geschehe; und Herr v. Oertzen-Braun that seine Pflicht, wenn er
hervorhob: „er theile auch die Ansicht, daß es nicht gleichartig sei, wenn im
Auslande in der ungünstigsten Weise über Mecklenburg geurtheilt würde, und
man müsse das. was hierzu Veranlassung gebe, aus dem Wege räumen."
Das Resultat der Debatte war das. von der Regierung die Declaration
eines Punktes in §. 2 des Gesetzes zu erbitten, da dieser Passus allerdings
zu Mißverständnissen Veranlassung geben könne.
Jeder aber, der unbefangen die Debatte verfolgt hat, muß zu der Ansicht
gelangen, daß von unsrer Landtagsversammlung eine Umkehr zum Guten, ein
Einlenken zum Besseren nicht gehofft und erwartet werden kann. Und diese
Erwartung hatten auch hinsichtlich des Prügelgesetzes Wenige gehegt: über das
Gesetz selbst und seine Unzuträglichkeiten wollen wir heute kein Wort mehr
verlieren, es ist darüber bereits so viel schätzbares Material zusammengebracht
worden, daß es Eulen nach Athen tragen hieße, wollten wir noch einmal darauf
zurückkommen. Herrn v. Pluskow beneiden wir um seinen Muth, seine Ehre
in dergleichen finden zu mögen, bitten ihn aber gleichzeitig, einmal die Verhand¬
lungen des fünften deutschen Juristentags, Bd. II., nachzusehen, um sich zu
überzeugen, daß es nicht blos „Schandblätter" sind, die über das Prügelgesetz
den Stab gebrochen haben.
Die Annexion Schleswig-Holsteins. Ein Sendschreiben an die Wahlmänner der
Stadt Halle und des Saalkreises von Theodor Mommsen. Berlin, Weid¬
männische Buchhandlung. 1865.
„Theodor Mommsen hat erfreulicherweise von den in verschiedenen Blättern
über seine politische Gesinnung in der Schleswig-holsteinischen Frage gemachten Mit¬
theilungen Anlaß genommen, seinen Standpunkt in einer Broschüre offen darzule¬
gen. Wir müssen gestehen, wären alle „Annexionisten" wie Mommsen, könnte eine
Verständigung zwischen ihnen und uns Schleswig-Holsteinern kaum schwierig sein.
Mommsen verdammt die gewaltsame Annexion in Ausdrücken, wie sie kaum schärfer
je geschrieben sind. Mommsen anerkennt das Recht des Herzogs Friedrich; Momm¬
sen achtet das Selbstbestimmungsrecht der Schleswig-Holsteincr „auch dann, wenn
das, was sie bestimmen, uns unzweckmäßig erscheinen sollte;" Mommsen sagt, daß
es sich darum handelt, „ob ein Land sein Wort halten soll oder zurücknehmen,
und wenn der alte Satz, daß man an Königsworten nicht drehen oder deuteln soll,
heutzutage seine Geltung verloren hat, so gilt dies doch nicht von dem Wort eines
Landes." Mommsen glaubt allerdings, daß vielleicht die ganze Annexion der halben,
wie er die nach seiner Meinung Preußen zu machenden Concessionen nennt, vorzuzie¬
hen sei; aber er ist sich „dessen sehr wohl bewußt, daß die Schleswig-Holsteiner besser
als er die Verhältnisse kennen und vollständiger als er in der Lage sind, darüber
zu entscheiden, was den Herzogthümern frommt." Wir glauben, daß kein Schles¬
wig-Holsteiner Mommsens Schrift lesen wird, ohne ihm sür den offnen Freimuth,
für die Achtung des Rechts und des Volkswillens, die sich auf jeder Seite aus¬
spricht, zu danken. Mommsen hat mit Herrn v. Treitschke fast nichts gemein!"
"
So lesen wir in einer Korrespondenz „von der,Eider im „Hamburger Korre¬
spondent", und zwar nicht mit dem Erstaunen, mit dem man, mit dem vielleicht
Herr Mommsen selbst dieses Urtheil hier lesen wird. „Der Correspondent" ist seit
einigen Wochen der Moniteur gewisser Herrn in Kiel und „von der Eider" heißt
hier wohl „aus dem herzoglichen Preßburccm". Der Vcrscisser der Anzeige des momm-
scnschen Sendschreibens sagt fast nichts geradezu Unrichtiges, aber der Biene gleich, die
aus der Blume nur den „erfreulichen" Honig nimmt, ihr nicht Passendes dagegen
unberührt läßt, zog er aus der Broschüre nur das, was den Kielern süß däuchte.
Es ist aber auch Bitteres darin, und es wird nützlich sein, wenn wir an unserm
Theil beitragen, daß die Landsleute und die politischen Freunde Mommsens darüber
nicht in Zweifel bleiben. Wir werden dabei zugleich Gelegenheit finden, kurz an¬
zudeuten, in welchen Behauptungen wir nicht mit ihm zu gehen vermögen.
Das Sendschreiben hält es zunächst für sonnenklar, daß, wenn wir ein deut¬
sches Parlament hätten, von Meswig-holsteinischem Particularismus und preußi¬
scher Anncxionslust nicht die Rede sein würde, worin wir nicht mit dem Verfasser
übereinstimmen. Es nennt dann die jetzigen Zustünde Deutschlands überhaupt- pro¬
visorische und räth den Schleswig-Holstcincrn, sich damit über ihr specielles Provi¬
sorium zu trösten, womit wir ganz und gar einverstanden sind. Es weist dann
nach und zwar mit Gründen, die wir unterschreiben, daß die Annexion der Elb-
herzogthümer in Preußen populär ist, fragt hierauf, ob wir Preußen, da es ein
einiges Deutschland zur Zeit nicht giebt, helfen dürfen, Schleswig-Holstein preußisch zu
machen, oder ob wir „dazu verurtheilt sind, eine jener Pseudosouveränctätcn mehr da¬
selbst begründen zu sollen, die von dem Staate alles haben, nur mit Ausnahme dessen,
was groß und national ist." Daß die Einverleibung der Herzogthümer Schwierig-
leiten habe, heißt es hier zunächst, liegendem vor Augen, doch sei nicht undenkbar, daß
sie demnächst, wenn auch nicht in den nächsten Monaten, realisirt und selbst ohne
besondern Anstoß realisirt werde. Dann meint der Verfasser, auf gewaltsamen
Wege dürfe nicht annectirt werden, wie in Deutschland überhaupt nicht, so ganz
besonders in Schleswig-Holstein nicht, weil das hier brutal und perfid zugleich sein
würde, eine Ansicht, die uns nicht genügend begründet und am wenigsten glücklich
mit Sätzen empfohlen zu sein scheint, wie der, wo von tur violcMus und Frevel an
„fremdem Gut" gesprochen wird, oder wie der folgende, wo es heißt: „nicht für Vorschie-
bung der schwarz-weißen Grenzpfähle glaubten unsrejungcn Leute zu sterben, die in Schles¬
wig die dänische Kugel traf." Sollten das nicht lapsus ealarm sein? Einen An¬
dern als den verehrten Verfasser würden wir uns hinsichtlich der letzteren Behaup¬
tung zu fragen erlauben, ob er vielleicht Berichte habe, nach denen die sterbenden
Musketiere von Düppel und Athen mit dem Namen des Herzogs Friedrich auf den
Lippen zu Gott eingegangen sind, oder daß sie für den Dünkel der Normal-
menschen der Schleswig-holsteinischen Vereine zu sterben vermeinten, die sie Ende
Januar 18L4 wie Feinde empfingen, und die jetzt die Schilderhäuser derer anspu¬
cken, ohne die sie nimmermehr frei geworden wären.
Mehr einverstanden können wir mit der folgenden Partie der Broschüre sein,
welche die Anncctirung in militärischer und maritimer Beziehung nicht blos als ein
Recht, sondern als eine Pflicht Preußens darstellt, nur verlangen wir vollstän¬
dige Erfüllung der Preußischen Forderungen und namentlich nicht blos, wie Momm-
sen, eine ewige Convention in Militärsachen, sondern Einreihung der Schleswig-hol-
steinischen Mannschaften in die preußische Armee durch den Fahneneid.
Vortrefflich dagegen und gar nicht zu dem Honig passend, den die Biene von
der Eider in die Columncnwabc des „Hamburger unparteiischen Korrespondenten"
trug, ist, was Mommsen zunächst, auf Seite 17 und 13 über die Form sagt, in
welcher die Forderungen Preußens durch die künftige Regierung und Vertretung Schles-
wig-Holsteins zu legalisiren sein werden.
„Man sagt häufig, daß der einzig legale Weg zu diesem Ziele derjenige sei, die
Landcsvcrsammlung der Herzogthümer einzuberufen, und von dieser die Annahme
jener Forderungen zu erwarten. Die Legitimisten und die particularistischen Demo¬
kraten, beide, namentlich aber jene in den Herzogthümern besonders zur Zeit vor¬
wiegend und wunderlich mit einander verquickt, sind in dieser Forderung einig, ob¬
wohl aus sehr verschiedenen Gründen. Jene erwarten, daß der erste Act der Landes-
vcrscunmlung die Einsetzung des Herzogs Friedrich sein werde, und wollen sodann
den Vertrag mit Preuße» nach der hergebrachten Schablone abschließen; diese fordern
das Selbstbestimmungsrecht des Schleswig-holsteinischen Volkes ganz und unverkürzt.
Jener Ansicht soll die formale Consequenz nicht abgesprochen werden; aber die Be¬
hauptung, daß Schleswig-Holstein ein Staat von vicrhundertjähriger Dauer und
der Regierungsantritt des Herzogs Friedrich ein gewöhnlich«' Successionsfall sei, ist
einfach eine Absurdität, und die desfälligen erd- und staatsrechtlichen Demonstrationen
des prätcndircndcn Legitimismus haben, ans diese Spitze getrieben, das gewöhnliche
Schicksal, nicht widerlegt, aber überhört und vergessen zu werden. Das Selbstbe-
stimmungsrecht ferner des Schleswig-holsteinischen Volkes ist an sich vollkommen
berechtigt, aber es ist kein unbedingtes, sondern findet seine Schranken an den
allgemeinen Interessen der deutschen Nation. Denn es giebt eben kein Schles-
wig-holstcinischcs Volk, sondern nur ein deutsches, und wo dieses spricht, hat
jenes zu gehorchen. Wir kennen fie wohl, diese Gattung von Particularismus, die
schlimmste von allen, die den beiden großen Grundgedanken verwahren Demokratie,
dem Princip der Nationalität und dem Princip der Majorität zugleich ins Gesicht
schlägt, noch von der Paulskirche her; ihre factiöse Opposition gegen die deutsche
Verfassung, weil ihr die preußische Spitze und einiges Andere darin mißfiel, auch
damals verbündet mit derjenigen der legitimistischen Particularistcn, hat nicht am
wenigsten dazu beigetragen die Nation um die Früchte jenes großen Jahres zu be¬
trügen. Wohl ist es auch in dieser Hinsicht ein Unglück, daß eine formell berech¬
tigte deutsche Centralgewalt zur Zeit nicht existirt und Preußen seine Legitimation
nur aus der zwingenden Macht der Verhältnisse hernimmt; mancher Kurzsichtige
mag dieses nicht zu begreifen vermögen, mancher Eigensinnige mit Erfolg sich selber
belügen. Aber die Sache selbst wird darum nicht anders: unter Umständen hat der Ge¬
schäftsführer ohne Austrag gerade so viel Pflichten und so viel Rechte wie der Mandatar.
Die Schleswig-Holsteincr vor allem sollten dies nicht verkennen. Unter den vielen
taufenden von elenden Tagen, die sie in der dänischen Zwingherrschaft der letzten
Decennien zubrachten, ist keiner zu Ende gegangen, ohne daß Tausende und aber
Tausende dort die Preußen herbeigerufen hätten gegen die Dänen als das Schwert
von Deutschland. Wollten sie wirklich jetzt, wo das Schwert geblitzt und getroffen
hat, wo dasselbe sich anschickt weithin über die deutschen Meere sich auszustrecken,
wollte» sie jetzt auch nur sagen: wir acceptiren nicht, wir pactiren — nun, der
Pöbel aller Sorten in Deutschland würde ihnen freilich Bravo rufen, aber von den
Bessern in Deutschland wäre die Antwort: Pfui!
Indeß nicht blos diese principiellen Bedenken sprechen dafür, hinsichtlich der
mit Recht von Preußen gestellten Forderungen den Herzogthümern das Vcrcinba-
rungs- oder Mitbcstimmungsrecht nicht zu gestatten. Wer mit den Verhältnissen
einigermaßen bekannt ist, wird es zweifelhaft finden, ob die Schleswig-holsteinische
Landcsvcrsammlung, einerlei nach welchem Wahlgesetz man sie beruft, auf diese
Forderungen eingehen würde, wenn sie so, wie es gewünscht wird, an dieselbe ge¬
langten. Sie enthalten eine schwere Belastung des Landes; und ob einer überwiegend
aus Landleuten bestehenden, vorzugsweise von Legitimitätsgcfühl und Particular-
patriotismus getragenen, von keiner dominirenden Intelligenz beherrschten Versamm¬
lung die politische Nothwendigkeit unbedingt einleuchten und in ihr durchschlagen
wird, wer kann das verbürgen? Aus den letzten Erklärungen der Schleswig-holstcinschen
Vereine oder vielmehr nur ihres Ausschusses auf jene Entscheidung zurückzuschießen,
ist im hohen Grade bedenklich, um so mehr als dessen Bekehrung vom specifisch-an¬
tipreußischen Particularismus mit einer zwar sehr erfreulichen, aber keineswegs für
die Zukunft beruhigenden Plötzlichkeit erfolgt ist. Indeß wir beurtheilen vor allem
Schleswig-Holstein nicht nach den zur Zeit sogenannten Schleswig-holsteinischen Vereinen.
Vielmehr, da der gesunde Menschenverstand auch eine Großmacht ist, leben wir der
sicheren Hoffnung, daß bei der nächsten (bei der nächsten gewiß nicht) Schleswig-holsteinischen
Landcsvcrsammluug er die erste Rolle spielen wird, und davon sind wir sehr fest überzeugt,
(in dieser Ueberzeugung irrt der Verfasser wieder) daß die Männer, die zu der Fahne
unseres unvergeßlichen Lehmann stehen, in dieser Versammlung nicht so völlig fehlen
werden wie in derjenigen, die vor Kurzem bei uus mit dem Anspruch auftrat, Schles¬
wig-Holstein vor Deutschland zu vertreten. Aber naiv bleibt es doch, uns Preußen
zuzumuthen, daß zuerst und vor allen Dingen eine Versammlung einberufen werde,
der möglicherweise der angestammte Herzog mehr werth sein wird, als die Zukunft
Deutschlands. Und was soll denn werden, wenn wirklich jene Versammlung sich
an Wien und Frankfurt hält statt um Berlin, und die berechtigten Forderungen
Preußens ablehnt oder durchkreuzt? Soll etwa vor dem Particularismus das
Schwert gestreckt werden, das die Dänen aus dem Lande schlug? Oder soll etwa
dann der Vercinbarungsstandpunkt aufgegeben und schließlich doch zum Zwang ge¬
griffen werden? Wahrscheinlich ist ein solcher Fall nicht, aber möglich; und die
bloße Möglichkeit genügt, um von der Vereinbarungstheorie gänzlich abzusehen."
Mommsen meint nun, daß es am besten sein würde, wenn die Herzogtümer
sich, vertreten durch eine Anzahl Fachmänner, mit Preußen über die zukünftige
Ordnung des Verhältnisses zwischen Schleswig-Holstein und Preußen ver-
Ständigem. Er meint ferner, daß die lctztgewähltcn Mitglieder der holsteinischen und
schleswigschen Stände vielleicht am besten geeignet sein würden, diese Vertrauens¬
männer des Landes zu bezeichnen. Er will denselben endlich nur eine berathende
Stimme einräumen. Wir würden damit einverstanden sein, wenn uns die Sache
nicht deshalb illusorisch schiene, weil die Mehrzahl der Stände aus Particularisten
vom reinsten Wasser besteht. Wir könnten die Herren nennen, die aus dieser Wahl
hervorgehen würden, und wir sind überzeugt, daß Mommsen dieselben nicht einmal
als Beiräthe willkommen heißen würde. Dagegen schließen wir uns der Broschüre
insofern durchaus an, als wir sagen, bis die neue Ordnung im Einzelnen formulirt
und ihre Verwirklichung vollkommen gesichert ist, „muß das Provisorium dauern und
kann weder von Einberufung der Landesvcrsammlung noch von Anerkennung des
Herzogs die Rede sein. Wir hoffen, daß das preußische Volk bis zu diesem Punkt
in dieser Sache zu der gegenwärtigen Regierung stehen wird, ohne sich irren zu
lassen, weder durch das Zetergeschrei der Particularisten in Schleswig-Holstein und
im übrigen Deutschland, noch durch die Warnung unsrer liberalen Consequcnzmacher,
unter keinen Umständen mit dem gegenwärtigen Ministerium zu gehen."
Völlig unsre Meinung. Bedenklich dagegen die Anmerkung, nach welcher es
„zwei ganz verschiedene Dinge sind, die von unsrer Negierung in dieser Angelegenheit
befolgte Politik zu billigen und die Mittel' zu deren Durchführung dem gegenwärtigen
Ministerium zu bewilligen." Wir denken, wer den Zweck gut heißt, muß auch die
Mittel zu dessen Erreichung hergeben, und diese hier verweigern, heißt den Haß gegen
das Ministerium Bismarck über die Liebe zu Preußen und die Sorge für dessen
und Deutschlands Zukunft stellen. Und wenn Mommsen fortfährt: „da das Aus-
gabenbcwilligungsrecht des Landtags durch die Regierung einmal suspendirt ist, so
ist dasselbe damit eben ganz suspendirt, auch für die Fälle, wo die Regierung wie
der Landtag materiell einig sind," dann wenn er diese Behauptung wiederholt, in¬
dem er sagt, die Regierung habe den Abgeordneten ihr Mitverfügungsrecht über die
Finanzen des Landes genommen und sie könnten „ein Recht nicht gebrauchen, das
sie nicht mehr haben", so sind das Sophismen, die wir gewissen Herren in Kiel
als in deren Natur begründet gern verzeihen würden, die uns aber bei einem klaren
^eist wie Mommsen wieder nur als laxsus Miami erscheinen.
Bisher hat Mommsen nur als Preuße und zwar bis auf die beklagenswert!)-
Anmerkung als guter Preuße gesprochen. Was er weiter sagt, spricht der geborne
Schleswiger, und das hat die Biene wohlweislich fast ganz unberührt gelassen. Wir
aber wollen es in der Kürze mittheilen, obwohl es Viel eher unserem Freund
Treitschke, als unsern Gegnern in Kiel zusagen wird.
„Setzen wir den Fall, daß Preußen sich mit diesen Forderungen begnügt, als den
für die Herzogtümer denkbar günstigsten, so stehen alsdann nicht wir Preußen,
aber wohl die Schleswig-Holstciner vor der ernsten Frage, ob es möglich und dem
Lande zuträglich ,ist, das Regiment daselbst in der bezeichneten Weise zwischen dem
^roßstcmt Preußen und der eigenen Landesregierung zu spalten.
Der Kern alles nationalen wie provinzialen und communalen Sclbstregimcnts ist die
Finanzverwaltung- Nach dem oben Gesagten würde das preußische Marincbudget sür die
Herzogthümer nach Verhältniß der Kopfzahl ohne weiteres maßgebend fein und das
Militärbudget zwar von ihren Vertretern festgestellt werden, aber nicht relativ gc-
U"ger ausfallen können als das preußische, da der Präsenzstand der preußischen
Armee für die Herzogthümer maßgebend sein muß und aus diesem die Ziffer des
Militärbudgets im Wesentlichen mit Nothwendigkeit folgt. Nach dem diesjährigen
Preußischen Budget betragen Militär- und Marinekostcn ungefähr zwei Siebentel
der gesammten Staatsausgaben und auf eine tiefgreifende Verminderung dieser
Vcrhältnißzcchl ist nicht zu rechnen, da den bei dem Militär nothwendigen Reduc-
tionen die ebenfalls nothwendigen sehr beträchtlichen Mehrausgaben sür die Marine
gegenüberstehen. Die Herzogthümer würden also in die Lage kommen, daß ihnen
eine von Jahr zu Jahr schwankende, durchschnittlich zwei Siebentel ihrer Gesammt-
ausgabe betragende Abgabe von Jahr zu Jahr von Berlin aus ausgelegt werden würde,
ohne daß sie in dieser Hinficht auch nur gefragt und gehört worden wären. Eine
Fixirung dieser Summe ist unthunlich; denn die Kriegspflicht und was daran hängt
ist ihrem Wesen nach eine wandelbare Last, die keine Landschaft durch eine einmalige
Capitalzahlung oder Nentcnlcistung von sich abwälzen kann. Ebenso unpraktisch
würde der Gedanke sein, das künftige combinirte Militär- und Marincbudget durch
die combinirte Vertretung der beiden Staaten bewilligen'zu lassen."
Unter den Bedenken, die jene partielle Annexion hervorruft, ist das finanzielle
das wesentlichste, aber keineswegs das einzige. Die Herzogthümer werden, wenn
dieselbe sich realisirt, alle Nachtheile des Großstaats zu tragen haben ohne einen
seiner Vortheile. Ihre Angehörigen werden in der preußischen Staatsbcamtenlauf-
bahn stets Stiefkinder sein und bei dem politischen Leben und Treiben in dem preu¬
ßischen Staat Zuschauer; sie werden nichts empfinden von dem schönen Begegnen
der verschiedenartigen Stämme in dem gleichen politischen Denken und Handeln,
das uns in der Verbindung der Ostpreußen und der Rheinländer, der Brandenbur¬
ger und der, Westphalen ein Vorgefühl giebt von dem befruchtenden Segen der
deutschen Einheit."
„Aber, sagen die Schleswig-Holsteincr, wir haben geschworen. Nun, ich habe
nicht geschworen, da ich preußischer Staatsbürger bin, aber ich habe mich bei dem
Abgeordnetentag in Frankfurt, bei den Beschlüssen des preußischen Abgeordnetenhauses
im December 1863 betheiligt, und feierliche öffentliche Erklärungen dieser Art stehen
für den gewissenhaften Mann dem Huldigungseide wesentlich gleich. Ich bin auch
heute noch wie damals überzeugt, daß das Erbrecht des Herzogs von Augustenburg
ein so wohl begründetes ist, wie es bei einem so weit zurückreichenden und so ver¬
zettelten und verfilzten Successionsfall irgend denkbar ist. Aber ich bin nie Legitimist gewesen
und kann nicht einräumen, weder daß jener Schleswig-holsteinische Kleinstaat bereits
besteht, noch daß derselbe darum aufgerichtet werden muß, weil ein wahlberechtigter
Prätendent vorhanden ist. Allerdings habe ich mit vielen Andern, in dem ersten
Stadium der Schleswig-holsteinischen Krise geglaubt, daß die einzig günstige Lösung
derselben in der Einsetzung des Herzogs Friedrich zu finden sei. Als aber dann die
Macht der Verhältnisse sich stärker erwies als diejenige des Herrn v. Bismarck," —
„da stand es vom ersten Augenblick an sest, daß dieser jetzt uicht über, sondern durch
Preußen erfochtene deutsche Sieg, diese praktische Geltendmachung seines Berufes
Deutschlands Grenzen und Deutschlands Meere zu vertheidigen, auch hinsichtlich der
Ordnung der Verhältnisse nach dem Frieden von tiefgreifenden und dauernden Folgen
sein müsse. Wenn solche Wendungen eintreten, wie das Fallenlassen der Personal¬
union, das Aufnehmen des nationalen Programms durch Preußen, wie der Fort¬
schritt von Missunde zu Düppel und Alsen, so besteht die Consequenz nicht darin,
an dem Buchstaben des Programms festzuhalten, sondern an dem Geist, der allein
lebendig macht.
Auch für den gewissenhaften Mann können Verhältnisse eintreten, wo ein ge¬
gebenes Wort zurückgenommen werden muß; besser ein Verlöbnis) lösen als eine
Ehe schließen, die keine ist. — Wir werden es dem Herzog Friedrich nicht vergessen,
daß er durch sein Erscheinen in Kiel nicht am wenigsten dazu beigetragen hat die Krise
zu steigern und Preußen wider seinen Willen in jene Action hineinzuziehen, die endlich
entschied. Aber nicht Mitgefühl und Dankbarkeit dürfen in dieser Frage entscheiden,
noch weniger Menschenfurcht und Conscqucnzmachcrci. "
Darstellungen aus der Sittengeschichte Roms in der Zeit von August bis zum Aus¬
gang der Antonine. Von Ludwig Friedliindcr. Zweite vermehrte Auflage.
I. Theil. Leipzig, S. Hirzel. 1865.
Indem wir uns im Hinblick auf Autor und Publikum aufrichtig freuen,
daß die obengenannte Schrift in verhältnißmäßig so kurzer Zeit eine zweite
Auflage erlebte, bemerken wir, daß dieselbe in der That eine wesentlich ver¬
mehrte ist, und daß der Verfasser sorgfältig die bezüglichen Ergebnisse eigner
Studien sowie die seit Erscheinen der ersten Auflage zu Tage geförderten neuen
Funde der rasch fortschreitenden archäologischen Wissenschaft außer ihm berück-
sichtigt hat. Dies gilt namentlich von dem Capitel über die drei Stände im
kaiserlichen Rom, in welchem der Abschnitt über den dritten Stand völlig um¬
gearbeitet und dabei sehr beträchtlich erweitert worden ist, und von der an¬
muthigen kleinen Abhandlung über das Märchen von Amor und Psyche, welches
vorzüglich durch Berücksichtigung der hahnschcn Sammlung neugriechischer
Märchen gewonnen hat. Mit Erlaubniß des Verfassers geben wir im Folgenden
einige Auszüge aus der ersterwähnten der beiden Partien des Buches.
In der ungeheuren Mehrzahl der Bevölkerung Roms, die man dem
senatorischen hohen und dem niedern Adel der Ritter gegenüber als den dritten
Stand bezeichnen kann, überwog das Proletariat bei weitem. Dagegen war
die Zahl der zu diesem Stand gehörigen Handwerker und Kleinhändler ver¬
hältnißmäßig gering. Doch fehlte es unter dieser Schicht der Bewohner Roms
keineswegs an wohlhabenden Leuten, und zwar fanden sich solche besonders
unter solchen, die nach dem Grundsatz „ron viol" arbeiteten, d. h. für schmutzig.
Wenigstens für nicht recht anständig geltende, aber einträgliche Geschäfte.
Latrinenreinigung z. B., Leichenbesorgungen, Badereien. Versteigerungen u. d.
betrieben. Namentlich das letztere Gewerbe war sehr rentabel, was sich der
Verfasser durch den ungewöhnlich schnellen Wechsel des Besitzes in Rom erklärt.
Arruntius Euarestus, ein Auctionator, der nach Caligulas Ermordung eine
Rolle spielte, war nach Josephus einer der Reichsten im damaligen Rom und
sehr einflußreich. Martial ferner räth, einen Knaben, der fortkommen wolle,
nur ja nicht studiren zu lassen; vielmehr solle er sich auf die Cither oder Flöte
legen, oder, wenn er einen harten Kopf habe, Baumeister oder Auctionator
werden.
Auch gelehrte Berufsarten wurden, sofern sie nicht den Sklaven
überlassen blieben, fast ausschließlich von Personen aus dem dritten Stande
erwählt. Welche Lebensstellung sie gewährten, weiß man ziemlich genau. Ueber
den Lehrerstand haben wir früher das Nöthigste mitgetheilt. Dagegen wird
ein Bericht über Advocaten und Aerzte sowie über einige andere hierher ge¬
hörige Berufsarten mancherlei Neues von Interesse bringen.
War die Kunst der Rede schon im Hörsaal bisweilen ein reichliche Zinsen
tragender Besitz, so ließ sie sich vor den Schranken der Gerichtshöfe noch vor¬
theilhafter verwerthen, und so geschah es nicht selten, daß der als Lehrer thätige
Rhetor sich gelegentlich oder für immer in einen Sachwalter verwandelte.
Dies war auch ohne gründliche Kenntniß von Recht und Gesetz leicht zu be¬
werkstelligen; denn zu Anklagen und Vertheidigungen bedürfte es in erster Linie
der Beredsamkeit und erst in zweiter juristischer Bildung. Nach jener strebten
daher selbst solche Gerichtsredner, die sich möglichst allseitig für ihren Beruf
ausbilden wollten, ganz hauptsächlich. Die große Mehrzahl des Standes, die
Handwerksadvocaten, besaß nichts als Nedefertigkeit und mußte sich, des Rechtes
durchaus unkundig, bei Processen von juristischen Beiständen, sogenannten
Pragmatikern, berathen lassen.
Die Advocatur war der gewöhnlichste Weg, den damals Leute des
dritten Standes einschlugen, wenn sie sich zu Ansehen und Besitz emporarbeiten
wollten. Sie war der einzige bürgerliche Beruf, in dem Niedriggeborne sich
durch Talent und Glück zum ersten Stande aufzuschwingen vermochten, wie
denn Marcellus Eprius und Vidius Crispus auf dieser Laufbahn zum Con-
sulat, zur Freundschaft der Kaiser und großer Macht emporstiegen. Andere
berühmte Gerichtsredner waren wenigstens von der vornehmen Welt umworben
und ihre Namen in aller Munde. Wieder andere gelangten zwar nicht zu
Rang und Stand, wohl aber zu bedeutendem Vermögen, und es war dies eine
sehr anständige Art sich zu bereichern. Natürlich gab es aber neben diesen ge¬
suchten und hochhonorirten Anwälten eine Menge kleiner Winkeladvocaten, die
man für vier Reden mit einem Goldstück abfand, und die, da hiervon noch
der Pragmatiker bezahlt werden mußte, nicht einmal ihre Wohnungsmiethe
verdienten. Häufig wendete man marktschreierische Mittel an, um sich einen
Namen und Kunden zu verschaffen, erschien mit einem großen Bündel Schriften,
in reicher Kleidung, mit vielen Sklaven und Clienten vor Gericht, ließ bei der
Verhandlung kostbare Ringe, die geliehen waren, an den Fingern blitzen, miethete
Leute zum Bravorufen und Klatschen u. s. w. Doch waren solche Manöver
nicht bei allen erfolgreich, viele machten Bankerott oder mußten ihr Fortkommen
in fernen Provinzen suchen. Da oft Advocaten ihre Beredsamkeit an jeden
Zahlenden verkauften und jede, auch die ungerechteste Sache vertheidigten, wenn
sie nur einbrachte, so galten vielen die Gerichtsredner insgesammt für ein
„käufliches Geschlecht", und da dieselben bei ihren Plaidoyers nicht nur die
Gegenpartei, sondern auch einander selbst mit Schimpfreden zu bedienen pflegten,
so geschah es, daß die Gegner des Berufs die Beredsamkeit der Anwälte eine
„hündische" schalten.
Der ärztliche Beruf wurde bis in die späteste Zeit vielfach von Frei-
gelassnen und Sklaven ausgeübt. Die freien Aerzte waren zum größten Theil
Ausländer, Griechen und Orientalen, besonders Aegypter. Römer befaßten sich
mit der Medicin sehr selten, schon weil die Patienten zu Fremden mehr Zu¬
trauen hatten. Indeß gab es auch gesuchte römische Aerzte, namentlich unter
den Hofärzten der ersten Kaiserzeit. Vettius Valens, Leibmedicus des Kaisers
Claudius, gehörte sogar dem Ritterstand an, zu welchem College» von ihm
vielleicht öfter aufrückten, wie z. B. der Freigelassene Antonius Musa, der August
durch eine kühne Kaltwasserkur rettete, nachdem er schon aufgegeben worden
war. Da man im Alterthum weder von einer Prüfung noch von einer Ver¬
antwortlichkeit der Aerzte wußte, so drängten sich zur Ausübung der medicinischen
Kunst, die im Fall des Gelingens gute Honorare abwarf, auch viele Unberufene.
Schuster, Schmiede, Zimmerleute, Färber gaben ihr Handwerk auf und machten
den Pfuscher, und zu Galens Zeit gab es in Rom eine gute Anzahl solcher
Herren, die nicht einmal fertig lesen konnten. Der Zudrang steigerte sich, als
Thessalus, ein vom Weberlehrburschen plötzlich zum Arzt gewordener Grieche,
der unter Nero der gesuchteste Heilkünstler Roms war, die tröstliche Erklärung
abgab, daß ein halbes Jahr Studium zur Erwerbung der nöthigen medicinischen
Kenntnisse ausreiche.
Ziemlich häusig werden Specialärzte erwähnt. Es gab solche, die sich nur
mit der Pflege der Zähne beschäftigten, Gehör- und Augenärzte, Aerzte weib¬
lichen Geschlechts für Frauenkrankheiten, Aerzte für Brüche, Fisteln, und
Kehlkopfsleiden.
Die Einnahmen solcher Heilkünstler, die in der vornehmen Welt Roms
ihre Praxis hatten, waren sehr doch. Plinius erwähnt zweimal ein Honorar
von 200,000 Sesterzen (14,500 Thlr.), das für den Fall des Gelingens einer
Kur im Voraus festgesetzt wurde. Galen erhielt von dem Consularen Boethus
für die Herstellung seiner Gemahlin 400 Goldstücke, die in unserem Gelde einer
Summe von 2,900 Thlrn. entsprechen. Stertinius erwarb durch seine Stadt¬
praxis jährlich 600,000, Crinas aus Massilier hinterließ zehn Millionen Sesterzen.
nachdem er die Mauern seiner Vaterstadt und andere Mauern für eine kaum
geringere Summe hatte erbauen lassen.
Die ärztliche Charlatanerie wurde in allen Formen geübt. Die Heilkünstler
ertheilten ihren Rath, verabreichten ihre Mittel und nahmen selbst Operationen
vor in Buden und Läden, die nach der Straße zu offen waren, und die un¬
wissendsten waren am meisten darauf bedacht, ihre Lokale mit elfenbeinernen
Pillen- und Salbenbüchsen, silbernen Schröpfköpfen und Messern mit vergoldetem
Griff auszustaffiren. Epictet sagt, in Rom sei es bereits dahin gekommen, daß
die Aerzte die Patienten zum Eintreten bei sich einluden. Auch der Verkauf
von Medicamenten, welche die Aerzte zum großen Theil selbst bereiteten, war
eine gute Einnahmequelle, besonders da man meinte, daß die theuersten Arzneien
die wirksamsten seien. Viele Aerzte beschäftigten sich mit der Komposition von
kosmetischen Mittelchen, andern sagte man nach, daß sie Zauberkünste und Gift¬
mischerei betrieben, sehr viele bemühten sich eifrig mit der Bereitung von Gegen¬
giften, die von einer großen Anzahl Leuten als Präservative regelmäßig ge¬
braucht wurden.
Von selbst versteht sich, daß ein Stand, zu dem jeder leicht Zutritt fand,
und dessen Mitglieder starken Versuchungen ausgesetzt waren, viele unlautere
Elemente enthielt. Außer der Giftmischerei warf der Volksmund den Aerzten
besonders oft Ehebruch vor. Ferner galten sie für habsüchtig, streitliebend,
neidisch auf den Erfolg von College», für grob, hochmüthig und andererseits
Vornehmen gegenüber sklavenhaft unterthänig.
Sehr häufig kamen neue Heilmethoden auf. Die Kaltwasserkur spielte in
Rom wiederholt eine Rolle. Asklepiades aus Bithynien, der in der letzten
Zeit der Republik zuerst als Lehrer der Beredsamkeit, dann aber, da seine
Einnahmen aus dieser Erwerbsquelle ihn nicht befriedigten, als Mediciner auf¬
trat, curirte seine Kranken hauptsächlich dadurch, daß er ihnen eine zweckmäßige
Diät vorschrieb. Sein Glück machte er aber vorzüglich durch Anbequemung
an die Launen der Patienten und durch unerhörte Charlatanskünste, indem er
Kräuter zu kennen vorgab, durch die man Seen und Flüsse austrocknen, alles
Verschlossene öffnen, Heere in die Flucht jagen und sich alle Dinge im Ueber¬
fluß verschaffen könne. Ueberhaupt stand die Magie mit der Medicin in viel¬
fältigem Zusammenhang: sie wurde von den Aerzten keineswegs immer in be¬
trügerischer Absicht, sondern oft auch in gutem Glauben angewendet. Selbst
Galen war von dem unermeßlichen medicinischen Aberglauben der damaligen
Zeit nicht ganz frei. Und sogar die, welche alle Zaubermittel verwarfen, wagten
nur selten den Werth astrologischer Berechnungen in Abrede zu stellen, die
besonders in Aegypten der Therapie zu Grunde gelegt wurden und vielen Nicht-
ärzten für unentbehrlich galten.
Auch die Astrologie war eine einträgliche Kunst und zwar nicht erlaubt,
aber geduldet, soweit sie nicht auf die Person des Kaisers oder auf Staats¬
angelegenheiten angewandt wurde. Astrologen, vorzugsweise Griechen und
Orientalen, gingen am Hofe wie in den Palästen der Aristokratie als Vertraute
aus und ein und waren bei den wichtigsten und gefährlichsten Unternehmungen
Anstifter und Rathgeber. Dem Astrologen Thrasyllus, der bis zum Tode
Tibers der unzertrennliche Begleiter des Kaisers blieb, legte man am Hofe einen
unbedingten Einfluß auf den sonst so verschlossenen Monarchen bei. Vespasian
bewilligte dem ephesischen Astrologen Barbillus zu Gefallen der Stadt Ephesus
die Einrichtung eines periodischen Festspiels, eine Bevorzugung, die er sonst
keiner Stadt zu Theil werden ließ. Auf den Rath desselben berühmten Stern¬
deuters ließ Nero im Jahre 65 beim Erscheinen eines Kometen mehre Vornehme
hinrichten. um so die ihm angeblich drohende Gefahr abzuwenden. Ueberhaupt
lag nicht selten das Schicksal fürstlicher Geschlechter in den Handen von Hof-
astrologen. Der Unterthan, dem sein Horoskop nach ihrer Aussage den Thron
verhieß, hatte in der Regel nur zwischen Verschwörung oder eigenem Untergang
die Wahl. So soll der Tod Ncrvas aus diesem Grunde bereits von Domitian
beschlossen und nur durch einen ihm wohlwollenden Sterndeuter abgewendet
worden sein, der den Kaiser glauben machte, Nerva habe nur noch wenige Tage
zu leben.
Die Astrologie war die eigentlich aristokratische Art der Prophezeiung und
verhielt sich in Bezug auf das Ansehen, das sie genoß, zu den populären Arten,
dem Wahrsagen aus der Hand, aus Würfeln, Sieben, Schüsseln, aus Käse
und aus Feuer, etwa wie in neuester Zeit der Somnambulismus, das Tisch¬
klopfen und der Psychograph zu der Erforschung der Zukunft aus Karten, Blei¬
guß und Kaffeesatz. Nur ist zu bemerken, daß damals die von den höheren
Standen vorzüglich begünstigte Art der Prophezeiung auch unter Leuten des
dritten Standes sehr verbreitet war, und daß es neben jenen vornehmen Pro¬
pheten auch eine große Anzahl Winkelastrologcn gab, die geringerem Volk für
ein Billiges dienten. Diese hielten sich besonders am Circus auf und weissagten
dem Bauersmann den^Ausfall der Ernte, Brautleuten den Tag ihrer Hochzeit,
lauernden Erben die Zeit, wo der betreffende reiche Vetter sterben mußte, sagten
Bauherrn den rechten Augenblick zur Legung des Grundsteins ihres Hauses,
Reisenden den passendsten Moment für den Antritt ihrer Fahrt u. f. w.
Sehr gesucht waren von Leuten des dritten Standes die Subaltern¬
dienste bei den Magistraten und Priesterschaften, die meist von Freigelassnen
versehen wurden, lebenslänglich und besoldet waren und auch durch Kauf er¬
langt werden konnten. Die niedrigsten Stellen dieser Art waren die der Aus¬
rufer und Amtsboten, für höher galten die der Victoren, für die einflu߬
reichsten und einträglichsten sind die der Schreiber bei den Quästoren und
Aedilen anzusehen. Jene geringeren Subalternbeamten betrieben zuweilen neben
ihren amtlichen Geschäften ein Handwerk oder einen Kram; diese höheren,
deren Posten selbst von Rittern gesucht wurden, scheinen gewöhnlich Männer
von freier Geburt gewesen zu sein. Daß sie mit ihrer vieljährigen Geschäfts-
erfahrung auf ihre jährlich wechselnden Vorgesetzten großen Einfluß übten, ist
klar; gewiß überließen diese ihnen häufig die Besorgung - der Geschäfte sogar
ganz, und da sie dann Anordnungen, namentlich in Bezug auf Marktpolizei
und Kassenverwaltung, selbständig treffen konnten, so fehlte es ihnen nicht an
Gelegenheiten, sich viele zu verpflichten.
Am stärksten drängten sich wohl die jungen Männer aus dem Volke zum
Militärdienst. Die Besatzung Roms, zehntausend Prätoriancr, zwischen
vier- und sechstausend Soldaten der Stadtcohorten, wurde ausschließlich aus
Freigebornen, die ebenfalls militärisch organisirte Feuerwehr, etwa sieben¬
tausend Mann, die zugleich Nachtwächterdienste versahen, aus Freigelassenen
angeworben.
Die Gemeinen der römischen Besatzung standen im Solde und Range über
denen der Legionen. Die der Stadtcohorten hatten bei zwanzig Dienstjahren,
wie es scheint, einen Sold von einem Denar, die der Garde (Prätorianer)
bei sechzehn Dienstjahren zwei Denare täglich. Hierzu kamen aber noch sehr
ansehnliche Geschenke bei außerordentlichen Gelegenheiten, besonders Thron¬
besteigungen, wobei die Garden immer am meisten erhieltein so z. B. an jedem
Jahrestage der Thronbesteigung des Claudius je hundert Sesterzen, nachdem
sie bereits ein für alle Mal Mann für Mann fünfzehntausend Sesterzen erhalten
hatten. Nicht blos der hohe Sold aber, die Aussicht auf Beförderung zu
höher» Posten und die Lust am Waffenhandwerk und Waffenschmuck lockten zum
Eintritt in den Militärstand, sondern sicher auch dessen mit der Zeit immer
mehr zunehmendes Ansehen. In einem Gedicht aus dem Anfang des zweiten
Jahrhunderts wird unter andern Vorzügen jenes Standes besonders betont,
daß der Soldat sich ungestraft manchen Uebermuth gegen den Civilisten erlauben
durfte. Schlug ein Soldat einen Mann in der Toga, so getraute sich dieser
niemals den Schlag zu erwidern, ja er wagte nicht einmal vor Gericht über
den etwa ausgeschlagnen Zahn oder das hoffnungslos zugerichtete Auge zu
klagen. Denn vor den Militärgerichten, die über die Vergehen von Angehörigen
der bewaffneten Macht abzuurtheilen hatten, nahm stets die ganze Kohorte
gegen den Ankläger Partei, und niemand war kühn genug, für ihn als Zeuge
aufzutreten. Es war leichter, einen falschen Zeugen gegen einen Nichtsoldaten,
als einen wahren gegen einen Soldaten zu finden.
Wie die Legionen in den Provinzen an trotzigem Uebermuth den Garden
in der Hauptstadt nichts nachgaben, mag folgendes, bei Apulejus zu lesendes
Beispiel zeigen.
Ein Legionssvldat begegnet in der Prqvinz Macedonien auf der Landstraße
einem Gärtner, der auf einem Esel reitet. Er richtet mit hochmüthiger und
dreister Geberde eine Frage auf lateinisch an ihn, die dieser nicht versteht und
daher nicht beantwortet. Der Soldat säumt nicht, die seinem Stande gleich-
sam angeborne Unverschämtheit an den Tag zu legen; er schlägt dem Gärtner
sofort mit seinem Nebstock den Kopf blutig und wirft ihn von seinem Esel
herunter. Der Gärtner entschuldigt sich demüthig. Darauf will ihm jener den
Esel gewaltsam entreißen. Der Gärtner legt steh erst aufs Bitten, worauf der
Soldat mit brutalen Drohungen antwortet, dann aber wird jener von seinem
Verdruß übermannt, packt den frechen Burschen, wirft ihn zu Boden und be¬
arbeitet ihn so lange mit Faustschlägen, bis er sich todt stellt. Dann entreißt
er ihm seine Waffen und flieht nach der nächsten Stadt, wo er sich bei einem
Freunde versteckt. Der Soldat begiebt sich ebendahin und fordert seine Kameraden
zur Rache auf. Diese klagen den Gärtner bei der Behörde an, sich diebischer
Weise ein Silbergcfäß des Statthalters angeeignet zu haben, er wird entdeckt
und ins Gefängniß geworfen, um mit dem Tode zu büßen.
Der Eintritt in die am meisten bevorzugte Garde wurde natürlich am
meisten gesucht, war aber auch am schwersten zu erlangen. Vermuthlich wurden
hierzu nur die größten und stärksten Leute genommen und keinem der Eintritt
erlaubt, der nicht wenigstens S Fuß 10 Zoll maß. Die ganze Besatzung Roms
wurde anfänglich ausschließlich aus Italienern gebildet. Später ergänzte man
sie immer nur aus solchen Provinzen, deren Bewohner in ihrer äußern Er¬
scheinung und ihren Sitten nicht sehr beträchtlich von den Römern abstachen,
z. B. aus Spanien, Macedonien und Noricum. Erst Sever führte zum höchsten
Aerger seiner Römer die Neuerung ein, die Veteranen aus den Legionen aller
Provinzen in die Leibgarde ausrücken zu lassen, wodurch die Hauptstadt mit
einer Menge von Kriegsvolk aus allen Gegenden des Reichs, Burschen von
wildem Aussehen, rohen Gewohnheiten und furchtvar klingender Rede gefüllt
wurde. Die junge Mannschaft Italiens aber, die sich durch diese Anordnung
aus dem bisher vorzugsweise ihr zugänglichen Kriegsdienst in der Stadt ver¬
drängt sah, wandte sich, wie Dio erzählt, jetzt dem Gladiatoren- und Banditen¬
handwerk zu.
Wer vom Gemeinen auf diente, beschloß gewöhnlich seine militärische Lauf¬
bahn mit dem Grade eines Centurio, doch brachten es Einzelne auch bis zum
Legionstribun oder zum Präfecten einer Reiterschwadron. Hiermit aber hörte
die Beförderung dieser Classe von Militärs auf. Indeß konnten Angehörige
des dritten Standes auf Grund von Gunst und Empfehlung zuweilen sogleich
als Centurionen eintreten, und das war schon eine ansehnliche und deshalb
vielbegehrte Stellung. Von hier aus konnte man sich durch Glück, Verdienst
oder das Wohlwollen hochgestellter Gönner selbst bis zum Senatorenstande
aufschwingen oder doch die Ritterwürde und mit dieser Aussicht auf die hohen
Posten erlangen, die dieser Classe offen standen. Beispiele dafür berichtet
Fnedländer mehre. Justus Catonius, im Jahre 14 Obercenturiv in einer
harmonischen Legion, starb im Jahre 43 als Militärgouverneur von Rom. Der
spätere Kaiser Pertinax erhielt durch den Consularen Lollius Avitus das Cen-
turionat und stieg, nachdem er sich in einem Feldzug gegen die Parther aus¬
gezeichnet, schnell zu immer bedeutenderen ritterlichen Aemtern in Heer, Flotte
und Verwaltung und schließlich zur senatorischen Würde und zum Consulat
empor. Auch Nassaus Rufus, der in der Zeit der Antonine niedrig geboren
und ohne Erziehung aufgewachsen war, begann seine Laufbahn als Centuno,
wurde dann Tribun der römischen Feuerwache und, nachdem er bis zum
Tribunat einer Kohorte Garden aufgerückt war, nacheinander kaiserlicher Pro¬
kurator in Spanien, Noricum, Belgien und Germanien. Hierauf wurde er
Chef der kaiserlichen Finanzverwaltung. Getreideprcifect, Vicekönig von Aegyp-
ten, endlich Militärgvuvcrneur von Rom und erhielt die consularischen Ehren¬
zeichen.
Endlich muß in Rom die Zahl derjenigen vom dritten Stande sehr groß
gewesen sein, die von sogenannten Clientendiensten entweder ganz und
gar oder doch theilweise lebten. Von der ursprünglichen Clientel hatte dieses
Verhältniß kaum mehr als den Namen. Jene war ein Pietäts-, dieses ein
Miethsverhältniß. Der Client der älteren Republik war ein treuer Anhänger und
Vertrauter seines „Patrons", von diesem berathen und geschützt, der Client
der Kaiserzeit dagegen ein bloßer Figurant in dem Troß seines „Herrn", von
diesem karg belohnt und verächtlich, behandelt. Der persönliche Antheil des
Patrons am Geschick des Clienten hörte schon in der letzten Zeit der Republik
allmälig auf, je zahlreicher die Clienten des einzelnen Hauses wurden, desto
äußerlicher mußten die Beziehungen zwischen ihnen und dem Patron werden.
Mehr und mehr bildete sich die Sitte aus, daß der angesehene Mann sich mit
einem Gefolge niederer Leute umgab, dessen Größe sich nach seinem Stande
und Vermögen richtete und hierauf wieder zurückschließen ließ, sein Auftreten
so glänzend als möglich machte. Da diese Mode mit der Zeit selbst wenig
begüterte Geschäftsleute um ihres Credits willen eine Anzahl von Clienten zu
halten nöthigte, so wurde der Zudrang zu dieser Stellung bei der Abneigung
der Römer vor dem kleinen ehrlichen Erwerb immer stärker und eine große
Menge dürftiger Menschen stand für geringen Lohn dem Reichen zur Bildung
seines Hofstaats zu Gebote. Die Entschädigung, die ihnen gewährt wurde,
war sehr unbedeutend, und wurde durch die zunehmende Concurrenz noch mehr
herabgedrückt. Außer dem regelmäßigen Tagelohn — zu Martials Zeit zehn
Sesterzen — pflegten den Clienten noch gelegentlich andere Entschädigungen
zuzufließen. Dazu gehörten Einladungen an die Tafel des Herrn, wenn dieser
sich einmal seines lange vernachlässigten demüthigen „Freundes" erinnerte und
gerade ein Platz leer war. Ferner warf es bisweilen ein Geschenk ab, etwa
einen abgetragenen Mantel, eine drei oder vier Mal gewaschene Toga, mitunter
wohl auch ein paar Tausend Sesterzen oder ein kleines Landgütchen — letzteres
vermuthlich als Belohnung jahrelanger Dienste. Manchmal gewährte der Patron
dem Clienten freie Wohnung. Auch Unterstützungen durch Darlehne. Bürg-
schaft, Rechtsbeistand und sonstigen Schutz scheinen noch in der Regel erwartet
und gewährt worden zu sein. Im Ganzen aber war der Erwerb der Clienten
ein sehr spärlicher. Manche wurden fast ganz und gar mit Hoffnungen gespeist,
und „kaum zwei oder drei," sagt Martial. „hat der Besuch vornehmer Bor¬
zimmer wirklich ernährt, die Menge der Uebrigen ist vor Hunger blaß."
Der Dienst der Clienten war ziemlich beschwerlich. Er bestand zunächst
darin, daß sie ihrem „Herrn" oder „König" täglich in der ersten Frühe ihre
Aufwartung zu machen hatten, da ein wohlgcfülltes Atrium zu den noth«
wendigsten Erfordernissen eines angesehenen Hauses gehörte. Da aber die
Clienten pünktlich da sein mußten und infolge dessen lieber auf Einlaß warteten
als zu spät kamen, auch oft sehr weite Wege hatten, so mußten sie gewöhnlich
schon vor Tagesanbruch ihre Wanderung antreten und hatten häusig nicht
Zeit auszuschlafen. Eine fernere Unbequemlichkeit war, daß der Client vor
seinem Patron nicht anders als in der Toga, dem Staats- und Feierkleide, er¬
scheinen durfte, einem heißen schweren Mantel, der seit dem Anfang der Mon¬
archie in Rom immer seltener und bald für die Clienten eine auszeichnende
Tracht wurde. In dieser vielverwünschten Toga traten sie, wie bemerkt, in der
Regel schon vor Sonnenaufgang ihre Wanderungen an. Kein Wetter durfte
sie zurückhalten, weder der pfeifende Nordwind, noch selbst Schneefall, der doch
sonst einen genügenden Entschuldigungsgrund abgab, wenn man einer Einladung
nicht folgte. Dazu kam dann noch der Straßenschmutz, und die ungeheuren
Entfernungen, die sich um so mehr geltend machten, als die meisten Clienten
täglich zu mehren Besuchen verpflichtet waren. Denn die Morgenvisite war nur
die wichtigste ihrer Obliegenheiten, die Mehrzahl war durch ihren Dienst einen
großen Theil des Tages in Anspruch genommen. Sie mußten, wenn ihr Herr
öffentlich erschien, seinem Tragsessel oder seiner Sänfte vorausschreiten oder
folgen und seine sämmtlichen Besuche mitmachen. Ging er aufs Land oder auf
Reisen, so hatten sie sich bereit zu halten, einen leeren Platz in seinem Wagen
einzunehmen. Las er seine Gedichte vor, so wirkten sie als Claqueurs. Redete
er vor Gericht, so brüllte „der Haufe in der Toga" Bravo. Alles, was er
redete oder that, wurde von ihnen, den stets unterthänigsten Dienern, als vor¬
trefflich gepriesen.
Nicht nur von seinem Patron, sondern auch von dessen Bedienten hatte
der bedauernswerthe Client die größten Demüthigungen zu ertragen. Häusig
ließ man ihn lungernd nach Gelegenheit, seine gehorsamste Frage nach dem
Befinden des Gebieters anzubringen, vor der Thür stehen. Hatte er ein drin¬
gendes Anliegen, und wollte er nicht unter den gewöhnlichen Vorwänden, der
Herr sei nicht zu Hause, lasse sich rastren, beschäftige sich mit Wichtigerem, z. B.
mit der feierlichen Aufbewahrung des zum ersten Mal abgeschornen Haares
eines Lieblingssklaven, so mußten sie ihren sauern Erwerb daran wenden, die
Thürsteher zu bestechen. Und war es ihnen endlich gelungen, durch die halb¬
geöffnete Pforte hineinzuschlüpfen, so hatten sie im Innern des Hauses den
Uebermuth des vornehmeren Bedientenvolkes zu überwinden und neue An¬
strengungen zu machen, um endlich vorgelassen zu werden. Gewöhnlich ließ
sich der Hausherr nur herbei, den Morgengruß des „Haufens" in vorher be¬
stimmter Reihenfolge entgegenzunehmen, und öffnete nicht einmal den Mund
zum Gegengruß. Ja es galt schon für Herablassung, wenn er sich des Namens
seines demüthigen „Freundes" zu erinnern geruhte. Der Client dagegen surfte
nicht wagen, ihm anders als mit der größten Ehrerbietung zu begegnen, wenn
er nicht in Ungnade fallen und der gehofften Belohnung verlustig gehen wollte.
Noch schmählicher wurde der Client behandelt, wenn er einmal zur Tafel
des Patrons gezogen wurde. In vielen Häusern wurde er. wie andere Tisch¬
genossen, namentlich Freigelassene, in jeder Beziehung anders bewirthet, als
der Herr und die ihm an Rang gleichstehenden Gäste. Dieser trinkt aus kost¬
baren Gefäßen, der Client aus einem irdenen Topf. Dem Hausherrn wartet
die Blüthe der Jugend Kleinasiens auf, dem geringen Gaste ein Mohr mit
knöchernen Fäusten, dem man bei Nacht nicht auf der Landstraße begegnen
möchte. Die Sklaven lassen sich vergebens rufen und reichen ihm steinhartes
verschimmeltes Brod, während der Herr mit zartem weißen Weizenbrod bedient
wird. Dem Herrn wird ein Prachtfisch mit Riesenspargeln und das feinste
Oel gereicht, dem Clienten ein gemeiner Tiberfisch und Oel, das nach der
Lampe riecht. Er darf sich nicht unterstehen, dem gnädigen Herrn zuzutrinken,
und öffnet er unaufgefordert den Mund zum Reden, so läuft er Gefahr hin¬
ausgeworfen zu werden. Dagegen mußte er sich gefallen lassen, als Zielscheibe
für die schlechten Witze des Hausherrn und seiner vornehmern Gäste zu dienen.
So in der Zeit Martials und Juvenals. Später erweiterte sich der Ab¬
stand zwischen Patron und Clienten noch mehr, und zwar theils infolge des
Zudrangs zu diesem Erwerbszweig, theils und vorzüglich durch die seit dem
zweiten Jahrhundert zunehmenden Einflüsse orientalischer Anschauungen. Mar-
quardt meint, bei dem sinkenden Einfluß des Adels am Ende des ersten Jahr¬
hunderts sei das Institut der Clientel in Verfall gerathen. Friedländer kann
dies nicht einsehen. Er sagt: „Wenn auch die altadeligen Familien immer
mehr abnahmen, so traten fortwährend neue an deren Stelle, und ich glaube
nicht, daß wir zu der Annahme berechtigt sind, die Zahl der großen, reichen
und vornehmen Familien in Rom sei im zweiten und dritten Jahrhundert
geringer gewesen als im ersten. Da nun unzweifelhaft Senatoren von jungem
oder gar keinem Adel durch Vermögen, Rang und Einfluß ganz dieselben Vor¬
theile gewähren konnten, als altadelige, so konnte es ihnen auch in den späteren
Immer allgemeiner wurde sklavische Demuth der Geringeren den Höheren
gegenüber. Schon bei Epictet kommt es vor. daß römische Große sich von
Bittstellern die Hand küssen lassen. Andere neue Züge enthalten die Schilderungen
Lucians. Die Clienten müssen es ertragen, wenn sie von den Sklaven des
Gebieters Hunde und Schmarotzer gescholten werden. Die Patrone prangen
in Purpurgewändern, spreizen die Finger, um ihre Ringe sehen zu lassen und
tragen überhaupt einen überladenen Prunk zur Schau. Die ihnen Nahenden
müssen zufrieden sein, wenn sie stumm angeblickt und statt von dem Herrn von
einem aus dem Gefolge angeredet werden. Besonders hochmüthige Patrone
lassen sich sogar Fußfälle thun, „nicht viel anders als es bei den Persern Sitte
ist; schon im Herankommen muß man sich bücken und die Seele erniedrigen
und ihren Zustand durch eine entsprechende Körperhaltung ausdrücken. Dann
muß man ihnen die Brust oder die rechte Hand küssen, wobei man von denen
beneidet wird, welche dieser Ehre nicht theilhaftig geworden sind." Als Lohn
folgte eine klägliche Bewirthung, wobei die Gäste oft gegen ihren Willen ge¬
nöthigt wurden, sich zu betrinken.
Die Meisten, die sich zu dieser unwürdigen Dienstbarkeit hergaben, waren
allerdings von niederem Stande, „Leute mit durchlöcherten Mänteln", Lumpen-
Volk also. Allein auch Manche, die aus bessern Verhältnissen herabgekommen
waren, fristeten so ihr Leben, und selbst Männer von Bildung konnte Dürftig¬
keit nöthigen, sich unter den rohen Haufen zu mischen, der in vornehmen
Häusern das Clientengewerbe betrieb. Martial und der Verfasser des Lob¬
gedichts auf Piso sind Beispiele, Das Haus des letzteren, wo man keinen
Gefallen an plumpen Clienten fand, die nichts verstanden, als dem Herrn vor¬
anzugehen und ihm Platz im Volksgedränge zu schaffen, und wo man den
gebildeten Freund geringeren Standes nicht hochmüthig verschmähte und mit
Füßen trat, wird jedoch zu den Ausnahmen gehört haben.
Zum Schlüsse ist daran zu erinnern, daß die Bevölkerung Roms in der
Kaiserzeit, vorzüglich infolge der unaufhörlichen Einführung von Sklaven aus
allen Provinzen des Reichs, von denen jährlich Hunderte die Freiheit erhielten
und in den dritten Stand eintraten, im höchsten Grade aus allen Völker¬
schaften gemischt war. Dazu kam jene fortwährende Masseneinwanderung von
Freien aus den verschiedensten Gegenden, die Rom überfluthete und es im
zweiten Jahrhundert zu einer „griechischen Stadt" machte, obwohl der geringste
Theil der griechisch redenden Eindringlinge wirklich aus Hellas stammte, die
Mehrzahl vielmehr aus Kleinasien und Syrien hergekommen war.
Gerade die freigelassnen Ausländer waren häufig im Besitz großer Reich¬
thümer, die sie> theils im Dienste vornehmer Häuser, wo namentlich Griechen
und Orientalen sich unentbehrlich, beliebt oder gefürchtet zu machen verstanden,
theils durch kaufmännische Geschäfte erworben hatten, die vielfach in den Händen
dieser rührigen und betriebsamen Söhne des Ostens waren. Der Reichthum
des Freigelassnen war schon zu Anfang der Kaiserzeit sprichwörtlich, ebenso
aber auch seine Prahlerei, seine Prunksucht und sein widerwärtiger Dünkel.
Die Spiegel, vor denen die Töchter dieser Glückspilze sich schmückten, kosteten
mehr, als in der alten guten Zeit die Töchter verdienter Männer vom Staat
zur Mitgift erhalten hatten. Sie wetteiferten mit der Aristokratie in sybaritischen
Luxus, trugen psundschwere Fingerringe, wechselten während der Mahlzeit fast
ein dutzend Mal die Toilette, schwelgten in den edelsten Weinen und den aus¬
gesuchtesten Speisen, während sie ihren Gästen gemeine Kost und gemeinen
Krätzer vorsetzten. Sie, vie ehemals die Peitsche gefürchtet hatten, die wohl gar
die Spuren früherer Brandmarkung unter Schönpflästerchen verstecken oder von
verschwiegenen Aerzten aus der Haut tilgen lassen mußten, blähten sich jetzt
in dem Genuß, Bessere ihr Geldprotzenbewußtsein empfinden zu lassen.
Indeß neben diesem Hochmuth, den der reichgewordene ehemalige Sklave
zur Schau trug, und neben jener hündischen Clientendemuth fehlte es auch
nicht ganz an Aeußerungen edlen Selbstgefühls, welches der niedrig geborne,
aber tüchtige und seiner Kraft sich bewußte Freie gegenüber dem verkommenen
Adel empfand. „Unzüchtige spanische Tänze und Gesänge," sagt Juvenal,
„passen nicht in ein bescheidenes Haus, sondern in die prächtigen Paläste der
Reichen. Würfelspiel und Ehebruch ist für Geringe schändlich; thun jene dasselbe,
so werden sie munter und artig genannt." „Im niedrigsten Volke," heißt es
bei demselben Dichter, „wirst du Männer von Beredsamkeit finden, welche die
Processe der unwissenden Adeligen führen; aus dem Volke kommen sie, welche
die Knoten des Rechts und die Räthsel der Gesetze entwirren; seine Jugend,
im Wasserwerk geübt, zieht nach dem Euphrat und zu den Adlern, die über
die gebändigten Bataver wachen, während jene, die keinen Vorzug aufzuweisen
haben, als ihre unermeßliche Ahnenreihe, armlosen Hermenbildern gleichen —
in hoher Lebensstellung ist gesunder Sinn selten."
Wie aber diese kräftigen Elemente aus dem dritten Stande der Bevölkerung
Roms fort und. fort in die Höhe stiegen, während die schwachen und unfähigen
aus den obern allmälig auf den Grund sanken, wie die drei Stände in stetem
Wechsel und unaufhörlichen Uebergängen bis zu einem gewissen Grade ihren
Inhalt gegen einander austauschten, das kann freilich aus so vereinzelten That¬
sachen und Andeutungen, wie sie für die Schilderung des Verfassers vorlagen,
nur in sehr unvollkommner Weise erkannt werden.
Genügend bekannt ist, daß die hurter-kioppsche Clique neuerdings ver¬
sucht hat, dem dreißigjährigen Kriege bis zum Erscheinen Gustav Adolfs in
Deutschland den Charakter eines Religionskrieges abzusprechen. Gustav Adolf
soll die Meinung, daß es ein solcher sei, künstlich erzeugt und verbreitet haben.
Weiter behaupten diese Geschichtsverfälscher, der König sei in Deutschland
nirgends ersehnt worden, nirgends populär gewesen, und die Verehrung, die
er hier genossen haben soll, sei eine schwedische Fiction. die von den pro¬
testantischen Geschichtschreibern bis zur Gegenwart festgehalten würde. Zwar
findet eine solche tendenziöse Historik schon in dem objectiven Thatbestand der
geschichtlichen Facta ihre Zurückweisung. Aber noch deutlicher tritt die Lächerlich¬
keit dieser modernen ultramontanen Kritik bei Beachtung von Privatbriefen her¬
bor, welche die Stimmung der Zeitgenossen am schärfsten und naivsten aus¬
sprechen.
Eine sehr große Zahl im k. sächsischen Archive befindlicher Briefe von
Agenten und Vertrauten des kurfürstlichen Hofes aus den verschiedensten deutschen
Städten aus den Jahren 1629 und 1630, die Res. durchgelesen hat, bieten
neben dem Ausdruck der Stimmungen und Ansichten der Zeit manche für die
Geschichte und Culturgeschichte jener Zeit interessante Notizen, welche mit jenen
Zeugnissen der öffentlichen Meinung zu einem Gesammtbilde vereinigt einen
Beitrag zur Geschichte des dreißigjährigen Krieges liefern. —
„Es läßt sich ersehn, als wenn das evangelische Wesen im Reiche gar zu
Grunde gehn wollte: der Allerhöchste verhüte es gnädiglich." Diese Aeußerung
aus Wien kann als der Ausdruck der allgemeinen Stimmung betrachtet werden,
welche 1629 und 1630 alle Briefe aus Süddeutschland, alle die entsetzlichen
Berichte über die schamlose Reaction gegen den Protestantismus durchdringt.
Von Wien aus, dem Centrum dieser Reaction, hetzten und wütheten die Jesuiten
(Jesuwider, wie sie in diesen Berichten stets genannt werden). Kinder wurden
in Wien gepeitscht, um sie zur Bekehrung zu zwingen, Männer entzogen .sich
den fanatischen Verfolgungen durch Selbstmord. Am Neujahrstage 1629 forderte
ein Jesuit in der Predigt den Kaiser zum Krieg und Blutvergießen auf, „denn
mit ketzerischen Blute werde das Fegefeuer zum guten Theile gelöscht, und des
Kaisers Vorfahren, sonderlich sein seliger Vater werde dadurch erfrischt werden.
Auch brauche der .Kaiser den zugesagten Frieden nicht zu halten -, denn auch
Petrus habe den Herrn nicht zu verläugnen versprochen und ihn doch verläugnet,
und es wäre doch sein Stuhl erhoben worden, welchen Se. päpstl. Heiligkeit
noch besitzt." Damals wurde auch der Sohn des Kaisers von den Jesuiten
beim Vater angeklagt, daß er nicht gut eifrig katholisch sei und nicht sxeeialiter
beichte. Auf ernstes Vorhalten des Kaisers soll sich der Sohn sehr energisch
vertheidigt haben, daß ihn die Jesuiten in der Beichte nach Regimentssachen
befragt, die ihn nichts angingen, und bei einer Procession ging er bald darauf
an dem Altar der neuen Jesuitenkirche vorüber, ohne ihn zu beachten. Bei der
Erbitterung, welche das unverschämte Treiben der Pfaffen erregen mußte, ist
es nicht wunderbar, wenn auch in den Erbländern des Kaisers, wie in Böhmen,
wo seit langer Zeit mit aller Gewalt reformirt worden war, immer noch Viel¬
fach Widerstand vorkam. Als in Prag ein Kapuziner behauptete, daß ein
katholischer Priester über dem Herrn Christus stehe, spuckten Hunderte, die es
hörten, während der Predigt unmuthig aus, und in Eger ließ man Esel das
Weihwasser in der Kirche aussaufen. Der Korrespondent fügt seine Verwun¬
derung bei, daß man die Esel nicht gehängt habe.
Liest man die jammervollen Berichte über die Executionen zur Durchführung
des Rcstitutionsedicts selbst in Reichsstädten, wie schwäbisch-Hall und Augs¬
burg,*) wo das Edict rechtlich gar nicht geltend gemacht werden konnte, so be¬
greift man, wie man sich in allen protestantischen Kreisen nach Erlösung sehnen
mußte, mochte sie herkommen, von wo sie wollte. Denn die, welche im Vater-
lande helfen sollten, konnten oder wollten nicht helfen. Wie vergeblich waren
alle Vorstellungen des Kurfürsten von Sachsen gegen die Mißhandlungen der
Augsburger. „Die vertröstete Hilfe bleibt zu lang außen," wird im September
1629 nach Dresden geschrieben, „es ist auch der Sachen mit Jutercedieren,
Erinnern, Klagen und Suppliciercn nicht zu helfen: es muß öl et armatg,
msiru geschehn; außerdem ist alles umsonst. Der Teufel will nit mehr be¬
schworen, sondern mit Gewalt ausgetrieben sein. Wir werden zu grausam
bedrängt, ärger als unter den Türken."
In den Briefen jener Zeit aus Norddeutschland sind es weniger Klagen
über Verfolgung der Protestanten, welche als solche von dem übermächtigen
Herzog von Friedland aus Politik geschont wurden, als vielmehr Jammerberichte
über die Brutalität, mit der Wallenstein als politischer Herr in den von seinen
Truppen besetzten Ländern auftrat, und über die Excche der schlecht bezahlten
und beutelustigen Soldateska des Herzogs, durch welche die Territorien der zum
Theil mit dem Kaiser verbundenen Reichsfürsten zu Grunde gerichtet wurden.
Einmal kommt eine bemerkenswerthe Aeußerung über Tilly vor, wohl zu merken
Vor der Magdeburger Katastrophe, die ihm nach Klopps Meinung erst durch
schwedische Intriguen einen Übeln Leumund verschafft haben soll. Ganz ernst¬
haft wird aus Hamburg 1629 in der jener Zeit eigenen mythischen Einkleidung
das Urtheil der öffentlichen Meinung berichtet, daß ein feuerspeiender Rabe
dem General Tilly von Ort zu Ort folge. „Dies sind seltsame Sachen." setzt
der Correspondent hinzu, „aber Gottes Gerichte kann niemand entflieh»." Es
ist bemerkenswert!), daß von Wallenstein niemals etwas ähnliches erzählt wird,
obgleich er viel despotischer war, als Tilly, seine Soldaten es viel ärger trieben
als die tillyschen. Die katholische Härte des von Charakter ehrenwertheren
Tilly war es, weswegen ihn der Volksmund vom Bösen verfolgen ließ.
Einer der Berichte erzählt vom Herzog von Friedland Folgendes. Als er
im November 1629 Von Schwerin nach seiner Residenz Güstrow zurückgehn
wollte, wurde er auf ein über dem schweriner Schlosse sichtbares Wunder¬
lichen an der Sonne aufmerksam gemacht. Es scheinen Nebensonnen mit
Regenbogenfarben gewesen zu sein, in denen man mit der zeichengläubigen
Phantasie jener Zeit sofort eine schlimme Vorbedeutung sah. Auch der Herzog
war davon sichtlich betroffen. „Doch." setzt der Briefschreiber hinzu, „seposiw
tanäkiri terrors olixit: vsus röZvÄt irr ooelis, nos in tsrris",*) eine Aeußerung,
die uns den Herzog, wie er leibt und lebt, vor Augen stellt. Bei solcher Sinnes¬
art konnten ihm die Dämonen des Glaubens seiner Zeit freilich lange Zeit
nichts anhaben. bis sie endlich doch den trotzigen Selbstling so umstrickten, daß
er im Vertrauen auf sie zaudernd zu Grunde ging.
In Mecklenburg verstand es der Herzog durch seine umsichtig organisirte.
aber seinen Zeitgenossen ungewohnte und daher drückende Finanzverwaltung sich
Geld zu verschaffen. Die Stadt Güstrow mußte dem Herzog jährlich 14.000
Reichsthaler, Rostock 64,000 Reichsthaler für das Bierbrauen zahlen. Nach
einer vom Res. vorgefundenen Bekanntmachung, die der Herzog eigenhändig
unterzeichnet hatte, zahlte jeder beladene Wagen-*) in Güstrow 3 Reichsthaler
Ausfuhrzoll, waren Seidenwaren darin, 6 Reichsthaler. Für jede in Güstrow
geschlachtete Henne erhielt er einen Schilling, für jede Gans 2 Schillinge, für
einen Hammel 3 Schillinge, und die Fleischer der Stadt mußten alle 14 Tage
eidlich den Werth des geschlachteten Viehs angeben und von jedem Thaler
2 Schillinge zahlen. Weitere Erpressungen ließ der Herzog in seinem Lande
nicht zu, um sein Eigenthum nicht ausnutzen zu lassen. Viel schlimmer stand
es in den Ländern der dem Kaiser verbündeten Reichsfürsten, wie in Pommern
und Brandenburg, wo seine Generale durch Contributionen und die Soldaten
durch Excesse die Bewohner zur Verzweifelung brachten. Der Stadt Stargard
in Pommern kostete der Stab Piccolominis und 6 Compagnien, die dort ein«
quartirt waren, vom November 1627 bis Juli 1629 280.000 Reichsthaler*)
regelmäßige Contributionen, wobei die Erpressungen und weggenommenem Pferde
nicht gerechnet sind. Der Herzogin von Wollin wurde das Schloß ausgeplündert:
der Schaden ward aus 2 Tonnen Goldes (200,000 Reichsthaler oder Gulden)
berechnet, und alle Klagen der beschädigten Fürstin beim Herzog waren vergeb¬
lich, „weil kein Wolf den andern beißen thut". „Der Oberst Sparer." wird
berichtet, „hat sich in diesem Raubkriege dermaßen begrast, daß er nicht allein
alle seine Güter von Schulden befreit, sondern sich auch einen ansehnlichen
Schatz erspart hat: von der wolgastischen Beute hat er sich zwei güldne und
zwei silberne Röcke, auf 3000 Reichsthaler geschätzt, eine güldne Kette,
6000 Kronen schwer und sechs große silberne.Rändeln (Kannen) fertigen lassen.
In vielen Gegenden Pommerns und der Priegnitz flüchteten die Bauern in die
Gebüsche und Sümpfe: die Häuser wurden von den herumstreifenden Soldaten
angezündet oder abgetragen, nachdem alles, was sich noch darin fand,' aus¬
geplündert worden war. In Lübeck war 1629 der Preis des Scheffels Korn
von 22 auf 64 Schilling gestiegen, weil auf dem Lande alles Getreide auf¬
gezehrt war. die Städte nichts mehr herausließen und Schweden und Dänemark
keine Zufuhr mehr brachten.
Als nun aber im Juni 1629 die pommerschen Gesandten in solcher Bedrängniß
den Herzog um Abführung des Volkes aus dem Lande baten, wurden sie schnöde
abgewiesen. „Ihr müßt unverschämte Leute sein," fuhr sie Wallensicin an,
„daß ihr abermals wiederkommen und mich molestiren dürft, da ich doch vor
diesem gesagt, ich könnte und wollte das Volk nicht abführen. Drum packt euch
und kommt mir also nicht wieder, oder ich will euch was anders sehn lassen."
Dann aber machte er den Kanzler herunter, daß er bei den Tractaten Wallen-
steins mit Stralsund das Particularinteresse von Pommern zu sehr im Auge
gehabt und dadurch die Unterwerfung der Stadt gehindert habe, und als sich
dieser rechtfertigen wollte, wies er ihm sehr aufgeregt die Thüre.
Seit dem Februar 1630 kommen Gerüchte von Wallensteins Abdankung
vor. Der Herzog von Werdenberg mußte ihm Vorstellungen über Entlassung
eines Theils der Soldaten machen. Er wies den Vorschlag zurück und klagte
über die Intriguen der ihm aufsässigen katholischen Kurfürsten. Der Selbstmord
eines großen Bankiers in Prag, des Hans de Witte mit Hinterlassung von
IVs Million Reichsthaler Schulden machte viel Aufsehen. Dabei wurde erzählt,
daß er kurz vorher den Herzog von Friedland um Zahlung einer Schuld von
einer halben Million Reichsthaler angegangen habe und mit dem Bemerken
zurückgewiesen worden sei, nicht eher zahlen zu können, bis der Kaiser ihn be¬
zahlt habe. — Wenn auch erdichtet, ist doch die Mittheilung charakteristisch und
bezeichnet die Stimmung des Herzogs, wie sie sich das Volk dachte, daß Wallen-
stein bei seiner Abreise von Memmingen im October 1630 in seiner Wohnung
die Reime aufgeschrieben und zurückgelassen habe:
Eine ganz eigenthümliche Färbung erhalten die Jammerberichte durch den
Aberglauben jener Zeit, der in der allgemein herrschenden Noth die beste
Nahrung hatte: er durchdringt alle höheren und niederen Kreise, und die ver¬
ständigsten Leute erzählen die wunderbarsten und albernsten Geschichten mit der
gläubigsten Naivetät. Man kann sichs noch gefallen lassen, wenn unerwartete
Zufälligkeiten die Gemüther erregten. So disputirten im März 1629 herum¬
ziehende katholische Emissäre mit dem lutherischen Domprediger in Halberstadt
fünf Tage lang über Glaubenssätze. Als aber nach der Niederlage der Herren
der hitzigste Streiter, ein Convertit, wüthend gesagt hatte: „Du bist und bleibst
ein Leibeigener des Satans: seid ihr nicht verdammte Ketzer, so Straf mich
Gott und thue ein Zeichen an mir," so sing ihm die Nase stark zu bluten
c>n, daß er fortgehn mußte', und seine Freunde erblaßten. Doch dergleichen
Dinge haben auch in unserer Zeit für aufgeregte Gemüther eine gewisse Be¬
deutung. Die wunderglaubige Phantasie wird aber ganz gewaltig in anderen
Geschichten. Als in Amberg der erste Kalk gebrannt worden war zur Erbauung
eines Jesuitencollegiums, rumort dort der Teufel eine ganze Nacht hindurch in
einem von vier Schimmeln gezogenen Wagen. An sogenannte feste oder ge¬
frorene Soldaten, die mit des Teufels Hilfe vor Schuß und Stich sicher waren,
an solche, die sich unsichtbar machen und schießen konnten, ohne daß man es
hörte, glaubte jedermann, und ein sehr verständiger Agent des Kurfürsten schreibt
1629, daß solche, die sich in Magdeburg zum Dienst angeboten. zurückgewiesen
worden wären, weil man sich auf Gott und nicht auf Teufelskünste verlasse.
In allem Ernste wird aus Frankfurt a. O. berichtet, daß der Teufel in Bocks¬
gestalt ans die Wache gekommen und die kaiserlichen Soldaten so braun gedrückt
habe, daß fünf davon gestorben. Zwar habe der Oberstwachtmeister streng ver¬
boten, davon zu sprechen, aber gleich darauf habe man drei Soldaten, natürlich
solche, die durch Teufelskunst fest waren und deren Zeit abgelaufen, mit um¬
gedrehtem Halse todt im Bette gefunden. „Die andern," fügt der Bericht¬
erstatter dazu, „die mit Hurer und Buden noch 800 Mann stark in der Stadt
liegen, sind durch diese augenscheinliche Strafe Gottes etwas frömmer geworden."
— Ueberaus erheiternd ist es, wenn der Böse sich zum Rächer des Unrechtes
macht und dennoch die Geistlichkeit gegen seine guten Dienste auftreten muß.
In Schulzendorf bei Berlin hat ein Herr von Kahlenberg einem Bauer wider¬
rechtlich sein Land genommen, worüber sich der verarmte Mann zu Tode ge<
grämt hat. Da fängt der Teufel an im Edelhofe zu wüthen. Kahlenbergs
Kind wird in der Wiege gewürgt, in des Herrn Bette findet man Koth, die
Fenster werden ohne Steine eingeworfen, Mägde und Knechte von unsichtbarer
Hand braun und blau geschlagen, das Geschirr in der Küche heruntergeworfen.
Nun haben die Geistlichen zu thun mit Beschreien und Bekreuzigen der Thüren,
und der Probst von Se. Petri in Berlin muß öffentlich Fürbitte thun, doch
vergeblich — der Teufel knirscht mit den Zähnen und rumort fort, selbst wie
die Gemeinde zum Liede: „Eine feste Burg" ihre Zuflucht nimmt. Und dies
alles erzählt ausführlich der schon erwähnte verständige Berichterstatter, der dem
vornehmen Sünder durchaus nicht gewogen ist, und schließt mit den Worten:
„Gott, der Allmächtige wolle durch seinen starken Arm diesem bösen Geiste
steuern und wehren. Amen."
Es ist bemerkenswert!), wie in den erwähnten Briefen allmälig Gustav
Adolf hervortritt und immer mehr als der Erlöser von aller Noth ersehnt wird.*)
Mit großer Genugthuung wird nach der Mittheilung eines zuverlässigen Zeugen
im September 1629 aus Königsberg berichtet, daß Gustav bei Tische die
Aeußerung gethan habe: „der Kaiser hat mir an den Hut gegriffen; wo mir
Gott das Leben gönnen wird, werde ich ihm an die Mütze greifen: er soll
versichert sein, daß er an mir keinen deutschen Fürsten finden wird." Dann
habe er aus alle, die es mit dem deutschen Reiche gut meinen, die Gesundheit
getrunken. Im October aber wird dem sächsischen Geheimkammerdiener Lebzelter,
einem vielfach zu diplomatischen Sendungen verwendeten Vertrauten des Kur¬
fürsten, ganz im Vertrauen mit großer Freude geschrieben, daß der König von
Schweden nach abgeschlossenen Frieden in Polen wegen der Religion und
deutschen Libertär nach Deutschland kommen werde. Wenn endlich in unzähligen
Schreiben aus den verschiedensten deutschen Städten Gustavs Erfolge in Preußen
und Polen mit der größten Theilnahme besprochen werden, so kann doch wahr¬
lich nicht davon die Rede sein, daß der König erst nach der Zerstörung Mägde-
burgs die Sympathie der verzweifelnden Protestanten vorübergehend gewonnen
habe. Nach der Landung des Königs in Pommern aber erhebt sich die Theil¬
nahme für Gustav zur begeisterten Anerkennung seiner Persönlichkeit. In jedem
Briefe aus Stettin wird seine Frömmigkeit, Umsicht und Liebenswürdigkeit, die
Art. wie er mit den Leuten verkehrt, die strenge Mannszucht, die er hält, von
ganz unverfänglichen Berichterstattern gerühmt. „Er bemüht sich überall gute
Polizeiordnung zu stiften. und es befindet sich der arme Mann allgemach besser
als da die Kirchenräuber im Lande waren."*) Als er von den Fischern in
Stettin für Geld eine Anzahl Schiffe zu einer Brücke haben wollte, erhielt er
umsonst viel mehr als er haben wollte. Die kaiserlichen Generale in den nord¬
deutschen Garnisonen klagten nicht blos über Hunger, Pest und Ausreißen
ihrer Soldaten, sondern auch daß in Pommern und in den Marken alles
rebellisch werde, seit Gustav in Stettin sei.
Gegen solche unbefangene Zeugnisse der Stimmungen und Strebungen der
evangelischen Deutschen bei Gustavs Landung können die eben genannten
tendenziösen Geschichtsfälscher freilich nur zur Täuschung unmündiger Leser
Aeußerung der Angst erbärmlicher Fürsten und ebenso erbärmlicher Landesvcr-
treter anführen, die sich im Falle des Mißlingens der Pläne Gustavs vor der
Rache der Kaiserlichen fürchteten. Bei jenen Historikern ist es freilich Mode,
diese Erbärmlichkeit als deutschen Patriotismus zu loben. —
Es war in der letzten Woche des September im Jahre 18S0.
Beständig von der Statthalterschaft gedrängt, aus seiner verderblichen, wenn
auch vielleicht erklärlichen Unthätigkeit herauszutreten, hatte der Oberbefehls¬
haber der Schleswig-holsteinischen Armee sich endlich wieder zu einer ernsten
Unternehmung entschlossen. Friedrichsstadt, dessen militärische Wichtigkeit man
leider zu spät erkannt zu haben schien, war einige Monate vorher in unver¬
antwortlicher Weise den Dänen, ohne Kampf überlassen und von ihnen durch
fortgesetztes Schanzen, wobei die Natur zu Hilfe kam, in eine ziemlich respek¬
table Festung verwandelt worden. Eine dreifache, aus zahlreichen Schanzen
gebildete Vertheidigungslinie forderte zu regelmäßiger Belagerung heraus. Da
man sich indeß auf eine solche aus mancherlei guten Gründen nicht einlassen
konnte, so entschieden sich die Herren des Kriegsraths für eine Ueberrumpelung.
Bei Wollersum sollten zwei Bataillone über die Eider setzen, das Städtchen
Tönning nehmen und dann von Westen her aus Friedrichsstadt losgehen,
während andere Infanteriemassen, durch genügende Artillerie unterstützt, zu
gleicher Zeit die stark befestigte Ostseite anzugreifen bestimmt waren. Daß dieser
trefflich angelegte Plan des Generals Wisse! späterhin miserabel ausgeführt
wurde, sei hier ein für alle Mal erwähnt.
Unserem sechsten Bataillon, welches bisher auf dem rechten Flügel gelegen,
war die Ehre zugedacht, in diesem blutigen Drama die Hauptrolle zu spielen.
Demgemäß rückten wir am 26. September aus dem Hüttenlager bei Rendsburg
ab und gelangten in zwei Märschen, wobei die Nacht zu Hilfe genommen
wurde^ an den Ort unserer neuen Bestimmung. In Süderstapel fand unsre
Vereinigung mit dem ersten Jägercorps statt. Welch ein hohes Selbstgefühl
in dieser ausgezeichneten Truppe herrschte, trat uns auf entschiedene, jedoch nicht
verletzende Weise entgegen. „Nun, das freut mich, Herr Lieutenant, daß Sie
auch einmal mit den ersten Jägern zusammen kämpfen sollen," lautete die Be¬
grüßung eines mir bekannten Oberjägers, worauf ich erwiderte, daß wir uns schon
lange darnach gesehnt hätten, mit eignen Augen zu sehen, was sie könnten.
Es hatte den Tag über geregnet und gestürmt; bei anhaltendem Unwetter
brachen wir um die Mitternachtsstunde auf und marschirten still und geräuschlos
nach Drage, dem letzten Dorfe vor Friedrichsstadt. Pünktlich hatten somit die
einzelnen Bataillone die anbefohlenen Bewegungen ausgeführt, der Feind ahnte
nichts von der ihm zugedachten Ueberraschung, und alles versprach einen guten
Erfolg. Da traf uns das erste Mißgeschick, welches zugleich als der Anfang
vom Ende zu gelten hat. Wie es bei der Armee in dieser Periode leider fast
täglich vorkam, daß Befehle des obersten Commandos nicht mit der nöthigen
Sorgfalt und Naschheit ausgeführt wurden, so auch hier: die zur Mitwirkung
bestimmten Kanonenböte waren nicht heran, und die auf dem südlichen Eidcr-
ufer errichtete Batterie hatte nicht rechtzeitig armirt werden können. Daher
Gegenbefehl und Rückmarsch nach Süderstapel. Bei Hellem Tage wurde der¬
selbe ausgeführt, über ein freies Terrain und unter den Augen des Feindes,
so daß alle Vortheile einer Ueberraschung verloren gingen.
In der mißmüthigstcn Stimmung griffen wir Nachmittags zu den Karten.
Man arrangirte ein sogenanntes iwblo ^en, bei welchem mit Bons pointirt und
die Bestimmung getroffen wurde, daß erst nach beendigter Action die Liquidirung
nsolgcn „und diejenigen, welche dann aus unsrem Kreise geschieden wären,
ihrer Verpflichtung enthoben sein sollten. Der Bankhalter, Lieutenant Apel/
hatte uns sämmtlich ausgezogen, als die Trommel das Zeichen zum Aufbruche
gab. Wir schieden — der Himmel vcrzeihs — mit der sehr unchristlichen und
überdies laut ausgesprochenen Hoffnung, daß eine feindliche Kugel uns von
unserem Gläubiger befreien würde.
Am 29. September morgens neun Uhr dcbouchirtcn die erste und zweite
Compagnie des Bataillons, zwei Pelotons Jäger an der Töte, aus Drage
und rückten auf dem träger und Eiderdeich langsam gegen Friedrichsstadt vor.
Bevor der Angriff auf die vierhundert Schritt südöstlich der Stadt gelegene
Borkmühlenschanze, welche den Schlüssel zur ganzen Position bildete, eröffnet
werden konnte, mußte zuvor ein kleineres, hart am.Deiche aufgeworfenes und
mit Espignolen armirtes Vorwerk zerstört werden. Diese Aufgabe fiel vier auf
der Eider stationirten Kanonenböten zu. Seitwärts am AbHange des Deiches
stehend und zum Anlauf bereit, konnten wir deutlich die Wirkungen jeder ein¬
zelnen Kugel sehen, und schon nach zwei Stunden wehte die Fahne der ersten
Compagnie auf den Trümmern der von ihrer Besamung verlassenen Schanze.
Der Anfang war also gut. Durch eine Biegung des Deiches vor dem feind¬
lichen Feuer geschützt, aber auch aller Aussicht beraubt, lagerte die erste Com¬
pagnie mit einigen Jägern auf dem feuchten Erdreich. Die Hauptleute des
Bataillons standen weiter zurück in einer Unterhaltung mit Oberst von der
Tann und Major Aldosser begriffen. Da taucht auf dem andern Eiderufcr, von
wo man in die Stadt hineinsehen konnte, plötzlich hinter dem Deiche die unheil¬
bringende Gestalt eines Hornisten auf und bläst das Avancirsignal. Alles springt
^Por, eine kurze Besprechung der vier Lieutenants der Compagnie wird abge¬
blochen durch ein zweites noch rascher wiederholtes Signal und — fort stürmen
Offiziere und Mannschaften mit Ungestüm gerade auf die furchtbare Schanze los.
Sowie die kleine Sturmcolonne um die schützende Biegung herum in Schußlinie ge¬
fugt, schlagen Kartätschen in sie hinein. Auch nicht einen Moment stutzend laufen
wir unaufhaltsam vorwärts bis dicht unter die Schanze, wo das Feuer von zwei
dänischen Jägercompagnien, die ihre Büchsen auf die Brustwehr gelegt haben,
uns empfängt.
Es war ein warmer Empfang fast im eigentlichen Sinne des Wortes,
denn beinahe fühlten wir das Feuer der uns entgegcnknatternden Schützenreihen.
und die Situation, die jetzt folgte, war der Art, daß ich wohl sagen darf: selten
ist eine Truppe in so kritischer Lage gewesen. Weit zurück stand als einzige Reserve
die zweite Compagnie. Hätte sie auch den Befehl erhalten, uns zu unterstützen:
ehe sie herbeikommen und uns aufnehmen konnte, wäre unser Schicksal längst
entschieden gewesen — Tod oder Gefangenschaft! Nur ein rascher Rückzug blieb
übrig. Wiederum aber reißen Kartätschenlagen gewaltige Lücken und machen
die Auslösung vollkommen. Ein Offizier, der obenerwähnte Lieutenant Apel,
und 60 Mann bedeckten todt oder schwer verwundet mit ihren Körpern den auf
der Innenseite des Deiches sich Hinzichenden Weg. Ein grauenvolles Bild der Ver¬
wüstung bot sich uns dar, als wir bald darauf die Todten und Verwundeten abholden,
Kaum ein Fleck, der nicht von den furchtbaren Wirkungen der Kartätschen Zeug¬
niß ablegte. Einem Musketier Thöming war der Leib aufgerissen, so daß die
Eingeweide weit umher ausgestreut lagen. Ein anderer saß halb aufrecht gegen
die Böschung des Deiches gelehnt; einige Schritte davon lag der Kopf, wie ein
Kürbis ausgehöhlt. Die Leiche des Lieutenant Apel wurde von den unterdeß
herbeigeeilten Hauptleuten aufgehoben und zurückgetragen. Der halbe Kopf war
ihm glatt abgeschossen. Noch ein wehmüthiger Blick auf das entstellte bleiche
Antlitz, und der übergeschlagene Mantel entzog uns für immer den Anblick des
lieben Kameraden. Den unbewachten Augenblick schlau benutzend, hatte sich in
einiger Entfernung der große Wolfshund des Hauptmanns Lassen daran gemacht,
die Blutlachen auszulecken, welches thierische Geschäft er selbstverständlich nicht
vollenden konnte. Von den Verwundeten sind nur wenige mit dem Leben da¬
von gekommen. (Grobes Geschütz spottet bekanntlich aller ärztlicher Kunst.)
Einer derselben, ein Gefreiter Wiedebusch aus Kiel, dem beide Beine abge¬
schossen waren, wälzte sich vor den Augen der nahenden Ambulance in die Eider,
so seinem trostlosen Dasein ein Ende machend.
Die an Ort und Stelle vorgenommene Visitirung der Todten ergab bedeu¬
tende Geldsummen, und erinnere ich mich genau, daß die bei einigen der Leute
vorgefundene Baarschaft 92 Mark Courant betrug. Die gute Verpflegung und
bedeutende Löhnung, verbunden mit einer angeborenen Sparsamkeit waren Ver¬
anlassung, daß unsere Soldaten Summen bei sich führten, welche sie in den
Augen östreichischer und preußischer Soldaten zu halben Millionärs gemacht
haben würden. Wir wollen nicht einer geringen Löhnung das Wort reden; aber
noch weit bedenklicher ist, wenn der Felddienst zu einer einträglichen Erwerbs¬
quelle ausgebeutet werden kann.
Oberst v. der Tann und Major Aldosser standen, wie schon bemerkt, viel
zu weit zurück, um das Geschehene inhibiren zu können. Letzterer kam in
voller Aufregung herbei und rief mir in seinem bayrischen Dialect zu: „Kame¬
rad, was machen Sie da, können Sie nicht warten, bis ich das Nest mit
meinen Kanonen zusammengeschossen habe?" Nur wenig harmonirten mit diesen
vielversprechenden Worten die winzigen zehnpfündigen Mörser, deren einige gerade
an uns vorüber getragen wurden. Zu einer Beschießung der dänischen Schanzen
kam es auch an diesem Tage nicht; denn die Kanonenböte hatten sich verschossen,
und die requirirte 12pfundige Batterie Ur. 2 war noch nicht angelangt. Nur
die am südlichen Eiderufer bei Se. Annen stehende Batterie warf dann und
wann eine Granate in die unglückliche Stadt hinein, deren Zerplatzen auf den
Dächern deutlich an unser Ohr schlug.
Mittlerweile wurden die dritte und vierte Compagnie herangezogen! die¬
selben übernahmen den Vorpostendienst, während wir für die Nacht nach Drage
zurückgingen. Die übergroße Ermüdung ließ die trüben Gedanken über das so
ungeschickt begonnene und deshalb trotz unsres tapfern Anlaufs so kläglich ge¬
scheiterte Unternehmen nicht zu ihrem Rechte kommen. Am folgenden Tage reg¬
nete es unausgesetzt vom Morgen bis zum Abend, so daß die Operationen erst
am 1. Oct. wieder aufgenommen werden konnten.
Von nun an fiel der Kampf eine Zeit lang vorzugsweise der Artillerie zu,
für welche man auf dem Eider- und Treenedeich, sowie auf der seether Chaussee
Emplacements hergestellt hatte. Nur die Jäger hatten sich in unmittelbarer
Nähe der Schanzen eingegraben und schössen sich Tag und Nacht mit den
feindlichen Tirailleurs herum. Wir andern lagen weiter zurück und fanden volle
Muße, das bunte Leben zu beobachten, welches sich jetzt am Eiderdeiche ent¬
wickelte. Im schroffen Gegensatz zu der unscheinbaren, von Schmutz starrenden
Infanterie erschien der höhere Kamerad von der Kavallerie in vollem mili¬
tärischen Glanz. Einer, der Dragonerlieutenant C.. büßte seine Neugierde mit
dem Tode, was damals — so eigenthümlich ist der Mensch geartet —in uns
ein gewisses Gefühl der Befriedigung hervorrief. Hunderte vom Civil wurden
Tag für Tag durch das kriegerische Schauspiel herbeigelockt; sogar Damen
fehlten nicht. Tragisch war das Geschick eines dithmarscher Junkers, welcher
im schönsten Jagdornat, die Flinte auf dem Rücken sich eingestellt hatte, um
sich den Spektakel mit anzusehen. Der unermüdliche Aldosser — die Hosen
>" große Krempstiefeln gesteckt und ein gewaltiges Fernrohr unter dem Arme
tragend — erspähete den arglos Dastehenden und befahl sofort, ihn unter all¬
gemeiner Acclamation zu den Laufgräben abzuführen, um da einem edleren
Waidwerk obzuliegen. Der junge Mann mag über diese unbehagliche Aenderung
seiner Lage nicht wenig verblüfft gewesen sein; er soll sich indeß bald in die
neue Situation hineingefunden, auch seine Sache recht brav gemacht haben.
Unter dem Donner des groben Geschützes und dem Geknatter des Klein¬
gewehrfeuers spielten die Musikbanden des ersten Jägercorps und des sechsten
Bataillons ihre lustigsten Weisen, und so konnte es geschehen, daß fidele Ge¬
sellen mit den anwesenden Schönen einen kleinen Ball improvisirten. der nur
auf Augenblicke unterbrochen wurde, wenn einzelne Todte oder Verwundete zurück¬
getragen wurden. Anderswo theilte man Lebensmittel aus. meist solide, aber
auch viele delicate Dinge, welche das benachbarte Dithmarschen in ungeheuren
Quantitäten geliefert hatte. In einem imponirenden Gegensatze stand dazu die
Grabesstille auf Seiten des Feindes. Kaum daß er jeden Tag ein Geschütz
löste, um zu zeigen, er sei noch da und auf dem rechten Platze.
Unsere Artillerie hatte mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen. In dem
jähen Marschklei blieben die Kugeln stecken, ohne Bresche zu schießen, so daß
eine Demolirung der feindliche» Werke nicht erzielt wurde. Dazu kam. daß
alle Augenblicke die Munition ausging, welche von dem sechs Meilen weit ent¬
fernten Rendsburg wieder ersetzt werden mußte. Erst am letzten Tage war
man im Stande, ein ununterbrochenes, heftiges Feuer auf die Schanzen und
die arme Stadt, aus welcher an mehren Stellen dicker schwarzer Rauch aufstieg
und Flammen cmporzüngelten. zu unterhalten.
So kam der 4. October heran, an dem abgeschlossen werden sollte. Nach¬
mittags halb drei Uhr vertheilten Tann und Aldosser, ganz allein auf dem
Eidcrdeiche stehend, die Rollen. Uns fiel in der Erstürmung der schon er¬
wähnten Borkmühlenschanzc die Hauptpartie zu. Drei andere Sturmcvlonncn.
welche gegen den Grashof, den bedeckten Geschützstand auf der Chaussee und
am Trcenedeich vorgingen, sollten unseren Angriff in der Weise unterstützen,
daß die Aufmerksamkeit des Feindes getheilt wurde. Das ganze Offiziercorps
war von der Erfolglosigkeit des Sturmes überzeugt, es trat somit an die Stelle
des frischen, hoffnungsreichen Muthes das bloße Pflichtbewußtsein. Um die
Stimmung der Soldaten zu heben, erschienen gegen Abend mehre Wagen mit
Spirituosen, aber nur einige profcssionirte Säufer machten davon Gebrauch,
die Uebrigen tadelten laut und unverhohlen das schlechte Arrangement.
Schon waren die Compagnien in Sectionen eingetheilt und aufmarschirt,
als der Statthalter Reventlow bei uns erschien. Eben aus dem in Süderstapel
abgehaltenen Kricgsrathe gekommen, wo man von einem Sturme vorläufig
abgesehen hatte, wollte er vor seiner Rückkehr nach Rendsburg den Truppen
einen Besuch abstatten. Die Ueberraschung darüber, daß denn doch gestürmt
werden sollte, war deutlich auf seinem Gesichte zu lesen; doch faßte er sich bald
und sprach einige ermunternde Worte zu den Soldaten, die indeß eine für
unsere Leute charakteristische Aufnahme fanden. „Dat mot en dummen Keerl
sin", meinte ein Musketier, „wo kann he sonst glowen, dat wir all gesund
wedder torüg kamen." Als bald darauf in unpraktischer Weise die Soldaten
ermahnt wurden, des zu erwartenden Kartätschenfeuers nicht zu achten, da
es in der Dunkelheit der Nacht voraussichtlich nur geringe Wirkung haben würde,
rief eine Stimme aus der zweiten Compagnie unter der augenblicklichen Stille
laut und vernehmlich: „Ach, wer ick bi Mutter" (Ach — wäre ich daheim)
worauf ein Anderer, der offenbar sich durch die Gedanken an seine Lieben nicht
weich machen lassen wollte, in rauhem Tone erwiderte: „Lat dat dumme Tüg
man Wesen, dat tönt wi hüt Abend gor nich brüten." Punkt fünf Uhr gaben
drei Raketen von den Kanonenböten das verabredete Zeichen. Die Musik
intonirte das Lied „Schleswig-Holstein mcerumschlungen" und die Colonne,
wiederum Jäger voraus, setzte sich in Bewegung. Eine lange Reihe höherer
und niederer Offiziere hatte sich am Deich posiirt. Sie winkten Abschicdsgrüße
zu und drückten einzelnen Vorbeimarschirenden die Hand, zeigten aber keine
Neigung, uns zu begleiten. Unter ihnen befand sich Herr Heinrich von Gagern,
der drei Jahre vorher in der Paulskirche den vielgerühmten „kühnen Griff"
gethan hatte und der nun — der Herr Doctor werden ersucht, die Periode
zum Abschluß zu bringen.*)
Das Geschick wollte oder vielmehr das Ungeschick unsrer Führer bewirkte,
daß der Sturm auch diesmal viele Leute kostete und dennoch mißlang. Gerade
an der Stelle, wo unsre Colonne in den wirksamen Bereich des feindlichen
Feuers trat, stieß sie auf ein Hinderniß, welches bei einiger Umsicht gar leicht
hätte vorher aus dem Wege geräumt werden können und müssen, weil meines
Erachtens daraus die letzte Chance für ein Gelingen des Sturmes beruhte.
Zum Schutze unsrer Kanonen war nämlich der Weg in seiner ganzen Breite
durch eine Reihe großer Schanzkörbe gesperrt und nur eine schmale, schlüpfrige
Oeffnung hart am Eiderufer frei gelassen. Hier angelangt, mußte die Colonne
steh in Reihen setzen und auf der andern Seite wieder in Sectionen auf-
marschiren, ein Manöver, welches schon auf dem Exercierplatze nicht selten An¬
laß zu Stockung und Unordnung giebt. Hauptmann Bärens, der die Jäger
führte, kam ohne Verlust hindurch, drang rasch bis zur Schanze vor und fand
dieselbe nur schwach besetzt, indem der Feind sich wahrscheinlich durch das An¬
stürmen der erwähnten drei anderen Sturmcolonnen hatte täuschen lassen.
Wie, wenn das Bataillon, dicht geschlossen den Jägern mit gefälltem Bajonnet
auf dem Fuße nachgefolgt wäre? Als aber die Spitze herankam, schlugen schon
die Kartätschen mit erschreckender Sicherheit (die Dänen kannten die Distancen
ganz genau) in die schmale Oeffnung hinein, welche alsbald von den Körpern
der Getroffenen angefüllt und versperrt war, während andere Rotten in die
Eider stürzten. Verzweifelte Situation, wenn man um sich blickte! Schwer
Verwundet liegt Hauptmann Basson aus der andern Seite der Oeffnung,
während der Führer der dritten Compagnie, Hauptmann Ehrhardt, weiter zurück,
eben durch den Kopf geschossen, zu Boden sinkt. Erst nach einigen kostbaren
Augenblicken gelingt es vorwärts zu kommen; aber die rechte Wucht des An¬
griffs ist mit der Stockung verloren gegangen, die Soldaten gelangen statt in
fest geschlossener Masse in kleineren Abtheilungen ein die Schanze, aus der
Bajonnetattake wird ein nutzloses Schießen auf einen halb unsichtbaren Feind,
der uns dafür um so sicherer aufs Korn nehmen kann, da wir nirgends
Deckung haben. Rasch hat überdies der umsichtige Führer der Dänen seine
Verstärkungen auf den bedrohten Punkt geworfen, und nun entwickelt sich auf
engstem Raume, noch jetzt die „blutige Ecke" genannt, ein vierstündiges heftiges
Gefecht, in welchem das Bataillon volle zwei Drittheile seiner Offiziere und
fast ein Drittel seiner Mannschaft verlor. Vergebens wurden im dichtesten
Kugelhagel zu verschiedenen Malen aus dem Kopf an Kopf zusammengedrängten
Haufen der Unsern kleine Colonnen gebildet, welche dann, die Chargirten
voran, die Brustwehr hinanstürmten. Kaum wurde ein Kopf oben sichtbar,
so waren Bajonnet und Kugel darauf gerichtet, und indem die Stürzenden in
ihrem Fall die Dahinterstehenden mit sich hinabrissen, entstand eine neue Stockung.
Auf diese Weise wurden die meisten Offiziere getödtet oder verwundet. Ich selbst
bekam, an der Böschung der Schanze emporklimmend, zunächst nur einen Streif¬
schuß am Kopfe, welcher mir für einige Zeit die Besinnung nahm, so daß ich
zu Boden stürzte.
Als ich wieder zu mir kam, stellte ich mich im sicheren Gefühle, dem
Schicksal jetzt meine Schuld bezahlt zu haben, an die Spitze der kleinen Ab¬
theilung, welche eine Umgehung der Schanze versuchen sollte. Dieselbe scheiterte
vollständig an den vielen kleinen Marschgräben, mit denen das dortige Terrain
durchschnitten ist, und nur Wenige kehrten von dieser Expedition zurück. Um
doch auch etwas zu thun zu haben, hatten die Pionniere sich daran gemacht, die
Schanze zu unterminiren. Die herausgearbeiteten Pfähle und Palissaden wurden,
von kräftigen Händen angefaßt, in die Schanze hinübergeschleudert. Der Feind
ging auf dieses niedliche Ballspiel ein, und besinnungslos stürzte Premierlieute¬
nant Graf Luckner hin. Dem tapfern Abtheilungsführer, Hauptmann Lotgau,
drang eine Rakete ins Ohr. Nachdem er den Dänen noch zugerufen: „Ihr
Hunde, ich komme Euch wohl mal wieder", wurde er abgeführt. Ais somit
die meisten Offiziere gefallen oder kampfunfähig geworden waren, erlahmte der
Angriff sichtlich. Vorwärts konnten wir nicht kommen, und zum Zurückgehen
hatten wir keine Ordre. Wir blieben daher aus russische Weise stehen, nach¬
gerade vollständig gleichgiltig geworden gegen das Hinstürzen der Getroffenen.
Im Begriff, mir eine Cigarre anzuzünden, erhielt ich einen zweiten Schuß,
der mir durch den rechten Arm und den Unterleib ging, und damit hatte ich
genug bekommen. Ich wurde im selben Augenblick zurückgebracht, als das
fünfzehnte Bataillon zur Ablösung erschien. Auf dem Verbandplatz sah ich
links vor mir am Fuße des Deiches die lange Reihe der Todten, von dem
Scheine einiger Fackeln unheimlich beleuchtet. Das Gewehrfeuer war schwächer
geworden, nur die Kanonen donnerten mit unverminderter Heftigkeit fort. Da
explodirt auf dem Eiderdeiche ein Munitionswagen. Ein lautes Hurrah aus
der ganzen feindlichen Linie, dann überall hüben und drüben Todesstille! Wie
auf Verabredung zogen sich die erschöpften Kämpfer zurück, und das blutige
Finale des ersten Schleswig-holsteinischen Kriegs war aufgeführt.
Nachdem mir der durchschossene Arm, so gut es ging, geschient und die
große Oeffnung am Leibe mit Charpie zugestopft worden, gings auf einem er¬
träglichen Bauernwagen zurück nach Drage. Hier war indeß meines Bleibens
nicht, da alle Häuser voll Verwundeter lagen. Doch erhielt ich durch die Ver¬
mittelung eines Bekannten mehre wollene Decken, welche außerordentlich gut
thaten, als in dunkler Nacht die Fahrt nach Süderstapel fortgesetzt wurde. Auch
hier lagen Massen von Verwundeten. Indeß fand ich für die Nacht Platz
im Hause des Landschreibersvon wo ich am andern Morgen mit dem gleich¬
falls Schwerverwundeten Hauptmann Lotgau auf einem bequemen Federwagen
nach Rendsburg transportirt wurde. Die Tour war freilich dennoch nicht be-
neidenswerth, zumal der ganze Weg im Schritt zurückgelegt werden mußte.
Was es mit dem brennenden Durst nach Verwundungen aus sich habe, erfuhren
wir beide zur Genüge. In jedem Dorfe wurde Halt gemacht und Wasser, Wein,
Milch, Himbeeressig, alles durcheinander verschlungen. Eine halbe Stunde vor
Rendsburg waren wir indeß so erschöpft, daß man unsere Auflösung befürchtete.
Soldaten des fünften Jägercorps trugen uns daher auf Tragbahren nach Rends¬
burg hinein. Abends 8 Uhr hatte ein Zimmer im Lazareth Ur. I. uns beide
aufgenommen, das wir erst nach einem halben Jahr wieder verlassen sollten,
als der Krieg vorbei war und die Dänen das nahegelegene Kronwerk besetzt
hatten.
Nichts charakterisier besser die ganze Jämmerlichkeit des metternichschen
Systems als die, man möchte fast sagen kindische Angst, mit welcher der Fürst-
Staatskanzler jede Bewegung auf irgendeinem geistigen Gebiet betrachtete.
Man begreift wohl, daß jede freiheitliche Regung auf den deutschen Hochschulen,
jedes kühne Wort in der Presse, jede feurige Rede in den Kammern die sen¬
sible Gemüthsart des östreichischen Diplomaten äußerst unangenehm berührten,
aber man muß immer wieder concrete Fälle vorführen, um die politische Ge¬
spensterfurcht Metternichs in ihrer ganzen Macht und Größe nachzuweisen. Sie
erreichte eine solche Intensität, daß sie geradezu jede ruhige und nüchterne Be¬
trachtung der Dinge für ihn unmöglich machte und ihn auch da große politische
Gefahren sehen ließ, wo jeder andere lediglich harmlose Demonstrationen zu
finden vermochte. Einen drastischen Beleg dieser Behauptung liefern die nach-
stehend mitgetheilten Auszüge aus einigen Ackerstücken, die sich unter dem
Nachlaß eines vor geraumer Zeit verstorbenen Staatsmannes gefunden haben.
Einer der redlichsten und wohlmeinendsten Patrioten, deren sich das-Groß-
herzogthum Baden rühmen kann, war der constanzer Bürgermeister Karl
H üetlin. Ein Mann von Kenntnissen, von großer Geschäftsgewandtheit, von
dem höchsten Ansehen unter der Bürgerschaft, in politischen Dingen liberal
ohne excentrische Neigungen, mit einer rastlosen Rührigkeit in allen öffentlichen
Angelegenheiten thätig, aber, wenn auch nie des großen Ganzen vergessend, mit
seinen nächsten Gedanken stets dem zunächst Nothwendigen zugewandt, in seiner
kirchlichen Richtung als Katholik und persönlicher Freund Wessenbergs vor-
urtheilsfrei, jeder Abneigung gegen andere Confesfionsverwandte fremd, in
allem, was höhere geistige Interessen betraf, ein nie völlig enttäuschter Idealist.
Dieser Mann ließ am 20. Februar 1834, zu derselben Zeit, als in Wien
die deutschen Minister zu einer neuen Vergewaltigung der Rechte der deutschen
Nation zusammengekommen waren, das folgende, etwas phrasenhafte Schreiben
an den „Magistrat der k. k. böhmischen Haupt-und Residenzstadt Prag" ergehen:
„Vier Jahrhunderte und die weltumgestaltenden Erfolge der Kirchenrefor¬
mation Luthers haben über Johann Huß und Hieronymus von Prag gerechter
gerichtet als das Concilium zu Constanz und der wortbrüchige Sigismund in
den Jahren 1413 und 1416. Die Flammen der Verketzerungswuth haben in
unsäglichen Qualen-die Leiber dieser beiden Männer verzehrt, und vieljährige
Stürme des Krieges und Ströme von Blut haben bald darauf die Nationen
gegeißelt; aber die Nachwelt und die Geschichte, leidenschaftslos und gerecht,
verehrt diese starken Geister als erste Vertheidiger der Gewissensfreiheit
und Vorkämpfer der großen kirchlichen Reformation.
Kriegshelden, Staatsmänner, Gelehrte und Künstler aller Arten: Napoleon,
Luther, Canning, Schiller, Goethe, Gutenberg und Dürer haben ihre Denkmale,
welche der Nachwelt wichtige Momente ihres Lebens und Wirkens bezeichnen
oder den Ort, wo ihre Asche ruht; — aber kein Denkstein bezeichnet bis heute
die Stelle, wo Huß und Hieronymus von Prag für ihren Glauben den schreck¬
lichsten Tod im Feuer fanden.
Aufmerksame Forschung setzte uns in den Stand, mit Zuverlässigkeit diesen
so merkwürdigen Ort in der Gemarkung unserer Stadt bestimmen zu können.
Der unterzeichnete Bürgermeister von Constanz und mehre Bürger dieser
Stadt, die in der katholischen Kirche, zu der sie ohne Ausnalfme gehören, kein
Hinderniß finden können, haben sich daher vereinigt, um in Deutschland und
Frankreich, vorzüglich aber in England (wo Hussens Lehrer Wilkes lebte) und
in Böhmen, dem Heimathslande des Huß und Hieronymus, mittelst Subscrip-
tion Beiträge zu Errichtung eines großartigen Denkmals zu sammeln, welches
die Stelle bezeichnen soll, wo beide starben.
Indem ich die Ehre habe, dieses vorläufig dem verehrlichen Magistrate
des Geburtsortes des Hieronymus anzuzeigen, bitte ich Wohldenselben um ge¬
fällige Erklärung der dortseitigen Ansicht über den wahrscheinlichen Erfolg, den
dieses Unternehmen (welches kein locales, sondern ein allgemeines und
eben deswegen nur großartiges ist und sein soll) in Hieronymus Geburts¬
orte und bei seinen Vaterlandsgenossen überhaupt haben wird; namentlich bitte
ich ergebenst um Auskunft, ob gehofft werden darf, daß die Magistrate der Städte
in Böhmen, an welche das hiesige Cömitö sich wenden wird, zu diesem Unter¬
nehmen hilfreiche Hand bieten werden."
Soweit Hüetlin. Der wackere constanzer Bürgermeister mochte sich, als er
dies schrieb, wohl auf eine heftige Polmik der ultramontanen Partei, die da¬
mals, wie heute, in den ganz katholischen Bodcnseegegenden ihr Haupt kühn und
mächtig erhob, gefaßt gemacht haben, ja es ist nicht unwahrscheinlich, daß unter
der Verehrung des freisinnig denkenden Katholiken für diese Opfer einer fana¬
tischen Hierarchie der Wunsch: den Ultramontanen bitteren Kummer zu bereiten
das Unternehmen hervorrief. Aber gewiß hatte Hüetlin nicht daran gedacht,
daß sein Schreiben Gegenstand einer lebhaften diplomatischen Korrespondenz
Werden würde. Der Fürst Metternich war es, der ihm diese Ehre erwies.
Am 17. April richtete er eine vertrauliche Note an den Vertreter Badens
bei den wiener Conferenzen, den Minister Frh. v. Reizenstein. Nach den üb¬
lichen Eingangsworten und einer kurzen Nachricht über das Geschehene läßt
er sich also vernehmen:
„Es ist nicht der Ort hier und auch wohl an sich ganz überflüssig, der erleuch¬
teten Einsicht und dem richtigen Gefühle Ew. Excellenz das Unzukömmliche, Un¬
passende und man möchte sagen das eigentlich Beleidigende näher zu entwickeln,
was in dem an den prager Magistrat gestellten Antrage liegt, indem selber
einfach daraus hinausläuft, treuen Anhängern der katholischen Kirche und er¬
probten böhmischen Vaterlandsfreunden zuzumuthen, daß sie dazu mitwirken sollen,
bitteren Feinden dieser ihrer Kirche und Männern, deren Lehren und Sachge¬
nossen ihr Vaterland in eine Reihe von Kriegen und Zerstörungen — deren
Spuren noch nicht verwischt sind — gestürzt haben. ein Denkmal des Ruhmes
und der Ehre zu setzen.
Um so lebhafter halte ich mich aber verpflichtet, Ew. Excellenz auf den
Politischen Gesichtspunkt aufmerksam zu machen, von welchem aus betrachtet
zu werden die Sa che wohl verdient. Offenbar trägt das ganze Unternehmen und
insbesondere- die an den Magistrat von Prag vollbrachte und an die übrigen
städtischen Behörden Böhmens meditirte Einladung den Charakter eines poli¬
tischen staatsgefährlichen Antriebes.
Irgendeinen wissenschaftlichen, philanthropischen, religiösen, zwar dem An¬
scheine nach oft harmlosen, in der That aber immer perfiden und bösgemeinten
Zweck voranstellen, zur Erzielung desselben Comites und Ausschüsse bilden,
Subscriptionen eröffnen, Gelder sammeln, sich allerwärts Verbindungen schaffen
und diese Verbindungen und die gewonnenen Mittel sodann beliebig zu weiteren,
rein revolutionären Unternehmungen benutzen; — dieses ist eine Taktik der
Umsturzpartei, die sie in der letzten Zeit zu häusig benutzt hat, um über die
eigentliche Bedeutung derselben, so oft der Fall vorkommt, den unbefangenen
Beobachter irgend in Zweifel zu lassen. Und wenn bei der gegenwärtigen Ver¬
anlassung die Urheber der Unternehmung sich in der Erwartung, in Böhmen
durch Erweckung der nur mehr todten und rein historischen Erinnerungen an
die Unruhestifter des 15. Jahrhunderts jetzt noch Anklang zu finden, ohne
allen Anstand getäuscht haben mögen, so liegt nichts desto weniger die Absicht,
durch diese Erinnerungen die Gemüther daselbst in einer der bestehenden Ordnung
der Dinge ungünstigen Richtung aufzuregen, so deutlich vor, daß die Pflicht
der Regierungen, so unlauteren Streben, wo es sich geltend machen will, mit
Entschiedenheit entgegenzutreten, nicht in Abrede gestellt werden kann." Zum
Schlüsse wird die badische Regierung aufgefordert, Mittel zu suchen, um solche
Vorkommnisse zu verhindern und ihr durch eine Nachschrift mitgetheilt, daß
bereits eine ähnliche Anzeige des constanzer Bürgermeisters an den Magistrat
von Hussitin („eines unbedeutenden böhmischen Städtchens und zugleich Johann
Huß' Geburtsort") gelangt und von diesem an die oberste Landesbehörde ein¬
gesendet worden sei.
Man sieht, wie Hüetlin sich verrechnet hatte. In seinem hochherzigen Ide¬
alismus hatte er auf die Begeisterung dieser Böhmen für ihren großen Lands¬
mann gerechnet, aber statt enthusiastischer Aufnahme fand sein Plan bei den
gut dressirten k. k. Magistraten nur die Furcht vor der mctternichschen Polizei¬
fuchtel; statt auf seine Ideen einzugehen, denuncirten sie ihn.
Freih. von Reizenstein war ein zu aufgeklärter Mann, als daß er nach
Art vieler kleinstaatlicher Minister jener Zeit sofort in den blinden Lärm hätte
einstimmen können, den Metternich anhub. Er beruhigte zunächst den ängstlichen
Diplomaten, stellte die Gesinnung der constanzer Bürgerschaft als eine besonnene,
friedliche, revolutionären Umtrieben völlig fremde dar, versprach jedoch genaue
Untersuchung des ganzen Vorfalls.,
Diese wurde denn auch von der badischen Regierung alsbald eingeleitet, und
der Minister des Innern L. Winter säumte nicht, dem constanzer Bürgermeister
„zum voraus über sein in jeder Hinsicht unschickliches, unkluges, verordnungs¬
widriges und überhaupt von keiner ruhigen Ueberlegung zeugendes Benehmen
das diesseitige Mißfallen mit dem Anfügen zu erkennen zu geben, daß er sich
nicht mehr beigehen zu lassen habe, derartige Einladungsschreiben an Personen
in Böhmen oder sonstwo zu erlassen, widrigenfalls er zu gewärtigen habe, daß
er zur Verantwortung und zur gebührenden Strafe werde gezogen werden und
er auf seine an Personen in Böhmen bereits gerichtete Schreiben keine Antwort,
und wenn er diese Schreiben erneuern wollte, eine äußerst unangenehme zu
erwarten habe."
Uebrigens war Winter weit entfernt davon, hinter dem Denkmalsplan eben¬
falls „staatsgefährliche Umtriebe" zu wittern. Im Gegentheil- legte er dem
wackern Hüetlin in den weiteren Mittheilungen, die nach Wien erlassen wurden,
äußerst harmlose, wenngleich sehr praktische Motive unter. Er meint, es be¬
fänden sich in Konstanz einige Liebhaber von Antiquitäten. Von diesen seien
die Antiquitäten, welche auf den vorliegenden Gegenstand Bezug haben, ge¬
sammelt und in dem Saal, in welchem'der Papst Johann der Zweiundzwanzigste
das bekannte costnitzcr Concil hielt, aufgestellt, so z. B. der Stuhl, auf welchem
dieser Papst, und der, auf welchem der Kaiser Sigismund gesessen und der¬
gleichen mehr. Es sei nicht zu verkennen, daß alle diese Dinge einen histo¬
rischen Werth haben, sie hätten aber für Constanz auch ein materielles Interesse,
Weil dadurch Reisende, denen die Einsicht dieser in mancher Beziehung merk¬
würdigen Alterthümer gestattet ist, herbeigezogen würden, wodurch dieses Inter¬
esse befördert werde. Die Erhöhung dieses Interesses, insbesondere das Heran¬
ziehen noch mehr Reisender nach Constanz, die daselbst Geld verzehren/dürfte aller
Wahrscheinlichkeit nach auch Veranlassung zu diesem Unternehmen gegeben haben."
Wir sehen, Hüetlin hatte mit seiner Idee eines Hußdcnkmals entschie¬
denes Unglück. Ein Staatsmann erklärte sie für ein „staatsgefährliches" Unter¬
nehmen, ein anderer für eine gewöhnliche Bcutelschneiderei.
Ob dies übrigens wirklich die Ansicht Winters war oder ob er damit nur in
richtiger Kenntniß des Mannes, mit dem er es zu thun hatte, die aufgeregte
Phantasie des Fürsten-Staatskanzlers beruhigen wollte, wollen wir unent¬
schieden lassen, wenn wir auch nicht verhehlen, daß wir uns mehr zu der letzten
Erklärung hinneigen.
Die östreichische Regierung beruhigte sich mit dieser Erklärung und dem an
Hüetlin ergehenden Befehl, „sich aller weiteren Anregungen in Bezug auf diesen
Gegenstand zu enthalten".
Seitdem aber sind alle die Männer, die in dieser Denkmalsfrage eine Rolle
spielten: Metternich, Winter. Hüetlin längst dahingegangen. Aber Hüetlin hat
doch Recht behalten. Eine Viertelstunde von Constanz entfernt, an der Stelle,
auf der Huß verbrannt wurde, erhebt sich heute zwar nicht ein großartiges
Denkmal, zu dem England und Frankreich, Deutschland und Böhmen beige¬
steuert, aber doch ein Erinnerungszeichen an den Feuertod des Reformators,
ein mächtiger Felsblock, ein Fündling, der, zum Schmerz der Ultramontanne,
auf Kosten katholischer Constanzer, vor ein paar Jahren dorthin gewälzt wurde.
Unter den Forderungen, welche Preußen an das zukünftige Schleswig-
Holstein stellt, ist auch die wichtige, daß Preußen das Recht erhalte daselbst
Befestigungen anzulegen und über das von denselben eingenommene Terrain
die Territorialhoheit zu erhalten. Um zu ermessen, wieweit die Forderung an sich
innere Berechtigung hat und in welchem Maße einerseits Schleswig-Holstein
Land, Leute und Geld, andererseits Preußen Leute und Geld herzugeben hätte,
soll hier versucht werden, aus der militärischen Bedeutung, welche Schleswig-
Holstein hat, die in den Herzogthümern wünschenswerthen und nothwendigen
Festungsanlagen festzustellen. Nur die militärischen Gesichtspunkte sind hier
maßgebend, der Versasser kann nichts dafür, wenn dieselben gegen die land¬
läufigen Vorstellungen aller Parteien stoßen.
Schleswig-Holstein ist in militärischer Rücksicht kein hervorragend begehrens¬
werthes Land, es bietet für kriegerische Bewegungen keine günstigen Formen
und Verhältnisse und sein Besitz wie seine Behauptung ist von der Beherrschung
des umgebenden Meeres abhängig. Besonders begehrenswerth kann der mili¬
tärische Besitz von Schleswig-Holstein, wie es heute ist, auch deshalb nicht ge¬
nannt werden, weil es bei sehr einfachen Lebensverhältnissen, einer wenig
dichten Bevölkerung und einem nur strichweise guten Boden eine sehr bedeutende
Schuldenlast hat. — Es ist im Fall eines Krieges als Ackerbau und Viehzucht
treibendes Land zwar geeignet dem eindringenden Feind gutes Brod und
Fleisch zu bieten, aber keine greifbaren Reichthümer, es giebt also zu eigent¬
lichen Raubzügen keine Veranlassung. Selbst seiner Städte Kraft ist im.
Ganzen wenig entwickelt, Rendsburg mit 10, Schleswig mit 12, Kiel mit 18
und Flensburg mit 20,000 Einwohnern sind keine Centren eines großes Lebens,
deren Einnahme oder Behauptung die Beherrschung des Landes entschiede,
deren permanente oder vorübergehende Befestigung — zumal bei deren weit-
läufigen Bau — außerdem sehr schwierig sein würde.
Nur Altona macht in innerer Bedeutung eine Ausnahme, es hat an sich
über 40,000 Ew., ist betheiligt an der Weltstellung Hamburgs, beherrscht die
Elbe, ist Ausgangspunkt der Eisenbahnen, der Lebensadern der Herzogthümer,
und ist die Handelshauptstadt des Landes. — Hier in Altona allein würde
für den einbrechenden Feind etwas zu holen sein; denn kieler Sprotten und
huhu mer Austern dürsten für eine große militärische Unternehmung gar zu theure
Delicatessen werden. — Schleswig-Holstein Hot also nur Werth für seine Besitzer
und seine Gläubiger. Beute wie sie der moderne Krieg wünschenswert!) macht,
ist da außer in Mona nicht viel zu haben.
Für Kriegszüge aber, insofern sie allgemeinere Interessen als gerade den
Besitz des Landes verfolgen, haben die Herzogthümer keine Bedeutung, sie liegen
entfernt von den Berührungslinien der großen Völker. Nur der südliche Theil
mit dem Centralplatz Mona stößt an die große Straße des mittleren Deutsch¬
lands, an die Elbe, welche mit dem Binnenland die Nordsee und die Küsten
von Frankreich und England verbindet.
Ein Krieg um den endlichen Besitz von Schleswig-Holstein in dem Lande
selbst ist in der Zukunft thatsächlich nicht zu fürchten. streitig war und kann
der Besitz nur zwischen Deutschland und Dänemark sein. Hält aber Preußen
die Hand über die Herzogthümer, so ist wohl kaum anzunehmen, daß Däne¬
mark mit 1,600.000 Ew. Krieg gegen einen zehnmal stärkern Gegner unternimmt;
es sei denn, daß es mit größern Mächten verbunden ist. In diesem letztem
Fall aber würden die Schlachten, welche mit diesen andern Mächten geschlagen
werden, den endlichen Besitz des Herzogthums bestimmen. Und dann würde
eine geringe Truppenstärke, unterstützt von Landwehren, welche Mona. Ham¬
burg und den Elbstrom festhält und die Dänen hindert aus der jütischen Halb¬
insel vorzudringen, alles sein, was in den Herzogtümern gegen die dänische
Macht nothwendig ist. Vergegenwärtigt man sich, wie hoch Dänemark im
äußersten Falle steigen kann, so schwindet die Bedeutung seines isolirten An¬
griffs noch mehr. Das Höchste, was ein Land zu einem Offensivkriege dis¬
ponibel machen kann, sind erfahrungsmäßig zwei Procentseiner Bevölkerung; das
würde für Dänemark also 32,000 Mann betragen . davon ist seine Marine u. s. w.
abzurechnen, es bleiben von jetzt ab im Maximum 20,000 Mann, deren Zu¬
rückweisung man bei mäßiger Unterstützung den fast gleichstarken Landwehren
der Herzogthümer allein, selbst ohne alle Festung überlassen könnte, wenn man
in Rechnung zieht, daß jeder Schritt vorwärts den Gegner schwächt, indem er
zum Zurücklassen von Garnisonen nöthigt, und daß Schleswig in seinen zahl¬
reichen Wasserabschnitten und in seiner schmalen Front für einen Vertheidigungs¬
krieg so unendlich günstig ist.
Der Aufstellung einer größeren preußischen Landmacht an der Nordgrenze
von Schleswig stellt sich aber noch das Bedenken entgegen, daß die 30 Meilen
lange Rückzugslinie nach dem Festlande ein 6—8 Meilen breiter Landstrich ist,
der überall von dem die See beherrschenden Gegner bedroht wird. In der
That gehört zur Behauptung von Schleswig durch eine dem dänischen Landhecr
gewachsene Macht nothwendig die Beherrschung der See. Wenn uns Preußen
diese Superiorität nicht zufällt, so müssen wir bei jedem größern Kriege unsere
Streitkräfte von jener Linie fort auf die Basis zurücknehmen, in den südlichen
Theil von Holstein, in die Nähe Altonas, die Elbmündung und das lübsche
Wasser vor unseren Flügeln. Im Kriege 1864 waren 80,000 Mann Verbündete
gegen 30,000 Dänen in Thätigkeit, und dabei gestattete die Herrschaft zur See
den Dänen doch alle Flanken des Gegners zu bedrohen und ihn zu nöthigen,
seine Kräfte als Küstenwachen zu zerstreuen, und zu oft gelang es den Dänen,
sich gegen diese durch glückliche Ueberfälle geltend zu machen. Wäre es nicht
die Absicht der Dänen gewesen, durch einen Kampf in den Herzogthümern die
Westmächte in den Krieg zu ziehen, und hätte die vnbesvnnene Volksmasse in
Kopenhagen nicht in die Leitung des Krieges eingegriffen, so würden die Dänen
gewiß die eigentlichen Vortheile ihrer Stellung ausgebeutet, jede Schlacht und
jeden größern Schlag auf dem Festlande vermieden und sich darauf beschränkt
haben, durch Ueberfälle in größerer Ausdehnung unausgesetzt Flanken und
Rücken der Gegner zu beunruhigen. Fehlten den Preußen und Oestreichern
Siege, fiel der Unermüdlichkeit der Dänen eine Reihe kleiner Erfolge zu, dann
hatte die Diplomatie ein viel größeres Wirkungsfeld, und schwerlich kam es
dann zu dem heutigen Frieden. Die Form und die Verhältnisse des Landes
also zwangen, die Verbündeten eine Macht von 80,000 Mann gegen 30,000 zu
entwickeln, um dasselbe zu erobern und zu behaupten. — Im Fall eines er¬
neuten Krieges gegen Dänemark aber, wo wir andere und größere Gegner zu er¬
warten haben, brauchen wir die Uebermacht gegen diese größeren Gegner und
müssen Schleswig den eigenen Streitkräften überlassen oder richtiger, dem, der
die See beherrscht. Deshalb sind alle größeren Befestigungen im nördlichen
Schleswig unnütz, und sofern sie Preußen Geld kosten, nachtheilig. Die Herr¬
schaft des Meeres allein wird in Zukunft über den Besitz der Herzogthümer
entscheiden, und nach dieser muß streben, wer die Herzogthümer behaupten
will. Dänemark hat durch den Verlust von Schleswig-Holstein seine Be¬
deutung als Continentalmacht verloren und muß, wenn es seine äußere Stel¬
lung und seine Kolonien behaupten will, seine Kräfte vorwiegend auf die Marine
verwenden. Nicht seine Armee, sondern seine Marine ist mithin für alle fernern
militärischen Berechnungen in Anschlag zu bringen, und gegen Dänemark muß
Deutschland fortan nicht Festungen, sondern Schiffe bauen. Unsere Flotte muß
so stark gemacht werden, daß sie der dänischen überlegen und im Stande ist,
der vereinten skandinavischen Flotte entgegenzutreten. —
Die Flotte aber bedarf einer befestigten Basis, aus der sie hervorgeht, in
welcher sie Schutz sucht, unbehelligt ihre Reparaturen ausführen kann u. s. w.
und je näher diese Basis dem zu erwartenden Kampfplatz liegt, je leichter der
Aus- und Eingang zu allen Jahreszeiten ist und je vollständiger daselbst allen
Bedürfnissen der Flotte genügt werden kann, desto besser ist der Hafen, desto
sicherer muß er gemacht werden. England hat seine Flottenbasis gegen Europa
und zumal gegen Frankreich in Plymouth entwickelt und dort Befestigungen
in einer Ausdehnung gebaut, wie sie dem reichen Material, das sie decken
sollen, entsprechen. Frankreich hat gegenüber in Cherbourg diesen Forderungen
genügt und Toulon zur Basis der Flotte des Mittelmeeres gemacht. — Den
günstigsten Punkt zur Beherrschung eines Meeres hat Nußland in Sebastopol
erwählt, wie seine Lage fast mitten im schwarzen Meere zeigt und wie aus der
Zähigkeit hervorgeht, mit der England bei Gelegenheit des letzten russisch¬
türkischen Krieges dessen Zerstörung verfolgte. Werfen wir einen Blick auf den
eventuellen Kampfplatz der dänischen und preußischen Flotte, die Ostsee, um
die Gegend zu ermitteln, welche für eine, preußische Flotte die vortheilhafteste
Basis abgeben könnte, so sehen wir, daß der dänische Kriegshafen Kopenhagen
die beste Wasserstraße aus der Nord- in die Ostsee beherrscht, und daß deren
Flotte beim Verlassen des Hafens gegen Süden sofort ein weites Gefechtsfeld
gegen die deutschen Küsten hat und den gesammten Verkehr der Schleswig-hol-
steinischen Küsten mit dem großen Becken der Ostsee beherrscht. Eine gleich,
günstige Gegenstellung würde nur ein Kriegshafen bei derJnsel
Rügen bilden. Wollte man die Hauptstation der preußischen Flotte eventuell
nach der kieler oder eckernförder Bucht verlegen, so würde die dänische Flotte
von Kopenhagen aus jede ihrer Bewegungen nach Osten zur Beschützung der preu-
ßischen Küsten in die Flanke nehmen und unterbinden können. Die Dänen
haben die beherrschende Lage der Insel Rügen sehr wohl erkannt und haben
deshalb im vorigen Kriege ihrer Ostseeflotte fast anhaltend eine Aufstellung an
der Nordostspitze dieser Insel gegeben. Wie weit sie hier auch von den deutschen
Häfen standen und wie sehr sie damit ihrer Blockade den Anstrich des Ungenü¬
genden gaben, so sehr beherrschten sie doch von dort aus die Schifffahrt weit
über die Ostsee hin.
Ein Kriegshafen Kiel. Eckernförde oder Höruv auf der Insel Alsen kann
an sich sehr gut sein, würde auch die nächstgelegene Küste sichern, hätte aber
wegen der gegenüberliegenden dänischen Inseln für das Meer selbst nur ein
beschränktes Wirkungsfeld und erfüllte durchaus nicht seinen Hauptzweck,
die militärische Basis zur Beherrschung der Ostsee zu gewähren. Das haben
die Dänen sehr wohl erkannt, sie haben einmal denselben Plan gehegt, und
haben den Kriegshafen, welchem Friedrichsort als Fort dienen sollte, aus guten
Gründen wieder aufgegeben.
Eine Flottenstellung bei Rügen dagegen würde nicht nur die preußischen
Küsten schützen, sondern auch die dänischen Inseln, zumal Seeland, das Haupt¬
land, unausgesetzt bedrohen, die Dänen in Spannung erhalten und dadurch
mindestens ebenso wirksam zum Schutz der Schleswig-holsteinischen Küsten
beitragen als eine Aufstellung bei Kiel. — Rügen ist denn auch, seit die preu¬
ßische Marine ernsthaft behandelt wurde, als Kriegshafen im Plan gc-
Wesen, und nur die neuesten Ereignisse und unsichere und schwankende Projecte
haben davon abgeführt. Man hat die gesunde strategische Grundlage der mili¬
tärischen Anordnungen auf die Seite geschoben, um den schreienden Mangel
eines guten Kriegshafen zum Motiv der Aneignung der Herzogtümer zu machen.
Ob das politisch nützlich war, steht hier nicht zu entscheiden, militärisch richtig
ist es nicht.
Man hat gegen die Wahl der Insel Rügen in letzter Zeit noch eingewor¬
fen, daß es überhaupt ein Fehler sei, eine Insel zum Sammelplatz großen
Kriegsmaterials zu machen, da dieselbe allen Ueberfällen zu leicht ausgesetzt sei.
Diese Anschauung beruht aber auf einem Irrthum. Denn der Ueberfall einer
Festung ist an sich, bei nur einiger Wachsamkeit der Besatzung außerordentlich
schwer und darf nur dann auf Erfolg rechnen, wenn man mit der Localität
sehr vertraut, mit hinreichendem Material zur Füllung der Gräben und Er¬
steigung der Mauern versehen ist, und wenn es gelingt, in voller Ordnung und
unter dem Schutze der Nacht sich der Festung zu nähern. Ein Ueberfall aber
direct von den Schiffen aus oder kurze Zeit nach einer Landung entbehrt so
sehr des innern Halts, daß er zu wenig Aussicht Ms Erfolg hat. Wer an¬
greift, muß vor allen Dingen eine gute Basis, eine gesicherte Nückzugslinie
haben, und wer einen Angriff auf einer Insel unternimmt, entbehrt deren, wie
Franzosen und Engländer vor Sebastopel zur Genüge empfunden. Man muß
im Gegentheil die Lage auf der Insel für vortheilhaft erklären, so lange die
Festung in ihrer Verproviantirung unabhängig vom Meere ist, und das würde
bei Rügen der Fall sein. —
Also zu Lande werden wir Schleswig aus einer Aufstellung bei Altona,
zur See durch eine Flottenstation und einen Kriegshafen auf Rüge» vertheidigen.
Nur die Position bei Altona würde zuvörderst die Anlage einer Befestigung zur
directen und alleinigen Vertheidigung der Herzogthümer wünschenswerth machen.
— AberMerdings würde eine Schöpfung der Zukunft eine Ausdehnung der Be¬
festigungen nöthig machen; diese Schöpfung wäre die Anlage des großen Kanals
zwischen Ost- und Nordsee. Es bedarf keiner Auseinandersetzung, daß zur
Sicherung dieser Weltstraße, welche unsere Handels- und Kriegsflotte von den
dänischen Seestraßcn unabhängig macht, gegen Streifzüge zu Wasser und zu Lande
Befestigungen angelegt werden müssen, natürlich nicht eher als bis der Kanal
fertig ist. Befestigungen zur Abwehr von Flotten und Landheeren sind dem
Kanal nicht nothwendig, da derselbe nur so lange Bedeutung für uns hat,
als wir das Meer behaupten, und so lange wir dies thun, wird weder eine feind¬
liche Flotte noch ein Landheer sich allein mit demselben beschäftigen können.
Gegen einzelne Unternehmungen von Flottenabtheiiungen bedarf es an den
beiden Kanalmündungen der Anlage von beherrschenden Batterien und der
Stationirung von einigen Kanonenbooten. Gegen Abtheilungen von Land¬
truppen bedarf es einer, jene Landbatterien abschließenden Befestigung und
einer Deckung der Schleusten. Große Walllinien sind für die Sicherung sehr viel
weniger nöthig, als eine militärische Anlage aller zur Kanalverwaltung und
sonst von Privaten dabei ausgeführten Baulichkeiten. Sogar massive Privat¬
häuser, welche so angelegt werden, daß man sie eventuell durch Infanterie ver¬
theidigen kann, vermögen erfahrungsmäßig sehr lange gegen einen viel stärkern
Feind vertheidigt zu werden. Alle Häuser der Schleußenwächter, Einnehmer-
Baubeamten u. s. w. müssen das Terrain und den Kanal militärisch beherrschen,
durch massive Mauern umgeben, von allen Privatanbauten auf Gcwehrschußweite
fern gehalten werden u. s. w. — Längs der Südseite des Kanals muß eine
Telegraphenleitung und eine Eisenbahn die Stationen verbinden, Dampfschiffe
müssen zur Ueberfahrt bereit sein. — Wirkliche Garnisonen bedürfen nur die
Ausgänge des Kanals und zwar die stärkere Garnison der östliche, der dänischen
Macht zugekehrte. Wird z. B. der Kanal auf der Linie Eckernförde — Bruns-
büttel angelegt, so erscheint Eckernförde als der gebotene Kriegshafen der Ostküste
Schleswig-Holsteins , :n welchem eine Flotille von gepanzerten Kanonenbooten
geschützt aufgestellt stehen müßte und wo eine Landbefcstigung anzulegen wäre,
um die im Kanal befindlichen Schiffe und das Eisenbahnmaterial der
Kanal- role der andern Linien aufzunehmen. Eine Besatzung von 4000 Mann,
bestehend aus 2 Ersatz- und 2 Landwehr-Bataillonen, den entsprechenden
Artilleristen und Pionnieren würde genügen, um sowohl den Kanal zu
schützen, als auch eventuelle' Unternehmungen nach Norden und den dänischen
Inseln zu machen. Brunsbüttel dagegen, das für Schiffe nur in dem leichter
SU sperrenden Elbstrom zugänglich ist, zunächst von einer sehr flachen Küste um¬
geben wird, auch auf der Landseite leicht abzuschneidenden Marschboden hat
und der Unterstützung der stets besetzten Position Altona-Hamburg näher liegt,
'se auf eine Besatzung von 1000 Mann einzurichten und hat ein Bataillon
Landwehr als Garnison zu erhalten. Den Rückhalt der Vertheidigung des Kanals
würde diej für die ganzen Herzogthümer entscheidende Position bei Altona
bilden, welche deshalb mit beiden Ausgängen des Kanals per Eisenbahn ver¬
bunden sein müßte.
Faßt man die Bedeutung zusammen, welche die Herzogthümer für Deutsch¬
land und besonders für Preußen in strategischer Beziehung haben, so geht aus
dem bisher Gesagten schon hervor, daß dieselben menschlicher Berechnung nach
kein Kriegstheater für die größern Streitkräfte Deutschlands und Preußens ab¬
geben werden, ausgenommen im Fall eines Krieges mit Frankreich oder Eng¬
land, wo der Weg eines LandungSheeres entschieden über Hamburg nach Berlin zu
suchen wäre, oder wo ein bereits in Norddeutschland eingedrungenes feindliches Heer
sich bemühen würde, Hamburg zu occupiren, um über dessen reiche Mittel, über
die Elbe und die dort mündenden Eisenbahnen zu gebieten. In diesen Fällen
würde der südliche Theil von Holstein mit in das Kriegstheater fallen.
Die militärische Bedeutung Hamburgs für ganz Norddeutschland und für
die Herzogthümer muß hier besonders hervorgehoben werden. Die dort ange¬
sammelten Massen von Kriegsbedürfnissen, als Holz, Getreide, Vieh und
Schiffe, und die dort concentrirten Verkehrswege sind es nicht allein, welche
die Stadt begehrungswcrth machen. Der Besitz von Hamburg entscheidet
mehr oder minder über den Besitz von Norddeutschland, aber über den Besitz
der Herzogthümer ganz und völlig. Die Wirkungssphäre einer feindlichen
Festung Hamburg würde die Herzogthümer ganz von Deutschland trennen.
Eine preußische Position bei Hamburg flankirt alle Heeresbewegungen auf
Nord und West nach Berlin, eine starke Garnison dieses Ortes ist veren, auf
20 Meilen nach allen Himmelsgegenden die Küsten vor den Erfolgen von Lan¬
dungen zu beschützen, vorausgesetzt, daß Eisenbahnen und Telegraphen zur
Versendung u. s. w. von Truppen bereit sind. Nach den Herzogthümern, nach
Lübeck und Mecklenburg sind letztere Verbindungsmittel bereits vorhanden, siefehlen
aber noch für die hannoverschen Küsten. Belege für diese Bedeutung Hamburgs
bietet das Streben aller im Beginn dieses Jahrhunderts hier auftretenden Heere,
sich dieses Besitzes zu versichern. Darunter ist die Besetzung Hamburgs beim
Beginn der Freiheitskriege und die darauf folgenden Leiden durch die Ein¬
nahme Davousts hinreichend bekannt und durch Erinnerungsfeierlichkeiten auf¬
gefrischt. Eine Befestigung von Hamburg also würde, abgesehen von einer
localen Vertheidigung des noch anzulegenden großen Kanals, allen fortificato-
rischcn Anforderungen genügen, welche man zur Vertheidigung der Herzog¬
thümer und Norddeutschlands zu stellen berechtigt ist.
Hamburg aber entzieht sich unserer Gewalt, es ist einer von den souveränen
Staaten Deutschlands, die ihre Bedürfnisse nach ihren allernächsten Angelegen¬
heiten bestimmen. Einigen Ersatz für Hamburg könnte das holsteinische
Altona gewähren, das in seinem militärischen Werth für die Herzogthümer
bereits erwähnt wurde. Altona befestigt und zu einer Beherrscherin von Ham¬
burg und der Elbe gemacht, würde die Festung Hamburg ersetzen können.
Leider sind Hamburg und Altona nur eine einzige Stadt, und eine militärische
Trennung derselben ist außerordentlich schwierig. Einen Ersatz in dieser Beziehung
würde man also nur erlangen können, wenn man auch Altona aus der Wall¬
linie herausließe und eine Citadelle anlegte, welche beide Städte sowohl, als
auch die Elbe beherrschte, und an welche sich dann im Fall eines Krieges, der ja
alle Grenzen aufhebt, eine in diesem Falle anzulegende passagere Befestigung
von Altona und Hamburg anlehnte. Wenn man den Plan dazu vorher ent¬
wirft und festlegt, das Material zu den Werken soweit als zulässig in der
Citadelle deponirt, was heute, wo man Eisen statt Holz und Mauer zu verwenden
gelernt hat, sehr ausführbar wäre, so darf man hoffen, daß bei der starken,
zur Arbeit disponibeln Bevölkerung die ganze Befestigung im Falle der Noth
rechtzeitig fertig würde. Dieselbe würde, sobald das Kriegstheater bedroht ist,
eine Garnison von mindestens 16,000 Mann fordern. Die Citadelle selbst
muß zur Aufnahme von 3000 Mann Linie mit entsprechender Artillerie einge¬
richtet sein, während die Besatzung der Städte den Rest der Garnison auf¬
zunehmen und neben dem hamburgischen Contingent aus Landwehr der Her-
zogthümer u. s. w. zu bestehen hätte.
Die Herzogtümer werden also die beste Basis ihres militärischen Schutzes
in einer Festung Akkon«-Hamburg und in einem Kriegshafen und Flotten¬
etablissement Rügen haben, sie werden dann nur nach einer Richtung hin un¬
gehindert sein, nämlich von der Seite der Nordsee. Hier aber ist das Gefechts¬
feld der großen Flotten Englands und Frankreichs, und hier haben wir dem
an sich übermächtigen Feinde bereits die Gewalt eingeräumt, indem wir Helgoland,
welches die ganze in Betracht kommende Küste beherrscht, den Engländern über¬
ließen. Helgoland muß unser sein, wenn wir im Ernst von einer Vertheidigung
unserer Nordseeküsten sprechen wollen. Bis dahin mögen" wir versuchen alle
Landungspunkte zu befestigen, was so gut wie unmöglich ist.
Der Verfasser ist in diesem Buch ein recht deutliches und sprechendes Bild einer
jetzt im Absterben begriffenen Epoche des deutschen Kulturlebens, die wir als die
Epoche der Tagebücher und der schönen Seelen bezeichnen möchten, und in welcher
es für eine Hauptaufgabe des gebildeten Mannes galt, sich unablässig selbst im Spiegel
der Beschaulichkeit zu betrachten, dafür zu sorgen, daß man sich darin mit anmuthigen,
feinen und zarten Empfindungen ^ersehen erblickte, und diese Empfindungen dann dem
Papier zur Aufbewahrung anzuvertrauen. Fortwährend arbeitete man, soweit der
Lebensberuf Zeit ließ, recht gesucht zu denken und recht fein zu fühlen, und fort¬
während hatte man seine Freude darüber, bis man sich in eine Selbstgefälligkeit
hineinempfunden hatte, die auch das Kleinste groß, auch das Gewöhnlichste vornehm
und denkwürdig fand. Als ein Beispiel solcher Auffassung des Lebens in einer großen-
theils vergangenen Periode ist diese Reihe von autobiographischen Aufzeichnungen
recht interessant, auch enthält das Buch in der That manchen feinen Gedanken
und manchen geistreichen Blick in die eigne Entwicklung des Verfassers. Im Großen
und Ganzen aber müssen wir gestehen, daß wir diesem breiten Reden von sich und
seinen innern Erfahrungen, seinen Tugenden und Leistungen (man vergleiche Aeuße¬
rungen wie die, welche auf S. 183 in den Worten gipfeich „In Wahrheit, ich darf
es sagen, es war ein großes Maß von Berufstreue in mir auch für dieses Wirken"
— eine.Sclbstbcwunderung, für die sich noch eine gute Anzahl von Beispielen finden
ließe) diesen Citaten aus alten Tagebüchern, diesen ausführlichen Beschreibungen
ganz gewöhnlicher Erlebnisse wenig Frucht entnehmen konnten und sehr Vieles als
geradezu langweilig gern entbehrt Hütten. Wäre es Goethe selbst und nicht blos
einer der Herren, die ihm nachzuempfinden und nachzuschreiben suchen, so wollten
wir auch das sachlich Unbedeutende dankbar annehmen. Wie die Sachen stehen,
hätten wir statt unfruchtbarer, wenigstens für das große Publikum unfruchtbarer
Schöngeistigkeit lieber eine anschaulichere Darstellung der Zustände, in denen der Ver¬
fasser in Dresden lebte, und liebevoller ausgeführte Porträts der zum Theil be¬
deutenden Persönlichkeiten, mit denen er verkehrte, gesehen. Aber dazu fehlte
offenbar die Neigung. Die eigne Person und was ihr allmälig „aufging", war
die Hauptsache, alles Uebrige nur Staffage. Ueber die großen politischen Begeben¬
heiten der ersten zwei Jahrzehnte unseres Säculums, die Freiheitskriege z. B. nur
ein paar dürftige Zeilen; ja selbst die sächsische Loyalität, die über die Theilung
des Königsreichs jammert, und die sich an einem später bei Hofe wohlgclittencn
Gelehrten gut aufnehmen würde, scheint nach den betreffenden Stellen des Buches
nur mäßig entwickelt^gewesen zu sein.
Eine fleißige und in mehrfacher Beziehung werthvolle Arbeit, die, da über den
hier behandelten Zeitraum der Geschichte des Herzogthums Nassau bis zu ihrem
Erscheinen nur sehr wenig geschrieben war, doppelten Werth hat, wiewohl der Ver¬
fasser verhindert war, alle hier in Frage kommenden Quellen zu benutzen, und
namentlich die Archive der Herrschaft Königstein und die der ehemals mainzischen
und trierschen Theile des Ländchens von ihm nicht durchgesehen werden konnten. Dem
großen confessionellen Kampfe, der in dieser Periode alle Gemüther und Kräfte in
Bewegung setzte, folgt der Verfasser in allen seinen mannigfaltigen Wendungen, bis¬
weilen mehr, als es der eigentliche Gegenstand seiner Darstellung fordert, wogegen
zu loben ist, daß er die sich entgegenstehenden Ansichten der Parteien mit möglichster
Objectivität behandelt. , Ein besonderes Interesse gewinnt die Schrift dadurch, daß
der Antheil Nassaus an den Ereignissen, die mit der Befreiung der Niederlande vom
spanischen Joch endigten, mit besonderer Ausführlichkeit geschildert ist. Noch ist von
keinem Historiker nachgewiesen worden, welche Opfer von Seiten des nassauischcn Landes
und Fürstenhauses für jenes große Unternehmen gebracht wurden, und wenn der
Verfasser hier urkundlich darthut, wie man allmälig alle Landestheile verpfändete,
um die Kosten der verschiedenen Feldzüge zu erschwingen, und wie Nassau von Seiten
der vereinigten Provinzen später entschädigt wurde, so bereichert er in der That
nicht unwesentlich unsere Kenntniß von diesen Vorgängen. Schließlich verdient noch
Lob, daß das Werk auch der Kulturgeschichte in ziemlich reichlichem Maße (besonders
im 14. Capitel) seine Beachtung zuwendet. Eine etwas cvncisere Schreibweise und
die Gabe. geschickt und wirksam zu gruppiren würde dem Buch eine noch ehren¬
vollere Stelle in der Reihe der Spceialgeschichtcn gesichert haben, als es nach den
hervorgehobenen Vorzügen verdient.
M
Gesetzt, ein Deutscher, welcher der historischen Literatur nicht fremd ist,
läse das Werk, ohne den Namen des Verfassers zu kennen — vielleicht in einem
Exemplar der deutschen Ausgabe, welchem die Vorrede abgelöst wäre, — er
würde als wohlwollender Mann dies merkwürdige Buch etwa so beurtheilen:
Es ist die Arbeit eines fleißigen Dilettanten, der über die Methode geschicht¬
licher Forschung, über den Werth der einzelnen Quellen und die wissenschaftliche
Tüchtigkeit seiner Vorgänger nicht genügend unterrichtet ist. Der Verfasser hat
emsig und viel für sein Buch gelesen, aber er wählt mit großer Willkür aus
den Quellen und den Arbeiten anderer, was dem Bilde grade dient, das er sich
zu schnell von den Sachen und dem Charakter seines Helden construirt hat.
Deshalb hat da, wo er Geschichte erzählt, sein Bericht viel Unrichtiges, wo er
Menschen schildert, viel Unklares. Er ist dem bei Biographen häusigen Fehler
verfallen, seinen Helden so zu bewundern, daß er darüber die eigene Unbefangen¬
heit verloren hat und in Gefahr kommt, mehr Lobredner als Geschichts-
schreiber zu sein. Manche Stellen seiner Arbeit erweisen ein, wenn auch
oberflächliches Verständniß des römischen Staatslebens. Wie er den allmäligen
Verfall der Republik, ihre Altersschwäche und die Verdorbenheit des Staates
vor Cäsar auffaßt, er allerdings nicht als der erste, das zeigt einen Blick für
fremdartige Verhältnisse, die kurze Schilderung römischer Zustände bei Sullas
Tod ist das Beste im Buche. Aber in der Beurtheilung der Menschen¬
natur erweist er da, wo sein Urtheil nicht offenbar aus dem seiner Vorgänger
abgeleitet ist, einen Mangel an Tiefsinn und Scharfsinn und ein Bestreben, mit
banaler Phrase die Geheimnisse eines Menschenherzens zu überkleiden, daß man ihn
für einen nicht scharfsichtigen, nicht fein empfindenden, nicht weitblickenden, etwas
philiströsen und etwas pedantischen Mann der Schreibstube halten muß,
der eine übergroße Bewunderung vor jeder Willensstärke und allen großen
Conaten hat, denen sein eigenes Leben so fern als möglich steht, und der eben
deshalb sich in eine Verehrung des Cäsarismus hineinphantasirt hat, der etwas
Gemachtes und Unwahres anhängt. Er sieht nach dieser Seite aus, wie ein
recht harmloser Mann der Schreibstube, dem zum deutschen Gelehrten allerdings
die philologische und historische Bildung fehlt. Summa, es ist kein Buch,
welkes geistvoll anregt, oder durch sichere Gründlichkeit befriedigt, es ist ein
wenig zu breit angelegt, ohne hervorragendes Talent der Schilderung, es hat
in der Regel den belehrenden Ton. die mürrische und seichte Moral einer ge¬
wöhnlichen Jugendschrift, und erhebt doch wieder den Anspruch, ein Werk
mit selbständiger Forschung zu sein.
Dies Urtheil, welches sich nur aus dem Werke selbst ableitete, wäre nicht
unwahr, und doch würde es nach keiner Richtung die volle Wahrheit enthalten;
es würde in einigen Punkten unbillig sein, in anderen gar nicht hervorheben,
was am meisten an dem neuen Biographen Cäsars befremdet.
Grade dies Buch beweist in ausgezeichneter Weise, wie wenig ein Urtheil
über ein geschriebenes Werk möglich ist, wenn man nicht das ganze Leben des
Verfassers, so weit es der Oeffentlichkeit angehört, in das Urtheil hineinzieht.
Wären die Gedichte „Maas für Maas" und „Wie es euch gefällt" nicht von
Shakespeare geschrieben, sie würden heut nur von wenigen Literarhistorikern
beachtet sein. Die „Stella" Goethes, der „Fiesko" Schillers wären als un¬
schöne Dichterwerke vergessen, wenn wir nicht auch in ihnen die Seelen der
großen Dichter mit warmem Interesse zu erkennen gelernt hätten. Wäre auf
der andern Seite die preußische Geschichte des Herrn von Ranke durch einen
sonst unbekannten Mann verfaßt, wir würden sie als die flüchtige Leistung
eines immerhin beachtungswerthen Talentes gelten lassen, während sie jetzt als
eine Arbeit verurtheilt wird, in welcher die Schwächen des bedeutenden Historikers
sich am auffälligsten zeigen. Werth und Unwerth der einzelnen Leistungen wird
gesteigert durch die Bedeutung, welche der Verfasser auf das Leben seiner Zeit
und späterer Geschlechter ausübt. Ist sein Wesen ein wohlthuendes Moment
unserer Bildung geworden, so tragen wir die Liebe und Verehrung, welche wir
ihm schulden, mit Recht auch auf solche Leistungen über, in denen wir eine edle
Kraft nur unvollkommen wiederfinden, haben wir uns gegen gemeinschädliche
Richtungen seines Lebens zu wehren, so fällt der Vorwurf, mit welchem wir
seine Seele betrachten, schwer auf jede einzelne Leistung derselben, in welcher wir das
Mangelhafte seiner Organisation besonders lebhaft empfinden. Ohne diese Art
von Liebe und Haß ist keine wahrhafte Kritik möglich.
Der Verfasser des vorliegenden Werkes, jetzt Kaiser von Frankreich, hat
das Schicksal gehabt, seit seiner Jugend das Gemüth der Mitlebenden zu be-
schäftigen, Millionen haben bereits ihre Stellung zu seinem Leben ge¬
nommen. Er muß sich gefallen lassen, daß ihre Auffassung seiner eigenen ge¬
schichtlichen Persönlichkeit auch das Urtheil über sein Werk beeinflußt. Allerdings
nicht das Urtheil über den Werth, welchen seine Untersuchungen vielleicht für die
Wissenschaft haben, hier darf Abneigung nicht beeinträchtigen und Zuneigung
nicht übertreiben; aber die ganze Tendenz des Werkes, sein eigener Geist,
soweit er daraus sichtbar wird, soll von uns gar nicht mit der Unbe¬
fangenheit beurtheilt werden, die wir mühelos einem unbekannten Verfasser
zutheilen.
Daß ein Fürst in so hervorragender Stellung ernsthaft an Lösung einer
wissenschaftlichen Aufgabe geht, ist in der neuen Geschichte nicht unerhört, aber
die Wissenschaft hatte in diesem Falle besonderen Grund, von solcher Thätigkeit
Gutes zu erwarten. Denn es war bekannt, daß der Kaiser die Sache eifrig
anfaßte, und sehr wohl begriff, was er zu leisten vorzugsweise befähigt war.
Viele Stellen in der Lebensgeschichte Cäsars machten Forschungen wünschens-
werth, wie sie nur ein mächtiger Wille aufführen konnte. Die umfassenden
Vorarbeiten des Kaisers haben eine Anzahl Entdeckungen veranlaßt, die Schlacht¬
felder sind bereist und entdeckt, die Lage alter Städte, die Befestigungen von
Alesia, celtische Waffen und Alterthümer sind ermittelt und verzeichnet, und es
ist nicht zu zweifeln, daß das Werk da, wo die Kriege Cäsars geschildert
werden, vieles Neue und manches Bedeutende zu Tage bringen, und daß es
für die Geschichtschreiber nach dieser Hinsicht auch als Quelle dauernden Werth
behalten wird.
Aber der Verfasser hat nicht gut gethan, den Plan des Werkes so breit
anzulegen; hätte er sich begnügt, die militärische Thätigkeit Cäsars in den
Vordergrund zu stellen, so würde er die Mißstände zum größten Theil vermieden
haben, er konnte mehr Gründlichkeit als sein Oheim und bessere Sachkenntnis;
erweisen, und die Anerkennung seiner Leistungen konnte freudiger sein. Jetzt
aber füllt die größere Hälfte des ersten Bandes eine Geschichte des römischen
Staates, von den ersten Anfängen bis auf Cäsar. Dergleichen genügend zu schrei¬
ben ist nach der vierzigjährigen Arbeit deutscher Gelehrten nur möglich, wenn man
die zahlreichen Dctailuntersuchungen selbst nachgearbeitet hat, und wenn man grö¬
ßeren, wissenschaftlich geschulten Scharfsinn für die Aufgabe mitbringt, als dem
Kaiser zu Gebot steht. Daß er nicht vermieden hat, was für ihn zu schwer war. er¬
klärt sich allerdings schon aus der Einleitung und aus dem tendenziösen Bestreben,
eine Apologie des Cäsarismus zu schreiben. Cäsar, der die Landschaften Frankreichs
zuerst in das antike Staatsleben hineinzog. Karl der Große, den auch der Ver¬
fasser für den Gründer der französischen Monarchie hält. Napoleon, der den
modernen Kaiserstaat Frankreich schuf, alle drei nach seiner Auffassung Wohl¬
thäter Frankreichs und Umbildner der politischen Welt, waren seine Vorgänger.
Wie Octavian der Erbe Cäsars wurde, so möchte der Verfasser das neue
Kaiserreich als Resultat und Abschluß einer zweitausendjährigen geschichtlichen Ent¬
wickelung darstellen. Wenn er den Eroberer Galliens feiert, so empfindet er
zu gleicher Zeit die eigene, innige Verbindung mit dem Geiste Cäsars, welcher
der erste Begründer seiner eigenen Macht und Herrschaft war. Von solchem
Gesichtspunkt wird ihm auch der Cäsar der Bürgerkriege, der Umbildner der
Republik, der demokratische Selbstherrscher fast in jeder Beziehung seines poli¬
tischen Lebens ein bedeutsames Vorbild des eigenen Lebens, und Kaiser Napo¬
leon mag Wohl in dem Glauben stehn, daß er durch eine Apologie Cäsars sein
eigenes Thun und die Principien seiner Herrschaft vertheidigt.
Wohl, wir erwarteten von dem Kaiser eine Vertheidigung des Cäsarismus,
wir erwarteten, wie gering die Ähnlichkeit zwischen seinem Leben und dem
seines Helden sein mag, und wie verschieden die politische Berechtigung des
beiderseitigen Erfolges, doch eine interessante und fesselnde Apologie, scharfen
Einblick in die geheimen Motive der Handelnden, ein festes Urtheil über ge¬
wagte Thaten, eine warme Vertheidigung der hohen Tendenzen, welche einen
kühnen Geist zum Brecher bestehenden Rechts machen und deren segensreiche An¬
wendung, wie man sagt, vergossenes Bürgerblut zu sühnen vermag. Man dürfte
ihm zutrauen, daß er in seinem eigenen Leben die Schauer und Gewissenskämpfe
kennen gelernt, welche einem ungeheuren Wagniß vorangehn, daß er die Bitter¬
keit tief empfunden habe, ein hohes Ziel auf Schleichwegen, durch Intriguen,
Verrath, Korruption und unwürdige Genossen zu erreichen, daß er selbst in
schweren Stunden Trost und Festigkeit in der Ueberzeugung gesucht, wie der
Endzweck eines großen Ehrgeizigen mit dem Glück von Millionen zusammen¬
falle. Man durfte annehmen, daß er selbst erfahren, wie dämonisch der ehr¬
geizige Wunsch in der Seele eines Mannes arbeitet, und wie er zum Fanatis¬
mus werden kann, der den Menschen aus Gefahren und Niederlagen immer
wieder erhebt, und der auch ein reizbares Nervenleben unempfindlich macht gegen
Unthaten und Ströme von Menschenblut. Sicher hatte sein eigenes Leben ihm
auch Gelegenheit gegeben, anderen begehrlichen und leidenschaftlichen Naturen
ins Herz zu sehn, er hat in den Wechselfällen früherer Jahre mehr als einen
Wagehals kennen gelernt, der dem Catilina so ähnlich war, als moderne
Laster den antiken sind, es fehlt wohl auch in seiner Nähe nicht a» Gestalten,
die mit dem Cicero, und nicht ganz an solchen, welche mit dem doctrinären
Cato Ähnlichkeit haben.
Wenn der Verfasser bei Schilderung seines Helden und der Gegner desselben
nach dieser Richtung Menschenkenntnis) erwies und einen festen Sinn, sein
Werk hätte doch viele Gegner gefunden und nicht die Schlechtesten seiner Zeit
hätten darunter gestanden, aber es wäre ein lehrreiches und vielleicht ein be¬
deutendes Buch für alle Zeiten geworden, und die Erdenstellung des Verfassers
hätte dem Werke einen Platz neben den Commentaren Cäsars und dem Fürsten
des Machiavell gesichert.
Aber sehr befremdlich ist, daß man von solcher Energie der leitenden Ideen.
Von Kunde des Menschenherzens, von einer Kritik über politische Thaten
und ihre Motive wenig in dem Buche findet. Fast überall, wo wir ein
eigenes, originelles Urtheil erwarten, rauscht mißtönend das welke Laub der
Phrasen, grade da ist das Seichte, Unklare und Banate in der Auffassung peinlich.
An einem Beispiel soll das gezeigt werden. Kein Moment der römischen
Geschichte ist dazu besser geeignet als die Verschwörung des Catilina. Wir
sind darüber genauer unterrichtet, als über die meisten andern Trauerscenen
der untergehenden Republik. Die Reden und Briefe des Cicero und die kleine
Monographie des Sallust nebst den ergänzenden Nachrichten späterer Schrift¬
steller gestatten uns einen Einblick auch in Einzelheiten und geben eine so ge¬
naue Schilderung des dramatischen Verlaufes, wie aus Begebenheiten der nächst-
vergangenen Jahrhunderte nur etwa gute Memoiren oder die Gesandtschaftsberichte
der Venetianer und Niederländer.
Die beiden Hauptschriftsteller waren Zeitgenossen, Cicero, selbst Lenker
des Kampfes und der thätigste Gegner des Catilina, Sallust, zwar damals noch
ein junger Mann, aber wahrscheinlich schon in den Straßen Roms heimisch
und wohl bekannt mit Antlitz und Geberde und dem Ruf römischer
Politiker.*)
Es ist wahr, Sallust schrieb als Parteigänger Cäsars, das vermögen wir
noch in manchen Stellen seiner Schrift zu erkennen, aber fast nur daraus, daß
er Einzelnes verschweigt, was er sehr gut wußte. Bei allem, was er sagt, zu¬
meist aber bei seinem Urtheil über Charaktere und Ereignisse, welche in der
Oeffentlichkeit oder im Senat vor sich gingen, ist er — von Gedächtnißfehlern
abgesehen — ein höchst zuverlässiger Gewährsmann. Nicht weil sein glänzendes
Talent durch einen Charakter geadelt war, der besondere Hochachtung beansprucht,
sondern weil er unter dem Zwange einer Macht schrieb, die auch einem Partei-
süchtigen und leidenschaftlich Hassenden, was er nicht war, fast unübcrsieig-
liche Grenzen feste, unter dem Zwange der öffentlichen Meinung einer
großen Stadt, der damals nicht zu widersprechen war, wenn der Schreiber
sich nicht völlig discrcditiren wollte. Denn es hat bis auf die neue Zeit kaum
eine andere Periode der Weltgeschichte gegeben, wo das Urtheil der Zeitgenossen
über die handelnden Politiker so sicher und gcmeingiltig war, als in dem
letzten Jahrhundert der römischen Republik. Noch unsere schreibselige Zeit
ist in ihrer Auffassung der lebenden Fürsten und ihrer Staatsmänner weit un¬
sicherer als die öffentliche Meinung des alten Roms vor der Kaiserzeit. Der
Sohn aus einem Hause der Nobilität wuchs heran unter den Augen einer
müßigen, schaulustigen, scharfblickender Stadtbevölkerung. Von dem Tage, wo er
die Kinderstube verließ, lebte er in der Oeffentlichkeit, vom Morgen bis zum
Abend begleitet durch sein Gefolge von Clienten und Schützlingen. Er hielt
seine Gerichtsreden vor dem Volke; wie er aussah, wie er sprach, wie er die
Hand in die Toga hüllte, wie er die Vorwürfe seiner Gegner ausnahm, wie
er sich bei kleinen Ereignissen der Straße benahm, beobachteten spähend tausend
Neugierige. Sobald er vollends in den Senat eintrat, wurde er ein Gegen¬
stand des Interesses für die gesammten Staatsmänner und Talente seiner Zeit,
seine Parteistellung, seine Haltung in einzelnen Fragen, seine Popularität, seine
Freunde, seine Liebhabereien, seine Abenteuer, das alles wurde Stoff der
Tagesunterhaltung auf dem Forum, in der Halle der Senatoren, in den zahl¬
reichen Salons der vornehmen Frauen, welche Politik fast ebenso leidenschaft¬
lich betrieben als ihre Licbesangelegenheiten. Bei einem so entwickelten öffent¬
lichen Leben, dem wir Modernen nirgend etwas Aehnliches zu vergleichen finden
bildete sich ein instinctiver Scharfblick für Beurtheilung der Menschen, der
das am meisten Charakteristische und uns am meisten Jmpvnirende in der
römischen Literatur jener Zeit . ist. Aus den zahllosen Anekdoten. Scandal-
gcschichten, Velläumdungcn und Witzreden blieb als Niederschlag in den Seelen
ein Portraitbild der Zeitgenossen zurück, allerdings ohne die hohen und
idealen Züge, deren kein Bild entbehren kann, wenn es völlig ähnlich sein soll,
aber ein Portraitbild von fast photographischer Genauigkeit. Und nicht nur
dies eigenthümliche Leben in der Oeffentlichkeit zog die Römer zu so guten Be¬
obachtern ihrer Zeitgenossen, auch die gesammte Bildung und die politischen
Schicksale des Staates steigerten die Unbefangenheit des Urtheils. Die Politiker
des damaligen Roms bildeten die herrschende Classe, die Familien derselben
waren durch Heirathen, Adoptionen und vor allem durch gemeinsame Interessen
mit einander verbunden; die Wege reich zu werden, das Volk zu gewinnen, die
Gegner zu stürzen, waren durch mehrhundertjährige Praxis für alle festgestellt
worden. Wie heftig die Parteien im Senat und auf dem Forum zusammen¬
stießen, in den Häusern blieb doch in der Regel ein geselliger Zusammenhang
oder das Gefühl der Zusammengehörigkeit. In Zeiten gewaltsamer politischer
Abrechnung ließ der Gegner die Gegner ohne Bedenken hinmetzein. aber die
Lebenden verkehrten mit einander in den Formen einer reichen und rücksichtsvollen
Geselligkeit. Die Parteien waren nach einander zur Herrschaft gekommen.
Marianer und Sullaner hatten geplündert und das Blut ihrer Feinde vergossen,
kaum eine regierende Familie, deren Mitglieder nicht Arges gethan und Arges
geduldet hatten. Die Verfolgungen und Metzeleien waren übergroß und scheu߬
lich geworden, seitdem nahm die politische Leidenschaft ab. Die gemeinsten Motive,
Habgier, persönliche Rachsucht standen im Vordergrund, man haßte die Gegen¬
partei, weil sie im Besitz der Gewalt war. die ihren Ncsub sicherte und weil
man selbst ihre Provinzen und Güter begehrte; das Wohl des Volkes, die
Größe der Republik, waren abgenutzte Phrasen, an welche nur noch Einzelne
glaubten. Die Familienbande waren gelockert, die Parteitreue selten, es konnte
rathsam sein, sich morgen mit dem Gegner von heut zu verbinden, oder
morgen seine Stimme zu geben, damit der Parteigenosse von heut auf eine
entlegeneJnsel verbannt werde.
Aber^um Me^rauschte der Strom eines üppigen, vergnügungssüchtigen
Lebens. Unter Festlichkeiten, öffentlichen Spielen und Trinkgelagen witzelte,
lachte und amüsirte man sich. Die bei demselben Gastmahl nebeneinander lagen
und einander über die Schulter Scherzredcn zuriefen und mit einander um die
Becherzahl würfelten, wußten, ^daß sie vielleicht einmal darauf denken würden,
einander die Kehle abzuschneiden oder dem Gastgeber sein Haus, sammt Misch¬
krug und goldenem Becherlein wegzunehmen. Der Gönner, durch welchen man
sich in die Höhe brachte, konnte in naher Zukunft ein gefährlicher Gegner sein,
es war zweifelhaft, ob man nach Jahr und Tag ihm beim Morgengrau in seinem
Atrium aufwarten oder auf der Straße bewaffnete Banden gegen ihn aussenden
würde. Bis dahin lachte man mit ihm über die Epigramme des jungen Catull
und rühmte die Feigenmast seiner Krammetsvögel und Gänselebern. Auch solche
Zeit der Unsicherheit, voll verwegener Pläne und raffinirten Genusses trägt
dazu bei, dem Urtheil über Andere eine kühle Objectivität und eine für unsere
Empfindung unheimliche Bonhommie zu geben, dem Urtheil über hervorragende
Personen etwas Festes, Typisches, wogegen wir uns nur in wenigen Fällen
zu wehren haben. Noch in der Kaiserzeit ist lange dieselbe virtuose Aus¬
bildung der öffentlichen Meinung auffallend. Noch lange blieb der Senat
und das Forum die große Schule für Menschenkenntniß und scharfe Beobachtung,
noch lange erfreut uns die Klarheit, Objectivität und Sicherheit in Würdigung
der Charaktere, und noch bei Tacitus empfindet man, daß die kurzen Striche,
mit denen er charakterisirt. die immer den Kern des Wesens in wenig Worten
erfassen, nicht von ihm allein gefunden, sondern durch die lebhafte Theilnahme
einer großen, geistigen Aristokratie festgestellt sind. Von da gehn freilich der
Geschichtschreibung diese Vorzüge verloren.
Unter allen Gestalten jener scharfsichtigen Periode ist keine einstimmiger
von den Zeitgenossen verurtheilt worden als Catilina. Volkspartei und Senats¬
partei geben genau dasselbe Bild; so groß war der Abscheu, daß die Sergier
noch unpopulär waren, als das Kaisergeschlecht der Julier und Claudier die
Missethaten der Republik durch die größeren Missethaten des Kaiserreiches fast
zu Tugenden erhoben hatte. Noch Plutarch, dessen wohlwollendes Herz und
milder Sinn zuweilen die Stumpfheit seiner Auffassung vergessen machen, nennt
den Catilina unter den drei gemeinschädlichsten Menschen^ welche er in der
ganzen Vergangenheit zu finden weiß.
Lucius Sergius Catilina stammte von einem der ältesten Herrengeschlechter
des römischen Bodens. Die Gens der Sergier gehörte, wie die Fabler, Aemi-
licr, Cornelier zu dem Kern der alten Lateiner. Nach ihr war in vorgeschicht¬
licher Zeit ein Gau der römischen Landschaft genannt und eine der besten
Olivenarten, welche die benachbarten Sabiner die Königsolive nannten, be¬
wahrte den Namen des Geschlechts seit den ersten Jahrhunderten, in welchen
die Feldherrn und Consuln des jungen Roms noch selbst ihre Keltern und Oel-
pressen beaufsichtigten. Unter den Patricierhäusern des blühenden Roms zählten
sie zu den Vornehmsten der Vornehmen; denn sie rühmten sich troischer Ab¬
kunft und daß ihr Ahnherr Sergestus als Gefährte des Aeneas im schwarzen
Meerschiff aus Ilium zum Tiberstrand gerudert war. Ein Haus dieses alten
Geschlechtes hatte im vierten Jahrhundert der Stadt die höchsten Staatsämter
bekleidet und wacker in den Vejenterkriegen gefochten, seine Söhne waren
Decemvirn, Consuln, Kriegstribunen gewesen und hatten den ehrenvollen Bei¬
namen: Sieger von Fidenä (?la<zriÄtss) geführt. Aber das war lange her,
das Geschlecht war allmälig heruntergekommen, lange Zeit war in den Ver¬
zeichnissen der höchsten Staatsbeamten kein Sergier verzeichnet worden. Endlich
hatte im zweiten punischen Kriege ein anderes Haus des Geschlechtes: „die
Stülpnassn" (Lili) einen Krieger gestellt, der unter den vielen Tapfern jener
harten Zeit einer der Tapfersten war. Marcus Sergius zog als armer Mann
in den Krieg, nur von einem Sklaven begleitet, er verlor in seiner zweiten
Campagne die rechte Hand, erhielt in zwei Feldzügen 23 Wunden, wurde zweimal
von Hannibal gefangen, zwanzig Monate mit Kette oder Strick an seinen
schwachen Füßen in feindlichem Verwahrsam gehalten, entfloh zweimal aus der Ge¬
fangenschaft. Kein Glied war noch kräftig, und doch diente er weiter, mit der
linken Hand kämpfte er noch in vier Schlachten, zweimal wurde ihm das Pferd
unter dem Leib erstochen, mit der eisernen Hand, die er sich machen ließ, be¬
freite er als Unterführer das belagerte Cremona, schützte Placentia, eroberte in
Gallien zwölfmal das Lager der Feinde. Als er nach dem Kriege zum Prätor
gewählt war und ihn seine College» als einen hinfälligen Mann beim Antritt
des Amtes von den heiligen Handlungen und dadurch von der Geschäftsführung
ausschließen wollten, berief er sich in einer Rede auf das Volk und zählte darin
beweglich seine Thaten und Leiden auf. Seine Nachkommen erreichten nicht seinen
Ruf, wieder kam seine Familie herab. Aber ein Sergier von anderer Art
beschäftigte zwei Generationen später die Feinschmecker Roms. Dieser führte
den Beinamen Goldfisch (Orata), weil er künstliche Fischzucht getrieben und
zuerst Austern gemästet hatte und durch den Verkauf derselben steinreich ge¬
worden war.*)
Lucius Catilina, der Urenkel jenes tapfern Marcus, besaß zwar noch ein
Haus in der aristokratischen Stadtgegend auf dem Palatin, aber seine Ver-
mögensverhältnisse waren tief zerrüttet, sein Leben durch eine gesetzlose Jugend
und alle Gräuel der Bürgerkriege besteckt. Er war einer der wildesten Blut.
Hunde des Sulla gewesen; unter den Mördern hatte er sich durch seine Raub¬
gier und scheußliche Grausamkeit hervorgethan. Er mordete seinen eigenen
Bruder, der gar nicht geächtet war, und ließ ihn durch Sulla nachträglich
ächten, er mordete den Gemahl seiner Schwester, den greisen Cäcilius, er
mordete die Ritter Titinius. Namüus, Tcmtasius. Volumnius, er ließ den
M. Marius Gratidianus, einen angesehenen und dem Volk werthen Mann,
auf das Grab des Catulus schleppen, welchen früher die Marianer ermordet
hatten, dort ließ er ihm die Augen ausstechen, die Ohren abschneiden, die
Glieder einzeln zerschmettern und abhauen, zur Sühne für die Manen des
Catulus. Das wußte die ganze Stadt, wahrscheinlich trug er seitdem den Bei¬
namen Catilina.*) Dann diente er im Heer und soll sich als tapferer Mann
gehalten haben. Er wurde Prätor und erhielt nach seinem Amtsjahr die Provinz
Afrika; noch war er nicht heimgekehrt, als schon eine Gesandtschaft aus der
Provinz beim Senat über seine Erpressungen klagte. Auch in dieser Zeit einer
immerhin größeren Gesetzlichkeit trieb er es arg. Er kam in Untersuchung wegen
Incest mit der Bestalln Fabia, aus ihm lastete der Verdacht, seinen eigenen
erwachsenen Sohn erdrosselt zu haben, um eine elegante aber liederliche Dame
zu heirathen. Wenn er durch die Straßen ging, mit blutlosen Antlitz, in dem
Angeben bösen Blick, mit ungleichem Schritt, bald hastig bald schleichend, las
das Volk in Miene und Geberde den Wahnsinn eines gottverdammter Ver¬
brechers. Trotz Raub und Erpressungen blieben seine Vnmögensverhältnisse
in wüster Unordnung. Man hielt dafür, daß ihm kein Verbrechen zu schwarz war,
wenn er darauf ausging seine Leidenschaften zu befriedigen, und daß es keine Aus¬
schweifung gab, der er nicht fröhnte. Aber derselbe Mann hatte einen eisernen, fast
unzerstörbaren Körper, « vermochte, wenn es Noth that, Anstrengungen und Ent¬
behrungen zu ertragen wie kein Anderer, sein Geist war verschlagen, waghalsig,
hinterhaltig, voll wilder Pläne, nach dem Höchsten begierig; wie er keine
Scrupel kannte, so kannte er auch keine Furcht, sein Trotz erhob sich nur um so
unbändiger, je mehr ihn die Gefahr umdrängte. Er war kein schlechter Redner,
im Umgange von einer sinnbethörenden Gewalt über Schwächere, zumal über
Jüngere, er wußte ihren Fehlern und Leidenschaften zu schmeicheln und unter¬
richtete sie mit dämonischer Kunst in den eleganten Lastern. Er schaffte ihnen
Mädchen, Jagdhunde und Rennpferde, leitete sie an ihr Geld zu vergeuden,
dann sich durch falsches Zeugniß und falsche Unterschrift Geld zu schaffen; er
lehrte sie gegebenes Wort, eigenes und fremdes Gut gering zu achten und die
Gefahr eines verdammenden Richterspruches zu verlachen, zuletzt ihren Gegnern
nachzustellen und sie geheim bei Seite zu schaffen. Wer von jungen Männern
in seine Gesellschaft kam, der galt in einer Zeit, wo der vornehmen Jugend
vieles Schlechte nachgesehn wurde, für unrettbar verloren. Ihn umgab ein
Schwarm von verarmten Mördern.. ,von Lüstlingen und hoffnungslosen Ver¬
brechern. Er that und lehrte das Böse wie aus Freude daran, um Abwechslung
in das träge Einerlei der Zeit zu bringen.
Bei alledem war er kein Politiker, kein kluger Mann. Wild und aus¬
schweifend war seine Phantasie, unstäte seine Gedanken, unbesonnen bei aller
Verstellung sein Thun. Er war unberechenbar und gefährlich als Verbündeter
und als Gegner. Vier Jahre conspirirte er und immer ward er im Anlauf
zurückgeworfen, jede Niederlage machte ihn toller und furiöser. Wie fascinirend
sein Wesen auf Unerfahrene wirkte, in der Heuchelei und Lüge, in Plänen und
immer neuen Anschlägen war kein anderes stetiges Ziel als die Befriedigung
seiner phantastischen Wallungen; nicht großer Ehrgeiz hob, ihn stachelte
die rohste Selbstsucht. Echt und dauerhaft war nur Eines in ihm, der trotzige
Muth und die Todesverachtung, das Erbe seines Ahnherren; aber es war mehr
der Muth eines Gladiators, als eines Feldherrn.
So etwa schildert die unheimliche Gestalt Sallust, und dasselbe Urtheil
klingt mit seltener Einstimmigkeit aus anderen Berichten der Zeitgenossen und
der folgenden Generation. Wenige Charaktere giebt es, deren Umrisse in der
Hauptsache so zweifellos sind, als die des bösen Mannes.
Wie aber erklärt der Biograph Cäsars das Wesen des Catilina? Es sei
erlaubt, seine Worte anzuführen.
„Zu jeglicher Gewaltthat bereit, träumte Catilina inmitten seiner Orgien
vom Sturz der Oligarchie, doch darf man zweifeln, daß er alles mit Feuer
und Schwert zu vertilgen beabsichtigte, wie Cicero behauptet und die meisten
Geschichtschreiber ihm nacherzählt haben. Von hoher Geburt, im Jahre 677
(das Jahr ist unsicher) Quästor, hatte er sich in Macedonien im Heere des
Curio ausgezeichnet (wir wissen nicht sicher, wo er diente); im Jahre 686 war
er Prätor gewesen und im folgenden Jahre Statthalter in Afüka. Man warf
ihm vor. er habe sich in seiner Jugend an den Morden des Sulla betheiligt,
mit den übelberüchtigtsten Leuten Gemeinschaft gehabt und sich der Blutschande
und anderer Verbrechen schuldig gemacht; man hätte keine Ursache, seine Schuld
zu bezweifeln, wüßte man nicht, wie verschwenderisch mit Verleumdungen sieg¬
reiche politische Parteien gegen die Besiegten sind. Auch muß man zugeben,
daß er die Laster, die man sich gefiel ihm aufzubürden, mit gar vielen Männern
jener Zeit gemein hatte, unter andern mit Antonius, dem Kollegen des Cicero,
den dieser selbst später vertheidigte (Cicero war sogar Sachwalter des Catilina
gewesen). Mit hoher Einsicht begabt und von seltener Thatkraft, sonnte Ca¬
tilina kaum auf etwas so Unsinniges wie Mord und Brand ausgehn. Das
hieße über Trümmer und Gräber herrschen wollen. Die Wahrheit wird besser
aus dem Bilde hervortreten, das Cicero sieben Jahre später, nach Catilinas
Tode entwarf, als der große Redner, zu einer ruhigeren Würdigung gelangt,
den, welchen er früher so entstellt hatte, mit weniger düstern Farben malte.
„Dieser Catilina. ihr habt ihn, denk ich, nicht vergessen können, besaß, wenn
nicht die Wirklichkeit, wenigstens den Schein der größten Vorzüge. Seine
Gesellschaft bestand aus einer Rotte verderbter Menschen; aber er that, als wenn
er den achtungswerthesten Menschen ergeben sei. Wenn die Ausschweifung
mächtigen Reiz für ihn hatte, so warf er sich doch mit nicht geringerem Eifer
auf die Arbeit und die Geschäfte. Das Feuer der Leidenschaften verzehrte sein
Herz, aber er fand auch Geschmack an den Anstrengungen des Krieges. Nein,
ich glaube nicht, daß jemals ein Mann gelebt, der einen so unnatürlichen Ver¬
ein von so verschiedenen, so entgegengesetzten und in fortwährendem Kampf
begriffenen Leidenschaften und Anlagen gezeigt habe."
Und später ergänzt der Biograph Cäsars- dies sanfte Urtheil durch folgende
Worte: „Daß Catilina, wie alle Anstifter von Revolutionen, sich mit Leuten ver¬
bunden habe, die nichts zu verlieren und alles zu gewinnen hatten, läßt sich
nicht bestreiten; aber wie kann man glauben, daß die Mehrzahl seiner Mit¬
schuldigen aus lasterhaften Verbrechern bestanden habe?" — „Daß Catilina ein
verderbter und grausamer Mensch von der Art des Marius und Sulla war.
ist glaublich, daß er durch Gewaltthat zur Herrschaft gelangen wollte, ist gewiß;
daß er aber für seine Sache so viele gewichtige Persönlichkeiten gewonnen, daß
er sie begeistert, daß er die Völker Italiens so tief aufgeregt hätte, ohne eine
große und hochherzige Idee zu verkündigen, das ist es, was man als unwahr¬
scheinlich bezeichnen muß."
„Er träumte eine revolutionäre Dictatur. den Untergang der oligarchischenPartei,
und, wie Dio Cassius sagt. (!) durchgreifende Veränderung der Staatsverfassung
und Aufstand der Bundesgenossen. Das Gelingen wäre dennoch ein Unglück
gewesen, ein dauerhaftes Gut kann niemals aus unreinen Händen hervorgehn."
Es wird schwer, ein unwilliges Erstaunen zu unterdrücken, wenn man diese
Worte liest. Hat sie ein kleiner Engel geschrieben, der in seinem weißen
Hemdchen noch in der Klippschule des Himmels sitzt und niemals auf unsere
sündige Erde herabgeblickt hat? Oder sind sie aus der Feder eines wackern
deutschen Kleinstädters geflossen, der mit vertrauensvollen Herzen die Gemüth¬
lichkeit seiner Trinkgevattern auf die alten Römer überträgt, und den Cicero
mit seinem wohlbeleibten Bürgermeister vergleicht, den Catilina aber mit dem
unzufriedenen Führer der Stadtverordneten? Zuverlässig dachte Catilina nicht
daran, „alles mit Feuer und Schwert zu vertilgen", zuverlässig wünschte er,
daß für ihn und seine Gesellen noch ein gutes Theil des Bestehenden übrig
bleibe, wer herrschen will, will nicht Fürstin einer menschenleeren Einöde sein.
Wenn er genöthigt war, einige Quartiere des alten winkligen Roms anzustecken,
so hegte er doch sicher den Plan, sie dereinst weit schöner wieder aufzu¬
bauen, auch dabei konnten seine Anhänger große Summen verdienen, und er
selbst konnte auf die neuen Tempel und Hallen seinen Namen einmeißeln. Aber
der Verfasser hält auch für zweifelhaft, daß sich Catilina in seiner Jugend an
den Morden des Sulla betheiligt und mit übelberüchtigten Leuten Gemeinschaft
gehabt, denn man weiß ja, wie übermäßig'die Sieger den Besiegten verläumden-
Diese Art Zweifel macht dem Herzen des Verfassers alle Ehre, aber wer
historische Zeugnisse so behandelt, der ist zu bedenklich, um überhaupt Geschichte
zu schreiben. Denn die Nachricht, daß Catilina das Schlechte gethan hat, ist
genau ebenso sicher als der Bericht, daß er überhaupt gelebt hat. Wenn der
Verfasser die Hälfte bezweifelt, warum nicht das Ganze? Dann ist auch unsicher, daß
Catilina überhaupt gelebt hat. Freilich behauptet der Verfasser im nächsten Satz
wieder, daß Catilina die Laster, die man sich gefiel ihm „aufzubürden", zwar besaß,
daß aber viele andere auch nicht besser waren. Das ist möglich. Wir haben
Von den Clodius, Curio, Milo und andern Anhängern des Cäsar und Pompejus
eine sehr schlechte Meinung, sie gehörten zu dem großen Haufen der Verdorbener,
und Ruchlosen, und wenn Catilina sich begnügt hätte, wie sie zu rauben, Ein¬
zelnen bei Nacht aufzulauern und durch seine Fechterbanden die Kreuzwege und
die Straßenecken unsicher zu machen, so würde der Geschichtschreiber keine große
Ursache haben, ihn vor seines Gleichen auszuzeichnen und Catilina würde,
da doch auch unter diesem vornehmen Gesindel eine gewisse Stufenreihe der
Verworfenheit erkennbar ist, sich mit dem bescheidenen Ruhme begnügen müssen,
unter schlechten Buben einer der schlechtesten zu sein. Was ihn auszeichnete,
ist grübe die Frechheit, welche gegen etwas zu freveln wagte, das höher steht,
als das Leben jedes einzelnen Bürgers, gegen den Staat selbst. Er war nicht
blos ein gemeiner Kehlabschneider, sondern ein Schurke von höherer Potenz.
„Das ist unmöglich," sagt der Verfasser, „wie konnte er für seine Sache so
Viele Persönlichkeiten gewinnen und begeistern, ohne eine große und hochherzige
Idee zu verkünden." Bescheiden wagen wir die Antwort, daß in der Welt¬
geschichte solche Männer nicht unerhört sind, welche große und hochherzige
Ideen verkünden, ohne selbst daran zu glauben. Es ist, wie uns dünkt, mehr
als einmal geschehn, daß hartgesottener Egoismus populäre Zeitideen im
Munde geführt, dadurch die Menge getäuscht und aus einige Zeit Erfolge
erreicht hat. Auch der Jdeenärmste findet Phrasen, und keine Idee ist ruchloser
gemißbraucht worden als die große Idee der Demokratie. Kein Zweifel, daß
auch Catilina für die waghalsige Jugend, für die Veteranen und Provin-
zialen lockende Stichwörter hatte, welche einfache und vertrauungslustige Leute
täuschen konnten. Der unerträgliche Hochmuth der regierenden Kaste sollte ge¬
brochen werden, große Getreidespenden und Aecker sollten unter die Armen
vertheilt werden. Veteranen des Marius zeigte er, den silbernen Legionsadler
des alten Feldherrn, —er, der die Anhänger ihres Feldherrn getödtet und beraubt
hatte. — den Leuten in der Provinz versprach er die drückende Herrschaft der
Stadt Rom zu brechen. Wann hätte es je an solchen Ideen gefehlt! Aber
nichts in seinem Leben berechtigt uns zu der Ansicht, daß er wirklich ein Politiker
war, dem das Herz von einem großen politischen Gedanken gehoben wurde,
der überzeugt war, daß sein Erfolg ein Glück für den Staat und für das
Gedeihen desselben nothwendig sei. Die Erfolge seines Privatlebens hatte er
im rohen Kampf gegen das bürgerliche Gesetz gesucht, in seinem politischen
Leben war er ein Mörder unter den Adlern Sullas, dann Renegat und ein
Verschwörer vor dem Adler des Marius, dessen Freunde er umgebracht, dessen
Vetter er verstümmelt und geschlachtet hatte. Einem solchen Individuum zu¬
trauen, daß es für eine große Idee lebe, ist allzu gutherzig. Auch das rück¬
sichtsvoll temperirte Urtheil, welches Cicero in späteren Jahren über Catilina
fallen läßt, hätte der Verfasser nicht für sich anführen sollen. In der That be¬
stätigen diese Phrasen Ciceros nur, was wir auch sonst wissen, und selbst wenn
sie etwas Anderes aussagten, Cicero war in der Politik weder consequent noch
beherzt, er litt damals (698) schwer unter der UnPopularität, welche ihm die
ungesetzliche Hinrichtung der Verschworenen zugezogen hatte, ihm war damals
Angst vor Pompejus und Angst vor Cäsar und dessen Stadtanhängern, unter
denen mancher alte Spießgeselle des Catilina sich gegen ihn rührte, das erklärt
zur Genüge seine geschraubten Sätze. Wenn der Verfasser gar noch eine Be¬
stätigung seiner Ansicht darin findet, daß auch Napoleon der Erste den Catilina
nicht für ganz schlecht gehalten habe, so möchten wir nur ungern gegen ein
solches Familiengefühl polemisiren, aber verhehlt soll doch nicht werden, daß die
Urtheile Napoleons des Ersten über Cäsar und seine Zeit zuweilen scharfsinnig
und geistvoll, häufig schief, immer flüchtig sind, wenig geeignet als Autorität
angeführt zu werden.
Jedoch das Urtheil des Verfassers über Catilina ist es nicht, was in
seiner Schilderung der Verschwörung am meisten befremdet. Noch unsicherer
ist, was er über Cäsars Stellung in jener Katastrophe sagt.
Der Verlauf der Verschwörung und ihrer Entdeckung darf hier als bekannt
vorausgesetzt werden. In Wahrheit bestanden damals in Rom, wie häusig in
ähnlichen Fällen, zwei Verschwörungen der Opposition ineinander. Eine große,
welche durch die Führer der Volkspartei — damals Cäsar und Crassus —
geleitet wurde, die zweite kleinere das Complot des Catilinci. Beide gingen
auf gewaltsamen Sturz der Senatsmajorität aus, beide standen in Verbindung,
in beiden hatten die Leiter ihre besonderen Zwecke. Daß Cäsar und Crassus
dem Complot des Catilina nicht fremd waren und vertrauten, wie die unsaubere
Arbeit der wilden Gesellen ihnen den Weg zum Siege bahnen könne, ist für
uns außer allem Zweifel. Niemand hat in neuester Zeit die Jndicien für die
Schuld Cäsars stärker hervorgehoben als Theodor Mommsen, und wir können
unsere Jury, die deutschen Leser, auf seine Geschichte verweisen. Die Beweise
sind unwiderleglich.
Auch die Führer der Volkspartei waren Verschwörer. Sie wollten auf
gesetzlichem Wege, durch die Gesetzvorschläge ihrer Tribunen, durch die Amts¬
gewalt befreundeter Consuln in den Besitz eines Heeres kommen. Mit diesem
Heer wollten sie den offenen Kampf um die Herrschaft beginnen. Nicht gegen
den Senat, sondern gegen eine dritte Macht, welche weit östlich in Asien die
eigentliche Gewalt über den Staat besaß, gegen den siegreichen Feldherrn Pom-
pejus und seine Legionen. Er, die Senatsmajorität und die Demokraten bil¬
deten drei Parteien, von denen jede die andere mißtrauisch belauerte und die
Stunde zum offenen Kampf erwartete.
Die Senatsmajorität, welcher der Konsul Cicero dienstbar geworden war,
stand in diesem Streit am schlechtesten; denn sie war auf die Defensive be¬
schränkt. Nur die Autorität besaß noch der Senat, auch diese sehr verkümmert, die
wirkliche Gewalt über den römischen Staat besaß thatsächlich der Feldherr, welchem
ein großes Heer zu Gebote stand. Jetzt war Pompejus dieser Glückliche, der
erwartete König von Rom, in kurzem konnte es ein anderer sein; Cäsar und
Crassus wagten das Aeußerste, sich in dieselbe bevorzugte Stellung zu versetzen.
Seit drei Jahren hatten sie vergebens intriguirt und mit Gewalt gedroht,
um die Gegner einzuschüchtern, sie hatten weder Consuln ihrer Partei, noch
die Ackergesetze, welche ihnen das Recht zur Aushebung geben sollten, durchge¬
setzt. Jetzt stand die Beendigung der asiatischen Kriege und die Rückkehr des
Pompejus bevor, sie waren ungeduldig und fürchteten alles. Da strengten sie
unter dem Consul Cicero die äußersten Mittel an um für Cat iun a das Consulat
des nächsten Jahres zu sichern. Vergebens, der unpopuläre Mann erhielt nicht
die Mehrzahl der Stimmen.^ Da faßte er den Plan loszubrechen, den Consul
Cicero zu ermorden, den Senat zu sprengen. Daß Cäsar und Crassus davon
unterrichtet waren, ist sicher, wie weit sie den Mörder und Brandstifter wollten
gewähren lassen, wissen wir nicht. — Aber wenn auch der Senat mit seinen
Consuln und den andern curulischen Aemtern thatsächlich nicht mehr im unde-
strikteren Besitz der Herrschaft war, für Behandlung politischer Intriguen war
die Senatspartei doch gut geschult und die Führer — die Consulare — wußten,
ohne große Talente zu sein, doch gefährliche Situationen mit Takt und Routine
anzufassen. Sie empfanden vor der ausbrechenden Verschwörung ihre Schwäche und
die Meisten fühlten Furcht um Leben und Gut, sie thaten also, was in ihrer
Lage das Klügste war, sie beschlossen sofort die Verschwörung des Catilina von
den Intriguen der Volkspartei zu isoliren. Des Catilina und seiner Bande
mochten sie Meister werden, eine Verfolgung des Cäsar, des Crassus und der
gesammten Volkspartei bedrohte sie mit einer Gefahr, der sie sich nicht mehr
gewachsen fühlten. Die Einsichtsvolleren durften sogar einen blutigen Sieg über
die Volkspartei nicht wünschen, denn der Senat hätte nicht für sich, nur
für den Pompejus, den auch er fürchtete, gesiegt, er hätte diesem den erwünschtesten
und populärsten Vorwand gegeben, seine Legionen nach Rom zu führen und gegen
den Tempel des Senats aufzustellen, der Senat selbst hätte das neue König¬
thum in Rom eingeführt. Daß diese sehr berechtigte Rücksicht das Thun des
Senates leitete, ist nicht zu verkennen. Es war zuverlässig nicht Cicero allein,
der mit Advocatengewandtheit vermied, diejenigen zu Angeklagten zu machen, welche
ihm den Erfolg seiner Proceßsache verderben konnten, es war offenbar eine
Verabredung. Möglich sogar, daß uns unbekannte Privatverhandlungen mit
Cäsar und Crassus und den Tribunen der Volkspcirtei vorausgegangen sind,
nach denen die Demokraten den Catilina preiszugeben genöthigt waren. Wir
haben keinen Grund, der durch Plutarch erhaltenen Nachricht aus einer verlorenen
Rede Ciceros zu mißtrauen, daß Crassus dem Cicero einst bei Nacht eine Warnung
vor den Anschlägen zugehn ließ. Und fast lächerlich war jene Scene in der
Senatssitzung des leidenschaftlichen 4. December, als ein eingefangener Zeuge
den Crassus unter den Verschworenen nannte. Sogleich erhob sich im Senat
ein lautes Geschrei, welches die Namen, welche etwa noch zurück waren, abschnitt.
„Der Zeuge müsse abgeführt werden, er verkannte angesehene Männer." Daß L.Tar-
quinius kein falscher Zeuge war, den Cicero gedungen hatte, wie Crassus später
Murrte, ist klar; nicht weil Cicero zu redlich, sondern weil er doch viel zu klug
für solch elenden Kunstgriff war und nebenbei viel zu ängstlich bemüht, sich
vor übler Nachrede zu schützen. Hatte er doch sogar verweigert, privatim die
Briefe der Verschwörer, welche man den Allobrogen abgenommen, zu eröffnen,
er ließ dieselben, um jeden Verdacht einer Fälschung zu entfernen, mit ihren
Siegeln dem Senat vorlegen.
Catilina hatte die Stadt verlassen, er hatte sich die Beile der Konsuln
und die Victoren angemaßt und organisirte zwei Legionen, denen Verzweifelte
und Beutelustige zuströmten. Aber am Morgen des dritten December 691
wagte der Konsul Cicero seinen großen-Staatsstreich, er verhaftete zu Rom
die Häupter der Verschwörung. Sie wurden sogleich im Senat verhört
und am Ende der Sitzung einzelnen Senatsmitgliedern zu freiem Ge¬
wahrsam übergeben. Sowohl Cäsar als Crassus erhielten einen dieser Ge¬
fangenen zur Bewachung. Dieser Act des Vertrauens war zugleich eine
herbe Demüthigung und eine gelegte Falle. Wenn sie die Verhafteten dem
Senate bewahrten, verfeindeten sie sich mit der übrigen Rotte der Verschwörer,
wenn sie die Gefangenen entrinnen ließen, gaben sie ein Zeugniß gegen sich.
Auch mochte der Consul Cicero in der Stille überzeugt sein, daß die beiden
Häuser der Demokraten zugleich der sicherste Aufbewahrungsort waren, denn
er fürchtete auch verzweifelte Wagnisse ihrer Genossen. Dies kleine Ereigniß
war wohl die schlaueste politische Maßregel Ciceros und der Senatspartei.
Es war ein Meisterstreich, ebenso boshaft als klug, man erwies den Gegnern
das höchste Vertrauen, indem man sie am tiefsten demüthigte, und man setzte
sie in eine Lage, aus welcher sie ohne Einbuße kaum herauskommen konnten.
Es ist charakteristisch, wie Cäsar und Crassus sich aus der gefährlichen
Stellung, in welche sie durch den Sieg des Senates versetzt waren, heraus¬
halfen. Crassus kam gar nicht in die Senatssitzung, worin den Verschworenen
das Urtheil gesprochen wurde, Cäsar aber erschien und trat der Majorität mit
einer heitern Größe gegenüber, der nur die Ehrlichkeit fehlte.
Der Volkspartei wurde möglich und nöthig gemacht, den Catilina und
seine Gesellen aufzugeben, dessen Complot entdeckt und dem Zorn der Stadt
anheimgefallen war. Aber die ängstliche Sorgfalt, welche Cicero und die
Diplomaten des Senates anwendeten, den Namen Cäsars von der Anklage
freizuhalten, genügte doch nicht, zu verbergen, daß Cäsar seit Jahren mit
Catilina !im engen politischen EinVerständniß war, trotz den mehrjährigen
Mordplänen desselben, und daß er noch vor wenigen Wochen die Versuche be¬
waffneter Banden begünstigt hatte, welche dem Verbrecher das Konsulat schaffen
sollten. Die ehrlichen Eiferer wie Cato und die jungen Männer aus den
Kreisen der Kapitalisten, in diesen Wochen Ciceros Leibgarde, sprachen und
handelten nicht so vorsichtig wie ihr Consul; im Senat wurde dem Cäsar seine
Mitschuld vorgeworfen; als er aus der Sitzung trat, war sein Leben in Ge¬
fahr, und Cicero mußte ihn schützen. Cäsar selbst aber suchte in den Tagen
der Entscheidung sich aus dieser schwärzesten Periode seines politischen Lebens
in charakteristischer Weise herauszuheben.
Der Verfasser der Lebensgeschichte irrt allerdings gröblich, wenn er die
Rede Cäsars, welche Sallust mittheilt, für die wirklich gehaltene Rede Cäsars
hält. Sie ist ein stilistisches Kunstwerk Sallusts wie hundert ähnliche Reden
der griechischen und römischen Historiker. Wir müssen diesen Zusatz freier Er¬
findung bei allen Geschichtswerken des Alterthums in Kauf nehmen. Allerdings
ist die historische Bedeutung dieser Stilübungen nicht bei jedem Geschichtschreiber die¬
selbe. Viele Reden des Livius haben genau den historischen Werth, welchen etwa
die Reden Heinrich des Vierten und Richard des Dritten in Shakespeares Tra¬
gödien beanspruchen, manche Rede in Thucydides ist wahrscheinlich ebenso zuver
lässig, als der Zeitungsbericht, den ein guter Reporter über eine berühmte
Kammerrede niederschreibe. Es ist möglich, daß Sallust seine Darstellung nach
einer älteren Aufzeichnung gemacht hat, welche die Rede selbst oder doch ihren
Inhalt fixirte. Es ist möglich, aber wir wissen es nicht, und es ist uner¬
laubt, seine Worte als von Cäsar gesprochen anzuführen.
Die Betrachtungen, welche der Verfasser an die Rede und das Verhalten
Cäsars knüpft, sind lehrreich, obgleich in anderer Weise, als der Ver¬
fasser beabsichtigt. So aber spricht Napoleon der Dritte über Cäsar:
„Man kann sich leicht davon überzeugen, daß Cäsar kein Verschwörer war;
diese Anklage findet vielmehr in der Kleinmüthigkeit der Einen und dem Groll
der Andern ihre Erklärung. Denn wer weiß es nicht, daß schwache Regierungen
in Augenblicken der Entscheidung jede Theilnahme für die Angeklagten als
Mitschuld ansehen und ihre Gegner mit Verläumdungen nicht schonen? Q. Catulus
und C. Piso waren von einem so glühenden Haß gegen ihn beseelt, daß sie
den Konsul bestürmt hatten, auch ihn in die gegen die Mitschuldigen Catilinas
gerichteten Verfolgungen hineinzuziehen. Cicero hatte widerstanden. Aber das
Gerüchtseiner Betheiligung am Complot hatte sich darum nicht weniger verbreitet und
war von der Menge der Misvergnügten mit Beflissenheit aufgenommen worden.
Cäsar gehörte nicht zu den Verschworenen; denn sonst hätte sein Einfluß ge¬
nügt, ihre Freisprechung mit Triumph zu erwirken. Er hatte ein zu hohes
Selbstgefühl und genoß zu große Achtung, um auf verstecktem Wege und mit
verwerflichen Mitteln zur Gewalt gelangen zu wollen. So ehrgeizig ein Man»
auch sei. er wird kein Verschwörer, wenn er sein Ziel mit gesetzlichen Mitteln
erreichen kann. Cäsar war des Consulates sehr sicher, und niemals verrieth
Ungeduld seinen Ehrgeiz. Ueberdies hatte er beständig einen ausgesprochenen
Widerwillen gegen den Bürgerkrieg an den Tag gelegt; und wie würde er sich
in eine gemeine Verschwörung mit verrufenen Leuten eingelassen haben, er, der
es zurückwies, mit Lepidus. der damals an der Spitze eines Herres stand, ge¬
meinschaftliche Sache zu machen?-Hätte Cicero den Cäsar für schuldig gehalten,
würde er gezögert haben ihn anzuklagen, während er sich nicht gescheut hatte,
eine so gewichtige Persönlichkeit wie Licinius Crassus mit Hilfe eines falschen
Zeugen zu verdächtigen? Wie hätte er wohl am Tage vor der Verurtheilung
dem Cäsar die Bewachung eines der Verschworenen anvertraut? Würde er ihn
später gerechtfertigt haben, als die Beschuldigung erneuert ward? Wenn endlich,
wie wir später von Plutarch hören werden. Cäsar lieber der Erste in einem
Dorfe der Alpen, als der zweite in Rom sein wollte, wie hätte er sich dazu
verstanden, der zweite neben Catilina zu sein?"
Was soll man zu solcher seichten und phrasenhaften Aburtheilung sagen?
Wer uns den Gaius Julius schildern wollte, den milden Mann mit demant¬
hartem Sinn, den erlauchten Demokraten, der als Verschwörer anfing und als
Reformator endete, der höchst populär war, als er ruchlos gegen die Staats¬
ordnung intriguirte, und höchst unpopulär, als er den zerrütteten Staat zu
neuem Leben umschuf, wer eine so schwer verständliche Gestalt aus fremdem
Volksthum uns Modernen deutlich zu machen wagte, der müßte doch vor allem
den Menschen Cäsar so schildern, wie er im Verlauf seines Lebens allmälig
wurde. Er würde ohne Zweifel die schwere Aufgabe so beginnen, daß er zuerst
einzelne deutliche Züge seines Charakters als Grundlinien des Bildes feststellte
und entweder bescheiden fremder Einsicht überließe, die unfertigen Umrisse zu
vervollständigen, oder aus der Summe der Anschauungen und Vorstellungen, die
ihm das eigene Leben gewährt, die ergänzenden Striche schöpferisch dazufügte,
Cäsar brachte die Tugenden und den hohen Sinn eines Fürsten in seine
politische Laufbahn. Er war ein vornehmer Mann, ein klarer und sicher auf
sich selbst ruhender Geist, ein treuerund hingebender Freund, heiter, mittheilend,
nachsichtig gegen fremde Fehler, freudig zu geben, ein mildes Gemüth, dem
gutes Einvernehmen mit Allen, die ihm persönlich nahe traten. Bedürfniß war.
Er war weich und gefühlvoll, wo er liebte, dankbar für jedes Zeichen der
Hingabe und persönlichen Zuneigung. Familienbande, gute Kameradschaft und
menschliches Wohlwollen bestimmten sein Handeln zuweilen mehr, als für seine
Erfolge und seinen Ruf vortheilhaft war. War ihm jemand lieb, dem verzieh
er auch Unverzeihliches, fühlte er sich verpflichtet, so opferte er mehr von seinem
Vortheil, als ein Politiker opfern darf.
Aber derselbe Mann trat in die Politik zu einer Zeit, wo der Staat be¬
reits eine Beute wilder und grausamer Heerführer geworden war. wo die ma߬
loseste Selbstsucht der Regierenden das Amt als Handhabe gebrauchte, die
schlechtesten Leidenschaften zu befriedigen, wo auch die Gesetzgebung nur als
Waffe benutzt wurde, die Gegner zu verderben, selbst zur Herrschaft durchzu-
dringen. Der junge Cäsar intriguirte, bestach und verschwor sich, wie die
Andern, er ergriff eine Partei und schmeichelte dem Volk, wie die Andern, um
sich herauszuheben, seine Feinde zu verderben. Ja er unterschied sich von den
Andern in dieser Zeit für unser Urtheil nur dadurch, daß er verschwenderischer
Geld ausstreute, feiner und vornehmer seine selbstsüchtigen Pläne verfolgte und
niedriger und kleiner Leidenschaft keine Herrschaft über sich einräumte. Wenn
er durch unerhörten Glanz seiner Spiele und durch die massenhaften Bestechungen,
welche er an Seite Waghälse aufwendete, seine Vermögensverhältnisse völlig
ruinirte, so wußte auch er, daß er durch Raub und Erpressung in den Provinzen
sich den Schaden wieder ersetzen konnte. Und er hat seinerzeit aus Spanien
und Gallien reichlich genommen, was er brauchte. Er war ein waghalsiger
Spieler um die Macht, seine Einsätze größer, sein Anstand unvergleichlich besser,
Scharfsinn und Klugheit unvergleichlich größer, aber er war doch im Grunde
nur ein verwegener Spieler und ein vornehmer Abenteurer. Doch merkwürdig,
mit den Erfolgen adelten sich seine Ideen über den Staat, reinigte sich seine
Methode zu kämpfen, verstärkte sich ihm das Gefühl seiner Verpflichtung für
das Ganze. Der Keim zu einem großen Mann, den ihm eine gnadenvolle
Gottheit in die Seele gelegt, trieb reichlich Blatt und Blüthe. Auch ihm
wurden, wie jedem emporwachsenden Eroberer, die einzelnen Menschen weniger
werth, der Staat aber etwasHöheres. Er hatte zuerst sich und seine Anhänger groß
machen wollen; als er zur Größe gekommen war, wurde die Größe des Staates
sein Ehrgeiz, an die Stelle seiner Anhänger trat das ganze römische Volk.
Die Parteiideen seiner Jugend wandelten sich allmälig. Es ist uns in
einigen Fällen möglich, diese Wandlungen zu verfolgen, welche aus revolutio¬
nären Plänen große Reformen machten. Er wurde der Restaurator Roms, der
Wohlthäter des ganzen Orbis terrs-rum.
Dies ist die Wandlung seines Lebens. Wie sich im Einzelnen aus seiner
Art zu sein diese innere Erhebung vollzog, das zu zeigen wäre die Aufgabe
eines guten Biographen.
Auch wie ihn die Nemesis traf. selbstwillig, auf ungebahnten Pfade,
durch Zerstörung des Abgelebten hatte er das Römervolk und mit ihm die
Civilisation des Alterthums gerettet, doch dem Menschengeschlecht ist der Dank
bis heut sehr schwer geworden. Der Weg, auf dem er emporstieg, um seine höchste
geschichtliche Berechtigung zu erweisen, war blutig und bezeichnet durch schwere
Thaten. Solcher Gestalt sich herzlich zuneigen, wie glänzend sie aus dunkler
Umgebung strahle, wird auch späten Jahrhunderten nicht leicht. Wir vermögen
wohl zu erweisen, wie einzig, erhaben und gewaltig sein Dasein war und
wie segensreich und nothwendig für Alle. Aber wir müssen es immer wieder
uns und Andern erweisen, unsere weiche Empfindung sträubt sich, seine Größe
bleibt uns fremdartig, und bei dem Strahle, der aus seinem Geiste bis zu
unserer Zeit herabfällt, friert uns das Herz.
Hätte der Verfasser verstanden, auf solcher Grundlage die schwer verständ¬
liche Natur Cäsars in ihrer allmäligen Erhebung zu zeigen, er würde dem
Leser doch etwas von der Bewunderung mitgetheilt haben, welche er selbst seinem
Heroen so reichlich zutheilt. Dazu aber war sein eigenes Verständniß des großen
Mannes nicht sicher genug.
Denn zuletzt, um alles zu sagen, nicht seine Auffassung Cäsars, nicht
irgendeine andere Einzelheit des Werkes setzt so sehr in Erstaunen, als das
Unbedeutende seines Urtheils. Also so ist der Gebieter der Franzosen! Nun,
wäre er auf dem Throne geboren, wie andere Herren, auch dies Buch wäre
immer noch alles Mögliche. Aber er hat uns Menschen vom Mittelschlag
so oft in Versuchung gesetzt, ihn mit demselben Maßstabe zu messen, womit
wir unsere Freunde und Gegner messen, ihm wird dies Buch schädlich, es ver¬
ändert unsere Ansicht von ihm selbst. Hat er an seine Ideen geglaubt, er ist
nicht mehr gläubig; hat er klugen Geist in praktischen Dingen bewährt, den
Geist, der geschichtliches Thun begreift, vermissen wir in ihm; er will auf uns
wirken und uns. täuschen, er möchte uns mit Redensarten fangen. er ist nicht
ehrlich gegen uns. oder er birgt im letzten Grunde seiner Seele selbst nichts
Anderes mehr als Phrasen. Wir sind stets Gegner seines Cäsarismus ge¬
wesen, und wir könnten zufrieden sein, daß er etwas gethan, was ihn so sehr
ohne Drapirung und in der Blöße zeigt. Er war ein Gegner, zuweilen ein
gefährlicher Feind der „Ideen", für welche wir leben; was er sich hier bereitet,
ist eine Niederlage, so tief, so völlig, wie wir nie für möglich gehalten hätten;
es ist zunächst nur eine geheime Niederlage, vor wenigen Menschen, zunächst
eigentlich nur vor uns ehrlichen Deutschen, deren Meinung die Weltgeschichte
nur sehr allmälig beeinflußt. Er ist unser Gegner, und es ist eine Niederlage,
und wir hätten keinen Grund zur Trauer.
Aber wir sind nicht Römer und nicht Romanen. Wir vermögen schwer¬
lich, wie Cäsar, die Seeräuber an das Kreuz zu schlagen, mit denen wir längere
Zeit gesellig verkehrt und auf die wir etwas von unserem eigenen Gemüth ver¬
wendet haben. Und wenn wir uns mit einem Zeitgenossen Jahre lang eifrig
beschäftigt haben, zornig, verwundert, nicht ohne Achtung, so thut uns leid,
wenn er uns veranlaßt, die Achseln zu zucken. Denn hier hätten wir ihm
lieber Erfolg gegönnt als auf anderem Gebiet.
Und deshalb, wenn man das Buch aus der Hand legt, ist das Herz nicht
leicht, man ist unzufrieden mit sich, daß man mehr erwartet, und mit dem Ver¬
sasser. als hätte er ein menschliches Vertrauen getäuscht, und es tönt leise aus
Nahe bei dem Pueblo la Cruz, südlich von Ocana, der ehemaligen Haupt-
stadt des Staates Santander in den vereinigten Staaten von Nueva-Granada.
entspringen unter dem 7°10' n. Br. auf der granadinischen Andeskette, die sich
in dem Gebirgssnoten bei Pamplona nach Norden abzweigt, die Quellen des
Rio Catatumbo. Wenn auch das Gebiet dieses Flusses einen geringeren Um¬
fang hat. als das des benachbarten Rio Magdalena, dessen waldumrahmter
Strom von der Küste des karaibischen Meeres bis fast an die Thore Bogotas —
der ruhmgekrönten Hauptstadt der einstigen, von zweien Weltmeeren umspülten
Republik Colombia, dieser genialen Schöpfung Simon Bolivars. des Be¬
freiers — von Dampfschiffen und Ruderfahrzeugen befahren wird, so wälzt doch
auch der Catatumbo eine ansehnliche Menge Wassers in den flußrcichen See
von Maracaibo und beginnt mindestens in der Hälfte seiner Länge schiff¬
bar zu werden.
Daher war schon vor langer Zeit die Aufmerksamkeit des intelligenten
Theiles der Bevölkerung von Ocana und seiner Umgebung auf den Catatumbo
gerichtet, der dem Handel und Ackerbau des Ortes als neuer Abzugskanal seiner
Producte nach dem Seehafen Maracaibo einen bedeutenden Aufschwung geben
mußte, da bis dahin nur der Markt von Santa Marta und Baranquilla, an
der Ausmündung des Rio Magdalena. die Ausfuhr vermittelte und die Preise
willkürlich bestimmte. Das weite Gebiet östlich von Ocana, zwischen der
Andeskette und der Lagune von Maracaibo, war als eine uudurchbrocheue Wild-
niß von Wäldern, Savannen, Bergen und Strömen von jedem Verkehr ausge¬
schlossen und nur bewohnt von den unbelästigten Bestien des Waldes und wilden
Indianern. Maracaibo. in gerader Linie etwa 45 Meilen entfernt, war nur
zugänglich auf dem einen Wege, der bis San Jose de Cucuta zwischen höhlen¬
artigen Felswandungen und nach Uebersteigung des Paramo^) von Bucarasica
einige zwanzig Meilen nach Süden zurückführte, sodann auf dem Zulia, dem
Ueberflusse des Catatumbo, sich etwa wieder 60 Meilen nach Norden wandte,
eine Reise, deren Langwierigkeit und Beschwerden jeden Privatmann zurück¬
schreckten und den Güterverkehr unmöglich machten, weil die Transportkosten
den Werth der Waaren selbst um vieles überstiegen.
Verhandlungen zwischen dem reichen Maracaibo und dem ärmeren Ocana
waren wiederholentlich angeknüpft worden, um eine möglichst directe Verbindung
zwischen beiden Städten und Staaten herzustellen. Jedoch die Verhandlungen,
wie der Beginn der Arbeiten geriethen wiederholt ins Stocken, weil Maracaibo
nur mit Mißtrauen und Widerstreben seine Gelder für eine ungewisse Speculation
flüssig machte, da es das Gebiet von Ocana zu wenig kannte und seiner realen
Productionskraft nach zu gering schätzte.
So waren Jahre vergangen, die ersten Waldlichtungen wieder überwaltet,
die abgesteckten Linien längst vergessen. Ocana blieb dem Markte von Se. Maria
unterworfen, und Maracaibo kümmerte sich nicht weiter um die reichen Zucker-
sicdereien und Jaffeefelder Ocanas. — Im Jahre 1839. als nach kurzer Ruhe
die Flammen des Bürgerkrieges in der Federacion Granadina wieder aufloderten,
und von den Bundesstaaten die einen nach eigner Souveränität, die andern
nach Centralisation der ganzen Republik trachteten, wurde inmitten des politischen
Elendes das alte Project mit erneuertem Eifer wieder aufgenommen; sehr er¬
klärlich, denn der Handel stockte, der Ackerbau erlahmte, alle Parteien bestrebten
sich, dem materiellen Lebensströme ein neues Bett zu graben und ihn so zu
leiten, daß er von keinen politischen Parteiungen verschüttet werde, und so
richtete sich der Blick auf Maracaibo, die stolze Haupthandelsstadt der Schwester¬
republik Venezuela.
Zum Entwerfen und Ergreifen kühner Projecte besitzt der Hispano-Amerikaner
eine rastlose und schnell auflodernde Phantasie. Aber schnell, wie sie aufschlägt,
verzehrt sich die Flamme wieder, sobald es Ernst wird, und die Ausführung
Aufopferung und Thatkraft erfordert. Dann weicht der Romane mit seinen
eitlen Phrasen und fundamentlosen Spekulationen zurück, und ruhig, besonnen,
gediegen, energisch betritt eine andere Race, die germanische, das Feld, unter
deren thatkräftiger Beharrlichkeit sich eine Schöpfung nach der andern aus dem
Chaos der Uncultur erhebt, der ganzen Menschheit zum Nutzen und Frommen.
So ging auch diese Unternehmung, die Anbahnung einer Verbindungs¬
straße zwischen Ocana und Maracaibo, als' es zum Handeln, zu wirklichem
Arbeiten kam, schließlich in eine deutsche Hand über. Ein deutscher Kaufmann K.
folgte seinem Colonisationshange. verband sich mit zwei einheimischen Grund¬
besitzern, eifrigen Förderer der Sache, und schritt, nachdem die ersten nothwendigen
Gelder aufgetrieben und andere Vorbereitungen getroffen waren, rüstig an die
Durchbahnung der Wildniß und die Gründung einer Colonie und eines Hafen¬
platzes an dem untern Catatumbo, von wo ab derselbe für Canoes.fahrbar
wurde. Schon länger als zwanzig Jahre im Lande, war er ziemlich naturalisirt
und durchaus vertraut mit dem Charakter der farbigen Arbeiterclasse. Sein
lebhafter Unternehmungsgeist ließ sich selbst nicht durch den anmuthigen Zauber
einer jungen schönen Frau aus edlem castilianischen Blute, die erst vor wenigen
Monaten die Seine geworden, aufhalten. Noch weniger lag in seiner Natur,
vor den harten Entbehrungen und den Gefahren eines rauhen Waldlebens
zurückzuschrecken.
La Convencion, ein kleiner sechs Meilen von Ocana entfernter Pueblo,
ward, als nächster Ausgangspunkt des neuen Wegebaues, zum allgemeinen
Samuel- und Verkehrsplatze für die Vorarbeiten gewählt. Die Anwerbungen
von Arbeitern aus nahen und fernen Gegenden wurden eifrig betrieben. Junge
Leute, welche nach eignem Grund und Boden strebten, schlössen sich der Kolo¬
nisation am Catatumbo an. Ferner boten mehre Indianer, sogenannte
xractieos oder embg.i-cMaiios, welche auf ihren Jagd- und Schleichwegen das
Catatumbogebiet häufig durchstreift hatten und schon vorübergehend dort an¬
gesessen waren, mithin das Terrain desselben genau kannten, ihre Dienste als
Führer und Rathgeber an, da ihnen daran gelegen war, unter dem Schutze
und der Beihilfe einer zahlreichen Colonie zu Befestigung und Erweiterung
ihres Besitzes zu gelangen, aus dem die unwirthliche, der vereinzelten Menschen¬
kraft spottende Wildniß sie wiederholt schon vertrieben hatte. Sie wurden nicht
müde, die Vorzüge und namentlich die Fruchtbarkeit der waldumsäumtcn Flu߬
ufer zu schildern und zur Occupation des üppigen Landes aufzumuntern.
In jener Zeit der Vorbereitungen war ich nach achtmonatlicher Abwesen¬
heit aus den heiß-feuchten Waldgründen des Magdalencnbeckens, dem soge¬
nannten Torcoroma grande, nach Ocana zurückgekehrt, noch siech und ent¬
kräftet von dem eben übnstandenen gelben Fieber, ohne Hab und Gut,
nur mit der Erfahrung bereichert, daß es ein übermüthiges und sträfliches Be¬
ginnen ist, wenn der Mensch der gewaltigen Naturkraft auf seine Einzelkraft
vertrauend zu trotzen sucht. Meine einzige Zuflucht in dieser sorgenvollen Lage
war Maracaibo, wo ein immer gastliches Haus und unbeschränkter Credit mir
offen standen; aber auf dem gewöhnlichen Wege war jenes Ziel für meine
Mittel und Körperkräfte unerreichbar. Rasch war daher mein Entschluß gefaßt,
der Aufforderung K. s nachzukommen, ihn bei der ersten Expedition nach dem
Catatumbo zu vertreten und von dort mit dem nächsten Fahrzeuge, das strom¬
abwärts gesendet werde, mich nach Maracaibo einzuschiffen.
Nach wenigen Tagen Aufenthalt in Ocana schloß ich mich einer unbefrachtet
nach La Convencivn zurückkehrenden Abtheilung von Maulthieren an, bei welcher
ich für mich und meinen Sattel, für meine alte treue Begleiterin, die viel mi߬
handelte Pflanzenbüchse, und für die wenigen Kleidungsstücke und Bücher, die
ich aus den legten Drangsalen und Gefahren meines Waldlebens gerettet,
einen billigen Frachtpreis bedungen hatte. Nachdem ich noch von meinem gast¬
lichen Wirthe und Freunde die rührendsten Beweise hülfreichen Sinnes erfahren,
schied ich auf Nimmerwiedersehen von Ocana, das mir mit seinen immergrünen
Wäldern und Bergen, seinem blauen Frühlingshimmel und seinem herrlichen
Klima sehr lieb geworden war.
Nur eine augenblickliche Verlegenheit kann in jenen Ländern einen Reisenden
Zum Besteigen eines gemietheten Maulthieres bewegen; denn alle Verkehrtheiten
und tyrannischen Launen der wechselnden Reiter sind auf dasselbe übertragen,
und alle Mißhandlungen, die es erfahren, sucht es durch eine schrecklich beharr¬
liche Opposition gegen seinen jeweiligen Gewalthaber zu rächen. Wer da be¬
obachten will, dem bietet solche Lage sehr überzeugende Beispiele von den geistigen
Fähigkeiten der Thiere und überraschende Beweise dafür, daß sie außerordentlich
gut zu observiren und zu calculiren verstehen.
Das nächste Hügelland rings um Ocana ist unbewaldet, steril und ein¬
förmig, mit hartem Savannengras bedeckt. Die schmalen, fruchtbaren Thal¬
einschnitte und Bergschluchten verschwinden mit ihren dünnen Streifen Cultur¬
landes zu sehr, um die Eintönigkeit der Landschaft wesentlich beleben zu können.
Man findet im tropischen Amerika die größeren Städte fast immer in unfrucht¬
barer, oder doch in pflanzenarmer Landschaft gelegen; seine alten Städteerbauer
scheinen die Gefahren des Klimas in richtiger Weise gewürdigt zu haben; sie
verzichteten zu Gunsten der Gesundheit auf die Anmuth der Landschaft und
die Fruchtbarkeit des Bodens, der, wo er am üppigsten, dem Menschen gewöhn¬
lich am verderblichsten ist. Die falsche Meinung ist sehr weit verbreitet, daß
jeder Zoll der Tropenerde in paradiesischer Pflanzenfülle prange; der dichtenden
Phantasie erscheint der „ewige Sommer" eben nur als ein unerschöpfliches
Füllhorn voll Prachtblumen und köstlicher Früchte. Aber ganze lange Gebirgs-
züge und andererseits weite, unbegrenzte und darum um so mehr ermüdende
Ebenen sind nur von einer einzigen aschgrauen Wolke versengten Grases und
glühend umherwirbelnder Staubkörnchen bedeckt, welche den Menschen und
Thieren, die dürstend und heiß bis ins Mark ihre Straße ziehen, stechend aus
die Haut fallen, die Brust beengen und vor dem geröiheten Auge und dem er¬
bieten Gehirn wirre Gestalten und Bilder vorbeitreiben. Vergeblich horcht
der neue Ankömmling auf das Rauschen der Palmenhaine und zieht enttäuscht
seine Blicke zurück von der durstigklaffenden Erdrinde, wo er einen prangenden
Flor jener Blumen vermuthete, die ihm in den Glashäusern seiner nordischen
Heimathserde die Sehnsucht nach tropischer Schouten erweckten. Und doch ist diese
Schönheit und Herrlichkeit wirklich ausschließliches Eigenthum der Erde, nach
der ihn Wissensdrang oder Wanderlust gezogen,.wenn auch nicht, wie überspannte
Reiseschilderungen oder die dichtende Phantasie glauben machen wollen, zu
einem einzigen bunten Straus zusammengewunden, sondern Jo.se und versteckt,
hier spärlich, dort reichlicher eingestreut in die Pflanzendecke des Planeten.
Die Bergsavannen Ocanas sind zwar eintönig und pflanzenarm, dursten
aber nicht so dürr und trostlos dem Auge entgegen, wie z. B. die Cordilleren-
mauer an manchen Gegenden der Küste oder die unendlichen Flächen der
Llanos, die nur periodisch aus ihrer grauen Asche auferstehen, sonst aber sehr
selten einmal durch einige wenige Regentropfen angefeuchtet und belebt werden.
Die Savannen um Ocona verdorren und veraschen nur auf kurze Zeit, weil
die atmosphärischen Niederschläge häufig und bedeutend genug erfolgen, um
alsbald nach dem Absterben des alten Grases, ja noch während desselben schon
die grünen Spitzen des jungen durch die trockne Strohschicht zu schieben, oder
— wo die Savannen abgebrannt werden, — binnen kurzer Zeit die schwarzen
Brandstätten grün zu Überkleidern So umwogt namentlich der Monat Mai
die Hügel und Berge mit grünen Graswellen, der darum mit größerem Rechte
von den granadinischen, als von den norddeutschen Dichtern als Wonnemond
besungen werden kann. Bilden auch unter den Tropen die Jahreszeiten nicht
jene empfindlichen Gegensätze, als in unseren Breiten, so üben sie doch auch
dort, trotz ihrer geringen Temperaturunterschiede einen bedeutenden Einfluß auf
das Pflanzenleben und auf die Empfindungen des Thierreiches und der Men¬
schen aus. Die eigentlichen Blüthen- oder Wonnemonde Neugranadas sind
der Mai und December. Mit dem März, spätestens Mitte April tritt nach
dem regenlosen, svnnenheißen vers.no (Sommer, trockne Jahreszeit) des Januar
und Februar der kleine ioviorno (Winter, nasse Jahreszeit) ein, welcher mit
seinem ersten feuchten Hauche sofort alle Knospen und Blüthen sprengt, die
durstend seines Weckrufes harren; diesem kurzen invisrno folgt der kleine veravo
mit einzelnen, hin und wieder fallenden Regenschauern, bis mit dem October
endlich der große invierno eintritt, der die Erde grade zum Christmonde mit
dem saftigsten Grün und den prunkendsten Blumen des Jahres schmückt, bis
diesem invierno mit Ausgang des December der lange vers-vo des Januar und
Februar folgt. So die Regel. Jedoch verursachen locale Verhältnisse, und
meteorologische Vorgänge mancherlei Abweichungen in den Jahreszeiten, so daß
sie an verschiedenen Orten und in einem Jahre anders als in dem andern ein¬
treten oder andauern.
Mit der letzten Hälfte des Weges nach La Convencion wird die Landschaft
rings umher eine andere; die gleichförmigen Savannen machen kräftigem, mannig-
faltigen Pflanzenwuchse Raum, der Wald tritt an die Stelle des Grases und
hält in dem gewellten und viel zerklüfteten Erdreiche unter seinem dichten
Schatten die Feuchtigkeit zurück. In den Hochwald aber, der mit seinen dunklen
Laubmassen die nackte Form der rothen Berge umkleidet, haben Eisen und
Feuer des Ackerbauers große Breschen und Lücken geschlagen. Fruchtfelder
drängen sich an Fruchtfelder, und so weit als das Auge die Gebirgslandschaft
übersieht, tauchen aus dem dunklen, graugrünen Farbenton der Wälder, schwe¬
benden Inseln gleich, die lichtgrünen Zuckerrohr- und Bananenfelder auf mit
ihren rothen Ziegel- oder ihren gelben Palmenstrohdächern und rauchenden
Schornsteinen, von denen das Aechzen und Knarren der Trapiches*) und der
fast ununterbrochene laute Zuruf, welcher die schwerfälligen Zugochsen oder
widerspenstigen Maulesel vor den zermalmenden Walzen in Bewegung setzt,
bald von nahe, bald von fern, bald oberhalb, bald unterhalb des Weges herüber-
schallen. Oder tiefvunkellaübige Kaffeewäldchen klettern an den entwaldeten
Abhängen hinan und wieder hinunter, wechselnd mit den lichtgrünen Farben¬
streifen der nunca") oder des Tabakkrautes unter sich und der Maisfelder
über sich. Versteckt hinter sedengen Tamarinden- oder dickvlcittcrige» Mango¬
bäumen, oder frei auf abgerundeten Bergkegeln liegen die kunstlosen, plumpen,
sich überall gleichenden Häuser und Trockenhöfe der Haciendas, Plötzlich auch
taucht hinter einer Waldbucht am krummgczogenen Wege der geräumige Korridor
einer Pulperia auf. da hinein sich hastig und gewaltsam die Mäuler drängen,
weil sie das Privilegium einmal beanspruchen. unter dem Corridor eines jeden
Gebäudes am Wege einige Minuten zu verschnaufen, oder, wenn ihnen d,iL
Zeit nicht gegönnt wird, wenigstens hindurchzulaufen und ihre Lasten an den
Wänden abzureiben und zu verschieben. Andrerseits aber erachtet es der Arriero
(Maulthiertreiber) als eine unwiderlegbare Nothwendigkeit, an jeder Pulperia
vorzusprechen und eine Totumaschale °) voll zZuaraxo eueres«) oder ayisaZo^)
zu sich zu nehmen, sei es auf eigene oder auf herrschaftliche Kosten.
Allmälig neigt sich, je mehr der Weg sich dem Pueblo la Convention
nähert, das Erdreich tiefer, die Temperatur nimmt an Wärme, Luft und Erde
nehmen an Feuchtigkeit zu. Immer üppiger wird der Pflanzenwuchs, immer
zahlreicher schieben sich die productiven Haciendas und Canucos«) in die
Wildniß ein, der Landschaft vielseitige Abwechselung und einen milderen wirth¬
licheren Charakter verleihend. Ein an Formen wie an Farben,, an Großartigkeit
wie an Anmuth gleich mannigfaltiger Pflanzenteppich schmiegt .sich um all?
Gliedmaßen des vielgegliederten Bodens. Hart an den dorn- und klaren.
umschlungenen Waldsaum, über dessen Gipfeln, wie ein Gewölbe über das
andere, die majestätischen Kronen schlanker Palmen emporragen, drängen sich die
gelichteten und gelüfteten Culturfelder, —> beide. Wildniß und Cultur um den
Besitz des Bodens streitend, jene mit unbeugsamer Kraft, diese mit unbeugsamer
Beharrlichkeit. Eben da. wo veredelnder Menschenfleiß und wilde Naturkraft
gegen einander arbeiten, erscheint die Natur in ihrer vollkommensten und abge¬
rundetsten Schönheit.
Von einem Bergvorsprunge aus. der mehre hundert Fuß ziemlich steil in
eine große, von einem schäumenden Waldstrom durchrauschte Thalschlucht ab¬
fällt, wird der Pueblo in der Entfernung von etwa einer halben Meile an dem
jenseitigen AbHange der Schlucht zuerst sichtbar. Seine wenigen Häuser und
Straßen mit einer kleinen freundlichen Kirche und der viereckigen großen Plaza
in der Mitte, ruhen auf der schrägen Fläche eines sanft abfallenden Abhanges,
von Zuckerrohr- und Bananenfeldern umsäumt und im weiten Hintergrunde von
dunkelbewaldeten Hügelketten wellenförmig umkreist. Die Anlage und Bau¬
art der Ortschaften ist in Südamerika überall gleich; die Anlage der Straßen
und Plätze zweckmäßiger und freundlicher, als die Construction der Gebäude.
Die erste Anlage einer entstehenden Ortschaft bildet stets die große, regelmäßig
quadratförmige Plaza, um welche sich zuerst die Kirche und die ersten Wohn-
gebäude der Colonie ansetzen. Von diesen laufen die ersten Ttraßen aus. die
breit und gerade angelegt, sich unter gleichmäßigen Quadraten rechtwinklig
schneiden. Die Häuser sind einstöckig, kunstlos, ohne alle Verzierungen aus
gestampfter Erde aufgeführt und von einem steilen Dache von Hohlziegeln oder
Palmenstäben oder Savannenstroh überragt. Mehrstöckige Häuser und Tbüime
sind unzulässig wegen der stets drohenden Erschütterungen des vulkanischen
Bodens; flache oder niedrige Dächer würden den in der Regenzeit mit großer
Gewalt herabstürzenden Güssen zu geringes Gefälle geben. Den inneren rein¬
lichen und häusig mit kleinen Blumenbeeten und Ziergesträuchen angelegten
patio") umläuft ein offenwandiger, galerieartiger Corridor an der Rückseite und
den Seitenflügeln des Hauptgebäudes, der durch die Verlängerung des Daches
zugleich überdacht ist. Ebenso prunklos wie das Aeußere ist das Innere des
Hauses. Die meist getünchten oder geschmacklos bunt gemalten Wände der
Zimmer reichen nur bis zum Ansatz des Dachstuhles hinan und tragen keine
Zimmerdecke, so daß die Stuben unvollständig von einander abgetrennt und nur
unmittelbar durch den Dachstuhl selbst überdeckt sind. Jedes Geräusch dringt
daher durch die freie Oeffnung unter dem Dachstuhl ungeschwächt aus dem einen
Zimmerraum in den andern. Die Fensteröffnungen ermangeln gänzlich der
Glasscheiben, sind durch ein Holzgitter von der Straße abgegrenzt und werden
von innen durch Jalousien oder Läden geschlossen. Der Fußboden ist auch in
den Häusern der wohlhabenden Aristokratie mit Ziegeln ausgelegt, bin und
wieder mit Binsen- und Palmenmatten oder europäischen Teppichen bedeckt.
Breter und Bohlen sind bei dem Mangel an Arbeitskräften und industriellen
Unternehmungen trotz des Ueberflusses an Wäldern und kostbaren Hölzern ein
äußerst selten gesehener Gegenstand. Rings an die kahlen, schmucklosen Wände
lehnt sich das spärliche Hausgeräth, das aus einigen Tischen und Ledersesseln
besteht. Die dunkle und fast unheimliche Leere und Oede des innern Hauses
zeigt deutlich an, daß das Klima dem Menschen mehr den freien Luftraum,
als das Haus zu seinem Aufenthalte angewiesen hat, und in der That wohnt
der Mensch mehr unter dem blauen Himmelsdach, als unter dem Dach jenes
dunklen, engen Gemäuers, das er nur als Zufluchtsstätte gegen das Dunkel
der Nacht und die Unbill der Witterung betrachtet; wird er durch Beruf und
Gewerbe in dem Hause zurückgehalte», wie es namentlich dem Weibe durch
die Sitte geboten, so bewohnt er immerhin doch mehr den offenwandigen, luft-
und lichtumspülten Korridor des Mio, als den eingeschlossenen Zimmerraum.
Haus und Hof, wo K. sein Expeditionslager ausgeschlagen hatte, bot einen
bunten, sonderbaren Anblick dar; ein Gemisch von den verschiedenartigsten
Kräften und Geschäften, von allerlei Thun und Treiben, von todten und lebendigen
Gegenständen herrschte da durcheinander. Noch blutige Rinderhäute wurden zu
Lassos, Petaccas i") und Schutzdecken zerschnitten. Zwischen dreikantig-scharfen
Hölzern gingen die dickfleischigen Blätter der Agave und Uucca hindurch, um
von der gequetschten, milchweißen, ätzenden Masse die langen Bastfasern, — die
sogenannte Fique, — abzulösen, die dann getrocknet und zu Bindfaden, Tauen,
Netzen und Säcken verarbeitet wurden. Haufen von maetrette's") wurde an
den schrillenden Schleifsteinen die nöthige Glätte und Schärfe gegeben. Weiter¬
hin wieder wurden Waffen geputzt, Kugeln gegossen und Blei zerhackt — und
dazwischen herrschte nach allen Seiten hin die Kommandostimme d es Patron's
der selbst hier die Nadel, dort das Messer führte. Kauf. Tausch und Verkauf be¬
trieb, Leute warb und ablehnte, hier kollegialisch oder richtiger diplomatisch
mit einem nutzbaren Neger oder Indianer aus einem Glase trank, wiederum
grimmige Flüche auf eine Gruppe liederlicher und fauler Bursche schleuderte,
und überall Augen, Ohren und Mund im Spiele hatte. — Eine wollhaarige,
nicht eben mehr jugendliche Köchin und Mutter von drei nicht minder abschrecken¬
den Buben briet und kochte, wusch und plättete inmitten jenes bunten Getümmels.
Sie hatte sich ebenfalls für die neue Ansiedelung am Catatumbo vermiethet,
um einen geliebten und ihr verlobten, aber wenig zuverlässigen Freund nicht
aus den Augen und aus dem Sinn zu verlieren. Sämmtliche Umwohner
und Einwohner des Ortes, mit dem Neverendo Padre und dem Alkalde an
der Spitze, gingen wie in einem Taubenschlag, beständig ein und aus, theils
hergeführt durch die allen Creolen charakteristische Neugierde und Zudringlichkeit,
theils auch angelockt durch die glänzenden Aussichten, welche dem stillen Erd«
Winkel ihrer Wohnsitze durch den neuen Weg und Hafen eröffnet wurden. Es
war fast allein noch die Rede von dem Puerto Catatumbo und den beiden alemaiws
indi-eMos, weiche als Piloten der Cultur und Civilisation ihren gefürchteten
Monte") durchsteuerten. Für K. und mich war unser Zusammentreffen als
ein Begegnen von Männern wesentlich gleicher Bildungsstufe und Landsleuten in
Mitten von rohen, wenn auch nicht bösartigen Natur-Menschen aus der Waldwildniß
ein köstlicher Gewinn. Nur der, welcher jemals viele Monate hindurch aller
Berührung mit der Gesittung entrückt gewesen, kann ganz und voll das Be¬
glückende geselligen und geistig-gebildeten Umganges empfinden, und der lang
entbehrte Laut der Muttersprache schlägt in der Fremde gar süß und mächtig
an das deutsche Herz!
Trotz aller Thätigkeit und eifrigen Andrängens verzögerte sich die Inan¬
griffnahme der Wegearbeiten und der Aufbruch der Expedition von Tag zu
Tag, von Woche zu Woche. Es ist schwer, sich inmitten unsrer großartigen
Berkehrshebel und technischen Hülfskräfte, unsrer geregelten und comfortablen
Lebenseinrichtungen, eine rechte Vorstellung zu machen von den unsäglichen
Plackereien und Schwierigkeiten, den Zeit- und Geldopfern, welche in diesen
fast gänzlich Verkehrs- und hülfsmittellosen Ländern sich jeglicher, auch der ge¬
ringsten Unternehmung entgegenstellen. Jede Kleinigkeit verlangt peinlichste
Berücksichtigung, der winzigste Gegenstand sorgfältigste Aufbewahrung und Fort-
schaffung. Die Transportmittel sind unzureichend, sie gestatten selten die Mit¬
nahme kostbarer Dinge und solcher Gegenstände, die anderswo vielleicht nicht
wieder ersetzt werden können und zu dem bestimmten Zwecke doch unentbehr¬
lich sind. Die nothwendigsten Handreichungen, fördernde Dienstleistungen sind
oft unerreichbar und unbezahlbar, niemals zuverlässig und von Bestand.
Von dem Werthe der Zeit und der Energie der Handlung hat das Volk
bei seiner sorglosen und leichtfertigen Sinnesart nur sehr unklare Begriffe, es
löst eben so leicht und launenhaft die Contracte, wie es dieselben eingeht.
Jeder einzelne Arbeiter hat mit dem Arbeitgeber seine eignen Sondercontracte
und Anforderungen, die beständig umgeworfen und von Neuem wieder zusammen¬
geflickt werden; wer dabei ermüdet, ihm diese Lieblingsunterhaltung zu gewähren,
verliert bald die wenigen Kräfte, die er mühsam zusammengebracht. Nach diesen
Andeutungen wird man verstehen, wie in unserm Expeditionslager noch Woche
auf Woche mit den Ausrüstungen vorgehen konnte, als man schon von Tag
zu Tag an den Aufbruch dachte.
Die elastische Jugend hob meinen geschwächten Körper bald wieder so»
weit, daß ich mit K. kräftig Hand ans Werk legen konnte. Während dieser
in La Convention zurückblieb, um den geschäftlichen Gang der Unternehmung
weiter zu leiten, setzte ich mich an die Spitze einer kleinen Arbeitercolonne von
ausgewählten Indianern und Mulatten, um den neuen Weg, soweit Spuren
von demselben vorhanden, vollständig zu öffnen und weiterhin unter der Führung
der eillbg.iMig.iios durch die Walowildniß anzubahnen. Inzwischen aber rückte das
Pfingstfest heran, und natürlich bestanden auch meine Indianer und Mulatten
darauf, den Freudenbecher der paseuas (Festzeit) nicht an sich vorübergehen zu
lassen. Keine Nation kann eine größere Vorliebe für die rothen Kalendertage
besitzen, als die hispano-amerikanische; alle ihre Racen und Mischracen sind gleich
genußsüchtig und unersättlich, jede Veranlassung einen Feiertag zu ballen wird
mit beiden Händen ergriffen. Ihre Vergnügungssucht umgeben sie mit dem
Nimbus der Religion, und umgekehrt verschmelzen sie auf das innigste jeden reli¬
giösen Act mit sinnlichen Vergnügungen. Nach beiden Richtungen hin werden
dann die Pascuas bis zum Uebermaße ausgebeutet, und ebenso die heiligsten
Dinge entweiht und gemißbraucht, als die äußersten Ausschweifungen mit priester¬
lichen Ceremonien gesalbt. Je elastischer und leichter das Gewissen mit diesem
monströsen Zwitterdinge Abrechnung hält, je harmloser und unempfindlicher
die gedankenlose M«nge das Doppelgericht des Glaubens und der Sinnenlust
ausnimmt und assimilirt, desto wohlgefälliger erachtet sie sich selbst in den Augen
der Heiligen und der alleinseligmachenden Kirche; denn sie alle sind ja getauft,
und somit allein seligwerdende Christen.
Die barbarische Musik und das lärmende Getöse, welches am Abend vor
Pfingsten die Straßen des Pueblo durchzog und die tanzlustige Menge in ein
geräumiges Gebäude neben unserem Lagerplatze zusammendrängte, erinnerte
mich unter schneidenden Kontrasten an das liebliche und trauliche Pfingstfest der
nmddeutscben Heimath. Die festlich angethanen Hochländer stiegen Von ihren
immergrünen Wäldern und Bergen einzeln und truppweise hernieder, breite,
untersetzte und phlegmatisch - wilde Jndianerbursche und dunkelbraune, schwarz¬
haarige Mägde mit bunten Tüchern und flatternden Hutbändern, Väter, Mütter
und Kinder, alle gleich begierig und ungestüm. Mit heiserem Gutluralge-
sänge unter Cinco'^) und Chucbagcrasscl^) kündigten die herbeieilenden Trupps
schon aus hoher Ferne ihre Annäherung an, brachen jauchzend und angejauchzt
von allen Seiten in den sonst so todten Ort el«. zogen lärmend von Haus zu
Haus, von Pulperie zu Pulperie, und ergossen sich wie immer neu anschwel¬
lende Fluthwellen in die Wogen des Tanzes, welch» in den gefüllten Räumen,
den Korridors und Patios des Festplatzes wild aus und abrauschten. Die ver¬
schiedensten Farbenschattirungen, Typen und Trachten; Dürftigkeit und Wohl¬
stand kreisen in allen ihren Gegensätzen, eng zusammen- und durcheinanderge-
worfen, um den einen Mittelpunkt der Sinnenlust. Das blasse, nerv- und
blutlose Gesicht des Mestizen streift vorüber an der rostbraunen, herausfordernden
Stirn des kräftigen, hochgewachsenen Mulatten, die langen schwarzen Zöpfe
der schmucken Hochwald-Indianerin berühren hohnlachend das gekräuselte Haar der
sinnlich- häßlichen Zamba. Durchsichtige, wehende Gewänder aus theuren zart¬
farbigen Geweben, flatternde Seidenbänder und funkelnde, Glasperlen und Ko.
rallen stechen grell ab gegen die fadenscheinige olarräillirund den anspruchs¬
losen down ä'aro"), und die graue Covija und das probe Cotlonhemd
brechen sich unbefangen Bahn durch das steife Faltenhcmde und die wohlge¬
glättete Zsvita (Ueberrock), in welchem ersteren irgendein widerwärtiger
Neger, und in welchem letzteren der parfümirte Mestize mit dem höchsten
Selbstgefühl sich brüstet. Zügellose Roheit neben kindlicher Grazie. Sanftmuth
und Gutmüthizkeit neben Frechheit und Verschmitztheit, und alle jene Leiden¬
schaften . wie sie der Cultur und Uncultur der verschiedenen Racen und Mischungen
eigen, fließen in allen Chamäleonfarben bunt durcheinander.
Dennoch aber, wenn auch die leicht entzündbaren und immer glimmenden
Elemente dieser Gesellschaft jeden Augenblick zu Heller Lohe aufzulodern drohen,
bricht im Ganzen nur selten eine ernstliche Kriegsflamme unter ih>nen aus,
und wenn sie aufschlägt, verfliegt sie wieder ebenso schnell, wie sie ungestüm
und stürmisch aufwirbelte, und der unverwüstliche Humor, wie die unverwüst¬
lich rasselnde Musik rufen nach dem ersten Tumult die Getreuen bald wieder
zu dem tanMoxo zusammen.
Der weiße Europäer, der zufällig an Ort und Stelle, erobert sich die
Herzen der ganzen Versammlung und gewinnt an allgemeiner Achtung und
Einfluß, wenn er sich ohne Zeichen des Stolzes und der Ueberhebung —
Mängel, welchen sich leider viele Europäer bis zur Bornirtheit hingeben —
unter die ausgelassene Menge mischt und sich leutselig und mittheilsam einige
Augenblicke darunter zu bewegen weiß. Man wird ihn überall zuvorkommend
und mit gefälligem Benehmen bewillkommnen, und jedem seiner Schritte aus¬
biegen, ihm Rechte und Ehren einräumen, die man dem Einheimischen vor-
enthält. sich um ihn sammeln, sich vorstellen, Dienste anbieten und mit unge-
theiltem Interesse jedes seiner Worte auffangen. Galanterien freilich können
auch ihm leicht gefährlich werden, denn die beiden gewaltigen Mächte: Liebe
und Eifersucht herrschen nun einmal gleich absolut und gewaltsam in jedem
lebendigen Wesen jeder Himmelszone. So wohlgefällig vielleicht auch die
Eitelkeit des Gegenstandes, dem solche Aufmerksamkeiten gespendet werden, die¬
selben aufnimmt, so schlagen sie doch dem auserwählten Freund, und stehe er
anscheinend noch so gleichgültig da, oder sei er auch in dem hintersten Winkel
versteckt, er möge nun schwarz, braun, gelb oder weiß sein, wie ein Blitz in
das heiße, rachsüchtige Temperament, und so kann es mit der Artigkeit leicht
ein unverhofft trauriges Ende nehmen.
Nicht minder unermüdlich, wie drinnen der Tanz, hetzt sich draußen daS
Spiel mit Würfeln. Kugeln. Karten und Wetten herum. Mit dem untern dicken Ende
an die Wand oder einen Pfeiler des Corridors geklebt, wirft das flackernde,
unabgeputzte Talglicht einen spärlichen Lichtschimmer auf die rothwollene, an det
Erde auseinandergeschlagene Covija, darüber hin die Würfel rollen oder diÄ
Karten fallen. Dabei steht oder hockt ein Zuschauerkreis jeden Alters, theils
berauscht lallend und tobend, theils schläfrig und stumpf, theils gierig starrend
und Wuth und Rache brütend. Auf der Plaza erhellen flackernde Bagazo-
fackeln die Nacht und den Lauf der totas (Kugeln), um deren Gewinn ge¬
hadert wird. Aus den zahlreichen und vollgedrängten Pulperien,, in denen die
saure Chiesa^), der Guarapo fuerte und der schreckliche Anisado in vollen Gläsern
oder Totumaschaalen unausgesetzt von Mund zu Mund wandern, dringt das
verworrene Getöse trunkner Stimmen, Gekreisch und näselnder und gurgeln¬
der Gesang von Serenadenbringern, welche die Straßen truppweise auf- und
abwandern.
Mitten auf die spielenden oder vertraulich scherzenden Gruppen ergießen
auf einmal zischende Schwärmer und krachende Raketen ihren sprühenden
Flammenregen aus. jagen die kichernden und kreischenden Waldmädchen in den
leichten, flatternden Gewändern erschreckt auseinander, oder sprengen eine Spiel¬
bank in dem entscheidenden Augenblicke. schnaubend bäumen die jungen Pferde
oder die scharfsinnigen Maulthiere auf. welche rings um die Pia'zö an die
Fenstergitter gebunden sind, und ein heimtückischer Esel, mit einer brennenden
Rakete an dem Schweife losgelassen, rennt wie unsinnig mitten in das dichteste
Gedränge hinein, daß der Knäuel, nicht ohne die Wucht der kräftigen Hufe zu
fühlen.'nach allen vier Winden auseinanderstiebt.
So rauscht die Nacht im Taumel der Freude vorüber, Kaum hat das
Auge Schlaf gekostet, das am andern Morgen ebenso schüchtern und glaubens-
fromm, wie am Abend vorher lustsprühend, den stummen Bewegungen des
Priesters am Altare folgt und. wie sein Mund und Winkes gebeut, zerknirscht
sich senkt und die Hand reuig gegen die Brust schlägt. Eine durch Violine und
Triangel vervollständigte Musik begleitet die heilige Mimik des Padre und
jubelt'endlich den Dank und Lobgesang des Priesters und seiner Gemeinde —
mit einem Straußfeder Walzer oder einer gunglschen Polka zum Himmel empor.
Draußen vor der Thüre harrt bereits ein Häuslein effectliebeuder Kirchengänger,
das bei dem solennen Acte, den das Geläute aller Glocken dem ganzen
Pueblo verkündigt, zischende Raketen aufwirft und ein halbes Pfund groben
Kanonenpulvers aus alten verrosteten und unversicherten Flintenläufen abknallt.
Dasselbe lebendige Treiben und Leben, wie am vorigen Tage, herrscht den
folgenden Tag wiederum in den Straßen. Eifrig, wie auf Pflicht und Befehl,
finden sich die Hahnenkämpfer mit ihren gerupften Kämpen auf dem Arm in
der Kampfhalle zusammen, wo die Wetten vom Mittag bis zum Abend hin-
und hergehen und das vernunftlose Vieh unter "tosendein Bcisallsgejauchze sich
zu Tode hackt. Vielleicht, daß diese grausamen Thierhatzen auf einige Stunden
durch die wros^) unterbrochen werden, die aber gewöhnlich, weil schwierig
und kostspielig zu veranstalten, nur an den großen Festtagen, als Ostern und
am Johannistage stattfinden. Der wollüstige Kitzel aber, welchen Blut und
Grausamkeit wiederum im Blute erregen, darf als .die echte und wahre Würze
gesteigerten Lebens an keinem Feste fehlen, es sei nun Ochsen- oder Hahnenblut.
Christus- oder Verfassungsfeier.
Und so Tag und Nacht, bis der Freudenbecher bis auf den letzten
Tropfen geleert ist. Ruhe und Schlaf such: der Theilnahmlose unter den Lust¬
trunkenen vergeblich, denn das Rasseln der Chucha und das dumpfe Dröhnen
des Tambor verfolgen ihn, wohin er sich auch zu flüchten gedenkt. Nur die
Mittagsstunden, wenn alles nach einer Stunde der Ruhe und des Schlafes lechzt,
bis die heißen Sonnenstrahlen schräger über die Erde fallen, bieten Erholung,
vorausgesetzt, daß man die glückliche Gabe des Creolen besitzt, beliebig den
Tag in'Nacht und die Nacht in Tag verwandeln zu können. Endlich, wenn
auch die blauen Montage noch ihr Recht gefunden, und darauf der folgende
und wieder folgende Tag durchschlafen, und am nächsten Tage die nothwendige
Ruhe und Diät beobachtet, und noch ein Tag zum Neinigen und Waschen
und Ausrenken der Glieder, sowie ein letzter zur Abnahme des Tuches von
dem umbundenen Kopfe angesetzt worden, — dann allmälig lenken sich die
Gedanken wieder auf die schwarzen Kalendertage und wird die Machette an den
Wetzstein gelegt.
Nachdem allem, was hier zu Lande das Fest verlangt, genügt worden,
sammelte ich die Peone. die mir als die ortskundigsten und zuverlässigsten
unter den Angewordenen zugetheilt waren, und mit Aexten, Machetten, Jagd¬
flinten und Munition, sowie drei Maulthieren. von denen eins mit Mais für
die Thiere, die andern beiden mit den nothwendigsten Kochgeschirren, mit Lebens-
mitteln und unseren wollenen Covijas befrachtet waren, gingen wir als Pfad¬
finder oder richtiger Pfadbrecher der Niederlassungskaravane vorauf. Der Pro¬
viant war jedesmal auf drei Tage für Menschen und Thiere berechnet, so daß
zwei Thiere beständig zur Erneuerung desselben hin und hergingen.
Auf Reisen in unbewohnten, culturlosen Gegenden macht die Erhaltung
des Menschen weniger Beschwerde und Sorge als die der Hausthiere. Jener
ist weit elastischer im Ertragen von physischen Leiden, Anstrengungen und
Witterungseinflüssen und in der Aufnahme ungewohnter Nahrungsmittel, als
seine thierischen Gesellschafter. Jrrthümlich neigt man sich zu der Meinung,
daß den Thieren in den wilden, Pflanzenreichen Länderstrichen auf Schritt und
Tritt hinreichende Nahrung geboten sei. Allerdings, wo die Verhältnisse es
gebieten, knüpft der Arriero (Maulthiertreiber) in der Wildniß seine Thiere los
und jagt sie hinein in den Wald, auf die Savannen oder in das Gestrüpp,
das die Spuren bezeichnet, wo der flüchtig hin und her wandernde Ackerbauer
seine Hütten und ausgesogenen Felder verlassen hat. Aber aus dem Walde
kehren nach kurzer Zeit die auseinandergejagten Thiere zurück an das Nachtlager,
das der Treiber aufgeschlagen, und umstehen hängenden Kopfes hungrig das
prasselnde Feuer: denn so grün, so dicht und reich sich die Laubmassen auch
zusammendrängen, schreckt dennoch die Zunge des Thieres vor ihnen zurück,
theils, weil sein Jnstinct sich gegen dieselben sträubt, theils weil es von jeher ein
anderes Futter gewohnt gewesen. Der Mensch freilich genießt im Hunger fast alles,
was gesunde Vernunft und gesunder Jnstinct in den Tagen des Ueberflusses von sich
weisen, und erkrankt und stirbt lieber an naturwidriger Füllung des Magens, als an
den Qualen des Hungers. Das Thier dagegen zwingt der schmerzhafteste Hunger
nicht zum Fressen von Stoffen, die es anwidern, und es fällt eher vor Hunger
nieder, als daß es gegen seinen Jnstinct verstößt. Auf den Savannen allerdings
findet es reiche Nahrung, wenn die Jahreszeit des Wachsthums, die Wiedergeburt
der Vegetation herrscht', aber ebenso hungrig und traurig, wie aus dem Walde,
kehrt es auch hier an das Lager seines Herrn zurück, wenn die rothe, gebor¬
stene Erde nach Wasser lechzt und das verbrannte Savannenstroh wie ein grauer
Aschenmantel auf der Erde liegt.
Die rast-roM ^) bieten in der Regel- noch die beste Weide dar, da aus dem
verlassenen Culturlande immerhin noch genug Nachkömmlinge der ehemaligen
Culturpflanzen das wilde Gestrüpp, das wieder Besitz von dem Boden ergreift,
durchwuchern. Aber diese rastr-Hos sind gewöhnlich so undurchdringlich in einander
verflochten, daß sich die weidenden Thiere kaum hineinarbeiten können, und
häufig in den Dornenruthen und Schlingpflanzen so vollständig verstricken
daß sie am andern Morgen nur mit großem Zeitverluste zusammengetrieben oder
herausgehauen werden können. Ja nicht selten geschieht es, daß eines der¬
selben sich ganz verirrt und. verschmachtend unter den brennenden Sonnenstrahlen,
bei lebendigem Leibe von Milliarden gieriger Insekten angefressen, elendiglich
umkommt. Daher ist bei einer längeren Reise durch die unbewohnte tropische
Waldwildniß hauptsächlich Bedacht auf den Proviant für die Thiere zu nehmen.
Und selbst in cultivirten Gebieten verursacht hier die Erhaltung mehrer Thiere
immer Schwierigkeiten, denn wirkliche Futterkräuter, Weideplätze und Koppeln
finden sich nur an den größeren Berkehrsstraßen. während an den Nebenwegen
der Ackerbauer nur nothdürftig für den Unterhalt des eignen Viehbestandes
Sorge trägt und mit dem Futter mehr geizt, als mit den eigenen Lebens¬
mitteln.
Bis zu der Niederlassung La Ticadera, an dem Flusse gleiches Namens,
zwei Tagereisen von La Convention, führte bereits ein noch leidlich erhaltener
Weg, der vor Zeiten viele Plantagen und Ansiedlungen, über die das letzte
Halde Jahrhundert vcrnichiend hingegangen, mit einander verbunden hatte und
immerhin noch für größere Transporte von Mensche» und Thieren einige Hilfs¬
mittel und Unterkommen bot. Die Haciendas und Canucoos, welche einst
das wunderbar fruchtbare, heiß feuchte Tiefland der Ticadera in einen einzigen
Kakao- und Bananenpart verwandelt und seine sonnigen, üppig lachenden Ebenen
belebt und bevölkert hatten, waren unter dem Pesthauche des Fiebers, der zu
Anfang dieses Jahrhunderts dort hinüberwehte, und schließlich noch durch die
keinen Pardon kennende Wuth des Krieges mit Spanien, von der Eide gewischt,
ausgestorben und wieder verwaltet. Ganze Reihen alter verkrüppelter Kakao¬
bäume und ganzeQuadrate wohlerhaltener aZuaeatös,^) unter deren Schatten
einst der Kakaobaum seinen aromatischen Samen reifte, bezeichnen Krieg und
Brand überlebend noch mitten im Walde. — den der flüchtige Teurist vielleicht
mit dem klangvollen Namen „Urwald" belehren würde, wiewohl er stellenweise
kaum ein halbes Jahrhundert auf seinen Gipfel» trägt — die ungefähren Um¬
risse der Stellen, wo einst Wohlstand und Leben geherrscht und die Erde fröh¬
liche und zufriedene Menschen getragen. Jetzt Hausen hier die Bestien des Wal¬
des. Die massenhaften Buttersrüchte des aguaeate nähren nach Hunderten zäh¬
lende Mänaden wilder Schweine, und die noch spärlich redenden Kakaofrüchre
werde» von dem aräito (Eichhörnchen) und dem Zriirtin-iM (Pvckenschwein) ver-
zehrt. Wehmüthig geht der sinnende Wanderer vorüber an den verfallene»
Menschenstätten in der stummen Oede. aus welcher zu seiner Seele nur
Stimmen verschollener Menschen flüstern; wo die ungestüme, mächtige, ewig
gebärende Natur über zusammengefallene Dachsparren und rußgeschwärzte Lehm¬
wände hinwegschreitet. Grauen über die Winzigkeit des einzelnen menschlichen
Daseins inmitten ihrer unverwüstlichen Kraft und über den unaufhaltsamen
Wechsel von Leben und Vernichtung, Verwesung und Staubbildung überfällt
'du und steigert sich von Schritt zu Schritt.
Jenseits der Ticadera. deren mittelgroßes Strombett sich zwischen den
äußersten Posten der Cultur und der undurchbrochenen Wildniß hindurchwindet,
harte es mit dem Wege, den wir bisher verfolgt, ein Ende, und nunmehr be¬
gann die Thätigkeit unsrer Aexte und Machettes. um nach der markirten t-roeda^)
zwischen dicken Waldbäumen und durch schmächtiges Unterholz hindurch einen
etwa für zwei befrachtete Maulthiere gangbaren Pfad auszuhauen. Für später,
wenn erst am Catatumbo die ersten Felder urbar gemacht. Anpflanzungen
angewachsen, Gebäude aufgeführt, und somit die Kolonie lebensfähig ge¬
worden, war der Ausbau des ersten schmalen Pfades zu einer breiten Ber-
kehrsstraße und die Uebergabe derselben an den öffentlichen Verkehr vorbehalten.
Unsere Arbeit in den heißen Niederungen des Ticaderagebietes, innerhalb
zweier Parallelgcbirgszüge. war unser ,i ' und von hären Entbehrungen be¬
kleidet. Der ebene, von Quellen und Rächen wenig durchfurchte Boden litt
oft drückenden Wassermangel, dies sah .sie Uebel, das die menschenleere Wild-
niß schaffen kann, schwerer noch, als berschwcmmungen durch Regengüsse, die
alle Verbindungen abschneiden, und als Mangel an trocknem Mundvorrathe
und Feucrungsmalerialien. Am Morgen und am Abend wurde abgekocht; ich
selbst bediente den Feuerheerd. um die Arbeitskraft nicht zu schmälern, und
während ich den Brei rührte und zusammenkochte, setzten die Peone ihre be¬
gonnene und häusig von mir revidirte Arbeit fort, bis der Brei gabr geworden
und die Ruhestunde gekommen war. Ich war der Feldwebel, die Pflegemutter,
der Leib- und Seelsorger meiner Pfabbrecher. Sämmtliche Vorräthe standen
unter meiner strengen Verwaltung, genau abgemessen nach Maß und Gewicht;
ein kleiner Arzneckastcn lag für die Gesundheitspflege unter Verschluß. Aber
mehr als zu diesem nahm ich gegen die Erscheinungen der Mißstimmung, des Un¬
behagens und der Fieberbesorgnisse den Schatz der Ueberredung, des Humors,
des Zuspruchs auch wohl des Spottes in Anspruch, und jedenfalls erwiesen sich
diese Mittel viel erfolgreicher, als die mit Mixturen und Salben gefüllten
Flaschen und Kruken. 'Ob auch aller und zum Theil doppelt so alt, als ich.
und nichts weniger, als von meiner Hautfarbe und meinem Racentypus, wurden
jene rauben Gesellen alle mit dem familiären Prädicate „Sohn" und „Söhnchen"
angeredet, und jedenfalls kam ich mit dem patriarchalischen „hijo" und „hijito"
weiter, als wenn ich ihnen pedantisch den Gebieter hätte fühlen lassen. Leut¬
seligkeit, gerechte und humane Behandlung vermögen über die rohe Menschen¬
natur sehr viel, und wenn auch der absolute Wille stets die Herrschaft über
dieselbe behalten muß, so bewirkt dieser, zu oft und beständig herausgekehrt,
meist das gerade Gegentheil von dem, was er bezweckt. Der stömge, mi߬
trauische und den Weißen hassende, wenigstens nicht liebende Indianer wird
das fügsamste und anhänglichste Werkzeug in jenes Hand, sobald der Weiße
unter obwaltenden Umständen jede Lebenslage, sowohl Noth und Entbehrung,
als Bequemlichkeit und Ucberflusz mit ihm theilt, sich furchtlos gegen die wilden
Kräfte der Natur zeigt, sich selbst zu helfen weiß und sich unabhängig von den
äußern Einflüssen hinstellt. Der Indianer achtet und unterstützt nur den
Fremden, der unabhängig und geschickt den feindseligen Kräften der Natur
trotzt. Den Mangel an natürlichen Fertigkeiten und' jene Abhängigkeit von
Andern, welche eine Mitgabe der Civilisation, verachtet er am gründlichsten.
Er läßt denjenigen vielleicht Verhungern, der rathlos verlassen ist, hilft aber
dem auf das bereitwilligste, der sich selbst möglichst zu helfen weiß.
Also die Dclcgirtenversammlung der Schleswig-holsteinischen Vereine, die
am 19. April in Rendsburg Weltgeschichte machte, hatte das berliner Kom¬
promiß angenommen, und der gute Mann, der vor einiger Zeit in der kieler
Harmonie die Particularisten in den Herzogtümern mit der Laterne gesucht
und nicht gefunden zu haben erklärte, hätte dre Wahrheit gesagt. Oder wenn
es bei uns, wie doch am Ende nicht wohl zu läugnen, eine sehr starke Partei gab
die nichts von Zugeständnissen an Preußen, nur von Anschluß an Deutschland,
d. h. von Eintritt des selbständigen Schleswig-Holstein in den deutschen Bund,
wissen wollte, so hätte in den letzten Wochen eure großartige Bekehrung dieser
Partei stattgefunden, und der Borwurf des Particularismus träfe wenigstens
jetzt nicht mehr zu.
Nun ja. wer unsern Ofsiciösen glaubt, der wird über diese erfreuliche That-,
sache nicht im Zweifel sei. Da sind die Schleswig-holsteinischen Bercine gleich¬
bedeutend mit dem Schleswig-holsteinischen Volke, und da meinen es die sicht¬
baren und unsichtbaren Obern dieser Vereine durchaus aufrichtig mit den Zu¬
geständnissen, die sie, die Herren Map und v. Neergaard und deren Auftrag¬
geber in Kiel, den Preußen „bewilligen" wollen. Ein paar Kleinigkeiten nur
findet man noch auszusetzen an den Forderungen des Herrn v, Bismarck. im
Uebrigen ist man eitel Opferwilligkeit, und nichts als Blindheit, vollständige
Blindheit oder schwarze annexionistische Bosheit ist es, wenn einer diesen
wunderbaren Umschwung im Lande acht merkt und vergnügt anerkennt. Freuen
wir uns darum, lassen wir das Mißtrauen, bekennen wir, uns in dem Charakter
der Schleswig-Holsteiner getäuscht zu haben, und stimmen wir ein in den Jubel,
daß man preußische,seits jetzt auch Vertrauen zu zeigen und gewillt zu sein scheint,
das Land in seinen Vertretern zu Worte kommen zu lassen: es wird dieses Ver¬
trauen gewiß rechtfertigen.
So- ungefähr der Wind aus der officiösen Region. Schade, daß es Wind
ist: denn die Mähr, die er nach Deutschland trägt, ist in der That nicht übel,
obwohl uns das Abhandeln von den preußischen Forderungen durchaus nichr
gefallen will. Es klang doch wie ein Durchbrechen von Verstand und gutem Willen,
und man konnte von diesem Anfang zu patriotischer Auffassung der Sachlage
Fortgang zum Wandeln in einem neuen Leben und ein gedeihliches Ende, d. h.
Bekehrung zu unserm Programm, rückhaltloses Eingehen auf die preußischen
Bedingungen in Betreff definitiver Ordnung unsrer Angelegenheiten hoffen.
Aber es war wirklich nur der alte inhaltslose Wind, wirklich nur das
alte, von allen Verständigen längst durchschaute Spielen mit der öffentlichen
Meinung in Deutschland. ' Wer sich die grohentheilS aus Schulmeistern beste¬
hende rendsburger Versammlung, die Hauptacteurs und die Beschlüsse nur halb-
wegs genau ansieht, wer ähnliche Vorgänge in der jüngsten Vergangenheit und
andrerseits das Treiben hinter den Coulissen damit zusammenhält, der kann sich
darüber nicht einen Augenblick täuschen.
Erstens sind die Schleswig-holsteinischen Vereine, so sehr sie den Mund voll
nehmen und so selbstbewußt sie auftreten, durchaus 'nicht die Stimme Des Landes,
sondern nur Instrumente der kieler Politiker, die bisweilen wohl nicht so be¬
reitwillig, wie gewünscht wird, gehorchen, im Ganzen und Großen aber und
zuletzt immer so oingirt werden,' wie diese Politiker es zeitweilig für gut, d. h.
den Umständen angemessen finden. Auch gelegentliche Abweichungen von der
Regel beweisen hiergegen nichts, sie sind meist nur Theile des Systems. Man
sichert sich, indem man sie hervorruft oder zuläßt, gegen die Behauptung, daß
die Clubs ihre Resolutionen von Kiel bekommen, "oder man zeigt mit ihnen
in Berlin, daß die Volksstimme varticulanstischer ist als man selbst wünscht.
Ferner die rendsburger Beschlüsse und die Bedeutung derselben für die
Haltung der zukünftigen Repräsentation des Landes. Diese Beschlüsse sollen
eine Bürgschaft sein, daß die Volksvertretung ebenfalls „opferwillig" sein wird.
Abgesehen davon, daß wir für opferwillig lieber verständig sagen würden, und
abgesehen davon, daß uns die rcndsburger Concessionen nicht genügen, was
haben die Herren Delegirten denn eigentlich geleistet? Wir finden, nichts als
daß sie eine Hoffnung ausgesprochen haben, und wir glauben, daß sie ni ihrer
großen Mehrheit das gerade Gegentheil hofften von dem. was diese Hoffnung
besagie. Man hat gewisse Zugeständnisse genannt, zu denen der vorher selb¬
ständig gewordene Staat Schleswig-Holstein sich vielleicht oder wahrscheinlich
bequemen könnte. Das ist alles. Von einer Bürgschaft dafür, daß diese
Möglichkeit sich verwirklichen, daß die einberufenen Staube oder die Landesver¬
sammlung nach dem Wahlgesetz von 1848 oder irgendwelche andere Vertreter
jene Zugeständnisse machen werden, war nicht die Rede und konnte nicht die
Rede sein. Man wußte vielmehr und mußte wissen, daß die Landesvertretung
eines selbständig constituirten Schleswig-Holstein Preußen so wenig als nur
immer möglich an Rechten einräumen wirb und am liebsten gar nichts. Die
ganze Procedur war somit nichts Anderes als der Versuch, den Vertrauensseligen
in Deutschland wieder einmal Sand in die Augen zu streuen und die Mißtrarnsch-
gewordenen durch ein Scheinmanöver zu beschwichtigen.
Nicht gemindert, wie man uns glauben machen möchte, sondern gesteigert
bat sich in der Zeit seit unserm letzten Bericht der Particularismus, und die
Kieler sind nicht die Trägsten gewesen, ihn im Stillen zu schüren. Die Herren,
die in Berlin und Rendsburg so opferwillig auftraten, reden überall ander¬
wärts ganz anders. Ihre Presse geberdet sich fast durchaus noch wie früher,
schwärmt fast noch ganz so feurig für das Recht, das nicht gebeugt werden darf
tadelt noch jetzt alles, was sich an Preußen tadeln läßt, in hämischer Weise,
stärkt mit aller Macht die Hoffnung auf Oestreich, vor dem sich Preußen ja,
schon zurückziehe, beweist beinahe täglich, wie herrlich es sich in einem selb¬
ständige» Schleswig-Holnein leben lassen wird, und hat in der letzten Zeit so¬
gar eine „sei'leswig-holsteinische Nationalität" erfunden.
In Rendsburg war man am 19. April nicht allzufern von dem angelangt,
was die nationalen in ihrem Programm als nothwendig bezeichnet hatten, und
jetzt denuncirt das Organ der Leiter jener rendsburgcr Versammlung eine Be-
sprechung dieser selben nationalen ihrem Publikum mit den Worten, es sei
«eine neue Intrigue" im Zuge. Und solche Denuncationen sind insgeheim
jedenfalls an der Tagesordnung. Wir haben einen Voischmack, was uns be-
schieden sein wird, wenn die private Ueberwachung unserer Partei, die jetzt
organisirt ist, sich zu herzoglicher Polizei entwickeln kann. Schon hat man
überall seine Aufpasser, und schon wird allenthalben, wo ein nationaler sitzt,
auf Untergrabung seiner Lebensstellung intriguirt. In Kiel werden gewisse
Persönlichkeiten allgemein für Horcher und Berichterstatter angesehen. Als etliche
von uns Anfang Februar eine Zusammenkunft in Schleswig hatten, ging so¬
fort ein Telegramm nach Kiel ab: „Hier tagt eine hochverrcitherische Versamm¬
lung". Als am vorletzten Sonnabend Bürgermeister Spethmann von Eckern¬
förde und einige andere Mitglieder unserer Partei von hier zu einer Besprechung
mit Gesinnungsgenossen aus Schleswig nach Rendsburg reisten und nach Neu¬
münster kamen, zeigte ihnen der dortige Bahnhofsinspector ein soeben einge-
troffnes Telegramm, in- welchem er ersucht wurde, sofort an den Wirth des
Bicrconvents in Kiel zu telegraphiren. ob Spethmann und seine Begleiter nach
Rendsburg oder Hamburg führen. In Flensburg, wo die Deutschen bis vor
Kurzem fast durchgehend^ für Zugeständnisse an Preußen, wo sie fast alle wenig¬
stens dankbar für die Befreiung von Dänemark waren, hat man so lange von
Kiel aus gehetzt und gewühlt, bis jetzt auch hier der tollste Particularismus,
sich ausgebreitet hat. „Lieber tausend Thaler verlieren, als nach Düppel gehen"
sagte neulich ein flensburger Kaufmann, als der Grundstein zum preußischen
Denkmal bei Düppel gelegt wurde, und solche Niederträchtigkeiten sind alle Tage
zu hören. Die „norddeutsche Zeitung" wird, leider mit Erfolg, auf das
Heftigste und Widerwärtigste angefeindet und verläumdet. Patrioten, wie Hansen,
müssen, weil sie nickt in das Horn der Kieler blasen, eine gesicherte Stellung
meiden und ihren Stab zur Auswanderung aus dem Lande wenden, für das
sie in schlimmer Zeit gekämpft und gelitten. Das ganze Land wird durch diese
geheime Polizei systematisch demoralisirt. Ueberall Hetzen sie gegen die Preußen.
Allenthalben wird das Volk mit Schein und Lüge verdorben.
Kehren wir zu der letzten Delegirtenversammlung zurück, so weiß hier jeder,
ver sehen kann, wie der Gang der Dinge war. Für Ihre Leser aber, die
der Sache fern stehen, mag ihn eine Korrespondenz aus Kiel in Nömns Blatt,
welcher wir nur wenig hinzuzufügen haben, in der Kürze andeuten. Es heißt
da ungefähr:
Wer nicht weiß, daß die große Masse immer nur von einigen Wenigen.
Zuweilen sogar nur von einem Einzelnen geleitet und bestimmt wird, sucht ver¬
gebens nach einer ausreichenden Erklärung eines so merkwürdigen Phänomens wie
die letzte Delegirtenversammlung. Der Ausfall der vorletzten hatte, als gar
in feindselig gegen Preußen, in gewissen kieler Kreisen gerechtes Bedenken er-
^ge- Wie früher, wenn man zu weit gegangen war, so hielt man auch jetzt
Einlenken für nöthig.j Zunächst bekamen gewisse Preßorgane einen Wink.
Dann erfolgte die Zusammenkunft mit den Herren vom Sechsunddreißiger-
Ausschuß und den Birchowianern in Berlin. Mit Recht hat alle Welt die
°°re erfolgte plötzliche Bekehrung angestaunt. Es war aber durchaus kein
Wunder, sondern es ging völlig mit natürlichen Dingen zu. Wenigstens kann
sUemand, der hier lebt, sich des Argwohns erwehren, daß die Herren mit einem
^ Kiel ausgefertigten Kompromiß in der Tasche ihre Pilgerfahrt angetreten
Haben, Die hinterher abgegebene Erklärung, sie seien vollständig von der in
Berlin herrschenden Stimmung überrascht worden, kann kein 'Vernünftiger
gelten lassen, da die auswärtige Presse genügende Gelegenheit geboten hatte,
die Wahrheit in Betreff der Stimmung zu erfahren, du in Deutschland und
Preußen herrschte. Nach der Rückkehr von der berliner Konferenz galt es, den
einzelnen Vereinen die Sache plausibel zu machen. Ueberall wurden glänzende
Scheingefechte in Scene gesetzt, die dann von der Presse als ebenso viel Siege
des Patriotismus über den Particülarismusnach Deutschland berichtet wurden.
Den Höhenpunkt dieser Berichte bildete das Referat aus Preetz. wo der be¬
kannte Vorsitzende des Schleswig-holsteinischen Vereins, ein Mann gewaltig, in
Zungen zu reden und fest wie ein Fels im tobenden Meer, die Gegensätze ruhig
an sich herankommen lieh, um sie dann mit der Wucht seiner Beredsamkeit zu
zermalmen. Größere Wirkung mag indeß eine gewisse herumgeflüsterte Zauber¬
formel gehabt haben: o-^roh r<x«. Prachtvoll gings in der kieler Versammlung
des Vereins her: die Opponenten erklärten, gegen ihre innigste Ueberzeugung
das Vaterland retten zu wollen, indem sie als Delegirte mit dem Ausschuß
stimmen würden — eine heuchlerische Phrase, wie sie in der guten alten ehr¬
lichen Zeit kaum jemand geleistet hätte, wie sie aber heutzutage, seit dem An¬
fang des vorigen Jahres/nicht sehr auffällig sein kann. Der Artikel schließt:
„Nach solchen Vorgängen ist denn auch die rendsburger Versammlung
keine rettende That, sondern eine großartige Komödie gewesen, und macht es einen
Zwergfell erschütternden Eindruck, wenn man liest, daß die Herren die Augen
des civilisirten Europa auf sich gerichtet wissen wollten. Wir sind auf gutem
Wege, in die bevorzugte Stelle eines Volks der Mitte einzurücken."
Das ist vollkommen richtig. Der Dünkel ist ebenso gewachsen wie der
Trotz gegen Preußen. Das rendsburger Schauspiel wurde lediglich aufgeführt,
um die öffentliche Meinung in Deutschland zu captiviren. Wahrheit ist nich,
dahinter. Das wird sich sofort zeigen, wenn Preußen die Stände einberuft.
Aber Preußen trägt die Schuld, wenn man es für schwach hält. Fast ebenso
viel als das Hetzen von Kiel aus hat der Rückzug vor Oestreich in der kieler
Hafensache beigetragen, die Stimmung übler werden zu lassen. Dieser Rück¬
zug mag ein scheinbarer gewesen sein, aber es ist nicht zu erwarten, daß die
öffentliche Meinung fein genug ist, Unerforscklicbkeiten sich zu erklären. Diese
öffentliche Meinung wird haupsäcblich durch Achtung und Furcht bestimmt, und
es bedarf einer Thatsache, diese Empfindungen festzuhalten, beziehentlich wieder
einzuflößen. Wir verlangen keine renommistische Erklärung, keine ungeheure
That, wohl aber, daß man gelassen fortfahre zu thun, was Preußen bedarf.
Der Beginn der Arbeite» zwischen Holtenau und Friedrichsort, ein Graben,
ein Stück Mauer daselbst ist die beste Antwort auf die von unsern Offiziösen herumge¬
tragene Behauptung, die preußische Politik sei vor dem Einspruch Oestreichs
in Stillstand gerathen. Aus der Mauer, in dem Graben würde das Volk lesen:
Und sie bewegt sich doch!
Die Bestimmungen der preußischen Strafproceßgesetze über den Zeugen¬
zwang haben in den letzten Jahren des bismarckischen Regiments und bis
auf den heutigen Tag allgemeines Aufsehen erregt und vornehmlich dadurch die
Aufmerksamkeit auf sich gezogen, daß auf Grund derselben eine Zahl von
Redacteuren der Tagespresse, welche einzelne der Correspondenten ihrer
Zeitungen vor Gericht einzuzeugen sich weigerten, kürzere oder längere Zeit hin¬
durch, zum Theil während mehr als Jahresfrist im Gefängnisse ihre Weigerung
büßen mußten. Diese Fälle der Ausführung jener Zwangsbestimmungen
machen es der periodischen Presse, welche ohne solche standhafte Zeugni߬
weigerung der Redacteure erschliesst ihre Existenz gefährdet sieht, ganz be¬
sonders zur Pflicht, die gesetzliche Grundlage so harter Strafe ihrer Be¬
sprechung und Beurtheilung zu unterwerfen und, wenn möglich, Abhilfe des
vorliegenden Mißstandes anzugeben und deren Verwirklichung anzubahnen.
Die Vernehmung des Angeschuldigten bezweckt hauptsächlich, ihm die
aufgefundenen Beweise und Verdachtsgründe vorzuhalten, damit er sich hier¬
gegen erkläre, die Anschuldigungen zerstöre oder Rechtfcrtigungsgründe angebe.
Dieser Grundsatz ist am konsequentesten im Anklageprocesse durchgeführt, wo der
Ankläger beweisen muß und dein Beschuldigten gesagt wird, er sei zu einer
Antwort auf die Beschuldigung nicht verpflichtet. (So in England. Braun-
schweig.) In dem bisherigen deutschen Strafprocesse aber wirkte der Rest des
Jnquisitionsprincivs: Der Beschuldigte sollte die Wahrheit sagen, war dem
Richter unterworfen, durste dem Verfahren kein Hinderniß in den Weg legen.
Die geistige Einwirkung aus den Beschuldigten schien wesentlich, um neue Jndicien
gegen ihn zu erlangen, oder ihn zum Geständnisse zu bringen. Seit 1848 überwog
dann in den deutschen Strafproceßgcsetzen der Einfluß des französischen Rechtes, aber
e>" klares Princip kam damit hinsichtlich der Vernehmung des Angeschuldigten ebenso
wenig wie in den andern Hauptpunkten des Strasprocesscs zur Geltung. Man
überließ eben alles dem Inquirenten pnsönlich und sah und sieht das Verhör des Be¬
schuldigten theils als ein Mittel der Vertheidigung, theils der Instruction an.
Höchstens beschränkte man den Richter durch genauere Vorschriften und aner-
kannte ausdrücklich, der Beschuldigte sei nicht zur Antwort zu zwingen (in
Sachsen, Oldenburg), nur in Braunschweig ging man, wie gezeigt, noch weiter.
Die durchgreifenden preußischen Strafvroceßgcsetze vom 3. Januar 1849 und
3. Mai 1832 schreiben hierüber nichts Wesentliches vor. Selbstverständlich
darf jemand, sobald er (allein) Beschuldigter (noch nicht Angeklagter) ist, nicht
die Zeugenfunktionen in seiner eigenen (alleinigen) Strafsache vollziehen.
Betreffs der Zeugenfunction legen die noch geltenden §§. 7, 8, 310—313,
319, 332, 333, 337 der preußischen Cuminalordnung vom 11. December 1805
und die §§. 20—22 des Gesetzes vom 3. Januar 1849 jedem Staatsan¬
gehörigen die Pflicht auf, dem Richter auf Erfordern alles mitzutheilen, was
ihm über ein zu untersuchendes Verbrechen oder dessen Thäter bekannt ist.
Weigert er sich, die Pflicht ganz oder theilweise (Eidesleistung) zu erfüllen, so
soll er dazu von seinem ordentlichen Richter durch Geld- oder Gefängni߬
strafen angehalten werden. Dieser allgemeine Grundsatz ist durch ma߬
gebende Entscheidungen des königlichen Obertribunals und durch Ministerial-
verordnungen in folgenden hierher gehörenden Punkten näher präcisirt:
Die obige Zeugenpflicht besteht nur dann, wenn der Verdacht eines be¬
stimmten Verbrechens oder Vergehens oder doch Umstände vorliegen, welche die
Vermuthung eines begangenen, künftig näher zu bezeichnenden Verbrechens er¬
geben; sie erstreckt sich aber nicht auf allgemeine, nicht auf bestimmte
Vorgänge oder Personen bezügliche Fragen über die Kenntniß der
Zeugen von etwaigen blos für möglich erachteten Vergehungen gewisser Art,
Zeit und Gegend.
Jene Pflicht besteht ferner nicht, wo der Zeuge Bekundungen abgeben
soll, durch die er sich selbst einer strafbaren Handlung schuldig be¬
kennen würde.
§. 20 des Gesetzes vom 3. Januar 1849 bestraft den gehörig vorgeladenen,
aber ohne Entschuldigung ausgebliebenen Zeugen mit Geldbuße bis zu 20 Thlr.
oder Gefängnißstrafe bis zu 7 Tagen. Diese Strafe ist nicht zu verwechseln
mit der in der Criminalordnung angedrohten Geld- oder Gefängnißstrafe; letztere
gilt vielmehr als Zwangsmittel, den Ungehorsamen zur Abgabe des Zeug¬
nisses, zu nöthigen, und ist an das Maß der Strafe des §. 20 a. a. O. nicht
gebunden, hängt hierin vielmehr lediglich vom Ermessen des zum Zwange
competenten Richters oder Gerichtes ab, ohne daß im Gesetze diesem Ermessen
durch Maximalsätze der Haftdauer, des Geldzwanges oder sonst ein Anhalt,
Maßstab gegeben ist.
Die Zwangsmaßregeln der Criminalordnung gegen Zeugen fallen fort,
sobald mit der Aburtheilung der Sache ohne Vernehmung der Zeugen vor¬
geschritten ist.
Gemäß K 5 des Gesetzes vom 3. Januar 1848 und dessen weiterer Aus-
bauung in der Praxis des königlichen Obertribunals kann die Staatsanwalt¬
schaft das Gericht veranlassen, vor Eröffnung einer Voruntersuchung und vor,
Erhebung einer Anklage im sogenannten Skrutinia lverlfahren diejenigen
Ermittlungen anzustellen, welche etwa eine Voruntersuchung ermöglichen. Da¬
zu gehören auch eidliche Vernehmungen. Das gerichtliche Skrutinialver-
fahren erscheint wesentlich begründet, wenn durch Zeugenvernehmungen u. a.
Beweismittel die noch unfertigen Verdachtsgründe zu beseitigen oder soweit-
zu verstärken sind, daß sie den Antrag auf Voruntersuchung rechtfertigen.
Die oben erwähnten Fälle nun, in welchen die Redacteure der Just er-
burger Zeitung (Dr. Hagen), der Danziger Zeitung (Rickert), der
Magdeburger Zeitung (damals Dr. Hoppe) u. a. mit den erwähnten
gesetzlichen Bestimmungen in Kollision geriethen, lagen fast ausnahmlos so, daß
auf Requisition einer Verwaltungsbehörde (Militärbehörde im insterburger
Falle) an den zuständigen Staatsanwalt, und des Staatsanwalts an das zu¬
ständige Gericht im Skrutinialstadium oder noch vor diesem der betreffende
Redacteur vorgeladen und aufgefordert wurde, dem inquirirenden Richter den
Namen des Einsenders, Verfassers u. s. f. bestimmter Nachrichten, Aufsätze und
dergl. eidlich anzugeben. Nur wenige der Vorgeladenen, unter den Obigen —
wenn wir nicht irren — Rickert in Danzig, zogen es vor, die Collision mit den-
angeführten Strafgesetzen zu vermeiden, sie gaben — theilweise unter protokol¬
larischem Protest gegen ihre Vernehmung — einfach den Namen des Einsenders
an. Die überwiegende Zahl der bedrohten Redacteure erachteten es „zum
Nutzen aller Staatsangehörigen und zum Heile der hierbei gefährdeten Presse
für nothwendig", lieber ihr Vermögen und ihre persönliche Freiheit aufs Spiel
ZU setzen, als einem nach ihrer und Vieler, auch sehr berühmter Juristen Ansicht
unbegründeten Verlangen der Staatsbehörde sich zu fügen. Sie sahen durch
das Vorgehen der letzteren die gedeihliche Wirksamkeit der Presse vor allem
bedroht, da der Zeugenzwang gegen Redacteure die Mitarbeiter eines Blattes,
einer Zeitschrift völlig blos stellte und so der schon durch das Preßgesetz genug
umdrohten Presse ihre sichersten und reichsten Hilfsquellen abzugraben im
Stande war. So verweigerten sie die geforderte Auskunft und büßten mit
härterem oder milderem Geld- und Gefängnißzwang.
Wendet man obige Gesetzesvorschriften auf diese Fälle an, so ergiebt sich,
daßj hier keine Vernehmung eines Angeklagten oder nur Beschuldigten, sondern
eine eidliche Zeugenvernehmung sei es auf bloße Requisition, vor begonnenen
oder beabsichtigten Skrutinialverfahren, sei es in diesem Verfahren vorliegt.
Das folgt schon aus dem, was oben betreffs der Vernehmung des Ange¬
schuldigten gesagt ist. Aber die Vorgeladenen unterstützten ihre Weigerung
damit, daß sie darauf verwiesen, es liege in ihrem Falle gar keine strafrecht¬
liche Untersuchung, Voruntersuchung, ja überhaupt kein Anfang irgendeines
Strafverfahrens vor. Dieser Einwand ist hinfällig. Ganz abgesehen von weiteren
Erörterungen, welche die Hinfälligkeit darthun, muß berücksichtigt werden, daß
die Staatsanwaltschaft das Gericht um Vernehmung des Redacteurs requirirte.
Bei Erledigung der Requisition hat das Gericht gar nicht die Zweckmäßigkeit
der beantragten Vernehmung zu prüfen; nur. wenn diese ungesetzlich wäre oder
dem Gerichte außerhalb der Grenzen seines Amtes zu liegen schiene, dürfte es
die Vernehmung verweigern. Daß erstens in der Vernehmung an sich vor
dem Beginn, oder nur vor gehegter Absicht eines Skrutinialvcrfcchrens keine
Ungesetzlichkeit liegt, erweisen schon §. 4—7 des Gesetzes vom 3. Januar 1849
über die Rechte und Pflichten der Staatsanwaltschaft. Ob die Gründe, die
Zwecke der Requisition Seitens der Verwaltungsbehörde gesetzlich seien, ob
insbesondere nach den Straf- oder Disciplinargesetzen irgendeine strafbare
Handlung der erforschten Person vorlag, hatte das vernehmende Gericht gar
nicht zu prüfen. Denn an dieses war nur die Requisition der dazu — wie
gezeigt — berechtigten Staatsanwaltschaft gekommen, nicht die der Verwal-
ungsbehörde, und seine Prüfung, ob Grund und Zweck solcher Requisition ge¬
setzlich, ist eben eine unstatthafte Prüfung der Zweckmäßigkeit- der Requisition.
Eine Ueberschreitung zweitens der Amtsfunctionen des Gerichtes lag in keinem
der behandelten Fälle vor; daß die requirirte Vernehmung ihrer formellen
Seite nach dem Gerichte zukam, ist erwiesen.
War die Requisition auch in materieller Hinsicht gesetzlich? Die Vorge¬
ladenen begründeten ihre Weigerung mit der Unbestimmtheit der Sachlage,
über die sie aussagen sollten. Wohl mochte das Vergehen, dem man auf der
Spur zu sein glaubte, vielfach unbestimmt in seiner Natur, zweifelhaft in seiner
Existenz sein, zumal wo es sich nur um eine mögliche Disciplinarsache handelte;
aber die dem Zeugen vorgelegten Fragen lauteten sehr bestimmt, so vornehm¬
lich, wer der Einsender, der Verfasser des straffälligen Artikels, der indiscret
veröffentlichten Nachricht sei.
In nicht wenigen Fällen verwiesen die Zeugen darauf, daß sie, wenn sie
der gerichtlichen Aufforderung nachkamen, sich selbst einer strafbaren Handlung
schuldig bekennen würden. Sie selbst mochten die Verfasser der fraglichen ZeiKn
sein; sie mochten den Einsender zur Sendung bewogen, ihm dabei geholfen
haben; sie hatten jedenfalls seine Sendung veröffentlicht und damit etwa ein
Preßvergehen oder Preßverbrechen begangen u. a. in. Bei diesen Fällen beriefen
sie sich dann auf die Gcneralfragen, die jedem Zeugen vorzulegen, ehe er seine
Aussage zur Sache abgiebt, und zeigten, daß sie die wesentliche Frage §. 319
Ur. 2 der Criminalordnung, ob sie beim Ausgang der Untersuchung Schaden
zu befürchten hätten, mit Ja beantworten müßten, daher nicht in der Sache
selbst zeugen dürften. Allein die Richtigkeit dieses Einwandes müssen die
Zeugen genau erweisen — sonst wäre die ganze Zeugenpflicht illusorisch —
und so auch beschwören. Thaten sie dies in den besprochenen Fällen, so gaben
sie offenbar damit, was sie gerade vermeiden wollten, schon eine Antwort in
der Sache selbst, sie mußten eben bezeugen und beschwören, daß sie drr
Verfasser, oder wenn sie bei der Einsendung geholfen, wessen Mitschuldige
sie seien. stützten sie sich aber auf das in dem Artikel enthaltene Preßvergehen,
so half und hilft ihnen der Einwand nur, falls solch Vergehen wirklich in dem
Artikel enthalten ist! doch selbst dann dreht sich ja die Vernehmung noch gar
nicht um dieses Vergehen, sondern um den Namen des Einsenders, welchen
man vielleicht wegen indiscreter Veröffentlichung der Schriftstücke u. a, zunächst
lediglich disciplinarisch fassen will, — eine Mitschuld liegt hier also nicht vor.
Der vorn erörterte Grundsatz, daß die Angeschuldigten oder künftig Anzuschul¬
digenden sieht Zeugenfunctionen in ihrer eigenen Strafsache verrichten können,
bleibt also bestehen, hilft aber den Vorgeladenen nicht oder kaum zu ihrer
Weigerung des Zeugnisses.
, Hiernach scheint das Vorgehen mit den genannten gerichtlichen Zwangs
Mitteln gegen die widerspenstigen Zeugen gesetzlich völlig gerechtfertigt. Wendet
man jene Mittel an, so ist die oben ausgeführte Entscheidung des königlichen
Obertribunals begründet, daß das Gesetz dieselben ohne ein festes Maß gestattet,
also in unbegrenzter Dauer, je nach dem Ermessen des zuständigen Richters
oder Gerichtes, und daß nur nach Aburtheilung der Sache ohne Vernehmung
der Zeugen die Zwangsmaßregeln fortfallen müssen. So sagt denn, gestützt
auf eine Reihe von Entscheidungen des höchsten Gerichtshofes, der Ober-
staatsanwalt beim königlichen Obertribunal, Oppenhoff, der ausgezeichnete
Kenner des preußischen Strafrechtes und Strafprocesscs, auch bedingungslos:
»Kein Gesetz entbindet einen Zeitungsredactcur von der Pflicht, auf Erfordern
des Richters die Korrespondenten seines Blattes namhaft zu machen." Und
das Abgeordnetenhaus in seiner Sitzungsperiode von 1862 nahm, geleitet
von den oben berührten Gesichtspunkten über die Gefährdung der Presse durch
den Zeugenzwang der Redacteure, einen von der betreffenden Commission vor¬
geschlagenen neuen Gesetzentwurf als Ergänzung der Strafprvceßgesetze und
des preußischen Preßgesetzes dahin an, daß der Zeitungsredacteur zur Nennung
der Korrespondenten seines Blattes gegenüber dem Gerichte nicht verpflichtet
und hierin von den Zwangsmaßregeln gegen Zeugen auszunehmen sei. Dieser
Entwurf war natürlich todtgeboren, Herrenhaus und Regierung verwarfen ihn.
Die Zwangsmaßregeln gegen die Redacteure blieben aber mit ihrer ganzen Kraft
in unbeschränkter Anwendung.
Eben die Kraft, die Strenge in der über Jahresfrist, ja principiell un¬
begrenzt ausgedehnten Gefängnißstrafe gegen die rennenden Zeugen erregte
den Zorn und Eiser der gegenwärtigen Autoritäten des Strafrechts in der
Wissenschaft und vielfach auch in der Praxis, vornehmlich in der außerpreußischen.
In wissenschaftlichen Aufsätzen, in Gutachten, in Artikeln der Tagespresse traten
sie gegen solchen Zeugenzwang aus. Doch fußte ihre Polemik wesentlich in der
dem neunzehnten Jahrhundert fremden Härte des Zwanges, die hier geübt sei;
sie zeigten ferner, daß die Frucht der langen Dauer des Zwanges nicht in
richtigem Verhältniß stehe zu der dabei unvermeidlichen Verzögerung der Unter¬
suchung, ebenso wenig zu dem beabsichtigten Zwecke der Repressivmaßregeln,
nämlich zur endlichen Bekundung des Verlangten durch den Zeugen, und
konnten hier um so entschiedener auf ein möglichst kleines Maß des Zwanges
dringen, als, wie gezeigt, das Gesetz die Grenze des Zeugenzwanges lediglich
dem Ermessen des zuständigen Richters anheimstellte; sie wiesen endlich auf
außerpreußische Rechte, welche nur einen äußerst milden, sehr begrenzten Zeugen¬
zwang entsprechend dem criminalistischen Geiste der Gegenwart ^gestatteten.
Auf diesen Wegen konnten sie daher nur mittelbar den bedrängten Zeugen
helfen, indem sie allmälig das Feld urbar machten für eine in diesem Punkte
mildere preußische Gesetzesreform. Aus dem preußischen Rechte selbst entwickelten
sie nicht das etwa Ungesetzliche in den Zwangsmaßregeln der Gerichte; die
Richter mußten also auch nach ihrer Ansicht so vorgehen, wie sie vorgingen, und
sollten höchstens die unbeschränkten, verhängnißvollen Worte der Criminal-
ordnung „durch Geld- oder Gefängnißstrafen" auf ein sehr kleines Maß ent¬
sprechend unsrer Zeit eingrenzen. Ueber letzteren Punkt ist hier nicht weiter zu
sprechen, da er die hier allein untersuchte Frage, ob der Zeugenzwang gegen
die Redacteure gesetzlich, mit Ja beantwortet schon zur Voraussetzung hat.
Der Entwurf der neuen Strafproceßordnung legt, wenn die Wahr¬
scheinlichkeit einer begangenen strafbaren Handlung sich zeigt, jedem im Staate
die Zcugenpflicht vor Gericht auf, außer wenn er über Umstände zeugen soll,
die ihn selbst als strafbar erscheinen lassen u. a. i§- 166 ff.) Hinsichtlich der un¬
gehorsamen Zeugen unterscheidet der Entwurf dann, wie oben §. 20 des Gesetzes
vom 3. Januar 1849 gegenüber der Criminalordnung. die gehörig vorgeladenen,
doch grundlos ausgebliebenen von den erschienenen, die grundlos Zeugniß oder
Eid verweigern. Die Strafe der Ersteren ist erhöht auf 50 Thlr. Geldbuße
oder verhältnißmäßige Gefängnißstrafe. Ueber die Letzteren (unser Fall) ist
bestimmt: 1) In polizeigerichtlichen Strafsachen wird gegen den Zeugen eine Geld¬
buße bis 50 Thlr. eventuell verhältnißmäßige Gefängnißstrafe festgesetzt und ein
neuer Termin anberaumt. Verharrt er in diesem bei der Weigerung, so tritt die
Folge Ur. 2 ein. 2) In allen andern Strafsachen wird der Zeuge ins Ge¬
fängniß gebracht „bis zur erfolgten Erfüllung seiner Zeugenpflicht", doch
kann das Gericht auch zuvor die Strafe von Ur. 1 dem Zeugen auflegen und
erst bei fortgesetzter Weigerung letzteren Zwang eintreten lassen. Die Zwangs¬
haft kann zu jeder Zeit wieder aufgehoben werden; sie muß es nach sechsmonat¬
licher Dauer, bei Verbrechen nach einem Jahr, bei den mit 10 Jahren Zucht-
Haus bestraften Verbrechen nach zwei Jahren. Sie hört selbstverständlich auf.
wenn der Zeuge seiner Zeugenpflicht nachgekommen ist. — Eine lange Anmerkung
hierzu giebt die Motive der wesentlichen Aenderung. Es wird der Unterschied
der Strafe und des Zwangsmittels gegen Zeugen — wie er oben schon be¬
rührt worden — dargelegt, die erstere erkenne der ordentliche Richter des
Zeugen demselben zu, das letztere wende der die Untersuchung führende Richter
an. Diesem Richter könne nicht mitten in seiner Untersuchung durch den
Eingriff des ordentlichen Richters die Gewalt über den Zeugen entzogen werden,
zumal wo der Zeuge vor dem Schwurgerichte. dem Appellationsgerichte fungire.
während der ordentliche Richter ein Gericht erster Instanz sei. Das Vorgehen
gegen den widerspenstigen Zeugen könne nur eine Zwangsmaßregcl, nicht eine
Strafe sein. Als Zwangsmaßregel dürfe sie sich nicht auf Geldbußen beschränken,
sonst setzte der reiche Verbrecher, der die Zwangsgelder der Zeugen seines Pro¬
cesses leicht bezahle, das Strafgesetzbuch sich gegenüber außer Kraft. Eine
mähige Geldbuße dem eigentlichen Zwangsmittel vorauszuschicken, sei in Ur. 1
des §. 169 gestattet und selbst in Ur. 2 bei Sachen geringerer Wichtigkeit. Das
Zwangsmittel aber bleibe allein die Gefängnißhaft. Ueber die Dauer der Haft
entscheide das richterliche Ermessen, ebenso wie über die Anwendung derselben
überhaupt, je nach dem Verhältniß des Hafterfolgcs zur Verzögerung der Unter¬
suchung und des Charakters der Strafe zu dem des Repressivmittels. Einen
Anhalt durch Grenzen der Haftdauer aber müsse dem Ermessen des Richters
das Gesetz geben. „Bei der hohen Wichtigkeit der Interessen, welche bei der
Strafrechtspflege in Frage kommen, wird es jedoch nothwendig sein, die gesetz¬
lichen Grenzen je nach der Schwere der Anschuldigung, soweit hinauszurücken,
daß der Gedanke, sich durch Abbüßung des gesetzlichen Maximums der Haft
von der Erfüllung der Zeugenpflicht zu befreien, nicht aufkommen kann. Die
Repressivmaßregeln anzuwenden, dürfe nur dem untersuchungführenden Gerichte,
nie aber einem ersuchten oder beauftragten Richter zustehn. In der Vorunter¬
suchung solle der Untersuchungsrichter jenes Recht haben, weil er nach den
Grundsätzen des neuen Entwurfs mit selbständiger Untcrsuchungsgcwalt bekleidet
'se- Er habe ja ebenso über die Untersuchungshaft zu verfügen. Stände ihm
uicht die Zwangsgewalt gegen renitente Zeugen zu, so würde seine Autorität
in sehr sinken und der Zweck der Voruntersuchung oft gefährdet werden. Im
Skrutinialverfahrcn dürfe immer nur der Richter, nicht der Staatsanwalt mit
Zwang gegen Zeugen vorgehen. Das Zeugniß könne nun da schon verweigert
werden, wo über die Person des Verbrechers, den Ort der Strafthat noch jeder
Verdacht fehle. Hier erscheine praktisch am angemessensten das Gericht als
^'ständig, in dessen Sprengel die Vernehmung erfolgen soll und das in der
"^gel mit dem persönlichen Richter des Zeugen identisch sein wird."
Also der Zcugenzwang wird ganz allgemein aufrecht erhalten. Die Redacteure
genießen — was bei dem jetzigen Regime vorherzusagen war — keine Aus¬
nahmestellung. Strafe und Zwangsmittel wollte man laut den Motiven aus¬
einanderhalten und hat sie recht ineinandergemischt, indem man ohne jeden
juristischen Grundsatz nur nach der größeren oder geringeren Wichtigkeit der
Strafsache Strafe oder Zwang anwendet, ja selbst in den wichtigen Fällen die
Vereinigung beider gestattet! (§ 169. Ur. 2.) Die Zwangsmittel sind dadurch
vornehmlich verschärft, daß sie gar nicht mehr gegen das Vermögen, nur noch
gegen die persönliche Freiheit des Zeugen sich richten — zu einer Zeit, in der
man bei andern civilisirten Nationen beginnt, der Forderung der Rechtswissen¬
schaft nachzukommen und die gerichtlichen Zwangsmittel möglichst aus das Ver¬
mögen zu beschränken. Ebenso, wie nach heute geltendem Rechte, soll das
Maß des Zwanges dem Ermessen des gemäß obigen Grundsätzen competenten
Gerichtes oder Richters anheimgestellt bleiben. Man machte einen Anlauf zur
Milde (vielleicht eine Frucht des eifrigen Diskutirens der Frage in der Wissen¬
schaft und der Tagespresse), indem man die Unbegrenztheit des heutigen Zeugen-
zwangcs durch Maximalsätze fest einschränkte, aber die Schranken sind noch
eisern, härter als die heutige fast allgemeine Praxis: 6 Monate, 1 Jahr,
2 Jahre. Und alle solche Härte, weil einmal vielleicht ein reicher Verbrecher
die deshalb nicht in den Entwurf aufgenommenen Zwangsgelder der zu seinen
Gunsten rennenden Zeugen zahlen könnte, oder weil ein geringeres Maximum
des Zwanges einem Zeugen vielleicht unbedeutend genug erschiene, um dafür
bei seiner Zeugnißweigerung zu beharren! Des reichen Verbrechers Vermögen
ist wirklich nicht zu erschöpfen? des Zeugen Trotz wirklich nicht zu brechen?
Und um so vereinzelter gesuchter Fälle willen droht nun allen Zeugen die
Härte.
Nur so viel von dem neuen EntWurfe. Auch in dem Punkte des Zeugen¬
zwanges — zumal den Redacteuren gegenüber — erweist er sich als unan¬
nehmbar, wenn auch an sich die angestrebte Begrenzung der Zeugenhast durch
gesetzliche Maximalsätzc anzuerkennen bleibt. In der Sache selbst ist den Zeugen
vor preußischen Gerichten, besonders den Redacteuren, hinan in nichts ge¬
holfen; denn der neue Entwurf der Strafproceßordnung ist ebenso todtgcboren,
als jener Entwurf des Abgeordnetenhauses, das zeigen schon die wenigen
Punkte desselben, welche diese Zeitschrift bisher ihrer Beurtheilung unterzog,
weitere Besprechungen an diesem Platze werden es außer Zweifel stellen. Und
jede neue gesetzgeberische Regung eines der drei preußischen gesetzgebenden Fac-
toren über den Zeugcnzwang des preußischen Strafprocesses wird unter dem
gegenwärtigen Ministerium denselben Erfolg, wie jene zwei Entwürfe erringen.
So stehen wir wieder und vielleicht noch lange Zeit ohne Aussicht äußerer
Hilfe auf dem strengen Boden unsers geltenden Strafprozesses, wieder und
immer wieder ertönt der Hilferuf der in ihren Grundfesten erschütterten Presse
für einen ihrer standhaften Leiter, dessen Muth der Zeugnißweigerung im Ge¬
fängnisse gebrochen werden soll und über die preußische „Zeugenzwangsjacke"
spottet bitter der Kladderadatsch, Die Masse des hin und wieder einmal für
den Gefangenen vom preußischen Volke gesammelten Geldes, und wäre sie
noch so groß, zeugt von der politischen Reife des Volkes, wahre Hilfe aber
dringt sie nicht, weder den Zeugen, noch der Presse.
Indeß in der Criminalordnung von 1806 steht noch ein gesetzlicher Anhalt
für die Gefährdeten begründet. Unter den Ausnahmen von der allgemeinen
Zeugcnpflicht nennt sie §. 313 Ur. 3: „wenn die Entdeckung eines Ge¬
heimnisses erfordert wird, durch dessen Bekanntwerden der Zeuge
in seiner Kunst oder in seinem Gewerbe einen Schaden erleiden
Würde." Es liegt auf der Hand und hat, wie erwähnt, gerade die Redacteure
zur Weigerung ihres Zeugnisses getrieben, daß ihr Preßgewerbe durch die un¬
bedingte Pflicht der Redacteure zur Nennung der Korrespondenten ihres Blattes
vor Gericht nicht blos in seiner Blüthe, sondern geradezu in seiner Existenz
«uff Aeußerste gefährdet ist. Merkwürdiger und vielleicht bezeichnender Weise
fehlt gerade diese Ausnahme der Zeugenpflicht ganz in dem neuen Ent¬
wurf der Strafproceßordnung (§§. 166. 167), ohne daß die in diesem Abschnitte
wichen Motive eine Silbe des Grundes angeben.
Der vorgeladene Redacteur muß also unter Hinweis auf obige durchaus
giltige Stelle der Criminalordnung dem inquirirenden Richter darlegen, wie
sehr er durch Abgabe des von ihm geforderten Zeugnisses in seinem Gewerbe
Schaden erleiden würde, muß dies wo möglich mit Zahlen erweisen, durch Nen¬
nung von Sachverständigen bestärken, — dann darf der Richter ihn nicht zur
Abgabe des verlangten Zeugnisses durch Geld oder Gefängnißbuße zwingen.
Diese Nachweise zwingen ihn offenbar in keiner Weise, dabei den Namen der
Korrespondenten zu nennen, wie dies bei einem oben berührten Falle sich her¬
ausstellte, vielmehr bleibt seine Darlegung rein sachlich. Ja, schon das von
königlichen Staatsanwaltschaft um die Vernehmung requirirte Gericht muß
bei der nach obiger Erörterung ihm obliegenden Prüfung, ob die Requisition
gesetzlich sei. auf Grund des §. 313 Ur. 3 der Criminalordnung die Requisition
ungesetzlich zurückweisen, da es geradezu notorisch ist. daß jeder Redacteur
durch Nennung seiner Zeitungscorrespondenten in seinem Gewerbe einen Schaden
erleidet.
So gewährt das heutige preußische Strafproceßrecht selbst noch einen Schutz
sür die Redactcure gegen den Zeugenzwang, einen Schutz,-der um so wichtiger
ist, als vorläufig ein Zusatzgesetz zu Gunsten der Redacteure in Preußen nicht
^ Stande kommen kann, und der um so stärker ist, als er den Gerichten, wie
den Zeugen das Mittel zur Abwehr des Zwanges in die Hand giebt. Nun
^ögen Zeugen und Gerichte nicht zweifelnd auf jenes Zusatzgesetz oder auf eine
höchste Auslegung der Zeugenzwangsvorschrift (§. 312 der Criminalordnung)
und des Begriffes „Gewerbe^ (§. 313. Ur. 3 ebenda) warten, sondern das
ihnen zustehende gesetzliche Recht gebrauchen, bis die umfangreiche Hilfe
eines neuen Gesetzes kommen kann und kommt.
Wie das mitunter vorkommt — zu den am wenigsten bei uns bekannten
unter unseren Nachbarn gehörten bis vor Kurzem die, welche dem Mittelpunkt
norddeutschen Lebens am wenigsten fern wohnen, und welche wir mit mehr
Recht als die meisten andern Vettern nennen dürfen: die Bewohner der nörd¬
lichen Hälfte Cimbriens. Jütland galt noch vor wenigen Jahren selbst den
Dänen der Inseln als eine Art Sibirien, sein Volk als halbbarbarisches, dort¬
hin versetzt zu werden aus dem gebildeten, feinen, freudenreichen Kopenhagen
als ein Mißgeschick nickt viel kleiner als das, welches Ovid in seinen Episteln
aus Pontus beklagt. Noch übler wo möglich war Jütland und der Jude in
Schleswig-Holstein angeschrieben. Traurige Haiden und Sümpfe, magere Kühe,
schwarze Töpfe, Holzschuhe und ein hyperboräisches Geschlecht mit unsauberen
Sitten, Plumpen Manieren und wenig entwickeltem Verstände, das ungefähr
schwebte der Menge vor, wenn die Gedanken oder Gespräche sich mit dem
Lande jenseits der Königs- und der Koldingau beschäftigten. Nur Einzelne
wußten, daß der Nachbar und Gevatter im Norden keineswegs so schlimm war
als sein Geruch, vorzüglich wenn er nicht Tabak rauchte. Im Innern Deutsch¬
lands aber richteten sich die Meisten, wenn sie ihr Vorstellungsvermögen über¬
haupt einmal über die Nordgrenze hinaus bemühten, nach der Meinung der
großen Masse in den Herzogthümern: die Juden waren halbe Wilde in einer
halben Wüste.
Schon der vorletzte Krieg mit Dänemark corrigirte diese üble Ansicht von
Land und Leuten drüben über der Grenze unsrer Nordmark mehrfach. Der
letzte that dies für Viele noch gründlicher. Bis zum fernen Skagen hinauf,
wo die Wellen der Nordsee und der Ostsee einander gute Nacht sagen, lernten
wir den Vetter im Norden kennen, wie er uns kennen gelernt hat und zwar
in einer Weise, die ebenso zu seinem wie zu unserm Frieden dienen wird. Der
Besuch war eine Lection hauptsächlich für ihn, aber in gewissem Maße auch
für uns. Er weiß jetzt, daß wir ein gutes Theil größer sind als er, wir wissen,
daß er zwar viel kleiner, auch am Verstände etwas kleiner als wir, aber weder
viel weniger gut situirt, noch weniger sauber, weniger zu allem Guten geschickt
und weniger mit der Zeit fortgeschritten ist als wir, die Bettern im Süden.
Es ist wahr, er betrug sich zuweilen nicht recht artig, aber es war patriotische
Unart, und die vergeben wir ihm. Nur wird er sich künftig friedfertiger auf¬
führen müssen, und dazu ist, da er im Grunde ein gutmüthiger Kumpan und
gar nicht aufs Raufen erpicht ist, wenn ihn die Kopenhagener nicht Hetzen, alle
Hoffnung vorhanden. Der Vetter Jude wird jetzt, nachdem Frieden gemacht
ist, die weitere Erfahrung gewinnen, daß auch wir im Allgemeinen nicht so
übel sind, als die Demagogen auf den Inseln ihm vorredeten. Er wird mit
uns verkehren, mit uns Handel treiben und ein guter rechtschaffener Nachbar
werden. Wir aber wollen ihn nicht verachten, und da die bisherige Gering¬
schätzung wesentlich auf Unkenntniß, aus Vorstellungen nach bloßem Hörensagen
beruhte, so wird es nützlich sein, dazu beizutragen, daß die durch den Krug
als Nebensache, gewonnene Bekanntschaft mit ihm allgemeiner werde.
Schon früher versuchte daher d. Bl.. seines Namens eingedenk, durch eine
Botschaft von der Nordgrenze einige ungünstige Vorurtheile, die über Jütland
und die Juden herrschen, zu beseitigen oder doch zu mildern. Heute sei es ge¬
stattet, diesen Versuch fortzusetzen. Im Folgenden benutzen wir eine uns zu
Auszügen überlassene, dem Druck entgegensehende Arbeit eines preußischen
Offiziers, der sich theils durch Augenzeugenschaft, theils durch umfassende Studien
mit dem Lande und seinen Bewohnern, wie sie heutzutage sind, vertraut ge¬
wacht hat*), um beide und namentlich die letzteren etwas genauer als früher zu
charakterisiren.
Das östliche Jütland ist bis über den Limfjord hinauf, bis in die Gegend
von Frederikshavn nichts weniger als eine Wüste, im Gegentheil ganz so gut
geeignet zu behaglicher Ansiedelung, stellenweise sogar besser als Holstein und
Schleswig. Anmuthige, mit Buchenwald bedeckte Hügel wechseln hier ab mit
fruchtbaren Feldern, zahlreiche Bäche winden sich durch grünes Wiesenland,
stattliche Bauernhöfe zeugen von dem Wohlstand ihrer Besitzer, vortreffliche
Chausseen verbinden die verschiedenen Seestädte mit einander, die an Nettigkeit
und Sauberkeit den holsteinischen und schleswigschen in nichts nachstehen. Fast
überall vorzügliche Bodencultur, beinahe allenthalben, besonders auf den Tief¬
ebenen an der See, die früher Meeresboden waren, die äußerste Fruchtbarkeit,
welche das auf Bracher wuchernde Unkraut oft bis zu einer Höhe von 6 bis 6 Fuß
emporschießen läßt. Nach Westen hin hört dies überall auf, und auch im
Osten giebt es sterile Stellen, so vor allem auf der Halbinsel Grenaa, nördlich
von Kais und Ebeltoft, wo der dürre Erdboden nicht einmal Haidekraut her¬
vorbringt, und zwischen Säby und Skagen, wo die Cultur ganz ein Ende
nimmt und der Weg durch die reine Sandwüste führt.
Die Westküste ist beinahe allenthalben mit Flugsand bedeckt und schwach
bewohnt. Von Bäumen keine Spur, wenn man die Umgebung des einen
und des andern Städtchens ausnimmt, und es giebt hier nicht wenige Men¬
schen, die Bäume entweder gar nicht oder nur auf Bildern gesehen haben.
Das Mittel- oder Rückenstück Jütlands besteht größtentheils aus Haide-
und Moorland. Hat man, von der Ostküste kommend, die Hügelkette über¬
schritten, durch welche sich die Gudenaa schlängelt, so befindet man sich sofort
in einer andern Gegend. Hier Sandflächen, von denen der Wind gelbliche
Wolken über die benachbarten Getreidefelder hintreibt, dort weitgedehnte schwarze
Sümpfe, dort wieder Ebenen, bedeckt mit mächtigen Feldsteinen. Nur bisweilen,
wo ein Fluß oder Bach sich durch das Land windet, eine fruchtbare Niederung
mit Dörfern, Wiesen und Aeckern, Weiterhin nach Westen, ii, der Richtung
auf Varde. Viborg und Holstebroe ziehen sich endlose Haidestrecken, die Tay-
die Abt-, die Grathe- und die Standbölhaide in der Richtung nach der Nord-
seeküste hin. bis der dort aufgeschichtete reine Sand nicht einmal dem Haide-.
kraut Nahrung bietet. Und wie hier, südlich vom Limfjord, ist es auch im
Norden, im sogenannten Vendsyssel. Dort zieht sich in der Entfernung von
durchschnittlich zwei Meilen von der Ostküste der fast überall mit Haidekraut
bedeckte „jüdische Aas"*) von Süden nach Norden hinaus, westlich von dem¬
selben folgen große Sümpfe und einige Landseen, dann an der Nordsee Sand¬
ebenen und Dünen.
Während Jütland in alten Zeiten ebenso wie die Herzogtümer ungeheure
Wälder gehabt zu haben scheint, hat es heutzutage fast nur kleine Gehölze,
und im Innern finden sich Waldpartien von einger Ausdehnung nur bei Silkeborg
und in der Mitte zwischen Hobroe und Aalborg. Die Bäume sind meist
Buchen, denen hin und wieder Eichen und Birken beigemischt sind. Die West¬
hälfte des Landes hat, wie bemerkt, fast gar keinen Baumwuchs. Die einzige
Abwechslung, welche auf dem Rückenstück der Halbinsel dem Auge geboten ist,
sind kleine und große Landseen, die indeß mit ihren todten, baumlosen und
meist nur mit rostfarbenem Haidekraut bewachsenen Ufern einen melancholischen
Eindruck machen. Die Wasserscheide liegt in Jütland der Ostküste naher als
der Westküste, und, so haben die jener zustrebenden Flüsse einen kürzeren Lauf
als die, welche der Nordsee zufließen, dagegen sind jene wasserreicher als diese,
welche im Sommer nur bei anhaltendem Regen zu ansehnlicher Größe an¬
schwellen und dem Einfluß der Ebbe und Fluth unterworfen sind. Der größte
Fluß Jütlands ist die bereits erwähnte Gudenaa, die in der Nachbarschaft von
Vene entspringt, sich in nördlicher Richtung durch Hügelketten hindurchwindet,
dann durch die großen Binnenseen von Skanderborg geht und, nachdem sie in
der Nähe von Silkeborg für flache Pramen schiffbar geworden, sich dem Meer¬
busen von Räubers zuwendet. Sie hat einen Lauf von etwa 26 Meilen Länge.
Das Klima ist in Jütland schon sehr rauh, vorzüglich auf der Seite nach
der Nordsee hin, wo die scharfen Westwinde dem Pflanzenwuchs verderblich
werden, wogegen die Osthälfte durch den Höhenzug in der Mitte des Landes
gegen jenes Uebel mehr geschützt ist. Der Frühling ist allenthalben kühl,
naß und stürmisch, der Sommer gewöhnlich nur mäßig warm; doch hat man
schon 27 V« Grad Wärme erlebt. Der Herbst bringt in der Regel wieder viel
Regen und Wind. Die Winterkälte ist selten bedeutend, und der Schnee bleibt
sehr selten lange liegen.
Unterirdische Schätze natürlicher Art besitzt Jütland wie ganz Dänemark
und der größte Theil der norddeutschen Tiefebne, deren Ausläufer die cimbnsche
Halbinsel ist, fast gar nicht. Metalle fehlen ganz, und von andern Mineralien
finden sich hier nur Kalk, Kreide und Mergel. Dagegen giebt es fast überall
große Lager von Torf, der in der Mitte und im Westen des Landes das aus¬
schließliche Brennmaterial ist.
Von großem Interesse für die Kunde der Vorzeit sind die zahlreichen
Hühnengräber, Erdvufwürfe von halbkugelförmiger Gestalt, von denen die
kleinsten 8 bis 12 Fuß hoch sind und unten am Boden einen Umfang von
30 bis 40 Fuß haben. Man trifft sie besonders in der Landesmitte in Menge
an, bald einzeln, bald in Gruppen, zuweilen in langen Ketten. In Holstein
und Schleswig, wo deren früher ebenfalls sehr viele waren, sind die meisten
jetzt vom Pfluge zerstört. In Jütland meint der Volksglaube, daß diese Grab¬
hügel, die oft mitten in Ackerstücken liegen, nicht abgetragen werden dürften,
weil von ihnen die Fruchtbarkeit der Felder abhängig sei oder, wie alte Leute
wissen wollen, weil in ihnen das „Bergvolk", d. h. das Volk der Erdwichtel
Hause, und so werden sie vom Pflüger meist sorgfältig umgangen. Sie sind
gewöhnlich mit grünem Rasen oder in unfruchtbaren Strichen mit Haidekraut
bedeckt. Oeffnet man sie, so findet sich in gleicher Höhe mit dem Boden der
Umgebung ein kreisrunder Raum, der mit großen Feldsteinen eingeschlossen und
mit größeren Steinplatten bedeckt ist, und der etwa vier Fuß Durchmesser hat.
In demselben steht dann eine Urne von gebrannter Erde mit der Asche von
Menschenknochen, ringsherum liegen Waffen und Werkzeuge, gewöhnlich von
Stein, besonders von Feuerstein, bisweilen auch von Metall, mitunter selbst
goldne Schmuckgegenstände. Eines der größten dieser Hühnenbetten ist der
Hügel bei Vene, in welchem die Sage Gora den Alten begraben sein läßt, und
welcher vor einigen Jahr-en auf Veranlassung der Regierung untersucht wurde.
Ueber die Bewohner Jütlands möge der Verfasser unsrer Schrift mit eigenen
Worten berichten.
„Nachdem Jütland mit dem Inselreiche vereinigt war, enthielt Dänemark
nach den ältesten Nachrichten 191 Harden (Bezirke), wovon jede aus 120 Ge¬
höften bestand und 120 Mann zum Küegsheere zu stellen hatte. Mehre
Harden bildeten einen Syssel, deren in Jütland nördlich von der Königsau
11, südlich von derselben 3 lagen. Hiernach und mit Rücksicht auf andere Ver¬
hältnisse hat Professor Velschow in seinen Untersuchungen über die dänische
Kriegsverfassung zur Zeit Waldemars des Zweiten die Volksmenge des ganzen
dänischen Reiches mit Ausnahme der Provinzen Schonen, Bleking und Halland,
welche heute zu Schweden gehören, zu Anfang des siebenten Jahrhunderts,
auf 200,000 Freigeborne und 160 bis 200,000 Leibeigene, zusammen etwa
auf 366,000 Menschen berechnet. Bei den, wie es scheint, bis ins neunte Jahr¬
hundert ruhig gebliebenen Verhältnissen des dänischen Volkes ist die Einwohner¬
zahl schon bis auf eine Höhe von 8 bis 900.000 Menschen gestiegen, im zehn¬
ten Jahrhundert aber durch große Auswanderungen wieder gesunken. Im drei¬
zehnten Jahrhundert hat Dänemark eine außerordentlich starke Bevölkerung
aufzuweisen; die Einwohnerzahl soll mit Einschluß des Stiftes Schleswig bereits
1,200,000 betragen haben, eine Zahl, welche bei der Volkszählung vom Jahr
1769 für Dänemark, Schleswig und Holstein zusammen nur um 112,306 Köpfe
übertreffen wurde. Bei letzterer Volkszählung stellte sich die Einwohnerzahl
von Jütland auf 367,414, wovon 36,716 Köpfe auf die Städte. 321,698 aus
die ländliche Bevölkerung kamen. Im Jahre 1801 zählte Jütland 389.378
Einwohner. 1834 626.942. 1840 648.698. 1846 576,882. 186S 646.237, so
daß im Durchschnitt im Jahre 1866 auf der Quadratmeile 1403 Menschen
lebten, was Jütland als den am schwächsten bevölkerten Theil des Königreichs
Dänemark erscheinen läßt. Denn von den anderthalb Millionen Einwohnern
des Königreichs leben auf Seeland im Durchschnitt 40S8 auf der Quadratmeile
(Kopenhagen abgerechnet 2980), auf Bornholm 2714, auf Fünen 3262, auf
Lolland und Falster 2772.
Diese geringe Bevölkerung von Jütland hat wohl darin seinen Grund,
daß dieses Land, wenngleich von Dänemark in den letzten Decennien keines¬
wegs vernachlässigt, doch vom übrigen Europa mehr oder weniger unbeachtet
geblieben ist. Die Versuche der dänischen Regierung im vorigen Jahrhunderte,
die jütischen Haidelcinder durch deutsche Ansiedler zu bevölkern, sind fast gänz-
lich gescheitert. Doch trifft man heutzutage unter den ländlichen Grund¬
besitzern in Jütland ziemlich viele Deutsche, welche, meist aus Holstein und
Meklenburg gebürtig. oft mit Glück die Haide in fruchtbares Ackerland umzu¬
wandeln versuchen.
Im Allgemeinen leben die Juden ziemlich abgeschlossen von der Welt, und
nur die Bewohner der ostjütischen Küstenstädte stehen in einem regeren Verkehr
mit den Inselbewohnern. Selten trifft man einen Juden. der weiter gewesen
ist, als nach Kopenhagen oder nach Hamburg. Ist einer einmal weiter hinein
nach Deutschland gekommen, so hat er in der Regel die sächsische Schweiz besucht.
Diese Abgeschlossenheit hat auch die jüdische Bevölkerung im Großen und
Ganzen rein und unvermischt und in ihr einen einfachen, biederen, ehrlichen
Charakter erhalten, der dem Fremdling überall entgegentritt. Wir finden in
Jütland noch die altgermanischen Gestalten', wie sie uns der erstaunte Tacitus
beschreibt, die großen Leute mit den blonden Haaren und den blauen Augen.
Die Männer zeichnen sich im Allgemeinen nicht durch Schönheit der Formen
aus; dagegen hat die Natur die Gaben der Schönheit und der Anmuth in
reicher Fülle an die Töchter Jütlands vertheilt. Die „schmucken Pigen" von
Jütland mit ihren feinen Gesichtszügen, ihrem natürlichen Ausdruck, ihren ein¬
sanken, gefälligen Manieren, ihrem schönen Gange und ihrer geschmackvollen
Kleidung werden noch manchem Soldaten der alliirten Armee lange im Ge¬
dächtniß bleiben.
Es ist aber überall in Jütland ein großer Unterschied zwischen den Be¬
wohnern der Städte und denen des Landes bemerkbar. Schon die Figur der
Menschen ist verschieden. Während der Bauer in der Regel hochgewachsen,
schmal, hochschulterig und eckig ist, hat der Stadtbewohner meist nur eine
mittlere Größe, ist wohlbeleibt und zeigt körperliche Gewandtheit. Die jütischen
Städterinnen zeichnen sich fast durchgängig durch die erwähnten Eigenschaften
der Schönheit und der Anmuth aus; die Landbewohnerinnen sind aber wieder
außerordentlich verschieden. Im südlichen Jütland, von der Königsau bis
Horsens sind auch aus dem Lande die Mädchengesichter meist schön; je weiter
man aber nach Norden kommt, desto mehr nimmt die Gefälligkeit der Formen
ab, und schon hinter Nauders kann man das ländliche Frauengeschlecht gerade¬
zu als häßlich bezeichnen. Die Bauermädchen haben auch im Uebrigen gegen
die Städterinnen noch den Nachtheil, 'daß sie einen zu glatten und steifen
Körperbau zeigen und einen schwerfälligen, langsamen Gang haben, Eigen¬
schaften, die sie auch mit den männlichen Landbewohnern theilen. Trotz des
Turnunterrichts in den Dorfschulen kann selten ein Knecht auf ein Pferd sprin¬
gen. Man findet daher häusig in den Bauerhöfen Pfähle in der Erde stecken,
die etwa 2 Fuß über den Boden emporragen, und auf welche die Knechte treten,
um sich auf die Pferde zu schwingen. Der Gang der Bauern wird so schwerfällig
dadurch, daß sie von Kindheit an Holzschuhe tragen; ihr Oberkörper ist gewöhn-
lich nach vorn geneigt und die Arme hängen, etwas nach innen gekrümmt, sonst
aber steif vorn herunter. Besonders auffallend ist aber die Körperhaltung eines
jütischen Bauern beim Stehen, denn ein Bauer steht genau so da, wie der
andere; selten wird man hierin eine kleine Variation finden. Stets hat er die
Beine weit auseinandergesperrt und die Hände in den Hosentaschen, so daß die
ungelenken Arme zwei Topfhenkeln gleichen.
Was die Kleidung der Juten betrifft, so ist dieselbe die eines durchgehends
wohlhabenden Volkes. Von großem Luxus in den höheren Ständen ist nicht eben viel
zu bemerken; dagegen ist bis in die niedrigsten Stände hinab Sorgfalt und
Geschmack in der Kleidung erkennbar. Niemals wird man Leute antreffen, die
zerrissene Kleidungsstücke trügen oder Schuhe und Strümpfe für entbehrlich
hielten. Nationaltrachten sieht man im Süden und in der Mitte von Jütland
fast gar nicht. Nur wollene Kleider und die Holzschuhe find die durch die
rauhe Witterung und das sumpfige Erdreich gebotenen nationalen Kleidungs¬
stücke*). In nördlicheren Gegenden trifft man noch gelegentlich einen Bauer
mit kurzem Rock und blanken Knöpfen, mit schwarzsammtnen Kniehosen und
hohen weißen Strümpfen. Zieht er einmal die Holzschuhe aus. so trägt er
schwarze Schuhe mit silbernen Schnallen. Die Kopfbedeckung des Bauern ist
in ganz Jütland der schwarze Cylinderhut. den er auch häufig in der Stube
nicht einmal ablegt. Noch seltener sieht man weibliche Nationaltrachten; nur
in einzelnen Gegenden hat sich eine eigenthümliche weiße Haube mit großen
Flügeln nach beiden Seiten erhalten. Dagegen haben sich Bewohnerinnen
der Insel Lass eine nationale Kleidung bewahrt, die aber so kostbar ist, daß
sie wohl nur selten angelegt wird. Das weite schwarzseidene Kleid ist mit
rosetten- oder münzenartigen silbernen Verzierungen an der Brust herunter und
unten herum reich besetzt. Um Kopf und Hals wird ein großes weißes Tuch
mit feinen Kanten gelegt, aus welchen nur das Gesicht hervorsteht. Unter
dem Tuche hängen Halsgeschmeide auf die Brust herab.
Die gewöhnliche Kleidung der Landbewohnerinnen sind lange, wollene
Röcke, Mieder mit langen Aermeln. die häusig von rother Farbe getragen
werden, helgoländer Hüte und Holzschuhe. Bei der Arbeit tragen sie in der
Regel hohe, auch die Brust bedeckende, weiße Schürzen und ziehen Leinwand¬
ärmel über. Die Kleiderstoffe sind häusig von den Jüdinnen von Grund aus
selbst angefertigt. Dieselben spinnen die Wolle, färben das Gespinnst selber
und weben dann die Stoffe.
Die Wohnungen der Juden sind meist einfache Gebäude. Architektonisch
schöne Gebäude sieht man selten, und nur die wenigen alten Rittersitze machen
hauptsächlich durch ihr Alter und durch ihre Größe einen imponirenden Ein-
druck. Die Häuser in den Städten haben nur ein, höchstens zwei Stockwerke,
'sind fast alle alt und werden in der Regel nur von einer Familie bewohnt.
Aus 'neuerer Zeit sind fast nur die öffentlichen Bauten, von welchen besonders
die Schulen in die Augen fallen. Dagegen . wohnt der Jute gern bequem,
und die weitläufigen Wohnungen sind in den Städten fast durchgängig, selbst
bei den schlichtesten Leuten gut, häufig sogar luxuriös ausgestattet. Besonders
gut nehmen sich die Wände aus, die man in vielen Wohnungen mit dunkel¬
grüner oder rother Oelfarbe angestrichen findet. Von diesem Hintergrund heben
sich denn dann die Statuen, durchgängig Nachbildungen thorwaldsenscher Kunst¬
werke, für welche der Däne eine große Verehrung und Vorliebe hat, vortrefflich
ab. Von sonstigen Zimmerdecorationen findet man besonders Stiche nach den
cxnerschen Bildern aus dem Leben der dänischen Seeleute. Außerdem hängen
überall Portraits des Königs.Friedrich des Siebenten und sonst wohl auch die dänischen
Dichter Oelenschläger und Andersen, ihr größter Künstler Thorwaldsen und
die Schauspielerin Heiberg, von deutschen Portraits der große Preußcnkönig Friedrich
der Zweite und Goethe. Die Möbel entsprechen allen Anforderungen der Bequem¬
lichkeit; eine besondere Vorliebe scheinen die Juten für Gasbeleuchtung in den
Zimmern zu haben. Flügelinstruinente sieht man selten, die Klaviere sind in der Regel
altmodisch und mangelhaft. Ueberhaupt scheint die Musik die Kunst zu sein,
Welche in Dänemark am weitesten zurückgeblieben ist. Von Büchern bemerkt man
bei den Juden außer dänischen vorzugsweise deutsche, da fast jeder gebidete
Jute der deutschen Sprache vollkommen mächtig ist. Zur Aufbewahrung von
Hüten und Mänteln pflegt der Flur benutzt zu werden, und niemand braucht zu
fürchten, daß sich durch die stets offen stehende Hausthür jemals ein Dieb ein-
schleichen werde. Bei dem allgemeinen Wohlstande und den vortrefflichen Armen-
Gesetzen ist der Diebstahl ebenso selten, ja man könnte fast sagen ebenso unbekannt,
wie die Bettelei.
Auf dem Lande sind die Wohnungen sehr verschieden. Die alten Häuser
sind häufig von Bindwerk aufgeführt und an den Pfosten und Balken roth
angestrichen; doch sind in den wohlhabenden Gegenden die Gebäude meist in
den letzten zehn oder zwanzig Jahren neu erbaut, aber auch bei den Neubauten hat
sub der Bauer von dem Strohdach nicht trennen können. In den fruchtbaren
Küstenlandschaften bilden die Bauerhöfe meist zusammenhängende Dörfer, in
^r Mitte des Landes aber und überhaupt in den Haidegegenden liegen die
Gehöfte meist vereinzelt. Der Grundcharakter der Bauernhöfe ist die Form
unes Vierecks. Die Seite nach der Straße zu enthält die Einfahrt und zu
beiden Seiten Scheunen; gegenüber liegt das Wohnhaus, und die beiden Ver-
bindungsgebäudc enthalten die Ställe und die Gesindewohnungen. Diese Bau-
hat den Nachtheil, daß die Sonne selten in die Wohnungsräume eindringen
^um, die daher sehr oft feucht und dumpfig sind. Aber überall findet man
auch in den Bauerwohnungen viele Räume; oft hat ein Bauer zwei, auch drei
Stuben, die leer stehen und wohl nur selten benutzt werden. Für seine Person braucht
der Bauer nicht viel Platz, da die Schlafräume in der Regel nischenartig in
die Wände der Wohnstube eingemauert und mit Schiebethüren oder Gardinen
verschlossen sind. Diese Betten sind sehr geräumig und werden vom Bauer nicht
blos bei Nacht, sondern auch bei Tage benutzt, da sich derselbe nach dem Mittagessen
stets zwei Stunden zu Bett legt. Das Institut der Bettüberzüge ist in Jütland
nicht sehr verbreitet. Man bedient sich statt derselben zweier Laken, von denen das
eine über das ganze Bett gebreitet, das andere um das schwere, wollene Deck¬
bett herumgelegt wird.
Der Jude ist kein aufgeweckter Mensch, er ist langsam und nachdenklich,
steht aber im Allgemeinen auf einer nicht geringen Culturstufe und hat besonders
Kenntnisse und Urtheil über Staats- und andere öffentliche Angelegenheiten.
Jeder Bauer liest seine Zeitung, und es möchte schwer sein, einen Bauer zu
finden, der gar nicht lesen oder schreiben kann. Der Jude ist auch ein guter
Patriot, und obwohl er in Kopenhagen für einfältig gilt, so wird man ihm
ein richtiges Urtheil doch nicht absprechen können, wenn er nicht mit allem
einverstanden ist, was in Kopenhagen geschieht. Aber trotz seiner Langsamkeit
ist er doch ein arbeitsamer Mensch. Er verrichtet seine Arbeit mit Ausdauer
und Gewissenhaftigkeit, ist sparsam und versteht es vortrefflich, den Mangel
von seiner Thüre fernzuhalten, so daß es fast gar keinen Armen in Jütland
giebt, was die besten Armengesetze allein zu bewirken gewiß nicht im Stande
sind. Der Jude ist auch ein guter evangelischer Christ, der besonders den Feier¬
tag heiligt, und am Sonntag wird man sich in Jütland vergeblich nach ge¬
öffneten Kaufläden umsehen. Die Religion ist fast ausnahmslos die evangelische;
in den letzten Jahren haben jedoch, besonders auf dem Lande, die Mormonen
vielfach Propaganda für ihre Secte gemacht, und erst im Frühjahr 1864 haben
sich 400 Juden, darunter namentlich viele schöne junge Mädchen, in Aalborg
eingeschifft, um zu den Mormonen nach Amerika zu gehen. Trotzdem wird
man heute, was die Zcihl der Bevölkerung betrifft, nicht Ursach haben, noch für Jütland
besorgt zu sein; denn überall, auf dem Lande wie in den Städten, sieht man den reich¬
lichsten Kindersegen, und besonders stark ist das weibliche Geschlecht darunter vertreten.
Der Jude nährt sich hauptsächlich von Ackerbau, Viehzucht und vom Handel
mit den Erzeugnissen der Landwirthschaft. Die Industrie ist noch nicht zu ihrer
vollen Bedeutung in Jütland gekommen, und .auch die specifisch jüdische Holz-
schuh- und Topffabrikation wird noch heute in derselben Weise betrieben, wie
vor Jahrhunderten. Der Jude überhaupt und speciell der jüdische Bauer hat
wenig Unternehmungsgeist; er bebaut selten mehr Land als er gerade zu seinem
Unterhalt nöthig hat. Hiervon ist aber auch ein Theil der Schuld dem Mangel
an Arbeitskräften beizumessen. Intelligentere Landwirthe wissen natürlich den
Reichthum des Bodens auszubeuten und Haid.estrecken und Moore in gutes
Korn- und Weideland umzuwandeln. Fragt man nun aber näher, wer diese
Landwirthe sind, welche dem Boden Jütlands seine Schätze abgewinnen, so
Wird man häusig deutsche Kolonisten in ihnen finden. Roggen, Gerste, Hafer
und Weizen wird fast überall gebaut, seltener Kartoffeln und Raps. Der
Kartoffelbau ist in Jütland erst im vorigen Jahrhundert durch deutsche Ein¬
wanderer bekannt geworden; aber die Kartoffelkrankheit ist dort stets mit solcher
Macht aufgetreten, daß man den Kartoffelbau fast ganz wieder aufgegeben hat.
Die Ackergeräthschaften sind überall in Jütland ganz von Eisen.
Noch wichtiger für Jütland als der Ackerbau ist die Viehzucht. Alles Vieh
bringt Tag und Nacht auf der Weide zu, wo man Pferde, Rinder und Schafe
in bunter Mischung friedlich nebeneinander sieht, jedes einzelne Stück vermittelst
eines Strickes an der Erde angepflöckt. Oft wird das Vieh erst im November
in die Ställe genommen. Dreimal wird es täglich, da ihm doch jedesmal
nur ein geringer Spielraum gewährt ist, auf der Weide umgepflöckt, an einer
andern Stelle befestigt. Es ist oft den Juden gesagt worden, es wäre vortheil¬
hafter, das Vieh in den Ställen zu behalten, denn man könnte es dann leichter
beaufsichtigen und daher mehr Vieh halten; auch könnte der Dünger besser ge¬
sammelt und verwerthet werden. Aber der Jute geht nicht gern von seiner
Gewohnheit ab, oder vielmehr wie ein dänischer Schriftsteller sagt: „es schien
ihm Sünde gegen das Vieh, es war ihm zuwider, sich das Viel) das ganze
Jahr hindurch festgebunden an einer Stelle zu denken, es war ihm unangenehm,
wenn er in Zukunft sein Feld beträte und er könnte sich nicht freuen, sein
Vieh munter auf den grünen Wiesen grasen zu sehen." Das freilich ist un¬
zweifelhaft richtig, daß der Jude eine große Liebe zu' seinen Thieren und be¬
sonders zu den Pferden hat. Er pflegt sein Pferd wie sein Kind, er sorgt
stets dafür, daß die Krippe rein ist, daß das Thier keinen Mangel an Stroh
leidet und giebt ihm stets gutes und reichliches Futter. Auf Reisen sind es die
Pferde,.an die er zuerst denkt, für die er zuerst sorgt; er wird nie früher essen,
trinken oder ruhen, ehe er nicht seine Pferde gepflegr hat. Mit Recht werfen
"ber wohl die Jnseldänen dem Juden eine allzugroße Ängstlichkeit für seine
Pferde vor, denn er wagt es nie, die Peitsche zu gebrauchen, so daß es manch¬
mal wirklich scheint, als würden Schnecken schneller Von der Stelle kommen,
als der Wagen. Wie im Naturell des Juden selbst die Schnelligkeit nicht liegt,
^ ist sie auch seinem Pferde nicht verliehen. Dagegen ist dasselbe außerordentlich
starkknochig, auffallend breit und besitzt große Kraft und Ausdauer. Die Pferde
eignen sich daher besonders zu Arbeitspferden, und die Pserdezüchter Jütlands
führen alljährlich eine große Menge derselben ins Ausland. Auch das Rind¬
vieh wird vorzugsweise zum Verkauf gezogen. Aber der Milchertrag ist auch
so bedeutend, daß eine Kuh im Werthe von 50 Reichsthalern zuweilen für
60 bis 70 Reichsthaler Milch in einem Jahre liefert. In besonderer Blüthe
steht ferner die Butterfabrikation. Die Butter wird meist von sogenannten
Holländern, wie jeder Milchpächter und Käsefabrikant dort genannt wird, fabrik¬
mäßig gemacht und besonders nach England ausgeführt, wo sie sehr theuer
bezahlt wird. Auf die Käsefabrikation wi,rd in Jütland weniger Fleiß verwandt.
Die Schafzucht wird von den jütischen Landwirthen nicht sehr cultivirt und von
sonstigem Vieh werden nur noch Schweine gemästet. Ziegen giebt es fast gar
nicht, und was das Geflügel betrifft, so beschränkt sich der Jude auf die Hühner¬
zucht: Tauben und Gänse sind eine Seltenheit.
Die Bewohner der Küstenstädte und der Küstendörfer sind von der Natur
angewiesen, ihren Lebensunterhalt dem Meere abzugewinnen, und Schifffahrt
und Fischerei sind einträgliche Gewerbe. Von Fischen wird außer dem Hering
im Limfjord besonders die Makrele, der Dorsch und der Aal in den jütischen
Gewässern gefangen. Sonstige industrielle und gewerbliche Beschäftigungen
sind noch die Fabrikation von Gußeisenwaaren in Aalborg, die Handschuh-
sabrikation in Nauders, die Topffabrikation in der Gegend von Varde und
die Holzschuhfabrikation in der silkeborger Gegend. Die jütischen Städte ge¬
währen durchgehends, einen wohlthuenden Eindruck. Sind sie auch meist sehr
alt, so zeigen sie doch breite Straßen, sehr schönes Pflaster, und die kleinste
Stadt hat Gasbeleuchtung. Das Alter der Städte läßt sich nicht genau be¬
stimmen; ihre Namen deuten jedoch oft auf ihren Ursprung hin. wie Aalborg
und Skanderborg ihre Entstehung alten Burgen verdanken. Die Städtenamen,
welche auf „sjöbing" endigen, deuten darauf hin, daß diese Städte'durch das
Bedürfniß des Handels und Wandels entstanden sind. Bei andern Städten
ist der Name von der Lage entnommen. Erdige derselbe auf „nes", wie
Horsenes, jetzt Horsens, so deutet dies die Lage auf einer Landzunge an, endigt
er mit „os", wie. Nandros, Aros, jetzt Nauders und Aarhuus, so deutet dies
aus die Mündung eines Flusses hin. Die Endung „ör", wie in Lögstör be¬
zeichnet eine Lage auf Sanddünen.
Etwas, was in Jütland sehr im Argen liegt, ist die Gartenkunst. Nur
bei den größeren Städten und auf größeren Landbesitzungen findet man Gemüse¬
gärten. Die Folge davon zeigt sich besonders in dem Mangel von Gemüsen
für den Mittagstisch. Die Nahrung der Juten besteht ausschließlich aus Fleisch¬
speisen, Fischen, Reis, Gries, Grütze und Eiern. Bei der ärmeren, besonders
aber bei der ländlichen Bevölkerung ist die Grütze fast die tägliche Speise.
Vorzüglich gut schmeckt die rothe Grütze mit Sahne, namentlich wenn sie
mit Himbeeren zubereitet ist. Eine sehr verbreitete Speise ist auch ein aus
Nhabarberstauden gekochtes Gelee, das ebenfalls mit Sahne gegessen wird.
Schinken und Wurst sind meist von Hammelfleisch und für alle diejenigen,
welche Schweineschinkcn und (Zervelatwurst zu essen gewohnt sind, keine ange¬
nehme Speise. Das Roggenbrod ist unserm Conunisbrot sehr ähnlich; doch
wird in der Regel gleichzeitig ein ganz seines Weißbrot gegeben. Des Morgens
wird mehr Thee als Kaffee getrunken, und selbst bei den Bauern erhält man
stets Thee, wenn auch nicht immer vom besten. Vor jeder Mahlzeit pflegt der
Jute den Magen durch einen Aquavit zu reizen, während er im Allgemeinen
im Genuß von Getränken sehr mäßig ist. Nur des Abends, vor dem Schlafen¬
gehen liebt er es, einen Grog zu trinken. Von Weinen trifft man in Jütland
fast nur die Erzeugnisse Frankreichs und Spaniens, die Biere sind — vom
englischen Ale und' Porter natürlich abgesehen — sehr leicht, und namentlich
der Bauer trinkt einen selbstgebrautcn Gerstensaft, den man weder der Farbe,
noch dem Geschmack nach eigentlich Bier nennen sollte. Betrunkene Leute sieht
man in Jütland weder in den Städten, noch auf dem Lande. Der Jute hält
es im Allgemeinen mehr mit dem Essen, als mit dem Trinken, was sich auf
dem Lande bei dem gänzlichen Mangel an Volksfesten besonders bei den Hoch-
Zeiten kund thut, die überall mit großem Glänze gefeiert werden.
Will ein jüdischer Bauer Hochzeit machen, so reitet schon acht Tage vorher
ein Junggeselle als Einlader umher. Die Worte, welche derselbe auszurichten
hat, sind von Alters her bestimmt, und der junge Bauer lernt dieselben aus¬
wendig, schreibt sie sich auch wohl der Vorsicht wegen auf einen Zettel, den
er im Hute befestigt. Diese Einladung lautet: „Nachdem es dem dreieinigen
^oll gefallen hat, eine echte Liebe zwischen dem Junggesellen N. N. und der
gottesfürchtiger Jungfrau N. N. zu stiften, so gedenken dieselben nun durch
eine göttliche Verbindung oder Trauung ihre eheliche Vereinigung zu vollziehen
Sonnabend den--in der Kirche zu N. N. Es wird daher das freundliche
Ersuchen an Dich gestellt, daß Du mit Frau, Kind und Familie dem Vater
der Braut die Ehre erweisen wollest u. s. w." Jede eingeladene Familie schickt
Leute voraus, welche bei der Bewirthung Hilfe leisten, sowie auch ein paar
Hühner, ein gutes Stück Butter und dergleichen mehr. Am bestimmten Tage,
gewöhnlich an einem Sonnabend, sammeln sich die Gäste in ihrem besten Staat
^ Brauthause, wo jeder Ankommende mit Musik im Hofe empfangen wird.
Man genießt nun ein Frühstück und begiebt sich dann zu Wagen zur Kirche. An
der Spitze vor dem Zuge reiten einige junge Leute und hinter ihnen fahren
d'e Musikanten. Braut und Bräutigam, sowie deren Begleiter begegnen sich
gewöhnlich erst an der Kirche, und es ist Pflicht des Bräutigams, zuerst zur
Stelle zu sein. Die Musik geht nun vor der Braut und deren weiblichem Ge-
folge von derKirchhofthür bis zur Kirchthür und wendet sich dann wieder zurück,
um auf dieselbe Weise den Bräutigam mit seinem Gefolge von Männern und
Knechten einzuholen. Nach der Trauung begiebt sich die Gesellschaft zusammen
zum Brauthause, wo die Bewirthung mit Suppe , Fleisch, Fisch oder Schinken,
Gries, Braten und Kuchen stattfindet. Zum Schluß der Mahlzeit wird ein
Psalm gesungen, und dann werden die Gäste eingeladen, am andern Morgen
wieder ihre Plätze einzunehmen. Eine hoche Hochzeit dauert oft drei, zuweilen
auch wohl vier Tage, und jeden Abend wird bis in die sinkende Nacht getanzt.
Ueberhaupt ist der Tanz einer der wesentlichsten Theile des alten nordischen
Hochzeitsbrauches. Die Braut muß zuerst mit allen Mädchen einen Rundtanz
tanzen; demnächst vertauscht sie ihren Brautkranz mit einer Haube und tanzt
dann mit allen Frauen, geht also hierdurch aus der Zunft der Jungfrauen
in die der Frauen über.
Von den übrigen Familienfesten sind nur noch die Begrcibnißessen merk¬
würdig, wo es oft lustig hergeht und der Kummer um den Dahingeschiedenen
mit dem sogenannten Grabbiere hinuntergespült wird.
In den Tagen, als Florenz noch die Hauptstadt des Großherzogthums Tos-
kana war, traten einige angesehene Männer zusammen, um zu der bevorstehen¬
den hundertjährigen Gedächtnißfeier des großen italienischen Dichters Dante
Vorbereitungen zu treffen. Dem Großherzog und den übrigen Fürsten gegen¬
über sollte das Fest nur eine Verherrlichung des dichterischen Genius sein.
Die Enthüllung einer Statue, das Citiren einiger Verse und der Enthusias¬
mus eines vergnügten geräuschlosen Publikums sollten in harmloser Weise einen
so bedeutungsvollen Tag verschönern. Die Männer, die damals ihre Kräfte
zu den Vorbereitungen einer nationalen Feierlichkeit vereinigten, waren
aber Patrioten und hegten den Gedanken, diese Feier zu einem Agitations¬
mittel zu hertzen. Sie erwogen sorglich die Worte des Ausrufs, die unter anderm
Schein die Idee von Italiens Einheit verkünden sollten, und stellten als höchstes
Ziel eine geglückte politische Demonstration vor Augen. Zwischen jenen Tagen
und der nun am nächsten 14. Mai stattfindenden Feier haben große nationale
Ereignisse die italienischen Staaten und namentlich die Geburtsstätte Dante's
umgeformt. Schlachten sind geschlagen, Verträge geschlossen, Italien ist bis
zum Mincio einem Scepter unterworfen und Florenz die Hauptstadt dieses
Königreichs. Jene Patrioten,die an der hundertjährigen Feier einen so ernsten
Antheil nahmen, erreichen zu dieser Stunde mehr als sie je zu träumen gewagt,
und >die ganze Festlichkeit verkörpert nicht nur die Wünsche, Hoffnungen und
Erwartungen Weniger, sondern sie ist der Ausdruck der Freude, die ein Volk
empfindet, wenn es von dem Gefühl gehoben wird, daß es an Einheit und
Macht seinen Platz unter den Nationen der Erde ausfüllt. Ein junger streb¬
samer Bildhauer, Namens Pazzi, hatte sich bereit finden lassen, eine Statue
Dantes zu fertigen, um mit Geschick und Muße Typus. Proportionen und
Stellung nach dem Modell des Poeten zu entwerfen. Die mit großer Energie
begonnene Arbeit wird jetzt in kolossalen Verhältnissen ausgeführt.
Je näher die Zeit heranrückte, desto mehr steigerte sich das Interesse des
italienischen Publikums. Eine Zeitschrift wurde gegründet und it Lientölmrio
genannt; die Regierung überlegte, was sie zu Unterstützung des schönen Unter¬
nehmens thun könne, und beschloß eine Medaille zu schlagen mit Dantes
Profil. Da den Regierungen natürlich Thatsachen unbekannt sind, über die
Künstler, Archäologen und Antiquare bessere Auskunft zu geben vermögen, so
«nannte auch die italienische eine Commission, um festzustellen, welches von
den Bildern, die als Portraits von Dante bekannt wären, gewählt werden sollte,
um als echter Typus auf die Medaille geprägt zu werden. Die vom Minister
des Unterrichts in Turin ernannte Commission bestand aus zwei Männer von
wissenschaftlichem Verdienst. Gaetano Milanest ist als einer der Commentatoren
der letzten italienischen Ausgabe von Vasari wohlbekannt, und hat sich als
Herausgeber dreier unschätzbarer Bände sienesischer Urkunden und als Aufsinder
Zahlreicher andrer Urkunden, welche bis jetzt in italienischen Bibliotheken und
Archiven verborgen lagen,weithin einen Namen gemacht. Luigi Passerini ist ohnstrci-
t'g einer der gelehrtesten Heraldiker in Florenz. Er hat einen Vortrag über
das dortige Pretvrio, in welchem sich eines der ältesten Portraits von Dante
befindet, drucken lassen. Das Ministerium nahm an, daß diese beiden Männer
einen Bericht machen würden, der durch sein Ergebniß gleichzeitig der Geschichte
und dem Publikum Nutzen brächte. Unglücklicherweise ist weder der Eine noch
der Andere competenter Richter in Sachen der Kunst, und die demüihigende
^age, in die sie durch zu eilige Schlüsse aus geschriebenen Urkunden gerathen
send. ist ein lehrreicher Fingerzeig für Freunde der Kunstgeschichte.
Das Portrait Dantes, welches wir Jctztlebcnden so oft in Büchern und
wildern gesehen haben, ist so bekannt, daß es keiner genaueren Beschreibung
^darf. Es ist uns häufig ausgefallen, wie die Künstler übereinstimmend dem
Dichter eine markige Stirn, .eingesunkene Augen, vorstehende Backenknochen
und eine lange gebogene Nase geben. Dieser Typus basirt sich auf eine Todten-
waske, die unmittelbar nach dem Verscheiden von Dante's eigenem Gesicht
genommen worden sein soll, und von der mehre Eopien vorhanden sind, die
aber alle nach der einen ursprünglichen Form abgegossen worden sind. Streitig¬
keiten sind entstanden über die Echtheit dieser Masken und über den Anspruch
auf Ursprünglichkeit, welchen diese erste Form erhebt. Indessen scheint kein
Grund vorhanden, die Tradition anzuzweifeln, nach welcher die Form echt und
die Masken authentisch sind. Die kleinen Abweichungen in den Kopiendie
Seymour Kirkup in Florenz besitzt, sind der Art, daß sie durch Netouchiren
des Abgusses, gleich nachdem er aus der Form genommen, entstanden sein
können. Es eMiren sehr alte Büsten, die von diesen Masken genommen sind;
eine von colorirten Gezzo, in der Torrigiani-Sammlung in Florenz, eine andere
von Bronze im Museum von Neapel, eine dritte auf Dantes Grab in Ravenna
von Lombardos Hand.
Allerdings war sehr wohl möglich, für die erwähnte Medaille ein neues
Portrait des Dichters nach den Todtenmasken herzustellen. Aeltere Künstler
hatten Portraits unter ähnlichen Verhältnissen gemalt, und die Geschichte nennt
die vielen Künstler (einschließlich Titian), die von Aretino angestellt wurden,
den Kopf von Giovanni de' Medici delle Bande nere von der Maste zu
copircn, die Aretino selbst nach dem Tode jenes Häuptlings angefertigt hatte.
Aber die Regierung hielt es bei dieser Gelegenheit für geboten, festzustellen, ob
nicht vielleicht noch ein Portrait aus Dantes eigener Zeit vorhanden, und ob
einem solchen, wenn seine Echtheit erwiesen, nicht der Vorzug vor den Masken
zu geben sei.
Wer sich um Kunst und ihre Literatur kümmerte, durfte annehmen, daß
diese Anfrage bereits beantwortet sei. Seit den letzten zwanzig Jahren hat
man fest geglaubt, daß ein echtes Portrait Dantes von seinem Zeitgenossen
Giotto in der Kapelle des Palazzo del Podesta in Florenz existirt. Niemand
hatte einen Zweifel an der Echtheit des Portraits oder an der Autorschaft
Giottos ausgesprochen. Die Entdeckung dieses Bildes im Jahr 1841 war so
merkwürdig, daß Tausende nicht nur die Thatsache der Aufsindung, sondern auch
die Schritte kannten, die zu diesem Funde führten. Wir sind nur mit Recht
erstaunt, daß nie jemand, der mit den Quellen bekannt ist, vor 1841 versucht
hat, das Dunkel, welches einen so interessanten Gegenstand umgab, aufzu¬
klären. Diese Quellen sind freilich nicht frei von Lücken und Widersprüchen,
aber sie scheinen einige Thatsachen fast vollkommen festzustellen.
In Florenz existirt ein „ve origino civitatis?Iorontiao et ejusäew
kamosik cividus" betiteltes Manuscript. Es ist von Filippo Villani, dem
Zeitgenossen Dantes, und enthält folgende Stelle: ?mxit (Giotto) msuxor
spvoulorum suMagio Lomotipl-um Lidign» eoirtvillporauvum vlmtciw ur
tirdula irltaris eapcZI^c; Mlatii pole^dis."
In der zu Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts erschienenen italienischen
Bearbeitung des Werkes lautet der Passus abweichend so: Divinss (Motto)
e^ianäio g, vubdlieo spstts-eolo melts, enlg. sug, con siuto al sveeelri, hö
ineäesiino e it eoteinporanso suo Dante ^ligkiori poetg,, nellg. eanvella ack
?a1s.ßio act ?0äösta in muro.
Sollen wir glauben, daß die Tafel mit den Portraits von Dante und
Giotto schon im fünfzehnten Jahrhundert nicht mehr an ihrer Stelle war?
Jedenfalls ist das Portrait auf der Wand bereits in jener frühen Periode be¬
merkt und Giotto zugeschrieben worden.
Ein weiteres Zeugniß bestätigt das eben Angeführte. Gianozzo Manetti,
der zu Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts das Leben Dantes schrieb, sagt
darin: „vaeteruin ejus (Dante) elützies se in Dasiliea 8. Ouois, et in eap-
PeUa ?raetoris Drdani, utrodigue in xarietibus, exeat; es, korma gua
revera in vita tun a Kiotto, Moäam vxtiino e^us teinpor-is pietore, e^reFie
äevieta."
Hieraus erfahren wir, daß es nicht nur ein Portrait Dantes in der Kapelle
des Potest«, sondern auch eins in Se. Croce in Florenz gab, und daß beide
Fresken waren. Die Autorschaft Giottos ist allerdings zweifelhaft gelassen,
aber es ist augenscheinlich, daß sowohl das Portrait der Kapelle des Podesta
als das in Se. Croce nach einem Original gemacht ist, das von Giotto nach
der Natur gemalt worden. Von den späteren Schriftstellern erwähnt Lionardo
Aretino nur das von Se. Croce mit den Worten: „D'oltiA'le sua (Dante)
proprig, zj veäe nella oniesa al 8. Oroee yuasi nel nrerito äella eniesa äalla
wano siniZti'g. anäanäo verso l'altar inaA^loro. L ritratto al naturale ot-
Unrarnente per äipintore xerketto al «mei denno.,,
Giovanni Mario Filelfo bestätigt in seinem „Leben Dantes" (in der ersten
Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts verfaßt) Lionardos Angabe, wenn er sagt:
simulaeruin (czuanäociuiäom esse arbitror numeri) ?Iorentiae axuä
«aermn est 8. Orueis aä eorum sinistram Mi ecclesiam inZressi, aä maMs
prokciseuntur altare. Lstc^no communis eunetoruin opinio veram ekligiem
esse ^<z taeiein paene xroxriam atciue naturalem sit eorum parentes ne-
Votihus retulerunt, Mi vivum viäere Dantein."
Ghiberti wiederum macht in seinem Kommentar Giotto zum Schöpfer der
Fresken in der Kapelle des Podesta; „Dipinse (viotto) vel ?alagio ack
^väesta ac ?iren^e äentro taee it comune come era rudato e 1a oaxvella
<ki 8. Nacläalena."
Ueber das Portrait Dantes an letztgenanntem Ort schweigt er und läßt
Giottos Werke in Se. Croce ganz unberührt. Indessen ergänzt Vasari diese
Lücke wie folgt: „Giotto stellte, wie noch heutigen Tags zu sehen ist. seinen
besten Freund und Zeigenosscn Dante Alighieri in der Kapelle des Podesta in
Florenz dar..... In derselben Kapelle finden sich von derselben Hand die
Portraits von Brunetto Latini, dem Lehrer Dantes, und von Messer Corso
Donati, einem vornehmen Bürger jener Zeit."*)
An einer andern Stelle**) spricht er von dem giottoschen Portrait Dantes
in Se. Croce mit indirecten Worten. Bei der Beschreibung von Michelangelos
Leichenbegängnis^ in Florenz und der Ausschmückung der Todtenkapelle in
Se. Lorenzo nennt er verschiedene Portraits, die für diese Gelegenheit gemacht
worden, und darunter eins von Giotto, welches dadurch kenntlich sei, daß der
Maler in seiner Hand „eine .kleine Tafel hält, den jugendlichen Dante dar¬
stellend, in der Manier, wie er von Giotto in Se. Croce gemalt worden."
Außer diesen Porträts von Dante, die Giotto zugeschrieben sind oder zuge¬
schrieben werden konnten, werden noch andere erwähnt. Nach Vasari soll
Taddeo Gaddi, der beste Schüler Giottos, eine Seite des Tramezzo in der
Kirche von Se. Croce zu Florenz mit Fresken verziert, und indem er im
„Wunder des heiligen Franziskus" die Wiedererweckung des spini Kindes dar¬
gestellt, die Portraits von Giotto, Dante und Guido Cavalcante darin an¬
gebracht haben. Die Niederreißung des Tramezzo von Vasari selbst verursachte
die Zerstörung des Bildes.
Im Jahre 1430 hielt ein Franziskanermönch Antonio in der Kirche von
Se. Croce zu Florenz eine Reihe von Vorlesungen über Dantes Divinia
Commedia. Die Rednerbühne war mit einem Porträt des Dichters geschmückt,
das verloren gegangen ist. Statt dessen besitzen wir ein anderes von Dome-
nico de' Mechelino, ebenfalls in Se. Croce und nach einem Entwurf von Alesso
Baldorinetti im Jahr 146ö ausgeführt. Ohne Zweifel ist es von einem älteren
Portrait copirt, und zwar mit jenem Mangel an Kraft, der einen Künstler
dritten Ranges charakterisirt. Dante ist darin in mittleren Jahren dargestellt.
Ein früheres Bild, das uns ihn gleichfalls als Mann von mittleren Jahren
zeigt, findet sich in einem Codex der Divina Commedia in der Expalatina-
Bibliothek in Florenz. Es verräth die charakteristischen Züge von Agnolo
Gaddis Hand und rührt daher aus dem Ende des vierzehnten Jahrhunderts her.
Dann enthält der Codex im Riccardiana zu Florenz ein Portrait, das dem
in der Kapelle des Podesta ähnlicher ist, als das soeben erwähnte, aber in der
Kleidung moderner scheint und vielleicht aus der Mitte des fünfzehnten Jahr¬
hunderts stammt.
Ein drittes tritt als kleines Miniaturbild in ganzer Figur auf in einem
Codex Ur. 174 (Codex Laurentianus genannt) in Florenz, in welchem die
Zeichnung fehlerhaft, das Gesicht eine Caricatur des Dichters ist, und welches
dem Ende des fünfzehnten Jahrhunderts angehört.
Es würde Zeitverschwendung sein, auf die späteren, nach dem Tode Dantes
gemachten Bilder: das von Andrea del Castagno (jetzt den Uffizi) — das von
Signorelli in der Capella Se. Brizio in Orvieto — das von Benozzo Gozzoli
in Montefalco — und auf die von Rafael in seinen beiden großen Fresken
der Disput« und des Parnaß angebrachten Portraits näher einzugehen. Diese
konnten für die Commission nicht ins Gewicht fallen, ebenso wenig, wie sie
denen von Bedeutung waren, die vor fünfundzwanzig Jahren im Vertrauen
auf die oben angeführten Quellen nach Portraits von Dante zu suchen begannen.
Als diese Nachforschungen ansingen, entdeckte man, daß wenig Hoffnung vor¬
handen sei, das von Giotto gemalte Portrait in Se. Croce aufzufinden. Auf
der andern Seite aber hatte man Grund zu glauben, daß der Palast des
Podesta mit Erfolg untersucht werden könnte. Unglücklicherweise wurde dieser
geweihte Ort schon längst zu anderen als heiligen Zwecken verwandt. Der
weite Raum war horizontal durch eine falsche Decke in zwei Theile gespalten,
von denen der untere in eine Scheune, der obere in ein Gefängniß umgewan¬
delt worden war. Und die Mehrzahl der Wände war übertüncht worden. Als
die ursprüngliche Form der Kapelle restaurirt und die Wände von der Tünche
gereinigt worden, entdeckte man, erstens daß die Seiten mit Fresken bedeckt
gewesen, welche Begebenheiten aus der Legende der heiligen Maria Magdalena
darstellten und so die Benennung rechtfertigten, die Ghiberti der Kapelle ge¬
geben; dann zweitens, daß über der Eingangsthür die Hölle und an einer
andern Stelle das Paradies geschildert war. Außerdem fand man auf der
rechten Wand zwischen den beiden Fenstern, die dem Innern Licht verliehen,
eine vereinzelt stehende Figur mit einem Heiligenschein, die ein Buch und eine
Palme in den Händen hielt. Unter dieser Figur zeigte eine Tafel noch Spuren
einer langen Inschrift, und unter dieser waren auf einer Borde noch die Worte:
»Hoc opus" . . . , zu lesen.
Im Paradies fand sich das unverkennbare Portrait Dantes, unglücklicherweise
von einem Nagel stark beschädigt, bei dessen Herausziehen ein großer Theil der
Backe und des Auges abgefallen war. Im Vordergrund des Bildes kniete
°we Magistratsperson von Florenz, zu deren Füßen noch ein Schild mit bei¬
nah gänzlich verlöschten Wappen bemerkbar war, was zu weitern Nachforschungen
aufforderte. Man hielt es damals nicht für möglich, die Inschrift unter der
schon beschriebenen Figur vollständig zu entziffern, oder genau festzustellen, was
für ein Wappen ursprünglich auf dem Schild gewesen. Das Wichtigste blieb
^dessen, daß niemand an der Entdeckung einer großen und bedeutenden Freske
v°n Giotto und an der Echtheit des jugendlichen Danteportraits zweifelte.
Verschiedene Conjecturen wurden laut über die von Giotto im Paradies sym-
bolisirten Einzelheiten und über die Identität der darin vorgeführten Person-
^ableiten, aber diese Conjecturen liegen außerhalb der Aufgabe dieses Aufsatzes.
Das florentinische Publikum sowohl als die ganze Künstlerwelt hatte die
Ueberzeugung gewonnen, daß ein werthvoller, wenn auch sehr schadhafter
Schatz in dem Raum dieser restaurirten Kapelle des Podesta vorhanden sei.
Im Sommer des verflossenen Jahres erschien nun der Bericht der von
der Regierung eingesetzten Commission und warf Dunkelheit und Zweifel über
eine Sache, die man für schon erledigt hielt.
Der Bericht sagte: 1. Das Portrait Dantes in der Kapelle des Podesta
sei das eines Jünglings von etwa fünfundzwanzig Jahren, und könne nicht
von Giotto herrühren, weil dieser im Jahre 1273 und Dante im Jahre 1265
geboren sei und der Maler daher das Bild aufgenommen haben müßte, als
Dante fünfzehn Jahr alt gewesen, was doch unmöglich; 2. Dante würde von
Giotto nie mit seinem Erzfeind Corso Donati zusammen dargestellt worden
sein; 3. und dies ist der hauptsächlichste Grund: vorausgesetzt, Giotto hätte
wirklich einmal in der Kapelle des Podesta gemalt, so existire doch da kein
Fresko, welches man ihm möglicherweise zuschreiben könne; denn am 28. Februar
1332 sei der Palast des Podesta durch eine Feuersbrunst so beschädigt worden,
daß man ihn von Grund aus hätte neu aufbauen müssen; diese Wiedererbauung
aber sei wegen eines zweiten Feuers (bei Vertreibung des Herzogs von Athen)
erst nach dem Jahr 1345 vorgenommen worden, also mehre Jahre nach
dem Tode Giottos. Viertens endlich hat die Commission das Wappen auf
dem Schild der knienden Figur enträthselt, und zwar behauptet sie, es sei das
von Fedice de Fieschi von Genua, der am 31. October 1358 auf ein Jahr
zum Podesta erwählt worden.
Nachdem die Commission diesen Donnerkeil geschleudert und als bewiesen ansah,
daß der Name Giottos nun ausgeschlossen sei, unternahm sie eine ebenso schwierige
Aufgabe, indem sie festzustellen versuchte, wer nunmehr der Maler der Fresken in
der fraglichen Kapelle sein müsse. Sie erwählte sich Taddeo Gaddi zu ihrem Ritter
und verglich das ihm hier untergeschobene Bild mit einem andern ihm zuge¬
schriebenen in der Ninuccinikapelle in Se. Croce zu Florenz. Dann schloß
man die Acten mit dem Vorschlag, das schon erwähnte Miniaturbild des Codex
im Niccardiana als Modell für diese Gelegenheit zu benutzen; und die Ne¬
gierung gab mit unverständiger Hast dem Bildhauer Dupr6 den Auftrag, die
Form der Medaille nach den Contouren jener Portraits zu machen. Indessen war
der Bericht kaum veröffentlicht, als sich laute Stimmen gegen den Ausspruch
der Commission erhoben.
Es war nicht schwer, mit den beiden ersten Punkten fertig zu werden,
und diese sind in der That von solcher Geringfügigkeit, daß wir sie ganz un¬
berücksichtigt lassen können.
Der dritte und vierte Punkt hingegen schienen Stoff zu ernster Ueber-
legung zu geben. Es leuchtete den Gegnern der Commission ein, daß sie das
von der Zerstörung der Kapelle durch Feuersbrunst hergenommene Argumente
nur durch völlig klare und schlagende Beweise zu nichte machen könnten. In¬
folge dessen begannen sie die Inschrift am Fuß des Heiligen zwischen den
Fenstern der Kapelle zu entziffern. Durch vorsichtiges Betupfen der Stelle wurden sie
in den Stand gesetzt, ein großes Stück der Inschrift auf der Tafel zu lesen,
und es als eine Anrufung des S. Vcnanzio zu erkennen, das mit der Chiffer
,.v?i Neevxxx" schloß.
Nachdem die untere Borde einem ähnlichen Verfahren unterworfen worden,
entdeckte man dort Folgendes:
„Hoo Opus kg.eenen tutt töinporL xowstÄrms in-rMiüei et potentis rnilitis
Domin ?iäesmiiü <te Varauo civis LamermLNsis llonorabilis potestatis......"
Beim Nachschlagen des Registers der Pvdesta von Florenz ergab sich, daß
Fidesmini ti Varano jenes Amt in der letzten Hälfte des Jahres 1337 be¬
kleidet. Aus der Hagiologie ging hervor, daß S. Vcnanzio aus Camerino ge¬
bürtig war. und Litla erzählt, daß die Varanos ihn als ihren Schutzheiligen
verehrten, weil nach einer Tradition einer der Familienahnen Augenzeuge des
Martyrthums desselben gewesen sein soll. Die vierte Behauptung, nach welcher
das Wappen auf dem Schilde der knienden Figur im Paradies das von Fedice
de Fieschi sei, fiel durch die vorgehenden Entdeckungen von selbst zusammen,
aber sie wurde noch werthloser durch den einfachen Nachweis, daß das Wappen
nach der Vollendung des Freskos übermalt worden und die unteren Extremi¬
täten der knienden Figur unter der Uebermalung des Wappens deutlich verfolgt
Werden konnten.
So zog man den Schluß, daß, wenn die Kapelle des Podesta wirklich,
wie behauptet, im Jahre 1332 niedergebrannt, sie doch schon 1337 wieder in
ihren ursprünglichen Zustand zurückgebracht worden sei, d. h. sie war, was ihre
inneren Gemälde betrifft, einige Monate nach Giottos Todestag (8. Januar
1337 nach neuer Zeitrechnung) vollendet. Der Hauptgrund, die Autorschaft
Mottos anzugreifen, war damit beseitigt, es wäre denn, daß man annehmen
Wollte, die Worte „Hoo «MS u. s. w. unter Se. Venanzio bezögen sich nicht
ausschließlich auf diese Figur, sondern auf alle Fresken in der Kapelle. Eine
derartige Annahme wäre indessen gegen alle Erfahrung; denn wo auch Künstler
den früheren Jahrhunderten in Italien ganze Kapellen ausgemalt, haben
^ jedesmal ihre Arbeit als Irano es-rMam oder Koe saeellum bezeichnet, und
die Inschrift steht immer an hohen Stellen oder auf den Thürpfosten oder
Pilastern. Es war daher nichts weniger als eine unberechtigte Ansicht, wenn man
""nahm, daß die Figur des Se. Venanzio in einer späteren Periode als die
übrigen Gemälde in der Kapelle angebracht worden, und daß sich die Inschrift
"ur auf diese Figur und nicht auf alle Fresken der Kapelle bezieht. Dies ist
d°um auch aus andern Gründen das Wahrscheinlichste; denn betrachtet man
diese Fresken vom künstlerischen Standpunkt, so können sie keinem Andern als
Giotto, dem großen Gründer der florentinischen Schule, zugeschrieben werden.
Um die Grundlosigkeit der Behauptung, daß Taddeo Gaddi ihr Schöpfer sei,
zu beweisen, war es nur nöthig, auf die falsche Grundlage hinzudeuten, auf
die sich die Commission mit ihren Argumenten stützte.
Sie hatte gesagt, daß die Fresken in der Kapelle des Podesta von
Taddeo Gaddi seien, weil der Stil den Bildern gleiche, die von diesem Künstler
in der Rinuccinikapelle in Se. Croce zu Florenz ausgeführt worden seien.
Die Gegner antworteten darauf: Die Fresken in der Rinuccinikapelle sind nicht
von Gaddi, sondern von Giovanni da Milano.
Die von den Gegnern der Commission erzielten Resultate blieben dem
Publikum nicht verborgen und am allerwenigsten den Herren Milanesi und
Passerini. Nichts schien aber auch so demüthigend, als gerade auf dem wissen¬
schaftlichen Boden geschlagen zu werden, den man mit so viel Selbstgefühl
betreten hatte.
Die Herren gaben eine Antwort, verkündeten aber damit nur ihre eigene
Niederlage, indem sie das Argument mit der Feuersbrunst und die Autorschaft
Gaddis fallen ließen. Dagegen versuchten sie zu beweisen, daß die Bilder
während der sechs Monate entstanden seien, in denen Fidesmini de Varano
seine Würde bekleidete, und hatten den Muth, einen neuen Maler als Schöpfer
der fraglichen Fresken aufzustellen, die sie schon einmal falsch getauft hatten.
Ihr neuer Schützling ist Bernardo Daddi, ein kaum gekannter Künstler vierten
Ranges aus dem vierzehnten Jahrhundert, dessen vorhandene Werke nicht entfernt
an die in der Kapelle des Podesta erinnern, und der gar keinen Anspruch auf
irgendeine Anerkennung erheben kann. Die Größe ihrer Niederlage erhellt
aus der Thatsache, daß zwar die Regierung ihren Auftrag an Duprö, die Medaille
auszuführen, nicht zurückgenommen hat, daß aber die städtischen Behörden von
Florenz eine Medaille von Pazzi gewählt haben, die nach dem Modell des
Danteportraits in der Kapelle des Podesta gemacht ist. Diese soll an alle
diejenigen vertheilt werden, die zu der großen hundertjährigen Feier ein¬
geladen sind.
An dem jedesmaligen Endpunkte unseres Wegbruches wurde allabendlich
ein kleiner provisorischer Ramado. d. h. nur ein schräges Palmendach, als Schutz
und Zuflucht gegen die feuchten Niederschläge der Nacht aufgerichtet und darunter
ein Lager aus Blättern aufgeschüttet; unsere wollenen Covijas schützten uns
gegen die Nachtluft, welche allmälig kühler über den Boden hinstnch. Und wer
etwa in seinen weichen Betten, oder wer aus seinem harten Strohlager zwischen
undicht schließenden und von dem Krystall des Frostes umkleideten Wänden, in
der bittern Dürftigkeit seines nordischen Daseins keinen Schlaf fand, der hätte
uns beneiden können um den festen Schlaf auf Palmen- oder Musenblättern
unter dem geheimnißvollen Schatten vieltausendjähriger Wälder, die niemals
ihre Aeste unter dem Eis und Schnee des Winters beugen, über denen sich
"n tiefblauer, noch im Lichte des Nachtgestirnes lächelnder Himmel wölbt, und
wo allnächtlich liebeswarme „Sommernachtsträume" zwischen Erde und Himmel
auf- und niedersteigen. Bewegt schaut da das Menschenauge, das zwischen den
Schläfern allein noch wacht, hinauf zu dem mild-freundlichen Himmelsauge.
Allerlei pdantastische Bilder jagen sich durch die lautlosen, kaum von einem
Hauche lebendiger Wesen gestörten Waldesschatten. Allmälig fällt das Wacht¬
feuer mit leichtem Knistern und Prasseln zusammen, ungeschürt von dem vor
ihm kauernden Wächter, der. das Kinn zwischen die Kniee gelegt, wie seine
Genossen eingeschlummert ist. Aus den dunkelroth glimmenden Kohlen steigt
der blaue Rauch in gerader Säule auf in die reine, leichte Nachtluft. Allmälig
tischt in der Asche der letzte Funken, und mit ihm fällt auch das letzte wachende
Menschenauge zu inmitten der unendlichen Waldeinsamkeit. Tiefste Ruhe
herrscht, bis der Morgen mit seinen weckenden Stimmen durch den Wald geht,
jedes Gethier fröhlich seinen nächtlichen Schlupfwinkel verläßt, und fröstelnd
der Mensch von dem Palmenblattlager ausspringt, aufs Neue sein Feuer schürt
Und Wärme und Nahrung sucht.
Der nur allzu verbreitete Selbstbetrug, daß gebranntes Wasser der Ge¬
sundheit dienlicher sei, als das reine, arg- und lückenlose Wasser, welches die
Natur in ihren Quellenbrüstcn darbietet, geht aus der Berührung der Civili¬
sation mit der Uncultur auf diese letztere so unaufhaltsam über, wie der Gift¬
stoff böser Krankheiten bei der leisesten Berührung sich dem Gesunden mittheilt.
^ Das brennende Wasser, der aFNÄräisuts, eröffnet und schließt jeden Tag
dieser halbcultivirten Tropenvölker, und der Genuß desselben ist jedem Arbeiter
so zum Bedürfniß geworden, wie die tägliche Mahlzeit. Die schwerste Auf¬
gabe für mich war daher die Bewachung des Branntweinschlauches, nach
welchem die lüsternen Augen beständig hinschicltcn. Das „Zuviel" und das
„Zuwenig" des Ausschankes konnte gleich verderbliche Folgen nach sich
ziehen, das „Zuviel" eine allgemeine Auflösung infolge trunkner Naserei
das „Zuwenig" wiederum eine allgemeine Auflösung infolge von Unzu¬
friedenheit und Mißmuth herbeiführen. Wie der Russe seinen Schnaps, der
Italiener seine Macaroni mit zärtlichen Ausdrücken liebkost, so benennt der
südamerikanische Creole den ersten brennenden Morgenschluck: „las buevas
(guten Morgen) und den letzten, der das Tagewerk schließt, las dueiras
iroekos (gute Nacht).
Ein in meiner Pflanzcntrommel wohlverwahrter eoMito'), das unter
meinen Pfadbreckern festgestellte Maß, bot jedem mit Anbruch des Tages,
wenn die zusammengesunknen Kohlen wieder angeschürt waren, las dusnas alas;
darauf gings an das Schleifen derAexte, Machcttes und Messer, an das Aus¬
bessern verletzter Gerätschaften und Kleidungsstücke, das Putzen der Waffen.
Die Thiere wurden zusammengesucht und gefüttert, Wasser herbeigetragen, Holz
gespalten und das ganze kleine Räderwerk der beweglichen Bivouakswirthschaft
in Gang gesetzt. Unter meinen Händen stieg während dessen ein aroma¬
tischer Kakao- oder Kaffeeduft aus dem summenden Kochtopfe aus. Ein jeder
trug seine Mars,2), deren Reinigung jedem selber oblag, in seiner moelrilg^)
bei sich, darinnen das Morgengebräu mit gerösteten Bananen in der Runde
um das wärmende Feuer mit außerordentlichem Wohlbehagen verzehrt wurde.
Sodann führte ich meine „IriMos" ohne Säumen an-das Tagewerk, gab die
ersten Dispositionen, steckte Ziel und Maß ab, that selbst etliche kräf¬
tige Hiebe und kehrte zurück zu dem Feuer und der siedenden ölig..^) Reis¬
körner abwechselnd mit Maiskörnern und geröstete Bananen, so lange es solche
gab, bildeten das tägliche Frühstück. Später, als der Weghau vorschritt und der
Transport mehr Zeit erforderte, sielen die Bananen, die sich nur wenige Tage
halten, weg, und wir mußten uns die Reis- oder Maiskörner nunmehr auch
ohne alle Begleitung gefallen lassen. Wild wurde nur dann erlegt, wenn es
mir quer über den Weg lief oder über den Kochtopf hinwegflog, oder ich einige
müßige Augenblicke fand, um seitwärts ein paar Schritte in den Wald hinein¬
zuthun. Die Arbeiterzahl durfte nicht vermindert werden, und wer Lust am
Jagen und am Wildpret fand, mußte am Feierabend oder in der frühesten
Morgenstunde seinen Liebhabereien nachgehen. Man möge sich nicht vorstellen,
daß 'die Wälder und Urwälder reiche Jagdbeute bieten.' Das gefiederte Wild
lebt größtentheils in den höchsten, dem Auge unzugänglichen Baumwipfeln, und
die Vierfüßler halten sich versteckt in ihren Höhlen und Schlupfwinkeln, aus
denen sie nur zu bestimmten Tageszeiten und auf bestimmten Schleichwegen,
die sie sich treten, hervorschlüpfen und ihrer Nahrung und Beute nachgehen. Scheu
und flüchtig achtet ein jedes auf das andre, der Schwächere stets auf der Hut
vor dem Stärkeren, der Stärkere lautlos auf seine behutsame Beute lauernd.
Ihre scharfen Sinne wittern den Menschen aus weiter Ferne, und selbst die
an Kraft und Gewandtheit ihm überlegenen Katzcngeschlechter vermeiden
sorgfältig ihm zu begegnen. Ueberall in den Wäldern eine fast lautlose,
melancholische, dunkle Einsamkeit. Selbst der Duft und Farbenschmelz der
Blumen zieht sich aus dem untern Walde zurück und hinauf in die obere
Region, wo er sich, dem Menschenauge verborgen, auf den sonnigen und licht-
umflossenen Laubwellen in seiner ganzen Herrlichkeit entfaltet. Die funkelnden
Käfer, die schillernden Schmetterlinge, das niedere Jnsektenheer steigt nur bis¬
weilen wie Verlorne Lichtstrahlen in die tiefe Einsamkeit hinunter und verflattert
ebenfalls dort oben seine wenigen Lebensstunden, wo sich im Sonnenlichte der
Blumenkelch mit dem süßen Honig füllt. Selten einmal ruft hier und da ein
Vogel, dem Gesichtskreise entrückt, sein kurzes Lied in den Unterwald hinein,
und der langsam verhallende, fernher tönende, einsilbige, klagende Flöten¬
ion, der sich periodisch wiederholt, trägt eher dazu bei, die Einsamkeit
ergreifender und fühlbarer zu machen, als ihre Wirkung auf das Gemüth
zu mildern. Dumpf hämmert der wilde, unbändige Specht, der carpintero,
w der morschen Rinde der tausendjährigen Riesenbäume. Nur der Pfau,
der Hokko, der Paujuil, das Waldhuhn und andre hühnerartige Vögel, welche
die mittlere Waldregion. das untere Gezweig bewohnen, fallen' hier und
da durch unbehutsames Flügelschlagen und Flattern dem Rohr des Jägers als
Beute zu; im Uebrigen hat dieser alle seine Gewandtheit und List zusammenzu¬
nehmen, um das scheue Wild aufzuspüren, und selbst der mähnenlose Löwe,
der Jaguar, die Unze und Tigerkatze stellen sich ihm nur selten einmal unauf-
ttesucht gegenüber.
Dennoch aber, trotz der tiefen, schwermüthigen Einsamkeit, welche sich in
dem Waldinnersten um die Brust des Menschen legt, ist der Wald stark be¬
völkert von lebendigen Geschöpfen, drängt und wälzt sich ein Leben um das
andere. Vernichtung um Neubildung, Gestalt über Gestalt. Von seinen Spitzen
herab modert der Niesenbaum unter der Wucht seiner Jahrhunderte oder erdrückt
Von dem aufwachsenden Saamen seiner eigenen Früchte. Noch fließt in seinem
'"nersten Matte der Lebenssaft, und schon zehren von dem Moder seiner Rinde
"cuc Geschlechter, die sich um seinen Leib gewunden und sein Aeste niederge¬
bogen haben, und selbst wieder hinwelken und gebären, wie ein Wald auf dem
Walde. Ge'radsäulig auf zum Lichte schießt der junge Stamm, der sich aus
den alten, ausgezehrten Wurzeln emporgehoben. erobert mit kräftigen Wurzeln
den Boden, mit wuchtigen Zweigen das Licht und die Luft, unter sich
und neben'sich Leben erstickend, und wiederum überholt von mächtigeren
Leben. Von den umfangreichen^ in- und durcheinanderverschlungenen Wlpfcl-
iuppeln, die von 60 bis 200 Fuß hohen und 2 bis 12 Fuß dicken Ätamm-
säulen getragen sind, fallen, hängenden Schiffstauen gleich, schnurgerade Wurzeln
zur Erde, die sich durch das dichte Untergebüsch hindurchdrängen, an die Erde
legen, neue Wurzeln schlagen, neue Stämme treiben und so fort eine endlos
ineinandervcnvonene Vielfältigkeit eines einzigen Lebenstörpers b.nden. Von
Baum zu Baum werfen sich in weiten Bogen zoll-, arm- und belnoicke Lianen
der wunderlichsten Structur und Gestalt, verbinden. Luftbrücken gleich, die insel¬
artigen Baumgruppen mit einander wie ein einziges, durch den ganzen Wald
gesponnenes und geschürztes ungeheure Netz, Auf die Lianen l),nauf klettern
andere nach Licht strebende Ranken, und die llianken wiederum sind umwuchert
von den Fäden einer, Verschiedenheit uno Manigfaltigkcit incinanderdrängenden,
immerfort gebärenden und sich selbst vernichteten Vegetation.
Wie einsam und schweigsam auch der Wald die Tritte des Menschen begleitet,
wie friedlich und still d>e weiten grünen Hallen sein Haupt überwölben, wie sehr
alles ringsum für gewöhnlich nur Nuhe athmet, so birgt sich darin doch eine
entsetzliche Macht und Gewalt, und betäubend, grauscnerregend ist's, wenn
ein Sturm oder Gewitter dieselbe entfesselt. Der Friede verkehrt sich in ver¬
heerende Wuth, die Stille in ein rasendes Getöse, das Zwielicht in undurch¬
dringliches Dunkel und jähe Feucrgluih, die Einsamkeit in grausiges Wipfelgc-
wvge und wilde Stimmenjagd. Der Boden schwindet unter den Füßen und
scheint aufgelöst zu einer einzigen, schmutzigschäumenden Wasserfluth. Der
Regen peitscht das Laub und das ächzende Gezweig, als ob sich das ganze
Gewölk ausgelöst habe zu einem einzigen großen Katarakt. Die festgeschlungenen
Lianen streifen von der berstenden Baumrinde ab und reißen den in den
Lüften wurzelnden Parasitcnwald«stückweise zur Erde nieder. Die dicken Riesen-
stämme, die des Eisens spotten, beugen sich knarrend und krachend unter der
Wuchi der Sturmstöße.
Aus dem schwarz aufgethürmten Gewölk schwebt jählings in zackigen
Windungen blendend, die Nacht in Tag verwandelnd die Blitzschlange her¬
ab auf den Wipfel eines tausendjährigen Waldriesen. Heulend fährt der
Sturm in den getroffenen Baumkörper hinein — es kracht, und eine ganze
Strecke Waldes sinkt entwurzelt in Trümmer zusammen. Die Erde dröhnt
und bebt, und alles, was auf ihr lebt, bebt mit ihr. Wehe der Crecitur, die
noch von einem einzigen Zipfel des zertrümmerten Astwerkes erfaßt wird, nieder¬
geworfen, zermalmt, wird sie mitbegrabe» unter dem Splitter- und Trümmer¬
haufen. Wenn am andern Morgen dort die Sonne fröhlich vorübergeht, wo
in der Nacht an ihrer Stelle Blitz und Donner gestanden, so wirft sie ihre
Strahlen durch eine weitgeöffnete Lichtung auf einen nie gesehenen Boden,
und über die kaum vermodernden Pflanzenleichen breitet sie alsbald wieder
einen bunten Teppich von Blumen, Früchten und Blättern, neues Leben und
neue Gestalten aus.
Bang zusammengcdnckt, kaum athmend, kauert alles Gethier während des
grausigen Kampfes der Maerle in seinem Schlupfwinkel nieder. Aber kaum
schweigt der Sturm und der Donner, so hebt sich kreischend und flügelschlagend
der Hokko aus seinem Verstecke, stört den Paujuil aus, erschreckt das kläglich
rufende Faulthier. Heerden von Brüllaffen stoßen ihr doniierähnliebcs Geheul
aus. wiederum das wulhkochcnde Knurren des Tigers, das Bellen des Fuchses,
das winselnde Jaulen des Puma herausfordernd, bis endlich alle Summen
des Waldes, eine nach der andern, laut werden, »ut oben aus den Bäumen
und unter auf der Erde eine wilde Jagd anhebt. Verwundert sieht der Mensch
so viel Leben in der Einsamkeit erstehe», und erfährt erst nun, wie start der
Wald und in welcher Weise er bevölkert ist, und wie er seine Bevölkerung zu
schütze» >i»d zu verberge» weiß.
Wenn auch der Südamerikane kein rechter, d. h. kein kunstgerechter Wald-
manu ist, so ist er doch ein leidenschaftlicher Schütze, der den Lockungen der
Pulvcrpsannc und des geringsten Iagdobjectes gar nicbt widerstehen kann.
Ueberdies ist er förmlich gierig auf den Fleischgenuß, zu dessen Erreichung er
keine Mühe, keine Entbehrung'scheut. Die Meinung, das; die Völker des Süd¬
himmels mehr und lieber von vegetabilischer, als animalischer Kost leben, er¬
leidet in der Praxis einen argen Stoß. Der Tropenameritaner nährt sich
allerdings in seiner untern Voiksclasse.hauptsächlich von Begetabilien, jedoch
nur. weil er selten Fleisch haben kann. Der Llanero»). dessen wilde Rinder
zu Tausenden die weiten Savannen durchstreifen, der Mvntanero, der auf den
Savannen der hohen Gebirgsrücken die Rinder zähmt und züchtet^, meill und
Käse bereitet, der Chivero«), dessen Ziegen zwischen den Stacheln der
Cacteen und Opuntien die dürren, aromatischen Blätter der rothen Erde ab-
Weiden, der Wohlhabende und Reiche genießt fast nichts als Fleisch und berührt
das Gemüse nur als Zubrod. Der'Arme aber bezeichnet das Glück und die
Stärke des wohlhabenden Mannes mit deu kurzen Worten- „er ißt Fleisch".
Die Sucht nach Fleisch trieb daher fast täglich einen meiner Peone vor
Alibruch des Tages und vor Verabreichung des schwer entbehrlichen Morgen-
schlückchens mit der Flinte in das Dickicht des Waldes, und gewöhnlich wurde
auch ein Pfau oder Paujuil. oder ein Tatabro ober PalMv^. dann und wann
auch ein Marimonda») mit zurückgebracht an den Herd, wo der jedesmalige
Jubel über den neuen Leckerbissen groß war. Alle Hände fielen sofort darüber
her. das Wild zu rupfen oder zu entsanken, zu zerlegen, auszumachen, zu
salzen, und mit lüsternen Augen wurde sein Gewicht, sein Fleisch- oder Fettge¬
halt geprüft. Auch nach dem Feierabend, wenn während der Arbeit ein
Wildgcmq aufgespürt war, wurde bis in die Nacht hinein gepirscht, Fallen
^stellt, in denen sich namentlich der wohlschmeckende Braten des Gratinajv fing,
und so sielen die vorsichtigen und selten sichtbaren Bewohner der Wälder
dennoch der List und Unermüdlichkeit des gefürchteten Menschen zum Opfer.
Jeder Fang an Wild belebte sofort die häusig mißgestimmten und nach dem
Herd der Mutter zurückverlangenden Lebensgeister meiner Truppe; schon der
Geruch eines mit Fleisch gefüllten Kochtvpfes oder eines Bratens am Spieß
gab der Art und der Machette einen merklich wucbtvolleren Schwung. Zeigte
Fleisch an dem Bratspieße die erforderliche Rostfarbe, und war das Mais-
^°>n erträglich mürbe geworden, so gab ein kräftiger Stoß i» das Kühhorn
den vorgedrungenen Arbeitern das ersehnte Zeichen zum Mittagmahle. Rings
un> das zusammengeworfene Feuer drängte sich sodann der kleine Haufe mensch-
licher Wesen in der weiten Wildnis; zusammen und deckte seinen Tisch ein
jeder nach eiaencr Lust und Bequemlichkeit, vor sich auf den Knien oder auf
Erde auf einem Hclikonicnblattc. auf einem Sacke, einem Baumstümpfe
"der flachen Steine den Napf in der einen, das Rostfleisch ur der andern
Hand, die festen Elfenbeinzähne als Messer, die Finger als Gabel handhabend.
Der Raum war weit genug zu solchem Comfort, von keinem Schranken setzen¬
den Gemäuer eingeengt und nur überdacht von dem Thronhimmel gewaltiger
Laubdecken, nur umwandet von schmiegsamen Ranken- und Lianennetzen.
War das Lager günstig gelegen, so trieb ein rauschender Waldbach seine
perlenden Schaumwellen zu unsern Füßen hin über und durch das Geflecht von
Knorpel- und Schlangenwurzeln. Schlingruthen, dornigen Fangarmen, hernieder¬
gebeugten Laubzweigen, schwersaftigen Collodicn- und Bijaoblcittern, über aus¬
gezackte Schiefergeschiebe und Granitgerölle, wobei er neckisch die zierlich ge¬
schlitzten Fcderblättchen der stahlblauglänzenden Farrn- und Salapinellcn und
dazwischen die feurige Gluth der Passifloren und Bignonienblumen mit krystallnen
Tropfen besprengte. Ueber das seitliche Gebüsch hinüber lugen die klugen Augen
der Mäuler begehrlich nach dem Futtersäcke. Rücksichtsloser als jene giebt der
ewig impertinente Esel seinem Gelüste nach den gerösteten Bananen des behag¬
lich vor ihm ausgestreckten unachtsamen Mulatten nach, und hinterlistig schlau
den günstigen Augenblick benutzend, nimmt er mit großer Gelassenheit Besitz
von dem verlockenden fremden Eigenthume. Wenig berührt ihn das allgemeine
Gelächter rings in der Runde, und unerschütterliche Verachtung setzt er den
Faustschlägen entgegen, die nach seinen mimisch beredten Ohren gezielt sind;
ja, mit stoischer Ruhe wiederholt er sein geglücktes Experiment noch einmal,
wenn ein zweiter günstiger Augenblick winkt.' Hohnlachend schwingt sich eine
Schaar grinsender Affen dicht über das Lager hin von einem Baum zum andern,
immer nahe genug zum Schusse, und doch immer wieder weit genug, den Schuß
unschädlich zu machen. Wenn dann die Glieder ausgereckt, die Leiber gefüllt,
ein langer Trunk Wasser mit dem eingeschmolzenen Zucker gethan ist, werden
die Bündel wieder zusammengeschnürt und auf die Mäuler geladen, und die
neue Feuerstelle wird wiederum dort hergerichtet, wo am Abend das Tage¬
werk endete.
Aus der Thalebene der Ticad6ra wand sich der Pfad wieder über abge¬
rundete Hügelketten zu einer kühleren Zone, der etwa 7000' hohen NontAüg,
6e1 molto hinauf, um von diesen letzten, östlichsten Vorsprüngen der von Süden
nach Norden streichenden Andeskette in die ausgedehnten, heißen und wald¬
bedeckten Sumpfebenen der Lagune von Maracaibo abzufallen und auf den
schiffbaren Theil des Catatumbo auszumünden. Die lehmigen und von den
häufigen Niederschlägen und Nebeln der Gcbirgszone aufgeweichten und schlüpf¬
rigen Abhänge verdoppelten die bisherigen Anstrengungen und Entbehrungen.
Der Creole jeglicher Farbe, äußerst empfindlich gegen die geringsten Temperatur¬
schwankungen, bezeichnet in seiner Abneigung gegen rauhes Klima schon jede
unerhebliche kalte Bcrgschneide mit dem gefürchteten Worte Paramo und zeigt
wenig Lust, seine Haut auf derselben zu Markte zu tragen. Er arbeitet um
so schwerfälliger, je mehr sein Körper fröstelt, und je weniger Schweiß er ve»
tropft. Die Wärme giebt seinen Muskeln eine ganz, andre Elasticität, und er
beschafft in dieser mit Leichtigkeit das Doppelte seiner Leistungen in kalter Luft.
Die Montaneros, welche unter einem kühlen Klima aufgewachsen sind und sich
aus diesem nur furchtsam in das heiße hinunterwagen, verrathen merklich
weniger Lebendigkeit, Betriebsamkeit und Energie als ihre Nachbarn in den
Fluß- und Küstenebenen und Tiefthälern, so lange sie in ihrer heimathlichen
Sphäre sind.
Der Reiz des abenteuerlichen Waldlebens, welcher unsre Entbehrungen
und Mühsale bis dahin wesentlich erleichtert hatte, erblaßte gänzlich , als oct«r
Decken noch Covijas, weder Blätterstreu noch Blätterdach, noch Feuer gegen
Nebel, Kälte und Nässe hinreichenden Schutz gewährten. Kaum, daß die höhere
Tagestempcratur von 11 Uhr Mittags bis 3 Uhr Nachmittags das nasse Ge¬
strüpp etwas abtrocknete, welches in den Frühstunden die Kleider sofort derartig
näßte, als ob sie aus dem Wasser gezogen wären. Die Waffen rösteten, das
Pulver versagte seine Dienste, auch das Wild war spärlicher und schwerer zu
erlegen. Bald gesellten sich zu der mangelhaften Ernährung und Körperpflege
noch Anzeichen von Krankheiten, namentlich Magenleiden, welche die Willens¬
kraft meiner Truppe mehr und mehr herabstimmten. Ich selbst war von an¬
haltender Diarrhöe hart mitgenommen, die bald allgemein ward und in den
viel gefürchteten und aufreibenden xu^jo, eine Art chronischer Ruhr, ausartete.
Die hin und hergehenden Fouragethierc nahmen Kranke mit fort und brachten
Ersatzleute herbei, welche letzteren'aber, wenn sie den Kranken auf halbem Wege
begegneten, über den Anblick erschreckt, wenig Neigung zeigten, ihren Contract
zu erfüllen, und häusig schleunigst umkehrten. Gefürchteter noch als Kälte und
Krankheit war der Umstand, daß wir ein Gebiet betreten hatten, das häufig
Von den ununterworfcnen Goajiro-Indianern auf ihren Jagdzügen durch¬
streift wurde. Man erzählte sich von Ueberfällen und Niedermchelungen. die
zu verschiedenen Zeiten an vordringenden Ansiedlern und Jägern verübt sein
sollten. Der Indianer, der sich Cbnst und Bürger nennt, hat vor seinem um-
getauft umherschweifenden Bruder eine gewaltige Furcht, derselbe steht beständig
mit giftigen Pfeilen und blutigen Scalpen vor seinen leicht erschreckten
Augen.
Mit welchem Entzücken ich endlich unter solchen Umständen, nach Ueber¬
windung unglaublicher Drangsale bei eignem kranken Körper, auf dem höchsten
Gebirgspaß, dem alto edel molto, das kleine Kreuz aufrichtete, welches nach
Landessitte immer den höchsten Uebergangspunkt bezeichnet, kann man sich vor¬
stellen. Auch die wenigen getreuen Mulatten und Indianer, die mir (es waren
ihrer nur noch vier) geblieben waren, trugen triumphirenden Blickes den Stein¬
haufen zusammen, in den das Kreuz mit besonderer Feierlichkeit und nach Ver¬
abreichung eines doppelten Mästet Aguardicnte eingefügt wurde. Ein sei n
sah nun den größten Theil unsrer Drangsale als überwunden an, und als ich
überdies noch ihre Namen in das Kreuz einschnitt und ihnen mit pomphaften
Worten auseinandeisetzte, daß ich ihrem hohen Verdienste hier ein dauerndes
Denkmal für jeden, cer daran vorübergehe, gesetzt habe, und auch denkleinen
Kunstgriff nicht verschmähte, ihren Namen den ihrer Helden Bolivar, isantandcr
und andrer geschichtlichen Koriphäen zur Seite zu stellen, hatte ich der ganzen
Eitelkeit der Kreolen ins Centrum getroffen, so daß ich neubcschwingt mit Axt
und Machette die Schlangenwindungen des Weges auch weiter an den Abhang
hinunter in den Wald hineinzeichnen konnte.
Für den Naturforscher speciell, aber auch für jeden Naturfreund wird die
Menge kleiner und großer Leiden und körperlicher und geistiger Entbehrungen,
welche die Abgeschiedenheit von allen Genüssen der Civilisation und das harte
Waldleben ihm auferlegen, durch vielfache geistige Freude» und Genüsse,
welche die immer neuen Enthüllungen der Natur ihm bereiten, in ihrer auf¬
reibenden Wirkung bedeutend abgeschwächt, ja der Mensch der Civilisation wird
allein dadurch zum Ertragen und Ueberwinden aller jener Beschwerden eines
Naturforscherlebens befähigt. Andrerseits aber wird ihm durch die Ungunst der
Verhältnisse, die ihm verwehrt, alle seine Beobachtungen wissenschaftlich zu
verwerthen, oft bittrer Verdruß und Kummer bereitet. Dieses Loos traf auch mich.
Ohne alle wissenschaftliche Hilfsmittel, sogar mühsam mit den nothwendigsten
leiblichen Bedürfnissen kämpfend und gezwungen, auf das Geizigste mit der Zeit
zu wuchern, gewann ich nur Muße zu flüchtigem Sehen und Beobachten der
Vegetationsformen, durch die wir uns hindurchwühlten, wie sich die Ameisen
ihre Gänge graben. Hinter und unter uns verwandelte sich bei dem Auf¬
steigen allmälig die Waldphysiognomie des Tieflandes mit jedem Schritte auf¬
wärts ; für jeden sinkenden Grad der Thermometcrscala zeigte sie ihre bestimm¬
ten charakteristischen Merkmale. Durch wiederholte Uebung und Erfahrung
gelangt man beim Besteigen der Gebirge unter den Tropen dahin, ohne Ther¬
mometer und Barometer, nur an derVegetationsphysiognomie ziemlich genau
die Tcmperainsgvade und die absolute Höhe über dem Meeresspiegel angebe»
zu können. Die großartigen Körpcrdimensionen in den Wäldern am Fuße der
Kordilleren rringern und verkürzen sich in den Wäldern auf dem Rücken der
Kordilleren, und zwar in genauem Verhältnisse ^ur Höhenzunahme. Individualität
wie Gesammtheit beider unterscheiden sich wesentlich. In der hohen Bergregion
ist der Bauwwuchs zwerghafter, das Wachsthum langsamer und gemäßigter, als
in dem Tieflande; wie hier in diesem,die einzelnen Stämme in weiten Zwischen-
räumen von einander aufsteigen, die ausgefüllt sind mit mannigfaltigem und
verschiedenartig gruppirten Unterholze, so drängen sich dort in jenen die ein¬
zelnen, weniger hohen, krummen und knotigen Stämme dichter zusammen;
unter ihrem niedrigen Gipfel findet ein Unterholz, wie unter dem Waldgewölbe
ece> heißen Strichs keinen Raum; die kargen Zwischenräume werden durch die
Wnrzelverschüugungen. durch das niedcrgescnkte Ast- und Blätterwerk, durch
se,!förmige Lianen ausgefüllt. Die Wurzel» sind feste Anker, die nicht so
leicht den Stürmen und Unwettern weichen als die der Riesenbäume des Tief¬
landes. Der Baum am Fuße der Kordilleren trägt kaum einige wenige Moos-
scuen auf seiner Rinde; sein tausendfältiges Leben von Gewächsen/Blumen,
Wubelthieren und Insekten concentrirt sich oben in seinen höchsten Wipfeln.
In der kühlen Bergregion aber ist der Baum mit langen, dichten Moospolstern
umkleidet, und er trägt auf den niedrigen, wenige Fuß über der Erde ausge-
breiteten Zweigen alle jene zahlreichen Gewächse, die sich in dieser Zone von
den atmosphärischen Dünsten oder dem Safte andrer Pflanzen nähren. Die
Lianenstämme, die ineinanderverk» vielen Dorncnruthen, die sich hin- und her-
wint enden Geweiebse verlieren an Map und Bedeutung; sie beschränken den
Gesichtskreis um?t mehr durch ein undurchdringliches ^ep von Stämmen, Ruthen,
Zweigen und Blättermassen, Lust und Licht dringen freier in das Innere des
Waldes ein. Da aber die Höhenzüge beständig von Neoeln eingehüllt sind,
ziehen auch diese ungehindert durch den Wald hindurch, tauchen ihn in eine
nur auf Augenblicke zertheilte Masse von Dunst und tropfbarer Feuchtigkeit ein
und breiten dasselbe Dunkel, dieselbe Enge und Schon.e über ihn aus, welche
in dem Wald der heißen Tiefe herrschen. Die Palmenform, bald in alles über¬
ragender Hohe, bald in winziger Kleinheit, bildet den einzigen gleichartigen
Zug in der Waldphysiognomie des Hoch- und des Tiefwaldes.
In dem Maße, wie die phanerogamischen Vegetationstorper ihre Dimen¬
sionen verkürzen, dehnen sich die der Kryptogamen aus. Die krautartigen
Farrn an den dunkel beschatteten Wasserlachen .des Tieflandes werden hier zu
Bäumen, uiid wiegen, Palmen glcicd, ellenlange, zart aufgeschnittene Fcder-
blättcr auf 16—30 Fuß hohen/ rothfaserigem, mit Blaltnarben getüpfelten,
schlank aufgerichteten Stämmen, ober sie ringeln faustdicke Rhizome, die mit
ihren vielen Wurzelkammern dickleibigen Skolopendern gleichen, um die moos-
umpvlsterten Baumstämme und spreizen die leicht- und luftgettagenen Federwedel
radförmig aus, wie der Pfau seinen Schweif. Der Fuß versinkt in hohe
Schichten verwester vegetabilischer Abfälle, das Erdreich ist durchbrochen, zer¬
klüftet, abschüssig, mühsam zu erklimmen. Klare, kalte Wasser spritzen aus
nllen Spalten und Klüften hervor und rieseln munter die Abhänge hinunter,
während im Tiefland der Fuß auf eine feste Erdmasse ohne allen Humus tritt,
die sich eben vor ihm ausbreitet, nur in ihrer dichten Vegetation die Bewegung
hindert und nur hier und da, in weiten Entfernungen von einander von einem
breiten Flußbette durchfurcht wird.
Auch ein anderes Thiergeschlecht haust da oben in der kalten, als da unten
w der heißen Gegend. Mit dem Steigen und Fallen der Quecksilbersäule
bariiren, wie in der Vegetation, Große, Farbe, Temperament und alle Lebens-
«ußerungen des Thierreiches. Insecten. Vogel und Vierfüßler suchen in den
Wäldern der Cordilleren ihre Nahrung auf, aber dicht über der Erde, sie nisten
',n dem Moose, den niedrigsten Baumzweigen, und suchen den Tummelplatz
^i)rer Kämpfe und Spiele nicht oben in schwindelnder, schwankender Höhe. Blut¬
durst und Mordlust ist in ihnen weniger ausgeprägt. Die Krallen des Tigers
verwickeln sich selten einmal in den langen MovSfäden und weichen Humus-
pvlstern des Gebirges. Der Schuppenpanzer der Schlange rasselt weit sel¬
tner durch das nebclumhüllte Gestrüpp. Kein stechendes Jnsect unisummt und
uwschwirrt mehr die unten gepeinigte Haut. Das Gefieder, der Ruf. der
»iügelschlag der Vögel ist ein 'anderer. Während unten die Katzen den glühen-
Durst'mit Blut und Todesqualen löschen, tritt hier der harmlose Tapir
seinen schweren Huf in den Kiessand sprudelnder Quellen ein. und stößt das
schüchterne Reh sein kurzes Geweih an den Zweigen verkrüppelter Bäume ab.
Und so fort, höher hinauf. Je mehr sich die Erdrinde über den Meeres¬
spiegel erhebt, desto mehr lichtet und lüftet sich die Vegetativnsdccke, verkümmert
^'it schwindet der Baumwuchs, vermaunigsacht sich an dessen Stelle die Strauch-
""d Staudenform, bis endlich die Vegetation mit dem, womit sie in der Ur-
pnivde begonnen, mit Gräsern, Moosen und Flechten, wieder abschließt.
Ein rauschender Waldstrom umspülte den Fup der Montana del molto, und
"Ut ihm that sich unsern Blicken eine herrliche Landschaft auf. Einige hundert
Schritte seitwärts von dem Wege siel das Wasser wild schäumend über zer¬
trümmerte Felsblöcke in eine Tiefe von 40—60 Fuß hinab. Unten theilte sich
die Fluth in ein breites ruhiges nette auseinander, das im Sonnenschein glän¬
zend, zu beiden Seiten von Wald eingefaßt war. Mächtige Feigcnkuhmilch-
Moral- und Kopaibenbäumc, baumartige Gräser und fußdickes Bambusrohr
umstanden hier den durchsichtig klaren Strom, der wahrscheinlich zu dem Ca-
tarumbo niedertrieb. Vogelstimmen belebten die Umgebung des Wasserbeckens, schil-
lerndesGcsieder umschwirrte das grüne Laubgewinde mit seinen Blumentrauben, die,
von elastisch gewundenen Stielen getragen, bis zu den Wellen hinab hingen. Ueber
dem Wipel der mächtigen Waldbäume wiegten einzelne Palmen ihre stolzen Kro¬
nen, und darüber spannte der Himmel sein sommcrblaues Zelt aus, das sich
ebenso blau wiedersah tief unten in dem Spiegel des lichtbeglänztcn Wassers.
Die Berg- und Waldbewohner Südamerikas belegen auch die unbewohnten
Gegenden, die sie vielleicht einmal berührt oder als Lagcrpätze benutzt haben,
sofort mit Namen, die dann im Munde des Volkes fortleben, selten vertauscht
und vergessen werden und in der Ortskunde stabile Anhaltspunkte bilden. Die
Wahl der Namen ist oft sehr bezeichnend, aber fast immer nur den materiellen
Beziehungen des Lebens entnommen. Eine zärtlich innige und poetische Liebe
zur Natur, wie sie der civilisirte Mensch empfindet, spricht sich in den derben
und rauhkräftigen Naturvölkern nicht aus. Gewöhnlich geben die Kalender-
heiligen den Pathcnnamen zu solchen Stationspunkten und neuen Ansiedelungen
her, oder sie werden auch besonderen Aehnlichkeiten, welche der Punkt mit irgend¬
welchen sinnlichen Gegenständen gemein hat, wie anderen Anfälligkeiten ent¬
nommen. An dem neu geöffneten Wege hinter uns waren ebenfalls an den
günstigsten Lager- und Ansiedelungöstellen und je in Zwischenräumen von einer
Tagereise, (die nach dem Schritte der Lastthiere berechnet wurde). Ncisestationen
angelegt worden, deren Taufe ich immer dem Geschmacke meiner Peone überlassen
hatte; es waren daselbst kleine Ranchoszur Uebernachtung des nachfolgenden
Colonisienzuges, wie zur Unterbringung der gegen Feuchtigkeit empfindlicheren
Waaren ausgerichtet, trockene Holzscheite zusammengestellt, Wasserlöcher zum
Ansammeln von Regenwasser gegraben, und alle anderen nothwendigen Vor¬
kehrungen getroffen. Für die soeben geschilderte von dem warmen Hauche der
Naturpoesie belebte Stätte, welche sich am Fuße'des Gebirges vor uns aufthat, war
mir die Pathenschaft aller Heiligen, wie jede materielle Vergleichung zu¬
wider. Ich bemächtigte mich daher in meiner feierlichen Stimmung des Rechts
zu taufen und nannte diesen Ort des Friedens und der Versöhnung, der sich
ausgezeichnet zu einer Ansiedelung eignete, La Salvacion. Die derben braunen
Naturmenschen zollten mir, als ob ich ihnen etwas von meiner Stimmung ein¬
geimpft hatte, lauten Beifall, und einige von ihnen wurden schließlich so ein¬
genommen für den Platz, daß sie sofort beschlossen, mit Eintritt der trocknen
Jahreszeit dahin überzusiedeln und den Grund zu einer Vorcolonie des Hafen¬
platzes am Catatumbo zu legen. Ein solcher Vorort mußte für diesen von
bedeutendem Nutzen sein, und 'so bestärkte ich aus allen Kräften diesen Vorsatz-
Ja, ich gestehe, ich selbst wurde von den idyllischen Reizen des Orts so bezaubert,
daß ich das größte Verlangen empfand, der Welt und dem Wissen der Civili¬
sation Valet zu sagen und hier für die Zukunft meine Hütte zu bauen.
Italien ist bis auf unsere Tage das classische Land der Festlichkeiten ge.
blieben, das es seit den Anfängen seiner Geschichte war. Erst hat die römische
Kirche die ganze Unerschöpflichkeit der antiken Tradition nach dieser Richtung
Mit allen reinen und unreinen Motiven aufgenommen und ausgebeutet, wie sie
es heute noch thut; wetteifernd mit ihr haben die zahllosen kleinen Höfe des
vielgetheilten Landes der Lust nach feierlichen Schaustellungen gefröhnt, und
hier wie dort ist zu jeder Zeit das Volk im weitesten Sinne nicht blos —
Wie meist bei uns — Zuschauer, sondern mitagirender Theilnehmer gewesen.
Denn niemals, wie ernst und schwer auch die Zeitläufte waren, haben sich die
Italiener den eingeborenen Hang nach lauter öffentlicher Lustbarkeit verkümmern
lassen. Wie oft sind sie darum Kinder gescholten worden, wie oft hat afterkluge
Weisheit ihren tollen unverwüstlichen Faschingshumor als Symptom der Un¬
fähigkeit zu ernsthafter politischer Thätigkeit, als Zeichen des Sklaventhums
gelästert; die Zeit hat bewiesen, daß dieser Zug weit mehr ein Ausdruck guter
und gesunder Natur war. In den gegenwärtigen Tagen versammeln sich unsre
Nachbarn jenseits der Alpen, um ein großes Fest zu feiern. Unter den Händen,
die jetzt die Kränze dafür winden, sind tausende gezeichnet mit den Schwielen
harter Arbeit im Dienste des politischen Ideals, und alle diejenigen, welche
Mit der Geschichte ihres Vaterlands thätig fortleben, sind frohe Gäste der be¬
vorstehenden Feier. Denn sie ist die erste nationale, die erste italienische. Deshalb
überragt dieses Fest an innerer Bedeutsamkeit sowohl die Triumphe der römischen
Kaiser von ehedem als auch die Jubiläen des Papstthums. Aber es ist bezeichnend,
baß die päpstliche Kirche diesmal grollend bei Seite steht und dadurch aufs
Neue an den Tag legt, wie sehr sie aufgehört hat. der geistige Mittelpunkt des
Volkes zu sein, das vollständiger und aufrichtiger als jemals bei ähnlicher Ge¬
legenheit die Begeisterung dieser Maitage theilen wird.
Gewiß, unter den Italienern von heute würde jede gemeinverständliche
historische Erinnerung genügen, der Anlaß patriotischer Feierlichkeiten in großem
Stil zu werden. Das Zusammentreffen der Zeitumstände vermöchte auch einem
weit geringeren Ereignisse bedeutendes Relief zu geben. Aber es ist schön,
baß die festliche Stimmung des Volkes so würdige Gelegenheit findet, wie diese
'se- Vor Kurzem tagte das italienische Parlament, um sein Votum abzugeben
für die Verlegung der Hauptstadt des Königreichs vom Po an den Arno. Fast
zum ersten Mal, so lange es eine Geschichte Italiens giebt, hatte in solcher
Frage nationales Gemeingefühl über particuläre Wünsche und Interessen gesiegt.
Man weiß, wie schwer es halt, die praktischen Consequenzen durchzusetzen von
großen nationalen Entschlüssen, auch wenn sie in Bausch und Bogen noch so
schnell und einhellig gefaßt worden sind. Leicht bei einander wohnen die Gedanken,
doch hart im Raume stoßen sich die Sachen. Es ist auch diesmal nicht ohne
Anstoß abgegangen; aber das Parlament verzichtete freiwillig auf die Discussion
der bedauerlichen Vorgänge vom turiner Schloßplatze, und der Schatten mag
Vergessen werden. Die Thatsache der Verlegung des Reichsmittelpunktes wird
dadurch nicht minder epochemachend für die Halbinsel, die sich nach langem un¬
glücklichen Ringen aus dem Scheintods des geographischen Begriffs zu neuer po¬
litischer Realität erweckt steht.
Und in welch erhöhtem Sinne macht Florenz die Honneurs dieses ersten
italienischen Nationalfestes. Nicht der zufällige Umstand, daß vor 600 Jahren
Dante in ihren Mauern geboren wurde, macht die alte Guelfcnstadt zum
Mittelpunkt des Festes, an welchem ihr gegönnt ist, die Manen ihres größten
Todten durch feierliches Opfer zu versöhnen; sondern weil sie es mit dem Be¬
wußtsein thun darf, daß sie die Pflegestätte des italienischen Genius ist, jenes
gewaltigen Geistes der modernen Cultur. Und dies Gefühl, das sie erhebt
über alle andern Städte Italiens, mag ihr die Kraft geben, im neuen könig¬
lichen Schmucke vor Dante hinzutreten und ihm als Jubiläumsgabe die Zu¬
versicht und das Gelöbniß darzubringen, daß in der Wahl seines Heimaths-
ortes zur Hauptstadt die Bürgschaft einer dauerhaften und — was mehr sagen
will — einer rechtschaffen nationalen Lösung der großen Umgestaltungen seines
Vaterlandes gegeben sei.
Denn das, was durch den Umzug der Regierung Italiens nach Florenz
nunmehr sich vollzieht, bedeutet keineswegs blos einen Ortswechsel der Residenz,
auch schwerlich nur ein Provisorium, sondern weit mehr: es ist innerlich und
äußerlich die Beglaubigung des neuen Italien und wird sehr lange Zeit definitiv
sein. Den Politikern, die sich vor einem halben Jahre entschlossen haben, Turin
zu verlassen, gilt Florenz angeblich nur als eine Station auf dem Wege nach
der Tiber, und das Volk hofft heute noch ebenso; haben doch die Florentiner
selbst bei der Entscheidung jenes Wechsels mit schöner Uneigennützigkeit erklärt,
daß sie die Ehre der Residenz freudig opfern wollen, wenn Rom erst wirklich zur
Hauptstadt gemacht werden könne. Die Edelsinnigen werden kaum an ihr Ver¬
sprechen gemahnt werden; wahrscheinlicher dünkt uns, daß Florenz der wirkliche
Mittelpunkt des Staates bleibt. Wohl wird in nicht mehr ferner Zeit die
Würdigere Tricolore von den Zinnen des Capitoles wehn; aber Hauptstadt im
eigentlichen Sinne wird Rom schwerlich werden. Und das wäre in der Ordnung.
so sehr auch Rom in der Verehrung der Italiener obenansteht. „Die Steine
seiner Mauern" — so sprach Dante — „verdienen Ehrfurcht und der Boden,
Worauf es gegründet ward, ist würdiger als die Menschen sagen." Die Wahr¬
heit dieses Wortes wird noch heute von jedem empfunden, dem Steine nicht
blos Kalk und Marmor und dem die sieben Hügel nicht blos Erde sind. Und
dennoch ist Rom nicht in gleicher Weise das Italien Italiens wie einstmals
Athen das Hellas in Hellas war. Zweimal ist Rom die Hauptstadt der Welt
gewesen, aber im Alterthume war das römische Imperium, im Miitelalter des
Papstthum mit ihren eigenthümlichen Interessen das Bedingende und Be¬
stimmende seiner Hoheit; das national-italienische Wesen dagegen verdankt
seine Weltstellung Florenz und den Florentinern.
Damit soll die Bedeutung der piemontesischen Geschichte nicht gekränkt
werden, welche der Erneuerung Italiens in unserm Zeitalter Anstoß und Namen
gegeben hat. Feiert man aber die erstaunlichen, freilich auch nicht unbedenklichen
Leistungen Piemonts mit dem großen Worte des risoigimeiito der Auf¬
erstehung Italiens, dann muß man nicht vergessen, daß wie jenes Wort so
auch dieses Ereigniß zur Voraussetzung die Existenz eines lebendig Begrabnen
hat, das Dank dem Machtspruch kühner Geister sich wieder auf sich selbst be¬
sinnen konnte. Dies Leben selber aber erzeugt und genährt zu haben, ist
das unsterbliche Verdienst der florentinischen Geschichte, deren edles Antlitz aus
den Denkmälern der Cultur hervorleuchtet, welche wir als die der Wieder¬
geburt, der Renaissance bezeichnen.
Niemals ist einer Geschichtsepoche ein schönerer Name mit besserem Rechte
gegeben worden. Die Bedeutung dieser Cultur ist mit nichte« auf Italien be¬
schränkt und noch viel weniger ist ihr Genüge gethan, wenn man sie, wie es
"se geschieht, blos auf die Künste beziehen oder von dem wissenschaftlichen
Import von jenseits der Adria herleiten will. Ihre Erzeugnisse sind der Kanon
der modernen Bildung der Menschheit geworden, und sie umfaßt die religiösen,
sittlichen und ästhetischen Ideale, wenn auch das Verhältniß dieser Factoren
unter einander abweicht von demjenigen, welches in der Geschichte der deutschen
Geistesentwicklung hervortritt. In der Natur beider Völker scheint der Unter¬
schied begründet zu sein, daß der Schwerpunkt bei allen Wendungen der Geistes¬
geschichte unter den Germanen im sittlich-religiösen Bewußtsein liegt, während
das innere Leben der Romanen und vornehmlich der Italiener sich überwiegend
An Ästhetischen bewegt. Die Geschichtsbetrachtung begnügt sich oft bei diesen
Allgemeinheiten, und wenn man sie auf die bekanntesten Erscheinungen und
"uf die spätere Zeit der Renaissance-Epoche einschränkt, so mag man sie gelten
lassen; für die Anfänge jedoch protestirt die Geschichte gegen diese Charakte-
Usirung, die wie alle Scheidung nach Kategorien so selten Stich hält bei der
Schätzung historischer Dinge.
Am gewaltigsten tritt dieser Protest uns entgegen in Dante, dem Propheten
dieser Cultur. Bei ihm, in dessen Namen der Italiener das vereinigt zu
empfinden glaubt, was wir mit den Namen Luthers und Goethes aussprechen,
liegt die Wucht des ganzen Wesens so sehr im sittlichen und religiösen Pathos,
daß ihm gegenüber der angedeutete Gegensatz völlig in Nichts zerfällt. Und
wieder, wenn wir heute seine göttliche Komödie lesen, so ist es nicht das
Positive seiner ethischen und theologischen Ueberzeugungen, was als das
Epochemachende auf uns wirkt. So sehr ihm darauf anzukommen scheint und
so groß die Kunst und Mühe ist, womit er den Inhalt seiner Wissenschaft mit
der poetischen Darstellung verbindet, uns ergreift in unendlich höherem Grade
die Wahrnehmung, daß bei diesem ungeheuern Unternehmen ein Element ganz
yener Art frei wird, und dieses erst macht ihn für uns zum Prediger einer
neuen Zeit. Zum ersten Male, begegnen wir in der neuen christlichen Literatur
einem Werke, das die Züge eines einzelnen Menschen trägt. Keine Strophe
seines großen Liedes, aus der uns nickt das Auge eines Mannes entgegen¬
leuchtete, den wir in seiner ganzen Eigenthümlichkeit erfassen können; kein
Gesang, durch den nicht der eherne Schritt dieser hohen, unnahbaren Gestalt
vernehmbar würde!
Die Erhebung und Befreiung des Individuellen und Persönlichen ist die
große That der italienischen Renaissance. Der Mensch des Mittelalters fühlt
sich nur als einer unter vielen Gleichen, in der Existenz der Gemeinschaft
empfindet er allein das Recht seiner eignen; nur durch das Organ einer Ge¬
meinsamkeit, welcher er untergeordnet war, trat der Einzelne in ein Verhältniß
zur Welt und zu Gott. Nach jener Seite übernahm die bürgerliche und die
ständische Gemeinde, in welche er hineingeboren war, nach der andern Seite
usurpirte die Anstalt der Kirche seine Vermittlung und Rechtfertigung; er selbst
war völlig dahingegeben. er lebte, wollte, dachte nur als Gattungswesen.
Diesen Bann haben zuerst die Italiener durchbrochen. In Dante und
seinen Zeitgenossen reckt sich zum ersten Male der gottgegebene Adel der Menschen-
natur empor über die Schranken der Race. Stolz und frei beruft sich die
Persönlichkeit auf sich selber und schaut aus eigenen Augen auf die Welt.
„Gott hat am Ende der Schöpfungstage den Menschen geschaffen, aus
daß er im Weltall die Gesetze erkenne, die Schönheit liebe, die Größe bewundere.
Er band ihn an keinen festen Sitz, an kein bestimmtes Thun, an keine Noth¬
wendigkeit, sondern gab ihm Selbstbestimmung und freien Willen. Mitten in
die Welt hinein — so spricht der Schöpfer zu Adam — habe ich Dich gestellt,
so daß du frei und leicht um dich schauen magst und sehen alles, was darinnen
ist- Ich schuf dich als ein Wesen weder himmlisch noch irdisch, weder sterblich
noch unsterblich allein, damit du dein eigner freier Bildner und Ueberwinder
werdest. Du kannst zum Thiere entarten und zum göttlichen Wesen dich wieder-
gebären; die Thiere bringen von Mutterleib mit, was si<haben sollen; die
höheren Geister sind von Anbeginn, was sie in Ewigkeit bleiben werden. Du
allein hast eine Entwickelung, ein Wachsen nach freiem Willen, du hast Keime
eines allartigen Lebens in dir!"
Als Pico von Mircnidvla in seiner Rede über die Menschenwürde diese Worte
schrieb, war Dante längst dahin, aber sie sind wie eine Inschrift für sein
Grab, ein zusammengezogenes Glaubensbekenntniß der Frührenaissance, welche auf
ihn als auf ihren Vater zurückweist. Seitdem die monumentale Gestalt dieses zauber-
mächtigcn Menschen über die Erde geschritten war, tauchen allenthalben in Italien die
krafterfüllten, selbstbewußten Physiognomien eines neuen Geschlechtes auf. Man
mustere die dritthalb Jahrhunderte von Dante bis zu „seinem Bruder" Michelangelo.
Die aus der Menge hervorragen, haben geradezu gigantische Größe; der Ueber¬
fluß der Natur ist über sie ausgegossen; zu allem, was sie beginnen, scheinen
sie geboren zu sein, und sie bewähren das kühne Wort, das mehr als einer
dieser Heroen von sich selbst gesagt hat. daß der Mensch von sich aus alles
vermöge, wenn er nur wolle. Dieses souveräne Selbstbewußtsein hat die
höchste Tugend und das vollendete Laster erzogen, es hat den Halbgott und
das Scheusal hervorgebracht. — die Geschichte Italiens ist überreich an Bei¬
spielen nach beiden Seiten — aber darum ist sie so unendlich lehrreich und
bewunderungswürdig.
Und so verschieden sie in ihren Kundgebungen, so feindselig sie oft in
ihren Berührungen erscheinen, die Cultur der Renaissance ist derjenigen des
deutschen Reformationszeitalters verwandter, als gewöhnlich gemeint wird.
Aus dem Gesichtsvunke ihrer Jdealziele betrachtet trennt sie blos die Natur
der Organe, durch welche sie sich derselben bemächtigen. Der Hauptunterschied
ist, daß der Italiener nicht wie der Deutsche einen positiven Glaubensinhalt
ausprägt, — selbst Savonarvlas Streben hat einen andern Sinn, — aber die
Religion der Wahrheit und Schönheit, wie sie aus der Wissenschaft des italienischen
Humanismus und aus der Kunst des Quattrocento und Cinquecento redet, ist
auch Religion. Hier wie dort ist es das erwachende Gemüthsleben, was gegen
die erdrückenden Formen der mittelalterlichen Weltanschauung sich auflehnt; hier
Wie dort bemächtigt sich der Geister das Bedürfniß nach dem Zusammenhange
der Epochen der Menschheit, welchen die Cultur des Mittelalters. voran die
Kirche, despotisch gelöst hatte.
Der „neue und gewisse" Geist der Italiener wurde seiner Kindschaft Gottes
vorwiegend in dem Verhältnisse zum Diesseits inne. Hinter dem Schleier,
welchen die katholische Weltbetrachtung über das Auge des Menschen gelegt
b^ete, erkannte man jetzt die Natur, der Gottheit lebendiges Kleid, in ihrer
Schönheit und Majestät. Was nebelhaft und ahnungsvoll aus der Minne-
poesie des Jahrhunderts vor Dante herausgeklungen hatte, kam in ihm zuerst
zum vollen Accord, zu voller Lebendigkeit. Merkwürdig genug, wie dürftig die
Naturschilderung, wenn sie überhaupt begegnet, bei denjenigen Poeten ist,
die unter dem Eindrucke der reichen sinnlichen Erfahrungen der Kreuzzüge stehen.
Bei Dante ist alles deutlich, concret, es beruht auf bewußter Beobachtung.
Er ist der erste moderne Mensch, bei welchem wir dies finden, und er ist zu¬
gleich auf Jahrhunderte hinaus der größte Schilderer des Naturlebens. Die
ungeheure Scenerie seines Gedichtes ist überall klar, auch die groteskesten
Bilder seiner Phantasie sind immer von greifbarer, erschütternder Realität.
Bis ans Virtuose streift die Handhabung der Mittel, über die er gebietet, und
im Himmel und auf Erden ist nichts Bedeutsames, was seinem Biel entginge.
Auf gleicher Höhe steht seine Kunst der Seclenschilderei. Vor dem unerbittlichen
Blicke des Herzenstündigers wird das Geheimste der Menschenbrust offenbar.
Auch die zarten Beziehungen zwischen Natur- und Seelenstimmung kennt und
benutzt er, aber niemals als Selbstzweck, sondern mit höchster poetischer Weisheit
zur Zeichnung der Situation, auf die es ihm ankommt. Seiner Gcnialiät
gegenüber wanken alle Grundsätze der Theorie über die Grenzen der Darstell-
barkeit. Ist es begreiflich, wenn Goethe, der ihn nur oberflächlich gekannt hat,
von einer „widerwärtigen, oft abscheulichen Großheit" Dantes spricht, so ist
darum nicht minder gewiß, daß alles, was seine Poesie berührt, wirklich cxistict
und volles Leben athmet. Denn das Größte wie das Kleinste in seinem
Gedicht ist Erlebniß, und wer es mit Hingabe liest, empfindet heute noch den
Zeitgenossen das Grauen nach, mit welchem sie, wenn er vvrüberschritt, einander
zuflüsterten: der war in der Hölle!
So erstaunlich die poetische Schöpferkraft ist, welche der Erneuerung des
Gemüthslebens entsprang, so haben seine eigentlich sittlichen Anschauungen,
wie sie sich vor allem in der Behandlung der Geschichte zeigen, nicht weniger
zu bedeuten. Von neuem darf hier auf die Parallele hingewiesen werden, die
zwischen der Entwicklung des deutschen und dieses italienischen Protestantismus
besteht. Verfolgen wir die Verkündigungen des neuen Lebens in Deutschland
überall begegnen wir der Sehnsucht nach Wiederherstellung eines alten, eines
ursprünglichen Zustandes. „Reformation" ist der Titel aller der unzähligen
Versuche einer politischen Erneuerung des Reichs; Reformation heißt jede Er¬
schütterung der katholischen Kirche, welche von dem Glauben aus unternommen
wird, man habe nur ein im Schütte der Tradition Versunkenes wieder aufzu¬
richten. In Wahrheit war dies Täuschung. Jenes Einst hatte niemals existirt;
hinter aller dieser Sehnsucht lag ein ganz Neues verborgen. Zu seiner Be¬
glaubigung ward es insiinctiv mit dem Namen eines vermeintlich ehemals
Gewesenen belegt, ein Zug. in welchem sich auf Schritt und Tritt der
wunderbare historische Sinn offenbart, welcher die modernen Culturvölker aus¬
zeichnet.
Aehnlich in Italien. Die Aneignung der Antike, die von den Italienern
selbst als das treibende Element der Erneuerung ihrer Cultur betrachtet wird,
ist die Folge eines innerliHen Vorganges, der dann nur bestimmte Form und
historische Rechtfertigung gewinnt. Nicht seit man die Antike wiedergefunden
hatte, strebte man ihrem Zuge folgend nach der Befreiung des Menschenthums,
sondern weil das individuelle Bewußtsein erwacht war. konnte die Antike Gegen-
stand der Nachahmung und Liebe werden. Denn es ist nicht an dem. daß die
Antike damals wie ein Gott aus der Maschine gesprungen wäre. Bruchstücke
antiker Wissenschaft und Kunst hatten im Mittelalter allenthalben umhergelegen
Wie erratische Blöcke, nicht gewürdigt zwar, aber auch nicht immer verachtet; erst
dem neuen Menschenbewußtsein tönten sie wie Memnonssäulen und strömten sie
fruchtbare Wärme aus.
Und Dante war es. der das Alterthum wieder in sein Recht einsetzte. Es
war eine große folgernde That, daß er in der göttlichen Komödie die neubelebte
römische Geschichte ebenbürtig mit der christlichen behandelte. Virgil wird ihm
als Retter gesandt im Wirrsal des Lebens, an des Heiden Hand durchwandert
er die Stätten der Verdammniß und das Land der Büßer. Ueberdies. welche
Fülle antiker Elemente in dem Personal des Inferno; christliche und heidnische
Mythologie sind völlig verschmolzen und die letztere überwiegt. Cato von Utica
ist der Hüter des Strandes, an welchem sich der Berg der Reinigung erhebt;
bis in die Sphären der Himmel hinan spielen verwegene Andeutungen eines
Heilsbesitzes der Heiden, eines Christenthums vor Christus, wenngleich den
edlen Ungetauften die neutrale Stätte im Lindus angewiesen ist und Birgil
selbst, der theure Hort, auf der Schwelle des Paradieses umkehren muß.
Denn Dante will konservativer Katholik sein. Das System des geläuterten
Scholasticismus ist sein Glaubenskanon und mit rigoroser Gewissenhaftigkeit
baut er die Stufen der Hölle und des Himmels nach dem Jnstinct der Kirche,
^r ist darin um so strenger, weil er das echte Kirchenthum zu retten strebt von
Pest des weltlichen Regimentes der Päpste, welches er haßt, wie nur Luther
^ gehaßt hat. oder der italienische Patriot von heute es hassen kann. Wie
°se gedenkt er in Zorn und Schmerz der undankbaren Vaterstadt, die ihn ver¬
bannte; er kann sich kaum genugthun in beschämenden Bildern, mit denen er
das entartete Florenz brandmarkt; dazwischen jedoch klingen elegische Töne des
Heimwehs und das Lob der alten schönen Zeit, da Florenz die Blume der Welt
^«r. Fin das Papstthum und seine weltliche Macht aber hat er nur Fluch.
Mit äußerster Consequenz benutzt er jede gebotene Gelegenheit, oder er bricht
sie vom Zaun, um sein cvterum eeusso zu wiederholen.
Weil es der Doppelwürde Zwitterwesen
In sich vermengt, fällt Rom von seiner Höh'
In Koth. besudelnd sich und sein- Bürde!
Es ist ein erschütterndes Schauspiel, den einzelnen Mann mit dem Auf¬
gebote aller Leidenschaft kämpfen zu sehen gegen das Ungeheuer, das nach seiner
Meinung die Welt verdarb. Die Nation hat die Erbschaft dieses Hasses an¬
getreten; es kann keine Frage sein, welcher von den beiden Feinden das stärkere
Anathem gesprochen hat.
Und wie er die Kirche wiederhergestellt haben will in ihrer vermeintlich
ehemaligen blos geistlichen Verfassung, so ist auch sein politisches Ideal in
dem reformatorischen Sinne conservativ, der oben bezeichnet wurde. Er ver¬
langt die Wiederherstellung des Weltkaiserthums, das er als Gottes Ordnung
betrachtet. Auf den Kaiser überträfe er die Attribute, die er dem Papste ab¬
spricht. Seine Forderungen sind so ideal, so umfassend, daß sie in der That
auf eine ins Irdische übertragene Theokratie hinausführen. Sie sind kühner
und abstracter als alle früheren mittelalterlichen Theorien. Aber so unmöglich
ihre Verwirklichung ist, sie beruhen auf jenem Verlangen nach der geschichtlichen
Kontinuität, welches ein Charakterzug des Protestantismus ist. nur daß dasselbe
hier in der äußersten Steigerung auftritt. Das Universalkaiserthum war auch
das politische Ideal des Mittelalters. Während aber das Papstthum der wirk¬
lichen Geschichte die Oberhoheit usurpirt hatte, verlangt Dante in seiner Welt
die strengste Gleichstellung von Schwert und Hirtenstab und genaue Auseinander¬
setzung der Pflichten. Wichtiger ist, wie seine Logik gerade durch die kühnste
Erweiterung der mittelalterlichen Kaiseridee dahin kommt, die nationale Indi-
vidualisirung anzuerkennen und zu rechtfertigen, die das Problem seines Zeit¬
alters war.
Ausdrücklich erkennt er an, daß die Völker, Staaten und Verfassungen
Eigenthümlichkeiten haben, welche nicht durch uniformes Gesetz eines Einzigen,
sondern je nach ihrer Besonderheit, ja von ihnen selbst nur geregelt und ge¬
handhabt werden können. Des Kaisers ist es, Aufsehen zu haben auf die
allgemeinen irdischen Heilsgüter der gesammten Menschheit; er soll vor allem
durch Befestigung des Friedens die Möglichkeit gewähren, daß jeder Staat
nach seiner eigenen Natur leben und sich entwickeln könne.
Diese Kehrseite seiner Theorie gab dem neuen Guelfenthum des modernen
Italien ein Anrecht, sich mit seinem Lg,r<z-äa>-hö auf den fanatischen Ghibelli-
nen zu berufen. Der fromme Betrug, mit welchem die populäre Geschichts¬
darstellung der Italiener dieses Thema durcharbeitet, mag nicht gescholten
werden. Das Maß der Wahrheit ist, daß Dante bei der Anknüpfung seiner
Idee an die Wirklichkeit den nationalen Boden wiedergefunden hat, und
das ist praktisch das Entscheidende. Nicht das römische Reich deutscher Nation
will er erneuern: daß die Krone auf dem Haupte eines Deutschen sitzt, nimmt
er hin als einen Zufall im Erbgange. Seiner Theorie kommt darauf nichts
an, sondern sie spricht vielmehr das Recht des Imperiums den wirklichen Römern
zu, dem auserwählten Volke, in welchem die Monarchie des Cäsar und An»
gustus entstand. An sie, an die Ueberlieferung der alten Geschichte auf der
vaterländischen Erde soll wieder angeknüpft werden.
Aus irrthümlicher Loyalität, mehr aber noch aus politischer Klugheit läßt
er den abweichenden Thatbestand gelten. Denn vor allem will er Ernst gemacht
sehen mit der Umkehr aus dem Wirrwarr der Revolution, die sein Vaterland
zerfleischt, zur ehrbaren Ordnung des Kaiserregiments. Mit glühendem Eifer,
mit innigster Hingabe ruft und lockt er den Kaiser Heinrich über die Alpen
herbei. In den rührendsten Weisen. wie die verwitwete Braut den Bräutigam,
läßt er in seinen Flugschriften die schöne Italie» klagen, trauern, frohlocken,
je nachdem der luxemburgische Kaiser sich nähert oder entfernt von dem Ziele,
das er als das wichtigste bezeichnet. Und das ist Florenz, das grimme Panther-
thier, der Sitz boshafter Guelfentücke. und doch seine Heimath, die er liebt
mit einer Leidenschaft, wie vor ihm kein Mensch sie empfunden. Gewiß,
Man wird dem mächtigen Pathos seiner politischen Agitation nicht Unrecht thun,
wenn man ein gutes Theil davon aus diesem Schmerze des Menschen erklärt,
den der Verbannte ins Grab mitnahm, und den aller Aufwand philosophischer
Resignation nicht bändigte. „Wer das erfuhr, was ich erleide und im Busen
fühle, giebt keinem Irdischen mehr Rechenschaft." Das ist die Stimmung der
letzten Lebenstage Dantes. Sie ist zum Monument geworden in dem riesen¬
haften Gedichte, worin er die Menschheit und sein Zeitalter im Spiegel des
Jenseits schaut und als rückwärts gewandter Prophet Strafe und Lohn
verkündet.
Aber wie die Muse seiner ungeheuern Poesie in irdischer und himmlischer
Gestalt die Liebe zu jenem florentinischen Mädchen Beatrice Portinari war.
Welche die Unsterblichkeit mit ihm theilt, so ist auch aller Fanatismus, aller
Groll. alle Sehnsucht seiner politischen Empfindung und Wirksamkeit die Liebe
zu Italien. das er zum ersten Mal als ein einiges Vaterland erfaßte. Es hat
lange gedauert, ehe seine Landsleute die schlichte Summe seines Lebens ver¬
standen haben, wenn auch der Jnstinct dafür nur selten ganz ersterben gewesen
'se- Mit feinem Gefühl mißt Balbo in, der Biographie des Dichters die
Genesis des nationalen Gedankens unter den Italienern nach dem Grade der
Verehrung und Hingabe, die sie Dante gezollt. Er. durch dessen Poesie die
schönste Sprache des Abendlandes das Bürgerrecht in der Literatur gewann,
'se zugleich das personificirte patriotische Gewissen seines Volkes, obgleich sein
politisches Ideal ein heroischer Irrthum war. Durch die Epochen der ita¬
lienischen Geschichte geht sein Bild wie der gute Genius der Nation. Die
Studien, welche seinen Werken zugewendet werden, sind Zwiegespräche zwischen
Lehrer und Gemeinde; in der Anwendung aus ihn wird die Nation erst ihrer
innersten Erfahrungen froh.
Zu allen Zeiten ist mit größerer und geringerer Planmäßigkeit dahin ge¬
arbeitet worden, die göttliche Komödie zum Gemeingut zu machen. Dem großen
Geschick der Italiener für solche Aufgaben ist manches Treffliche gelungen, und
sie erkennen gar herzlich die außerordentliche Hilfe an, die wir Deutsche ihnen
dabei geleistet. „Haltet Euch dazu" — so ermahnt Balbo seine Landsleute —
„eine gute Volksausgabe zu schaffen; denn wenn wir es nicht thun, wird über
kurz oder lang einer dieser wunderlichen gewissenhaften Deutschen uns zuvor¬
kommen, die allmälig alle unsre Gelehvtenarbeit an sich reißen!" Eine schöne
Schmeichelei, und nicht unbillig< Denn wenn auch in der speciellen Aufgabe
eines populären Dantecommentars kein Deutscher so leicht den Italienern den
Rang ablaufen wird; das Material dazu hat vor allem deutscher Gelehrten¬
fleiß geliefert. Was ist bei uns in den 25 Jahren nicht geschehen, die seit
jener! Ermahnung Balbos verflossen sind. An Dante haben wir aufs neue
bewiesen, daß alles Beste uns national ist. Aber wir betrachten die, göttliche
Komödie noch zu sehr als Material vermittelnder Arbeit entweder der Wissen¬
schaft oder der bildenden Kunst; und für unsre Historienmalerei hat sie fast
Gleichstellung mit der Bibel erlangt. So schön es auch ist. dieses einzige
Werk aus zweiter Hand zu empfangen, wir sollten uns mehr entschließen, es
frischen Muthes aus erster zu nehmen, d. h. das Buch als poetisches Kunst¬
werk in seiner eigenen Gattung zu erfassen. Es ist richtig, für das Volk in
der Masse kann Dante nicht populär werden; auch das Ualienische Volk hat
von ihm nur die dunkle Ahnung einer fabelhaften Größe. Ihn verstehen und
ganz genießen zu lernen ist ein gutes Stück Lebensarbeit; aber es sind ver¬
schiedene Grade der Aneignung möglich. Die Gemeinde der Gebildeten im
guten Wortsinne sollte ihm weit näher kommen, als es bis heute der Fall ist.
Es fehlt uns nicht an tüchtigen Uebersetzungen, und wer sich der Mühe, einen
praktischen Kommentar zu Hilfe zu nehmen, mit einiger Hingebung unterzieht,
für den ist das Geheimniß des erhabenen Genusses sehr einfach; es heißt: lesen
und wiederlesen! —
„Wenn es geschieht, daß das heilige Gedicht, an welches Himmel und
Erde die Hand gelegt haben, und das mich bleich gemacht hat viele Jahre, die
Grausamkeit der Zeit überwindet, die mich selber ausschließt aus der schönen
Hürde, wo ich wie ein Lämmlein schlief, abhold den Wölfen, die sie verheeren:
mit andrer Stimme und in neuem Vließ werde ich dann zurückkehren und an
dem Ort meiner Taufe den Lorbeer empfangen."
Dieser Tag des Edlen, den Dante mit Stolz vorausschaute, ist heute
gekommen. Eben jetzt ist vor Santa Croce in Florenz die Hülle gefallen
vom Standbilde des verbannten Mannes, der nun nach so viel hundert
Jahren ehern heimkehrt. Und zugleich soll in allen größeren Städten Italiens
das Nämliche geschehn. Wie vor fünf Jahren bei uns in Deutschland die
Statuen Schillers an seinem hundertsten Geburtstage allenthalben aufstiegen
als Denkmäler unserer geistigen und als Mahnbilder unserer politischen Einheit,
so steht nunmehr Dantes Gestalt als nationales Symbolum vor den Augen
der Italiener. —
Die Nachbarn über den Alpen sind realistischere Naturen. Begabt mit
kraftvoller Einseitigkeit in allen einmal ergriffenen Tendenzen, haben sie
ihr nationales Ziel eher als ihre kühnste Hoffnung träumte, beinahe völlig
erreicht. Wir Deutschen sind karg bedacht mit dem unschätzbaren Gute, das
allein schnelle politische Erfolge möglich macht. Noch manches Lustrum.
wenn auf Dantes Standbildern schon die Kränze der Erinnerung an das
heutige Fest der Einheit welken, werden wir an unsern Schillersäulen
die Qualen unsrer Geduld zählen. Aber der Glückwunsch, den wir den
Italienern hinüberrufen zu ihrer Feier, braucht nicht ohne Frucht sür uns
selber zu sein. Allen großen Erfolgen der modernen Völker wohnt eine
fortwirkende überzeugende Kraft inne. Wenn vollends Wahlverwandtschaft der
Nationen, die auf hoher gegenseitiger Achtung ruht, Aehnlichkeit der politischen
Schicksale verbürgt, so dürfen wir das Fest jenseits der Alpen als eine Prophetie
für uns selber betrachten. Durch die zum Festgruß dargereichte Hand mag
etwas herüberströmeu von der Energie der Selbstverläugnung, mit der die
Italiener in guten und in bösen Tagen unbeirrt nach ihrem Ziel gerungen
h
Wie -es für den Einzelnen lehrreich ist, an tüchtigen Nachbarn und Mit¬
bürgern zu sehen, wie sie die einzelnen Krisen ihrer geistigen Entwickelung
durchgekämpft und überstanden haben, so kann es auch Völkern in den Krisen
ihrer staatlichen Entwickelungen nützlich sein. auf die Vergangenheit anderer
Nationen, die im politischen Leben weiter fortgeschritten sind, zurückzublicken
und zu sehen, wie sie die ihnen entgegenstehenden Hindernisse in einzelnen
Fragen überwanden.
Zwar wird es sich dabei nicht in allen Fällen darum handeln, hier dasselbe
zu hoffen oder denselben Weg einzuschlagen, wie dort; denn dies würde gleiche
sociale Grundlagen und wenigstens sehr ähnliche Situationen und Individuali¬
täten voraussetzen, «der gewisse Fingerzeige für das Urtheil und die Action in
der betreffenden Frage werden bei solchen Vergleichen immer sich ergeben.
Bon diesem Gesichtspunkte aus wollen wir versuchen, ein Bild des Ganges
zu entrollen, den vor mehr als anderthalb Jahrhunderten die Heeresfrage in
England nahm. Dasselbe wird uns, die wir eine ähnliche Frage nun schon
sechs Jahre lang die Regierung und Volksvertretung des preußischen Staates
beschäftigen sehen, deutlich zeigen, wie sehr wir noch in den Anfängen unserer
politischen Entwicklung stehen.
Es war unter der Regierung Königs Wilhelm, jenes Wilhelm, dem die
Geschichte eher wie manchem andern groß genannten Fürsten das Prädicat des
Großen geben könnte, in den Tagen Wilhelm des Befreiers, der im Gegensatz
zu Wilhelm dem Eroberer, dem Gründer des Feudalstaates, den Ruhm hat,
die Sache der bürgerlichen und religiösen Freiheit mit großem Sinn durch¬
gefochten und die konstitutionelle Monarchie in England fest begründet zu haben.
Neun Jahre waren es, seit der große Oranier herrschte, neun Jahre eines
ruhmvollen Regiments, in denen er als Krieger wie als Staatsmann glorreich
die Sache des Protestantismus jenem stolzen Ludwig dem Vierzehnten gegenüber
geführt und das gesunkene Ansehn Englands wieder zu derselben Höhe gebracht
hatte, die es je unter dem gewaltigen Cromwell eingenommen, da schien der
Friede von Ryswik allen Kämpfen für lange Zeit ein Ende zu machen.
Die Nachricht hiervon wurde in England freudig aufgenommen. Nachdem
der Krieg Jahre lang gewüthet, durfte man hoffen, sich nun völlig den Ge¬
schäften des Friedens hingeben zu können, der Lasten entledigt, die der große Kampf
dem Lande aufgenöthigt hatte. Hatte man doch ein Landheer von nahe an
90.000 Mann zu unterhalten und dabei fortwährend in erhöhtem Maße für die
Wehrhaftigkeit zur See zu sorgen gehabt. Man durfte erwarten, das Budget
wenigstens um die Kosten des Landheeres erleichtern zu können. Zwar fehlte
es nicht an solchen, die für die Sicherheit des Reiches eine Landmacht immer
noch für nöthig hielten, zwar mußte man voraussehen, daß König Wilhelm
als Feldherr wie als Staatsmann nur sehr ungern daran gehen werde, ein
Heer zu entlassen, welches er in harter Schule sich mühsam herangebildet hatte:
trotz alledem wurde der Wunsch nach Auflösung der Armee immer allgemeiner.
Erst seit wenig Jahren erfreute sich das Land der Preßfreiheit, durch deren Ge¬
währung König Wilhelm eine neue Aera seiner Regierung eingeweiht hatte.
Die Presse bemächtigte sich jetzt dieser Tagesfrage, um das Für und Wider in
derselben mit Leidenschaft zu besprechen. Sie discutirte die seitdem ziemlich
oft discutirte Frage: ob Berufsheer oder Volksheer, sie führte aus, daß seit
den Zeiten der Griechen und Römer das Volksheer stets die Kriege der Völker
entschieden habe, während das Berufsheer immer der Sache der Freiheit feindlich
gewesen sei. Die Leidenschaft war erregt. Ruhige Erörterung half nicht mehr,
eine Broschüre, der Bilanzbrief, welchen man einem hervorragenden Mitglied
der Regierung, dem Freund des Königs, Lord Somers zuschrieb, und welche
diese Erörterung versuchte, nützte wenig. In dieser Broschüre ward angeführt,
daß Volksheere in der Regel Berufsheeren nicht Stand zu halten geeignet seien,
und in der Erkenntniß, daß oft nur ein Wort die beste Sache zu vereiteln im
Stande ist. unter Preisgebung des stehenden Heeres für eine zeitweilige Truppen-
Macht plaidirt. deren Bestand von der Entschließung des Parlaments abhängen
sollte.
Mitten in diesen Meinungskampf fiel der Zusammentritt des Parlaments,
und offen führte die Thronrede mitten in die Frage des Tages hinein. König
Wilhelm verkündete: Die Lage der auswärtigen Angelegenheiten ist derart, daß
ich es für meine Pflicht halte, meine Meinung dahin auszusprechen, daß zur
Zeit England ohne Landheer nicht sicher sein kann, und ich hoffe daher, wir
werden denen, die es schlecht mit uns meinen, nicht die Gelegenheit bieten,
unter dem Deckmantel des Friedens das zu Wege zu bringen, was sie durch
den Krieg nicht erreichen konnten.
Die Thronrede wurde gut aufgenommen; das Unterhaus beschloß eine
Adresse, die dem König versichern sollte, es werde im Frieden ebenso zu ihm
halten wie im Kriege.
Die Freunde der Regierung hatten guten Muth. Sie hofften die Beibe¬
haltung einer Armee von 30.000 Mann durchbringen zu können. Sie irrten:
acht Tage nach Eröffnung des Parlamentes, am 10. December 1697. besprach
das Haus in vertraulicher Sitzung die Thronrede.
Die Führung der Opposition übernahm Robert Harley. einer jener Liberalen,
die es als Aufgabe ihrer Partei ansehen, jeder Regierung, selbst einer liberalen.
Opposition zu machen, und der daher, ohne daß er es selbst sich hätte zugestehen
Wollen, aus einem Whig ein Tory geworden war. Harley behauptete, nach dem
Frieden von Ryswik brauche keine größere T-ruppenmacht als nach dem Frieden
von Nimwegen gehalten zu werden, und beantragte, daß die Armee auf den
Fuß von 1680 gebracht werde.
Das Ministerium erkannte, daß es in dieser Frage auf seine Freunde nicht
rechnen könne. Die Erhaltung der Armee war im Lande unpopulär, und
dieses Parlament hielt seine letzte Sitzung. Aus Rücksicht auf die Neuwahlen
konnten sie nicht dafür stimmen. So zeigte sich zum ersten Male der verderb¬
liche Einfluß der dreijährigen Parlamentsperioden, den Wilhelm vorausgesehen
hatte, da er zum ersten Male dem betreffenden Gesetz seine Bestätigung versagt
hatte, und das er trotzdem, aus Achtung vor dem Volkswillen bestätigt
hatte, als es ihm zum zweiten Male vorgelegt worden war.
Harleys Antrag ging also durch. Am andern Tag wurde darüber Bericht
erstattet. Nach einer langen Debatte wurde er mit 18S gegen 148 Stimmen
bestätigt.
In dieser Debatte äußerte sich die öffentliche Mißstimmung gegen Sunder-
land, der, zweifelhaften Angedenkens schon von Jacob dem Zweiten her. erst
in der letzten Zeit zu hohen Würden gelangt war. Sunderland, für sein
Leben besorgt, nahm seine Entlassung, und da diese einen guten Eindruck ge¬
macht hatte, hoffte die Regierung das verlorene Terrain wiederzugewinnen.
Die öffentliche Stimmung war aber unterdeß immer aufgeregter geworden.
Es regnete Pamphlete, durch welche das Militär so aufgeregt wurde, daß
Wilhelm, um Conflicte zu verhüten, den Offizieren verbot, ihre Quartiere zu
verlassen.
Am 8. Januar 1698 versuchte das Ministerium eine Aufhebung des
harleyschen Antrags zu erlangen; es unterlag aber auch diesmal mit 164
gegen 188 Stimmen. Selbst die in der Kammer sitzenden Marineoffiziere
stimmten mit der Opposition.
Nun mußte man nachgeben und der Sache die beste Seite abzugewinnen
suchen. Das 1680 in England befindliche Heer betrug nicht ganz S000 Mann ;
aber wenn man die damals in Tanger und die im Sold der Generalstaaten
stehenden Regimenter hinzurechnete, kamen nochmals S000 Mann zusammen.
Die Minister legten daher die Resolution vom 11. December dahin aus, daß
das Heer aus 10,000 Mann bestehen solle und dabei beruhigte sich das Haus.
Das Unterhaus behandelte übrigens die Frage als eine Finanzfrage, ohne die
Truppenzahl zu bestimmen, in jener war diese enthalten. Die Regierung for¬
derte daher 400,000 L. Die Opposition hielt 300,000 L. für ausreichend.
Da compromittirte man auf 350,000. Außerdem setzte das Haus die entlassenen
Offiziere bis zu weiterer Versorgung auf Halbsold, um im Kriegsfalle geübte
Offiziere zur Hand zu haben. Die Regierung ihrerseits brachte später noch
eine Bewilligung für 3000 Marinesoldaten durch.
Es folgten die Neuwahlen, die eine Masse unbekannte Mitglieder in das
Unterhaus brachten, während Regierungscandidaten unterlagen. Wilhelm selbst
hatte in England Unzufriedenheit erregt, weil er auch dies Jahr, obwohl durch
die Weltlage nicht dazu gezwungen, nach Holland gegangen war. Es zeigte
sich die Eifersucht gegen das Ausland. Zudem hatte er die Eröffnung des
Parlaments auf den 29. November, fast den spätest zulässigen Termin fest'
gesetzt. Dies ward, da die londoner Saison damals schon um Michaelis be¬
gann, als Rücksichtslosigkeit angesehen, zumal Wilhelm sonst immer schon zum
6. November, seinem Geburtstag und dem Jahrestag seiner Landung, die
Glückwünsche beider Häuser entgegengenommen hatte. Und nun war er selbst
zum 29. November, allerdings durch ungünstige Winde an der Ueberfahrt ver»
hindert, nicht zurück. Am 6. December endlich eröffnete er das Parlament,
nicht ohne Hoffnung, eine Vermehrung der Armee durchsetzen zu können. Er
drückte daher in der Thronrede seine feste Ueberzeugung aus, daß die Hauser
bereit sein würden, alles für die Sicherheit. Ehre und das Glück des Landes
Erforderliche zu thun. Weiter fordere er nichts. Wenn sie die Armee- und
Marineeimichtungen beriethen, würden sie sich erinnern, daß England die hohe
Stellung, die es unter den europäischen Mächten erlangt habe, nicht behaupten
könne, wenn es nicht gegen Angriffe gerüstet sei. Sein Handel würde sonst
abnehmen, sein Credit sinken, seine innere Ruhe gefährdet sein.
Das Ministerium sah die Dinge nicht so rosig an. Es glaubte höchstens
10.000 Mann durchbringen zu können, wenn diese als unumgänglich gefordert
würden; wogegen der König noch 20,000 Mann für unzureichend hielt, und
keine Vorlage machen wollte, die ihm unwürdig schien. Derartige Forderungen
aber glaubte das Ministerium nicht stellen zu können, da es voraussah, daß
dies zur Auflösung der ganzen Armee führen würde. Der König war über
diese Remonstrationen höchst ungehalten. Er zweifelte an der Aufrichtigkeit
seiner Minister und gab ihnen zu erkennen, daß, wenn es ihnen nur Ernst
sei, sie sicherlich auch eine achtunggebietende Truppenmacht durchsetzen würden.
So kam der Tag zur Adreßberathung. Die Debatte drehte sich um die
Hauptfrage, wie für die Vertheidigung des Reiches gesorgt werden solle. Man
erwartete einen Regierungsvorschlag. Da aber das Ministerium still blieb,
beantragte Harley, daß die Armee nicht über 7000 Mann betragen solle. Ein
Amendement auf 10,000 Mann wurde zwar gestellt, aber da es von der Re¬
gierung nicht ausging und nicht befürwortet wurde, wurde Harlevs Antrag
Zuerst im Comite und am andern Tage, nachdem Bericht erstattet worden war,
>n förmlicher Sitzung angenommen. Das Haus beschloß außerdem, daß alle
7000 Mann geborne englische Unterthanen sein müßten.
Der letztere Beschluß ging direct gegen den König, der die holländische
Gardeinfanterie, seine Lieblingstruppe, die 1688 zuerst in London eingezogen
und 1690 sich zuerst in die Fluthen des Bohne gestürzt, außerdem nie zu Ki«,
gen Anlaß gegeben, noch in England behalten hatte.
König Wilhelm war aufs äußerste erregt. Er faßte den Plan abzudanken und
"ach Holland zu gehen. Seine Abdicationsproclamation hatte er schon ent¬
worfen und übersetzt; er theilt sie seinem Minister Somers mit. Dieser ent-
gegnet ihm, dies sei Uebertreibung, ja Wahnsinn. Wilhelm beharrt. Sommers
eine zweite Audienz. Wilhelm sagt: Wir werden nicht einig. Mein Ent¬
schluß ist gefaßt. Sommers bittet ihn um seine Entlassung.
Nun machen die Minister noch einen Versuch, des Königs Wünsche durch,
^'setzen. Ein Ausschuß wird eingesetzt, um ein Gesetz zur Armeereduction zu
entwerfen. Die Regierungspartei beantragt, dieser Ausschuß solle ermächtigt
werden, die Truppenzahl in Erwägung zu ziehen. Obwohl das Ministerium
diesen Antrag mit außerordentlichem Geschick vertheidigt, werden doch alle, die
für Ermächtigung sprechen, zur Ruhe geschrien. Bei der Fragestellung ertönt
ein lautes Nein. Bon einer Abstimmung sieht die Minderheit, um ihre Schwäche
nicht zu offenbaren, ab. Das Gesetz über die Armeereduction selbst macht schnell
alle Stadien durch und wird mit 221 gegen 164 Stimmen angenommen.
Im Oberhaus wurde es nun zwar nicht günstig angesehen'; wenn man
aber dem König nicht die Gelder zum Unterhalt der Truppen gab — und das
konnte nur das Unterhaus — so half die Verwerfung nichts; es ging daher
auch hier ohne Abstimmung durch.
Wilhelm hatte unterdeß seine Selbstbeherrschung wiedergewonnen. Sein
Veto konnte er in dieser Frage nicht einlegen, ohne die Auflösung der ganzen
Armee zu veranlassen, er beschloß nachzugeben; vorher aber eine zugleich ernste
und freundliche Ermahnung an sein Volk zu richten. Er erscheint deshalb,
ohne in seinem Aeußern seine Erregung zu verrathen, im Oberhaus, läßt
das Unterhaus entbieten und sagt, er sei gekommen, um ihnen kund zu thun,
daß er das Gesetz gleich nach seiner Vollendung bestätigen werde; doch wolle
er noch einmal ihnen vorstellen, daß sie ihn, ihren Befreier, unfreundlich behandelt
hätten. Indeß sei es seine feste Ueberzeugung, daß dem Staat nichts so ge¬
fährlich sei, als wenn man ihn mit Mißtrauen oeirachte, sei dasselbe auch noch
so ungegründet. Allein aus diesem Grunde werde er das Gesetz bestätigen;
damit ihn aber niemand für die Folgen verantwortlich mache, sei es seine Pflicht,
ihnen zu sagen, daß in der That die Nation zu ausgesetzt bleiben würde.
Im Allgemeinen gefiel diese Rede, und das Unterhaus beschloß eine Dank¬
adresse, worin es ihm versicherte, daß die Nation immer zu ihm stehen
werde.
Da traten auf einmal Ereignisse ein, welche die ganze Lage der Dinge änderten.
Der Erbprinz von Bayern starb. Bald 'konnte der ganze Kontinent unter
Waffen sein. Die öffentliche Meinung erhielt einen Umschwung, und die Re¬
gierung durfte hoffen, jetzt eine Vermehrung der Heeresmacht durchzusetzen.
Da aber zeigte Wilhelm, daß er auch Mensch sei. Anstatt eine Vermehrung
der englischen Truppen zu fordern, strengte er seinen Einfluß an, um sür die
holländische Garde die Erlaubniß zu erwirken, auf der Insel zu bleiben.
Die Sache kam zuerst vor das Oberhaus. Eine Resolution, freudig jeden
Plan zu unterstützen, die Dienste der holländischen Brigade dem Lande zu er¬
halten, wird mit S4 gegen 38 Stimmen durchgebracht. Die Minorität protestirt
gegen die ganze Abstimmung. Im Unterhaus macht der Vorgang böses Blut.
Es wird als unparlamentarisch bezeichnet, diese Woche ein Gesetz zu bestätigen,
und die nächste eine Resolution, welche es verurtheilt. Wilhelm geht jedoch
bis zum Aeußersten. Er sendet an das Unterhaus eine allem Gebrauch zu-
Wider ganz eigenhändig geschriebene Botschaft, worin er anzeigt, daß alle zur
Einschiffung der Holländer nöthigen Vorbereitungen getroffen seien und daß sie
augenblicklich abmarschiren würden, wenn nicht das Haus sie aus Rücksicht
auf ihn beibehalten wolle, was er sehr hoch aufnehmen werde.
Aber auch diese Erniedrigung half dem König nichts. Zwar beantragte
um Mitglied die Festsetzung eines Tages, um die Sache in Erwägung zu ziehen.
Aber die Majorität, die in nichts willigen wollte, was wie Zaudern aussah,
beantragte die Vorfrage, und hier zeichnete sich wieder jener Harter) aus. indem
er beißend äußerte, er glaube nicht, daß die Minister dem König zu diesem
Schritt gerathen hätten: hätten sie die Holländer beibehalten wollen, so würden
sie bei den Gelegenheiten, die sich in der Debatte über das Gesetz dargeboten,
darauf angetragen haben. Die Minister schwiegen.
Das Haus erließ wieder eine Adresse, die so mild als möglich abgefaßt
wurde, in der aber doch die Stelle, worin man den König daran erinnerte,
daß er in seiner Proclamation von 1688 selbst versprochen habe, die fremden
Truppen nach der Befreiung des Landes zurückzuschicken, mit 163 gegen
167 Stimmen durchging. Diese Adresse überreichte das gesammte Haus.
Wilhelm beantwortete sie gehalten und würdig, ließ abe.r durchblicken, daß er
tief verletzt sei.
Somit war die Sache beendet; denn die holländischen Truppen marschirten
augenblicklich unter der Theilnahme der ganzen Bevölkerung, da sie nie Anlaß
Zur Unzufriedenheit gegeben hatten, ab. Macaulay. dem die's entnommen ist.
berichtet, daß bei ihrem Ausmarsch eine Stimme die Abziehenden gehöhnt.
Hans spiele jetzt, da er zehn Jahre vom Mark des Landes gezehrt habe, eine
bessere Figur als bei seiner Ankunft, aber unter dem Beifall der Menge von
einem Holländer mit den Worten abgetrumpft worden sei: „Und Ihr würdet
jetzt eine hübsche Figur spielen, wenn wir nicht gekommen wären."
»...«.n.. .Ub ...... .. ... -°in.,es.. «n ...
B-,Im, W, H'es, >«°5' ^6'°>'
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Kunst ist immer ein Können der Nationalität, und eine italische Nationalität
gab es in der gedachten Zeit nicht mehr. Man dichtete und schrieb lateinisch,
aber in einem Geiste, der, entsprechend der politischen Verquickung der Mittel¬
meervölker durch das Cäsarenreich. ein Gemisch entnationalisirten Hellenen- und
Römerthums mit Vorwiegen des ersteren war. Von den frischen Kräften einer
natürlichen Volksseele war nicht mehr die Rede, wie der ganze Organismus
des Weltreichs war auch die Literatur und Poesie desselben ein Product der
Kunst. Wie aber jener als die großartigste Schöpfung der ältesten Geschichte er¬
scheint, so haben auch diese Leistungen auszuweisen, die im Vergleich mit dem,
was die spätere Zeit darbietet, classisch zu nennen sind, und so ist nichts da¬
gegen einzuwenden, wenn die Periode, in welcher Cäsar und Cicero, dann
Horaz und Properz, Virgil und Ovid schrieben, als die „goldne Zeit" der
Literatur des römischen Reichs bezeichnet wird.
Die nächsten Jahrzehnte nach den Tagen, da Mäcens Kunstliebe die Villa
auf dem esquilinischen Berge in einen römischen Parnaß verwandelt, waren
der Literatur nicht günstig. Die Kaiser nach August zeigten allerdings größten-
theils ein gewisses äußerliches Interesse für sie, aber ihr Despotismus litt,
wie überhaupt so auch auf diesem Gebiete keine Regung selbständiger Kraft.
Einige lichtere Momente ausgenommen waren Wort und Sckrift gebunden,
man durfte geistreich sein, aber nicht ohne Gefahr originell, Declamatoren-
wesen, forcirte Rhetorik ist der Stempel, den die Literatur dieser ganzen Epoche
trägt. Erst nach dem Tode Domitians athmete man wieder Morgenluft, unter
Nerva begann es zu tagen, unter seinem Nachfolger Trajan ging die Sonne
der Freiheit wieder aus, unter ihr sing auch die Literatur wieder an zu blühen,
und es war nicht blos eine Nachblüthe.
Schon unter Domitian hatte Quinctilian durch Rückkehr zu der classischen
Form der ciceronianischen Prosa mit ihren Perioden und Cadenzen auf stili¬
stischen Gebiet für die Renaissance der Literatur zu wirken versucht. Unter des¬
sen Einfluß gebildet, eiferte dann der jüngere Plinius .demselben Vorbilde
nicht ohne Erfolge nach. Zu gleicher Zeit endlich und anfänglich ebenfalls (so
wenigstens in seiner Erstlingsschrift, dem Gespräch von den Rednern) ein Be¬
wunderer Ciceros, begann Facitus die Fülle seiner bis dahin zurückgedrängten
schöpferischen Kraft zu entfalten. Er ist kein Nachahmer mehr, das Gemachte,
Gelernte und Geschulte an Quinctilian und Plinius ist ihm ser-n, die neue
freiere Zeit hat in ihm nicht ein neues Talent, sondern einen neuen Genius
geboren, der in voller Selbständigkeit seine eigenen Bahnen geht. Mit un¬
widerstehlicher Gewalt weiß er den Leser zu fesseln, mit dem Adel seiner hohen
Seele umfaßt er alles Große und Edle, mit kurzem, aber um so schwerer treffen¬
den Wort brandmarkt er das Niedrige und Schlechte, vor allem Heuchelei und
Bedientensinn. Tief dringt sein Blick in der Menschen verborgene Rathschläge,
in die dunklen Gänge des Geschicks, in den innersten Kern der Zustände und
Ereignisse ein. Für jede Wallung seiner warmen und tiefen Empfindung weiß
er den vollsten Ton anzuschlagen. Altes und Neues, Geschichtschreiber. Red¬
ner und Dichter macht er seinen Zwecken dienstbar, niemals aber als ein Ent¬
lehner fremder Blumen, sondern bei reizvollster und fesselndster Abwechslung,
mannigfachster Abstufung seiner Farben überall originell, überall einzig.
Ein Geist wie der des Tacitus war durch die Noth der schweren Zeit ge¬
stählt worden. „Ihn lehrte der Schmerz der Zeit". Minder energischen Geistern
hatte der Druck derselben ihre Spannkraft genommen. Einmal, wie Plinius
sagt, „abgestumpft, gebrochen, aufgerieben", vermochten sie in der jetzt be.
girrenden bessern Zeit die Frische zu künstlichen Productionen nicht wiederzu-
gewinnen, zumal auch das Publicum ihnen nicht durch Theilnahme hebend
und fördernd zur Seite stand, und so ist denn Juvenal der einzige namhafte
Dichter, welchen die Regierungszeit Trojans aufzuweisen hat.
Mehr unmittelbaren Antheil an der Literatur nahm sein Nachfolger.
Hadrian hatte von Haus aus eine so einseitig gräcisnende Bildung erhalten
und schien sich so ausschließlich dahin zu neigen, daß man ihn von gewissen
Seiten geradezu als Griechiing bezeichnete. Nachdem er aber als junger Be¬
amter wegen der ungeschickten Art. mit der er ein kaiserliches Handschreiben im
Senat vortrug, ausgelacht worden war, studirte er auch die Lateiner und er¬
warb sich auch hier ausgebreitete Kenntntsse und Gewandtheit der Rede. Er
selbst schrieb allerlei, griechisch und lateinisch, in Prosa und in Versen, aber
das Meiste war leichte Waare.
Zur Förderung der Studien und der Literatur stiftete Hadrian das Athenäum,
das zwischen den Einrichtungen unserer heutigen Universitäten und Akademien
etwa die Mitte einhielt. Dichter. Rhetoren und Philosophen vornehmlich waren
hier vereint und hielten ihre Borlesungen. Nicht ernste. eigentlich wissenschaft¬
liche Interessen waren es. die den Kaiser zu dieser Stiftung veranlaßten.
Er selbst dilcttirte fast auf allen Gebieten, nicht nur auf dem literarischen
und dem wissenschaftlichen, — auch den schönen Künsten blieb er nicht fremd;
er trieb Spiel und Gesang, wie Skulptur und Malerei, und bildete sich etwas
darauf ein. Am stärksten trat dieser Hochmuth seiner gelehrten Umgebung gegen¬
über hervor: er zog Grammatiker. Rhetoren. Mathematiker und Astrologen in
seine Nähe, er lohnte ihnen reichlich mit Geld und mit äußeren Ehren, aber
während er eigentlich jede hervorragende Größe unter ihnen beneidete, die ihn
w den Schalten stellte, machte er ihnen selbst gegenüber den Anspruch, alles
besser zu wissen, verhöhnte und verlachte sie deshalb, ließ sich mit ihnen in
Wettkämpfe in ungebundener wie in gebundener Rede ein. und quälte sie mit
Fragen. die meist leichter zu stellen als zu beantworten gewesen sein mögen.
Erscheint so jene Stiftung theils aus der Befriedigung persönlicher Eitel-
keit und einem gewissen frivolen Kokettiren mit der Wissenschaft und ihren Ver¬
tretern hervorgegangen, so ist sie anderseits nur eine consequente Erweiterung
einer zuerst von Vespasian getroffenen Maßregel, wonach griechische und latei¬
nische Professoren der Beredsamkeit mit einem bedeutenden Gehalte aus der
kaiserlichen Schatulle angestellt wurden. Indem man die Vertreter der Lite¬
ratur, die Lehrer der Jugend zu besoldeten kaiserlichen Beamten machte, be¬
förderte man die Verbreitung und Befestigung der monarchischen Grundsätze
im Allgemeinen wie der Principien und Tendenzen der jeweiligen Negierung.
Gewiß lag auch Hadrian dieser politische Gesichtspunkt nicht fern, so wenig
wie seinem edeln und milden Nachfolger, Antonin dem Frommen, der, sonst
ohne specielleres Verhältniß zur Literatur, Rhetoren und Philosophen durch
alle Provinzen hindurch Ehren und Gehälter verlieh, und sie so wie die Gram¬
matiker und die Aerzte von mancherlei Lasten befreite.
Aber dilettirende Liebhaberei und politische Tendenz erklären noch nicht
ausreichend den Einfluß des Hadrian auf die Literatur; er verfocht auch be¬
stimmte ästhetische Principien und wußte ihnen Geltung zu verschaffen. Ein
scharfer Kritiker der Leistungen auf allen Gebieten der Literatur, zeigte er da¬
bei einen einseitigen und wunderlichen Geschmack. Um den Homer auszustechen,
führte er an seiner Statt den Vielen bis dahin selbst dem Namen nach unbe¬
kannten Antimachus ein, einen älteren Zeitgenossen des Plato, den Verfasser
eines sehr gedehnten Epos über die thebanische Sage. In der lateinischen
Literatur hatte er eine ausgesprochene Vorliebe für das Alterthümliche. Dem
Cicero zog er die knorrige Rede Catos vor, dem allgepriesenen Virgil die ersten
Versuche, die vor dreihundert Jahren in oft sehr ungelenken Hexametern in
Rom gemacht waren. Sallust, der doch selbst in manchen Stücken eine alter¬
thümliche Färbung erstrebt, mußte einem Vorgänger aus der Zahl der alten
Chronikenschreiber, dem Caelius Antipater, nachstehen.
Dieser Geschmack war verzeihlich in einer Zeit, in der die originelle Pro-
duction fast stockte; denn eben diese Unfruchtbarkeit schien darauf hinzudeuten,
daß die literarischen und stilistischen Principien des Cicero, zu denen man zu¬
rückzukehren versucht hatte, auf die Dauer ebensowenig frische Sprossen mehr
zu treiben vermochten, als die declamatorisch-rhetorische Richtung des ersten
Jahrhunderts der Kaiserzeit.
Unterstützt durch den fast allgemeinen Mangel an Productivität, geadelt
durch allerhöchstes Privilegium Hadrians, der dem gesammten Reiche auf allen
Lebensgebieten seine Signatur aufdrückte, versuchte von jetzt an jene Rück¬
kehr zur ältesten Zeit der römischen Literatur eine selbständige Rolle zu spielen.
Und damit beginnt nach jenen ohne nachhaltigen Erfolg gebliebenen Versuchen
der Renaissance für die römische Literatur das tragikomische Zeitalter des
Rococo, das die Regierungsperiode des Hadrian und der Antonine beherrscht.
Aus dem Staube der Bibliotheken zog man die alten Autoren hervor, mit
ihnen nährte man die Jugend, legte Auszüge und Wörtersammlungen aus
ihnen an und ließ sie von seinen Schülern anlegen. War man mit diesen
sorglich eingeheimsten Schätzen ausgerüstet, hatte man sich dazu einige Kennt¬
niß der schematischen und äußerlichen Regeln der Rhetorik und einige Uebung
in ihren geschnörkelten Formen verschafft, so besaß man die nothwendigen
Rcquisite zur Schriftstellerei. Auf selbständiges Denken kam es dabei am
wenigsten an; man umhüllte die eigene Trivialität alt erborgten Pud), man
flickte sein ärmliches Gewand mit den ausgefärbten Prachtlappen aus den
Rumpelkammern der Literatur; hatte man Glück und eine hinreichende Portion
Dreistigkeit, so konnte man ohne große Anstrengung der höheren Geisteskräfte
um berühmter Mann werden.
Nie gewinnt eine Richtung in der Entwickelung des geistigen Lebens in
dem Maße die Oberhand, baß nicht auch Anderes neben it,r sich behaupten
und auftauchen könnte, geschweige eine in sich so haltlose und kurzlebige. So
trägt von den gleichzeitigen Erscheinungen der Abriß der römischen Geschichte
von Florus trotz seiner Kürze das rhetorische Gepräge, Suetons biographische
Darstellungen erscheinen nüchtern und farblos ohne jede hervorstechende stilistische
Eigenthümlichkeit, und auch in den bedeutenden Leistungen auf dem Gebiete
der Rechtswissenschaft tritt uns nirgends eine Spur dieser antiquarischen Marotte
entgegen. Ihr eigenthümliches Gepräge aber empfängt die Literatur dieser
Epoche durch das Rococo.
Niemand ist ein vollendeterer Vertreter desselben als Fronto. Afrikaner
von Geburt wußte er als Lehrer der Beredsamkeit und als Sachwalter
sich Bewunderung zu gewinnen. Neben anderen hervorragenden Männern
Sab man ihn den kaiserlichen Prinzen M. Aurel und L. Berus zum Lehrer,
durch die Gunst des Hofes stieg er unter Antoninus Pius bis zum Konsulat.
daS noch immer als das höchste Ehrenamt galt, empor, und M. Aurel bean¬
tragte selbst die Errichtung seiner Bildsäule im Senat. Aus den erlesensten
Kreisen der Gesellschaft sammelten sich Hörer und Bewunderer um ihn. es.
bildete sich eine eigene Secte der Frontonianer, die auf des Meisters Wort
Und Ansicht schwur. Sein Ruf war so bedeutend, so nachhaltig, daß anderthalb
Jahrhunderte später ein gallischer Rhetor ihn nicht als die erste Zierde der
Beredsamkeit nach Cicero, sondern nur als die andere neben ihm bezeichnen zu
dürfen glaubte. Achtungswerth für alle Zeit muß sein Freimuth erscheinen:
M. Aurel bekennt, daß er von Fronto gelernt habe, mit einer wie großen
Dosis von Neid. Intrigue und Heuchelei die Tyrannis verbunden sei und wie
herzlos die sogenannte vornehme Welt zu sein pflege. Wenn dagegen derselbe
M- Aurel in seinen Meditationen von dem Einfluß, den Fronto in seinem
^Sentlichcn Berufs- und Unterrichtszwcige. in der Rhetorik, auf ihn gewann.
ganz schweigt, so konnte das schon auffallend erscheinen; noch auffallender
mußte es sein, daß er einen anderen Lehrer ganz besonders preist, weil er ihn
von den Studien der Rhetorik, Poetik und feineren Stilistik abgezogen habe,
daß er sogar den Göttern dankt, weil er durch sie vor größeren Fortschritten
in diesen Disciplinen bewahrt geblieben ist, die ihn sonst vielleicht ganz absorbirt
haben würden. Aber man wußte ja, daß er sich mit Vorliebe philosophischen
Studien ergeben hatte, und konnte seine Abneigung gegen die von Fronto ver¬
tretenen Zweige des Unterrichts mehr dem Gegenstande derselben als dem
Lehrer zuschreiben. So wurde dieser von den Literarhistorikern mit herkömm¬
licher Bewunderung genannt, und auch dadurch ließ man sich nicht irre machen,
daß neben den Zeugnissen der Alten, die von der Gravität und dem Pomp
seiner Schreibart sprachen, ein anderes ihn als den Vertreter der trockenen
Redeweise bezeichnete. Da entdeckte Angelo Mai in einem Mailänder Palimpsest
zahlreiche Ueberreste der bis dahin nur aus einigen spärlichen Citaten bekannten
Schriften des Fronto, denen später Ergänzungen aus einem Manuscript des
Vatikan hinzutraten. Nie ist wohl die Wahrheit des bekannten Ausspruchs
„o si kaeuissvs, MloLvxlius mansissks" lebendiger empfunden worden, als
da nun dieser von Mit- und Nachwelt hochgepriesene, aber für uns bis dahin
stille Mann so plötzlich seinen viele Jahrhunderte hindurch verstummten Mund
öffnete. Fast nirgends ein einigermaßen bedeutender Inhalt dieser Stilübungen,
die bis zum Lobe der Faulheit, des Rauches und des Staubes hinabsteigen;
ebenso selten ein über die Trivialität sich erhebender Gedanke, die Darstellung
ein gelehrtes und buntes Mosaik; nicht einmal ganz an Reminiscenzen aus
Horaz uyd Virgil fehlt es darin; aber neben Lucrez und Sallust sind es wesent¬
lich die recht eigentlich rostigen und veralteten Schriftsteller der frühesten Literatur¬
periode, welche die Stifte dazu hergegeben haben; auf nüchternem und farblosem
Grunde liefern sie ein darum nur um so barocker und buntscheckiger erscheinen¬
des Bild.
Um eine Illusion ärmer, aber mit um so unbefangeneren Blicke dürfen
^wir uns nun die anderen Zeit- und Nuhmesgenvssen des Fronto ansehen.
Am interessantesten sind unter ihnen die griechischen Grammatiker, Philosophen
und Rhetoren, die zwar nicht unmittelbar der römischen Literatur angehöre»,
aber nicht nur im Reiche, sondern auch in der Hauptstadt selbst eine für die
Gesammtphysiognomie der literarischen Zustände so bedeutsame Rolle spielen,
daß sie nicht ganz mit Stillschweigen übergangen werden dürfen.
Vor allem aber lenken unsere Blicke jene modernen Sophisten auf sich-
Schöngeister und Redekünstler, die meist wenigstens einen Theil ihres Lebens
als wandernde Virtuosen von Ort zu Ort ziehen und durch ihre oft glänzen¬
den Vortrüge die Menge anlocken, Ehren und Reichthümer fallen den Be¬
günstigten unter ihnen zu. Vor allen ist es Herodes Atticus, auch einer
der Lehrer des M. Aurel, der eine fast fürstliche Existenz führt und durch die
Pracht seiner athenischen Bauten manchen Fürsten verdunkelt.
M. Aurel selbst war gegen die Koryphäen dieser Richtung bis zur Ver¬
schwendung freigebig; innerlich stand er derselben fremd gegenüber. Von hohem
Adel der Seele, von tiefer und eindringender Auffassung der höchsten Probleme
des Lebens legen seine tagebuchartigen Aphorismen Zeugniß ab. Der Philosoph
auf dem Throne der Cäsaren hatte gerechten Anspruch auf die Bewunderung
des geistesverwandten Philosophen von Sanssouci. der im Bewußtsein dieser
geistigen Verwandtschaft es liebte, seine Gemächer mit den Marmorbildern des
Kroßen römischen Kaisers zu schmücken. Wie Friedrich französisch, so schreibt
M. Aurel griechisch; aber wenn jener auch an die besten stilistischen Muster
sich anlehnt, so stellt dieser es nickt nur als eine Forderung auf. seine Gedanken
nicht durch Redeschmnck aufzuputzen und weder vielgeschäftig noch wortreich zu
sein, sondern er treibt die Knappheit seines Ausdrucks bis zur Dunkelheit.
Tiefer eingreifende Förderung wendet er demgemäß nur den philosophischen
Studien zu.
Wenn es in dieser Zeit auch außer dem Kaiser ernste und würdige Vertreter
der Philosophie gab. Markt und Gassen waren von Afterweisen erfüllt. Unter
einem ehrwürdigen und ascetischen Aeußeren. mit grober Kutte, knotigem Stock,
obligatem Ranzen und lang herabwallenden Barte, die als nothwendiger Apparat
dieser Winkelphilosophen erscheinen, bargen sie meist dummdreiste und bettel¬
hafte Zudringlichkeit, kindischen Hochmuth, frivole Genußsucht, oft noch viel
tiefere Unsittlichkeit.
Niemand hat uns. wie diese verächtliche Menschenclasse, so die mannig¬
fachen Auswüchse dieser Epoche mit lebhafteren Farben geschildert, als Lucian.
Diesem in manchen Beziehungen geistig verwandt ist Apulejus. Von
Geburt Afrikaner, wie Fronto. hatte er sich durch einen Studienaufenthalt in
Athen und durch ausgedehnte Reisen gebildet; dann wirkte er eine Zeit lang
mit Anerkennung als Sachwalter in Rom. Später nach Afrika zurückgekehrt,
gewann er sich Ruhm und Ansehen als Lehrer der Beredsamkeit und durch
öffentliche Vorträge. Infolge der Lerheirathung mit einer viel älteren Wittwe
geneth er aber in unangenehme Verwickelungen mit der Familie ihres ersten
Mannes und schließlich auf die Anklagebank. Wir besitzen noch die Rede, in
^r er sich gegen die von jener Sippschaft wider ihn erhobene Anklage der Zauberei
vertheidigte. Dürfen wir diese Rechtfertigung als eine vollständige bezeichnen,
die ihren Zweck nicht verfehlt haben wird, so öffnet sie uns auch den näheren
Einblick in diese interessante und eigenartige Persönlichkeit. In wunderbarer
Weise vereinigen sich hier wissenschaftlicher Sinn mit phantastischer Wundersucht,
originelle, selbständig durchgebildete Anlagen mit Anlehnung an den Zeit-
geschmack; hier, der Moderichtung entsprechend, die aus den Rüstkammern des
Archaismus entlehnten, aus dem Staube hervorgezogenen Worte und Wendungen,
dort neue, wunderliche Bildungen individuellster Art. dort wieder provinzielle
Eigenthümlichkeiten mit all dem üppig wuchernden Schwulst, der die Latinität
der Söhne Afrikas schlingpflanzenartig zu umranken Pflegt. Hat man mit Recht
von Fronto gesagt, daß sich in ihm nicht die Gluth. nur der Sand Afrikas
finde, — bei Apulejus sind beide neben- und durcheinander vorhanden. In
ihm stellt sich die barockste Species unseres Rococo dem Blicke dar.
Dieser Buntheit entsprechen nun auch die Studien und die Schriften des
Apulejus: in beiden Sprachen schrieb er, wie Hadrian, gelegentlich auch in
beiden dasselbe, und in beiderlei Rede; außer seiner eigentlichen Berufswissen-
schaft, der Rhetorik, hat er nicht nur über Philosophie. Arithmetik. Musik, nicht
nur wahrscheinlich auch über die andern freien Künste Arbeiten geliefert, sondern
ebenso über Naturwissenschaft und ihre praktischen Ausläufer, Ackerbau und
Medicin. Nicht minder bewegt dieser wissenschaftliche Encyklopädist sich aus
fast allen Gebieten der schönen Literatur: er verfaßt Prunkreden und Romane;
seine Gedichte ertönen ebenso sehr zum Preise der Götter und der Schönheit,
wie troj; Hoff und Daubitz! als Reclame bei einer auf Verlangen erfolgenden
Sendung von — Zahnpulver.
Wie jenen wissenschaftlichen, nebst jener Apologie verhältnißmäßig reiner
geschriebenen Werken neben eigener Forschung griechische Vorbilder zu Grunde
lagen, so erscheint auch sein Hauptroman, die Geschichte eines durch seine
Neugier nach übernatürlichen Geheimnissen in einen Esel verzauberten Jünglings,
einer griechischen Quelle und zwar wohl direct im Wesentlichen der be¬
kannten entsprechenden Erzählung des Lucian entnommen, zu dem Apulejus
sich besonders hingezogen fühlen mußte. Jedenfalls nicht daher entlehnt und
Wohl in seinen Grundzügen der Ueberlieferung durch Volksmund entnommen,
ist das eingcflochtene, reizende Märchen von Amor und Psyche; die Darstellung
des lösenden, reinigenden und befreienden Einflusses der Mysterien am Schlüsse
läßt den in fast alle griechischen Geheimdienste eingeweihten Apulejus erkennen,
welcher selbst darin ein Palliativ gegen die herrschende Sittenverdervniß
erblickte.
Haben wir es bei manchen Wunderlichkeiten hier jedenfalls mit einem
Geiste zu thun, der zwar mannigfache fremde Elemente in sich aufnahm, sie
aber selbständig verarbeitete und seine eigenen Bahnen ging, zählt Apulejus
zu der angesehenen und beneideten Classe von Literaten, zu deren Borträgen
das Publicum strömte, denen die Bewunderung der Mitlebenden Standbilder
errichtete, so fehlt es auch nicht an jenen treufleißigen, bescheidenen Gelehrten
untergeordneten Ranges, die andächtig den Worten der Meister lauschend von
den Brosamen leben, die von ihren Tischen fallen.
Solch ein braver Jünger ist Aulus Gellius.
Wahrscheinlich in Rom geboren, hat auch er in Athen studirt; nach der
Weltstadt zurückgekehrt, trat er zwar, wie er sagt, aus den entlegene.» Winkeln
seiner Bücher und seiner Lehrmeister mitten unter die Menschen und auf das
lichtheUe Forum, aber im Wesentlichen führte er doch das Leben eines stillen
Stubengelehrten, und seine Interessen concentrirten sich auf die Fortsetzung
seiner Studien. Wie in Athen bei Herodes Atticus, so fand er in Rom Zu-
tritt bei Favorinus, einem der gelehrten Hofräthe Hadrians. und bei Fronto.
Zu Favorinus namentlich tritt er in das nächste Verhältniß: wohin dieser
ging, dahin folgte ihm Gellius, so ward er von dem Reiz seines Gespräches
gefesselt. Was aus Favorinus, was aus seiner anderen Meister Munde geht,
dem lauscht er bewundernd und nur selten wagt er bescheidene Einwendung. Bei
Besuchen und Mahlzeiten wie bei gemeinsamer Lectüre, auf Spaziergängen und
auf Reisen, in Buchläden und in Bibliotheken, überall, stehend, sitzend, liegend,
werden mehr oder minder gelehrte und dabei mehr oder minder, wenn auch
nicht gerade nichtige, doch kleinliche und geistlose Gespräche geführt. Ergänzt
wird der Ertrag dieses mündlichen Verkehrs von Gellius durch eine ziemlich
ausgebreitete Lectüre. Mit einem reichen Schatze von Erinnerungen. Auf.
Zeichnungen und Excerpten später nach Attika noch einmal übersiedelt, führt er
sie dort aus und stellt sie in langen Winternächten zu den uns fast vollständig
erhaltenen zwanzig Büchern „Attischer Nächte" zusammen. Zunächst seinen
Kindern zu Nutz und Frommen geschrieben, ist dies Werk für alle Zeiten eine
reiche Fundgrube des Wissens geworden. Er hat gelauscht und gelesen, gefragt
und Bücher aufgesucht, in der Schule wie auf seinem bescheidenen weiteren
Lebensgange unablässig studirt. So beschäftigt er sich denn zwar gemeiniglich
mit Literatur. Grammatik, Alterthümern. Historie, mit Geschichte der Philo¬
sophie oder anderweiten philosophischen, meist ethischen Problemen, die im
Sinne des damaligen, etwas verwaschenen Modestoicismus entschieden zu werden
Pflegen, aber auch auf Metrik und Prosodik. Stilistik und Rhetorik, Mathe-
Matik und Musik, auf Länder- und Völkerkunde, auf Naturgeschichte und Natur-
lehre. Anatomie und Physiologie, medicinische und richterliche Praxis wie auf
einzelne kirchliche und religiöse Materien richtet er sein Augenmerk bis herab
auf Fragen der gesellschaftlichen Etikette, z. B. aus das Gähnen bei einem
gelehrten Vortrage. Meist in rein zufälliger Aufeinanderfolge, nirgends nach
systematischer Anordnung, wird uns dies bunte Durcheinander vorgesetzt; es
gemahnt an das Hamburger Nationalgericht, die Aalsuppe, in der man eine
Unzahl an sich vortrefflicher Dinge mengt. „<;ni tiurlent ä'ötkroi as Sö voir
KeeouplW."
Bei weitem geringer als der Stoffwechsel ist der Formwechsel bedacht:
Die einzelnen Capitel bieten entweder eine nackte Observation oder eine Anzahl
dergleichen zu einer etwas einförmigen Schnur aufgereiht, oder der Verfasser
kleidet sie in irgendein kleines Erlebniß aus seinem athenischen oder römischen
Stillleben ein. Diese Partien bieten eine Anzahl von anziehenden Genrebildern
aus dem Leben und Treiben der hervorragendsten Philologen, Rhetoren und
Philosophen jener Tage. Sie erscheinen dabei mit ihrem ganzen Mangel an
Originalität und Productionskraft, den das von allen Seiten zusammengeraffte
Gold fremder Gedanken, Studien, Ausdrucksformen nicht verhüllt; die meisten
dieser Größen sind ebenso moralisch als langweilig: trotzdem belustigen sie
durch den wunderlichen Contrast, den mit ihrer Aermlichkeit sowohl ihre ge¬
spreizte und aufgeblasene Selbstüberschätzung als die devote Bewunderung des
guten Gellius bildet.
Mehr als die Einkleidung entspricht dem Stoffe endlich die Schreibart:
die nüchterne Sprache des Alltagslebens ist bei dem Bewunderer des Fronto
natürlich wiederum versetzt mit allerhand Ingredienzien aus der vorciceronischen
Zeit; namentlich plündert er die reichen Vorrathskammern der alten Komödie,
deren drastischer und energischer Wortschatz sich nur widerwillig einer so philister¬
haften Verwendung fügt; der allzeit Mäßige scheut auch hier das Zuviel; mit
seinem Favorinus warnt er vor der Anwendung ungebräuchlicher und ganz ab¬
gekommener alter Worte, aber innerhalb dieser ziemlich willkürlich gesteckten
Grenzen zahlt auch er dem Zeitgeschmack einen reichlichen Tribut.
Daß das nicht zur Gelehrtenzunft gehörige Publicum an solchen, zwar
wackeren, aber ennuyanten Gesellen keinen großen Geschmack finden konnte,
begreift sich; lieber ließ es sich von Orakel- und Wundermännern Sand in die
Augen streuen als von einschläfernden Grammatikastern.
Es war der Anfang des Endes der römischen Literatur. Wie den Geben¬
den die schöpferische Kraft, so fehlte den Empfangenden die echte wahre Theil¬
nahme.
Es war'nun zunächst nothwendig, einen gangbaren Paß das durch tiefe
und breite Flußbett nach dem andern Ufer hinüber aufzusuchen. Sämmtliche
Waldstrome, die unsern Weg kreuzten — und es waren ihrer viele — mußten
von Thieren und Menschen durchwatet werden, Ueberbrückungen waren bei den
ersten beschränkten Mitteln zunächst unmöglich und größtentheils überhaupt ver¬
boten durch die beständige Veränderung des Flußbettes nach stattgehabten Regen-
güssen. Die kräftigen Mulatten. Neger und Indianer durchschreiten die flie-
ßenden Wasser selbst bei starken Strömungen mit großer Unerschrockenheit, aber
es gehört viel Muth und Vertrauen auf die eigene Stärke dazu, wenn man
bedenkt, daß ein Fehltritt und Fall in der Strömung nur zu oft den Tod zur
Folge hat. Einige hundert Schritte weiter stromabwärts jedoch bildete der Fluß
ein noch mehr ausgebreitetes und verflachtes Becken mit kiesigem Grunde. Das
Wasser stieg hier nicht höher als bis zur Brust, die Thiere freilich mußten ab¬
geladen werden und hindurchschwimmen, während das Gepäck auf Flößen hin-
übergeschoben und gezogen wurde.
Jenseits des Flusses hob sich das Erdreich zu einer wenig hohen, mitunter
ebenen Reh^). und nach einer Meile etwa machte der Wald einer großen
unübersehbaren Wiesenfläche Platz, die mit Zwergpalmen und anderem Gestrüpp
bedeckt war. Diese sonderbare und eigenthümlich isolirte Gestaltung des Bodens
und seiner Vegetation überraschte mich. Auf den ersten Blick konnte man
weinen, daß ein Waldbrand oder eine frühere Cultur die Bodenphysiognomie
so umgestaltet habe. Indeß ließ das unfruchtbare, sandige Erdreich mit größerem
Rechte auf ein ausgetrocknetes Wasserbecken oder auf eine Ausschwemmung ver-
witterten Gesteines schließen, das sich, wie ein unfruchtbarer Haidegürtel,
wieder durch die schwere Lehm- und Mergelerde des Urwaldes hindurchzog. —
Ungehindert, fast ohne Gebrauch des Messers, konnte man durch die Lücken
pes Palmengestrüppes hindurchschreiten, so daß ein besonderer Wegdurchbruch
kaum erforderlich gewesen wäre, wenn nicht eben diese Lücken ein wahres
Labyrinth von Steigen und Schleichwegen gebildet hätten, in denen, wenn ein-
Wal die Richtung verloren war, man bis ins Unendliche fortirren konnte.
Daher war mir der Embarquiano, der dieses Bereich wiederholt durchstreift
hatte und genau kannte, und der treu bei mir ausgeharrt hatte, vom höchsten
Werthe; ein sicherer Compaß in diesem Fahrwasser, zeichnete er die Richtung mit
wenigen Messerschmieden vor. die wir Folgenden sodann ausbahnten. Dabei
glaubte ich aber bald in seinem sonst ruhigen und sorglosen Wesen eine ge¬
wisse Hast und Vorsicht zu bemerken. Dieselbe steigerte sich von Stunde zu
Stunde, und endlich vertraute er mir heimlich, daß die Mesa für uns ein ge-
fährlicher Boden sei, da sie die eigentliche Heerstraße der wilden Indianer auf
ihren Jagdzügen ins Gebirge hinein bilde; er rathe zur Umkehr, denn er habe
wiederholt schon ziemlich frische Spuren von ihnen bemerkt, in wenig mehr
als einer Tagereise sei überdies der Catatumbo erreicht, und könne diese letzte
Strecke leicht durch die Mannschaft der ganzen, nachfolgenden Karavane aus¬
geführt werden. Jedoch meine Begierde, das Ziel unsres Weges vor Augen
zu sehen, war größer, als daß diese Warnung mich zurückgeschreckt hätte. Der
Embarquiano gab meinem Drängen nach, und wir schritten schweigsam vor¬
wärts. Aber bald theilte sich auch den übrigen Peonen ein merkliches Unbehagen
mit, denn gegen Abend stießen wir auf eine große Feuerstelle. die freilich kalt
und bereits vom Regen abgeschwemmt war, aber in ihrer Aschenmenge und in
dem ringsumher zertretenen und abgeschnittenem Gebüsche auf ein großes und
wenig altes Lager vorübergezogener Indianer schließen ließ. Aller Muth war
jetzt dahin, und in der Furcht vor den giftigen Pfeilen der unchristlichen Brüder
weigerte sich jeder, ohne Verstärkung an Mannschaft weiter vorzugehen.
Das Nachtlager mußte indessen der eingetretenen Dunkelheit halber dennoch
auf der Mesa ausgeschlagen werden. Stumm und verdrießlich schütteten meine
Leute die Streu von Palmenblättern auf und breiteten ein kleines, niedriges
Dach über dieselbe aus, kein Feuer wirbelte seine lustigen Funken und Rauch¬
säulen auf, keine muntre Unterhaltung, keine improvisirten Canzonen verkürzten
die langen Abendstunden, und die ganze Mahlzeit war abgethan mit einem
Stücke pairela^) und dem doppelten Maße der buerms voolrgs. Die Thiere
wurden entfaltete und kurz neben uns angebunden; ein jeder wickelte sich
schweigend in seine Decke und ließ seiner von Angst aufgeregten Einbildungs¬
kraft freien Lauf. Die Tapfersten warfen einige flüchtige Scherze und launige
Einfälle hin, die aber nur ein schwaches Echo fanden. Andre seufzten ein langes
Ave Maria und murmelten mit ungewohnter Inbrunst das stundenlange Rosario
vor sich hin. Dunkel und dunkler wölbte sich der tiefblaue Himmel um die
nur vom Horizonte begrenzte Haideebene. Große Sternbilder erglänzten in
reinem, weißem, farblosem Lichte. Die Stille, die zwischen uns wenigen ver¬
lassenen Menschen in dieser Einöde herrschte, war peinlich und unheimlich. Es
rauschte hinter uns. „Ruhig, daß wir sie nicht aufmerksam auf uns machen!"
flüsterte mein Nachbar, aber es war nur ein nächtiger Raubvogel gewesen, der
mit weichen Schwingen über das Palmengestrüpp hin dem Walde zuschwebte.
„Ich höre sprechen, sie sinds!" flüsterte nach einer Stunde der andere Nachbar
neben mir. „Duell Euch; die Waffen zur Hand!" befahl ich mit gedämpfter
Stimme. Es geschah; aber gleich darauf verspottete uns unser tapfrer Embar¬
quiano mit einem lauten Gelächter, — unweit von uns schnob'und grunzte
eine Manate wilder Schweine vorüber.
Durch diese glücklichen Enttäuschungen wurde man wesentlich ermuthigt, und
bald kehrte selbst den Furchtsamen ein guter Humor zurück. Um ferneren
unnützen Alarmirungen vorzubeugen, erbot sich der Embarquiano. die Wache
zu übernehmen, damit jeder schlafen könne, bis er Ablösung fordern werde.
Bald darauf schnarchte es allenthalben um mich, und auch ich schloß die Augen.
Um Mitternacht etwa rüttelte mich der Wachthabende, als ich gerade von wild¬
tanzenden Rothhäuten träumte. Erschrocken schnellte ich empor, aber die Stille
ringsum und das Gesicht des bekannten Weckers klärten mein Bewußtsein ans.
Er zeigte mit der Hand nach Norden, und mit den Augen dahin folgend, sah
ich an dem fernen Horizont einen rothen Feuerschein aufsteigen. „Da sehen
Sie. wie sie lustig schmausen, die Picaris;" sagte er lächelnd, „wären wir zwei
oder drei Tage früher hierher gekommen, so- Härten wir an ihrem Spieß
gesteckt!-
Für dieses Mal glaubte er uns der Gefahr des Zusammentreffens mit
den Indios Bravos überhoben, und bezweifelte auch deren Wiederkehr, sofern
sie erst ausgekundschaftet, daß Cultur und Menschen inzwischen von diesem
wüsten Gebiete Besitz ergriffen, dann fügte er hinzu „die Pulverpfanne und der
Rosario der Christen macht auf die Heiden einen großen Eindruck". — Sie
mußten ein lustiges Feuer angefacht und viel daran zu braten haben, denn die
rothe Gluth stieg bis über ein Viertel des Himmelsbogens hinauf; plötzlich aber
erlosch dieselbe, sie hatten jedenfalls das Feuer ausgegossen, um aus irgend¬
einem Grunde den Rest der Nacht über keine Zeichen mehr von sich zu geben.
Am andern Morgen, mit Tageshelle. wagten auch wir ein kleines Feuer
anzufachen, aber groß genug, um den nüchternen fröstelnden Körper durch einen
Trunk warmen Kaffees aufzufrischen. Während dessen wurden die Thiere gesat-
telt und der Rückzug in fliegender Hast angetreten. Erst in dem Hafen der
Salvacion kehrte allen Muth und Ruhe zurück. Nach Abhaltung eines Rast¬
tages wurde der Rückmarsch ungesäumt fortgesetzt, bis wir endlich wieder auf
°le rothen Ziegeldächer und lichtgrünen Zuckerrohr-, und Bananenfelder von
l» Conveiicion hinabschauten, fröhlich jodelnd, mit Hornrufen und Flintenschüssen
unsere Rückkehr anzeigten und von den Bewohnern des Pueblos und unsern
Freunden jubelnd empfangen wurden.
Währenddessen waren die Arbeiten K's. soweit gediehen, daß die Karavane
sich in Bewegung setzen konnte. Uns Heimgekehrten aber bedang ich zuvor
"och eine achttägige Frist zur Kräftigung unsrer mürben Glieder und zur Hei¬
lung der Unpäßlichkeiten, die wir uns zugezogen. Ein solenner Ball belohnte
die Ausdauer und Hingebung meiner wenigen getreuen Pfadbrecher. An einem
jener anmuthigen Frühlingsmorgen endlich, wie sie das untere Gebirge um
Ocakia fast täglich wiederkehren sieht, brach unter der lebhaftesten Theilnahme
des kleinen Pueblo und seiner nächsten Umgebung die Reisekolonne von
55 Maulthieren. 2 Pferden und 26 Menschen nach dem Catatumbo auf, um
dem bisher ungebeugten Urwaldstrome ebenfalls das Joch menschlicher Industrie
und Cultur auf den Nacken zu legen. Alt und Jung beiderlei Geschlechts war
auf der Plaza vor unserm Hause versammelt; die angesehensten Einwohner
brachten K. und mir ihren Glückwunsch dar und erbaten den Beistand der
Heiligen für unser verdienstvolles Werk. Der Cura, ein frommer Priester
und redlicher Mensch, schlug das feuchte Auge gen Himmel auf und versprach,
eine Messe für uns und unsre patriotische Unternehmung zu lesen. Jedes aus
der Hand der Arrieros entlassene Lastthier wurde auf der Plaza mit einem viva!
begrüßt. Die Mochila der geschäftigen Arrieros, denen die Geschicklichkeit er¬
fordernde Handhabung der Thiere und des Gepäckes heute wie Spiel und
Tanz von den Fingern glitt, wurde mit dulees (Süßigkeiten), xotlo (ge¬
bratenen Hühnchen), Brod, Früchten u. s. w. von den zurückbleibenden Müttern,
Schwestern und Freundinnen gefüllt, und der Sohn mit Segnungen, der Bruder
und Freund mit ängstlichen Ermahnungen und mit nassen Augen bis zum näch¬
sten Wiedersehen entlassen. Jeder Arriero übernahm die ihm zugetheilte Anzahl
von Thieren (es kamen je sechs auf einen Führer) und die Verantwortlichkeit
in Betreff derselben, und ebenso wurden die Menschen in Abtheilungen ge¬
schieden, wodurch jeder Stockung und Unordnung auf dem schmalen Wege vor¬
gebeugt wurde. Der eapoM (der oberste Leiter der Arrieros) stieß in sein
Muschelhorn') feste sich an der Spitze seines Zuges in Bewegung und unter
Flintensalven, krachenden Raketen und Zündern und dröhnenden Tambor-
schlägen, Jubelrufen und hundcrtstimmigen vios! ^ vios!" schlängelte sich
die Karavane die Straße hinunter und jenseits der Stadt den esrro as odispo
hinauf, wo von der letzten Anhöhe die letzten Abschiebsrufe jubelnd hinüoer-
und herübergingen.
Die erste Tagereise beschränkte sich auf eine sehr kurze, kaum zwei Meilen
weite Strecke, bis zu einer befreundeten Hacienda, gleichsam um das Rad erst
in Schwingung zu setzen. Hier wurde die Colonne in zwei Züge getheilt,
von denen K. den ersteren größeren voraufführte, während ich mit dem andern
kleineren nachfolgte. Die Lastthiere haben die Gewohnheit, sich auf dem Wege
einander zu überholen, wobei sie mit den voluminösen Lasten ins Gedränge
kommen, die Lasten verschieben, abwerfen und sich selbst oft kopfüber und kopf¬
unter stürzen und niedertreten. Auf schmalen Wegen mit felsigem und ab¬
schüssigem Rande entstehen daraus leicht Gefahren und Verluste; es mußte da¬
her auf diesem nur für die Breite eines, höchstens zweier Lastthiere berech¬
neten Wege alles aufgewendet werden, um jeden Zusammenstoß zu verhin¬
dern. Jeder Abtheilung war ein ungesatteltes Thier beigegeben, um im Noth-
falle für ein anderes ausgeschiedenes einzutreten; die Hälfte der Frachten ent¬
hielt Mundvorräthe und Geräthschaften. die^ andere Hälfte bestand aus
Waaren, namentlich Zucker, dem Hauptproducte des Gebietes von Ocana,
um mit diesem die ersten Handelsverbindungen mit Maracaibo anzuknüpfen.
Nur den beiden Frauen und Kindern, die dem Zuge angehörten, waren
Reitthiere zugetheilt. K. und ich nahmen nur einen Sattel in Beschlag, dessen Nie߬
brauch von einer Station zur andern unter uns abwechseln sollte; da aber meine
Beine noch bedeutend jünger und überdies durch die voraufgegangenen Jahre
unausgesetzter Wanderung in den Ebenen wie im Gebirge das Laufen,
sehr gewohnt worden waren, trat ich meine Rechte an den Sattel gänzlich ab.
Beide Züge wurden durch die Entfernung einer Tagereise von einander
Actrennt: jeder hatte seinen embÄiMitmo und eaxoral bei sich. Commando
und Verwaltung der Lebensmittel und des Gepäcks übernahmen K. und ich.
jeder bei seinem Zuge. Dieses Commando über so bunt zusammengesetzte Ele¬
mente ist leichter übernommen, als glücklich durchgeführt. Während eine dis-
ciplinirte Schaar maschinenmäßig durch einen kurzen Befehl selbst von bart-
losen Lippen regiert wird, bedarf es hier der Verschwendung vieler Worte.
Viele Ueberredungs- und Borstcllungskünste. viel Tact und Kenntniß der Racen-
charaktere zum rechten und rechtzeitigen Gebrauch von Nachsicht und Strenge.
Wz eines bedeutenden moralischen Uebergewichtes. da d'le Stütze der
physischen Gewalt gänzlich fehlt.
So leicht der einzelne Wanderer zu Fuß oder zu Pferde weite Strecken
unwegsamen und obdachlosen Landes durchstreifen mag. so langwierig und be
schwerlich gestalten sich solche Reisen mit einem großen Train von Menschen,
Thieren und Gepäck. Langsam schleppen die Thiere ihre Lasten auf den
schlüpfrigen Pfaden fort; wiederholtes Fallen, Verschieben der Lasten, gefahrvolle
Passe haben ein beständiges Aufhalten und Antreiben. Ab- und Aufladen zur
Folge. Steht ein Thier, so stockt der ganze Zug. Und solche schleichende und
°se gehemmte Bewegung wirkt bedeutend ermüdender und aufreibender auf Geist
und Körper, als ein rasches gleichmäßiges Ausschreiten, wo die Bilder schnell
wechselnd an den Augen vorüberziehen. Die unaufhörlichen Zurufe und Flüche
der Arrieros. die nervenerschüttcrnden Mißtöne der Muschelhörner, der schwere,
sesthaftende Lehm unter den zerfetzten Sandalen, das Durchwaten der Flüsse.
Mer auf dem Steingerölle. Zerritzen in den Dornen, denen sich zu entziehen
Man durch die Schneckenbewegung des Zuges verhindert ist. die mangelhafte
Befriedigung aller Bedürfnisse. Hunger. Durst. Abmattung und Unpäßlichkeit,
alles das wirkt zusammen, um nach und nach einen Zustand gänzlicher Apathie
herbeizuführen. Endlich langt die Karavane bei einer ihrer nächtlichen Posadas
die winzigen Schuppen, aus einigen Palmenblättern zusammengestellt,
dom natürlich nur der Minderzahl ein Obdach, da sie fast gänzlich durch das
Schuh und Trockenheit beanspruchende Gepäck in Anspruch genommen werden.
Jeder sehe, wo erdleibe, jeder sehe, wie ers treibe! Der „Katschikamo"*) (Gürtelthier
entdeckt nach schlau umhergeworfenen Blicken einen höhlenartigen Winkel in
dem Packlager, darinnen er sich mit seinem Kameraden, der „Schlange" wie
ein Murmelthier zusammenrollt. Der „Padre", der „Kleine Schwarze" und
der „Affe" wählen einen hohen Kautschuckbaum, darinnen sie. wie in einem
geräumigen Ramado um ein kleines Feuer zusammenhocken und ihre nassen
Hemden und Hosen trocknen; der immer aufgeräumte „Pacharito" (Vögelchen)
und sein Vetter „Lorito" gesellen sich mit Cinco und Chucha zu ihnen, und bald
steigen aus dem alten hohlen Baume lustige Rauchwolken und Canzonen auf
als ob die Sagen von belebten Bäumen und Waldgeistern wieder lebendig
geworden wären. Der „Tigre" und „General Pisko" (Truthahn) werfen auf
einer Ochsenhaut die Würfel um gebackne Bananen und Panela; der „Guo-
scharako" (Schreipapagei) zankt mit drr pechschwarzen „Angelika" (Engelchen),
der Köchin, um die ihm zu gering zugemessene Portion Maissuppe, während
ihm der „Kaiman", der geliebte Freund „Angelitas", und dessen einarmiger
Vetter, der „Manko" unverkennbar zu verstehen geben, daß er sich schnell aus dem
Staube zu machen. Der „rothe Drache", der große stämmige Embarquiano,
der mehr in den Schlupfwinkeln der Wildniß als unter Menschen gelebt, und
seines wilden Aussehens, wie seiner umherschweifenden Lebensweise und thierischen
Stärke halber jene Bezeichnung) erhalten, streckt seine gewaltigen Glieder neben
dem rauchenden Lagerfeuer aus. die vom nassen Lehm erkalteten Füße gegen die
heiße Asche gerichtet und den Oberkörper mit der braunfascrigen Covija bedeckt
Neben ihm trocknen und wärmen sich andre Gruppen, die Einen müde und
schläfrig, die Andern ungeschwächten Humors, und der „guapo alsmav" (tapfre
Deutsche), wie man mich benannt! hatte, weiß seine kleine Hängematte von
Baumwollgcflecht zwischen zwei eingerammten Pfählen zu befestigen; schwebend
und schaukelnd dicht über zwei zottixen Zamboköpfen sucht und findet er hier
wie die Andern den wohlverdienten Schlaf nach mühseligen Tagewerk.
An der eisenharten Mataua°). von zweien Gabeln getragen, hängt über
dem Feuer der Kessel mit dem Maisbrei und Wildschweinsknochen, von
„Angelika", der schwarzen Schuhpatronin des wandernden Heerdes, geschäftig
überwacht. Ihr geliebtes „Kaimanzito" (Krokodilchen), das sie nicht aus Augen
und Sinn gelassen, spaltet ihr das feuchte Holz und weht es mit dem breit-
krämpigen Strohhut in Brand; andre Hände tragen das Wasser herbei, und
wieder andre reinigen die Wunden der Mäuler, welche die Lasten in die Haut
gescheuert, treiben sie in das Gebüsch und verrammeln die Ausgänge, damit
die Heerde nicht über Nacht den Rückweg nach der heimathlichen Koppel an-
trete. Das Maulthier entweicht äußerst hartnäckig von fremden Reisestationen,
und legt mehr denn 40—50 Meilen nach der gewohnten Krippe zurück, wenn
es ihm gelingt zu entschlüpfen.
Wenn der Aras mit untergehender Sonne kreischend über die Wipfel der
Bäume seinem nächtlichen Schlupfwinkel zufliegt, suchen die schwatzenden Gruppen
ebenfalls ihre Ruhelager auf. Besorgte Blicke schweifen durch die Lichtung hin,
die das Flußbett gebrochen, den unten am Horizonte zeigt sich ein bedenklicher
Dunstkreis. Er verdichtet sich und überzieht bald den ganzen Himmel. Ein
schwerer Tropfen fällt in die glühenden Kohlen, der Donner grollt und nieder
duscht die Negcnfluth. Alles, was lebendig ist. strömt und drängt sich nach
dem winzig kleinen Schutzdache, der „Catschikamo" und die „Schlange", die sich
darunter zusammengerollt, wie Murmelthiere, vertheidigen heroisch ihr ver-
letztes Eigenthumsrecht. Vergeblich ist Bitte. Befehl und Drohung des Patrons,
seine zerbrechlichen Zuckerballen und das ebenso leicht vergängliche Schutzdach
in schonen. Eine Menschenschicht nach der andern wirft sich über das sorgsam
trocken gestellte Frachtgut, gleichviel, ob dieses unter ihnen zusammenbreche,
oder dem triefenden Regen bloß gelegt werde; es bleibt auch kein Quadratfuß
freier Luftraum in dem vollgedrängten Güterschuppen. Aber nicht lange dauern
die Freuden der Trockenheit; das schwache Machwerk klafft bei dem Gedränge aus¬
einander, der Regen sickert und fließt in die entstandenen Fugen und gräbt
unten durch die aufgeweichte Erde einen wahren Wasserstrom, mitten durch den
Schuppen hindurch. Die Hoffnung auf Rettung des Zuckers vor dem Zerfließen
stützt sich nur noch auf die gute Verpackung in trockner Cepa. durch deren
glatte, wasserdichte Epidermis das Wasser nicht einzudringen vermag. Zwischen
Patron und Arrieros entbrennt ein heftiger Zwiespalt; jener macht diese ver-
antwortlich für ihre Ladungen, diese glauben damit, daß sie dieselben unverletzt
hierher gebracht, ihrer Verantwortlichkeit genügt zu haben, und. wollen ihr«
Haut keinem Gewitter noch Regen verkauft haben. Endlich kommt durch gegen-
Zeitige Berücksichtigung der Umstände ein Compromiß zu Stande, zumal die
Traufe eher weniger als mehr Annehmlichkeiten darbietet, als der Regen unter
freiem Himmel. Der „rothe Drache" und Andre, weniger empfindlich gegen die
Schrecknisse der Wildniß. boten von Anfang an unter ihrer Covija neben dem aus-
gegossenen Aschenhaufen' der Sündfluth Trotz. Sie klammern sich mit Händen
und Zähnen an ihren Bananen und Schweinsrippen fest, während der Donner
seine wilde Musik aufspielt, der Blitz die Tafelrunde erleuchtet, und das aus¬
einanderberstende Gewölk die Brühe über den Braten gießt. Jedoch alle Re¬
signation einerseits, Ingrimm und Verzweiflung andrerseits rühren die Elemente
nicht; dunkler und dunkler wird die Nacht, und der vorüberrollende Donner
schleift eine Regenfluth nach der andern hinter sich her. bis das Morgengrauen
erlösend durch die ausgeschöpften Wolken bricht.
Starr vor Frost und Nässe wagt man sich hinein zu den zusammenge¬
drängten Reisegefährten unter dem triefenden Palmendach. Uebermüdung Hai
die Einen in die erlösenden Arme des Schlummers gelegt, Andere suchen fluchend
ihre versessenen Glieder in eine erträgliche Lage zu bringen, und ein kleiner
Rest wilder Barbaren, abgehärtet gegen jede menschliche Empfindung, läßt die
Flamme stoischen Humors auch hier noch fröhlich flackern zum Spott und Schaden der
weniger Starken. Aber die übermäßige Enge und Hitze und die entsetzlichen Neger-
und Mulattendünste in dem engen Raum drohen dem weißen Menschen mit
civilisirten Geruchsnerven den Erstickungstod; hastig arbeitet er sich wieder
hinaus, indem er vorzieht, in der Sündfluth zu erstarren.' als in jener Atmo¬
sphäre zu ersticken. Er gesellt sich endlich einem kleinen Häuflein Gleichgesinn¬
ter zu, das unter dem Schirm eines Baumwipfels zusammenkauert und mit
Geberden der Verzweiflung und elegischen Ausrufen seine Sehnsucht nach der
iNÄlnita (Mütterchen) und der warmen Küche der zärtlichen rnuelracditA (Mägd¬
lein) Luft macht, alle Schuld dieser unheilvollen Stunde auf die verrückte Reise
und die starrköpfigen Deutschen wälzt, seine Uebereilung verwünscht und gelobt,
niemals wieder diesen verdammten Monte zu betreten — Verwünschungen und
Gelöbnisse, die natürlich, sobald der Regen aufhört und die Sonne die Kleider trock¬
net, Vergessen werden. Diese Sonne läßt indeß auf sich warten. Durch die schwarze
Nacht dröhnt unheimlichdas Krachen zusammenstürzender Bäume. Fromme Nothrufe
an die Heiligen und wüsteFlüche ringen sich gleichzeitig aus angstgepreßter Brust her¬
vor. Brausend wälzen sich die angeschwollenen Waldbäche die Schluchten hinab und
reißen Gischt aufspritzend die Ufer stückweise mit sich fort. Ueber den Grund hin rollt
hohl das Gestein, als ob sich losgehämmerte Felsen in den geöffneten Schlund der
Erde stürzten. Im Gange der Zeit scheint ein Stillstand eingetreten, so träge schlei¬
chen die Stunden vorüber. Jedoch der Schlaf, der getreue Freund der Jugend und
der Müden, .zieht auch unter so ungünstigen Verhältnissen seine Hand nicht
zurück, endlich drückt er dem erschöpft Hingesunkenen mitleidsvoll die Augen¬
lider zu. Der „rothe Drache", der Barbar der Wildniß, fängt das Haupt des
Kindes der Civilisation auf und legt es gutmüthig auf seine eifensesten Knie,
entblößt seine braunen Schultern, um seine einzige Schutzdecke über den
weißen Schützling auszubreiten.
So wechseln Freuden und Leiden während jener obdachlosen Nächte, die
großartigsten Eindrücke mit den härtesten Entbehrungen. Wenn der erste Weck'
ruf des grauenden Morgens durch den Wald geht, wird es alsbald auch im
Lager lebendig. Der Creole springt zu jeder Stunde mit einer Leichtigkeit
und Munterkeit von seinem Ruhelager auf, die nichts von jener Schwerfällig¬
keit ahnt, mit der das phlegmatische Temperament des Nordens die erste Lüftung
der Bettdecke überwindet, nur sein Auge empfindet den Unterschied zwischen
Tag und Nacht, die übrigen Sinne ruhen oder wachen mit gleicher Leichtig.
keit zu der einen, wie zu der andern Zeit. Das Feuer ist sein erster Gedanke;
von seiner Hängematte oder seinem Palmblätterlager eilt er sogleich an den
Heerd. zieht die am Abend sorgsam verscharrten Kohlen aus der Asche hervor
und weht sie mit dem Hute, den er nur während des Schlafes ablegt und als
erstes Bekleidungsstück wieder anlegt, in Brand; denn ohne glimmenden Heerd
und siedendes Wasser ist ihm sein Dasein in seiner armseligen Behausung ein
Unding. Der Caporal schickt einen Theil der Arneros zum Zusammentreiben
der Maulthiere ab. während er mit den übrigen den Lasso um das Gepäck
legt und alle Schlingen und Knoten schlägt, die das Aufladen beschleunigen.
Die Saumsättel werden gereinigt und aufgeklappt, die Schweißkissen gelockert
und von allen Druck verursachenden Unebenheiten gesäubert. Der Aufbruch
nnerReise gewährt stets ein munteres, unterhaltendes Bild, in den mancherlei Fertig¬
keiten, die sich der Creole in seinem Lebensgange aneignet, in der Leichtigkeit und
Schnelle, mit der er Gepäck und Thiere während des Aufladens handhabt,
thut es ihm keiner der naturalisirten Ausländer gleich. Unter den launigsten
Selbstgesprächen und Unterhaltungen mit den Thieren, die sich in eine lange
Kette von zweideutigen Zärtlichkeitsausdrücken. Flüchen u. s. w. ausdehnen,
nehmen je zwei Mann ein Thier in ihre Mitte, werfen hurtig auf jede
Seite des Saumsattels ein Stückgut, ziehen ein paar Male den Lasso hin-
über und herüber, schlagen etliche Knoten und Schlingen, und mit schalkhaftem
Spotte entlassen sie das übelgelaunte Langohr aus ihrer Hand, um mit dem
folgenden dieselbe Procedur vorzunehmen. Die eine Gruppe wetteifert mit der
andern. Scherz. Spott und Zank fliegen ohne Unterbrechung hin und her.
und wenn es den tückischen Versuchen eines der verschmitzten Maulthiere gelingt,
alle Bemühungen des Aufladens zu vereiteln oder sich einer schon festgeschnürten
Last zu entledigen. so erhebt sich auf der andern Seite ein lautes Hohngelächter.
Nicht ohne Wirrwarr und Zusammenstöße in dem engen Packraume werden die
Thiere in Bewegung gesetzt, bei jedem Aufbruch und jeder Annäherung an einen
Drt giebt das Muschelhorn seine schrillen Signale, und macht auf jeden
steilen oder gefahrvollen Paß. auf jedes Rencontre mit einem entgegenkommenden
Maullhierzuge aufmerksam, wo es gilt, die Thiere scharf ins Auge zu fassen.
Wenn die Sonne hoch am Mittag steht, läßt der Caporal die Thiere zusam-
wentrciben. gewöhnlich vor einer der kleinen Hütten an der Straße oder in
einer jener engen Thalschluchten, welche inmitten der Bergsavannen oder Cactus-
wüsten anmuthige oder romantische Oasen bilden; oder auch im schattenreichen
Walde an einem der klaren Gebirgsbäche. welche die bewaldeten Cordilleren
sehr reichlich, die Ebenen nur spärlich mit nimmer sich abspinnenden Silber¬
fäden durchziehen. Die Sattelgurte der keuchenden Lastthiere werden gelöst, die
Lasten gelockert und einem jedem Langohr einige Augenblicke Freiheit gegeben
sich niederzuwerfen oder das Gebüsch abzuraufen. Ein grünes Tischtuch von
Bijaoblättern wird über die Erde ausgebreitet, die Mochila mit dem gemein¬
schaftlichen avio°) darüber ausgeschüttet, die Machette an dem nächsten besten
Steine geschärft und in dem Quellwasser abgespült, mit ihr die earns Sees,^).
der trockne Käse, die al-LM^) mundrecht zerstückt, und schließlich die panela
ausgetheilt, als fußender Imbiß zum frischen Quellwasser. Während der Creole
sich auf den Bauch legt und den Kopf niederbeugt zum Wasser, oder es aus
zierlich geschnitzter Totumaschaale, oder aus der Mulde eines zusammengefal¬
teten Arumblattes schlürft, hält er in der anderen Hand seine unentbehrliche
panela, beißt davon zu jedem Schlucke Wassers ein Stück ab und spült so
eins mit dem andern eine geraume Zeit lang hinunter, bis sein Durst ge¬
löscht worden. Kein Arriero begiebt sich ohne xanela je auf Reisen, denn er
muß doch auf dem Wege trinken, und er kann doch unmöglich das Wasser
wie das liebe Vieh, ohne paucis., zu sich nehmen.
Behaglich streckt er sich auf der warmen Erde aus. und so steif und starr
auch die kalte arexg,. und so zäh die es-rris Lvea. ist er doch immer guten
Muths und ein wahrer König seiner Welt. Sein Himmel ist ja beständig blau
und sonnig, die Luft, die er athmet, immer mild und leicht. Und überdies,
so gering ihn, den Farbigen, der Weiße auch schätzen mag, theilt er doch mit
ihm die volle Gleichheit der öffentlichen Lebensstellung. Sorglos, selbstbewußt
und souverain fühlt er sich auf seiner heimathlichen Erde. Sonnig wie der
Himmel über ihm ist seine Laune, warm wie die Luft, die er athmet, ist seine
Lust am Leben. Bei seiner Arbeit, die für ihn kein Frohndienst. scherzt, lacht
und singt er, wie auf seinen Wanderungen und Jagdzügen, so beschwerlich sie
auch sein mögen. Wo ihm dann ein einladender Platz winkt, wirst er sich an
die Erde, verzehrt sein kärgliches Avio, schlürft das Wasser zu seiner Panel«,
und wenn dann noch etwas Zeit zum Rasten, so streicht er mit dem Daumen
über die schnarrenden Saiten seines Cinco, den er beständig über der Schulter
mit sich trägt, und kalte dazu seine wenig geistreichen, melodieloscn Canzonen.
Die Mäuler schnüffeln um ihn herum, oder stehen gesenkten Hauptes, oder
legen zutraulich den Kopf über seine Schulter, denn sie sind gewohnt, daß
ihnen die übriggebliebenen Brocken zugesteckt werden; ja es giebt wohl auch
ein Stück Panel«, die sie eben so gern verschlucken wie ihr Herr und Gebieter.
In der Ticadera, wo ein Tag gerastet wurde, trafen Vor- und Nachtrab
wieder zusammen. K. trat mir in einem sonderbaren Aufzuge entgegen; die
Beine waren in lange Kotonstrümpfe bis über die Knie hinauf eingezwängt,
ebenso die Arme bis über die Ellbogen in gleichen Handschuhen, und von dem
umturbanten Kopfe blieb nur ein kleines Stück Gesicht mit Augen. Nasenspitze
und Mund sichtbar. Dieses Costüm, das einem gegen den nordischen Winter
gewappneten Fröstlinge alle Ehre gemacht hätte, nahm sich bei einer Temperatur
von etwa 30° R. und unter fast senkrechter Sonne wie ein Fastnachtsscherz
aus. Die Vermummung hatte aber ihren bittern Ernst. Die heißfeuchten Ufer der
Ticadera wimmelten von Schwärmen kriechender und fliegender Jnsecten; un¬
erträglich war die Qual der blutgierigen Mosquitos»), die Wolken gleich die
Luft verdichteten. Ihre Stiche sind zwar nicht so tief und schmerzhaft, wie die
der langen Zanendorüssel'«). dennoch bringt ihre unausgesetzte Fortdauer die
Hautnerven in einen fieberhaft gereizten, entzündeten Zustand. Streicht man
"ut der Hand über eine derartige graue Wolke, die sich auf Hand oder Fuß
gelagert, so ists, als ob man mit einem mit Blut gefeuchteten Schwamm
darüber wischte, denn jedes der Thierchen zapft einen Blutstropfen von min¬
destens Nadelkopfsgröße ab, den es allmälig aufsaugt und von dem es so schwer
wird, daß es nicht wieder fortzufliegen vermag. Das Geschmeiß fällt mit einer
solchen Gier über sein Opfer her. als ob es seine verwünschte Existenz nur allein
Von Menschenblut fristete. Resignation, fester Wille, sich in das Unvermeidliche
i» schicken, ist die einzige Waffe gegen diese physischen, wie gegen so manche
psychische Leiden.
Die Farbigen haben unter dieser Insektenplage weniger zu leiden als die
Weißen; sie fühlen nur das Eindringen des Saugrüffels in die Haut, werden
aber nicht wie jene von der beulenartigen Anschwellung, der Hautentzündung
und der nervösen Reizbarkeit betroffen. Die Mosquitos erscheinen und ver¬
schwinden zu gewissen Jahreszeiten; sie sind von Sonnenaufgang bis Unter¬
gang in Bewegung, alsdann verhalten sie sich ruhig; ihre Tummelplätze be¬
schränken sich auf gewisse, scharf begrenzte Flußgebiete heiß-feuchter Zone, wo
sie sich namentlich zuglose, mit verwesenden Pflanzenstoffen angefüllte Gegenden
wählen, Die Zanendos beherrschen ein ausgedehnteres Gebiet, die meisten
Flüsse der heißen Zone, und wenn auch mehr oder weniger mächtig nach ver¬
schiedenen Jahreszeiten, doch nicht absolut abhängig von denselben; ihre
meisten Arten sind in der Nacht, von Sonnenuntergang bis Aufgang in Be¬
wegung. Die Ablösung der verschiedenen Arten auf Stunde und Minute, die
zu der Vorstellung einer Zanendo-Uhr Veranlassung gegeben, beruht wohl
auf phantasiereicher Ausschmückung der Thatsachen.
Einen schneidenden Kontrast zu der herrlichen Natur, die das Thal der
Ticadera schmückte, bietet der Mensch, der dieses Thal bewohnt; seine Häßlichkeit
ist fast abschreckend. Die Haut ist infolge der sogenannten uraiieka") tiger¬
artig gefleckt, so daß ihre ursprüngliche Farbe zuweilen schwer erkennbar ist; selbst
blaue Stellen, ähnlich den Gesichtsbacken eines Pavian mischen sich unter die
übrigen braunen, gelben, rothen, schwarzen und weißen Striche und Flecke.
Außerdem ist die Haut noch mit schwarzen Pünktchen, bis zur Größe einer
Erbse, übersäet. Diese Pünktchen entstehen aus kleinen Geschwüren, sogenannten
g'riwos, die bei schlechten Körpersäfien oft bösartig ausarten, und haben ihren
Ursprung in den Jnsectenstichen, namentlich wenn diese fleißig mit den Nägeln
bearbeitet werden; nach ihrer Verschorfung bleiben jene kleinen punktförmigen
Narben zurück. Zeigt sich aber keine entzündliche Disposition im Körper, und
vermeidet man einigermaßen das Scheuern, so vergehen die kleinen Aderlässe
ohne alle granos und Narbenflecke.
Unter den deutschen Residenzen, welche die Musik mit Vorliebe Pflegten, nimmt
München eine hervorragende Stelle el». Schon Herzog Albrecht der Dritte, der
Geliebte der Agnes Bcrnauerin, war ein Verehrer und Meister der Tonkunst, und
^>e später Orlando ti Lasso in der bayerischen Hauptstadt wirkte, ist bekannt.
Dennoch existirte eine zusammenhängende Geschichte des musikalischen Lebens am
bayerischen Hofe bis jetzt noch nicht, und so ist das Buch, welches die Ent¬
wickelung dieses Lebens nach seiner geistlichen wie nach seiner profanen Seite
nach archivalischen Quellen darstellt, sicher, bei Fachmännern wohlwollende Aufnahme
in finden, zumal es vielfach in den Fall kommt, falsche Ansichten über einzelne Er¬
scheinungen in dem Bereich, den es behandelt, zu berichtigen, und beträchtliche Lücken
auszufüllen. Wenn trotzdem noch Manches ungewiß bleibt, und namentlich der Ab¬
schnitt, welcher die Entwickelung des musikalischen Dramas als Kunstwerks ins Auge
saßt, dürftiger ausgefallen ist als die Kapitel, welche den äußern Verlauf der Oper
Und des Singspiels am bayerischen Hofe darstellen, so liegt das in den Verhältnissen,
das heißt in dem Mangel an ältern Partituren. Wir behalten uns vor, nach Er-
scheinen des Schlußtheils auf das Werk zurückzukommen.
In der Literatur über die französische Revolution mangelte es bisher an einem
Werke wie dieses. Man hat dieses große Ereigniß jetzt bei weitem besser begriffen,
als ehedem, wo man es noch nicht als organisches Ganze auffaßte, sondern in ihm
nur eine rohe Masse von wilden Thaten und Phantasien, gewissermaßen eine Er¬
krankung , ein Fieber der Völker erblickte. Allein noch ist nicht hinreichend die Auf¬
merksamkeit auf die Gesetze gelenkt, in welchen dieses Ereigniß seine innern Triebe
"ut Kräfte hervortrieb und zur Anschauung und Geltung brachte, und dies ist die
Absicht des Verfassers. „Die Gesetze", sagt er, „müssen den Geist der Geschichte erklären, sie
allein sind im Stande, es streng und wahr zu thun, denn wie Marksteine am Wege
^ Zeit stehen sie da, unparteiisch und interesselos, widerstrebend, dem Parteigeist
in dienen, nur geeignet, das zu sein, was sie in Wahrheit sind: starre Zeugen vom
Geist der Zeit, die sie geschaffen." Dann giebt er als Hauptzweck seiner Schrift an,
°as Staats- und Gesellschaftsrccht, welches die Revolution von 1789 geschaffen,
a>s die Basis erkennen zu lassen, auf der nach ihm das neuere Vcrsassungswescn
Staaten Europas ruht. Eine eingehende Besprechung dieses Versuchs müssen
Nur auf die Zeit verschieben, wo mehr von der Arbeit vorliegen wird. Hier ge-
, daß der Verfasser sich nur auf dem Boden der Gesetzgebung der französischen
Revolution bewegt und daß er hier ein wahrhaft ungeheures Material zu einem
systematischen Ganzen zusammengestellt hat. Die Ereignisse begleiten diese Darstel-
u»gar nur wie die Ursachen oder Folgen eines großen Gedankens und bilden so
äußern Rahmen des Ganzen. Parteilichkeit ist bei dieser Betrachtungsweise
Ausgeschlossen. Im Gesetze liegt eben das Resultat der Bewegung des Geistes der
vor. und an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.
In den Briefen Stägcmanns verschiedene interessante Notizen über die Zustände
Preußens nach den Befreiungskriegen sowie mehre Andeutungen über dessen Stellung zu
den politischen und kirchlichen Fragen, die damals die Gemüther bewegten, in den Briefen
Heines und Bettinas einige werthvolle Ergänzungen der Literciturgcschichte. Das be¬
deutendste Stück der Sammlung ist der Brief Metternichs, in welchem derselbe Varnhagen
Aufschluß über die Stellung giebt, welche die verbündeten Monarchen in Wien der Rückkehr
Napoleons von Elba gegenüber einnahmen. Er schreibt darüber: Die erste Kunde der Ent¬
fernung Napoleons von Elba säbelnd und zwar ausdie folgende Weise erhalten. Eine Kon¬
ferenz zwischen den Bevollmächtigten der fünf Mächte hatte sich in meinem Kabinet in der
Nacht vom 6. auf den 7. März bis nach drei Uhr früh erstreckt. Da die Cabinete zu Wien
vereint waren, so hatte ich meinem Kammerdiener den Befehl ertheilt, mich, wenn Couriere
spät Nachts ankamen, nicht im Schlafe zu stören. Diesem Befehl ungeachtet brachte
mir derselbe gegen 6 Uhr früh eine mittelst Estafette eingelangte „dringend" be>
zeichnete Depesche. Als ich auf dem Couvert die Worte: „Vom k. k. General-
consulate zu Genua" las und kaum zwei Stunden zu Bette war, legte ich die
Depesche uneröffnet auf den nebenstehenden Nachttisch und überließ mich wieder der
Ruhe. Einmal gestört wollte dieselbe jedoch mir nicht recht zu Gebote stehen.
Gegen ?V- Uhr entschloß ich mich die Schrift zu erbrechen. Sie enthielt in sechs
Zeilen die Anzeige: der englische Commissär Campbell sei soeben in dem Hafen
erschienen, um sich zu erkundigen, ob sich Napoleon nicht habe zu Genua blicken
lassen; denn von Elba sei er verschwunden, worauf infolge der verneinenden
Antwort die englische Fregatte ungesäumt wieder in die See gestochen sei.
In wenigen Minuten war ich angekleidet und vor 8 Uhr bereits bei dem Kaiser.
Derselbe las den Bericht und sprach ruhig und gefaßt, wie er dies in allen großen
Gelegenheiten war. die folgenden Worte zu mir: „Napoleon scheint den Abenteurer
spielen zu wollen; dies ist seine Sache. Die unsere ist, die Ruhe, welche er Jah«
lang störte, der Welt zu sichern. Gehen Sie ohne Verzug zu dem Kaiser von
Rußland und dem König von Preußen, und sagen Sie ihnen, daß ich bereit bin,
meiner Armee alsbald den Rückmarsch nach Frankreich zu befehlen. Ich zweifle
nicht, daß die beiden Monarchen mit mir einverstanden sein werden."
Um 8V4 war ich bei dem Kaiser Alexander, welcher mich mit denselben Worten
beschied wie der Kaiser Franz. Um 3V. erhielt ich dieselbe Erklärung aus dem
Munde des Königs Friedrich Wilhelm. Um 9 Uhr war ich zu Hause, wohin ich
bereits den Feldmarschall Fürsten Schwarzenberg entboten hatte. Um 10 Uhr stellten
sich auf meine Aufforderung die Minister der vier Mächte bei mir ein. Um diese
Stunde waren bereits Adjutanten in allen Richtungen unterwegs, um den rück¬
ziehenden Armeeabthcilungen den Befehl des Haltmachens zu überbringen. S>e
sehen, daß der Krieg in weniger als einer Stunde beschlossen war.
Nummer 12 und 13 der Grenzboten brachten aus Julius Meyers Feder
zwei Aufsätze über Ursprung und Schätzung des gothischen Stils und über
die Gothik des neunzehnten Jahrhunderts, die mit glänzender Beredsamkeit die
S'ache der modernen Principien im Bereich der Architektur führen und jedem
Versuch einer, Wiederbelebung der Gothik energisch entgegentreten. Der Ver¬
fasser sucht sowohl die Jncongruenz der gothischen Formen mit unserem Lebens¬
inhalte wie ihren Mangel an organischer Durchbildung und architektonischer Wahr¬
heit nachzuweisen und von beiden Instanzen aus den Werth der vorhandenen
Ethischen Kunstwerke aus die Bedeutung von Denkmälern einer überwundenen
Periode und von geschichtlichen Erscheinungen zurückzuführen, die keine lebendige
Vermittelung zu uns herüber mehr haben. Wir. die wir die Gesichtspunkte
der Romantiker nicht theilen, die wir mit dem Verfasser die Entwickelung, die
stetige Verjüngung alles Aeußeren aus der inneren Kraft wollen und die einzelnen
historischen Rechte dem Rechte des geschichtlichen Lebens unterordnen, wir ver¬
mögen gleichwohl diesen kritischen Ausführungen nicht überall beizutreten. In¬
dem Julius Meyer den überschwenglichen Behauptungen derer entgegentritt,
welche den gothischen Stil als den im eminenten Sinne nationalen angesehen
wissen wollen, scheint seine Darstellung selbst der Ergänzung aus weiteren
Gesichtspunkten zu bedürfen, um ins rechte Maß zu kommen; da aber, wo die
Frage praktisch geworden ist. versäumt er einen Unterschied zwischen kirchlichem
und weltlichem Stil zu machen: eine Versäumniß freilich, welche sich die Er¬
neuerer der Gothik selbst zu Schulden kommen ließen, und durch die sie ihrer
Sache am meisten schadeten. In beiden Richtungen erlauben wir uns nur einige
Bemerkungen.
Daß die Gothik in gewissem Sinne französischen Ursprungs sei. sofern
w Frankreich die ersten spitzbogigen Arkadenstcllungcn unternommen wurden,
wäg immerhin gelten, wiewohl der Spitzbogen auch bei uns in der Substruction
weit früher vorkommt, als man den Anfang des gothischen Stils zu datiren
pflegt. z. B. unter der jetzt den Einsturz drohenden Kaiserpfalz zu Goslar.
Es mag gelten, denn die erste freie und künstlerisch wirksame Anwendung des
neuen architektonischen Motivs wird entscheiden müssen. Die Erfindung des
Spitzbogens selbst erfolgte ohne Zweifel als ein ganz natürlicher Fortschritt in
der Selbiibcwegung der abendländischen Architektur und ist weder den arabischen
Reminiscenzen der Kreuzfahrer noch etwa einem bewußten Streben zuzuschreiben,für
neue Stimmungen und Anschauungen den angemessenen symbolischen Ausdruck
zu finden. Sie war so gut wie unmittelbar gegeben, sobald man in die Lage
kam, Tonnengewölbe kreuzen zu müssen, denn die Diagonalstcllung der Gradrippen
zeigte den Spitzbogen. Zwar werden allgemein orientalische Einwirkungen an¬
genommen, um das Aufkommen des gothischen Stils zu erklären; aber man
sollte sich doch erinnern, daß es erst die entfesselte, zu Schweifungen geneigte
und das Zierwcrk in übertriebenen Maße ausbildende Gothik ist, welche mit
dem arabischen Stile Ähnlichkeit zeigt, und daß es unter jener Voraussetzung
schwer hält, sich bei den Nachahmern das Zurückgehen auf die primitive, keimhafte
Form und dann die stufenweise und ganz systematisch erfolgende Ausbildung
unseres mittelalterlichen Stiles vorzustellen.
In jedem Falle ist es von untergeordnetem Werthe, den thatsächlichen
äußeren Ursprung der Gothik mit voller Sicherheit auszumachen; zu welcher
Wirkung.die damals herrschende Weltanschauung die einzelnen so oder so ge¬
fundenen Elemente verbunden, wie sie die Mittel der Architektur verwandt hat
sich selbst zur Darstellung zu dringen, dies mit einiger Deutlichkeit zu'erkennen
ist das Wesentliche. Steht aber die Frage nach dem geistigen Ursprünge der
gothischen Bauwerke selbst, nach dem allgemeinen Grunde des Lebens, das
ihnen eingehaucht ist, so werden wir uns nicht nach Frankreich weisen lassen
dürfen. Sollte überhaupt die Kategorie der Nationalität hier anwendbar sein?
Wie mißlich es damit stehe, beweisen uns die eigenen Ausführungen unseres
Kritikers. Er will eine innige Wahlverwandtschaft zwischen dem strengen und
energisch zusammenfassenden Charakter des gothischen Stils und der straffe«!
schematisirenden Art des französischen Geistes entdecken, der eben in jener
Periode die ihm eigenthümliche Feindseligkeit gegen die Geltung des Individuellen
in sich entwickelte. Und wenn er nun irgendwo sagt: „Diese straffe, con-
sequente, ausgrübelnde, jede Einmischung erfinderischer Phantasie, jeden Reich¬
thum mannigfaltiger Formen abweisende Ausarbeitung der Bauart: das voll¬
ständige Auslöschen des echt-architektonischen Gegensatzes von Last und Kraft in
der Pfeilerbildung, die gänzliche Beseitigung der Horizontale, dagegen die Aus¬
bildung des Verticalprincips bis zu seinen äußersten Spitzen, die Auflösung
der umschließenden Mauern in Stab- und Fensterwerk, die wahrhaft fanatische
Begeisterung für den Thurmbau. der im durchbrochenen Helm selbst das Be»
dürfniß durch den Zwang des Systems überwindet, endlich die Vorliebe für
ein geometrisches Spiel der Formen (namentlich in der Polygonalanlage des
Chors und im Maßwerk)" — so möchte man versucht sein, diesen Satz für
die Ausführung jener Behauptung zu halten. Aber es ist im Gegentheil die Be¬
handlung charakterisirt, welche der Stil durch unsere Nation erfuhr, der doch
eben erst ein inneres Verhältniß zur Gothik abgesprochen war. Die Anhäng¬
lichkeit an die romanische Kunstform, welche an das deutsche Gefühlsleben
stimmungsvoll anklang und in ihren mehr natürlichen Bildungen der Phantasie
vertrauter war, der deutsche Hang zu ungebundener Entwickelung der individuellen
Eigenart, ein Gefühl von Zusammenhang noch mit der classischen Welt sollen
ein wahres Bedürfniß für die Gothik nicht haben aufkommen lassen. Wohl!
Da nun aber dennoch die neue Bauart auch bei uns nicht nur Boden gewann,
sondern zu fast ausschließlicher Geltung gelangte, so hätten sich jene Eigen¬
thümlichkeiten des deutschen Charakters in der Behandlung des übernommenen
Stils wohl offenbaren müssen? Nein; eben die freiere, ungezwungenere und der
Phantasie mehr Raum lassende Bauweise wird vielmehr nur den Franzosen und
Italienern nachgerühmt. Und nehmen wir nun hinzu, daß neben uns die
Franzosen und Italiener, vor allem aber die Engländer ihre gothischen Werke
für die vollendetsten ausgeben, die höchste Entfaltung des Stils ihren Vorfahren
beimessen und. was das Wichtigste ist. bedeutsame Züge ihres Wesens in den
Momenten der Gothik wiederfinden: so werden wir alle Ursache haben, den
Gesichtspunkt der Nationalität weniger stark hervorzuheben.
In der Betrachtung des Mittelalters will dieser Gesichtspunkt überhaupt
nur sehr vorsichtig angewandt werden. Die beiden Pole, in deren Spannung
A) das mittelalterliche Leben erfüllt, sind die Idee der Christenheit in ihrer
Fassung als Kirche und Reich und die des persönlichen Rechts in ihrer Fassung
als Selbsthilfe, welche die kleinen politischen Körperschaften zum Schuhe des
Rechts und der Existenz hervortreibt. Das mitteninneliegende Nationale ist nur ganz
leise angedeutet. Hat der Gedanke die nächste enge Sphäre der Gilde, des
Weichbildes, der schöffenbaren, des Lehnsvcrbandcs. des Ritter- oder Städte-
bundes verlassen, so springt er unmittelbar in die universalen Beziehungen der
geheiligten Weltmonarchie über; der Mensch denkt, fühlt und handelt noch
nicht aus der Seele der Nation oder eines für bestimmte Zwecke seine Macht
aufbietenden und seine Mittel zusammenfassenden Staates. Diese Potenz führt
»se das Zeitalter der Staatsraison ein. Das Mittelalter, demnach, zeigt uns
eine Reihe von Culturerscheinungen, die allen Gliedern der Christenheit ge¬
meinsam sind; das Gefüge der städtischen Verfassungen, das Ritterthum und
der Minncdienst. das Mönchswesen, die Universitäten mit ihrer scholastischen
Unterrichtsweise sind solche Producte von ganz allgemeinem Charakter. Das
Nationale innerhalb der Scholastik z. B. nachzuweisen, ist noch gar nicht ver¬
sucht worden. Die Kreuzzüge, diese großartige Gesammtthat der abendländischen
Christenheit, lassen sich schließlich doch nur aus einer unterschiedslos durch-
gehenden Stimmung und Anschauung begreifen. In die Reihe dieser Er¬
scheinungen gehört die Gothik. Wo immer sie entstand oder zumeist ausgebildet
wurde, sie kam einem allgemeinen Bedürfnisse entgegen und übte da, wohin
sie im Bereiche der christlichen Welt übertragen wurde, keinerlei Zwang aus,
sondern wurde als das.wahrhaftige Gegenbild des eigenen ins Bewußtsein
Dringenden Lebensinhaltes ausgenommen und verstanden. Und wurde nur aus¬
geschmückt mit den heimischen Blattern und Blüthen, die denn doch noch hier
und da aus dem Boden hervortricben, den die römischen Colonen so tief durch¬
ackert und mit so fremdartiger Saat bestellt hatten.
So haben wir die Gothik als ein nothwendiges Glied in unsere Ent¬
wickelungsreihe zu stellen, so gut wie wir die Gothik des Gedankens, die
Scholastik, als unser anerkennen müssen, obschon sie auch von Frankreich zu
uns kam. Unser Geist hat diese Formen sich zueigen gemacht, hat sie fortent¬
wickelt und verwandelt und hat ihre Motive als ein unveräußerliches Fidei-
commiß in sich aufgenommen. Bon der Gothik zu reden, so zeigt der Bau
unserer Bürgerhäuser noch bis auf den heutigen Tag ihre unvermerkt wirkenden
Einflüsse. Und wäre das in keinem Sinne unser, was wir gemeinschaftlich
mit Andern besaßen? Wäre es unsere geschichtliche Aufgabe gewesen, seit wir
aus dieser Allgemeinheit zu gesonderter Existenz mit besonderen Zielen heraus¬
traten, die Formen, welche unsere mittelalterliche Vergangenheit uns angebildet
hatte, einfach abzustreifen, wie man lästige Fesseln von sich schleudert? Wäre
das Entwickelung? Daß in der That eine organische Vermittelung der im fünf¬
zehnten und sechzehnten Jahrhundert auftauchenden modernen Gedanken mit den
überlieferten Existenzen durch eine unglückliche Fügung der Umstände so gut
wie unmöglich gemacht wurde, werden wir zu constatiren, aber, wir denken,
nicht zu rühmen haben.
Die Gothik entspricht einer geschichtlich nothwendigen Bewußtseinsform w
der Entwickelung der christlichen Religion, entspricht darum einer psychologisch
nothwendigen Phase in der Religionsgeschichte des Einzelnen. Mit welcher
Wendung der Dogmengeschichte tritt sie ein? Das Geschäft der patristischen
Periode — sie bezeichnet sich durch die Namen der beiden Gregore von Nazianz
und Nyssa, des Augustin, Leos des Großen. Gregors des Großen u. A.,
denen wir in gewissem Sinne den des Anselm von Canterbury beifügen können
— das Geschäft dieser Periode war es gewesen, nicht nur den evangelischen
Erzählungsstoff festzuhalten und abzugrenzen, sondern auch die Thatsachen der
unter den Augen der Menschen verlaufenen und schon längst mythisirten Ge¬
schichte mit den Gestalten des Jenseits in wirksame Beziehung zu setzen. Auch
diese Zeit war schon nicht mehr die eines ganz naiven Aufnehmens der herr¬
lichen Erscheinung Jesu in das verödete Gemüth, sie ging schon nicht mehr
guf von dem unvermittelter Gefühl des Verlangens nach neuer Lebenskraft,
sondern suchte sich vorstellig zu machen, wie die Erlösung der Seele, nämlich
ihr Herüberreißen in das Gottcsreich objectiv vor sich gehen könne, wenn ein
Recht des Teufels auf den Menschen („nach einem Rechte." sagt Gregor der
Große, „besaß der Teufel die Menschen"), die Gerechtigkeit und Heiligkeit
Gottes, die Unfähigkeit des Menschen zur Genugthuung. die Göttlichkeit Jesu
und sein Tod feststehe. Innerhalb dieser gegebenen Punkte wurden alle nur
möglichen Combinationen versucht, selbst die Vorstellung einer Ueberlistung
des berechtigten Teufels .durch die Maske der Menschheit, welche Jesus an¬
genommen , blieb nicht ausgeschlossen. Aber alles wurde in nackter Thatsächlich¬
st gefaßt, und in die Seele des Menschen trat der Zwiespalt, um dessen
Lösung es sich handelte, kaum hinein. Wie der Sündenfall ein einmal vor¬
gefallenes Factum mit gewissen historisch eingetretenen unglücklichen Folgen war.
so wurde auch die Erlösung zunächst nur in ihrer äußeren Thatsächlichkeit gefaßt,
und beide Ereignisse standen zueinander im Verhältnisse eines, man möchte
sagen quantitativen Gleichgewichts. Die Moral ergab sich erst am Ende einer
langen Erwägung factischer Zusammenhänge als eine durch Schlüsse gefundene
Nothwendigkeit. Die Frage in allen diesen theologischen Untersuchungen war
nicht: Wie gelangen wir zum Heil? sondern; Wie stellte Gott den Schaden,
den sein Reich erlitten, wieder her? und einen Schritt weiter: Warum wurde
Gott Mensch? Selbst als die Betrachtung den Teufel aus dem Spiele zu lassen
anfing, das ganze Erlösungswerk auf Gott zurückbezog und lediglich aus dessen
Eigenschaften zu begreifen versuchte, fand man den Grund der Menschwerdung
Gottes nur in der logischen Unmöglichkeit, eine Schuld zu bezahlen, wenn die
Gelegenheit, über das tägliche Bedürfniß hinaus ein Mehr zu machen, schlech¬
terdings nicht vorhanden war. Den Grund der Menschwerdung des Menschen
aber — denn man mußte sich ja erst sein Leben beweisen, ehe man es hinnahm
fand man in der Nothwendigkeit, die Lücke, welche der Fall der Engel in
das nach Zahl und Maß so schön geordnete Weltganze gerissen, durch Geschöpfe
auszufüllen, die vor den Engeln den Vorzug hatten, wiederherstellbar zu sein.
Ueberall Stellvertretung, nirgends unmittelbares Selbstgefühl. Die Engel sind
für die Ausfüllung einer bestimmten Ziffer da. die Menschen treten für die
Engel ein. Christus für die Menschen, und Gott tritt gewissermaßen für sich
selbst ein; denn der Gott der Liebe hat den der Gerechtigkeit erst vollauf zu
bezahlen, ehe er er selber sein darf. Die Seele quält sich viel weniger um
ihre Sünde, als um die Schwierigkeiten, aus welchen sich dieser höchst eigen¬
sinnige und höchst rücksichtsvolle Gott herauszuwinden hat.
Wie wird sich bei solcher Anschauungsweise die Kirche gestalten? Als Ge¬
meinde jedenfalls nicht, denn diese setzt die spontane Thätigkeit des Einzelnen
voraus. Offenbar nur als Anstalt zur Sicherung der segensreichen Folgen des
objectiv vollzogenen Erlösungswerkes für den Menschen kann sie in die Er-
scheinung treten. Der Gottesdienst wird sich naturgemäß als eine fortlaufende
künstlerische, symbolische und oratorische Vergegenwärtigung der einzelnen Mo¬
mente des Sündenfalles und der Erlösung darstellen, um den Menschen in
fortwährender Gewißheit über jene Vorgänge zu erhalten. 'Das Bedeutende
wird zum Feste werden, als das Bedeutendste wird der Opfertod Christi, der
Angelpunkt des Ganzen, sich herausheben und mit allem Nachdruck aus die
Sinne des Menschen einzudringen versuchen. Auf dessen Seite aber wird nichts
als die Anschauung, die Anbetung, die Unterwerfung sein. Ganz naturgemäß
werden die Verwalter des überlieferten Mysteriums den Laien in strenger
Sonderung gegenübertreten, denn bei dem noch ganz objectiven Charakter des
Christenthumes leiht das Gefühl, das sich selber noch nicht erfaßt, dem Priester
ganz von selbst eine absolute Sicherheit über die transcendenter Dinge.
Hier haben wir die geistigen Elemente des romanischen Stils. Die feierlich¬
stimmende Ahnung von etwas Großem, Ergreisendem, das ins Menschenleben
treten soll — wie die alte Basilika sie hervorrief — hat sich erfüllt. Der Geist
hat nicht geruht, bis er das Schauspiel selbst vor seine Sinne hingestellt ge¬
sehen. Und nun ist es da mit seiner überwältigenden Pracht und Großartigkeit.
Unwiderstehlich fesselt es die Blicke auf sich, und der Mensch wird beruhigt,
indem er es anschaut. Es zieht den Geist aus seiner Enge heraus, aber nicht
ins Schrankenlose, es bringt ihn zu sich selbst zurück, aber erspart ihm das
Gefühl der Verzweiflung an sich selber. Uebersetzt das in die Sprache der
Architektur und ihr habt den romanischen Dom. Die Kreuzesform des Baues,
der Priesterchor, aus dem das Heilige und Heiligste sich zeigt, hoch erhaben
über dem Standorte der Laien, die massigen Mauern mit ihren kleinen Fenstern,
die in ihrer einfachen Zweckmäßigkeit beruhigend auf das Gemüth wirken, der
Rundbogen und das Rundgewvlbe, welche die Seele sanft anregen, aber bei
sich lassen, freundlicher Zierrath endlich, der den Andächtigen mit stillem Be¬
hagen erfüllt — das sind die wesentlichen Elemente des romanischen Stils, der
in hohem Maße die Kraft besitzt, den Geist zu gelassenen Hinnehmen des
Göttlichen zu stimmen.
Wir wissen, daß der Geist nicht immer in dieser passiven Ruhe verharrte.
Er hatte bis jetzt weder Ja noch Nein zu dem Inhalte des christlichen Glaubens
gesagt, er war noch ganz darin gefangen und verloren, seiner selbst noch nicht
bewußt. Es kam nun die Zeit, daß er sich auf sich selbst zu stellen versuchte,
indem er seine ausdrückliche Zustimmung zur Lehre der Kirche abgab. Eine
Zustimmung zwar, bei der die Gefahr des Widerspruchs noch ausgeschlossen
blieb. Mit Entzücken entdeckte man nun, daß auch der Verstand jene Thatsachen,
die der Geist im Großen und Ganzen sich hatte gefallen lassen, sich in allen
ihren einzelnen Momenten begrifflich aneignen könne. Es handelte sich nicht
darum zu bestimmen, was zu glauben sei — denn dies war durch die Arbeit
der verlaufenen Periode festgestellt — sondern zu begreifen, wie die berichteten
Thatsachen sich vollzogen haben konnten. Auch die Kirchenväter hatten den
ihnen mitgetheilten Stoff schon unter gewisse Gesichtspunkte gestellt, indem sie
zwischen diesseitigen Ereignissen und jenseitigen Gewalten einen Zusamenhang
zu begründen versuchten, aber es war ihnen nicht beigekommen zu fragen, ob
die einzelnen Schürzungen die Anwendung der Kategorien des Verstandes er¬
trügen. Ein Resultat der positiven Thätigkeit der Patristischen Kirche war z. B.
die Behauptung des Transsuvstantiation. Die folgende Zeit übernahm sie
gläubig, stellte aber die Frage: wie kann es geschehen, daß Brod und Wein
alle ihre äußeren Eigenschaften behalten und doch Fleisch und Blut geworden
sind? und gab die Urwort: Gott, als die primäre Ursache, vermag wohl für
eine secundäre Ursache einzutreten und die. Accidentien des Brodes und Weins
zu erhalten, während ihre Substanz sich verwandelt. Man sieht, wie weit
diese Art zu untersuchen von einer principiellen, aus der Tiefe der Menschen¬
natur und aus der unbefangenen Naturbetrachtung beginnenden Philosophie
entfernt ist. Und doch war kein Zeitalter stolzer, freudiger in seiner Aufklärungs¬
thätigkeit als das scholastische. Und wenn man jetzt zwar die Scholastik nicht
als Philosophie gelten lassen will, weil sie überall dem Einsehen das Glauben
vorausgehen ließ, so darf man doch den Fortschritt nicht unterschätzen, den
jenes Geschlecht machte, indem es so zu denken anfing. Denn worin bestand
eigentlich der sich vollziehende Proceß? Offenbar darin, daß sich im Geiste,
wennschon dessen größerer Raum, so zu sagen, noch vom christlichen Glauben
eingenommen war, eine Summe von Erkenntnissen abgelagert hatte, die nicht
aus dem Christenthum stammten, sondern aus den Alten, vorab aus dem
Aristoteles, und aus einer Art von Naturbetrachtung, und daß von diesen
Kenntnissen aus der Glaube nicht geprüft zwar, aber betrachtet wurde. Das
Verhältniß beider geistigen Mächte konnte zunächst nur ein gegenseitig bejahen¬
des sein. Wir wissen, daß es später ein neutrales wurde, da denn der Geist
glaubte zwei verschiedene Wahrheiten, die philosophische und die theologische,
nebeneinander beherbergen zu können, und daß endlich im fünfzehnten Jahr¬
hundert die Philosophie, nachdem sie sich mit classischer Bildung verbündet
hatte, den Sieg davontrug.
Jetzt aber sproßte überall reichstes Leben hervor. In der Periode der un¬
vermittelter Objectivität des Mythus hatte sich der Geist in allen Beziehungen
"ur receptiv Verhalten; sowie der Mensch aber beginnt, sich den Mythus im Wege
Verstandes zu vermitteln, verwandelt sich auch die stumme Hingebung des
^uschauens in ein lebendiges Schaffen der Phantasie. Der übernommene
Stoff wird flüssig, künstlerisch bildsam, und mit dem ersten Dmkversuche ist
"und die schöpferische Kraft des Menschen entbunden. Es regt sich etwas in
^>n, das den auf ihn einwirkenden Dingen antwortet. Die Kraft der
lebt in ihm auf, durch die er den Eindruck künstlerisch gestaltet, den die heilige
Geschichte von Christus und vom Jenseits auf ihn macht. Vor allem aber
durch die Mittel der vorwegschauenden und vorwegnehmenden Kunst spricht er
den positiven Inhalt seines Geistes aus. den er wissenschaftlich nur erst sehr
mangelhaft auszudrücken versteht. Aber die Kunst, in der That, beginnt.
Waren bisher die heiligen Gestalten wohl nachgebildet worden, so hatte man
doch nur Nachbilder von ganz typischen, starrem, conventionellen Charakter,
und diese nicht im Drang des Schaffens, sondern als Gegenstände der An¬
betung oder zur größeren Ehre des Dargestellten hervorgebracht. Jetzt vollzieht
sich in gewisser Weise ein Ähnlicher Fortschritt, wie er bei den Griechen von
der älteren, noch gefesselten ägyptisch anklingenden Kunst zu der des fünften
Jahrhunderts stattfand. Sticht zwar zu freier menschlicher Schönheit bringt es
das Mittelalter, eben weil seine Anschauungen transcendental sind, aber die
vordem starren und unbelebten Züge beleben sich, beginnen zu reden von der
Herrlichkeit der himmlischen Heimath und gewinnen eine Tiefe und Innigkeit
des Ausdrucks, die ebenso von der Art der romanischen Werke absticht, wie die freie
Schönheit der Niobiden von der typischen Weise der Aegineten. Hier wie dort
ein freies Selbstbekenntniß des Zeitalters in der angemessenen, classischen
Form. Endlich die Poesie! Nur mit einem Worte sei daran erinnert, daß die
Zeit, von der wir reden, die unserer großen Lyriker ist und diejenige, in welcher
unser Epos seine Gestalt erhält. Eine Zeit allgemeinen Schaffens und Arbeitens,
die Erde wie beschienen von aufcrweckender Frühlingssonne I
Wie aber mußte sich, im Besonderen, das religiöse Leben und die Existenz¬
weise der Kirche gestalten, so lange die Philosophie dem Glauben diente? Die
Wirkung dieses Verhältnisses war eine energische Steigerung aller Lebenskräfte
der Kirche. Der Geist fing an sich zu fühlen, und dies Gefühl seiner selbst
war zugleich Gefühl der Verwandtschaft mit dem angenommenen Glauben.
Was Wunder, daß er mit allem Nachdruck zu lautem Zeugniß sich emporrichtete
und, da die ganze christliche Lehre ihren Schwerpunkt im Jenseits; ihren Sinn
in den letzten Dingen hatte, das Himmlische im Gegensatze gegen das Irdische
mit lebendiger Ueberzeugung hervorhob, mit glühendem Verlangen ergriff! Mit
stärkster Betonung wird jetzt das Weltliche für werthlos erklärt und den An¬
sprüchen des Himmels oder jener Macht unterworfen, die ihn auf Erden ver¬
tritt. Droben ist die wahre Heimath des Menschen, empor die Herzen! Sichern
Glaube und Gehorsam zwar gegen die Höllenstrafen, so eröffnet, sich nun der
sinnlich ausschweifenden Natur die Aussicht auf das Fegfeuer. Aber der Mensch
besaß Erfindungsgabe genug, seinem abstracten Idealismus im Lauf der Zeit
so viel abzubrechen, daß Raum zum praktischen Leben übrigblieb. Mit der
aus dem System folgenden Forderung absoluter Unterwerfung der Natur war
nicht zu bestehen, eine innere Versöhnung des Göttlichen und Irdischen noch
nicht möglich, so bildete sich von selbst die Praxis der Bußablösungen und des
Ablasses. Idealismus und Naturtrieb traten noch räumlich neben einander auf,
mit einander gelegentlich kämpfend, gelegentlich compromittirend. gelegentlich
auch einander betrügend. Genug, wenn die Mönche die drei schweren Gelübde
anerkannten, wenn die Geistlichkeit sich zum Cölibat verpflichtete, wenn in Kreuz¬
fahrten. Pilgerschaften und Bußen das strenge Recht des Himmels beglaubigt
wurde: im. Uebrigen lebte dies Geschlecht in trotzigem Lebensmuth dahin und
genoß gerade jetzt seine Flegeljahre. Der unbedingte Werth des Geistes war
doch zur Anerkennung gekommen. Schlimm war nur, daß gerade in den
größten und allgemeinsten Beziehungen dieser abstracte Idealismus sich am
weitesten durchsetzte, in dem Verhältnisse nämlich zwischen Reich und Kirche;
aber dies war natürlich, weil das persönliche Leben nicht so unmittelbar da¬
durch berührt wurde.
Der architektonische Ausdruck für die bewußt idealistische Stimmung des
Zeitalters ist der gothische Bau. Wir werden alle wesentlichen Elemente,
welche seine geistige Welt constituiren, im gothischen Stile wiederfinden.
Die Cistercienser begründeten und verbreiteten die neue Bauweise. Sie
verliehen ihr die strenge Herbigkeit eines ernst gemeinten Idealiemus. Wie die
Regel von Citeaux selbst im entschiedensten Gegensatze gegen das Leben der
schwelgerischen und verweltlichten Cluniacenser festgesetzt war, so stellte sich der
immer prunkhafter werdenden, mit immer dunkeler Fülle die Sinne berücken¬
den Bauart, welche sie übten, der ernste von der Erde emporstrebende Spitz¬
bogen entgegen. Die Passivität des Geistes war zu groß geworden; über ein
behagliches Anschauen, ein angenehmes Genießen kam man kaum hinaus, und
die Kirche bot dieser Stimmung immer reichere Nahrung. „Was wird in all
diesen Dingen gesucht?" schreibt Bernhard von Clairvaux an den Cluniaccnser-
abt von Se. Thierry, „die Zerknirschung der Bereuenden oder die Bewunderung
der Anschauenden? O Eitelkeit der Eitelkeiten, aber nicht mehr eitel als un¬
sinnig!" Das ist der Gegensatz: dort anschauende Bewunderung, der es nicht einfällt,
die Seele, den Punkt, wo die Sünde wächst und das Heil wurzelt, in Mitleiden¬
schaft zu ziehen, hier bewußte Abkehr vom Irdischen. Streben ins Jenseitige.
Begeisterung für alle Aufgaben, in denen die obere Welt zu reden scheint.
Baulich verkörpert drückt sich diese Stimmung als Ueberwindung der Horizontale,
als allgemeiner Sieg der steigenden Tendenz aus. An diesen schlanken Bild¬
ungen wird das Auge mit Gewalt emporgerissen, unwillkürlich strebt es noch
über die höchsten Spitzen hinaus, und indem die Gedanken ihm folgen, lassen
sie den Beschauer selbst in verlorener Kleinheit zurück. Die Wirkung wird im
Außenbau durch die durchgeführte Verjüngung, durch den Spitzbogen und da¬
durch hervorgebracht, daß selbst von den nothwendigen Horizontalabschlüssen
das Auge durch Wasserschläge wieder an den höherstrebenden Hauptkörper oder
durch Fialen unmittelbar in die Höhe geführt wird. An hundert Spitzen wird
der Blick von der Erde abgefangen und in den Aether übergeleitet. Im Innern
ruft die Construction des Gewölbes und seine Stützen dieselbe Wirkung hervor.
Hier fällt nur die Hälfte der tragenden Kraft ins Gesicht und Gefühl, die
andere Hälfte ist auf die Außenseite geworfen und repräsentut sich im Strebe¬
system. Der Rest von Lastempsindung aber wird ausgezehrt durch die Con¬
struction der Gewölbschäfte. Theils, nämlich ist durch sorgfältige Beobachtung
und Berechnung genau der Punkt ausgemittelt worden, welcher den Gewölb-
schub auffängt, und so löst sich der massige Pfeiler in ein schlankes Säulen¬
bündel auf; theils ruhen die Gewölbansätze nicht schwer lastend auf dem
Capitäl, sondern die Rippen scheinen aus den Schäften hervorzuwachsen, streben
aus einem Gesimse von Laubwerk empor oder gehen auch unmittelbar in die
Bogenlinie über, so daß das Capital ganz aufgelöst wird.
Es ist wahr, daß in diesem Grandiosen, wie Hegel sagt, der Einzelne
sich verliert. Der gothische Bau wirkt in höchstem Maße aufregend, und zur
ruhigen Betrachtung göttlicher Dinge in versammelter Gemeinde ist er nicht
geschaffen. Er treibt die Andächtigen, welche der romanische Bau vor den
Hochaltar gruppirte, in die vielen kleinen gesonderten Räume, in die Seiten¬
kapellen, in die Umgänge auseinander. Der Gläubige will von dem Ganzen
nur das Gefühl des Umfangenseins, zur Ausführung seiner Andacht bedarf er
der Beschränkung innerhalb der Größe. Das Jenseits muß sich ihm, wenn
es irgend zur Ruhe kommen will, in einer einzelnen vertrauten Gestalt reprä-
sentiren, die er mit seinen persönlichen Anliegen bekannt machen darf. Auch
in dieser Beziehung kommt der Stil nur einem Triebe seiner Zeit entgegen.
Man sollte die Fülle von Heiligen, welche sie hervorbrachte, nicht vornehm
belächeln: der Cultus individueller Heiligen ist die Vorschule lebendig persönlicher
Religiosität und die nothwendige Form für eine Zeit und eine Bildungsstufe,
welche noch ganz im Bildlichen besangen ist. Das innerste Gefühl ist aufgeregt.
Verlangen des Unendlichen ist da, aber da es dem Geiste noch jenseitig ist,
so schafft er sich selbst seine Staffeln, um es zu erklimmen. Der Mensch von
entwickeltem religiösen Bewußtsein hält die höchsten und niedrigsten Functionen
seines Lebens durch das nämliche Gottesgefühl von Innen zusammen, der
Mensch jener Periode bringt gleichsam von Außen die einzelnen Punkte seines
Lebens mit einzelnen Punkten der überirdischen Welt in Berührung: für die
einzelnen Nöthe des Tages hat er die verschiedenen Nothhelfer, für die zarteren
Bedürfnisse des Gemüthes die Mutter Gottes, für die ernste Frage der Selig¬
keit den Sohn Gottes, Gott selber als den Bürgen der Macht aller dieser
himmlischen Gestalten.
Gehen wir in der Charakteristik des gothischen Kirchenbaues einen Schritt
weiter. Er drückt, wie wir uns zuerst vergegenwärtigt haben, eine starke Ver-
neinung aus, nämlich ti» Verneinung des Irdischen durch die der Horizontal.
Es giebt aber auch der Bejahung des Himmlischen einen besonderen Nachdruck
und eine gewinnende Kraft der Ueberredung durch die Art, wie die Verticale
baulich sich darstellt. Julius Meyer will es tadeln, daß die Gothik den echt
architektonischen Gegensatz von Last und Kraft auszulöschen, wahre Verhältnisse
zu verhüllen strebe und über die Realität der Structur hinaus einen Schein
von Leichtigkeit hervorzubringen trachte. Wir behaupten, daß in diesen Dingen
das Geheimniß ihrer Wirkung beruhe, und daß darin ein echt künstlerisches
Princip walte. Das bloße Vorherrschen der verticalen Dimension, die bloß
winkelrechte Steigung allein würde verstimmend und beunruhigend, aber nicht
emporreißend wirken. Die Gothik aber überredet das Auge gewissermaßen, in
die Höhe zu gleiten, indem sie im Aufriß, außen an der Sohle, nirgends den
rechten Winkel duldet, sondern jede Verjüngung durch Abschrägungen vermittelt.
Sodann wird hier die Ornamentik wichtig. Die ausgebildete Gothik läßt
nirgends die bloße Zweckmäßigkeit und die bloße Absichtlichkeit gelten: sie ver-
birgt dem Auge beides, indem sie den Schein einer höheren Zweckmäßigkeit,
den Schein des Organischen hervorruft. Jedes Bauglied gemahnt an etwas
aus dem Boden Gewachsenes. Dieser Schein wird besonders dadurch hervor¬
gebracht, daß die emporstrebenden Glieder, Thurmhelm, Fialen. Wimbergen,
Giebel in Zierrathe sich abplatten, die der Natur nachgebildet sind, daß der
Schaft mit seinen Rippen und den sich abzweigenden Gewölbereihungen eine
Nachbildung des Baumes wird, daß endlich das Maßwerk selbst an pflanzen-
bafte Verschlingung erinnert. Hierzu kommt, daß die entwickelte Gothik überall
keine todte Mauermasse mehr duldet. Der ganze Bau besteht eigentlich, wie
auch Julius Meyer bemerkt, nur aus Säulenbündeln und.Streben. Das
Fenster- und Thürgewände soll sich unmittelbar an den Strebepfeiler an¬
schließen, jedes Glied soll so aufgelöst und zu freier organischer Form durch¬
gebildet sein, daß es seine Dienstleistung verbirgt und nicht durch Zweckmäßigkeit,
sondern durch Aehnlichkeit in das Ganze zu gehören scheint. Besonders charak-
teristisch ist der Thurm, in weichem der Gegensatz von Kraft und Last, wie er
sonst als Wand und Bedachung sich darstellt, vollkommen überwunden ist und
der wie ein aus sich selbst Emporstrebender vom Boden sich emporhebt. Gerade
aber in der liebevollen und feinen Durchführung des Einzelnen liegt der ge¬
winnende Zauber des gothischen Baues. Die bloße Verkörperung der gothischen
Grundregel, des „ fürnehmsten Steinmetzengrundes" thuts nicht. Der Wirkung
der einfachen, nüchternen Gothik, die uns mit dem puren Spitzbogen und den
schmucklosen Streben Gewalt anthun will, entziehen wir uns leicht. Der reiche
gothische Dom aber — und seiner Natur nach sollte der gothische Stil nur in
großen Dimensionen zur Anwendung kommen — entbindet in dem Beschauer
ewe, wenn man will, mystische Sehnsucht. Diese war ja auch das bestimmende
Gefühl, welches unter all den subtilen scholastischen Untersuchungen lebendig
arbeitete, bei den Einen freilich durch die überwuchernde Fülle von Formeln
erstickt wurde, bei den Andern aber langsam die Fesseln abstreifte, um — in
der Mystik des vierzehnten Jahrhunderts — zu freiester Bewegung hervorzutreten.
Dies innige Verlangen nach höherem Lebensinhalte, nach unmittelbarer Fühlung
des Unendlichen, das ist der positive Gesammtausdruck des gothischen Baues.
nachdrücklich macht es unser Kritiker dem gothischen Stile zum Vorwurf,
daß er, eben in seiner Verkennung architektonischer Gesetze, Zweck und Mittel
für die Betrachtung auseinanderreiße. Vergeblich, sagt er etwa, suchen wir
im Innern des Gebäudes nach ausreichend starken Widerlagern für die Ge¬
wölbe, und draußen stehend nach dem Zwecke der Strebepfeiler, die starrend,
stemmend, steifend den ganzen Bau umstehen. Wir halten diese Wahrnehmung
nicht für ganz richtig, und sie scheint auf Grund eines theoretischen Schlusses
gemacht zu sein. Das Auge, von dem Schein des Organischen hingenommen,
sieht gar nicht unter architektonischen Gesichtspunkten, erfüllt sich gar nicht mit
der Voraussetzung der Last und des Seitenschubes, sondern hat im Innern
den sich selbst unmittelbar erklärenden Anblick eines „steinernen Hochwaldes"
(nach Hases Ausdruck), draußen den eines feierlich emporsteigenden Monumentes
zur Ehre Gottes. Es ist wahr, daß der Zweck des einzelnen Strebepfeilers
sich dem Auge verbirgt, aber es sucht ihn auch nicht, indem es dem ganzen
Strebesystem die Bestimmung leiht, den ganzen mächtigen Bau zugleich kräftig
zusammenzuhalten und dem Langhause eine dem Thurmbau analoge monumen¬
tale Gestalt zu geben. Uebrigens hört da jede Frage auf, wo der Strebepfeiler
Postament, Rückwand und Dach für eine Statue abgiebt; da tritt er dem
Auge als ein für sich Zweckmäßiges entgegen.
Suchen wir den Inhalt aller dieser Wahrnehmungen in einen Ausdruck
zusammenzufassen, so werden wir sagen müssen, daß die Gothik überhaupt
nicht als bloße Architektur anzusprechen sei. Sie ist eine Mischung von Plastik
und Architektur, nicht nur sofern ihre gesammte Ornamentik, ohne welche sie
gar nicht zum Ausdruck kommt, wirklich bildhauerische Arbeit ist, sondern vor¬
züglich, sofern sie durch bauliche Mittel einen wenn auch noch so leichten Schein
organischen Lebens hervorzubringen trachtet. Diesem ihrem innersten Streben
zu Liebe verbirgt sie das Walten architektonischer Gesetze, deren auch sie nicht
entrathen kann. Sie ist Plastik in freiesten, größten Formen; der Architektur
entlehnt sie ihre Mittel, ohne es einzugestehen. Daß ein Geschlecht, dem sich
die einzelnen geistigen Functionen noch nicht zur Selbständigkeit entwickelt haben,
Vielmehr in dem einen Drange nach Oben unentfaltet zusammenschließen, das
alle Dinge unter den Gesichtspunkt des Jenseits stellt und auch in das Auge
unvermerkt die Tendenz zur Höhe aufnimmt, um der zu erreichenden Erhaben¬
heit und Großartigkeit willen eine solche Vermischung der Künste vornimmt, ist
erklärlich; aber ist sie uns, die wir an saubere Scheidung der verschiedenen
Gebiete des Lebens und der Kunst gewöhnt sind, ästhetisch erträglich? Wir
würden uns lediglich auf die Wirkung des vollendeten Werkes berufen können,
der auch unser Kritiker sich keineswegs entziehen will; aber die Zulässigkeit der
Vermischung wird sich auch begründen lassen. Jedenfalls nämlich findet ein
anderes Verhältniß statt zwischen Architektur und Skulptur, wie zwischen dieser,
der Malerei und der Poesie, deren Scheidung Lessing mit sicherer Hand voll¬
zogen hat. Mittel und Vortragsweise jener beiden Künste sind wesentlich gleich¬
artig, und es berühren sich auch, indem die Architektur doch nur das ihr von
der Natur gegebene Motiv der Grotte und des Walddaches weiter entwickelt,
die Gebiete ihrer Objecte. Freilich dient die Architektur immer dem Bedürfniß,
und sie vermag nie einen in sich geschlossenen Gesammteindruck hervorzubringen,
da ihre Werke stets ein Inneres und ein Aeußeres haben, von denen doch
wieder keines ganz selbständig ist. Da indessen, wo das Bedürfniß der höchsten
Lebenssphäre angehört und als ästhetisch-symbolischer Trieb auftritt, wird auch
die Stätte, die ihm dienen soll, zum freien Kunstwerk sich gestalten.
Aber- man sollte nicht entschuldigen zu wollen scheinen, was nun einmal
trotz allem von so unleugbar gewaltiger Wirkung ist. Wir haben auch oben
schon angedeutet, daß gerade das Ergreifende des gothischen Baues in seinen
Plastischen Momenten liege, und daß eben in diesen sein Zauber sich vollende.
Hier wollen wirs allgemeiner wenden und fragen, ob nicht die Baukunst über¬
haupt, wenn sie ein wirklich freies Kunstwerk schaffen, d. h. den Schein deS
Lebens hervorrufen will, über ihre eigensten Mittel hinausgehen und ihre
eigenen Gesetze zu verdecken suchen müsse. Diese Gesetze jedenfalls, ergeben
sich nur aus den Nöthigungen der gemeinen Zweckmäßigkeit und haben an sich
mit der Kunst nichts gemein. Immer hat die Architektur — von ihren niedrigen
Aufgaben abgesehen — einen gegebenen Raum gegen Außen durch Wand
und Dach abzuschließen. Da giebts immer Last und Kraft in ein richtiges
Verhältniß zu setzen. Sie kann sich darauf beschränken, uns die Angemessen-
heit dieses Verhältnisses deutlich sehen zu lassen, und dann wirkt sie beruhigend
oder läßt uns gleichgiltig; sie kann durch zweckmäßige Einteilung der Räume
und entsprechende Gliederung der Flächen das angenehme Gefühl in uns her-
vorrufen, welches immer das Proportionale und Symmetrische neben dem Zu¬
fälligen und Formlosen hervorbringt; sie kann durch Anwendung großer Pro¬
portionen bedeutend wirken; sie kann endlich durch Ornamente unterhalten:
aber sie kann, so lange sie offen unter der Herrschaft ihrer Gesetze steht, nie
verhindern, daß immer wieder die äußere Nothwendigkeit in die Sinne schlägt
und uns so kühl macht, wie einfach nothwendige Dinge zu thun Pflegen. Wir
lassen uns ihre Werke gefallen, aber wir genießen sie nicht. Die Griechen er¬
kannten dies wohl, und wir sehen ihre Architektur in einem ähnlichen Bund-
nisse mit der Malerei, wie es die gothische mit der Skulptur einging. Vortrcff-
trefflich führt Julius Meyer in einem dritten Aufsatze den ästhetischen Grund der
Polychromie der alten Tempelbauten aus. Die Tempel der Griechen waren,
wie auch uns nicht zweifelhaft ist, selbst in den Zeiten, da sie aus dem edelsten
Material gebaut wurden, von Außen ganz gefärbt, in einer Technik, die wir
uns der ganzen Kunstthätigkeit jener feinsinnigen Zeit ebenbürtig zu denken
haben. Wie ein Festgewand umgab die farbige Bekleidung den Bau, dessen
Structur durch seine Hülle nun ähnlich hindurchschien wie das innere Gerüst
des Körpers durch Fleisch und Haut hindurch sich fühlen und errathen läßt.
Der Bau schien „der Angst des Werdens und Entstehens" enthoben und
wie ein ewig fertiges, aus sich gewordenes Wesen, in dem ein heimliches
schönes Wesen pulsirt. Aber die Dienstleistung der Malerei begann schon, wie wir
hinzufügen wollen, in der Construction selbst. Die langen Linien des Frieses
und der Stufen sind nicht gerade, sondern leichtgeschwungene Curven, die
Säulen haben eine Neigung gegen das Tempelhaus, und, daß sie sie haben
sollten, beweist der Schnitt ihrer einzelnen Werkstücke; die Giebelfelder zeigen
eine sanfte Krümmung, um dem Spiel des Zwielichtes Raum zu geben, der
Raumabstand zwischen den einzelnen Säulen endlich ist nicht überall der gleiche
und scheint auf einen bestimmten Standpunkt des Beschauers berechnet. Alles
dies sind malerische Modificationen des constructiver Princips. Und die Absicht
bei der Anwendung dieser Mittel? Sie sollen das Auge unvermerkt von der
Gewöhnung architektonischen Sehens losreißen und dem Bau den Schein selbst¬
ständigen organischen Lebens verleihen. Und wie die griechische Architektur,
welche es mit der Dimension der Breite zu thun hat, sich die Malerei zu
ihrer Gehilfin erwählte, so sah sich die hochstrebende gothische auf die Plastik
angewiesen. Die Malerei aber nimmt hier etwa den Raum ein, den die
Plastik dort. Die Gothik, indem sie die Flächen auflöst, läßt ihr nur die
Fenster übrig; aber hier vermag sie wieder den heiligen Gestalten eine dem
Sinne des Ganzen entsprechende Erscheinung zu verleihen. Sie gewährt ihnen,
was die Theologie ihnen zuspricht, geistige Körper.
Es ist ein Irrthum, daß der Stellenhandel beim Militär nur in England
eingebürgert sei, dergleichen kam auch im deutschen Reiche hier und da vor, wo-
von wir hier ein Beispiel anführen wollen.
Unter der vormundschaftlichen Regierung der Herzogin Charlotte Amalia,
der Witwe des 1763 verstorbenen Herzogs Ant on Ulrich von Sachsen-Meiningen,
kaufte mit deren Genehmigung der dänische Kammerherr und Decan des Stiftes
Lübeck. Christian August von Epheu. für seinen Sohn Christian
Wilhelm von dem Obersten und Commandanten Herrn von Diemar zu
Meiningen die diesem bisher gehörige Kuirassiercompagnie des treskorvischen
Regiments, das zum fränkischen Kreise gehörte. Der Kaufcontract war beider-
seitig unterzeichnet, die darin stipulirte Summe bei Heller und Pfennig aus¬
bezahlt und der neue Rittmeister bereits in der Residenz Meiningen eingetroffen,
als Herr v. Dieu ar. trotz des Vorausgegangnen und seines gegebenen Wortes,
wieder auf die Hinterbeine treten wollte und den Verbindlichkeiten somit nicht
in der Weise, wie er als rechtlicher Mann verpflichtet war. nachkam. Der
jüngere Epheu wendet sich nun mit einem schriftlichen Gesuch an die Herzogin,
worin er bittet, den Herrn Obersten zu seinen Verbindlichkeit anzuhalten.
Letzterer hatte, wie es die Form vorschrieb, sich verbindlich gemacht, als
Verkäufer der Stelle gleichzeitig mit dem Käufer beim fränkischen Kreisdirectorium
Anzeige zu machen, was jener aber unterlassen hatte. Epheu sagt unter
Anderem: „ob nun zwar Von Seiten meines Herrn Vaters, als Käufer, der
Kaufcontract nach der sub. ö. lautenden Abschrift und der angefügten Quittung
im vollen Maße erfüllet, und die Kaufsumme a 1000 Stück holländische Ducaten,
ingleichen die außer selbigen noch versprochenen 24 Stück Ducaten bezahlt
Worden sind, so hat doch im Gegentheil Herr Verkäufer sein gegebenes adeliges
Wort und gethanen theuern Versicherungen nicht gehalten, indem er die nöthige
Anzeige beim löblichen fränkischen Kreis gar nicht, noch viel weniger mit mir
Zugleich gethan und durch seine erforderliche Renunciation auf die Rittmeister¬
stelle verhindert hat. daß ich in die Kreisregimentsliste und Anciennetätsstandes-
tabelle bis jetzt nicht eingeführt worden bin. somit aber immer noch nicht im
gänzlichen und ruhigen Besitz der erkauften und allergnädigst mir übertragenen
Compagnie mich befinde.
Selbst Jhro Herzog!. Durch!, höchstes Ansehen und die Jura des hochfürstl.
Hauses würden darunter leiden müssen, wenn es gedachtem Herrn Ovristen
von Diemar glücken dürfte, durch seine hinterhciltene Renunciation und vielleicht
andere geheime Machinationen beim Kreis zu behindern, daß solcher Höchstihro
ausgestelltes Patent in der ihm nach dem Kreisherkommen zuständigen Wirkung
nicht anerkenne."
Wir führen nun den Kaufcontract, der in seiner Art einzig dastehen dürfte,
hier wörtlich an.
„Zu wissen, daß zwischen dem Reichs - frei > hochwohlgebornen Herrn
Christoph Heinrich von Diemar. Erb- und Gerichtsherrn auf Walldorf. Herzoge.
S. Coburg-Mciningschem obervormundschafll. Obristen und Commandanten,
Verkäufern an einem, und dem hochwürdigen Reichs-frei-hochwohlgeborenen
Herrn Christian August von Epheu, König!. Dänischen Kammerherrn, des
Danebrogs und des Se. Annen-Ordens Rittern, wie auch des Hochstiftes zu
Lübeck Decan. Käufern am anderen Theil, und zwar Letzterer durch seinen Herrn
Sohn, den Reichs-frei-hochwohlgebornen Herrn Adolph Gottlieb von Epheu,
Herzog!. S. Coburg. Meinings. wirklichen Geheimen Kammerrath und des
Markgräfl. Baden-Durlachs. Ordens as la öäelite Rittern, nach der demselben
gegebenen Vollmacht nachfolgende besondere Kauf-Punctation wissentlich und
wohlbedächtig verabredet und geschlossen worden ist.*)
1) Verkauft und überläßt besagter Herr Obrist von Diemar seine unter dem
hochlöbl. frank. Kreis - Kürassier-Regimente v. Treskow innehabende und
von dem Herzog!. S. Coburg-Meinings. Hause degradirende frank. Kreis-
Kürassier-Compagnie an oben gedachten Herrn Decan von Epheu eigenthümlich
mit allem Nutzen und Beschwerden um und vor Ein Tausend Stück Species
holländische Ducaten, wie solches der Kaufbrief mit Mehrerer« besagt.
2) Verspricht Herr Käufer der Frauen Gemahlin des Herrn Verkäufers Vier
und Zwanzig Stück Species-Ducaten zum Schtüsselgeld. sogleich bei Abschluß
des Kaufes auszahlen zu lassen.
3) Verspricht Hr. Käufer den Kaufschilling in einer unzertrennten Summe
und zwar spätestens gegen Ende des künstigen Januars des von Gott zu er>
wartenden Jahres 1770 baar in Ducaten auszahlen zu lassen, bis zu deren
wirklicher Auszahlung aber Hr. Verkäufer im Genuß und Besitz der Compagnie
verbleibt.
4) Hingegen verspricht Hr. Verkäufer denselben Tag. da die Auszahlung
des bestimmten Kaufschillings geschiehet, die Compagnie abzutreten, Hrn. Käufer
in ruhigen Besitz derselben zu setzen und ihm über den Empfang des Geldes
in Form Rechtens zu quittiren.
8) Hieraus verspricht Hr. Käufer auf seine Kosten bei Jhro Hochfürstl.
Durchl. der Frau Herzogin-Obervormünderin und Landes-Regentin sich um
die Consens-Urkunde zu bewerben.
6) Die nöthigen Anzeigen beim hochlöbl. frank. Kreis sollen von Hrn. Käu¬
fer und Hrn. Verkäufer zugleich geschehen, wobei
7) Letzterer sich zwar bei dieser Gelegenheit den künftigen Genuß der
Obristlieutenantsstelle reserviren will, jedoch dabei verspricht, daß diese Reser¬
vation Hrn. Käufern auf keinerlei Weise zum Präjudiz gereichen, sondern derselbe,
oder vielmehr dessen Herr Sohn, für welchen obgedachte Compagnie erkauft
wird, als wirklicher Chef und Inhaber der Compagnie declarirt werden solle.
8) Soll die Auszahlung des mehrgedachten Kaufschillings zu Walldorf, als
dem I^vno colltractus geschehen. Bis dahin der ganze An- und Verkauf auf
das Geheimste gehalten werden.
9) Soll ein ordentlicher Kaufbrief gefertigt und derselbe von JKro in
Obervormundschaft regierenden Frauen Herzogin hochfürstl. Durchl. confirmirt
Werden, auch sich in demselben auf vorstehende- Punctation ausdrücklich bezogen
und solche so geachtet werden, als wenn sie demselben von Wort zu Wort ein¬
verleibt worden wäre. Treulich sonder Gefährde zu mehrerer Versicherung und
VerHaltung haben beiderseits Contrahenten diese Kauf-Punctation in ein^Jo
schriftlich ausgesetzet, auch eigenhändig unterschrieben und besiegelt. So geschehen
Walldorf und Meiningen, den 3. und 8. November 1769.
Die größeren militärischen Verbrechen wurden auch damals, wie jetzt, durch
Kriegs- und Standgerichte untersucht und dann vor diesen die Strafe ausge¬
sprochen. Bei wichtigeren Vergehen wurden die Acte» dem Kriegsherrn mit¬
getheilt oder die Sentenz ihm unterbreitet, wobei es nicht selten vorkam, daß
bei damaliger Willkür der Machthaber eine an und für sich schon haue Strafe
statt gemildert noch erhöht wurde. So namentlich unter Fri e b r ich W > l bei in
dem Ersten, der mehrfach kriegsgerichtliche Urtheile für nichtig erklärte und ein
anderes Gericht einsetzte oder, ohne sich im mindesten an Form und Recht zu
binden, das Urtheil cassirte und dagegen das seinige an dessen Stelle setzte.
Nicht viel anders verfuhren die höheren Generale, denen dabei auch die Macht gegeben
War, über Leben und Tod zu entscheiden, so namentlich der Fürst Leopold
Von Anhalt, der populäre „alte Dessauer", der sich um ein Menschenleben
Mehr oder weniger nicht die geringsten Scrupel machte.
Vor der Regierung Friedrichs des Großen wurde auch beim Militär
in Verhören bei wichtigeren Fällen der Inculpat nicht selten auf die empörendste
Weise mit Tortur oder Schlägen mißhandelt, wenn er nicht nach dem Sinne
des Richters antwortete. So heißt es in dem preußischen Kriegsrecht von 1768 :
„Die Methode, nach welcher man kurz und rechtlick zu verfahren glaubt,
wenn man die Delinquenten vom Anfang des Verhörs an bis zu Ende, so oft
sie nämlich etwas, um das sie befragt werden, leugnen, brav zerprügeln läßt,
heißt man ein militärisches Verfahren. Gleichwie man aber eine solche Procedur
ein unchristlich Verhör nennen sollte, indem selbiges wider alle Religion,
Vernunft und wahre Menschenliebe läuft; also muß billig ein jeder Chef,
Commandeur und Auditeur einen gerechten Abscheu davor tragen und sich nicht
vorstellen, daß die leider allzuviel hierunter eingerissenen kriegsrechtlichen Ge¬
wohnheiten dergleichen Proceß zu rechtfertigen vermögend seien, sintemalen
unvernünftige Gewohnheiten nimmermehr Kraft Rechtens erlangen und in
Ewigkeit widerrechtlich bleiben.
Durch Decret von 1766 war das Prügeln und überhaupt gewaltsames Ver¬
fahren in Verhören sowohl in Militär- als Civilgerichten streng untersagt
worden; sollte hingegen unter besonderen Umständen eine derartige Züchtigung
ausnahmsweise als nöthig erachtet werden, so war hierüber erst beim Criminal-
collegium oder der vorgesetzten Justizbehörde anzufragen. Blieb ein Verdächtiger
beim Läugnen, selbst bei einem schweren Vergehen, wie Mord oder Todtschlag, so
sollte er aus einige Zeit in eine Festung gebracht und zu mäßiger Arbeit an¬
gehalten, nachdem aber wieder verhört werden.
Die Tortur war vorher da zulässig, wo auf das Vergehen der Tod oder
eine harte Leibesstrafe gesetzt war, z. B. die Karre, über achtzehnmal Gassenlaufen
und dergl. Die Zustände blieben mithin immer noch barbarisch genug. Als im
Jahre 1747 ein Unteroffizier vom Regiment Anhalt-Dessau wegen Tödtung an¬
geklagt war. wurde beim Generalauditorium um weitere VerHaltung angefragt.
Dieses entschied dahin, daß durch ein geschwornes Kriegsgericht erkannt werden
solle, welchergestalt Inquisit „anzugreifen" sei, daß er die Wahrheit eingestehe.
Dieses geschah, und das Gericht erkannte auf 400 Stockschläge, die der Ver¬
urteilte in drei Tagen erhalten sollte. Dieses Urtheil ging an den König
und wurde von ihm bestätigt. Ein anderer derartiger Fall kam bei dem in
Berlin stehenden meyerinkschen Regiments vor, wo dem Inculpaten 300 Stock¬
streiche ebenfalls in drei Tagen applicirt wurden. Dies war natürlich eine
Geißelung auf Leben und Tod und nur außergewöhnlich kräftige Constitutionen
vermochten eine solche Marter zu überwinden.
„In Fällen, darinnen Delinquenten die Strafe des Rades, sei es von oben
herab oder unten herauf zuerkannt worden, hat der Auditeur die Cabinets-
ordre an das Generalauditoriat vom 11. December a. 1747 und die Circular-
ordre an alle Regimenter vom 13. December zu erinnern, übrigens aber deren Ja-
Halt zu cachiren." So drückt sich eine Cabinetsordre aus; eine andere, von
1743 bestimmt: man solle nicht mehr mit Staupenschlag und Landesverweisung,
sondern dafür mit Karre und Zuchthaus strafe», weil sonst die Delinquenten
veranlaßt werden brodlos herumzulaufen und in ihrer Noth neue Verbrechen
zu begehen. Wird der Staupbesen erkannt.'so soll der Delinquent ebenfalls nicht
des Landes verwiesen, sondern eine Zeit lang in ein Zuchthaus gebracht und
da zur Arbeit angehalten werden. Gleiches Verfahren soll bei den Infam-
gemachten beobachtet werden. Aber diesen vernünftigen Ansichten folgt eine
entgegengesetzte auf dem Fuße. Die Cabinetsordre vom 16. Juni 1749 be¬
stimmt folgende Ausnahmen: „Wenn Einer sich anwerben lassen und seine In¬
famie, daß er ein Schinderknecht, gestäupet, gebrandmarkt, verschwiegen, solches
aber hernach offenbar wird, soll er durch den Henker gestäupt, 1 bis 2 Jahre
auf die Festung gebracht und hiernach ewig des Landes verwiesen werden. —
Wenn ein Soldat sich zum Kriegsdienst untüchtig zu machen, sich muthwillig
einen Finger abhackt oder schneidet, sich bei einem Abdecker angiebt, da Knecht
ZU werden. Kloaken reinigen hilft und dergleichen infame Sachen vornimmt, so
soll er mit Staupenschlag, Festungsarbeit in der Karre von 1 bis 3 Jahren und
hernach ewiger Landesverweisung bestraft werden."
Vor der Zeit Friedrichs des Großen zerfiel das peinliche Kriegsgericht
in ein ordentliches oder Malefizgeri ehe und in ein außerordentliches, oder
summarisches, wohin das Spießrecht gehörte. Dieses bestand in dem
scheußlichen Brauche, den Verurteilten durch Spieße zusagen, und ihn sonach
und nach todt zu stechen. Das summarische Gericht ging in das Stand¬
gericht über, das namentlich im Kriege oder auf Märschen angewendet wurde,
wo man zu weitläufigeren Untersuchungen keine Zeit hatte. Der Delinquent
wurde, wenn er auf frischer That ertappt war, meist sofort abgeurtheilt und
der Spruch sogleich vollzogen; in der Regel knüpfte man den Verurtheilten am
ersten besten Baume auf. Weiter heißt es: „Es wird auch im Kriege nicht allemal
Urtheil und Stecht erfordert, als z. B. wenn ein Soldat im Bataillon zu weichen
anfangen wollte, sind Offiziers und Unteroffiziers befugt, demselben den Degen,
Sponton oder Kurzgewehr in die Nippen zu stoßen."
Aber auch in Friedenszeiten wurde bei bedeutenderen Strafen nicht immer
ein Verhör oder Rechtsspruch erfordert, da den Oberen eine verhältnißmäßig hohe
Strafgewalt eingeräumt war. Im Gesetz waren folgende Fälle angeführt:
1) Wurde ein Soldat mit einem Unteroffizier beim Spiel betroffen, so mußte
er durch 200 Mann achtmal Spießruthen laufen; 2) wenn ein Soldat betrunken
zur Parade kam; oder sich sonst im Dienst betrank, ohne Urlaub von der
Wache ging, auf Posten Mief oder vor der Ablösung sich entfernte, mühte
er durch 200 Mann zehnmal Spießruthen laufen; 3) raisonnirte ein Soldat
unterm Gewehr gegen einen Offizier oder Unteroffizier, so wurde ihm zwanzig-
maliges Spießruthenlaufen durch 200 Mann zudictirt.
Außer diesem summarischen Verfahren gab es noch ein Summarissimum.
einen allerkürzesten Proceß, dergestalt, daß der Obere den Uebertreter sofort
vor den Kopf schießen oder niederstoßen konnte. Solches fand jedoch nur in
Kriegszeiten, wie beim Zurückweichen in der Bataille, namentlich aber bei der
Bagage, Anwendung. Ein Gleiches widerfuhr den Bauern und Knechten bei
der Vorspann, wenn sie bei einem Gefecht oder Annäherung des Feindes ent¬
weichen wollten. Auch die Marketender und sogar Marketenderinnen waren die¬
sem Martialgesetz unterworfen, wenn sie Unordnung anrichteten, namentlich die
Verwirrung zum Stehlen benutzen wollten.
Die Strafen im Allgemeinen waren aber folgende: Versündigen wider
Gott durch Schwören und Fluchen, Versäumnis) des Gottesdienstes, üppiger
und ärgerlicher Lebenswandel mit dem Stockhaus, Pfahl oder Spießruthen.
„Abgötterei, verbotene Teufelskünste und Zauberei", Gotteslästerung mit dem
Tode. Unzucht. Ehebruch und Bigamie ebenfalls mit dem Tode, Sodomie mit
dem Feuer. Auf Brandstiftung, wenn das Feuer wirklich ausgebrochen, war
Hinrichtung mit dem Schwert, dann Verbrennen des Körpers gesetzt. Auch
der bloße Vorsatz der Brandstiftung wurde mit dem Tode geahndet. Fälschungen
von Pässen, Zeugnissen, Briefen und Siegeln wurden mit Spießruthen bestraft;
waren solche aber für einen Deserteur gefertigt worden, so wurde der Thäter
gleich dem Deserteur gehangen. Wer einen Deserteur oder andern zum Tode
Verurtheilten verbarg, mußte dreißigmal Spießruthen lausen.
Auf Spiel mit Karten und Würfeln standen ebenfalls Spießruthen. Wollte
sich einer dem Spießruthenlaufen widersetzen, was in der argen Verzweiflung
zuweilen vorkam, so sollte die Execution doch erst vollzogen, hernach der Thäter
wieder zu Arrest gebracht und ein neues Gericht über sein Vergehen nieder¬
gesetzt werden, „Wenn einer Gassen laufen soll" — heißt es weiter — „und
sich vorher an der Nase, Ohr oder Leib verletzt, oder ins Wasser sich zu ver¬
saufen bemüht, oder eine Infamie von sich angiebt, so soll derselbe dennoch
die erkannte Strafe ausstehen und hernach noch extra mit Festungsarbeit be¬
straft werden; findet sich aber, daß er eine solche Infamie, die zum fernern
Dienst untücktig macht, fälschlich angiebt, so soll er ebenso, als wenn sie
wirtlich wahr wäre, bestraft, durch den Schinder zum Schelm gemacht und
aus Lebenszeit zur Festungsarbeit condemnirt werden."
Ganz besonders wurde das „Verbrechen der Verderbung und Dieberei an
den öffentlichen Loteinen" in der Residenz bestraft. Nach einen Edict von 1732
wurde der ertappte Thäler mit sechsunddreißigmaligem Gassenlaufen durch
200 Man» in drei Tagen und zu drei Jahren in die Karre nach Spandau
veiuitbeilt. Es mußte viel Unfug an den Laternen vorausgegangen sein, wenn
man sick veranlaßt sah, eine so enorme Strafe zu dictiren. Ferner war bei
„.mrsindliche, Leibesstrafe" verbot.»: das Anheften gedruckter oder geschriebener
Zettel an die Lalerncnpsäble, sowie das Oeffnen der Laternen, um Tabaks¬
pfeifen, Fackeln oder Llan daran anzuzünden.
Wenn ein Soldat im Lager, in einer Festung, in Quartieren oder
Garnisonen namentlich auf Märschen, eine Viertelstunde davon betroffen wurde,
„daß er mit dem Gesicht zurückkehrte" (d. h. dem betreffenden Ort den Rücken
zukehrte), und dazu keinen Urlaub hatte, wurde er als Deserteur behandelt und
als solcher an Leib und Leben bestraft.
Wer nach dem Zapfenstreich oder „Zapfenschlag" nicht in seinem Quartiere
betroffen wurde, mußte Gassen lausen. Auch war den Fiakern in Berlin bei
namhafter Strafe untersagt, Unteroffiziere und Soldaten nach der Netraite
aufzunehmen.
Wenn ein Unteroffizier beim Aufzug der Wache seinen Posten verwechselte,
unrichtig eintrat oder nicht vor jenem hermarschirte. so wurde er das erste
Mal 24 Stunden krummgeschlossen, das zweite Mal 3 Monate auf die Schild-
Wache bei gemeinem Tractament und im dritten Falle auf ein Jahr zur Karre
condemnirt.
Wenn ein beurlaubter Soldat auf dem Lande arbeitete, so war ihm das
nur in der Montirung und mit dem Hute gestattet; wer in bürgerlicher
Kleidung betroffen wurde, mußte zwölfmal, im Wiederholungsfalle aber zwanzig-
Mal durch 200 Mann Spießruthen laufen.
Das Decimiren wurde da angewendet, wo viele, namentlich ein ganzer
Truppentheil sich eines gleichen Vergehens in der Weise schuldig gemacht
hatte, daß die Todesstrafe darauf stand, man aber nicht so viele Menschenleben
opfern oder dem Dienste entziehen wollte. Es wurde, indem man abzählte, der zehnte,
oder auch wohl der zwanzigste und dreißigste Mann herausgenommen, an
denen die Strafe in Gegenwart der Anderen vollzogen wurde. Zuweilen
wurden die zu strafenden auch durchs Loos bestimmt. Die zumeist Gravirten
wurden auch vorweg herausgenommen. So wurden bei einer Truppe, die vor
dem Feinde floh, diejenigen zuerst hergenommen, die beim Ausreißen vorn
dran waren. Zuweilen wurde auch bei gleichen oder zweifelhaften Fällen
auf der Trommel ums Leben gewürfelt.
Schließlich wollen wir hier noch einiges Formelle in Betreff des Straf¬
vollzugs anführen. Wurde ein Todesurtheil verlesen, so that dieses der
Auditeur vor der betreffenden versammelten Truppe und mit abgezogenem
Hute, wobei das Gewehr präsentirt wurde. In der Regel wurde die Execution
gleich darauf an Ort und Stelle vollzogen, wozu der Delinquent dem Nachrichter
übergeben wurde.
Wurde dem Inculpaten die Strafe des Spießruthenlaufens eröffnet, so
^Schah dieses ebenfalls vom Auditeur mit entblößtem Haupte und unter Präsen¬
tation des Gewehrs. Der Auditeur nahm seinen Stand am Eingang der Straf-
K"sse. Früher liefen in Preußen die Verurtheilten so rasch sie konnten durch die
lassen; dieses wurde aber durch eine Verordnung von 1737 aufgehoben,
indem bestimmt wurde, daß der Verurtheilte jedesmal durch einen Unteroffizier
durchgeführt werben solle, „weil durch das Laufen viele^ Soldaten nur ungesund
werden oder gar die Schwindsucht bekommen und vor der Zeit gestorben sind."
Beim Gassenlaufen eines Kavalleristen erhielt dieser die Streiche statt mit
der Ruthe mit dem Steigriemen. Dieser wurde nun durch königliche Ver¬
ordnung von 1752 mit dem Jnfanteristen auf gleiche Stufe gestellt, d. h. er
ee
.—ae¬
ruthenlaufen war eine der grausamsten und widerwärtigsten Proceduren. Zwei
Reihen Infanterie, 100 bis 300 Mann, bildeten eine 6—7 Fuß breite Gasse.
Jeder hatte das Gewehr beim Fuß in der linken Hand, in der Rechten eine
Haselruthe. Der Delinquent mußte diese Gasse drei bis sechzehnmal Passiren, wo¬
bei jeder ihm. wenn er vorüberkam, einen tüchtigen Hieb geben mußte. Sank
das Opfer zusammen, so wurde es mit dem Bauet auf Stroh gelegt und die
commandirte Mannschaft gab ihre Hiebe im Herumgehen auf den Unglück¬
lichen ab. Der Oberkörper desselben war entblößt und die Hände vorn auf
der Brust zusammengebunden. Damit er den Schmerz einigermaßen verbeiße,
wurde ihm eine Musketenkugel in den Mund gegeben. Weniger kräftige Con-
st jeden
sechsmal durch 300 M ss f,s , h auch
dieses der Todesstrafe gleich kam. — Wurden Soldaten mit dem Pfahl, dem
Esel oder Holzträger bestraft, so geschah dieß unter Aufsicht einer Schild¬
wache, die darauf zu achten hatte, „daß die Arrestanten recht am Pfahl stehen,
recht auf dem Esel sitzen und das Holz nicht ablegen und keiner, wenn er krumm
geschlossen, losgemacht werde, auch keiner während der Strafe sich besause,
Tabak rauche, oder schreie und lärme." —
Auch die Functionen des Henkers sind genau vorgeschrieben. Nur der
wirkliche Scharfrichter war zum Vollzug einer Execution befugt, den Halb-
meist ern und Abdeckern war das bei 100 Thlr. fiscalischer Strafe untersagt,
damit sowohl die Delinquenten bei Hinrichtungen und der Tortur „nicht zu
vieler Gefahr exponirt würden, als auch dem Nachrichter nicht in seine Gerecht¬
same einzugreifen." Doch war den Halbmeistern und Abdeckern gestattet, aus
Erfordern dem Scharfrichter bei Executionen mit an die Hand zu gehen. Allen
war aber bei Strafe der Karre das Tragen eines Seitengewehres verboten.
Der Nachrichter hatte bei Executionen Folgendes zu beanspruchen: Nach
einer Verordnung von 1732 erhielt er für eine Hinrichtung mit dem Schwert
10 Thlr. Wurde der Körper des Gerichteten aufs Rad geflochten oder verbrannt,
ten
Bildnisses an den Galgen erhielt er ö Thlr., bei mehren 10 Thlr. Schließlich
heißt es in der erwähnten Verordnung: „Es sind aber die Scharfrichter nicht
schuldig, die Zubehör zu einer Execution, als Rad, Ketten, Leiter u. s. w.
zu geben. Beim Ausdenken muß er habe»: eine eiserne Kette, »/^ lang,
eine Krämpe, oder Häspchen. oder Nagel, so das gesammte Schmiedehandwerk
zu machen Pflegen, serner einen starken Strang, item einen Spitz- und andern
Hammer, eine doppelte Leiter und 4 Haspen oder Klammern, solche damit
anzuschlagen und feste zu machen."*)
Der Nachrichter hatte auch einen ziemlich weitschweifigen Eid zu leisten,
Worin er versprach, in allem zu gehorsamen, was der König oder seine zu
Peinlichen Sachen bestellten Diener von ihm fordern, alles geheim zu halten,
an den armen Sündern, dem eingeholtem Urtel gemäß „mit aller möglichen
Vorsichtigkeit treu und fleißig zu verfahren."
Friedrich der Große unterschrieb bekanntlich sehr ungern Todesurtheile.
Damit auch dann, wenn das geschehen war, keine Uebereilung oder ein Irrthum
stattfinden könnte, verfügte er: daß kein Nachlichter an einem Verurtheilten
eher sein Amt verrichten sollte, bis man ihm das Todesurtheil mit des Mon¬
archen Unterschrift vorgezeigt.
Die Militärstrafen waren besonders folgende:
1) De'r spanische Bock, oder in den Bock spannen. Der zu Be¬
strafende mußte sich so setzen, daß er die Hände über die zusammengezogenen
Knie legte, die gebunden wurdenl Dann wurde unter den Knien und über
^n Ellenbogen ein Stock dermaßen durchgesteckt, daß der Mann nicht auf¬
stehen konnte.
2) Das Lasttragen. Dem Jnfanteristen wurden 3, 5 oder mehr Ge¬
wehre, auch Holz, dem Cavalleristen mehre Sättel auf die Schultern gelegt,
die eine gewisse Zeit, gewöhnlich vor der Hauptwache, auf- und abgetragen
wurden.
3) Das Eselreiter. Der Soldat wurde auf einen hölzernen, etwas
hohen Esel gesetzt, dessen Rücken gewöhnlich mit Blech beschlagen war, das in
^ne scharfe Kante auslief, was das Sitzen lästig und schmerzhaft machte.
4) Der Pfahl oder Schandpfahl, ziemlich gleichbedeutend mit Hals-
^ser, und Pranger, an den der zu Bestrafende gebunden wurde.
5) Stockschläge oder Fuchteln, wobei der Verurtheilte auf einer Bank
°uf dem Bauche liegend festgebunden wurde.
6) Das Spießruthen- oder Steigriemen-Laufen.
7) Das L alten liegen. Der Verurtheilte mußte mehre Tage oder
Wochen in einem engen Behälter zubringen, dessen Boden aus scharfkantigen
Latten bestand.
8) Der Staupbesen oder die Staupe. Der zu Bestrafende wurde mit
einer besenartigen Nuthe entweder auf der Stelle oder laufend vom Henker ge¬
peitscht, wenn er des Ortes oder Landes verwiesen wurde.
9) Das Jnfammachen.
10) Das Handabhauen.
11) Das Hängen oder Verbrennen.
In der Ticadcr» wurde neuer Proviant an Mais und Bananen auf'
genommen. Eine ganze Familie von den dreien oder Vieren, welche das Thal
bewohnten, aus Mann. Frau und drei Kindern von 4—8 Jahren bestehend,
schloß sich der Colonistencaravane an. Mit Annäherung an die montana äst
wono mehrten sich die Waldbäche, welche, den Weg kreuzend, durchwatet werden
mußten. Nach den vorausgegangenen Regengüssen hatte ihre Anschwellung eine
gefährliche Höhe erreicht. Rings von diesen wilden Gewässern umgeben und
abgeschnitten, empfanden wir bei dem vielen Gepäck unsres Zuges nicht geringe
Sorge. Ein Fluß nach dem andern wurde mit beträchtlichem Verluste an Zeit
und Kräften, wenn auch immer ohne Unfall durchschritten; der letzte aber, der
größte vor dem heutigen Ziele, stellte sich unserem Uebergange mit seinen gelben
Schlammmassen, seinen rollenden Steinen und seinen unterhöhlten Ufern be¬
sonders drohend entgegen. Ein Thier wurde nach dem andern mit großer
Anstrengung hindurchgezogen; die schwächern Fußgänger stützten sich auf die
stärkern. Die Kraft und Gewandtheit der Einzelnen war erstaunlich; dennoch
strauchelten und fielen einige der Thiere, die dann nur durch große Behendig¬
keit und Schnelligkeit mit Stricken und Lassos wieder aufgebracht und gerettet
wurden. Ein Gleiches geschah dicht vor mir mit einem störrischen Maulesel.
der schon aus dem ganzen Wege eine wahre Plage der Arrieros gewesen war.
Das Thier vermochte nicht wieder festen Fuß auf dem rollenden Grundgestein
Zu fassen. Meinem Begleiter, der mich unterstützte, rief ich in der Meinung
allein Stand halten zu können eiligst zu mich fahren zu lassen und dem Thiere
aufzuhelfen. Blitzschnell waren die Schnüre mit scharfem Messer durchschnitten,
die Last sank ab und unter, aber das Thier war noch im entscheidenden Augen¬
blicke gerettet. Ich selbst aber hatte meine Kraft überschätzt, ich verlor auf dem
Grundgerölle das Gleichgewicht und ward von der Fluth fortgerissen. Glück,
licherweise konnte ich schwimmen, so daß ich mich mit dem Kopfe über Wasser
hielt, bis ich gegen eine Palissade von Baumstämmen, Schlamm und Gestrüpp,
die sich in der Mitte des Stromes an einem Felsstück aufgethürmt hatte,
geschleudert wurde. Es gelang mir, mich auf diese Insel hinaufzuschwingen;
aber war auch das Wasser von hier bis zum nächsten Ufer nur schmal, so war
doch grade der Strudel hier am mächtigsten, so daß es dem kräftigsten Manne
eine Unmöglichkeit gewesen wäre, demselben zu widerstehen. Nicht lange in.
deß, so sah ich den „rothen Drachen" über mir auf einem Baume, dessen Stamm
flach über den Fluß hinübergebeugt war, wo er, kaum zehn Fuß über meinem
Kopfe, seine Aeste laubenförmig auseinanderbreitete. Der Drache hatte die
Lage mit einem einzigen Blicke überschaut; mit einigen kletternden Sprüngen
auf dieser schwebenden Brücke warf er mir das eine Ende eines ledernen
Lassos zu, dessen andres Ende er oben um einen Ast schlug, worauf er mich
in der Schlinge, die ich mir unter die Achselhöhlen um den Leib geworfen, so
weit in die Höhe wand, daß ich das Astwerk ergreifen, mich hinausschwingen
und wieder in Sicherheit bringen konnte. Triefend von Nässe und mit
Zerschlagenen und vor Entkräftung zitternden Gliedern betrat ich am jenseitigen
Ufer wieder festen Grund und Boden.
Ein Stück weiterhin erhielten wir bereits deutliche Anzeichen, daß auch der
Vortrab mit Mißgeschick zu kämpfen gehabt. An der Seite des Weges lagen,
wie einigen Blättern bedeckt, mehre nasse und zurückgebliebene Stückgüter.
Eine allgemeine Abspannung und Entmuthigung bemächtigte sich von nun an
Zusehends und wachsend der wankelmüthigen Gemüther. Die erste Begeisterung
war verrauscht, die ernsten Seiten der Wirklichkeit kehrten sich merklicher her.
aus; an diesem Uebergang von dem Enthusiasmus des ersten Angriffes zur
Durchführung einer That scheitert größtentheils der Charakter des Creolen.
Auch mir war übel zu Muthe. Zu andern Leiden gesellten sich jetzt noch
heftige Angriffe des klimatischen Fiebers. Geschüttelt von Frost, ermattet bis
Sum Umfinken, meinte ich, der Weg bis zum nächsten Ruhelager wolle kein Ende
nehmen. Auf Geist und Körper senkte sich eine zu Boden drückende Last; aber
unglaublich ist, was der Mensch leisten kann, wenn er ein bestimmtes Maß
Listen muß. Sobald das Fieber herbeischleicht, verwandelt sich die lachende
Erde vor dem umschleierten Auge in eine abschreckende Wüste, die freundlichsten
Bilder der Natur erstarren zu düstrer Melancholie, die Menschenstimme, sonst
so wohlklingend, verletzt mißtönend das Gehör, das Gesicht, das man sonst
liebt und verehrt, schreckt feindselig zurück, und über alles Leben der Erde geht
ein schwüler, versengender Hauch.
Endlich — endlich hielt der Zug vor Se. Francisco. Die zerfallene Hütte
eines hier verschollenen Einsiedlers bezeichnete diesen Stationspunkt, den meine
Pfadbrccher nach mir benannt hatten. Fast bewußtlos, wenigstens bis zum
Aeußersten theilnahmlos, sank ich in einen Winkel der Ruine auf ein halb-
verkohltes Bret, den einzigen Ueberrest der Hausgeräthe, nieder, umschwirrt
von wüsten Phantasien bis zum Anbruch des nächsten Tages.
Unerwarteterweise stießen Vor- und Nachtrab hier wieder zusammen;
jenem war das Wasser noch gefährlicher geworden als uns. Bereits hatten
seine ersten Thiere den Bach bei niedrigem Wasserstande durchschritten, als
plötzlich, bei heitrem, sonnigem Himmel ein donnerndes Getöse die herabstürzende
Fluth verkündet. Im Augenblick ist eines der eben hindurchschreitenden Thiere
erfaßt, niedergeworfen und fortgerissen. Gleich darauf saßt die Fluth das nach¬
folgende, auf das gerade das kleinste der Kinder gesetzt worden, und, bevor es
den Arieros möglich ist, rettend beizuspringen, verschwindet das Kind vor den
Augen der Mutter, die eben im Begriff steht, auf einem andern Thiere zu
folgen, in dem wüthenden Strudel. Jammernd läuft das arme Weib am Ufer
der entsetzlichen Sturzwelle nach, wahnsinnig genug, ihr den Raub entreißen
zu wollen.
Ein Theil des Zuges befand sich nun diesseits, ein Theils jenseits des
Flusses, und bevor nicht die Fluth gefallen, konnten sich beide Theile nicht mit
einander verbinden. Doch schon nach wenigen Stunden floß das Wasser wieder
so harmlos seinen Weg dahin, als ob es kein Blatt vom Stiele zu knicken
vermöchte; nur die zerzausten und unterwühlten Ufer erinnerten noch an seine
furchtbare Tücke. Die Fluth, welche uns, den Nachtrab, aufhielt, war wieder
einem andern Gipfel des Gebirges entsprungen.
Die Anstrengungen und Schrecken des vorigen Tages machten einen Rasttag
in Se. Francisco nothwendig, auch waren die Gewässer des noch vor uns liegen¬
den Weges noch bedrohlich angeschwollen,. Die allgemeine Willenslähmung
konnte jetzt auch K. nicht mehr entgehen, der jedes im Werden begriffne Ding
immer schon als vollendet und in den rosenrothesten Farben sah. Sehr bald
machte er die Erfahrung, daß, wie Schlachten leichter auf dem Papiere als
in der Wirklichkeit geschlagen werden, die Colonisation der wilden Erde leichter
mit dem Wort als in der That geschehen ist. K. aber war nicht der Mann,
beunruhigte und mißmuthige Gemüther zu besänftigen und zu erheitern, weil
er es nicht verstand, sich und seine Ansprüche den Verhältnissen anzubequemen.
Das fast allgemeine Unbehagen brach denn auch bald in offnen Streit aus,
welchem Lockerung der Disciplin und Auflösung des Verbandes auf dem Fuße
folgte.
Der „Caimanzito", ein trefflicher und unermüdlicher Schuhe, hatte von
einer Manate Wildschweine, denen er vom frühen Morgen nachgeschlichen, vier
Stück erlegt, die er mit Hilfe seiner Kameraden an Ort und Stelle schaffte.
Hier erklärte er sie für sein Eigenthum und machte sich sofort mit seinen Ge¬
nossen daran, sie zu verzehren. K. jedoch legte Beschlag aus das Wild, da bei
den zusammenschmelzenden Mundvorräthen zu einer sparsamen Verwaltung der¬
selben aller Grund vorhanden war. Der Schütze stand in seinem Lohn und
Dienst, mithin, so judicirte er, gehöre ihm auch dessen Arbeit mit der Flinte.
Diese dem germanischen Geiste vielleicht entsprechenden Rechtsdeductivnen ge¬
wannen aber nicht den Beifall des Mulatten, und das Ende vom Liede war,
daß K. Besitzer der erlegten Schweine blieb, der „Caimanzito" aber sein Bündel
auf die Schulter nahm und sich von dem Gesetzgeber mit derartiger Ausfassung
über Rechte und' Pflichten des Arbeiters lossagte. Zu gleicher Zeit wurde
die Entdeckung gemacht, daß des Calmars Freundin Angelika die ihr anver¬
trauten Vorräthe wenig gewissenhaft verwaltete und um ihre gefeierte Person einen
Hof von Günstlingen hielt, der auf .Kosten der Unbegünstigten die gefülltesten Näpfe
und Schüsseln davontrug. K. wandte sich infolge dessen mit einem beredten
Sermon über die Tugend der Ehrlichkeit und Gerechtigkeit an Angelika, der
aber sehr übel aufgenommen wurde. Auch das schwarze „Engelchen" stieg von
dem Thrones seiner Macht über die Küche hernieder und kehrte in Begleitung
snnes geliebten Calmar der Musterwirtschaft K.s den Rücken. Das war.der
erste Abfall.
Beispiele ermuthigen und finden Nachahmung. Als am andern Tage unser
Nachtrab sich dem Lager der Salvacion näherte, begegnete uns die ganze
Familie, welche sich erst in der Ticadera der Caravane angeschlossen hatte;
der buntgefleckte Mann, „el tigre", in -landesüblichem Schritte mit der Flinte
auf der Schulter vorauf, das Weib mit ihrem ganzen Hausvcrmögen auf
dem Rücken und mit den Kindern an dem Rocke, — alle stumm und mürrisch.
»Wohin des Wegs. Tiger?" — „Nach Hause!" war die laronische Antwort. —
K- hatte wiederum in irgendeiner Sache gegen das kreolische Völkerrecht judicirt;
kurz und trotzig befahl der gefleckte Indianer Weib und Kindern, ihm zu folgen und
Zog wieder heimwärts nach dem kaum verlassenen, vielleicht noch unter der
Asche glimmenden Heerd, durch dasselbe Wasserbecken, das eben erst eines seiner
Kinder verschlungen hatte. Das war der zweite Abfall.
Die allgemeine Auflösung würde unaufhaltsam eingetreten sein, wenn
nicht der Lagerplatz der Salvacion bald erreicht worden wäre. Der mächtige
Einfluß der tropischen Naturkräfte auf das Menschengemüth äußerte sich an
dieser Stätte, welche die Tropennatur mit ihren schönsten Farben gezeichnet,
in seiner vollen Kraft. Den Entmuthigten kehrte Zuversicht und der alte leichte
Gedankenflug zurück, die verdrossene Stimmung wurde wie durch Zauber be¬
sänftigt und geklärt. Jeder glaubte an das Ende aller bis hierher ausgestandenen
Leiden; der Ausdruck des Friedens und des Frohsinnes, der aus dem herrlichen
Schöpfungsbilde sprach, spiegelte sich alsbald in den Menschenaugen, die es
angesehen, wieder. Im eigentlichsten Sinne des Wortes war La Salvacion dies¬
mal ein Hort der Erlösung geworden. Schnell bildeten sich wieder die alten
fröhlichen Gruppen und romantischen Waldsamen um das Lagerfeuer, und wenn
Angelika nicht mehr mit dem summenden Kessel die Herzen ihrer Umgebung
erfreute, so wurde sie auf das Beste durch den „rMro" ersetzt, der sich die
Fertigkeiten eines Kochkünstlers auf einer xirg-gra^) des Magdalenenstromes
angeeignet hatte und besser den Leib zu erquicken und zu stärken verstand, wie
es manchem seiner geistlichen Ordenscollegen wohl mit der Stärkung der Seele
gelingen mochte. K. entsagte nunmehr auch seinen Ansprüchen auf den Keiler,
den hier ein glücklicher Schuß der Gesellschaft zum Schmause lieferte.
Der größte Leckerbissen dieses Wildpretes ist den dunkelhäutigen Schützen
das Eingeweide: Herz, Lunge, Leber, Nieren u. s. w. Kaum aus dem geöff¬
neten Körper herausgenommen und abgespült, werden dieselben in kleinen
Stücken, wie eine Schnur Perlen, auf eine harte Holzruthe aufgezogen, mit
etwas Salz, und, wenn Citronen vorhanden, mit deren Saft angcwürzt und
ungefähr eine Viertelstunde lang über Kohlenfeuer geröstet. Lüstern, wie
eine Schaar von Geiern, läßt sich die bunte Sippe in einem weiten Kreise
um diese leckern Bissen nieder. Der duftige Holzspieß macht sodann die Runde;
jeder zieht etliche der saftigen Perlen ab, und emsig füllen sich die Leiber bis
zum Uebermaße an.
Der „Mrs" hat während dessen in einiger Entfernung von hier unab¬
lässig seinen Kessel gehütet, seine conzentrirte Geschäftigkeit läßt auf die Her¬
stellung eines ganz besonderen Gerichtes schließen. Mit scharfem Auge entdeckte
er in den Laubkronen der Bäume unweit des Lagers das Blatt der vegeta¬
bilischen Milchkuh, des Kuhmiichbaumes (Kalaetoäknäroll utilo). und sofort
gab er seinen beiden eompaäi'of. dem eatelrie^mo und der „Schlange" den Auf¬
trag zum Melken der Kuh. Die fette Milch, mit der sie zurückkehren, wird
dem Reißbrei zugesetzt, so daß es sich also in der Küche des xaäre um nichts
weniger handelt als um Neis in Milch mit gebratenen Schweinerippen. Der
Anblick der Milchgefäße sprengt die schmausende Gruppe daneben auseinander;
sämmtliche Mars, und totuurs,, die aufzutreiben, werden gefüllt, geleert
und wieder gefüllt aus der unerschöpflichen Milchader; es war ein Tag üppig¬
ster Schwelgerei über uns gekommen.
Ich wagte mich nur behutsam an diese Vaummilch; mir war noch keine
Gelegenheit geboten worden, ihre Bestandtheile und Eigenschaften genauer zu
untersuchen, und da die Mehrzahl der Baumsäfte dieser Art mehr oder weniger
giftig ist und meist scharf, bitter und widerlich riecht und schmeckt, — so
konnte ich mein Mißtrauen selbst durch den allgemeine» Milchgenuß rings
um mich her nicht unterdrücken. Bereits früher hatte ich eine theilweise
Vergiftung durch vegetabilische Stoffe an mir erfahren, und wer sich ein¬
mal verbrannt hat, der pflegt sich ein zweites Mal vor dem Feuer in Acht zu
nehmen. Jedoch der Milchsaft des Qs.ig.etoäelläi'on — xalo as vacg., wie ihn
der Kreole nennt — steht fast einzig in seiner Art da, sein Genuß ist aro¬
matisch, sein Geschmack mild und der Kuhmilch ähnlich; mit Wasser vermengt
und mit etwas Zucker abgekocht, liefert er ein angenehmes und sättigendes Ge¬
tränk und vertritt, dem Kaffee zugesetzt, vollständig die Milch der Kuh. Auch
roh genossen ist diese Milch frei von jeder Strenge und Bitterkeit, nur ein ge¬
wisser vegetabilischer Geschmack haftet ihr an, und unangenehm ist der Klebe¬
stoff, der infolge ihres Kautschuckgchaltes auf Lippen und Zunge sich fest¬
setzt. Ihre Farbe ist die der in Wasser geschlemmten Kreide, ohne Zusatz von
Wasser ist sie zu fett, zu schwer und zu compact. Ein Baum liefert bei ein¬
maligem Anzapfen ebenso viel Milch wie die beste Milchkuh. Um den Saft zu
gewinnen, durchschneidet man die Rinde und fängt die herausquellende Flüssig¬
keit mit einem Blatte, Trichter oder irgendwelchem dünnschaligen Gefäße auf.
Nach Aussage der Eingeborenen ist die Baummilch nicht nur unschädlich, son¬
dern nährend und medicinal. und die Neger, die sie zur Zeit der Saftfülle
täglich genießen, sollen sichtlich an Korpulenz zunehmen. Von den Natur¬
kundigen der Karavane wurde mir der Genuß derselben als adstringirend gegen mein
anhaltendes Magenleiden empfohlen; ihr starker Kautschuckgehalt und die er¬
hitzende und wärmende Eigenschaft, die sie ohne Zweifel besitzt, erklären diese
Wirkung, und in der That beschwichtigte sie, roh und in geringer Quantität
genossen, für einige Tage die starken Ausleerungen.
Jedoch ward mir bald Gelegenheit zu Beobachtungen, welche der absoluten
Unschädlichkeit in dem menschlichen Körper widersprechen. K., der mir die Schaale
begierig aus der Hand nahm und vielleicht den Inhalt eines halben Maßes, ohne
auf meine Warnung zu achten, auf einmal leerte, ward alsbald von einer Art Betäu¬
bung oder Berauschung befallen; er entfärbte sich, wurde todtenbleich und begann am
ganzen Körper zu zittern. Bald war er kaum noch im Stande ein Glied zu
rühren, seine Sprache wurde zu einem unverständlichen Lallen, die Augen ver-
Lasten, und Puls und Athem waren kaum noch hörbar und fühlbar. Sein
Zustand glich völlig einer Vergiftung, und er flößte mir in der That ernste
Besorgniß ein, da er stundenlang ohne alle Veränderung dalag und perioden¬
weise zu phantasiren begann. Mehre Tassen starken schwarzen Kaffes, die ich
ihm einflößte, äußerten keine Gegenwirkung. Mit der Nacht endlich fühlte er
Schmerzen in den Eingeweiden, und damit kehrten Farbe, Bewegungsvermögen
und lebendigerer Ausdruck im Gesicht und Haltung zurück, bis er endlich nach
öfter unterbrochenem Schlafe wieder als genesen zu betrachten war. Unterleibs¬
beschwerden, Schmerzen in den Eingeweiden und Schwäche aber hielten noch
die folgenden Tage hindurch an.
Die narkotische Eigenschaft des Milchsaftes des Os-Iaetoelkuclroii utile steht also
erfahrungsmäßig fest. Freilich habe ich an den farbigen Racen eine gleiche Er¬
scheinung nicht wahrgenommen, und es mag sein, daß theils der oftmalige Ge¬
nuß dieses Getränkes jene narkotische Wirkung abschwächt, theils die Farbigen
jener Wirkung überhaupt nicht so leicht unterworfen sind. Außerdem ist der
Umstand beachtenswerth, daß die Kreolen die Milch, wenigstens in größeren
Mengen, abgekocht genossen, während K. dieselbe roh und in ansehnlicher
Menge getrunken hatte. Mehre der Kreolen gaben mir später die Versicherung,
daß es ihnen ähnlich und noch schlimmer als K. ergangen sei. aber nach nur dem
Genuß größerer Quantitäten rohen, nie aber nach dem Genusse gekochten, mit
Wasser vermischten und in geringerer Quantität getrunkenen Milchsaftes.
Ueberschwänglich reich und üppig sprudelt die Schöpfungskraft aus dem
Schooße jenes Landstriches der Salvacion hervor und häuft rings umher eine
Fülle von Materialien auf, die dem Menschen fast jeglicher Sorge und An¬
strengung um sein physisches Dasein überheben, sofern er nur einigermaßen
seine Kräfte und Sinne zu gebrauchen weiß. Ohne drückend heiß zu sein, (der
Thermometer zeigte an jenem Rasttage um drei Uhr Nachmittags etwa 10°5, N.)
hat die Luft eine Temperatur, welche als die für die Organisation des Menschen¬
körpers ursprünglich bestimmte, und somit als die normale betrachtet werden kann.
Der Himmel mit seiner ruhig heitern Bläue, mit seinen, alle Schwere und
alle Schatten des Geistes zerstreuenden Sonnenstrahlen, wölbt sich um eine
Erde, deren Athem Fruchtbarkeit und deren Anblick Schönheit und ewige
Jugend ist. Frische, krystallklare, gesunde Gewässer strömen in vollen Adern
Von den benachbarten Bergen herab und durch die Thalwindungen, belebt von
Schalthieren, Fischen und Amphibien und ausgelegt mit blendend weißen Kies-
und Felsbrocken. Die letzteren eignen sich zum Material für Straßen- und
Häuserbau, der schwere Mergel- und Thonboden neben ihnen verräth die höchste
Fruchtbarkeit. Wie lockten diese breiten, von Felscnwürfeln abgedämmten Wasser¬
becken zum Bade! Selbst die wasserscheuer, der Reinlichkeit wenig zugethaner
Mulatten und Indianer konnten der Anziehungskraft des flüssigen Krystalles
nicht widerstehen.
Ohne daß je eine Menschenhand den Samen des Culturfleißes an das
Ufer dieses Wassers getragen, füllt die wilde, unveredelte Zeugungskraft der
Erde die Hände des Mengen mit Schutz- und Nahrungsmitteln. Zunächst der
Kuhbaum mit seiner Milch, und, um diese zu süßen, Schwärme von wilden,
stachellosen Bienen, die in den hohlen Stämmen der Higuerotes ihren Honig
ablegen. Dann die mehlhaltigen Knollen der Kollodien, welche ihre großen
schirmartigen Blätter auf saftigem Schafte an den Flußbuchten und Thalschluchten
in Menge ausbreiten. Ferner Palmen, deren innerer Fruchtkern Oel, deren
äußeres Fruchtfleisch nährende Breimafsen, deren Blattknospen Gemüse, und
deren Stammsaft Getränke giebt, und die mit ihren stolzen Kronen weit über
alles Grün emporragen, das in dichter Mannigfaltigkeit den Fluß umsäumt.
Die langen Federblätter ihrer Wipfel bieten dem obdachlosen Menschen bei ge¬
ringer Anstrengung Dach und Decke für Behausung, und zwar genügen die
Blätter eines einzigen Baumes, um den ersten kleinen Ramado vollständig zu
detacher. Gegen hundert Fuß hohe Grasbäume, die arm- und beindicken
Bambusrohrstämme, mit ihrer unvergleichlich graciösen, feingeschnittenen, be¬
weglichen Belaubung, bieten feste, der Verwitterung und dem Jnscctenfraße
nimmer anheimfallende Pfeiler und Stützen für das Palmendach. Von Knoten
zu Knoten durchschnitten eignen sich die hohlen und mit wasserdichter Kiesel¬
epidermis umkleideten Röhren vortrefflich zu allerlei Behältern für feste oder
flüssige Substanzen. Der Gucizimo sodann mit seinem dicken Baste, der geschält
und gespalten ein Bindemittel liefert, so gefügig wie Hanffäden, macht Nägel
und Klammern entbehrlich und ihält jahrelang die Sparren und Balken der
Hütten zusammen, bevor er einer Erneuerung bedarf. Der Kautschuckbaum
(Liplrouig, einstieg.) giebt in der dickschwarzen Masse seines gekochten Saftes
Un Material zum Verkitten geborstener Gefäße und zur Abwehr gegen Feuchtig¬
keit und Wurmfraß. Die mehre Zoll langen furchtbaren Stacheln verschiedener
Palmenarten ersetzen Nadel und Pfriemen, dünne Lianen und Luftwurzeln
Taue, Halfter und Stränge für die Zugthiere. Das Tocamahacaharz, welches
aus den Schnittwunden des Tocamahacabaumcs quillt, erleuchtet mit hell¬
brennender Flamme den dunklen Hüttcnraum, wenn die Familie, das Küchen-
^ner zusammenwerfend, ihre Rohr-, Palmen- oder Binsenmatten zur Nachtruhe
auseinanderrollt. Das Carannaharz, welches sich in den Bohrlöchern der Wurzel
und Rinde des Caranncibaumes ansammelt, zertheilt und trocknet Geschwülste,
beschwüre und Verletzungen, welche Thiere und Menschen in der Berührung
uut der Wildnis;, von den Insektenstichen u. s. w. unabwendbar davontragen,
Balsame. Caustika, Gifte. Gegengifte und andere Arzneisioffe quellen aus
Holz, Rinden, Wurzeln, Blättern und Früchten hervor,' immer dem Menschen
Zur Linderung oder Metastase innerer und äußerer Gebrechen in unerschöpflicher
Menge zur Hand. Und wenn der verbreitetste und gefürchtetste Feind der
Tropenluft, das Fieber in seinen mannigfachen Arten, heranschleicht und nicht
weichen will — einige Meilen davon, auf den Bergen, wo die Nebel lagern,
tritt aus dem graugrünen Farbenton des Walddickichts auch der glänzend röth-
liche Blattschimmer des Chinabaumes hervor, dessen Name Tausenden von
bleichen und gebeugten Menschengestalten wie verheißungsvolle Tröstung und
Erlösung klingt.
Die kriegerischen Ereignisse in Nordamerika drängen zum Ende des langen
Kampfes. Noch mögen einzelne Guerillakämpfe nachfolgen, wahrscheinlich müssen
die unruhig treibenden Elemente, welche der Bürgerkrieg groß gezogen, noch
einzeln niedergeschlagen werden, aber der Krieg als solcher, das Ringen der
Heere hat aufgehört. Die Macht der Conföderirten hat ihr Ende gefunden,
ihre Truppen sind Plötzlich vom Schauplatz verschwunden, durch und durch
morsch, ist das ganze Gebäude, das vor kurzem noch den Schein der Größe
trug, auf einmal in sich zusammengebrochen und bietet dem betrachtenden Auge
nur den Anblick eines großen Trümmerhaufens.
Noch am Schluß des Jahres 1864 mußten die äußern Erfolge nicht als
ungünstig für die Conföderirten angesehen werden. Es war ihnen gelungen,
sich mit Heeren, welche die halbe Stärke ihrer Gegner hatten, auf allen Kriegs¬
theatern zu halten, dem feindlichen Hauptheere, Grant gegenüber, sogar nicht
ohne Vortheile. Die folgenden Ereignisse zeigen aber, daß dies Behaupten nur
möglich war durch Aufwendung aller disponibeln Kräfte, und daß die Energie
Grant's und Sherman's, welche die früher gewährte Winterruhe nicht gestat-
teten, jede Erholung unmöglich und den Gegner an Erschöpfung sterben machte.
Die Energie Grant's war dabei eine Passive, die Kraft Sherman's eine durch
und durch active. Folge davon ist, daß der Ruhm des Sieges vor der Welt
fast ausschließlich dem Letzteren zufällt, während es in der That schwer ist, zu
entscheiden, wem das größere Verdienst angehört. Wir wollen versuchen, diese
Frage zu erledigen, nicht weil dieselbe für uns eine große Bedeutung hätte,
sondern um an den leitenden Männern des Krieges und an den Heeren, mit
denen sie siegten, die Fortschritte kennen zu lernen, welche auch den letzten Er¬
folg möglich machten, und welche mehr oder minder die Zukunft Nordamerika's
bestimmen werden.
Grant wie Sherman stammen aus der regulären Armee und haben ihre
militärischen Studien auf der Akademie zu Westpoint gemacht. Beide geboren
von Hause aus den Westsiaatcn c>» und machten ihre ersten praktischen Knegscr-
fahningen in der Westarmee, am Tennessee. Mississippi u. s. w. In diesen
Staaten lag, wie wir aus früherer Betrachtung wissen, das treibende Element
des Krieges, der wirkliche Haß gegen den Süden und was die Hauptsache war,
die Ueberzeugung, daß die Abschaffung der Sklaverei nothwendig sei. Hier im
Westen enthielten die Heere des Nordens die der militärischen Dise plin zu¬
gänglichsten Elemente, die Deutschen und Jrländer. Hier bildete sich zuerst
eine militärische Macht, die der Kriegführung auf dieser Seite »ach und nach
das Uebergewicht gegen das Haupte'negsiheater im Osten gab und endlich die
Heerführer des Westens an die Spitze der Armeen des ganzen Nordens stellte. —
In den drei ersten Kriegsjahren 1861, 1862 und 1863 hatte der Osten, die Ne»-E»g-
landsstaatcn, mehr ober minder politische Führer zu Generalen gemacht und
war damit gescheitert. Das im Westen erzogene, rein soldatische Element
übernahm 1864 die Leitung im Osten und damit im Staate. In keiner
politischen Angelegenheit machte sich nach Außen die Uebernahme der
Heirsche.it durch den Westen mehr geltend als in der Negerfrage. Hatte man
un Beginn des Krieges überhaupt Scheu gehabt, sich über die Befreiung der
Neger auszusprechen, und war man langsam dazu fortgeschritten, die Farbigen
als Contrebande und schließlich als nützliches Kriegsmaterial anzusehen, so
schritt man jetzt zu ihrer vollen Emancipation. Grant erhielt den Oberbefehl
der gesammten Streitkräfte der Union. Er ist gleich Lincoln kein genialer
Staatsmann, aber ein treuer, durch und durch tüchtiger Arbeiter, der mit der
Zähigkeit seiner Race, unbeirrt von kleinen Zwischenfällen, an dem einmal ge¬
faßten Plan festhält und nicht abläßt, bis er das gestellte Ziel erreicht hat.
Sein erstes Streben ging dahin, die Armee zu reorganisiert, die Streitkräfte
^ concentriren und ihre stete Vollzähligkeit sicher zu stellen. In ersterer und
in letzter Beziehung richtete er sein Augenmerk besonders darauf, die Truppen¬
körper in sich fester zu machen. Dies erreichte er durch eine strengere Disciplin,
durch Vermehrung des stehenden Heeres, der sogenannten regulären Armee
der Vereinigten Staaten, und durch längere Dienstzeit der von den einzelnen Staaten
gestellten Truppen, der Volunteersarmee. Zur Besserung der Disciplin ent¬
fernte er nach und nach alle jene Bürgergenerale, welche es nicht verstanden
hatten Soldaten zu werden. Butter siel als einer der letzten, aber auch der
besten, erst ja der neuesten Zeit. Demnächst wurden stehende Kriegsgerichte ein-
eführt. von denen alle Pflichtverletzungen der Generale und Offiziere unnach¬
sichtig zur Verantwortung gezogen wurden, und dem entsprechend verfuhr man
auch gegen die Mannschaften, Das Avancement der Offiziere entzog er der
Protection und den Familienverbindungeu und machte es von den Vorschlägen,
d. h. von den Leistungen abhängig. Die Kleidung, Verpflegung, Bewaffnung
u. s. w. wurde einer strengen Controle und Ordnung unterzogen, — Die Ver¬
mehrung des stehenden Heeres erreichte Grant dadurch, daß alle Neger, selbst
wenn sie als Ersatzmänner für die Staatcnregimentcr gestellt waren, in eigene
dem Präsidenten direct untergebene Regimenter formirt wurden, deren Offiziere
nur auf Grund eines Examens oder positiver Verdienste in andern Truppen-
theilcn vom Präsidenten auf Vorschlag des Armee'commandos angestellt wurden.
Während die eigentliche reguläre Armee 6 Kavallerie-, 5 Artillerie- und 19 Jn-
santcrieregimenter ü,' 10 Escadrons. 10 Batterien und 3 Bataillonen zählt,
weisen die Berichte, Verlustlisten, Anstellungen u. s. w. 7 Artillerie- und
118 Jnfanterieregimenter der farbigen Truppe» der vereinigten Staaten nach
v. II. L. (?. 1'. vates Liftes colouiod troops). Ein Nachweis wie viele
dergleichen farbige Truppen wirtlich vorhanden und wie viele Bataillone ihre
Regimenter zählen, war noch nicht zu finden, die angegebenen Zahlen sind hier
und da genannt, es geht jedoch aus den letzten Ernennungen hervor, daß die
neufonnirten Regimenter gewiß 3 Bataillone haben. Die Negertruppen sind
in ganzen Divisionen Vereint und findet sich ein^ ganzes Armeecorps, das
26., g, 3Divisionen, in Louisiana, dann circa 3 Divisionen unter General Thomas
in Tennessee, 1 bis 2 Divisionen unter General Schosield, circa 4 Divisionen
unter Grant und andere auf dem Kriegstheater vertheilt.
Wenn man annimmt, daß die U. S. T. T., die farbigen Truppen, 150,000
Mann zählen so ist dies keinenfalls zu hoch gegriffen, rechnet man dazu
70,000 Mann der regulären Armee, so ergiebt dies am Ende des Krieges ein
stehendes Heer von 220.000 Mann gegen mindestens 500,000 Mann Volunteers.
Diese letztere Armee wurde in festere Form gebracht, indem man die
Bildung von Truppen nur für Monate vollständig aufgab und die Leute, welche
einmal gedient hatten, durch hohe Lohne an die Fahne zu fesseln suchte. Man
warb und l>ob aus aus drei Jahre und zahlte den Veteranen Handgelder, welche
eine Höhe erreichten, die den Privatverdienst des einzelnen Mannes in Schatten
stellten. Beim Beginn des Krieges 1861 betrug das monatliche Einkommen
des gemeinen Soldaten incl. des aus die Zeit vertheilten Handgeldes 13 Dollars
77 Ces., heute aber 32 Dollars 66 Ces. Dazu kommt Kleidung und Kost. Letz¬
tere allein kostet dem Staat nach den neuesten Berechnungen monatlich 16 Dollars'
die Kleidung mithin wohl 6 Dollars, das läßt das eigentliche monatliche Ein¬
kommendes gemeinen Soldaten auf 62V° Dollars (wahrscheinlich Papier, nicht Gold'
D. Red.) steigen. —So ist es gelungen, nach vierjährigen Kriege auch von de^
Freiwilligenarmee Veteranencorps zu bilden, welche, an innerer Güte uno
Disciplin jeder stehenden Armee nahe kommen. .
Wie aber doch die reguläre Armee die leitenden Elemente für alle andern
abqiebt, möge uns folgende Uebersicht der von derselben in höhern Stellen bei
andern Truppen verwendeten Offiziere erläutern:
Nachdem Grantin solcher Weise eineArmee geschaffen hatte, welche den
europäischen Ansprüchen an ein stehendes Heer nahe kam. gelang es ihm das
natürliche und innere Uebergewicht, welches den Nordstaaten sowohl wegen ihrer
Größe als auch wegen der bessern Sache von Anfang an gebührte, auf sein
Seite zu bringen.
D>e Conföderirten hatten, wie wir wissen, vor Beginn des Krieges den
Vortheil der disciplinirten und innerlich organisirten Armee, und so lange ihnen
derselbe blieb, gelang es ihnen selbst in ihrer Minderzahl und mit der Kargheit
aller ihrer Mittel sich gegen den Norden zu behaupten. Dem Soldaten mußte
ihr Kampf Theilnahme erwecken, selbst wenn er die Grundsätze, für welche
der Süden kämpfte, durchaus verwarf, ja der Militär als solcher, durfte in
diesem Kriege für den Süden in gewisser Hinsicht Partei nehmen, das heißt,
er durfte dem Norden nicht eher den Sieg gönnen,, als bis dieser den vernünf¬
tigen Gesetzen des Handwerks Rechnung getragen und diejenigen Regeln ange¬
nommen hatte, welche Europa zur Wehrhafterhallung des Volkes aufgestellt
hat, und welche uns zu stehenden Heeren genöthigt haben. Seit Grant die
Leitung der Armeen übernommen, ist dies der Fall, und es ist interessant, in den
amerikanischen Zeitungen zu lesen, wie auch im Publikum die Bedeutung der
militärischen Disciplin für das Leben Anerkennung findet. Ein Artikel über die
Civilstellung verabschiedeter Soldaten möge hier als Beleg dienen:
„Das Publikum ist ohne Vorurtheil gegen Soldaten, es hat nur ge¬
rechten Abscheu gegen die schmutzigen Lungerer, die aus der Armee gewiesen sind.
Die öffentliche Meinung ist augenblicklich sehr für den Soldaten gestimmt.
Arbeitgeber haben bereits bemerkt, daß Soldaten, die von gut disciplinirten
Regimentern entlassen sind, viel bessere Arbeiter werden, als sie vorher ge¬
wesen. Sie sagen, daß solche Männer pünktlicher sind, mehr Respect haben,
weniger fragen, das Aufgetragene ohne Redensarten erledigen, aufrecht stehen
können ohne sich gegen Pult oder Thürpfosten zu lehnen, sich schnell bewegen,
aufmerksam hören, sich reinlich anziehen, kurz sich wie Soldaten betragen." —
Das sind Aufstellungen, die sehr im Gegensatz stehen zu frühern amerikanischen
Urtheilen über den Soldaten.
Grant shal dem Norden ein Heer geschaffen und dadurch den Sieg an
seine Fahnen gefesselt. Er hat ein dem Staatsleben des Nordens bis dahin
fremdes Element zur Geltung gebracht und zur Stütze des Staates gemacht;
das stehende Heer hat nicht nur seine Berechtigung als dauernde Institution
erwiesen, es ist auch eine Nothwendigkeit für die nordamerikanischen Freistaaten
geworden. Eine solche in das Staatsleben eingeführte Macht verschwindet nicht
ohne Weiteres wieder aus demselben, sie bürgert sich ein, und wie sie selbst
durch Anlage und Bedürfniß einer Nation beeinflußt wird, so trägt sie auch
ihrerseits dazu bei, die Zukunft der Nation zu formen. — Ob es richtig war,
eine Macht wie die 150.000 Manu farbige Truppen aus einer dem politischen
Leben fremden Race, den Negern, zu schaffen, muß die Zukunft lehren. Bon
hier aus läßt sich die Sache nicht beurtheilen, da über die inneie Bedeutung
dieser Race die entgegengesetztesten Urtheile hierher gelangen.
Grant hat allerdings das große Verdienst, die Armee des Nordens organisirt
zu haben. Sein Verdienst, als Feldherr war geringer, denn er ist trotz der
doppelten Ueberzahl nicht im Stande gewesen seinen Gegner zu überwinden.
Er hing sich aber an ihn und zupfte und zerrte an ihm, bis dieser in einem
letzten, verzweifelten Ringen matt zusammenbrach. Doch selbst zu diesem letzten
Kampfe gab Grant nicht den Anstoß. Dieser erfolgte indirect durch Sherman,
welcher nach und nach der gefährlichste Gegner des Südens geworden war.
Wenn Lee die Conföderation noch retten wollte, so mußte er diesen Feind
besiegen, das konnte er aber nicht, wenn er sich nicht vorher seines zähen,
nächsten Gegners Grant entledigt hatte. So kam es zu der Schlacht bei
Petersburgh, welche Richmonbs Fall und Lech Kapitulation zur Folge hatte.
Sherman gehört unstreitig der Lorbeer des letzten Feldzugs. Nicht baß wir
ihn für einen großen Feldherrn halten möchten, denn dazu fehlt ihm das
staatsmännische und in dem Kriege schaffende Element. Er hat, wie hier schon
früher ausgeführt wurde und wie die Berichte über seinen Zug durch Georgia
und die beiden Carolinas erzählen, nur durch Zerstörung seine Pfade bezeichnet.
Aber er bat sich als genialer General gezeigt, der seine und des Feindes
Mittel richtig abwägt und immer zur Handlung bereit ist. Sherman erkannte
nach dem Fall von Atlanta, daß der Gegner sehr schwach sei, und daß es nur
des dreisten Hineingreifens in das Staatsgebäude des Südens bedürfe, um dies zum
Zusammensturz zu bringen. Er stellte dem feindlichen Heere nur den geringern
Theil seiner Kräfte entgegen und rückte unbekümmert um Verpflegung, Ruck
zugslinie u. s. w. mitten in das Herz des Feindes. Er verfuhr ähnlich wie
Blücher im Jahre 1814, als Napoleon sich ihm auf die Rückzugslinie warf.
Blücher ließ den Feind operiren. rückte nach Paris, und Napoleons Macht zerfloß
wie Schnee an der Sonne. Sie war, wie die der Couföderirten, durchaus
morsch, und es bedürfte nur des einfachen Zufassens, um dies an das Tages¬
licht zu bringen. Alte Truppentheile, welche Sherman entgegengeworfen wurden,
entbehrten der innern Kraft und zerschellten vor dem geringsten Widerstand.
Obgleich Davis und Lee die Bedeutung des Zuges von Sherman erkannten
und ihm alle disponibel» Corps entgegenwarfen, hatte er seit Atlanta kein
ernsthaftes Gefecht mehr zu bestehen. — Nach den verschiedenen näheren Berichten,
die jetzt über diesen Zug bekannt geworden sind, wählte er für sich aus seiner
Armee die besten Truppen aus, darunter keine farbigen Regimenter,
organisirte eine zweckentsprechende Verpflegung und übte eine unnachsichtliche
Disciplin. Feind und Freund erkennen zumal dieses letztere, und beide werden
nicht müde, die Zauber dieser kriegerischen Zucht zu erörtern. Er hat es ver¬
standen in seiner Armee einen Generalstab, eine Verwaltung und Disciplin
zu schaffen und damit wurde er Herr seiner Kräfte. Diese Kräfte aber ver¬
wandte er in der entscheidenden Richtung und mit unausgesetzter Energie.
Während Grant die Kräfte im Großen sammelte und befestigte und den ihm
speciell übergebenen Theil mit Ausdauer, wenn auch nicht mit hervorragendem
Geschick gebrauchte, verstand es Sherman, das ihm anvertraute Instrument zu
schärfen und durch alle Umhüllungen hindurch in das Herz des Gegners zu
stoßen. Und militärisch gefaßt, beide führten zum Siege, weil sie der Armee den
Charakter des Volksheercs nahmen und so viel als nöthig Berufssoldaten schufen.
Der Krieg ist zu Ende, die ungeheuren Folgen desselben lassen sich nur
ahnen. Dieser Krieg hat der Unionsregierung gegenüber den einzelnen Staaten
eine Gewalt gegeben, welche man früher für unmöglich hielt; er hat ein großes
Heer geschaffen; er hat die Männer der Wcststaaten zu Leitern des Staats
und des Heeres gemacht; er hat unendliche Capitalien zerstört in Eisenbahnen,
Ortschaften, Materialien, Beständen und Menschen; er hat eine Schuldenlast
von 2 Milliarden geschaffen, welche 120 Millionen jährlicher Zinsen fordern;
n hatte bis zum ersten Januar dieses Jahres bereits den Staat mit der Ver¬
sorgung von 66,000 Invaliden und dergl. belastet; er hat 4 Millionen For-
o>ge aus der Sklaverei befreit und ihnen die Rechte des Menschen, aber noch
wenig von ihrem Besitz gegeben; und endlich hat er allen hervorragenden Per¬
sönlichkeiten ein weites Feld sich geltend zu machen eröffnet. Die Stillung
des äußeren Kampfes gibt diesen Kräften die Arena frei; die innere Krisis der
nunmehr wieder vereinigten nordamerikanische» Freistaaten beginnt; hoffen wir,
daß die gesunden Kräfte die Oberhand behalten und die Freiheit auch serner
dort eine Stätte habe.
Dqß ein stehendes Heer kein Hinderniß der Freiheit eines Volkes ist, be¬
weist England. Das Heer muß freilich durch das Gesetz in den Staatsorga¬
nismus eingefügt werden und nicht ein Körper sein, der nur von einem Theil
der Regierungsgewalt, von dem Herrscher allein und seiner Gnade abhängt.
Ein großer Verlust für Nordamerika ist der Tod Lincolns, der Tod des
Mannes, der den Krieg geleitet, der jeden Pulsschlag desselben empfunden hat,
und der vollständig alle treibenden Kräfte beurtheilen konnte. Lincoln war
im Stande menschlich zu entscheiden, sein Nachfolger muß mehr oder minder
Principien zur Grundlage seiner Handlungen machen, und diese sind strenge
Leiter und werden eine Versöhnung nicht leicht machen.
Vor zwanzig bis dreißig Jahren war es kaum nöthig, Erholungsreisenden
das Fußwandern zu empfehlen, wer nickt über reichliche Mittel gebot, oder
durch die Begleitung von Frauen und Kindern zu fahren genöthigt ward, war
von selbst auf seine Beine angewiesen. Das hat sich in unsern Zeiten der
Eisenbahnen, wo kaum noch ein Handwerksbursche wandert, gar sehr geändert,
aber je rascher man ein Land durchfliegt, desto weniger sieht man, was
hinter den Bahnhöfen liegt. Wie allmälig läßt uns Göthes italienische Reise
in den Süden hinabsteigen; von Karlsbad durch Bayern über den Brenner
gelangen wir in sanften Uebergängen in das Land, wo die Citronen blühen.
Heute wacht der Reisende, der Abends in einen Courierzug steigt, am Morgen
unter einem andern Himmelsstriche auf, Luft, Land und Menschen haben sich
über Nacht gewandelt, aber er merkt es kaum, denn die großen Hotels, in
denen er absteigt, bleiben überall gleich, er mag noch so oft von Berlin nach
Wien, von Köln nach Basel fahren, was zwischen diesen Endpunkten liegt,
weiß er nicht.
Früher war es anders. Wer im Wagen reiste, war zwar immer durch
Kutscher und Gespann an Gesetze und Bedingungen gebunden, die außerhalb
seines Willens lagen, aber er kam doch in mannigfache Berührung mit Land
und Leuten. Auf den Stationen, wo umgespannt und gerastet ward, traf
man den Verkehr der Umgebung, da gab es redselige Wirthe und Wirthinnen.
Kutscher. Postillone und Schirrmeister. Während der Postwagen sich langsam
den Berg hinaufschleppte. ging man plaudernd mit dem Schwager voran, ließ
sich das Land weisen und schaute auf der Höhe ringsum; eine Cigarre oder
ein Glas Punsch löste die Zunge des Schirrmeisters, der aus der Fülle seiner
Erfahrungen und Lokalkenntnisse mittheilte. Vor allem aber war man gesprä¬
chiger gegen die Reisegefährten; weil das Reisen verhältnißmäßig seltener war.
gaben die meisten Leute sich unbefangen seinem Reize hin. da man länger mit¬
sammen bleiben mußte, ja vielfach auf einander angewiesen war, nahm man
sich die Mühe die Genossen kennen zu lernen, mit denen man einmal zusammen-
gewebt war. und so wurden oft aus zufälligen Begegnungen wirkliche Bekannt¬
schaften, wie dies noch jetzt auf längern überseeischen Reisen geschieht.
Wie anders heute! Der Zug braust durch eine historisch berühmte Gegend,
über ein Schlachtfeld, vorbei an ruinengekrönten Bergen, an Städten, deren
alte Thürme von vergangener Herrlichkeit erzählen könnten, aber der Schaffner,
den man nach Diesem und Jenem fragen möchte, hat kaum Zeit, die Fahrkarte
abzunehmen, ist auch vielleicht dreißig Meilen weit weg zu Haus.
Die Reisenden sitzen meist stumm nebeneinander, lesen, rauchen, oder
schlafen; wen» sich jemand überhaupt mit seinen Gefährten beschäftigt,
die ja vielleicht schon auf der nächsten Station aussteigen, so studirt er die
Physigonomie und sucht höchstens herauszubekommen, ob seine phrenologischen
Schlüsse richtig waren; redet ein anderer ihn an, so antwortet er vorsichtig, weil
heutzutage nicht mehr Kleider Leute machen und der feinste Herr sich zum Taschen¬
diebe entpuppen könnte.
Man darf daher mit Sicherheit sagen, so gewiß die Eisenbahn für den
der richtige Weg ist. der zu einem bestimmten Zweck möglichst rasch nach einem
bestimmten Ort gelangen will, so wenig entspricht sie der Idee des eigentlichen
Reifens, d. h. des Umherschweifens, inen Land und Leute kennen zu lernen.
Dies ist nur auf Fußwanderungen möglich. Nur der Fußreisende ist wahrhaft
ungebunden, er biegt nach Gefallen rechts und links ab, ersteigt jenen Berg.
Von dem er eine lohnende Aussicht erwartet, durchzieht jenes Thal, dessen
Schatten ihm traulich zuwinkt, verweilt überall, wo sein Interesse gefesselt wird,
und schlägt sein Nachtquartier auf. wo es ihm gefällt, mit einem Wort, er allein
'se der wahre Freiherr unter den Reisenden; wem das Gefühl der Unabhängig¬
keit nicht auf einer Fußreise kommt, der wird es nie kennen lernen. Die Ein¬
fachheit seiner Ausrüstung, die ihn nicht von vornherein als ausbeutlungsfähig
"scheinen läßt, erleichtert ihm den ungezwungenen Verkehr mit dem Volke.
N'ehe in den großen Städten, die sich immer ähnlicher werden, nicht an ein¬
zelnen berühmten Punkten schöner Gegenden, wo sich fast immer Kellner und
Nichts ist so geeignet die Gabe der Beobachtung zu entwickeln als das
Fußwandern. Bei dem reichen Wechselspiel der Stimmungen, den es mit sich
bringt, wird das Auge für das Leben der Natur geschärft, Farben und Formen,
Licht und Schatten geben tiefer in uns ein; der Morgen mit seinem frischen
Jubel, die Poesie des in der Sonne brütenden Mittags, die tiefere Farbe und
freiere Luft des Nachmittags, die Kühle des dämmernden Abends, der mit
dem Anblick der Lichter endet, die dem müden Wandrer aus dem Nachtquartier
winken, alles das wird anders von uns genossen. Aber auch den Charakter
bildet das Fußreisen, sein Hauptwerth liegt darin, daß der Mensch auf sich
selbst angewiesen ist und seine Kraft erproben lernt. In der Novelle „der
Hagestolz" von Stifter fordert ein Erbonkel, daß sein Neffe und Erbe, der nach
zurückgelegten Schuljahren das Haus seiner Pflegemutter verlassen und ein
kleines Amt übernehmen soll, sich ihm vorstelle, und zwar verlangt er, daß der¬
selbe die Reise zu ihm zu Fuß machen solle. Er will damit den Jüngling
Zeit geben, Ruck- und Vorschau zu halten, damit er seine Gefühle allein in-
sich und durch sich zum Abschluß bringe, er betrachtet diesem Ausflug als
pädagogisches Mittel. Als solches können Fußreisen überhaupt mit Recht gelten.
Wer vor oder hinter einem ereignißreichen Abschnitt seines Lebens steht, wer
einen tief in sein Geschick eingreifenden Plan zu erwägen hat, wer einen großen
Schmerz überwinden muß, der wird nicht besser mit sich ins Klare kommen,
als wenn er den Wanderstab ergreift.
Und wie das Wandern den Geist erfrischt und bildet, so kräftigt es den
Körper. Die anhaltende Bewegung arbeitet Blut und Säfte durch, die freie
Luft stärkt Sehnen und Nerven, und mit Elasticität des ganzen Organismus er'
wirbt man ein Capital, welches noch in späten Tagen Früchte bringt.
In wenigen Tagen wird endlich der deutsch-französische Handelsvertrag in
Kraft treten. Der Kampf um denselben war ein harter, der endliche Sieg Preußens
über die Gegner des Vertrags ein um so lehrreicherer und verheißungsvoller.
Im Folgenden ein kurzer Rückblick auf den Gang der Ereignisse, der zu diesem
Ziele sowie gleichzeitig zur Erneuerung und theilweisen Umgestaltung der Zoll-
Vereinsverträge führte*). ,
Nachdem das Abgeordnetenhaus den Ende März 1862 paraphirten
Verträgen mit Frankreich mit großer Majorität (264 gegen 12 Stimmen) die
verfassungsmäßige Zustimmung ertheilt, das Herrenhaus sie einstimmig genehmigt,
erfolgte am 2. August 1862 deren Unterzeichnung von Seiten Preußens. Von
den übrigen Mitgliedern des Zollvereins hatte zuerst Sachsen, dann Oldenburg,
ferner Weimar, Meiningen, Altenburg, Coburg-Gotha, die beiden Schwarzburg
und die beiden Reuß ihren Beitritt erklärt. Nach der Unterzeichnung erfolgte
noch die Zustimmung Braunschweigs. Dagegen lehnten Bayern und Würtem-
berg in der zweiten Woche des August die Verträge mit Frankreich ab, und in¬
folge dessen erklärte Hannover Mitte dieses Monats, daß es nun keine Veran¬
lassung mehr habe, sich über die Angelegenheit schlüssig zu machen. Einige
Tage später folgte Oestreich seinen mittelstaatlichen Vortruppen mit einer De¬
pesche, in welcher es hieß, da der Zollverein den Vertrag mit Frankreich ver-
werfe, die Bedingung also, an welche Preußen den Beginn von Verhandlungen
mit Oestreich über eine Zolleinigung geknüpft, weggefallen sei, so möge man
preußischerscits nicht mehr zögern, über die östreichischen Vorschläge vom 10.
Juli 1862 in Unterhandlung zu treten.
Die preußische Regierung vermochte die Voraussetzung dieses Verlangens
nicht zu zugeben. Sie kannte das Mittel, welches Bayern und Würtemberg sammt
ihren Genossen zur schließlichen Aenderung ihres Sinnes zu zwingen geeignet
war. und sie machte sofort, wenn auch zunächst nur andeutend, von demselben
Gebrauch. Am 26. August ging eine Depesche des Grafen Bernstorff nach
München ab, in welcher derselbe erklärte, Preußen werde auf dem Boden der
Vertrage vom 2. August verharren , es wünsche, daß der Zollverein die gegen¬
wärtigen Schwierigkeiten überwinde, theile jedoch nicht die Ansicht Bayerns,
daß dessen Ablehnung des Vertrags mit Frankreich den Verein nicht gefährden
könne, sondern müsse vielmehr offen aussprechen, daß man in Berlin eine de¬
finitive Ablehnung als Ausdruck des Willens auffassen werde, den Zollverein
mit Preußen nicht fortzusetzen.
Daraus erwiderte Bayern am 23. September mit einer Depesche des
Freiherr» v. Schrenck, in welcher die Gründe angeführt waren, die Bayern
zur Ablehnung veranlaßt hätten, und welche durch Darlegung dieser Gründe
den Weg zu einer Verständigung angebahnt zu sehen wünschte. Die Gründe
waren folgende: in dem Vertrage standen Leistungen und Gegenleistungen nicht
im richtigen Verhältnisse zu einander, manche der Tarifherabsetzungcn entsprächen
dem wahren Interesse der Vereinsindustrie nicht, einzelne Artikel des Vertrags
verstießen gegen die Natur und die Stellung des Vereins, endlich — die
Hauptsache — der Zollverein sei zu einem Vertragsabschlüsse wie der vorliegende
rechtlich nicht befugt, da ihm derselbe den Vollzug der im Artikel 26 des Ver¬
trags vom 19. Februar 1863 übernommenen Verpflichtungen gehen Oestreich
thatsächlich unmöglich machen würde. Aehnlich lautete die Antwort der würtem-
bergischen und der darmstädtischen Negierung, nur sprachen diese sich noch
schroffer in Betreff des Vertrags mit Frankreich aus. Hierauf Bezug nehmend
hieß es in der vom 12. November datirten preußischen Antwort nach München,
daß mau (es war jetzt Herr v. Bismarck) in den Rückäußcrnngen Würtembergs
und Hessen-Darmstadts nur den Ausdruck des Willens erblicke, den Zollverein
mit Preußen über die Dauer der laufenden Vertragsperiode nicht fortzusetzen.
Bayern dagegen scheine eine Verständigung zu wünschen, ja dieselbe für leicht
zu halten, und so gebe man in Berlin die Hoffnung nicht auf, daß hier eine
Annäherung in Aussicht genommen sei, und sehe einer näheren Aeußerung des
Freiherr» v. Schrenck entgegen.
Ehe die bayerische Regierung hieraus antwortete, lud sie die Bevollmächtigten
der Zollvereinsstaaten zu der bis dahin ausgesetzten fünfzehnten Gcneralzoll-
cvnfercnz zum Januar nach München ein, wobei sie ausdrücklich die Berathung
der östreichischen Vorschläge vom 10. Juli 18K2 als einen der Gegenstände der
Tagesordnung bezeichnete. Dann richtete (am 31. December) Freiherr v. Schrenck
eine Depesche nach Berlin, in welcher er sich über den Weg zur Verständigung
folgendermaßen ausließ: Eine Beseitigung der Gefahren der gegenwärtigen
Krisis des Zollvereins sei weder von Fortsetzung der bisherigen Discussion
noch von bloßer Zurückweisung der entgegenstehenden Ansichten und Anträge,
sondern nur von offner Rückkehr zum Standpunkte des Rechts zu hoffen.
„Wenn die Vereinsregierungcn bestrebt sein wollen/' sagte er. „sich streng an
die Bestimmungen der Vereinsverträge zu halten und sowohl in der Geltend-
machung eigner als in der Beurtheilung fremder Ansprüche sich nur auf die
Grenzen des Rechts zu beschränken, so wird die Beurtheilung fremder wie
der eignen Interessen und sonstigen Rücksichten bald eine versöhnlichere werden.
Es wird demnach für keinen Theil mehr ein Motiv bestehen, gemeinsame Er¬
örterungen zurückzuweisen, vielmehr jedem Theil gleichmäßig daran liegen, durch
gemeinschaftliche Gerhandlungen den gesammten Stand der Frage aufzuklären
und alle Nebenrücksichten aus denselben zu entfernen. Gestützt auf diese
Voraussetzung habe ich in meiner Depesche vom 23. September die Rücksicht¬
nahme auf den Februarvertrag mit Oestreich und eine angemessene Aenderung
des proponirten Vertrags mit Frankreich als diejenige Grundlage bezeichnet,
'U>f welcher eine Verständigung erzielt werden könne."
Dies scheine, so fährt Freiherr v. Schrenck fort, nicht richtig aufgefaßt
Worden zu sein, da man sonst nicht gesagt haben würde, die Verweigerung der
Zustimmung zu den zwischen Preußen und Frankreich abgeschlossnen Verträgen
werde von Preußen als Ausdruck des Willens der betreffenden Regierungen
aufgefaßt werden, den Zollverein künftig nicht fortzusetzen. Diese Aeußerung
su eine die frei« Entschließung dieser Regierungen beeinträchtigende, den Grund¬
sätzen des Zollvereins widerstrebende Drohung. Die bayerische Regierung habe
such schon früher gegen jene Folgerung aus der ihrerseits erfolgten Ablehnung des
französischen Vertrags verwahren müssen, und man wiederhole jetzt diese Ver¬
wahrung. Die Ablehnung sei nichts als die Geltendmachung eines unzweifel¬
haften, in den Vercinsvcrträgen begründeten Rechts. Wenn Preußen dies
einsehe, so werde es sich durch die Weigerung Bayerns und der mit ihm
Sehenden Regierungen nicht verletzt und noch weniger zu dem Bestreben hin¬
geleitet finden, der Ueberzeugung seiner Mitverbündeten Zwang anthun zu
Wollen.
„In dieser Ueberzeugung," heißt es in der Depesche weiter, „hat die
bayerische Regierung geglaubt, daß es allen Vereinsregierungen nur erwünscht
sein könne, die wichtige Frage über die zweckmäßige Entwickelung und Aus¬
bildung des Handels- und Zollsystems des Vereins, welche der Artikel 34 des
Vertrags vom 4. April 18S3 ausdrücklich der Thätigkeit der regelmäßigen
Generalconferenz überweist, bei der bevorstehenden Conserenz in den Kreis der
Berathung zu ziehen. Aus diesem Grunde hat sie bei der Einladung zu dieser
Konferenz die östreichischen Vorschläge als Bcrathungsgegenstand namentlich in
Vorschlag gebracht, und sie wird diesen Antrag auch fernerhin aufrecht erhalten.
Sie erachtet es hierbei als- vertragsmäßige Pflicht aller Vcrcinsregierungen,
sich einer gemeinsamen Erörterung solcher wichtigen Fragen nicht zu entziehen,
und ist ihrerseits ebenso bereit, aus analoge Fragen, wie allenfalls auf Tarif-
modifieationen, auf eine Erneuerung der Vereinsverträge sowie eventuell auf eine
Wiederaufnahme der Verhandlungen mit Frankreich einzugehen.
Diese Depesche hatte wahr gesprochen, wenn sie Bayern das Recht zur
Ablehnung des Vertrags mit Frankreich vindicirte. Sie übersah aber oder
wollte übersehen, daß Preußen andrerseits auch ein werthvolles Recht, nämlich
das Recht hatte, den Verein mit eigensinnigen Bundesgenossen nach Ablauf der
Vertragsperiode aufzugeben, und daß es durch Kündigung des Vertrags sehr
viel weniger Gefahr lief, seinen Interessen zu schaden als jene den ihren.
Inzwischen hatten sich die Volksvertretungen in der Mehrzahl der Zoll¬
vereinsstaaten zu Gunsten des Handelsvertrags mit Frankreich ausgesprochen,
und auch in der Bevölkerung derselben nahm die Agitation zu Gunsten des
Vertrags täglich zu. Auf dem zweiten deutschen Handelstage, der im October
1862 zu München stattfand, unterlagen die Gegner des Vertrags und zwar,
wenn man von der Minorität die zahlreichen östreichischen Stimmen abrechnete,
gegen eine sehr bedeutende Majorität. Die dissentirenden Regierungen sahen
sich im eigenen Lande durch die Vertreter der Fabrik- und Handelsinteressen,
sowie durch die gegen Wiederaufrichtung der Zollschranken innerhalb Deutsch¬
lands sich auflehnende Volksstimmung mehr und mehr bedrängt. Sie hätten
ihren Widerstand wohl schon damals aufgegeben, wenn sie nicht gehofft hätten,
Preußen durch denselben noch einschüchtern zu können. Jedenfalls traten die
schutzzöllnerischen Bedenken, mit denen sie zu Anfang vorzüglich ins Feld gerückt
waren, jetzt in den Hintergrund, und man suchte nun die Hauptbasis der
Opposition in dem Vertragsverhältniß zu Oestreich.
„Diese Basis," sagt unser Bericht, „hatte freilich Preußen durch Abschluß
des Vertrags vom 19. Februar 1853 selbst geschaffen. Indem die Einleitung
diesen Vertrag als einen „zur Anbahnung der allgemeinen deutschen Zollcinigung"
geschlossenen charakterisirte, und indem der Artikel 25 stipulirte, daß im Jahre
1860 Commissäre zusammentreten sollten, um über die Zolleinigung zwischen den
beiden contrahirenden Theilen, oder über weitergehende Verkehrscrlcichterungcn
und möglichste Annäherung und Gleichstellung der beiderseitigen Tarife zu unter¬
handeln, war für Oestreich ein willkommener Anhaltspunkt gewonnen, um sich
in die inneren Angelegenheiten des Zollvereins zu mischen, und für die dem
Handelsvertrage widerstrebenden Regierungen im Zollverein ein sogenannter
Rechtsboden, auf den sie sich zurückzogen, als die Stütze welche ihr Widerstand
anfangs in den Schutzzollinteressen fand, gebrochen war. Die Zolleinigungs-
clausel allein war es. auf welche gestützt der Widerstand gegen die von der
öffentlichen Meinung und den Interessenten als nothwendig und heilsam an¬
erkannte Maßregel des mit einer durchgreifenden Tarifreform verbundenen Ein¬
tritts in das System der westeuropäischen Verträge noch zwei Jahre lang fort¬
geführt werden konnte."
Die Münchener Generalzollconferenz wurde erst im März eröffnet. Hier
übergab Bayern eine vom 26. April 1863 datirte Denkschrift: „Die Proposi¬
tionen der kaiserlich-königlich-östreichischen Negierung vom 10. Juli 1862,
bezüglich der Erneuerung des Zoll- und Handelsvertrags vom 19. Februar 1853
und deren Berathung auf der fünfzehnten Generalcvnferenz betreffend", welche
zu folgenden Ergebnissen gelangte: Es handle sich gegenwärtig blos um Be¬
antwortung der Frage, welche erste und allgemeine Rückäußcrung der östrei¬
chischen Regierung auf ihre Vorschläge und in welcher Form dieselbe gegeben
werden solle, und nach Ansicht der bayerischen Regierung wäre diese Erklärung
im Namen und Auftrag sämmtlicher Zollvereinsmitglieder durch diejenigen Re¬
gierungen, welche schon früher für die Verhandlungen mit Oestreich bevollmächtigt
gewesen, dahin abzugeben, daß der Verein geneigt sei, die Verhandlungen mit
Oestreich über die Fortsetzung und Erweiterung des Vertrages vom 19. Februar
1863 aus Anlaß der neuen Propositionen wieder aufzunehmen und in nächster
Zeit, und zwar gleichzeitig mit den Verhandlungen über die Erneuerung des
Zollvereins, zu eröffnen. Beide Verhandlungen ständen in einem inneren
Zusammenhange, doch sei nicht nothwendig, daß der Abschluß der einen der
andern vorausgehe, sondern wie 1863 werde ein gleichzeitiger Abschluß wohl
das Geeignetste sein. Die Erneuerung des Zollvereins aber könne, bei der all¬
seitigen Geneigtheit hierzu, wohl von da an als gesichert betrachtet werden,
Wo sämmtliche Vereinsregierungen darin übereinstimmten, daß dieselbe an und
für sich für das höchste gemeinsame Interesse zu erachten. Sollte es nicht ge¬
lingen, hierüber oder über eine an Oestreich zu ertheilende vorläufige Antwort
eine Uebereinstimmung zu erzielen, so würde nur übrigbleiben, daß die Re¬
gierungen, welche über Erneuerung des Zollvcreinsvertrags und weitere Ver¬
handlungen mit Oestreich im Wesentlichen gleicher Ansicht seien, sich über ihr
Weiteres gemeinsames Verfahren in beiden Richtungen unter sich verständigten.
So suchte Bayern zu bewirken, daß die östreichischen ProPositionen als
näher liegend wie der Vertrag mit Frankreich behandelt würden, und den Ab¬
schluß mit Oestreich gewissermaßen' als Bedingung für die Erneuerung der Zvll-
Vereinsverträge hinzustellen. Ja die Denkschrift sprach direct aus, daß, „wenn
einzelne Mitglieder, indem sie einerseits die Erneuerung des Zollvereins als
einen Präjudicialpunkt für die Jnbetrachtnahme der östreichischen Propositionen
ansehen zu müssen glaubten, andrerseits die Ansicht hegen sollten, die Er-
neuerung der Zollvereinsverträge davon abhängig zu machen, daß einzelne den
Interessen anderer Vereinsregierungen widersprechende Maßregeln oder Modi¬
fikationen der Vereinsverträge allgemein anerkannt werden, und wenn dieselben
gesonnen wären, lieber aus dem Verein zu scheiden als auf ihre Absichten zu
verzichten," „unzweifelhaft die Erneuerung des bisherigen Zoll-
Vereins sofort als unerreichbar zu betrachten wäre."
Das hieß sehr selbstbewußt und sehr zuversichtlich gesprochen. Preußen
indeß ließ sich nicht einschüchtern. Es blieb in seiner Antwort auf diese Denk¬
schrift auf seinem bisherigen Standpunkt stehen. Man sei, hieß es da, noch
immer von dem Wunsche geleitet, den Zollverein fortzusetzen, aber nur unter
Aufrechthaltung des Vertrages mit Frankreich, und mit Oestreich werde erst
verhandelt werden können, sobald kein Zweifel mehr darüber bestände, daß der
Zollverein über das Jahr 1865 hinaus gesichert sei.
Nachdem sich auch die übrigen Vereiusregierungen erklärt, gab die bayerische
Regierung am 13. Juni in der Konferenz ein Resumö dieser Gegenäußerungen,
wobei sie in Betreff der preußischen hemmten, daß sie den Worten „unter Auf¬
rechthaltung des mit Frankreich geschlossenen Vertrags" nur den Sinn beilegen
könne, daß Preußen den Principien, welche es bei den Verhandlungen mit
Frankreich geleitet, auch fernerhin Geltung zu verschaffen bestrebt sein werde,
nicht aber die Annahme des Vertrags selbst wiederholt als Bedingung auszu¬
stellen gemeint sei. Wenn diese Voraussetzung begründet, so erschiene eine
Verhandlung über Erneuerung des Zollvereins jetzt als Erfolg versprechend.
Schließlich wurde der preußische Bevollmächtigte aufgefordert, sich zu bestimmteren
Erklärungen in Bezug auf die von Bayern angeregten Fragen Anweisung geben
zu lassen.
Schon am 18. Juni, also ehe eine preußische Rückäußcrung erfolgt sein
konnte, lud die bayerische Negierung die ihr in dieser Sacke nahestehenden
Regierungen zu den in der Depesche vom 25. April in Aussicht genommenen
Sonderberathungen nach München ein, und zwar schlug sie vor, sich vorläufig
über folgende Punctationen zu vereinigen: „1) die contrahirenden Regierungen
erklären hiermit ihre Bereitwilligkeit, den bestehenden deutschen Zollverein, und
zwar im Wesentlichen auf der durch die Verträge vom 4. April 1853 festgestellten
Grundlage fortzusetzen und zu diesem Ende demnächst Verhandlungen zu eröffnen
und einen Vertrag abzuschließen. 2) Im Fall nicht alle den gegenwärtigen
Zollverein bildende Staaten geneigt sein sollten, einer Fortsetzung des Vereins
auf der angegebnen Grundlage beizutreten, werden die jetzt contrahirenden
Staaten wenigstens ihrerseits die Continuität des Vereins wahren und zu diesem
Zwecke einen Erneuerungsvertrag schließen, den vorläufig nicht beitretenden
Staaten aber den späteren Beitritt ausdrücklich vorbehalten. 3) Sollte es von
Seiten der den Zollverein fortsetzenden Regierungen für angemessen erachtet
werden, den Verein selbst in zwei Gruppen zu theilen, so soll jede dieser
Gruppen als ein eintegrircndcr Theil des Zollvereins betrachtet werden und
zwischen denselben vollkommene Verkehrsfreiheit für alle inländischen Landes¬
und Industrieproducte sowie, soweit möglich, vollkommene Gleichheit aller
innern Einrichtungen bestehen. Die vollständige Vereinigung soll sofort wieder
eintreten, sobald die entgegenstehenden Hindernisse entfernt sind. 4) Die con-
trahirenden Regierungen erklären in gleicher Weise ihre Bereitwilligkeit, den
unterm 19. Februar 18S3 mit Oestreich abgeschossenen Vertrag zu erneuern und
in Gemäßheit des Artikels 2S desselben zu erweitern. S) Zu diesem Ende
wollen dieselben mit der k. k. östreichischen Regierung ans Anlaß der Propo¬
sition derselben vom 10. Juli vorigen Jahres in Verhandlung treten und werden
sofort nach Abschluß des gegenwärtigen Vertrags aus ihrer Mitte eine oder
mehre Regierungen bevollmächtigen, welche die Verhandlungen mit Oestreich
führen sollen. 6) Die contrahirenden Regierungen erklären sich ferner bereit,
eine angemessene Reform des gegenwärtigen Vereinstarifs im Sinne der Er¬
leichterungen mit Rücksicht auf die Verhältnisse zu Oestreich entweder in nächster
Zeit oder im Lauf der weiteren Verhandlungen eintreten zu lassen. 7) Dieselben
berpflichten sich endlich gegenseitig, sowohl bei den erwähnten Verhandlungen
mit Oestreich als anch bei allen sonstigen Maßregeln, welche eine wesentliche
Abänderung der bisherigen Grundlagen und Bestimmungen des Zollvereins
bezwecken, nur im gemeinschaftlichen Einverständnisse zu verfahren und zu diesem
Zwecke einen fortwährenden directen Verkehr zu unterhalten."
Auf die Erklärung Bayerns vom 18. Juni antwortete die preußische
Regierung in der Sitzung der Conferenz vom 8. Juli wie folgt: „Nach der
sämmtlichen Vcreinsregiernngen bekannten Ueberzeugung Preußens hat sich der
bestehende Vereinszolltarif überlebt. Nach vieljährigen sämmtlichen Vereins-
rcgierunge» Vorliegenden Erfahrungen schließt die Organisation des Zollvereins
eine wahre Reform dieses Tarifs im Lauf der Vereinsperiode aus. Preußen
würde daher, auch wenn es nicht in der Lage gewesen wäre, mit Frankreich in
commerzielle Verhandlungen zu treten, die Vereinsverträge nur unter der Vor¬
aussetzung einer vorgängigen umfassenden Tarifreform haben erneuern tonnen.
Die Stellung, welche Preußen in diesem Fall einzunehmen gehabt hätte, ist
durch den' Vertrag insofern verarbeit, als einerseits die Tarifrefvrm eine
völkerrechtlich festgestellte Grundlage erhallen hat, andrerseits die Durchführung
derselben mit einer wesentlichen Erleichterung der vcrcinsländischen Ausfuhr
unmittelbar verbunden ist. Seine Stellung ist aber insofern nicht verändert,
"is Preußen jetzt die Annahme des Vertrags mit Frankreich und des auf dem¬
selben beruhenden Tarifs durch die übrigen Vereinsrcgierungen ebenso als Auf¬
gabe der von ihm vorgeschlagncn Verhandlungen ansieht, als es im andern
Falle die Annahme der von ihm für nothwendig erachteten Tcmfrcform als
diese Aufgabe zu betrachten gehabt hätte."
Gleichzeitig erließ Herr v. Bismarck eine Circulardepcsche an sämmtliche
Vereinsregierungen, in welcher er über die bayerische Erklärung vom 13. Juni
sagte. Inhalt und Fassung derselben hätten es fraglich erscheinen lassen, ob
Bayern noch bei seinem früher erklärten Bestreben, eine Verständigung herbei¬
zuführen, beharren wolle. Das vorschnelle Vorgehen in der Mittheilung vom
18. Juni hätte Momente für die Bejahung dieser Frage nicht dargeboten.
Unter solche» Umständen würde man, wenn Preußen sich bei den Verhandlungen
der Generalconfercnz lediglich der von Bayern vertretnen Auffassung gegenüber
auszusprechen gehabt hätte, nicht in Zweifel gewesen sein, was auf die bayerische
Erklärung vom 13. Juni zu erwidern sei. Der preußische Bevollmächtigte
würde darauf zu erklären gehabt haben, daß Preußen die von ihm in seiner
Aeußerung vom 6. Juni vorgeschlagnen Verhandlungen von Seiten Bayerns als
abgelehnt betrachte. „Aber," so fuhr die Depesche fort, „wie wir es für unsre
eigne Pflicht halten, die Zollvercinsverträge nur unter solchen Bedingungen zu
erneuern, welche wir mit der Wohlfahrt Preußens verträglich finden, so achten
wir auch die Freiheit der Entschließung, mit welcher die königlich bayerische
Regierung entscheiden wird, in wie weit die Interessen ihrer Unterthanen sich
mit den Grundlagen, auf welchen wir unsrerseits den Verein fortzusetzen ver¬
mögen, vereinbaren lassen. Das Bedürfniß, hierüber allseitig zur Klarheit zu
gelangen, wird nach unsern Wahrnehmungen von allen Zollvcrbündeten gleich-
mähig empfunden, und wir glauben die Sorgfalt, welche wir der Zukunft des
Zollvereins widmen, nicht wirksamer bethätigen zu können, als durch die bereits
in Aussicht gestellte Einladung zu Konferenzen, auf welchen jede Vereinsregierung
die Bedingungen wird formuliren können, unter welchen sie in die Erneuerung
der Zollvereinsverträge zu willigen bereit ist."
In der Zollvereinsconferenz zu München endigten die Verhandlungen über
die bayerische Denkschrift vom 25. April damit, daß Bayern im Hinblick auf
die Meinungsdiffercnzen der verschiedenen Vereinsregicrungen von weiterer
Discussion der Sache auf der Konferenz absehen zu müssen erklärte. Dann
fanden Sonderbcrathungen zwischen Bevollmächtigten der auf dem bayerischen
Standpunkt stehenden Regierungen statt, in welchem man sich über Punctationen
im Sinne des bayerischen Vorschlags, jedoch in nicht bindender Weise ver¬
einigte.
Als Preußen hierauf im August 1863 zu einer Zollvereinsconferenz in
Berlin eingeladen, traten in München die Bevollmächtigten von Bayern,
Würtemberg. Kurhessen, Hessen-Darmstadt, Hannover, Nassau und Frankfurt
zusammen, um sich über ein gemeinschaftliches Verhalten auf der bevorstehenden
Conferenz zu vereinigen. Es wurde darüber unter dem 12. October eine Re¬
gistratur aufgenommen, welche den Satz an der Spitze trug, daß die Erhaltung
des Zollvereins das unverrückbare Ziel der betheiligten Regierungen sei. Dann
hieß es weiter, daß dem preußischen Antrag auf Zustimmung zu dem Vertrag
mit Frankreich der Gegenantrag auf sofortige Eröffnung von Verhandlungen
mit Oestreich auf Grundlage der Propositionen vom 10. Juli 1862 entgegen¬
zustellen und mit aller Bestimmtheit zu vertreten, für den Fall weiterer Unter¬
handlungen mit Frankreich aber daran festzuhalten sei, daß besondere Verkehrs-
erleichterungen mit Oestreich und den übrigen dem Zollverein nicht beigetretenen
deutschen Staaten vereinbart werden dürften, ohne daß dieselben sofort auch
auf Frankreich zur Anwendung kämen. Für den Fall, daß dieser Antrag
Widerspruch erfahre, war den betheiligten Regierungen freie Entschließung vor¬
behalten und nur die „Hoffnung" ausgesprochen, daß dieselben alsdann eine
anderweite Berathung über ferneres gemeinschaftliches Handeln eintreten lassen
würden.
Wir sehen, man hatte schon merklich weniger Selbstgefühl und Vertrauen.
Von Sprengung des Zollvereins war nicht mehr die Rede, und man wollte
zwar mit dem Gegenantrag den Schachzug von der Münchner Conferenz noch
einmal versuchen, aber es war schon nicht mehr möglich, für den Fall, daß
dieser Antrag abgelehnt würde, eine Verpflichtung zu weiterem Zusammen¬
wirken durchzubringen. Man mußte sich mit einer bloßen Hoffnung begnügen.
Die berliner Generalconferenz der Zollvereinsstaaten behufs Erneuerung
der Zollvereinsverträge wurde am 5. November 1863 eröffnet. Die Anträge,
welche Preußen stellte, bezogen sich auf Annahme der Verträge mit Frankreich,
Umgestaltung des Tarifs und Aenderung der Bestimmungen über das Präci-
Puum der Staaten des frühern Steuervereins. In der ersten Sitzung schon
wurde der in München verabredete Gegenantrag auf sofortigen Beginn der
Verhandlungen mit Oestreich übergeben und in derselben Sitzung auch von
Preußen abgelehnt. Darauf stellte Baden den vermittelnden Antrag, absehend
von allen principiellen Differenzen eine specielle Berathung des von Preußen
vorgelegten Entwurfs zu einem neuen Vereinstarif vorzunehmen. Die Bevoll¬
mächtigten von Bayern, Würtemberg, Hessen-Darmstadt und Nassau gingen
auf diese Berathung „unter principieller Wahrung ihres Standpunktes und
unpräjudicirlich" ein, und siehe da. bei der Prüfung des Tarifentwurfs —
der nichts anderes als die Verallgemeinerung des Tarifs L zum Handelsver¬
trag mit Frankreich war — zeigte sich, daß zwar gegen einzelne Punkte von
einzelnen Regierungen Einwendungen erhoben wurden, bei keiner derselben
aber ein tiefer gehendes und principielles Bedenken gegen die Annahme vor¬
handen war.
Sachsen stellte nunmehr den Antrag: 1. daß diejenigen Regierungen, welche
dem Vertrag mit Frankreich noch nicht beigetreten, die Punkte, welche sie daran
hinderten, speciell bezeichnen möchten, 2. daß die Regierungen von Preußen.
Bayern und Sachsen beauftragt werden möchten, die Verhandlungen mit Oest¬
reich auf Grund des Vertrags vom 19. Februar 1863 und mit Berücksichtigung
der östreichischen Vorschläge vom 10. Juli 1862 zu beginnen, womit sich sämmt¬
liche Vereinsstaaten einverstanden erklärten. Vom 1. December an begann die
Conferenz die Prüfung des Handelsvertrags mit Frankreich, und es stellte sich
heraus, daß der Widerstand gegen denselben sich im Wesentlichen nur auf den
31. Artikel desselben bezog. Ohne Modification dieses Artikels erklärten Hannover,
Würtemberg, Bayern, die beiden Hessen und Nassau den Vertrag durchaus nicht
annehmen zu können. In Betreff der Verhandlungen mit Oestreich wurde ein
vollständiges EinVerständniß nicht erzielt, indem der eine Theil als Grundlage
für dieselben nur den Vertrag vom 19. Februar 1833, gelten ließ und der
andere die Vorschläge vom 10. Juli 1862 zur Basis der Verhandlungen ge¬
wählt wissen wollte. In der letzten Sitzung der Konferenz vor Weihnachten 1863
stellte Preußen noch die Frage, ob eine zustimmende Erklärung zu dem Tarif¬
entwurfe auch unter der Voraussetzung gegeben werde, daß dabei eine befriedigende
Regelung der Handelsverhältnisse zu Frankreich beabsichtigt sei, und auch die
übrigen Bedenken gegen den Handelsvertrag als durch die im Laus der Ver¬
handlungen gegebnen Erläuterungen erledigt anzusehen wären. Für den Fall
der Bejahung werde Preußen den Zeitpunkt für Verhandlungen mit Frankreich
und Oestreich als eingetreten betrachten. Rückäußerungen auf diese Fragen
wurden für den Wiederzusammentritt der Conferenzen zugesagt.
Preußen kündigte jetzt die Zollvereinsverträge.
Am 3. Februar 1864 trat die Conferenz wieder zusammen, und am 5.
übergab der bayerische Bevollmächtigte eine Erklärung seiner Regierung, in
welcher vor Beantwortung der soeben erwähnten preußischen Anfrage die Gegen¬
frage an Preußen gerichtet wurde, ob es nicht geneigt sei, sofort auf Ver¬
handlungen, mit Oestreich auf Grund des Februarvertrags und der Julivorschläge
einzugehen, und als Preußen dies verneinte, gab Bayern die fernere Erklärung
ab, daß es die Frage wegen definitiver Genehmigung des Tarifs mit Frankreich
nicht eher beantworten könne, als bis die Resultate der Verhandlungen mit
Oestreich festgestellt seien, daß es aber bereit sei, den Tarif mit Preußen als Grund¬
lage der Verhandlungen mit Oestreich festzusetzen.
Auf diese Verhandlungen über den Tarif ging man ein. Am 1. März
begann die zweite Berathung des preußischen Tarifentwurfs, und es wurde in
einer Reihe von Sitzungen sowohl dieser als der Handels- und der Schifffahrts¬
vertrag mit Frankreich abermals durchberathen. Auch die Literarcvnvcntion
wurde, nachdem Anstünde, die Hessen-Darmstadt und Würtemberg dagegen er¬
hoben, am 22. März zurückgenommen worden, in dieser Weise rasch erledigt.
Am 28. Juni schlössen die Regierungen, welche sich von Anfang an auf
Preußens Seite gestellt, sowie Kurhessen und Frankfurt die Zollvereinsverträge
mit Preußen aufs Neue ab. Später, am 11. Juli, folgten Hannover und Ol'
denburg gegen Gewährung eines Theils des bisherigen Präcipuums, nach, und
jetzt konnte über den Beitritt der vier übrigen Staaten, Bayern, Würtemberg, Hessen-
Darmstadt und Nassau kaum noch ein Zweifel obwalten. Die Verträge hielten
ihnen den Beitritt offen, Bestandtheil derselben aber bildete das mit Baden
getroffne Abkommen wegen Herabsetzung der Rheinzölle, dem Hessen-Darmstadt
und Nassau, falls sie überhaupt Zutritt in den neuen Zollverein erlangen
wollten, nunmehr beistimmen mußten; auch bestimmten die Verträge, wofern
nicht bis zum 1. October der Beitritt der erwähnten vier Regierungen erfolgt
sei, hätten die contrahirenden Staaten ungesäumt über die alsdann erforder¬
lichen Aenderungen in der Zollorganisation und über Einrichtungen für den
Grenzschutz in Verhandlungen zu treten. Ferner wurde festgesetzt, daß von
dem Zeitpunkt ab, wo der neue Zolltarif in Kraft trete, von dem in Baden
und dem im Gebiet Frankfurts erzeugten Wein und Traubenmost keine Ueber¬
gangsabgabe mehr erhoben werden solle, und im Schlußprotokolle wurde ver¬
abredet, d«ß diese Befreiung von der Weinübergangsabgabe auf die gleichen
Erzeugnisse eines jeden gegenwärtig dem Zollverein angehörigen Staates aus¬
gedehnt werden solle, welcher dem Vertrag vom 28. Juni 1864 bis zum
I. October beitrete.
Hiermit war den noch widerstrebenden Staaten in verschiedener Richtung
Anlaß gegeben, sich eines Bessern zu besinnen. Dieselben conferirten noch ein¬
mal in München und vereinigten sich dort zu Punctationen über das künftige
Verhältniß zu Oestreich, die indeß der östreichischen Regierung zu weiterer Ver¬
folgung übergeben wurden und keinen andern Werth als den von schätzbaren
Material hatten. In den letzten Tagen des September zeigten die sämmtlichen
Renitenten der Reihe nach ihren Beitritt zu den Verträgen vom 28. Juni und
II. Juli an, und noch vor Beginn des October konnten die Verhandlungen
unter sämmtlichen Zollvereinsregierungen in Berlin wieder eröffnet werden,
und führten dieselben am 12. October 1864 zu dem Abschluß des Vertrags
über den Anschluß Bayerns, Würtembergs, Nassaus und des Großherzogthums
Hessen.
Somit war der Zollverein auf Grund der Annahme des preußisch-französischen
Handelsvertrags und des rcsormtrten Tarifs auf fernere zwölf Jahre erneuert.
Die Verträge wurden nach dem Willen Preußens vor Beginn der Verhandlungen
über das Handelsvertragsverhältniß zu Oestreich abgeschlossen, und sie traten
unabhängig von dem Ergebniß dieser Verhandlungen in Kraft. In Bezug auf
die Verträge mit Frankreich versprach zwar Preußen, gewisse den Principien
derselben nicht zuwiderlaufende Aenderungen und Erwägungen zum Gegenstand
nachträglicher Verhandlung mit Frankreich zu machen, doch hatte das Ergebniß
dieser Verhandlung keinerlei Einfluß auf den Beitritt der Zollvereinsstaaten zu
den Verträgen vom 2. August 1862. Gleichzeitig wurde eine ziemlich schwer
empfundene innere Verkehrsbeschränkung im Zollverein, die Ucbergangsabgabe
beseitigt und in dem Grundsatze der Vertheilung der Zollvereinseinnahmen eine
wesentliche Verbesserung erzielt. Das Präcipuum des früheren Steuervereins
(Hannover, Oldenburg und Lippe-Schaumburg) hatte bis dahin darin bestanden^
daß von der Bruttoeinnahme aus den Zöllen und der Rübenzuckersteuer den
betreffenden Staaten 76 Procent mehr gezahlt wurden, als nach dem Verhältniß
der Bevölkerung derselben zu der des übrigen Zollvereinsgebiets zu zahlen ge¬
wesen wäre, während sie zu den gemeinschaftlichen Verwaltungskosten nur im
einfachen Verhältniß ihrer Einwohnerzahl beitrugen. Diesem Präcipuum war
jedoch eine Maximalgrenze von 20 Silbergroschen pro Kopf gesteckt, welcher
Betrag in den letzten Jahren die Regel bildete. In dem neuem Vertrag wurde
dies dahin abgeändert, daß die Nübenzuckersteuer und die Uebergangsabgabcn
ganz aus dem Präcipuum heraustreten und auf die Eingangszölle nach dem
Verhältniß der Bevölkerung ertheilt werden, so jedoch, daß, wenn die Netto¬
einnahme nicht den Betrag von Silbergroschen pro Kopf der Bevölkerung
erreicht, der Antheil der Staaten des ehemaligen Steuervereins aus den An¬
theilen der übrigen Zollvereinsstaaten auf diesen Betrag zu erhöhen ist. Diese
Garantie eines Minimums an Stelle eines in Procenten berechneten Präcipuums
setzt, nach den jetzigen Einnahmcverhältnissen veranschlagt, das bisherige
Präcipuum jener Staaten ungefähr auf die Hälfte herab, gewährt aber dabei
für die übrigen den Vortheil, daß das Präcipuum in demselben Verhältniß
immer kleiner wird, in welchem die Einnahmen aus den Eingangszöllen im
natürlichen Lauf der Dinge steigen, ja es ist die Möglichkeit vorhanden, daß
eine rasche Steigerung des Verkehrs das Präcipuum schon in der mit nächstem
Jahre beginnenden Vertragsperiode gänzlich wegfallen läßt.
'
Nur Eins war bei dieser Erneuerung derZollvereinsverträge zu beklagen:
die traurige Bestimmung, nach welcher für jede Tarifänderung und jeden neuen
Handelsvertrag Einstimmigkeit aller ZMereinsstaaten erforderlich sein sollte,
blieb aufrechterhalten, und damit ist der Fortbildung der durch den Vertrag mit
Frankreich eingeleiteten Tarifreform allerdings ein bedenkliches Hinderniß in den
Weg gelegt. Allein dies war bei der Lage der Dinge nicht zu vermeiden, und
überdies können wir uns damit trösten, daß durch die von Preußen durchgesetzte
Reform die Verhältnisse in Fluß gerathen und der zu weiterem Fortschritt
drängenden Gewalt der Thatsachen neue Anhaltspunkte gegeben sind. Nach
wiederum zwölf Jahren bekommen wir sicher einen noch freisinnigern Tarif, ja
es giebt sehr nüchterne und sachverständige Leute, die solche fernere Reform
noch früher eintreten sehen.
Wir kommen zum Schluß unseres Ueberblicks. Ein Kampf, der dritthalb
Jahre die öffentliche Meinung beschäftigt, Diplomaten und Presse in Athem
gehalten und den Unternehmungsgeist der Nation vielfach gelähmt und gehemmt
hatte, war, nachdem seine letzten Phasen sich mit erstaunlicher Regelmäßigkeit
abgewickelt, glücklich für Preußen wie für ganz Deutschland zu Ende geführt.
Die Ueberzeugung, von welcher die beiden Häuser des preußischen Land¬
tags bei Annahme des Handelsvertrags mit Frankreich und Bekräftigung einer
energischen Politik zur Durchführung desselben ausgegangen waren, und die
dahin ging, daß der Zollverein ein materielles Band des deutschen Volkes
bildet, gegen welches separatistische Coalitionen durchaus nichts ausrichten, und
daß Preußen wenigstens ein Mittel hat, seinen Willen dem libsrum volo eigen¬
sinniger Mitverbündeter gegenüber zur Geltung zu bringen, die Kündigung der
Verträge nämlich, hat sich durch die Erfahrung erhärtet und wird für künftige
Fälle von Anfang an auf preußischer Seite noch fester, auf mittelstaatlicher
weniger zuversichtlich auftreten lassen. Die betreffenden Herren in München und
Stuttgart, in Darmstadt und Wiesbaden werden erkannt haben, daß jedes
Glied im Zollverein am besten thut, sich weniger von dem Streben nach Selbst-
ständigkeit, weniger von dem Recht, einen eignen souveränen Willen zu haben,
als von dem Bewußtsein der Zusammengehörigkeit im Verbände tragen und
bestimmen zu lassen, und daß jedes Abweichen von dieser Regel, je länger es
fortgesetzt wird, mit um so tieferer Demüthigung endigen muß.
Es ist wahr, daß Preußen gesiegt hat, weil es eine gute Sache ver¬
trat, weil es sich auf die Nothwendigkeit der Entwickelung des Zollvercinstarifs
nach der Seite des Freihandels hin und auf die von dieser Nothwendigkeit
durchdrungene große Mehrheit der Bevölkerung Deutschlands stützte.' Es ist
aber ebenso wahr, daß ein so vollständiger Sieg über die östreichische Partei
im Zollverein nicht erfochten worden wäre, wenn Preußen weniger Macht¬
bewußtsein, Festigkeit und Beharrlichkeit entwickelt hätte. Oestreich hat dieser
Festigkeit gegenüber vergebens den französischen Handelsvertrag zu vereiteln und
den Zollverein zu sprengen versucht, es hat um dieselbe Zeit ebenso vergeblich
den deutschen Bund nach seiner Weise und zu seinen Gunsten umzugestalten
unternommen, weil es derselben Festigkeit auf preußischer Seite begegnete.
Wir haben Ursache zu hoffen, daß es auch jetzt, in der Schleswig-holsteinischen
Frage in Berlin dem unerschütterlichen Willen begegnen wird, das. was im
Interesse Preußens und Deutschlands liegt, durchzusetzen, und wir glauben
daß Preußen auch diesmal zu rechter Zeit das rechte Mittel finden wird, die
Betreffenden zu zwingen. Die preußischen Forderungen vom 22. Februar sind
das Minimum dessen, was Preußen zur Erfüllung seiner Aufgabe im Norden
bedarf, es muß. dieselben ungeschmälert und vor Einsetzung eines
Herzogs erfüllt sehen, wie es den französischen Vertrag ungeschmälert und vor
Verhandlung mit Oestreich ins Leben treten sieht, und es wird mit der nun
wiederholt bewährten Entschlossenheit und Beharrlichkeit seine Forderungen
erreichen, wie laut auch seine Feinde schon über das Gegentheil zu frohlocken
beginnen.
Die Debatte über die Gebäudestcuer ist einer der Brennpunkte in den
diesmaligen Verhandlungen des preußischen Abgeordnetenhauses. Hier culminirt
die Frage über das Budgetrecht des Hauses und dessen Grenzen. Die Menge
der Steuervenvcigerungen hinsichts dieser neuen Steuer, welche in den östlichen
und westlichen Landestheilen sich fanden und steigerten, die erhebliche Zahl der
Petitionen an Negierung und Haus, welche um Herabsetzung ihrer Gebäude¬
einsteuerung baten, bildeten den verhängnißvollen Hintergrund der Kämpfe auf
der Rednerbühne, und der Zorn der Regierung, welche jene Steuerver¬
weigerer rückhaltslos Verräther und Feinde jeder Regierung, jeder Ver¬
fassung nannte, und die laute Erinnerung an die große Steuerverweigerung
von 1848 mußten den Conflict der Parteien in dieser Frage verschärfen. Ueber
die Bedeutung der hier maßgebenden Artikel 99, 100, 109 gingen nicht blos
die Hauptführer der sonst fast ausnahmlos in den Cardinalpuntten überein¬
stimmenden zwei großen liberalen Parteien des Hauses, des linken Centrums
(Bockum-Doiffs) und der Fortschrittspartei auseinander, sondern selbst aus letzterer
Partei stimmte eine nicht kleine Zahl, darunter namhafte und energische Mit¬
glieder, mit dem linken Centrum. Nunmehr will, wie telegraphisch verlautet,
die Fortschrittspartei bei der Endabstimmung über. Einnahmen und Ausgaben
des Etats nochmals den Antrag auf gänzliche oder theilweise Absetzung der
Gebäudesteuer aus dem Budget einbringen. Je mehr hiernach die hochwichtige
Sache schwankt, desto mehr ist der Presse geboten, über dieselbe ihr Urtheil
abzugeben.
Die Gebäudestcuer, ursprünglich auf den Betrag von 2,843,260 Thlr.
jährlich gesetzlich veranschlagt, sollte laut Gesetz .von 1861 erhoben werden vom
1. Januar 186S. Der Budgetentwurf der Regierung für das Jahr 1866 ver¬
anschlagt sie mit 3,506,000 Thlr. wobei eine Steigerung des Steuerertrags
durch Neubauten und erhöhte Einschätzungen zu Grunde gelegt ist. Die Bud¬
getcommission des Hauses trat dieser Aufstellung der Regierung bei. Eine
Resolution des Hauses (Ur, 4.) ging auf volle Absetzung der Gebäudesteuer, eine
andere (Ur. 5.) darauf, sie nur auf Höhe des gesetzlich veranschlagten Be¬
trages Von 2,843,260 Thlr. festzustellen. Das Haus nahm nach lebhafter
Debatte am 13. Mai den Antrag seiner Commission mit 160 gegen 98
Stimmen an und billigte so die auf 3,506,000 Thlr. angesetzte Steuer. Eine
nochmalige Erörterung der Frage steht, wie gesagt, bevor.
Nun lautet Artikel 99 unserer Verfassung:
„Alle Einnahmen.und Ausgaben des Staaates müssen für
jedes Jahr im Voraus veranschlagt und aus den Staatsha ushalts-
etat gebracht werden. Letzterer wird jährlich durch ein Gesetz
festgestellt."
Artikel 100 ferner:
„Steuern und Abgaben für die Staatskasse dürfen nur, so
weit sie in den Staatshaushaltsetat aufgenommen oder durch
besondere Gesetze angeordnet sind, erhoben werden."
Endlich Artikel 109:
Die bestehenden Steuern und Abgaben werden forterhoben
und alle Bestimmungen der bestehenden Gesetzbücher, einzelnen
Gesetze und Verordnungen, die der gegenwärtigen Verfassung
uicht zuwiderlaufen, bleiben in Kraft, bis sie durch ein Gesetz
abgeändert werden."
Hieraus folgt für den vorliegenden Fall: Jede neue Steuer kann nur in
Form und im Wege des Gesetzes durch Vereinbarung der drei gesetzgebenden
Factoren eingeführt werden (vrgl. Art 62 ebend.). Nach Vereinbarung und
Publication solches Gesetzes ist die Steuer begründet, besteht sie, und eben
das Gesetz ist der Rechtstitel für die Regierung, die Steuer im Lande zu er¬
beben. Hieran ändert der Umstand nichts, daß das Gesetz erst eine bestimmte
Zeit nach seiner Publication in Wirksamkeit treten soll. Dies hat solch ein
Steuergesetz mit einer ganzen Zahl anderer Gesetze gemein, und es zweifelt bei
letzteren kein Jurist, daß das Gesetz an sich mit dem Tage seiner gesetzmäßigen
Publication besteht und nicht mehr durch Rücktritt oder Aenderungen eines der
dabei unthätigen gesetzgebenden Factoren aufgehoben oder verändert werden
kann. Es besteht unveränderlich als ein Gesetz, welches von dem und dem
Tage ab wirksam sein soll. Ganz so besteht ein solches Steucrgesetz als Gesetz,
welches, einseitig unabänderlich, der Regierung von dem und dem Tage an
das Recht zur Erhebung der Steuer geben soll und giebt.
Unsere Verfassungsurkunde giebt den Volksvertretern nicht ein Steuerver¬
weigerungsrecht nach den Grundsätzen des wahren konstitutionellen Staatsrechts;
vielmehr besitzen die Volksvertreter nur das Recht, ganz neue Steuern und
Abgaben oder die Erhöhung der schon bestehenden zu verweigern. Schon
bestehende Steuern in der einmal gesetzlich festgestellten Höhe erhebt die Ne¬
uerung verfassungsmäßig fort, ohne daß es dabei aus das Budget ankommt.
Diese Folgerungen beruhen, wie erhellt, vornehmlich auf Art. 109, der in
seinem jetzigen ganz bestimmten Wortlaute dem Art. 100 geradezu widerspricht.
Die Ursache des Widerspruches zeigt sich in der Geschichte des Art. 109.
Der Art. 109 ist nämlich der alte §. 82 des Negicrungsentwurfs vom
20. Mai 1848. Hier sollte er in dem damaligen verfassungs- und budgetslosen
Zustande die Erhebung der bisherigen Steuern und Abgaben für die Staats¬
kasse bis zur Begründung der constitutionellen Staatsverfassung sichern. Von
dort gelangte er in den Verfassungsentwurf der Nationalversammlung, aber
nur unter dessen allgemeine Bestimmungen, die entweder nur vorübergehende
Geltung haben sollten, oder nur die Ausführung der Verfassung betrafen und
nirgends sonst Platz fanden. Statt daß der v erhängnißvolle Artikel also in die
vorübergehenden Bestimmungen der octroyirten Verfassung vom S. December 1848
gehörte, verleibte man ihn den allgemeinen Bestimmungen letzterer ein. Von
hier datirt denn der krasse Widerspruch zwischen ihm und den Artikeln 99 und 100.
Daher strichen auch seinen hierher gehörigen Passus (die sieben ersten Worte)
die Nevifionscommission der zweiten Kammer und deren Plenum im September
1849, sie wollten das unverkürzte constitutionelle Steuerverweigerungsrecht der
Volksvertreter herstellen. Das erweist auch ihre Abänderung des Art. 100
(damals 99) dahin: „Steuern und Abgaben für die Staatskasse dürfen nur,
so weit sie in den Staatshaushaltsetat aufgenommen oder nach erfolgt er
Festsetzung des letzteren durch besondere Gesetze angeordnet sind, erhoben
werden." Hinsichts des Art. 109 verwies man — mit Ausnahme weniger —
auf den eben besprochenen unlösbaren Widerspruch, der, da ein verkümmertes
Steuerbewilligungsrccht der Kammer vom Gesetze nicht beabsichtigt sei, nur
durch Streichung des blos vorübergehend geltenden Art. 109 beseitigt werden
könne. (Andere Mitglieder der Kammer sahen im Art. 109 nur den Steuer-
modus festgehalten und erachteten die jährliche Bewilligung der Steuern im
Budget durch die Kammer jederzeit für nothwendig.) „Das unbedingte Steuer¬
bewilligungsrecht der Volksvertretung," hieß es damals, „ist die nothwendige
Konsequenz des constitutionellen Systems, ein Mißbrauch dieser Berechtigung
darf von vornherein nicht befürchtet werden, vielmehr wird durch Ver¬
kümmerung des Steuerbewilligungsrechtes ein fortwährender
Conflict zwischen Regierung und Volksvertretung hervorgerufen.
Wie der Krone in Betreff des absoluten Veto, so gebührt der Volksvertretung
in Betreff des Steuerbewilligungsrechtcs das Vertrauen, daß sie davon einen
den wahren Interessen des Landes entsprechenden Gebrauch machen wird."
Der Centralausschuß der ersten Kammer nahm im Wesentlichen die Revision
der zweiten Kammer an, nur beantragte er, statt Art. 109 zu setzen: „Tritt
eine Verzögerung der Feststellung des Etats dadurch ein, daß sich beide Kam¬
mern über den Etat nicht vereinigen können, so werden die bisher bewilligten
Steuern bis zur Einigung forterhoben." Aber das Plenum des ersten Hauses
hielt die streitigen Worte des Artikel 109 durch wiederholte Berathungen und
Beschlüsse im October 1849, indeß nur mit 84 gegen 37 Stimmen schlechter¬
dings aufrecht, während es die Art. 99 und 100 wesentlich in der heutigen
Fassung genehmigte. Da schließlich die zweite Kammer bei RückWeisung ihrer
Revisionsvorschläge Seitens der ersten Kammer an sie von den obigen. Be¬
schlüssen nirgend abging, wurden die einander aufs ebenden Artikel 99.
100. 109 in der Fassung des Textes der Verfassungsurkunde
mit gleicher Geltun g nebeneinander beibehalten.
Aus den Motiven der Beschlüsse und Anträge, sowie aus den Debatten
obiger Verhandlungen ergiebt sich übrigens, daß. wie heute, eine erhebliche
Meinungsverschiedenheit obwaltete in dem Verständniß der „bestehenden
Steuern und Abgaben" des Art 109. Die Einen behielten und behalten hier¬
bei die obige Geschichte des Art. 109 im Auge und erklären den Ausdruck mit:
die damals. 1848, bestehenden Steuern und Abgaben; daher.lautet der Passus
in den Revisionsverhandlungen von 1849 oft: die gegenwärtig bestehenden
Steuern". Die Andern faßten und fassen die Worte als allgemein giltige
Bestimmung: die jedesmal bestehenden Steuern und Abgaben. Jene aber
glaubten eben wegen seiner nur geschichtlichen, nur vorübergehenden Geltung
den fraglichen Passus des Art. 109 streichen zu müssen. diese dagegen wollten ihn
als eine bleibenden Bestimmung aufrecht erhalten wissen. Nun ist aber, wie
gezeigt, der Art. 109 ein bleibender Bestandtheil unsrer Verfassungsurkunde
geworden; er stehr zwar nicht, wie es richtig wäre, in Titel VIII von den
Finanzen, sondern unter den „Allgemeinen Bestimmungen", nicht aber unter
den Uebergangsbestimmungen. Sonach bleibt für seine Auslegung das Ver¬
ständniß derer maßgebend, welche ihn 1849, als er ein bleibender Artikel wurde,
eben in dieser Stellung auffaßten und vertheidigten. Und diese sahen den Art.
109 ausdrücklich als eine Einschränkung des in den Artikeln 99 und 100
begründeten unbegrenzten Steuerbewilligungsrechtes der Volksvertreter an und
als eine nothwendige Einschränkung, um, wie es in der Revisionskommission
der zweiten Kammer ausgesprochen wurde > die Gefahren des Steuerverweiger¬
ungsrechtes der Kammern zu vermeiden, wodurch das absolute Veto der Krone
vernichtet werden und die ganze Staatsmaschine ins Stocken gerathen könne.
Schärfer noch drückte sich der Centralausschuß der ersten Kammer dahin aus:
Man dürfe keinen derartigen Unterschied zwischen gewöhnlichen
Gesetzen und Steuergesetzen durch Streichung des Art. 109 statuiren,
widrigenfalls man die Kammer über den König erhebe, wenn einer Kammer
allein das Recht der Aufhebung bestehender Steuergesetze beigelegt werde. ES
sei ein den Keim der Revolution in sich tragender Grundsatz, wenn die Ver-
fassung festsetze, daß die einfache Weigerung einer der beiden Kammern ein
neues Budget festzusetzen, die Forterhebung der bestehenden Steuern verhindern
könne. Ebenso wurde damals (1849) von Seiten der Staatsregierung aus¬
drücklich bestritten, daß der Art. 109 nur eine vorübergehende Bedeutung habe.
Dergleichen Zeugnisse für die Ausfassung des Art. 109 als eines bleibenden
und als eine absichtliche Beschränkung der Art. 99 und 100 lassen sich aus de»
Revisionsverhandlungen der Kammern 1849 in Menge beibringen; man verwies
dabei gerade auf Art. 99, welcher den Kammern das Ausgabeverweiger¬
ungsrecht an Stelle des in Art. 109 enthaltenen Steuerverweigerungs¬
rechtes sichere.
Aus dieser geschichtlichen Vorführung erhellt der oben angegebene Sinn des
heutigen Art. 109. Er beschränkt auf das Aeußerste in der angegebenen Weise
das constitutionelle Steuerbewiliigungsrecht (Art. 99. und 100.) der Volksver-
treter und bleibt — eine neue Perle unseres Scheinconstitutionalismus — in
der Hauptsache bei dem Beschlusse der Bundesversammlung vom 28. Juni 1832
(!) Art. 2 stehen: „Keinem deutschen Souverain dürfen durch die Landstände
die zur Führung einer der Landesverfassung entsprechenden Regierung erforder¬
lichen Mittel verweigert werden." (v. Meyer, Lorx. covst. Kerw. I. p. 74.)
Mag man dies für Preußen und Deutschland noch so unwillig tragen,
noch so schwer fühlen, man muß es als geltendes Gesetz der Gegenwart an¬
erkennen und kann es nur auf gesetzlichem Wege ändern (Art. 107; 62.).
Wendet man die bisher entwickelten Grundsätze auf die in gewissem Sinne
noch schwebende Frage der Gebäudesteuer an, so zeigt sich, daß die zweite Kammer
nicht berechtigt war, den auf Grund des Gesetzes von 1861 durch die
Regierung in dem Budgetentwurf von 1865 aufgeführten Posten der Gebäude-
steuer lediglich abzusetzen. Denn die gesetzlich seit 1861 bestehende, vom 1. Januar
1865 ab fällige Steuer konnte gemäß Obigem verfassungsmäßig nur ein Gesetz
beseitigen. Die Gründe, welche die Redner der entgegengesetzten Ansicht, be¬
sonders Waldeck, Löwe. Schulze-Delitzsch, am 13. Mai d. I. für die von ihnen
beantragte und vertheidigte Absetzung der Steuer anführen, erweisen sich als
nicht stichhaltig.
Waldeck sieht die Steuer als noch nicht bestehende dem Hause gegenüber
an, weil sie erst mit dem 1. Januar 1865 fällig, das Budget aber gemäß
Art. 99 der Verfassung vor Beginn des Budgetjahres festgestellt werden soll.
Wenn auch die Praxis bisher das „im Voraus" des Art. 99 stets illusorisch
gemacht hat, ja nach dem Gesetze vom 18. Mai 1857 über die Einberufung
der Kammern vom November bis Mitte Januar illusorisch machen muß, so
hat Waldeck doch sicher darin Recht, daß das Haus die Gebäudesteuer jetzt so
ansehen muß, als wäre sie vom bevorstehenden 1. Januar 1865 erst fällig.
Aber, wie oben gezeigt, liegt darin kein Heil für Waldccks Ansicht. Die
Steuer ist zwar erst vom 1. Januar 1865 fällig, aber das Recht der Regierung
und die Pflicht der Bürger, sie von dieser Zeit ab zu fordern resp, zu zahlen,
bestehen schon seit dem Gesetze von 1861 und durch dieses. Damit besteht be.
reits die Steuer vor dem 1. Januar Itz65. Schon durch das Gesetz von 1861
allein sind die preußischen Staatsbürger gemäß Art. 99, 100. 109 verpflichtet,
vom 1. Januar 1865 ab der Regierung die Gebäudesteuer zu zahlen; denn für
die Steuerforderung der Regierung ist jenes Gesetz der genügende Rechtstitel.
Andrerseits würden aber auch die Volksvertreter obige Artikel der Verfassung
verletzen, wenn sie die gemäß obiger Ausführung nunmehr bestehende Steuer
in dem Budget für 1865 — mag dies an sich zur Erhebung der Steuer auch
nicht mehr erforderlich sein — nicht annähmen, sondern verwürfen. „Denn
die bestehenden Steuern bilden eine verfassungsmäßig nothwendige Einnahme-
Position des jedesmaligen Budgets." — Was Waldeck alsdann zur geschichtlichen
Interpretation der Artikel 99, 100 und 109 anführt, ist gewiß nicht mit dem
wohlfeilen und ungehörigen „Kammerklatsch" des Abgeordneten Stavenhagen
gegen Frentzel abzufertigen, findet aber in obiger geschichtlicher Ausführung
seine Erledigung. Versteht er unter den „bestehenden Steuern und Abgaben"
des Art. 109 nur diejenigen, welche 18S0 bestanden, so faßt er den Art. 109
immer noch als Uebergangsbestimmung, nicht als den bleibenden Theil der Ler
fassung. als welcher Art. 109 heute in unsrer Verfassungsurkunde steht, und
zu welchem er auf dem oben gezeichneten geschichtlichen Wege wurde. Dies
aber ist der Angelpunkt des ganzen Widerstreits der Ansichten. Wenn Gneist
davon absehen, den Art. 109 fortdenken will und nur betont, die Gebäude-
steuer beruhe auf dem Gesetze von 1861 und dieses könne nur durch ein
Gesetz in Uebereinstimmung der drei gesetzgebenden Factoren (Art. 62) ganz oder
theilweise beseitigt werden, so hilft dies zur Erledigung des Conflictes gar
nichts; denn das ist ja eben die principielle Frage hierbei, ob und in wie weit
ein Steuergesetz, wie das von 1861, durch die Artikel 99, 100 und 109 nicht
von den allgemeinen Bestimmungen der Verfassung über die Viränderung und
Aufhebung der Gesetze ausgenommen sei. Zur Erledigung dieser Frage muß
man auf den Art. 109 eingehen.
Löwe vindicirt — gegenüber den obigen Artikeln der Verfassung ohne
gesetzlichen Grund — der Kammer ein volles constitutionelles Steuerbewilligungs¬
recht. Dann führt er aus, die Umstände, welche 1861 das Gesetz über die
neue Steuer nöthig machten, hätten alle sich jetzt geändert. (Staatsausgaben,
gesteigerte Einnahmen, erschöpfte Steuerkraft, Budgetlosigkeit.) Daher würden
die damaligen Gesetzgeber heute nicht das Gesetz der Gebäudesteuer annehmen;
auf die lAtio Isgis komme es an. — Man ersieht, der Redner verwechselt eben¬
falls die Fälligkeit der Steuer vom 1. Januar 1866 mit dem seit 1861 bereits
bestehenden Gesetze ihrer Begründung. Laut obiger Ausführung muß er zur
Verwirklichung seiner Ansichten ein Gesetz beantragen über die Beseitigung der
Gebäudesteuer, oder über die Erweiterung des Steuerbewilligungsrechts des Ab¬
geordnetenhauses zu einem wirklich constitutionellen. Beides wäre vergeblich
und das ist trostlos — aber gesetzlich. Der von Löwe und seinen Stimmge¬
nossen in dieser Frage angerathene oder beantragte Hilfeweg verläßt den ge¬
setzlichen Boden. Will man das, so bedarf es keiner Debatte, keiner Beschlüsse.
Schulze-Delitzsch bringt einen ganz neuen Gesichtspunkt in die Frage.
Er sagt: Etatistrt müssen die Steuern werden; die Etatisirung entscheidet darüber,
ob im laufenden Etatsjahr die Steuer für die bestimmten Staatszwecke bewilligt
werden soll , oder nicht; die Verfassung sagt klar, daß alle Ausgaben im Etat
angesetzt und Don der Landesvertretung genehmigt werden müssen; auf Grund
dessen ist das Haus berechtigt, wegen Ueberlastung des Volkes, ja schon wegen
der Regierung zugestandner unrichtiger Veranlagung der Gebäudesteuer diese
im Etat zu streichen. — Diese Satze entbehren der gesetzlichen Grundlage.
Steuern brauchen uicht etatisirt zu werden, lehrt Art. 109. (Nicht auch schon
der zweite Theil des Art. 100?) Das Steuergesetz allem, so hier dasjenige
von 1HK1. berechtigt die Regierung zur Forderung, verpflichtet die Bürger zur
Zahlung. Das Recht zur Bewilligung oder Verweigerung der Staatsausgaben
besitzt allerdings die Landesvertretung unbegrenzt. Denn Art. 99 stellt als
Rechtstitel der Ausgaben nur das von den Volksvertretern genehmigte
Budget sest. Art. 109 laßt die einmal bestehenden Ausgaben nicht sortbestehn
bis zur gesetzlichen Aufhebung. Die Verfassung kennt keinen andern Rechts«
titel dafür als das Budget; der Minister, welcher eine noch im Etat unbe-
willigte Ausgabe macht, verletzt die Verfassung, die Ausgabe hat keine gesetz¬
liche Grundlage; das Ausgabedewilligungsrecht soll dem Volke ein gleich wirt«
sames constitutionelles Zwangsmittel, wie sonst das Steuerbewilligungsrecht,
sichern. Alle diese Sätze sind in den Debatten der Revision der Verfassung 1849,
dann 18SS, 1861 Wiederholt von beiden Kammern anerkannt, selbst der da>
malige Finanzminister v. Rabe forderte, eben weil er sie ausdrücklich als
richtig bezeichnete, eine verfassungsmäßige Prolongation des alten Etats in
das neue Budgetjahr hinein bis zur verspäteten Feststellung des neuen Budgets.
Allein diese noch so weite Ausdehnung des Ausgabebewilligungsrechts hilft
nichts für die Gebäudesteuer. Schulze vergißt, daß für Erhebung der bestehen-
den Steuern ausdrückliche und vn.n den Ausgaben gesonderte Bestimmungen
der Verfassung existiren. Nach ihnen, den obigen , erhebt die Regierung diese
Steuern zweifellos berechtigt fort, und das Abgeordnetenhaus kann daran
nichts streichen, nichts hindern. An den Posten der Ausgaben mag es än¬
dern und verwerfen, so viel es will, bei den Steuern, und so bei der Gebäude¬
steuer, zieht der Art. 109 ihm eine feste Grenze. Welche Mißverhältnisse etwa
durch solche Bestimmungen zwischen Ausgaben und Einnahmen im Staats¬
budget erwachsen können, hat dieser Aufsatz nicht zu erörtern, noch zu verant¬
worten. — Die Grundsätze, welche Schulze hierbei entwickelt, sind wirthschaft¬
lich und rechtlich durchaus zu billigen, — sie stehen nur nicht in unserer Ver¬
fassung, vielmehr sagt diese im Art. 109 gerade das Gegentheil.
Wenn also am 13. Mai das Abgeordnetenhaus die Gebäudesteuer im
Wert stehen lieh und nicht absetzte, blieb es auf gesetzlich-verfassungsmäßigen
Boden. Ob es bei der beabsichtigten neuen Beantragung, den Posten zu streich««,
steh von jenem Boden entfernen wird oder sollte, ist hier nicht zu untersuchen.
Wo ist die genaue Grenze des Gesetzes? dies sollte untersucht und ausgesprochen
werden. Mag das Resultat noch so sehr dem. der es aussprach und den
Lesern unconstitutionell. unjuristisch, unwirthschaftlich. unvernünftig erscheinen,
mag es die Leidenschaft des Herzens erregen über solche Fesseln einer con-
stitutionellen Volksvertretung, einer constitutionellen Verfassung, es trägt einen
unersetzlichen Vorzug mitten in die Parteiconflicte: das Sichere der Wahrheit.
Diese dient stets einer politisch durch und durch aufgeregten Zeit, wie ganz
vornehmlich jetzt uns Preußen, wo wir unsre Verfassung, ja unsere wirth-
schaftlichen, unsere Rechts-und unsere öffentlichen Sittenzustande allseitig und dauernd
gefährdet sehen. Der Abgeordnete Ziegler ruft am 19. Mai im Hause aus: „Täglich
geschieht Ungeheures vor unsern Augen, aber wir sehen es kaum vor lauter
Abstumpfung durch die Wirthschaft in diesen langen Jahren. Wir sind ange¬
kommen an der Stelle, an der eine vollständige Desorganisation der Geister
eintritt, die Armand Marrast in einer Vertheidigung vor dem französischen
Pairshofe richtig bezeichnete, indem er ausrief: die Perversität ist Euch von
dem Unterleibe ins Gehirn gestiegen, Ihr könnt nicht mehr denken!" In
solch«» Zeiten ist es letzter, äußerster Gewinn, genau die Grenze des noch
geltenden Gesetzes vor Augen zu sehen, und wäre es nur. um danach die
Schritte zu bemessen über das Gesetz hinaus.
Eine Frage zum Schluß. Schulze-Delitzsch ist so beflissen, ein richtiges
Verhältniß zwischen Staatsausgaben und Einnahmen, zwischen Staatsausgaben
und Vvlksbelastung herzustellen. Schon vor Berathung des Budgets hielt die
Provinzialconespondenz den liberalen Parteien die „unglaubliche Leichtfertigkeit"
vor, mit der sie die Quanta der einzelnen Posten des Budgets behandelten.
Nun sind 7 Millionen Thlr. im Militärelat gestrichen, in anderen Posten
eine Zahl kleinerer Summen; erhöht wurde kein Ausgabeetat. Und trotzdem
bewilligten Commission und Haus die Veranlagung der Gebäudesteuer mit
3,506,000 Thlr., während sie ursprünglich (Gesetz von 1861) nur auf 2.843.260 Thlr.
veranschlagt war und während eine Resolution (Ur. ü.) ausdrücklich beantragte,
obige Erhöhung der Steuer aus letzteren Betrag herabzusetzen, oder vielmehr
den Posten auf letzteren, gesetzlichen Betrag festzusetzen.
Kein Gesetz stand und steht hier dem Hause entgegen. Die „bestehende
Steuer des Gesetzes von 1861" beruhte nur auf 2.843,260 Thlr., die Erhöhung
im jetzigen Budgetentwurf um 662.740 Thlr. ist eine neue, an der selbst
Art. 109 der Verfassung dem Hause das Steuerverweigerungsrecht zugestehen
muß. — und trotz alledem und bei so triftigen Gründen zu Ersparnissen selbst
derer, die jetzt für die ganze Post der neuen Steuer stimmten, giebt man der
»budgetlosen", „verfassungswidrigen", „von jedem „Vertrauen ausgeschlossenen"
Regierung hier freiwillig fast 700,000 Thlr. und setzt damit die Steuer für
die Zukunft mindestens auf 3Vs Million jährlich fest.
Wo bleibt hier die Berücksichtigung des richtigen Verhältnisses zwischen
Ausgaben und Einnahmen im Etat, zwischen Ausgaben und Belastung des
Volkes?
Wir haben in unseren bisherigen Erörterungen das geometrische Element
des gothischen Stils außer Acht gelassen, um dessen willen Julius Meyer ihm
den eigentlich künstlerischen Charakter abspricht. Aber wir glaubten der Sache
nur ihr Recht zu thun, wenn wir denselben Weg einschlugen, den die unbe¬
fangene Betrachtung der Werke selbst nimmt, nämlich von der Aufnahme des
Ganzen durch die Aneignung der Theile in die Untersuchung des constructiver
Princips hinein. Es ist nun wahr, daß ein gothischer Bau aus einer zu
Grunde gelegten Quadratur oder Tnangulatur, nämlich aus den möglichen
Uebereckstellungen von gleichseitigen Dreiecken und Quadraten mit Hinzunahme
des Kreises entworfen wird oder entworfen werden kann. Die Formel des
Ganzen liegt im Chorabschluß; „aus des Chores Maß und Gerechtigkeit", wie
die alten Meister es nennen, entwickelt sich alles. In der Figur, aus welcher
der Chor geschlossen wird, und der ihr zu Grunde liegenden Hilfsconstruction
liegen alle Maße, welche zur Anwendung kommen, Länge und Breite des
Langhauses und der Flügel, Weite der Pfeilerabstände, Weite der Fenster,
Stärke der Mauern und Strebepfeiler; der Aufriß wiederum enthält die Seiten¬
linien oder Diagonalen oder Cubusdiagonalen u. s. w. der Grundfigur als
Vielfache; die Gliederungen und Verzierungen endlich, die Abfasungen, Wasser¬
schläge, Hohlkehlen. Plättchen, Nasen, das Maßwerk, selbst die Grundformen
des Laubwerkes lassen sich aus der Quadratur der Mauerstärke finden. Man
sieht, die gothische Baukunst verfährt auf dieselbe Weise, wie die gothische
Denkkunst. Die eine wie die andre greift der Stoff mit einer fertigen Formel
an und freut sich, ihn von Außen her zu bewältigen. Aber haben sie ihm
darum den Geist ausgetrieben? Wer würde, wenn er etwa durch die Werke des
Thomas von Aquino in den Geist seiner Zeit eindringen wollte, ihre idealistische
Begeisterung spüren? Und doch war sie vorhanden, und doch stand sie im innig¬
sten Zusammenhange mit der Formelphilosophie des Thomas und war — wir
haben es oben angedeutet — durch dieselbe entbunden. Und ähnlich verhält
sichs mit den Architekturerzeugnissen jener Periode, nur daß hier das Formel¬
hafte, Schematische dem Stoffe an und für sich angemessen ist. Aber wer sollte,
wenn er gothische Bauwerke selbst noch nicht gesehen hätte, aus einer solchen
geometrischen Constructionsregel auf einen feierlich ergreifenden Bau schließen? Die
Wahrheit ist. daß man, wenn man hier wie dort das Leben selbst betrachtet,
auf die Formel gar nicht räth. Und was ist damit gesagt, wenn behauptet
Wird, die Facade des kölner Domes sei nur die verständige Durchführung eines
gegebenen poetischen Gedankens? Dasselbe läßt sich von einer vachschen Fuge
sagen, und doch läßt sie den, der einmal Sinn für ernsten Stil hat, nicht
wieder los, auch wenn er dem Geheimnisse ihres Satzes beigekommen ist; und
doch wird kein Lebender, auch mit der Regel in der Hand, dem Meister eine
solche Fuge nachthun. Und bemerkenswerth ist es doch auch, daß die Einsicht
in die geometrische Grundlage des gothischen Stils erst so spät, erst zuletzt
gewonnen wurde. Vorauf ging jene besondere von Sir James Hall ausge¬
bildete Theorie, die von dem unmittelbaren Eindrucke ausging, und die in den
Schäften die Nachbildung von Bäumen, in den Rippen die von gegeneinander-
gcneigten Zweigen, in dem Maßwerke geflochtenes Weidenwerk sah. Dann
suchte man alle Formen der Gothik auf die des gleichseitigen Dreiecks zu
reduciren und, da diese Reduction nicht überall zutraf, so gab man das Ge¬
heimniß der Gothik verloren. Da gewährte ein Büchlein des regensburger
Dombaumeisters Mathäus Roriczer (vom Jahre 1486) und ein von Stieglitz
herausgegebenes Manuscript aus der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts will¬
kommenen Aufschluß, einige aufgefundene Steinmetzenmeisterstücke gaben Er¬
läuterung, und nun stellte Friedrich Hoffstatt in seinem „gothischen ABC"
(1840) die gewonnenen Einsichten systematisch zusammen. Das ist der Gang,
den die Erkenntniß gothischer Kunst nahm. Und wann und wo überhaupt
begann er? Nach langer allgemeiner Abneigung gegen die Gothik zog sie erst
in der Sturm- und Drangperiode wieder das Interesse der stürmischen brausen¬
den Jugend aus sich. Goethes dithyrambischer Erguß „von deutscher Bau¬
kunst" wird die erste Schutzrede sein, die ihr zu Theil wurde. Und was sah
er dem Straßburger Münster ab? „Ein ganzer, großer Eindruck," sagt er,
»füllte meine Seele, den, weil er aus tausend harmonirenden Einzelnheiten
bestand, ich wohl schmecken und genießen, keineswegs aber erkennen und erklären
konnte." Wie Bäume Gottes gemahnte ihn der überraschende Anblick. Dem
Welschen aber wirft er vor, ganz hingenommen von der großen lebensvollen
Erscheinung, die er für die eigentlichste Offenbarung deutschen Geistes hält, daß
er bei feinen Bauten weniger gefühlt als gemessen, mehr.gerechnet als un¬
mittelbare Empfindung zum Ausdruck gebracht habe. Und hiernach warfen
sich die Romantiker, die doch sonst alle Regel durchbrachen, in das Lob der
gothischen Bauwerke und priesen sie als Erzeugnisse eines wahlverwandten
Geistes.
Es kann demnach das geometrische Element des gothischen Stils sich doch nicht
so auf Kosten des freien, phantastischen hervorthun, daß es ihm zur Verurtheilung
gereichen könnte. Von Nachahmungen, natürlich, sehen wir ab. Die aufge¬
fundenen Meistermodelle dürfen hier ebensowenig in Betracht kommen; denn
die Prüfung hat vor allem die sichere Handhabung der Regel zu fordern.
Daß es aber einen ausgeführten älteren Bau gebe, an welchem die handwerks¬
mäßig peinliche Durchführung der zu Grunde gelegten Triangulatur oder
Quadratur ohne Rest nachgewiesen werden könnte, müssen wir bezweifeln.
Die geometrische Regel ist, um es mit einem Worte zu sagen, die Metrik des
in Steinen dichtenden Baumeisters. Der jambische Trimeter sollte der Regel
nach aus einer Reihe von sechs Jamben bestehen, aber in Wahrheit zeigt
er neben dem Jambus den Tribrachys, den Spondeus, den Daktylus, den
Anapäst, den Proceleusmaticus. und doch hält die Gewalt des Rythmus den
Charakter der Versart fest, die durch solche Auflösungen an Reiz nur gewinnt.
So verhält sichs auch mit Maß und Gerechtigkeit der gothischen Baukunst. Daß
sie überall ihrem Material bestimmte Maßverhältnisse auflegt, hat sie mit aller
Baukunst gemein — Dicke und Verjüngung der griechischen Säule haben ihr
Maß an deren Höhe, die Höhe an den Grundverhältnissen des Baues — ja
sie erfüllt darin nur die erste Bedingung aller künstlerischen Production über¬
haupt. Ihre besondere Methode aber, die Maßverhältnisse zu entwerfen, ist
so frei wie irgend eine und läßt alle möglichen metrischen Auflösungen zu.
Aus derselben Triangulatur läßt sich der normale, der gedrückte, der überhöhte,
der geschweifte Spitzbogen entwerfen, läßt sich ein niedrigstes, ein mittleres,
ein höchstes Maß für jedes Glied finden. Sind im Entwürfe der Proportionen
die Zahlen 2, 4. 8 dominirend, so bietet die Gothik Vermittelungen und Uever-
gänge genug dar, um auch aus der 3. und ihren Vielfachen Bildungen zu unter¬
nehmen. Wie wenig Zwang in den geometrischen Regeln der Gothik liegt,
beweist der große Unterschied im Charakter des englischen Kirchenstils mit seinen
breiten, gedrückten Fenstern und seinen Zinnenthürmcn und des deutschen mit seinen
durchgehends hohen und schlanken Formen.
Wir gehen nun mit wenigen Worten auf die praktischen Beziehungen
unseres Gegenstandes ein. Wenn wir trotz unserer Sympathie für den gothischen
Stil die Frage, ob man denselben bei kirchlichen Neubauten anwenden solle,
nicht ohne, Weiteres bejahen, so geschieht es nur, weil wir uns der schwierigen
Bedingungen bewußt sind, unter denen ausschließlich er zur Anwendung kommen
darf. Es braucht da einen Künstler, der so im Geiste jenes religiösen Idealis¬
mus zu denken und zu schaffen versteht, daß nicht nur die Formen im Großen
und Ganzen ihn offenbaren, sondern daß sich auch im Einzelnen nichts Fremd¬
artiges einschleiche; und es braucht da, nicht zwar der „fanatischen Anstrengungen
eines ganzen Geschlechts", aber der allerreichsten Mittel, denn ihrer Natur nach
darf die Gothik nicht einfach sein. Eben hierin wird bei gothischen Neubauten
so oft gefehlt. Nachdem man anfangs — und die Manier der Nachahmung
hielt mit der Entwickelung der Erkenntniß gothischen Wesens gleichen Schritt
— durch Aufkleben gothischer Zierrathe den rechten Effect erzielt zu haben
meinte, nachdem man den Spitzbogen wie ein Schiboleth behandelt und in die
massivsten Mauern gothische Fenster gebrochen hatte, die vielmehr Kellerluft
als Himmelsluft athmeten griff man zum deutschen Steinmetzengrunde und
schuf jene eckigen, nüchternen, poesielosen Bauten, die aus dem ersten besten
Kinderbaukasten modellirt schienen. Da war denn freilich ein gegebenes Motiv
verständig durchgeführt, aber das Motiv war kein poetisches.
Der Behauptung aber, daß die Gothik in unserer geistigen Welt keinen
Grund und Boden mehr habe, werden wir nicht beipflichten. Sie ist wenig¬
stens um nichts wahrer als die, daß die Kirche überhaupt von den Anschauungen,
die uns erfüllen, nicht mehr getragen werde. Daß beides in gewissem Sinne
und für den Augenblick, und wenn wir blos äußere Thatsächlichkeiten ins Auge
fassen, seine Wahrheit habe, wollen wir nicht läugnen. Im Gegentheil, es ist
Thatsache : die herrschende Theologie — und sie vermeint denn doch die Kirche
zu sein — wird von unserer gebildeten Welt, von der, die wir mit dem Namen
Lessings kennzeichnen wollen, nicht mehr verstanden, nicht anders wenigstens
denn als ein pathologisches Problem; und die herrschende Theologie ihrerseits
thut, als ob sie diese Bildung, ihre Aufgaben und ihre Sprache nicht verstände.
Man mag dies nun beklagen oder nicht; die strebende, kämpfende Welt, wie
sie verbündet mit den Mächten der Wissenschaft, der Arbeit und des Capitals
in tausend und abertausend Genossenschaften und Verbindungen daran arbeitet,
die Kräfte der Erde zu entbinden und nutzbar zu machen, thörichte Vorurtheile
zu beseitigen, welche die Production hindern, die Summe der Lebensgüter zu
mehren und den Menschen durch Arbeit und Bildung unabhängiger und höher
zu stellen: diese Welt voller „Kinder der Welt", behilft sich einstweilen ohne
Kirche, und die Theologen constatiren das sonntäglich aller Orten. Mit
der Religion dieser Welt aber steht es anders wie mit ihrer Kirchlichkeit.
Nicht blos daß sie keine Hexen mehr verbrennt und keine Verfolgungen mehr
anstellt, sondern sie entwickelt einige positive Eigenschaften, die uns sehr werth-
voll und mit der Religion nahe verwandt scheinen. Ist sie zwar zur Resignation
wenig geneigt, so arbeitet sie dagegen und arbeitet mit einem Eifer, einer
Rüstigkeit, einem Vorwärtsdringen, daß kein Zeitalter etwas entfernt Aehnliches
aufzuweisen hat. Mammonsdienst! schallt es aus den Gotteshäusern. Nun
gut, etwas Mammonsdienst allerdings; aber Mammon ist heutzutage kein
wollüstiger Sultan, sondern ein Herkules von einem Arbeitsknechte. Und so¬
dann, diese Weltkinder arbeiten nicht mehr ein jedes für sich, sondern in großen
Verbindungen.. Die sociale Signatur unserer Zeit ist die Genossenschaft. Und
alle Genossenschaft ist Zucht zum Ganzen und erstickt den Egoismus. Somit
hat sie, mehr wollen wir nicht sagen, mit der Religion die Wirkung gemein.
Keine Spur von Sentimentalität freilich in diesen großen gemeinschaftlichen
Actionen, aber sie reißen den Menschen aus sich hervor, nöthigen ihn. seine
Muskeln anzuspannen, in lebendigem Streben sich jun, zu erhalten, flößen
ihm freudigen Lebensmuth ein und lassen die Laster nicht aufkommen, die der
Einsamkeit und Faulheit entstammen. Sollte die Zeit nicht kommen, wo dieser
Geist der Arbeit und der Genossenschaft seiner selbst bewußt wird, sich tiefer
erfaßt und erkennt als das, was er ist, wo er die Anknüpfung wiederfindet an
die zerrissene religiöse Entwickelung? Wo der Mensch neben jenem Hange zur
bloßen Realität auch den Trieb in sich wiedererkennt, den Inhalt seines Lebens
in symbolischen Formen anzuschauen und mit sich selbst und seinem Gott in
innerer Ruhe allein zu sein? Stunden der Sammlung gegen die zerstreuenden
Einflüsse des Lebens zu haben?
Bis dahin — aus welchem Geiste soll man Kirchen bauen? Aus dem
des jungen Geistlichen, der unter innerer Selbstanklage die Kanzeltreppc hinauf-
steigt, um oben den heiligen Wahrheitstrieb seines Herzens todtzupredigen und
der heruntersteige mit der Frage, wie man es anfangen solle, sich den Glauben
anzueignen, den Gott allein als ein Geschenk der Gnade in uns legt und ohne
den wir doch verdammt werden? Oder aus dem Bewußtsein dessen, der da
weiß, daß er ein Protestant ist, weil er mit seiner Unterschrift den Buchstaben
des protestantischen Bekenntnisses zu lehren zugesichert hat. und der sich nun
gegen Zweifel und Ueberstürzung. gegen Aberglauben und Unglauben assecurirt
fühlt? Oder dessen, der am liebsten in den beruhigenden Zwang der allein¬
seligmachenden Kirche zurückkehrte? Oder soll man für die Laienwelt bauen,
wie sie nun einmal ist, tüchtig und nüchtern und poesielos? In ihrer Neigung
für das Wesentliche, Praktische würde sie den schmucklosen herrnhutischen Bet¬
saal ausreichend und angemessen finden. Gott bewahre uns davor! Von den
Vielen aber unter Geistlichen und Laien, die innerlich religiös, aber frei von
dem Zwange todter Ueberlieferungen, die bessere Zukunft erstreben und erhoffen,
einstweilen ein praktisches Christenthum leben und ihr religiöses, wir meinen
hier ihr Cultusbedürfniß, gelegentlich und in freien Formen befriedigen, wie
sie der Zufall bietet, von diesen braucht hier nicht die Rede zu sein, weil sie
der Zukunft angehören.
Weder der gothische, noch der romanische, noch der Basiiikenstil träfe jeht
auf ein allgemeines inneres Bedürfniß. Würde es'der Renaissancestil thun?
Die kirchliche Renaissance — von der weltlichen sprechen wir hier nicht — ist,
wie sie sich bis jetzt entwickelt hat, eine unerfreuliche Mischung aller Stilarten.
Sie zerstreut den Geist, ohne ihn emporzureißen; sie macht ihn gleichgiltig,
ohne ihn zu ruhiger Annahme des Göttlichen zu stimmen. Sie ist recht das
Product einer Zeit, die nicht mehr kirchlich war, aber doch die alten Formen
nicht antasten mochte, auf die Gefahr hin, gelegentlich einmal wieder einge-
fangen und eingeschmiedet zu werden. Viel Reichthum und wenig Empfindung,
das verlegen gegebene, geziert überreichte, überladene Geschenk abgekühlter
Freundschaft. Ein wahres Jesuitenproduct, weil nur äußere Unterwerfung,
Convenienz, nicht inneres Ergriffensein ausgedrückt wird. So wahr es ist. daß
die Religion das Leben wie die Seele ihren Leib durchdringen soll. — wenn
man etwa dies aus der halbweltlichen Renaissancekirche herauslesen wollte —
so fragt sich doch, ob sich diese Beziehung durch Einmischung weltlicher Motive
in den kirchlichen Grundcharakter des Baues bezeichnen lasse. Ob es überhaupt
in den Mitteln der Architektur liegt, ein solches complicirtes Verhältniß wirksam
zu gestalten? Sie stellt für den ungebrochenen, naiven, in ungetrübter Un¬
mittelbarkeit lebenden Griechen den Tempel hin, die Basilika für die feierliche
Erwartung der Christenheit, welche der zweiten Zukunft Christi entgegensah,
den romanischen Dom für das vor den Augen der anbetenden Menschen sich
vollziehende Geheimniß des Erlösungsopfers, für eine Religion endlich, welche
das Diesseits verwarf und nur das Jenseits wollte, das gothische Münster.
Hier waren lauter deutlich ausgesprochene, einfache Verhältnisse darzustellen.
Aber eine innere Bewegung des religiösen Bewußtseins, ein Wegflreben vom
Einzelnen und Nächsten zum Allgemeinen und Höheren, und wieder ein Zurück¬
greifen ins Irdische auszudrücken, wird außer dem Vermögen der Archi¬
tektur sein.
Wenigstens hat es der Protestantismus nicht zu einem besonderen Kirchen¬
stile gebracht. Und warum soll er suchen es zu thun? Wollte man für den
Protestantischen Gottesdienst bauen, wie er nun einmal ist, so würde, wie ge¬
sagt, der einfache herrnhutische Saal genügen; denn die Predigt hat alle anderen
Cultusfactoren so gut wie ganz absorbirt. Wir nehmen selbst den Gemeinde¬
gesang nicht aus, der im Laufe der Zeit bis zur vollständigen Unerquicklichkeit
vernachlässigt ist. Der Kriegszustand, in welchem die junge evangelische Kirche
durch unglückliche politische Verhältnisse länger, als gut war, erhalten wurde und
in dem die Predigt sich als ihre natürliche Waffe darbot, hat sich gar über den
Religionsfrieden hinaus verschleppt, und man predigt heute noch so übertrieben
fleißig wie im sechzehnten Jahrhundert, als ob das Bedürfniß nach religiöser
Unterweisung nicht längst durch Schule und Literatur befriedigt würde, während
das Bedürfniß nach ausdrucksvollen Cultusformen, innerhalb deren natürlich
das Bibelwort, und zwar in viel reichlicherer Fülle als jetzt, die Ermahnung
und die festliche Betrachtung ihre Stelle hätte, keine Beachtung findet. Die
bloße Predigt aber bedarf nur des Saales.
Kommt indessen die Zeit, in welcher mit jener von Lessing und Schleier¬
macher wissenschaftlich vollzogenen Scheidung zwischen Theologie und Religion
Ernst gemacht, der Gottesdienst nur auf diese gegründet, der oberste Grund¬
satz des Protestantismus, der der unbedingten Uebcrzeugungsfreiheit, durchgesetzt,
die Theologie aus der Praxis der Kirche herausgehoben und blos unter die
Bedingungen der Wissenschaft gestellt wird; kommt die Zeit, in welcher auch
die Vertreter einer freien Wissenschaft und freien Bildung sich wieder mit ihren
Gemeindegenossen erbauen dürfen, ohne sich von der Kanzel herab verurtheilt
zu sehen: so werden wir auch über unseren Kirchenstil sicher sein. Wir werden
uns die alten kirchlichen Stilarten gefallen lassen. Oder bestände wahre religiöse
Freiheit einfach in dem Aufgeben der Formen, welche die Geschichte uns über¬
liefert hat? Und wäre für das harmonisch entwickelte religiöse Bewußtsein nur
die praktische Welt nöthig, um sie gestalten zu helfen, Spielraum zur Offen¬
barung aufopfernder Liebe, nicht auch etwa eine Welt ideeller Formen, um
sich frei darin darzustellen und zu symbolistren? Nun aber, eine solche Welt
von Typen, Symbolen und künstlerischen Actionen ist nicht erst zu erfinden, sie
hat sich erhalten als das Product einer langen historischen Entwickelung des
religiösen Bewußtseins, der Geist hat sie nach und nach, aus sich heraus¬
gestellt. Und wenn das noch unfreie Bewußtsein diese Cultusformen für
die Sache selbst, für baare Wirklichkeit nimmt, dürfen wir uns ihrer darum
nicht in voller geistiger Freiheit bedienen? Soll mich eine Madonna nicht
andächtig stimmen, von der ein armer Bauer die Heilung seiner körperlichen
Wunde erwartet? Diese Dinge sind Allen gemein, aber die Erziehung, die uns
zu ihnen in Verhältniß bringen soll, giebt uns im Fortrücken eine ver¬
schiedene Stellung zu ihnen. Alle wahre Erziehung wird, im Vertrauen auf
die Vernunft der Weltgeschichte, im Großen und Ganzen denselben Gang
nehmen, den diese genommen hat, und so wird uns nach einander jede
der wichtigeren zur Durchbildung gekommenen Lebensformen adäquat sein.
Weiterschreitend werden wir jede überwinden, aber nicht, um sie zu verlieren;
denn unser Wesen hebt die durchlebten Momente auf und ist ihre bewußte
Zusammenfassung. So, im Besonderen, ist es mit der religiösen Entwickelung
des Individuums auch. Man kann ein Kind so wenig wie einen Hottentotten
unmittelbar in die evangelische Freiheit setzen; beide wollen durch Heidenthum
und Judenthum, durch alle Formen des Katholicismus hindurchgeführt werden.
Daß die Meisten unterwegs stecken bleiben, ändert an der Sache nichts; geistige
Freiheit läßt sich nur schrittweise erringen und erkämpfen, oder sie wird inhalts¬
lose und im Grunde höchst unfreie Trivialität. Man kann der Schlange nicht
alle Bälge, die sie vor dem letzten noch haben soll, auf einmal herunterreißen:
sie müssen eben erst wachsen.
In diesem Sinne nun, meinen wir, sind uns auch die alten kirchlichen
Stilarten anerzogen. Die Gothik. sagten wir oben, entspreche einer psychologisch
nothwendigen Phase in der Religionsgeschichte des Einzelnen, weil sie einer
geschichtlich nothwendigen Bewußtseinsform in der Entwickelung der christlichen
Religion entspreche. Wohl wissen wir nun auf unserem Standpunkte, daß in
jenem abstracten Idealismus, den die Gothik zur Darstellung brachte, nicht
das ganze Wesen der Religion beschlossen liege, aber wir wissen auch, daß er
ein nothwendiger Durchgangspunkt zu einer höheren Form ist und einmal erlebt
sein muß. Und dann ist gewiß, daß, was einmal lebendige Ueberzeugung war,
den Sinnen Gesetz wird. Unser Geist sucht das Göttliche nicht in einem räumlichen
Jenseits, aber unser Auge wird nicht aufhören es oben zu suchen. Und durch diesen
symbolischen Jnstinct unserer Sinne wird die Gothik unmittelbar befürwortet.
Um alles zusammenzufassen, so ist nur nöthig, meinen wir. daß ein Ton
in der Accordlage unserer religiösen Empfindungen deutlich angeschlagen werde,
um den ganzen Accord voll erklingen zu lassen. Mit anderen Worten, jede
der alten zur Classicität durchgebildeten Stilarten, an sich nur einem einzelnen
Momente unseres religiösen Bewußtseins entsprechend, ist im Stande, unser
ganzes Wesen zu befriedigen. Da ist es dann oft nur die Frage der Mittel,
der allgemeinen Neigung, des persönlichen Geschickes, welcher Stil zu wählen
sei. Einer sklavischen Wiederholung aber wollen wir nirgends das Wort reden;
in dem höheren und freieren Bewußtsein werden sich die alten Formen immer
neu und verklärt gestalten.
Schließlich ein Wort von weltlicher Gothik. Die Neueren haben sie bis
in die letzte Zeit hinein, wo einige untergeordnete Eigenthümlichsten des alten
Häuserbaus, der Ziegelbuntbau, die Verzierung des Daches durch bunte Fliesen,
mit Vorliebe in Anwendung gebracht wurden, gar nicht von kirchlicher unter¬
schieden. Die älteren Meister haben aber in sehr glücklicher Weise die für den
weltlichen Stil geeigneten Motive der Gothik in ihrem Wesen erfaßt und auf
den Hausbau übertragen, den sie damit etwa in dieselbe Ähnlichkeit mit dem
Kirchenbau brachten, welche das Werktagskleid mit dem Feiertagskleide hat.
Beispiele von Häusern gothischer Einwirkung haben uns solche Städte aufbe¬
halten, die zur Zeit der Gothik blühten, dann aber, indem sie plötzlich sanken,
Weder Trieb noch Mittel hatten. in einem neueren Stiele umzubauen und die
somit eine Reihe alter Bauwerke in eine Zeit herüberretteten, die ihre Schön¬
heit wieder zu würdigen versteht. Voran stehen hier Braunschweig und Nürn-
berg. Der Gothik hat der Profanstil, der hier zur Anwendung gebracht wurde,
vor allem die starke Profilirung entlehnt, nur daß sie hier durch das umge¬
kehrte Mittel bewerkstelligt wird. Die obere Etage tritt nämlich gegen die
untere nicht zurück, ladet vielmehr an?. Und hier wird ein zweites gothisches
Motiv wirksam, die Kragsteine und Kraghölzer. welche die ausladende Etage
zu stützen haben; sie geben, wie die Gesimsbalken und Balkenköpfe, überhaupt
alle sichtbaren Holztheile, zu den anmuthigsten Bildnereien Anlaß. Am reichsten
sind diese Auskragungen behandelt, wo sie den Erker zu tragen dienen. Fenster
und Thüren zeigen nicht den gnaden Sturz, letztere auch den Rundbogen, ver¬
meiden aber in gutem Verständniß den Spitzbogen, der den Neueren für alles
Andere aufkommen muß. Fenster- und Thürgewände haben Maß- und Laub¬
werk in freiesten Formen, und beides ist. ganz in gothischer Weise, aus der
Abfasung herausgearbeitet. Dem Ganzen ist durch das außerordentlich hohe
Dach, welches wieder von Thürmchen durchbrochen ist, der Charakter freien
Emporstrebens gegeben. So tritt das Haus mit trotziger Stirn, unbekümmert
um den Nachbar, tüchtiges Selbstbewußtsein und einen über das nackte Bedürfniß
hinausgehenden Sinn verkündend, in die Straße, und wie ein Wachtthürmchen
ragt der Erker, das stille, abgeschlossene Innere des Hauses mit der Oeffentlich-
keit der Straße vermittelnd, keck hinaus. Wie stark erinnert das Alles an jenen
kühnen selbstgewisser Bürgersinn, an jenen Trieb des Selfgovernments, den das
Zeitalter der Staatsraison mit allen Erkern, Eckigkeiten und Hervorragungen
nach seinem Lineal weggeputzt hat.
In politischer wie in religiöser Beziehung hat ein jähes Zerreißen aller
Zusammenhänge im sechzehnten Jahrhundert stattgefunden, der ungeheure Krieg
des folgenden sorgte dafür, daß ein Wiederfinden der Fäden einstweilen un¬
möglich wurde. Deuten wir die Bewegungen unserer Zeit in ihrem Grunde
richtig, so strebt das Bürgerthum, welches damals schnöde hinabgestoßen wurde,
und mit dessen Sinken eine politische Bedeutung unserer Nation einstweilen
unmöglich wurde, strebt wieder empor und will die ihm gebührende Be¬
deutung wieder gewinnen.
Sollte jener alte bürgerliche Stil nicht wieder Anklang unter uns finden?
Ein Stil, der obenein noch nicht zur vollen Entfaltung gelangte, vielmehr in
seiner Blüthe gestört wurde? Der wie eine unerfüllt gelassene Aufgabe zu
uns redet? Dieser Stil, wenigstens, ist ganz unser eigen und aufs deutlichste
spricht er den Grundcharakter deutschen Wesens, wie er unter allen Einwirkungen
fremder Cultureinflüsse unbewußt sich erhalten, in seinen wichtigsten Momenten
aus. Deutlich redet er von einer Zeit, da dem Bürger die persönliche Unab¬
hängigkeit, die Eigenart der Existenz, das unantastbare Recht des Hauses alles
galt, so viel galt, daß die Allgemeinheit, das öffentliche Wesen, darüber zu
Grunde ging. Uns dünkt, daß jetzt, wo offenkundig der Staat im Begriff
siebt, das Recht individuellen Daseins wieder aus seiner Omnipotenz zu ent¬
lassen und das Gleichgewicht zwischen den beiden constituirenden Mächten der
Von der Salvacion setzte sich die ganze Karavane ungeteilt in Bewegung,
um den gefährlichen Paß der Gestrüppsteppe, die Heerstraße der Indianer, für
alle Fälle mit vereinter Kraft zu überschreiten. Munter gellte das Muschelhorn
bereits vom andern Ufer herüber, — als noch am diesseitigen Ufer mehre
Abtheilungen zusammengekoppelter Maulthiere des Ueberganges harrten und
Saumsättel, Gepäck und Menschen auf langen wlsas (Flößen) über das Flu߬
decken hinübertrieben. Rasch fand daselbst ein jedes Thier seine unwillkommene
Last wieder, und jede Abtheilung folgte wieder in alter Ordnung dem Heerruse
des führenden Caporals.
Die gefährliche Steppe war erreicht. Unwillkürliches Schweifen mit den
Augen nach rechts und links und geradeaus, über das niedrige Gestrüpp hin¬
weg, aber diesmal keine Bangigkeit; den die Truppe war zahlreich genug, um
auf sich selbst vertrauen zu können. Am Nachmittage stockte der Zug. Die
vorangeeilten Embarquianos kehrten hastig zurück, nicht weit von unserem Wege,
d. h. von der Richtung, der wir folgten, tauchten aus dem Gestrüpp die Spitzen
der kleinen, dreieckigen Ranchos eines indianischen Lagers auf. Rasch wurde
Berathung gepflogen, es litt keinen Zweifel, so gut, wie wir sie, hatten die
spähenden Augen der Indianer auch uns bemerkt. Man beschloß, abzusatteln
Und zunächst ihre Bewegungen zu beobachten. Sämmtliches Gepäck und die
Thiere wurden in die Mitte genommen, und im Kreise umher vier Lagerplätze
gebildet, deren jeder genau das vor ihm ausgedehnte Feld zu überwachen halte.
Der allgemeine Eifer wurde durch die herumwandernde Flasche angefacht; im
Uebrigen hatte sich jeder ruhig auf seinem Platze zu verhalten.
Der „rothe Drache" war der Einzige unter uns allen, der etwas von den
Gebräuchen und Gewohnheiten der nomadisirenden Indianer und einige wenige
Worte ihrer Sprache kannte; um ihre Stärke und Absichten zu erfahren, wurde
er mit zweien der zuverlässigsten und umsichtigsten Leute auf Kundschaft vor¬
geschoben. Ich schloß mich der kleinen Vorpostenkette an. Wohlbewaffnet mit
Pulver und Blei und scharfen Hüftmessern schlichen wir tief niedergeduckt und
stellenweise auf dem Bauche fvrtrutschend durch das Gestrüpp bis auf Schu߬
weite an das Lager, das mit seinen Spitzhütten einer Colonie von Termiten-
Hausen glich, heran. Der erste genaue Ueberblick über dasselbe beruhigte uns
sofort vollständig über unser Schicksal, denn die numerische Stärke desselben war
gering, und die Mehrzahl seiner Insassen bestand aus Weibern und bejahrten
Männern. Der „rothe Drache" erklärte sofort, was sich später als richtig er¬
wies, daß das Häuflein nur den erschöpften und den Marsch der rüstigen
Männer beschwerenden Nachtrab einer Horde und keinen Häuptling unter sich
habe.
Die Absichten der Indianer schienen in der That nichts weniger als
kriegerisch. Eine ängstliche, mindestens unruhige Bewegung innerhalb der Ter¬
mitenhütten konnte uns nicht entgehen, die Weiber eilten geschäftig durcheinander
und schienen beschäftigt, verschiedene Gegenstände zusammenzuraffen und zu
verbergen; mehre der kräftigeren Männer umschlichen unser Lager oder auch
uns selbst in einem weiten Bogen. Plötzlich sprang der „rothe Drache" auf.
und wir erhoben uns mit ihm, als jene etwa in gleicher Entfernung von
uns und ihrem Lager standen, und stieß ein sonderbares Geheul aus, das auf
gleiche Weise von den Rothhäuten wiederholt ward und sein Echo in dem
ganzen Lager fand. Der „Drache" streckte dann Heide Arme unbewaffnet in
die Höhe und gab durch Winken Zeichen unsrer friedlichen Absichten, und als¬
bald raunten sich die Indianer hastig einige Worte zu, kreuzten die Arme über
der Brust und kamen uns vorsichtig und mißtrauisch entgegen. In gleichem
Schritte wie sie näherten wir uns ihnen.
Mit dem geringen Vorrathe seiner Sprachkenntniß, namentlich aber mit
Hilfe der Zeichensprache erließ unser Dolmetscher die Einladung, uns in be¬
liebiger Stärke, aber ohne Waffen, zu unserem Lagerplatze zu geleiten, um da¬
selbst Geschenke und Erfrischungen entgegenzunehmen und Tauschhandel anzu¬
knüpfen. „Was habt Ihr bei Euch?" war die vorsichtige Gegenfrage. Wir
zeigten ihnen unsere Kleidungsstücke, Hüte, Messer u. s. w. Aber keines dieser
Dinge rief besondere Kauflust hervor, dagegen machten sie uns mit dem Aus¬
drucke hungriger Begierde die Zeichen des Essens und Trinkens. Der rothe
Drache rief ihnen darauf halb spanisch, halb indianisch zu: „Zucker viel, sehr
süß, Branntwein und Salz!" Ein freudiges Aufjauchzen antwortete darauf,
und sofort eilten sie mit Zeichen der Zustimmung in ihr Lager zurück, wo
nun eine große Bewegung entstand. Bald nachher kehrten sämmtliche Männer,
von den mit einer weiten Tunika bekleideten Weibern durch ihre bis auf den
Schurz um die Hüfte nackte Haut leicht zu unterscheiden', mit den Botschaftern
und verschiedenen Gegenständen auf dem Rücken zurück. Abermaliges Kreuzen
der Arme, unsrerseits dieselbe Haltung und Geberde, dann gingen wir ihnen
nach unserem Lagerplatze voran.
Unsere Absicht war weniger, mit ihnen in Tauschhandel zu treten, als sie
von unserer Überlegenheit a» Zahl und Bewaffnung zu überzeugen, sie dadurch
einzuschüchtern und uns vor Neckereien und Beunruhigungen sicher zu stellen.
Der Plan gelang vollständig. Sei es, daß sie die zur Schau gestellten Feuer¬
waffen fürchteten, sei es. daß sie, wie es den Anschein hatte, durch Noth und
Elend geschwächt und entmuthigt waren, kurz, sie legten eine große Schüch¬
ternheit und Demuth an den Tag. Bei dem Anblicke von Salz, Zucker,
Früchten, Kakao u. s. w, blitzte Heißhunger und Begierde aus ihren dunkeln,
melancholischen Augen. Der rothe Drache wußte endlich durch Zeichen und
Worte so viel auszukundschaften, daß sie, größtentheils trank, ermüdet und
durch Alter gelähmt, weit hinter ihrem Häuptlinge und Stamme zurückgeblieben
und mit den hilflosen Weibern allein gelassen waren. Die kräftigeren Frauen,
denen alle Arbeit obliegt, sowie alle Lebensmittel und Gerätschaften befanden
sich bei dem Hauptzuge, und sie selbst mußten nun auf die traurigste Art ihr
Leben fristen, bis sie ihren Stamm wieder erreicht haben würden.
Ein jeder von den Indianern wurde mit einem kleinen Stück Zucker be¬
schenkt und erhielt ein geringes Maß Branntwein. Kaum hatten sie diese
Gaben empfangen, so lwaren ^dieselben auch schon verschwunden, und jetzt
erst kam ihre ganze Lüsternheit nach jenen Schätzen zum Ausbruch. Alle ihre
Gliedmaßen waren in Bewegung, ihre Zungen standen nicht mehr still,
und Liebkosungen und Drohungen gegen uns wechselten ununterbrochen mit
einander ab. Hastig begannen sie ihre Bündel von rohen Thierfellen ausein¬
anderzuschlagen, und boten uns trockne, aber gewaltig übelriechende Fische,
oberflächlich gerupfte und auseinandergelegte getrocknete Vögel, Affen, Schweins-
ienden, anderes gedörrtes Wildfleisch, Kammeidechsen und verschiedene, wenig
Appetit erregende Reptilien an. Der Duft, der diesem ungesalzenen Proviant
entstieg, war für die ungestählten Nerven eines Culturmenschen fast betäubend,
die rothhäutigen Kinder der Wildniß schienen denselben aber als ebenso köstliche
Beigabe zu schätzen, wie der Gourmand seine pikanten Saucen zum Braten zu
ehren weiß. Dennoch mußte ihnen das Salz zur Erhaltung und zum Genusse
dieser nüchternen Speisen ein großes Bedürfniß sein, denn sie boten für eine
Handvoll davon ein ganzes Fcllbündel voll Fische und Vögel.
Wir konnten wohl Einiges, aber doch nur nach Auswahl von diesen Gegen¬
ständen gebrauchen und unmöglich der ungestümen Tauschlust der Rothhäute
genügen. Vergeblich war der Versuch, sie durch kleine Geschenke zu befriedigen
und als gute Freunde 'abzuspeisen. Klüger wäre es gewesen, ihre Begierde
gar nicht zu reizen; denn immer zudiinglicher wurden sie in ihren Anforderungen,
namentlich für einige Flaschen Branntwein schienen sie gewillt, alle ihre Habe
an uns abzutreten; unverständiger jedoch hätten wir nicht handeln können, als
wenn wir uns auf diese Weise ein Nudel berauschter wilder Teufel auf den
Hals gebracht hätten. So fügsam und phlegmatisch friedfertig auch der In¬
dianer im nüchternen Zustande ist, sofern man sein Vertrauen zu gewinnen
weiß, so bestialisch wild und unzähmbar habsüchtig geberdet er sich in der
Trunkenheit. Je mehr man ihnen gab. desto mehr weckte man ihre Habsucht
und Begierde, und so mußte der rothe Drache ihnen endlich kurz und energisch
erklären, daß wir ihr Wildpret nicht kaufen und überhaupt in unserm Lager
nicht weiter mit ihnen handeln würden; wenn sie aber wollten, so würden
wir in gleicher Stärke wie sie und bewaffnet mit ihnen nach ihrem Lager zu¬
rückkehren und dort so viel, als wir vertauschen wollten, mit uns nehmen. Es
wurden somit eine Kleinigkeit Salz und Zucker, zwei Flaschen Branntwein und
ein Aland Mais in einen Sack gethan, und bis an die Zähne bewaffnet be¬
gaben wir uns damit unter die Termitenhaufen der Indianer.
Ein wildes, unheimliches Geheul, das in den Weiberstimmen des Lagers
wiederum sein Echo fand, meldete unsre Ankunft an. Wieder wurden mimische
Versicherungen des Friedens und Vertrauens gegenseitig ausgetauscht, doch
schlossen wir uns vorsichtig dicht aneinander, denn die Zahl der Weiber war
zwei- bis dreifach so stark als die der Männer, und wenn auch keine besonders
jugendlichen darunter waren, so standen sie doch keineswegs im wehrlosen
Alter, und ihre straffen, muskulösen Arme und ihre finstern Blicke unter den
schwarz und wollbuschig umhaarten Stirnen flößten durchaus leine Beruhigung
ein. Anscheinend wurden wir mit großer Verachtung empfangen und kaum
eines neugierigen oder bewundernden Blickes gewürdigt; obschon wir ihnen eine
ebenso fremdartige Erscheinung sein mußten, wie sie uns. sprach aus ihrem ganzen
Wesen eine unbegreifliche, ja stupide Theilnahmlosigkeit. Sollte der sklavische
Druck, der auf dem Weibe des Indianers lastet, das Geschlecht so vollständig
geistig abgestumpft haben? Oder ist diese starre Empfindungslosigkeit allen
fremdartigen Eindrücken gegenüber eine Eigenthümlichkeit des Racencharaktcrs?
Düster kauerten ihrer mehrere vor den halb mit Gebüsch bedeckten Spitz¬
hütten nieder, unbeweglich nach einer andern Gruppe hinüberstarrend, die eben¬
so schweigsam um ein halbverloschens Kohlenfeuer hockte, auf dem einige
Fische und Wurzelstücke ausgebreitet lagen. Andere gingen schweigsam und
langsam, gravitätisch in der weiten schmutzigen Tunika aus grobem Baum¬
wollstoffe von einem Ramado zum andern und erhoben den finster vor sich hin
geworfenen Blick kaum einmal vom Boden. Wieder andere, stumm den Be¬
fehlen ihrer Gebieter gehorchend, schritten ohne eine Miene zu verziehen dicht
an uns vorüber und wehrten die frivolen Glossen und Gesten der Unsern
nur mit mürrisch und bösartig verzerrten Gesichtern ab; nur einige der jünger«
Frauen mit unbedecktem Busen und kürzerer Tunika warfen einige verstohlene
und nicht ganz so starr ehrbare Blicke zu den fremden Ankömmlingen hinüber
In jeder Spitzhütte war zwischen dem kleinen, schmalen Baugerüste eine Hänge¬
matte dicht über dem Boden ausgespannt, auf der Binsenmatten und blutige
Häute ausgebreitet lagen. In einigen Hängematten schaukelten sich rund zu¬
sammengekugelte menschliche Gestalten, die eine Art von Gesang vor sich hin-
gurgelten, nicht unähnlich dem anhaltenden Meckern der Ziegen. Bogen und
Pfeile, auch Lanzen, Messer, Schleudern und verschiedene Eisenstücke hingen und
logen zerstreut zwischen den Pfählen umher, die Kochgeschirre bestanden aus
gebrannten Thvntöpfen. ganz in der Art der allgemein landesgebräuchlichen
Olla. Das schwarze straffe Haar war bei Männern und Frauen in gleicher
Weise rund um den Kops weggeschnitten und verdeckte die niedere Stirn und
die Schläfe bis an die Augenbrauen; die Backenknochen standen breit aus
dem Gesicht hervor und Verschatteten das tiefliegende dunkle, melancholisch
blickende Auge. Der breite Mund schien jener vielseitigen Beweglichkeit und
Ausdrucksweise, welche die Lippen des weißen und civilisirten Menschen so
sinnreich bedeutungsvoll umspielt, unfähig' und verzog sich, wenn er nicht
schweigsam geschlossen war, einzig und allein zu wildem Gelächter. Ein Lächeln
besaß er nicht; die großen weißen, vollständigen Zähne hinter den farblosen
Lippen schienen jedes Eisen ersetzen zu können. Die Haut war rostbraun, im
Gesichte selbst der Alten nur wenig gefaltet. Das Gesicht des Weibes war
>n Ausdruck und Form vollständig männlich, desgleichen sein Wuchs, seine
straffen Glieder und seine Haltung; aber sein Gang war gravitätischer und lang¬
samer, als der des leichten, schleichenden, vogelbehenden Mannes.
Nur auf unsre Tauschwaarcn. als sie aus dem Sacke hervorgeholt wurden,
warfen die Frauen einen verschlingenden Blick, in dem sich das hungrige, nackte
Elend ihres jammervollen Lebens deutlich widerspiegelte. Den Fischen, einer
Lieblingsspeise der Indianer, wurde auch von unserer Seite der Vorzug gegeben
und mehre Bündel derselben gegen einige Pfunde Salz eingetauscht. Nach schließ-
licher Zurückweisung der übrigen Fische und des Fleisches brachten sie ihre kleinen
Hängemaltten, ja selbst die für sie unentbehrlichen, für uns aber werthlosen Bogen,
Pfeile, Hiebwaffen, Schleudern. Bastgcflechte und tgi. mehr herbei, um nur in den
Besitz des Zuckers, namentlich aber des Branntweins zu gelangen. K. nahm einige
Hängematten und Netze, die andern Dinge aber wurden zurückgewiesen. Ich bemerkte,
daß der blaue Gummigurt mit blankem Messingschloß, an dem ich mein Hüftmesser
trug, außerordentliches Wohlgefallen bei einem der stämmigsten und. wie es schien,
unter seinen Genossen besonders viel geltenden Indianers erregte. Deshalb zog
us schnell das Seitenmesser von dem Gurte ab und übertrug diesen von meiner
Hüfte auf den baumwollner Schurz des lüsternen Wilden, ihm zugleich be¬
deutend, mir dagegen den Bogen und den Pfeil, den er in der Hand hielt,
abzutreten. Mit kindischer Freude sprang er tanzend und jauchzend umher,
beschaute sich entzückt von allen Seiten und ging wie ein gekrönter Trium.
Pbator in dem Kreise der Seinigen auf und ab. während ich in dem Besitze seiner
Waffen blieb, nicht weniger wie er über meinen kostbaren Schatz erfreut, der
mir dereinst eine heilige Reliquie der Lehr- und Wanderjahre meines vielbe¬
wegten amerikanischen Lebens sein mußte.
Inzwischen war der Handel um die zwei Flaschen Branntwein immer noch
nicht abgeschlossen; K. verwais jedes Angebot, weil er wußte, das, die armen
Teufel auch ihre verborgensten Kleinodien dafür hingeben würden, sofern sie
solche überhaupt besäßen. Endlich schob ein altes Weib, das anscheinend theil¬
nahmlos einen Fisch in heißer Asche röstete, einen etwa zehnjährigen Knaben
vor, der trübselig und finster zwischen den Weibern kauerte, und befürwortete
mit großem Eifer dessen Verkauf. Sämmtliche Weiber schienen dem Knaben
abgeneigt und unterstützten so den Vorschlag der Alten, dem denn auch die
Männer ohne viel Zaudern und Besinnen zustimmten, und der Knabe wurde
für zwei Flaschen Branntwein fortgegeben. Stumm und gleichgiltig nahm er
sein Geschick entgegen; er schien sich so unheimlich und verlassen auf der einen,
wie auf der andern Seite zu fühlen, und es lag klar auf der Hand, daß er
als Kriegsbeute nur eine Gefangenschaft mit der andern vertauschte, jedenfalls
aber war sein Loos jetzt ein sehr viel glücklicheres geworden.
Der „rothe Drache" mußte vor der Uebergabe der beiden Flaschen die
Erklärung abgeben, daß der Friede zwischen uns nur bis zum Untergange der
Sonne von unserer Seite aufrecht erhalten, nach Sonnenuntergang aber als
aufgehoben betrachtet werden würde. Diese Drohung war von unserer Seite
leicht auszusprechen und sollte bezwecken, jede weitere Belästigung und alle
mögliche Gefahren nach dem Branntweingenusse von uns abzuwenden; um den
Eindruck derselben noch zu verschärfen, wurden beim Fortgange mehre Flinten-
salven abgefeuert, worauf das ganze Lager ein entsetzliches Geheul ausstieß.
Auf unerwartete Weise um ein menschliches Wesen vermehrt, kehrten wir dann
nach unserem Lagerplätze zurück, während sich die Rothhäute sofort zankend und
lärmend in den brennenden Inhalt der beiden Flaschen theilten.
Bis zum Untergang der Sonne war höchstens noch eine Stunde Zeit.
Wir schoben, ziemlich gespannt, mehre Posten vor. um die Bewegung des nun¬
mehr feindlichen Lagers zu beobachten. Deutlich gewahrte ich. der ich mich bei
dem vorgeschobenen Posten befand, wie die Weiber mit dem Niederreißen ihrer
Hütten und dem Zusammenpacke» ihrer Lasten beschäftigt waren, während die
Männer im Halbkreise niederkauerten, schweigsam das Gesicht nach Westen ge¬
richtet. Der Branntwein war. unter so Viele vertheilt, demnach nicht im Stande
gewesen, eine berauschende Wirkung hervorzurufen.
Unnachahmbar von menschlicher Kunst und Dichtung tauchten aus dem
Abcndborizonte wunderbar schöne, feurig glänzende Farben, Streifen an Streifen
gelehnt und sanft, kaum merklich ineinanderfließend, weit bis über den viertel
Himmelsbogen auf, während die noch einmal im letzten Sonnenstrahle frölilich
auflachende Erde sich in einen Duft von Gold und Purpur kleidete. Jede
Stirn, jedes grüne Blatt und jedes regungslose Gestein schien in jene wunder¬
thätige Fluth getaucht, welche dem Sterblichen beim Eintritt in die elysäischen
Gefilde ein sorgenloses Vergessen und durch keine Leidenschaft mehr gestörten
Frieden giebt. Und als die Sonnenscheibe in den flammenden Aether nieder¬
tauchte, um ein anderes Geschlecht und einen anderen Boden mit der Gluth
der Auferstehungssackel zu beleuchten, da war ihr letzter sinkender Strahl eine
fröhliche Verheißung von gleicher Wiederkehr am andern Morgen und so weiter
und weiter, immer gleich, in wcchsclloser Pracht und Fröhlichkeit. Hinschwand
sie, die glänzenden Farbenstreifen verschwamme» >ne>na»der, venvischlen sich,
bleichten; blasse, leichte Schatten flogen über die Erde, dann dichtere und dunk¬
lere — mit der Sonne verschwand auch das Lager der wilden Nomaden; mit
dem ersten blassen Schalten erKoben sich die rothen Männer und schlichen schweig¬
sam, wie der Schatten, durch das Gebüsch hinweg. Lasten von ihrer eigenen
Größe schleppten die Weiber hinter ihnen her, auch sie verschwanden so'laut¬
los und geräuschlos, wie die Farben am Himmel auslöschten. Als die Schalten
sich dicht übereinandergelegt und kein Widerschein der Sonne mehr über die
Erde zuckte, da war auch von den rothen Wilden kein Schatten mehr zu sehen,
kein Laut mehr zu hören.
Wir aber trauten der Tücke der Indianer mit ihrem geräuschlosen Schleich¬
schritte und ihren vergifteteten Pfeilen nicht; die Heilste der Mannschaft mußte
abwechselnd das Nachtlager wachend umkreisen. Das gebrannte Wasser, das
die Zunge der Rothhäute kaum genetzt haben konnte, hätte doch zur Er¬
beutung von mehr verlocken können; jedoch größer als diese Verlockung war
die Furcht vor dem Blitzstrahl und dem Donner aus dem Eisemohre ihrer ge¬
tauften Vettern — die Rothhäute waren und blieben verschwunden.
Um Mittag des folgenden Tages war die Palmenhaide durchschritten, und
von hier ab mußte der letzte schmale Waldgürtel, der uns noch von dem Cata-
tumbo trennte, gemeinsam durchbahnt werden. Es wurde abgesattelt und mit
vereinten Kräften bis zum Abend so weit vorgearbeitet, daß am andern Tage
ein Theil der Arbeiter genügte, dem langsam nachfolgenden Maulthierzuge den
Weg bis an das ersehnte Ziel offen zu legen.
Ueber unsern neuen jugendlichen Reisegenossen, den namen- und sprachlosen
Jndianerknaben, hatte der Volkshumor schnell die Taufe verhängt, so daß er,
wenn er auch für seine fürsorgliche Umgebung weder Worte noch besonders
freundliche Mienen hatte, doch' nicht länger namenlos blieb. Da der Erlös
für jhn so zu sagen mit einem Schluck Branntwein hinter geschluckt worden
^ar, s» wurde er allgemein el trsAuito — das Schlückchen — genannt, und
bald kannte und hörte Traguitv seinen Namen ebenso vollkommen ernst, wie
die ganze Karavane. Jedoch Traguito wollte durchaus keinen Geschmack an
seiner neuen Umgebung finden und legte wiederholentlich Neigung an den
Tag, sich aus dem Staube zu machen. Vermuthlich waren wir zu civilisirt
für seinen Geschmack, so sehr sich auch unsre rauhe Lebensweise dem Urzu¬
stande menschlichen Daseins nähern mochte. Nur allmälig gelang es. sein
Vertrauen zu gewinnen, ihn aus seinem finstern Trübsinn aufzurütteln und
'du fügsam und mittheilsam zu machen. So gut sich auch der rothe Drache
mit den übrigen Indianern zu verständigen gewußt, so verstand er doch kein
Wort von der Sprache dieses Knaben; es lag somit außer allem Zweifel, daß
^ eines andern Stammes und Beute des Krieges oder Raubes gewesen war.
Die oktroyirte Umhüllung mit einem baumwollner Hemde mißfiel ihm sehr;
^ suchte sich derselben wiederholt zu entledigen, seine natürliche Tracht w.ar
>den eben bequemer. Gewandt, leicht und kräftig, in allen indianischen Fertig¬
keiten bewandert, war er sehr gut zu verwenden; jedoch beliebte er am wenigsten
gern das zu thun, was ihm geheißen war, und wenn er auch gerade keinen
offenbaren Widerstand leistete, wußte er doch auf alle mögliche Weise seine
Aufgabe zu umgehen. Nach und nach indeß eignete sich Traguito mehr von
der guten Lebensart modernen Culturlebens an, auch schien er sich darüber
klar geworden zu sein, daß es zweckmäßig sei, sich mit Aufopferung einiger
naturwüchsiger Passionen weich und satt zu betten, als bei dem schranken¬
losesten Cultus derselben dem Hunger und Elend dauernd ins Auge zu sehen.
Hat aber der Wilde erst diese Häutung vorgenommen, dann kann er ohne weiteren
Verzug getauft werden; denn damit ist größte Kluft übersprungen, die ihn
von der bürgerlichen Gesellschaft scheidet.
Mit dem ersten Morgenlichte des nächsten Tages rüsteten sich die Pfadbrechcr
zur Vollendung ihres Wertes. Heimathliche Gefühle ergriffen den „rothen
Drachen" bei der Annäherung an den Catatumbo, wo er zu verschiedenen
Malen seine einsame Wohnstätte aufgeschlagen hatte, wo er immer wieder von
der der Einzelkraft des Menschen spottenden Urwüchsigkeit der wilden Natur
verdrängt worden, und wo er zur Zeit wiederum mit seiner Familie der Wildniß
Trotz bot. Immer gewaltiger fielen seine Axtschläge, sein Auge flammte auf
bei den Erzählungen von den Tagen und Jahren, die er hier mit und in der
Wildniß, ein unbeschränkter Gebieter seines Reiches, gehaust, und von allen
den Herrlichfeiten, die sie in ihrem Schoße barg. So wüst dem an Cultur und
Menschengemeinschaft Gewöhnten die unermeßliche Einöde erschien, ihm war
sie ein heimathlicher Lustgarten, in dem er jeden Baum, jede Höhle, jeden
Fels, jede Grotte kannte und alle Schleichwege wiederfand, die er in seinem
einsamen, unabhängigen Treiben bei Tag und Nacht gegangen war. Bald
öffnete sich der Pfad dicht neben hohen, ausgezackten Schieferwandungen, die
ihr schwarzes, in viele Grotten zerspaltenes Gerippe über eng und tief aus¬
gewaschene Rinnsale wölbten. In den mit Pflanzenmvder ausgefüllten Schiefer¬
spalten schwankten unter niedersickernden Wassertropfen leichte, lichtgrüne Sala-
pinellenblätlchen auf und ab, die von zierlichen, mit Purpurschuppen bekleideten
Stielchen getragen waren und gegen den schwarzen ernsten Schiefergrund
einen überaus freundlichen Contrast bildeten. Bald wieder übersprang der
Weg zahlreiche, dem nahen Flußbecken zuströmende, lautrauschende Bäche, die
ihr durchsichtiges Wasser in großen ausgehöhlten Schiefermulden ausammelten
und sich aus diesen metallisch glänzenden Schalen in kleinen Wasserfallen von
einer Stufe zur andern niederstürzten, um unten in andre Becken wieder zu¬
sammenzufließen. Für den Menschenfuß spannten sich Brücken von Felsbrocken
und verschlungenen Liancnstämmen von einem Ufer zum andern, während der
harte Huf der Maulthiere und Pferde nicht ohne Gefahr über die glattpolirten
Schieferplatten hinwegglitt. Bald wieder gewann der Weg natürlich gangbare,
übersandete Pfade, welche die Wildniß selbst für ihre Bewohner geöffnet zu
haben schien, und die nun von der Axt leicht und spielend für Menschentritte
erweitert wurden.
Ein gewaltsameren Widerstand aber fand das Eisen an einer breiten Wald¬
schicht von Bambusbäumen; voller Scharten prallte die gestählte Schneide an
dem Kieselpanzer des mehr denn armdicken Rohres ab, bis erst Hieb auf Hieb
den Panzer durchdrang und die Röhren klüftete. Zurückgehalten und getragen
von den buschigen Halmzweigen der Nachbarn, gräbt sich der durchschnittene
Rohrschaft neben seinem Stumpf wieder geradlinig in die Erde, als habe er
dort von Neuem wieder Wurzel gefaßt; drei-, viermal wird so derselbe Schaft
durchschnitten, bevor es gelingt, ihn den Fangarmen seiner Nachbarn zu ent¬
winden, zu zerstückeln und aus dem Wege zu räumen. Schwebenden Wiesen
gleich wellt sich oben auf den Schäften das zierliche, bewegliche Gras, sie w>e
flockige Wolken fünfzig und mehr Fuß hoch umhüllend; durch das feine bewegliche
Maschennetz der Blätter schimmern die azurblauen Maschen des Himmels und
die goldenen Sommerfäden ebenso fein und beweglich hindurch. Aber sumpfig,
faul, voll Splitter, unheimlich zu betreten ist der Grund dieser Baumwiesen;
bei jedem Schritte kann man die Begegnung mit Molchen, Schlangen und
andern Unholden jeder Art befürchten, die in'diesen schattig-warmen Sümpfen
ihre Brut aushecken und sich oben auf den Laubflocken lüften und sonnen und
ihre elastischen Glieder zum Tod bringenden Sprunge recken. Aus den alten
Strünken und stumpfen, die sich mit Wasser, Erde und Vlattmoder füllen
und gleich Fußangeln und Pallisadenspitzen aus der Erde starren, ringelt und
rasselt das auf dem Bauche und vielgliedrigen Füßen kriechende und zischelnde
Gewürm, giftig und ungiftig, garstig und mit brillanten Farben, rechts und
links unter den Streichen der Aexte und Messer hervor. Erleichtert wurde die
Arbeit dadurch bedeutend, daß von dem alten Pfade, der früher schon einmal
hindurchgehauen worden, sich ein schmaler Fußsteig erhalten hatte, weil die
alten Kieselpanzer zum Theil noch unverwittert auf dem Boden lagen und den
neuen Anwuchs unter sich zurückgehalten hatten. Der Schweiß tropfte von den
dunklen Stirnen und Nacken; die Furcht vor den Giftzähnen von oben und
unten, hinterrücks und von vorn sträubte sich gegen ein übereiltes Vorgehen;
aber immer mehr schwoll das Ungestüm des rothen Drachen, je mehr er sich
dem Sitze seiner wilden Herrlichkeiten näherte. „Vorwärts, ireZritosI Wir
sind gleich hindurch und am Ziel!" — „Die Arrieros dürfen uns nicbt ein-
holend" — „Muthig, muenaelros!" rief er ein über das andre Mal den er-
ermattenden Peonen zu. Welch ein urkräftiges Leben floß in den Adern des
Barbaren, als ihn der geliebte Boden die Wildniß wieder trug, dessen Brüste
ihn gesäugt!
. Auch die letzte schwere Arbeit war endlich gethan, die Bambusbaumschicht
durchkrochen; der Ufersaum eines breiten Baches bildete eine ebene bequeme
Straße. Mit donnerähnlichem Gebrüll schwang sich eine Araguatenheerde
(Brüllaffen) über unsre Köpfe bin. Der „rothe Drache" warf einen Blick voll
Haß und Feindschaft zu ihnen hinauf. „Verdammt! Wieder Unglück!" fluchte
er murmelnd vor sich hin. Auch die Stirn der übrigen Peone verfinsterte sich.
Em Schuß krachte, er hatte getroffen, angeschossen siel ein Weibchen mit
seinen Jungen an die Erde, und ein entsetzliches Geheul der Wuth und Klage
entrang sich ihrer Kehltrommel, jedoch entkam sie den Verfolgern.
Nach einigen Schritten wurde seitwärts im Gebüsch eine eigenthümlich
sagende, wimmernde, ächzende Stimme laut. Alle zauberten und lauschten.
War das Thier oder Mensch? Man konnte glauben, daß die Brust eines ster-
benden Menschen ihr Leben ausröchele. „Vorwärts, w'jitos, laßt uns retten.
Wenn was zu retten ist!" rief ich den zaubernden Peonen zu. Der rothe
Drache lächelte bitter. „Wieder Unglück!" murmelte er, ihm war der Ton nicht
unbekannt. Wir brachen durch« Gebüsch, und ein eigenthümlicher Anblick er¬
wartete uns: die verwundete Araguata ächzte jammervoll ihr Leben aus in der
Umschlingung einer Boa. „NalMg, sha!" grunzte der Drache, legte den Kolben
an die Backe, und mit verspritztem Hirn cntringelte sich das zuckende Reptil
von seiner erstickten Beute. Die Indianer steckten scheu die Köpfe zusammen,
d'er Aberglaube hatte in einer Minute mehr Muth und Hoffnungen vernichtet
als alle ausgestandenen Leiden der beschwerlichen Reise.
Der Brüllaffe ist von dem Indianer gehaßt, da das melancholische durch¬
dringende Geheul desselben ihn mißmuthig stimmt. Er glaubt,j daß in diesen
Thieren die Seelen der Abgeschiedenen wohnen, welche die labenden Angehörigen
beunruhigen und ihnen mit ihrer trübseligen Miene und Stimme Unglück
weissagen, er sucht ihre Begegnung zu vermeiden, namentlich wenn er irgend¬
eine Unternehmung im Schilde führt; seine Stirn verfinstert sich bei ihrem Ge-
heut, unheimliche Bilder umschleichen seine Seele, und grimmigen Hasses voll
schleudert er ihnen Verwünschungen und tödtliches Geschoß entgegen, ohne aus
der erlegten Beute Nutzen zu ziehen. Nicht weniger heftig, wie jener Haß der
Wilden gegen den Araguata, ist der Haß und Abscheu der cultivirten Misch'
reinen gegen die Schlangen und alles auf dem Bauche kriechende Gewürm.
Das: „Sei verflucht!" der Genesis haftet ihnen wie eine ewige Aechtung an.
und instinctmäßig bei't alle andere lebendige Creatur vor ihnen zurück. Wo eine
Schlange sichtbar wird, ist die erste Empfindung Schreck, dann folgt der Ab¬
scheu mit dem Todesstreich, und endlich schleudert der Ekel den Verfluchten
Leichnam weit von sich in den Koth. Diese drei Momente bezeichnen jedesmal
die Begegnung mit dem Erbfeinde der Menschheit. Leider aber ist der Haß
blind, und so unterscheidet er nicht zwischen schuldig und unschuldig und raubt
so mancher Schlange das Leben, die für die Oekonomie der Natur und der
Menschenwelt von Nutzen, oder wenigstens harmloser wie Viele andre wegen
ihrer Gestalt verabscheute Kreaturen ist. Möchte doch alles, was auf den
sonnigen Höhen der menschlichen Gesellschaft schleicht und zischelt, so gehaßt
und geachtet sein, wie das schleichende Gewürm dem halbgesitteten Cultur¬
menschen in seiner Sphäre ein Grciuel ist!
Ein dichtes Gebege von Schlingpflanzen. Dornruthen, holzigen Grä¬
sern und stachlichten Macanillapalmen umschloß den Kampfplatz zwischen
jenen beiden vom Menschen gemiedenen Urwaldgeschöpfen. Ueber unserm
Scheitel aber deutete die zunehmende Bläue des Himmels auf den Saum des
Dickichts; bald betraten wir eine Wiese mit dicht zusammengedrängten, saft¬
strotzender Blattgewächsen, deren fleischige Schafte unsere Köpfe hoch überragten,
und als auch diese durchbahnt, that sich eine .umfangreiche freie Lichtung auf.
die mit emporstrebendem wilden Gestrüpp auf von Culturpflanzen regelmäßig
abgetheilten Feldern bedeckt war. Wir folgten weiter dem Laufe eines zwischen
ho!,em steilabfallenden Ufer strömenden Bachs , dessen schmutziges Wasser sich
trag durch blaue Thon- und Mergelerde wälzte. Von seinem untern User her
schlug der Ruf eines Hahnes an unser Ohr. ein unaussprechlich froh begrüßter
Willkommensruf für den Menschen, der aus Waldesdunkel und Verlassenheit
sich nach dem Menschenherde sehnt. Weiter hinab gings an dem Gewässer —
horch! da schlugen Hunde an. Der rothe Drache stieß ein wildes Jubelgeheul
aus, etwa wie die Waldbestie brüllt, wenn sie von blutiger Jagd zu ihren
Jungen in die Höhle zurückkehrt. Ich eilte ihm vorauf, während er das Eck»
seines Anrufes erwartete, das bald darauf vor uns und in unserm Rücken laut
wurde, in unserm Rücken von der Spitze der Karavane her, die unmittelbar
hinter uns aus dem Walde hervortrat. vor uns ans dem lichtgrünen, dicken
Blattwulste von Bananenbäumen, durch den ein Palmendach. das Asyl des Wald'
barbaren. uns seinen gastlichen Rauch entgegentrieb. Der Bach ergoß se'N
schmutziges Wasser hinter der Hütte in einen breiten dunkelblauen Strom,
durch ein Bette von schwarzen Schieferplatten an herrlichen Landschaftsgebilden
der Tropennatur vorüber rauschte. — Dieser blaue breite Strom aber war der
Catatumbo. —
Wir schreiben den 7. Juni 181S, befinden uns in Dresden zwischen
Kammerdieners und Hofgärtners und bemühen uns, die Welt auf eine Stunde
mit den Augen Hasches, des Chronisten dieser schönen und loyalen Stadt, an¬
zusehen, den wir uns zum Begleiter gewählt haben. Sollte unser Bemühen,
wie wir fürchten, nicht ganz gelingen, so bitten wir artig, den guten Willen
für die That zu nehmen und de>s Wortes eingedenk zu sein, daß die Zeiten sich
ändern und wir mit ihnen verändert werden.
Ein großer Tag für den sächsischen Patriotismus, vornehmlich für den
allhier wohnhaften! „Was treue Herzen flehn, steigt zu des Himmels Höhn",
wie unser Mahlmann, selbst im Reim ein echt sächsisches Gemüth, mit Schwung
und Gefühl uns vorsingt. Die „ewige Gerechtigkeit" seines Liedes hat das
Flehen der treuen Herzen gehört und bewilligt, wenn auch mit erheblichen
Modificationen. nach denen mindestens zu zweifeln erlaubt scheint, ob es ganz
begründet gewesen. Sachsen wird getheilt, der Norden fällt an Preußen, aber
der Rest wird heute seinen alten König wiederbekommen. Das Provisorium
>se glücklich überstanden. Die Glocken läuten den Morgen einer neuen Epoche
u», und unter Posaunenschall singen vom Thurme die Kreuzschüler ihr „Nun
danket alle Gott" auf den vom Frühroth bestrahlten Altmarkt hinab.
Schon gestern war die Stadt ungewöhnlich bewegt. An den Ecken An¬
schläge des Stadtraths, welche bestimmten, in welcher Ordnung der erwartete
Landesvater von der Einwohnerschaft eingeholt werden soll, und die als „Losung"
des Festes „ehrfurchtsvolle Bescheidenheit, innige Herzlichkeit und treue Liebe"
bezeichneten — Bescheidenheit, als ob irgendein Dresdner im Laufe der letzten
hundert Jahre jemals fähig gewesen wäre, die Tugend der Bescheidenheit aus
den Augen zu setzen. Auf den Gassen, eilige Gärtner mit Kränzen und Guir¬
landen, Waschfrauen mit kunstgerecht gesteifter, sorgfältig geplätteten weißen
Kleidern überm Arm, und hier und da, besonders auf der Brücke, der drusi-
schen Terrasse und vor dem goldnen August am Blockhause, Trupps von leipziger
Musensöhnen, die der sächsische Patriotismus in Masse hergeführt hat, und die
mit ihren Kanonenstiefeln und Schnurenjacken, ihren dickbetroddelten Tabaks¬
pfeifen, ihren Schlägern und Ziegenhainern so übermüthig in der sanften Ge¬
wöhnlichkeit drcsdnerischen Lebens einherschritten, daß die unmaßgebliche Ver-
muthung unsres Begleiters, die Admonition hochlöblichen Stadtraths zu ehr¬
furchtsvoller Bescheidenheit sei wohl eigentlich auf sie gemünzt, nicht unstatthaft
erschien. In den Häusern äußerste Geschäftigkeit aller Welt, vom Seifensieder
an, der für die angesägte Illumination Lichte und Talgnäpfcben bereitete, bis
hinauf zu dem dichtenden Hofrath, der den „Anzeiger" mit seinen Gaben fest¬
lich zu schmücken gedachte. Abends Feuerwerk aus dem linkeschen Bade.
Heute bereits am frühen Morgen verdoppeltes Gewimmel auf den Straßen
und Plätzen. Buntes Landvolk, die Männer in zeisiggrünen Peckeschen oder
himmelblauen Gottestischröcken, die Frauen in Barthauben und Pelzmützen,
Studiosen von gestern, Nationalgarde-Offiziere mit gewaltigen Dreimastern,
stolzen Federbüschen und dicken rothwollnen Epauletten, Herren in Hoftracht,
Marschälle mit Stäben und Schärpen, gelegentlich ein gelber Buttervogel von
einem Haiducken oder Chaisenträger, dann weiß und grün gekleidete Mädchen,
Fahnenträger von Innungen eilen an uns vorüber nach dem altstädter Rathhaus,
wo sich der Festzug sammelt, der die von Peterswalde kommende Majestät ein¬
holen soll.
Gegen drei Uhr ist alles zum Abmarsch bereit, und der Zug setzt sich in
Bewegung nach dem pirnaischen Schlage. Voraus ein Detachement von dreißig
Mann Nationalgarde als Begleitung eines Musikchors mit Trompeten und
Pauken. Dann eine lange Procession von über fünfhundert Mädchen aus allen
Ständen, die sämmtlich weiß gekleidet sind, rautengrüne Leibbinden, in der
Hand Nautenzweige und am Arme Blumenkörbchen — wie es scheint, mit noch
etwas Raute — tragen, und vor deren erster Abtheilung zwei Knaben, der
zur Rechten mit einer weißen Fahne — „das Zeichen der Unschuld", erläutert
uns Hasche — der zur Linken mit einer hellrothen, „dem Symbol der Freude",
einherschreiten. Die zweite Abtheilung der Mädchen führen drei Marschälle in
schwarzer Hoftracht mit weißen Schärpen, goldnen Galanteriedegen und schwarzen'
Stäben, an denen oben mit weißen und rothen Bändern Kränze befestigt sind
— natürlich Rautenkränze; denn wir feiern ein legitimistisches Fest, und was
für den Franzosen die Lilie, das ist für den Sachsen die Raute. Unmittelbar
hinter den Mcirschällen wandeln drei Jungfrauen mit Gedichten in Sammt
und Goldschnitt, die der Rath und die Bürgerschaft — Stadtverordnete giebts
noch nicht — zur Begrüßung des Königs haben anfertigen lassen. Dann die
übrigen Nautenzweigträgerinnen, und hierauf wieder drei Herren in schwarzer
Kleidung, von denen der mittelste eine große weißseidne Fahne mit rautent
grünem Rande und der Inschrift: „Den 7. Juni 1815" trägt, und welchen
zunächst die Magistratspersonen, dann die Geistlichen lutherischer und katholischer
Confession, dann die Stadt- und Gerichtsbeamten folgen. An letztere schließen
sich, in einer durch das Loos bestimmten Reihenfolge, die Zünfte an, die durch
etwa sechshundert Mitglieder vertreten sind. Sodann die Abgeordneten der
jüdischen Gemeinde mit ihrem Rabbiner in Amtstracht. Zuletzt wieder ein
Detachement Nationalgarde.
Der Zug passiirt vom Rathhause bis zum Schlage durch eine Hciye von
weißer Infanterie mit grünen Aufschlägen, die weiter hinaus von der leipziger
Studentenschaft fortgesetzt wird. Am schlage hat der Hofbaumeister Thormeyer
eine Ehrenpforte errichtet, die auf beiden Seiten die Inschrift: „Lalvcz, Meer
Mi-We!" zeigt.
Es ist etwa halb vier Uhr, als der König eintrifft. Die Kanonen donnern
von den Wällen, die Glocken läuten, von der Galerie der Ehrenpforte fällt
ein Blumenregen in den Paradewagen, Ä welchem die alte Majestät mit der
Prinzessin Auguste sitzt. Die ehrfurchtsvolle Bescheidenheit der Menge bricht
in ein Vivat aus, und der Wagen hält, worauf erst der Bürgermeister Dr. Scholz
dann der Oberhofprediger v. Ammon den König begrüßen und für ihre Reden
gnädigen Dank empfangen — gnädigen und gerührten Dank, obwohl letzteren
die Hvfetiquctte eigentlich nicht gestattet. Dann Weiterfahrt unter fernerem
Glvckcngeläut und Bivatgeschrci, bis der Gefeierte endlich im Schlosse verschwindet.
Auf dem Schloßplatze wird dann von den Theilnehmern des Zuges ein
großes Biereck gebildet, in dessen Mitte Musik- und Sängerchörc aufgestellt
sind. Man singt und spielt, während der König sich mit Gemahlin auf dem
Balkon zeigt, das Lied „Ihr Bürger eines Staates, Brüder" aus dem dresdner
Gesangbuch — beiläufig wohl das platteste und wässerigste der ganzen
Sammlung — dann einen Segenswunsch aus dem einundsechzigsten Psalm,
worauf sich der Zug nach dem Altmarkt begiebt, um dort „Nun danket alle Gott"
Zu singen, womit dieser Theil der Festlichkeit beschlossen ist.
Abends bringen die Bürger, während die Stadt von den Lichtern einer
Illumination strahlt, dem'König eine Serenade. Dann kommen die Studenten
Mit Fackeln aus der Neustadt über die Brücke, stellen sich vor dem Schlosse
auf, singen, von den Pauken und Trompeten eines Kürassierregimentes begleitet,
das sächsische „Nationallied": „den König segne Gott", das in dieser Zeit auf-
gekommen ist. rufen Vivat und fallen dann mit dem ihnen geläufigeren „Kau-
6eg.rr>U8 i'gitur" ein, bei dessen letztem Ver.s sie die Fackeln auf einen Haufen
werfen. Eine Deputation der jungen Herren erbittet und erhält Audienz, um
die Gefühle, welche die studirende Welt Sachsens beseelen, der Majestät aus-
Zusprechen. Dann fährt die Herrschaft aus, um sich die Illumination anzusehen,
wobei ihr mancher hübsche Einfall entgegenleuchtet. Ein Bürger z. B. hat den
Vers in einem Transparent aufgestellt:
Und eine Bäckersfrau draußen „auf dem Sande" vor dem Schwarzen Thor er¬
freut Liebhaber kecker Naivetät mit dem illuminirten Spruch:
Daß die Gute sich wirklich in sauber gewaschener Haube und Hochzeitskleid
neben die Verse ans Fenster gesetzt hat — selbstverständlich mit dem Strickstrumpf
— ist die Krone der Reime.
»Ja, jetzt kann ihrs, Gott seis gedankt, niemand mehr wehren," seufzt
unser Begleiter. „Aber das war Ihnen eine traurige Zeit, diese anderthalb
Jahre seit Leipzig. Wissen Sie noch, wie von dem russischen Gouvernement der
Befehl kam, die Herrschaft aus dem Kirchengebet wegzulassen, als ob Friedrich
August nicht mehr unser Vater wäre, und wie unsere Bürgerschaft vergebens
bei Repnin, der sonst ein manierlicher Mann war. um Wiederaufhebung der
Ordre petitionirte? Und wie sie unseren vortrefflichen Appellationsrath Fleck,
dieweil er sich unterfangen, für eine an den wiener Congreß zu richtende Supplik
wegen Wiederherstellung Sachsens unter Friedrich August bei den Bürgern
Unterschriften zu sammeln, schnöde arrctirten und absetzten? Und erinnern Sie
sich, wie Rosen in Leipzig die Stände, die sich dort vereinigt, um eine ähnliche
unterthänigsie Eingabe an die verbündeten Monarchen zu entwerfen, unhöflich
auseinandcrtriev? Und wie dann im November vorigen Jahres gar die Preußen
sich hierhersetzten, der Recke und der Gaudy mit ihrem barschen, ungemüthlichen
Wesen, und wie — 's ist nunmehro gerade vier Wochen — der Blücher in Lüttich
unsre Gartenammer und Grenadiere decimiren und ihre Fahne verbrennen ließ,
blos weil sie nicht preußisch werden wollten. Es ist wahr, die Leute hatten
sich ein bischen ungestüm ausgedrückt und den Empereur dazu leben lassen,
was unter den obwaltenden Umständen nicht gerade zu loben war. Aber mußte
die grobe Excellenz darum die Fahne ins Feuer werfen lassen, die unsre Königin
gestickt? Und mußten sie dem König, der doch nur gezwungen bei Napoleon
ausgehalten, sein Erbland nehmen wollen? Mußten sie ihn als Gefangenen
wegführen, der nichts gethan, als sein Wort gehalten hatte? Ja diese Preu¬
ßen" — hier macht unser sonst so sittsamer Freund eine drohende Geberde in
der Richtung der großenhainer Straße — „wenn es nach ihrem Willen ge¬
gangen wäre, so hätten wir den heutigen schönen Tag nicht erlebt, so hätten
wir vielleicht wieder mit Schmerzen illuminirt, d. h. statt für unsern König
für den in Berlin. Es ist aber nach dem Willen der Franzosen und Oestreicher
gegangen, und so schwer es betrübt, daß diese alten Freunde der preußischen
Eroberungslust nicht alles wieder aus den Händen nehmen konnten, immerhin
ist doch das Schlimmste abgewendet, und wer weiß, ob nicht die Zukunft das
Getrennte wieder zusammenfügt."
„Eine sehr sorgenvolle Zeit voll Noth und Angst und Sehnsucht liegt
hinter dem Rücken des sächsischen Patrioten," antworten wir unserm würdigen
Freunde. „Aber Sie thun wohl, sich zu trösten mit dem Trost der Deutschen:
Es konnte schlimmer kommen, und es ist keineswegs unmöglich, daß das. was
jetzt geschieden ist, einmal — wenn auch in andrer Weise als Sie jetzt hoffen
mögen — wieder vereinigt wird."
Hätte man damals in Dresden mehr gesagt, so wäre man in Gefahr ge¬
wesen, gesteinigt zu werden von der sächsischen Vaterlandsliebe; denn die deutsche,
hier auch jetzt noch ein Kind von mäßigem Wuchse, hätte, als noch in den
Windeln liegend, dabei nicht interveniren können. Jetzt läßt sich deutlicher
antworten, wenn der eine und der andere alte Herr sich noch über das Unrecht
entrüsten kann, welches durch die Theilung Sachsens begangen sein soll. Wir
begreifen die Empfindungen, ans denen die Feier des 7. Juni 18 is hervor,
ging, theilen aber können wir sie als Liebhaber der Gerechtigkeit nicht mehr.
Jene alten Herren lassen wir als unschädliche Nachzügler einer schon über den
Horizont entschwundenen Zeit nach ihrer Fayon selig werden. Dem jungen
Geschlecht aber sagen wir einfach: Lese die Geschichte, seht euch die Thatsachen
«n. urtheilt mit dem Verstände, der dazu gegeben ist, nicht mit dem Gefühle,
welches hier kein Recht mehr hat, dreinzureden, und laßt euch bei solcher ver¬
ständiger Betrachtung nicht durch ven Bertrag von Kalisch irremachen, der von
gewissen Escamoteurcn immer wieder gegen die rechte Auffassung der damaligen
Vorgänge in Sachsen aus der Tasche geholt wird.
Der Vertrag von Kalisch. am 27. Februar 1813 zu Breslau von preu-
bischer, am folgenden Tage zu Kalisch von russischer Seite unterzeichnet, war
die Frucht mchrwöchentlicher Unterhandlungen zwischen Kaiser Alexander und
Friedrich Wilhelm, welcher letztere beim Eintritt in dieses Bündniß zur Be¬
kämpfung Napoleons das Meiste wagte und darum erst nach langem Bedenken
Und erst als Stein den Ernst der Lage mit Nachdruck vorgestellt, zu endgiltigen
Abschluß zu bringen war. Als Ziel stellte der Vertrag für die durch ihn sich
verbündenden beiden Mächte die Befreiung Europas, als nächste Aufgabe die
Wiederaufrichtung Preußens in Verhältnissen auf, die dessen Ruhe und Sicher¬
heit verbürgten. Rußland sollte zu dem Zwecke 160.000, Preußen 80.000 Mann
ins Feld senden, die Mitwirkung der verfügbaren preußischen Truppen sofort
beginnen. Die Kriegsoperationen sollten unverzüglich verabredet werden. Die
beiden contrahirenden Mächte verpflichteten sich ferner, keinen einseitigen
Vertrag mit dem Feinde abzuschließen, sondern völlig gemeinsam zu han¬
deln, namentlich sofort vereint sich zu bemühen. Oestreich zum Beitritt zu
bewegen. Endlich versprach der Kaiser von Nußland nachdrückliche Unterstützung
hinsichtlich eines von Preußen ins Auge gefaßten Bündnisses mit England.
Zwei geheime Artikel des Vertrags lauteten:
„Art. 1. Da die völlige Sicherheit und Unabhängigkeit Preußens nur
dadurch dauerhaft wiederhergestellt werden kann, daß man ihm die Stärke
welche es vor dem Kriege von 1806 wirklich hatte, wiedergiebt, so verpflichtet
sich Se. Majestät der Kaiser aller Reußen, welcher in dieser Beziehung in seinen
amtlichen Erklärungen den Wünschen Sr. Majestät des Königs von Preußen
zuvorgekommen ist, durch gegenwärtigen geheimen und besondern Artikel, die
Waffen so lange nicht niederzulegen, als Preußen nicht in einer Weise wieder¬
hergestellt ist, die seinen statistischen, geographischen und finanziellen Verhältnissen
vor dem angeführten Zeitpunkte entspricht. Zur Bewerkstelligung dessen ver¬
spricht Se. Majestät der Kaiser aller Reußen auf die feierlichste Weise, alle
diejenigen Erwerbungen, welche durch Waffengewalt und Unterhandlung in Nord¬
deutschland gemacht werden können, mit Ausnahme jedoch der alten Besitzungen
des Hauses Hannover, zu den Aequivalenten zu verwenden, die im Interesse
beider Staaten und zur Vergrößerung Preußens von den Umständen erfordert
werden sollten. Bei Ordnung alles dessen wird der Zusammenhang und die
Abrundung, welche nöthig sind, um einen unabhängigen Staatskörper herzu¬
stellen zwischen den Provinzen, die unter preußische Herrschaft zurückkehren sollen,
gewahrt werden.
Art. 2. Um dem vorhergehenden Artikel diejenige Bestimmtheit zu ver¬
leihen, welche dem vollkommnen Einverständnisse der beiden hohen vertrag¬
schließenden Theile entspricht, verbürgt Se. Majestät der Kaiser aller Reußen
Sr. Majestät dem König von Preußen außer seinen gegenwärtigen Besitzungen
noch besonders Altpreußen, mit welcher Provinz ein Landstrich verbunden werden
soll, der sie in allen, sowohl militärischen als geographischen Beziehungen mit
Schlesien vereint."
Dieser Vertrag war für Preußen bei weitem weniger günstig als für Ru߬
land. Letzteres behielt die ihm durch den tilsiter Frieden zugefallnen ehemals
preußischen Theile Polens, die es bereits besetzt hatte, ersteres wurde mit unbe¬
stimmten Zusagen abgefunden, die nur in Betreff des Landstrichs zwischen Alt¬
preußen und Schlesien einigermaßen klar angedeutet waren. Die Versprechungen
in Bezug auf die in Norddeutschland möglicherweise zu machenden Er¬
werbungen hatten nur einen mäßigen Werth, da sie eben nur auf Möglichkeiten
beruhten. Da der Vertrag die Besitzungen des welsischen Hauses ausdrücklich
ausnahm, Holstein damals nicht zu Deutschland gehörte, schwedisch-Pommern
endlich Besitzthum einer verbündeten Macht war, so ergiebt sich allerdings, daß
mit jenen Erwerbungen vor allem Sachsen gemeint war, und in der That
wissen wir jetzt aus Alexanders Aeußerungen gegen v. Knesebeck im Lager von
Chlodowa bei Kalisch und aus den Mittheilungen, welche der Kronprinz von
Schweden dem preußischen Gesandten in Stockholm zugehen ließ, daß der
preußischen Regierung für das ihr früher zugehörige Polen schon damals unter
Anderm ein Theil Sachsens oder nach Befinden das ganze Königreich als Ent-
Schädigung in Aussicht gestellt worden war. Allein dieses Versprechen konnte
nur unter der ganz bestimmten Voraussetzung gegeben sein und erfüllt werden,
daß der König von Sachsen beim Bündniß mit Napoleon verharrte und sein Land
gegen seinen Willen befreit, also erobert werden konnte. Leistete derselbe
der Aufforderung Preußens und Rußlands, die. wie wir sogleich sehen werden,
kurz nach dem Vertrage von Kalisch an die deutschen Fürsten erging, ohne
Zögern Folge, schloß er sich den Befreiern an, so fehlte es an jedem Vorwande,
ihm sein Land oder einen Theil desselben zu nehmen, und wenn nicht das
Gerechtigkeitsgefühl, so verbot dann die Klugheit, zu annectiren. da hierdurch
die Hoffnung, die übrigen Rheinbundsfürsten von Napoleon abwendig zu machen,
sofort vereitelt werden mußte.
Die Ausfassung Steins, die er schon am 17. November 1812 in einer an
Alexander gerichteten Denkschrift ausgesprochen, und die sich in die Worte zu¬
sammenfassen laßt: „Was die übrigen deutschen Fürsten betrifft, so haben sie.
Was auch ihr Verhalten sein mag. gleichviel ob sie sich widersetzen oder unter¬
werfen, kein Recht, die Beibehaltung oder Wiederherstellung ihrer Oberherrlich¬
keit zu, verlangen. Sie sind jetzt in feindlicher Haltung, und im Augenblick
des Eintritts der verbündeten Heere können deren Fürsten eine solche Anwendung
des Eroberungsrechts machen, wie ihr eigner Vortheil sie ihnen anzeigen wird"
diese Auffassung war politisch keineswegs unrichtig, aber sie war. als der
Bertrag von Kalisch abgeschlossen wurde, wie das Folgende zeigen wird, nicht
die Auffassung der contrahirenden Monarchen, und sie war es später, als Stein
und die deutschen Patrioten vor Metternich und dem östreichischen Interesse
in den Hintergrund raten, noch weniger.
Zwar könnte der breslauer Vertrag vom 19. März, der das kalischer
Vündniß ergänzte, in einigen seiner Züge so gedeutet werden, als ob Steins
und der übrigen Deutschgesinnten Plan, die deutschen Vasallen Napoleons
als Verräther ohne Weiteres abzusetzen, hätte verwirklicht werden sollen. Aber
schon der erste Artikel desselben schließt diese Interpretation aus, indem er nur
die deutschen Fürsten, welche der Aufforderung zur Theilnahme an der Befreiung
Deutschlands vom französischen Joche nicht Folge leisten sollten, mit dem Ver¬
luste ihrer Staaten bedrohte. Wenn es dann weiter hieß, es sollte ein zunächst
aus Abgeordneten Rußlands und Preußens bestehender Centralverwaltungsrath
Mit unbeschränkten Vollmachten gebildet werden, der in den besetzten Ländern
provisorische Verwaltungen herstellen, dieselben überwachen und ihnen die Grund¬
sätze vorzeichnen sollte, nach denen die Hilfsquellen der betreffenden Länder der
gemeinsamen Sache nützlich zu machen, so ist auch damit nicht gesagt, daß man
über die Fürsten dieser Länder hinwegzugehen vorhatte; denn der Vertrag be¬
stimmte ausdrücklich, daß jeder dem Preußisch-russischen Bündniß beitretende
deutsche Fürst zu jenem Centralverwaltungsrath ein Mitglied ernennen dürfe.
Und in gleichem Geiste war der (von Karl Müller verfaßte) Aufruf an die
Deutschen gehalten, den Kutusow am 26. März von Kalisch aus erließ. Die
Versicherungen zwar von der Uneigennützigst Ruhlands und die Behauptung,
es sei lediglich auf die „Wiedergeburt eines ehrwürdigen Reiches" (des deutschen)
und auf Wiedererkämpfung von Freiheit und Unabhängigkeit der Völker Deutsch'
lands abgesehen, klingen verdächtig. Aber es war auch von der Freiheit und
Unabhängigkeit der deutschen Fürsten darin die Rede, und wenn es hieß: „so
fordern sie (der Kaiser von Rußland und der König von Preußen) denn treues
Mitwirken, besonders von jedem deutschen Fürsten, und wollen dabei gern vor¬
aussehen, daß sich keiner finden werde unter ihnen, der, indem er verdeutschen
Sache abtrünnig sein und bleiben will, sich reif zeige der verdienten Vernichtung
durch die Kraft der öffentlichen Meinung und durch die Macht gerechter Waffen",
so hatte nur der Fürst seine Entthronung zu fürchten, der dem Aufruf nicht
Folge gab.
Wie stellte sich nun Sachsen diesen Ereignissen gegenüber? Die Stimmung
des Volkes war der Erhebung der preußischen Nachbarn gegen Napoleon nicht
ungünstig, und die ersten Aufrufe, die von diesen hierher gelangten,, regten
mächtig an. Eine Partei unter den höhern Beamten fürchtete die Volksbe¬
wegung in Preußen und die „revolutionären Mittel" der dortigen Regierung.
Der Hof blieb völlig unberührt, wenigstens ohne alles Verständniß von dem
hochsinnigen Streben, das in Preußen sich regte.
Der König Friedrich August war ein nicht für große Zeiten geschaffener
Geist. Im Privatleben ehrbar, als Regent im Innern etwas pedantisch, aber
gerecht und wohlwollend, war er in seiner äußeren Politik ein starrer Anhänger
Napoleons, dessen Genie ihm nach 1806 für immer imponirt. und der ihn
durch verhältnißmäßig rücksichtsvolle Behandlung, durch Landschenkungen und
durch Verleihung des Königstitels zur Dankbarkeit verpflichtet hatte. Daß er
dennoch nichts anderes als ein von der Gnade des Imperators lebender Vasall
Frankreichs war, empfand er nicht. Daß es außer dem sächsischen Patriotis¬
mus noch einen anderen, höheren geben könne, blieb seinem engen Sinne
völlig verborgen. Auch die späteren erschütternden Ereignisse erweiterten seinen
Blick nicht, er war zu alt geworden, um heilbar zu sein. Als Napoleons
Niederlage in Rußland entschieden war, ließ er sich von dem auf seiner Flucht
in Dresden vorsprechenden kaiserlichen Gönner mit der Zusage baldiger Rück¬
kehr mit einem furchtbaren Heere trösten. Als die Russen an der deutschen
Grenze erschienen, und Preußen sich ihnen zuzuneigen begann, dachte er an
Flucht, die er drei Tage vor dem Vertrag von Kalisch ausführte. Welche Be¬
weggründe ihn dabei leiteten, sagt die Ansprache an sein Volk, die er am
23. Februar erließ, und in der es heißt:
„Dem politischen System, welchem wir seit sechs Jahren uns fest a nge-
schlössen haben (dem Rheinbunde unter Napoelons Protection) verdankt der
Staat allein in diesem Zeitraum seine Erhaltung bei den drohenden Gefahren.
Treu unsern Bundesverpflichtungen, vertrauen wir auch dermalen mit Zuver¬
sicht auf den glücklichen Erfolg, welchen uns, wenn auch unsre auf Herstellung
des Friedens gerichteten Wünsche noch zur Zeit unerfüllt bleiben sollten, die
Unterstützung unseres großen Alliirten. der thätige Beistand der Verbündeten
Mächte (des Rheinbundes) und die erprobte Tapferkeit unsrer mit Ruhm be¬
deckten Krieger im Kampfe für das Vaterland verspricht."
Seiner Infanterie gebot der König sich in die Festung Torgau zurückzu¬
ziehen, deren Oberbefehl der General Thielmann mit der Weisung erhielt, sich
dem französischen General Reynier zur Verfügung zu stellen. Seine Kunst¬
schätze schickte er auf die Bergfeste Königstein. Dann salvirte er sich mit seiner
Familie am 25. Februar nach Plauen im Voigtlande. Die Minister, der Staats¬
schatz und die Juwelen des grünen Gewölbes begleiteten ihn. Auch zwei Reiter¬
regimenter und einige Artillerie zogen mit ihm.
„Es war ein beredter Gegensatz der alten und der neuen Zeit," sagt
Hauffer. „Dort in Preußen begab sich der König mit seinem ganzen Hause
ins Lager, das die gesammte Jugend- und Manneskraft, den Fürsten neben
dem Bauernsöhne vereinigte, bereit einen Krieg zu beginnen, dem alle ihre
letzten Kräfte und Mittel zutrugen, einen Krieg so ungeheurer Art. daß, wenn
der Sieg nicht erfochten ward, nichts als der Untergang übrigblieb. Und hier
Ward das Land dem Spiel des Zufalls überlassen; wer der Stärkere war,
dem gehörte es, indeß der König, mit Gold und Juwelen schwer bepackt, das
Weite suchte, bis die Fluth verlaufen war."
Jetzt begann der Krieg. Als die Verbündeten sich in der zweiten Woche
des März Dresden zu nähern begannen, schickte Reynier sich an, einen Pfeiler
der dortigen Elbbrücke in die Luft zu sprengen. Das Volk rottete sich zu¬
sammen, unterbrach die Arbeiten und schrie vor der Wohnung des Generals
»die Franzosen fort!" Reynier war zu schwach, diesen Widerstand zu brechen.
Als aber einige Tage darauf Davoust mit Verstärkungen eintraf, kehrte den
Dresdnern die langgewohnte Unterwürfigkeit zurück, und als am 18. März die
ersten Kosaken am rechten Ufer der Eibe sich zeigten, ließ der Marschall am nächsten
Tage die unter der Brücke angelegten Minen springen. Am 26. räumten die
letzten Truppen Napoleons — es waren rheinbündlerische — die Stadt, und
Tags darauf rückte Wintzingerode mit seinen Kosaken, am 30. Blücher in die
sächsische Residenz ein.
Noch immer hoffte man im Lager der Verbündeten, daß es gelingen werde,
Sachsen friedlich zu sich herüberzuziehen, und noch immer handelte man dar¬
nach. In einer Ansprache, die Blücher an das sächsische Volk richtete, um
dasselbe zum Anschluß an die Sache der Alliirten aufzurufen, hieß es sogar,
als ob die Flucht Friedrich Augusts keine freiwillige gewesen wäre: „Euer
Landesherr ist in fremder Gewalt. Die Freiheit des Entschlusses ist ihm ge¬
nommen. Die Schritte beklagend, die eine verrätherische Politik ihn zu thun
nöthigte, wolle» wir sie ihm ebensowenig zurechnen, als sie euch entgelten lassen."
Vertrauensvoller und versöhnlicher konnte man nach dem. was geschehen, nicht reden,
goldnere Brücken zur Umkehr nicht bauen. Nur einstweilen erklärte Blücher
das Land in Verwaltung nehmen zu müssen. Seine Truppen ermahnte er. die
Sachsen wie künftige Bundesgenossen zu behandeln. Um der Volksbewegung
freieren Spielraum zu gewähcn, gab er die Presse frei. Wenn er aber von
der vom König bei seiner Flucht zurückgelassenen Jmmediatcommission rückhalts¬
loser Anschluß an die gute Sache erwartete, so täuschte er sich. Diesen Herren
war.sein Aufruf ein revolutionäres Pamphlet, seine Forderung, daß Sachsen
zur Unterhaltung seiner Truppen beitrage, ein unbilliges Verlangen. Sehr
übel nahmen sie es auf, daß Preußen jetzt ohne Weiteres den 1807 an Sachsen
abgetretenen^ kottbuser Kreis wieder zu seinen Besitzungen schlug. Im Volke
war gute Gesinnung vorhanden,'man empfand das Drückende der Fremdherr¬
schaft lebhaft, die unnöthige Zerstörung der dresdner Brücke hatte besonders
böses Vink gemacht, und es gab Leute, die an Beseitigung der Jmmediat¬
commission und Ersetzung derselben durch, den ständischen Ausschuß dachten.
Aber es fehlte der rechte Muth und Schwung, es fehlte in Dresden wie in
Torgau, wo das Heer ebenfalls nach der patriotischen Seite hin zu schwanken
begann, an einem entschlossnen Geiste, der einen kühnen Schritt wagte und
den Bann der Bedenklichkeiten brach, der Alle lähmte. Keiner wollte sich zu¬
erst aussetzen. Das Volk wartete auf die Behörden, die Armee auf die Generale,
Behörden und Generale warteten auf den König, und dieser war am wenigsten
von Allen der Mann ungewöhnlicher Thaten und opfermu thiger Entschlüsse.
Indeß hatte man inzwischen doch in Plauen an eine Wendung gedacht,
die von Napoleon ab und vielleicht auf einem Umwege in das Lager der Ver¬
bündeten führte. Friedrich August und seine Rathgeber, der Minister Graf
v. Senfft und der General v. Langenau fühlten sich durch den kurzangebundenen
Ton, in welchem die Ansprachen der alliirten Feldherrn zu den deutschen Fürsten
redeten, schwer verletzt. Sie verlangten, daß man dem König die ihm als solchen
gebührende Achtung bezeuge, ihm nicht vorschreibe, sondern mit ihm unter¬
handle, mit ihm nicht verfahre wie etwa „mit einem Fürsten von Reuß oder
Waldeck". Aber sie waren doch nicht mehr so zuversichtlich in ihrem Glauben
an Napoleons Macht, und so erschien ihnen als das Vorteilhafteste, Front nach
allen Seiten zu machen und zu versuchen, während des bevorstehenden Kampfes
neutral zu bleiben.
Hierzu schien Oestreich die Hand zu bieten, welches damals, wie Senfft
durch den Gesandten Bayerns erfahren, mit dein Plane umging, die Rhein-
bundsfürsten von Frankreich zu sich herüberzuziehen. Doch auch hier vermochte
der König lange nicht zum Entschluß zu kommen. Bald nach der Ankunft des
sächsischen Hoses in Planen traf hier der östreichische Minister Fürst Esterhazy
ein und Halle eine Unterredung mit Senff!, in welcher er vorschlug, Sachsen
solle gemeinschaftlich mit Bayern und, Würtemberg bei Napoleon vorstellen,
wie wünschenswerth bei der Erschöpfung ihrer Länder und der Stimmung ihrer
Unterthanen ein Eingehen auf den vom wiener Hofe inzwischen vorgeschlagenen
Frieden sei. Friedrich August ließ hierauf die officielle Antwort ertheilen, daß
er für sich nicht unterlassen werde, dem Kaiser Napoleon seinen wiederholt
schon geäußerten Wunsch nach Frieden nochmals mitzutheilen, daß er aber be¬
sorgen müsse, die von Oestreich beantragten gemeinsamen Vorstellungen könnten
in Paris einen nachtheiligen Eindruck machen. Vertraulich aber gab sausst
dem östreichischen Minister zu verstehen, daß der sächsische Hos sich die Freund-
schaft Napoleons bewahren müsse, da auf ihr die einzige Hoffliung beruhe,
das von Rußland besetzte Großherzogthum Warschau wieder zu erlangen. Nur
wenn man in Wien dafür oder für eine Entschädigung sich verbürge, werde
ein engerer Anschluß Sachsens an Oestreich zu Stande kommen können. Fürst
Esterhazy versprach dies dem Grafen Metternich vorzutragen, und in Planen
wartete man nun weiter ab, was die Ereignisse bringen würden.
Bald traf die Nachricht von der Sprengung der dresdner Brücke ein. und
dieser Act nutzloser Barbarei wirkte so stark auf den König, daß er sofort
Thielmann in Torgau den Befehl zufertigen ließ, die Festung keinen fremden
Truppen zu öffnen und so das dort versammelte sächsische Fußvolk von den
Franzosen zu trennen.. Seine Streitkräfte mit denen der Verbündeten zu ver¬
einigen , sich mit Friedrich Wilhelm und Alexander gegen Napoleon zu verbünden,
erlaubte einerseits sein Selbstgefühl gegenüber dem Gedanken einer über ganz
Norddeutschland ausgedehnten Suprematie Preußens, andrerseits sein Respect
vor Napoleon noch immer nicht. Im Gegentheil, das Lorrücken der Spitzen
des russisch-preußischen Heeres über die Elbe bestimmte den König, seine Flucht
Weiter südlich fortzusetzen.
Er ging nach Regensburg. wo ihm bald nach seinem Eintreffen der General
Heister einen aus Breslau vom 9. April datirten Brief des Königs von
Preußen überbrachte, in welchem ihm derselbe nochmals die Pflicht ans Herz
legte, sich dem Kampfe gegen Napoleon anzuschließen. „Von jedem deutschen
Fürsten/' hieß es in diesem Schreiben, läßt sich erwarten, daß er begierig die
gewiß nie wiederkehrende Gelegenheit ergreifen werde, die ihm aufgcdrungnen
französischen Fesseln zu zerbrechen und einfach abzuschütteln, welche unser sonst
so blühendes, so geachtetes Vaterland in Elend und Verachtung gestürzt hat."
^ „Entsprechen Ew. Majestät mit mir den Wünschen unsrer Völker, befördern
Sie jede der vorübergehenden Maßregeln, die zur Erreichung des großen
Ziels unumgänglich erforderlich sind! Eilen Sie mit uns über die Mittel über¬
einzukommen, die Ihre Staaten für dieselben darbieten, und vereinigen Sie alle
Ihre Streitkräfte mit meinen und Rußlands Heeren." Es folgte dann das
Ersuchen, die sächsischen Behörden zum Verkehr mit Stein anzuweisen, der in
Sachsen mit der vorläufigen Leitung der Geschäfte betraut sei. Dann schrieb
der König: „Ew. Majestät wird es übrigens nicht befremden, daß ich die
Ländertheile (den kottbuser Kreis) wieder in Besitz nehme, die ein ungerechter,
gegen mich nicht einmal gehaltner Fricdenstractat mir abzwang und Ihnen zu¬
wendete." Nachdem der Brief dann noch um möglichst baldige Antwort gebeten,
schloß er: „Ich würde es bei der Hochachtung und den freundlichen Gesinnungen,
die ich für Ew. Majestät hege, unendlich bedauern, wenn Ihre Entschließung
mich nöthigte, Sie als einen Widersacher des edelsten Zwecks betrachten und
darnach verfahren zu müssen."
Friedrich August erwiderte dieses Schreiben am 16. April mit einem kurzen
Briefe, dessen Hauptstelle lautete: „So schmerzlich mir die neuerlich eingctretnen
Verhältnisse auch sein müssen, so schmeichle ich mir doch, daß Ew. Majestät
in meiner Handlungsweise die immer allein vorwaltende Rücksicht auf das
bleibende Wohl meiner Staaten und auf meine bestehenden Verbindlichkeiten
nicht verkennen, vielmehr derselben Gerechtigkeit widerfahren lassen werden."
In Betreff des kottbuser Kreises schwieg der König völlig. Die Verbündeten
wußten jetzt, wie sie mit ihm daran waren."
Gleichwohl fühlte man in Regensburg, aus den Berichten, die von der
Stimmung des Volkes und Heeres in Sachsen einliefen, heraus, daß sich die
bisher befolgte Politik nicht wohl mehr fortsetzen ließ, um so faßte man den
Entschluß, aufs Neue das Bündniß mit Oestreich zu suchen, um mit diesem
vereint eine neutrale Stellung einzunehmen. Man meinte es damit recht klug
einzurichten, übersah aber, daß Oestreich nicht im Ernst an Neutralität dachte,
sondern vielmehr nur die rechte Zeit abwarten wollte, um mit dem vollen Ge¬
wicht seiner Macht und im Voraus gesichertem Erfolg die Entscheidung zu geben.
Am 16. April erschien Esterhazy mit neuen Instruktionen in Regensburg, um
einen geheimen Vertrag vorzuschlagen, durch welchen sich Sachsen verpflichtete,
seine Mittel mit denen Oestreichs zu vereinigen, um dessen Bestreben nach
Wiederherstellung eines allgemeinen Friedens zu unterstützen, ferner nicht am
Kriegs als Verbündeter Frankreichs theilzunehmen, endlich über seine Festungen
nur im EinVerständniß mit Oestreich zu verfügen. Dafür gewährleistete letzteres
die Integrität Sachsens, verpflichtete sich, dem König eine angemessene Ent¬
schädigung für das Großherzogthum Warschau zu verschaffen, falls dasselbe auf¬
zugeben wäre, und versprach Sorge zu tragen, daß Erfurt. Reuß, Schwarz¬
burg, Anhalt und die sächsischen Herzogthümer der Krone Sachsen zufielen.
Außerdem verlangte der wiener Hof, daß der König sich nach Prag begäbe.
Senfft wünschte, daß der Punkt, welcher den Beitritt Sachsens zu der
östreichischen Friedensvermittelung aussprach, die Form eines öffentlichen Ver¬
trags erhielte. Aber in Wien war man dazu nicht geneigt, da sich so die
Verhältnisse zu schnell klären mußten, und auch dem König war diese Vorsicht
angenehm. Indeß hielt er es, als Napoleon sich wieder den Grenzen Sachsens
näherte, für gerathen, denselben über die Haltung, die er zu beobachten ge¬
dachte, einigermaßen in Kenntniß zu setzen. „Der Kaiser von Oestreich," schrieb
er ihm in einem vom 19. April datirten Briefe, „hat mir soeben die Schritte
mitgetheilt, welche er bei Ew. k. k. Majestät für die Rückkehr des Friedens
und die Gründung eines Zustandes dauernder Ruhe in Europa gethan hat.
Im Hinblick auf die Stellung Oestreichs, dessen Einfluß in diesem Augenblicke
Rußland und Preußen gegenüber entscheidend sein muß, während die große
Seele Ew. k. k. Majestät sich nicht den Ruhm versagen wird, durch großmüthige
Mäßigung Europa beruhigt zu haben, bin ich durch diese Eröffnungen mit den
süßesten Hoffnungen erfüllt worden. Gestützt auf die Güte, von welcher Sie
Mir so viele Proben gegeben haben, wage ich meine Wünsche mit denen der
leidenden Menschheit zu vereinigen. Ich wage vertrauensvoll zu hoffen, daß
sie Ew. k. k. Majestät zu Herzen gehen und daß Sie darin nur den Ausdruck
eines Verbündeten erblicken werden, der Ihnen aufrichtig zugethan ist, sowie
den Ausdruck der gerechten Sorge, die mir das Heil meiner Völker einflößt.
Die Uebereinstimmung in den Wünschen und der Sehnsucht, welche ich soeben
Ew. k. k. Majestät ausgedrückt habe, mußte mich dem wiener Hofe nähern,
welcher durch das ihn mit Frankreich vereinende Bündniß in gleicher Weise an
das Interesse der gemeinsamen Sache geknüpft ist, und ich glaube nicht länger
Zögern zu dürfen, mich der Einladung des Kaisers von Oestreich zufolge nach
Prag zu begeben, wo ich im Stande sein werde, in größerer Nähe über das
Wohl meiner augenblicklich vom Feinde überschwemmten Staaten zu wachen."
„Mein Entschluß ist in diesem Augenblicke besonders durch die dringende Noth¬
wendigkeit bestimmt, mich den Grenzen Sachsens zu nähern, um zu verhindern,
daß der öffentliche Geist nicht irre geführt werde, und ich glaube mir schmeicheln
ZU können, dieser Schritt werde unter den geschilderten Umständen die Billigung
Ew. k. k. Majestät finden, und Sie werden mir die Gesinnungen der Freund¬
schaft und des Vertrauens zu bewahren geruhen, welche ich als mein kostbarstes
Gut betrachte und stets durch unveränderliche Hingebung erwidern werde."
Tags- darauf reiste Friedrich August nach Linz ab, wohin Senfft ihm
folgte, und wo am 24. April die geheime Convention mit Oestreich ratisicirt
wurde. Zum Behuf weiterer Verständigung mit Metternich ging Senfft dann
nach Wien, wo er indeß nicht ganz fand, was er wünschte; denn bald wurde
ihm hier klar, daß Oestreich nicht auf Frieden hoffte, ja schon so gut wie ent¬
schieden war, am Kriege gegen Frankreich theilzunehmen, und nur zu weiteren
Rüstungen Zeit- zu gewinnen trachtete. Angenehmer war, daß Oestreich vom
sächsischen Cabinet sorgfältige Vermeidung aller Schritte Verlangte, welche zu
einem Bruch mit Frankreich führen könnten; denn hiermit war dem König die
Möglichkeit offen gelassen, sich nach Befinden Napoleon wieder mehr zu nähern.
Mit Preußen und Rußland die von den Umständen gebotenen Beziehungen
anzuknüpfen, sollte dadurch nicht ausgeschlossen sein.
Von Prag, wohin sich der König jetzt begab, richtete er unterm 29. April
an den König von Preußen ein Schreiben, in welchem er demselben meldete,
daß er sich bewogen gefunden habe, sich „den Maßregeln Oestreichs in Be¬
ziehung auf die von demselben mit Zustimmung der kriegführenden Mächte
übernommene bewaffnete Mediation anzuschließen" und daß er sich „in Betracht
dieses Verhältnisses schmeichle", der König werde „der Anwendung der zum
Behuf jenes von allen Seiten als wohlthätig anerkannten Zwecks dienenden
Mittel" in den sächsischen Staaten keine Hindernisse entgegensetzen und eine
feindliche Behandlung dieser Staaten nicht gestatten." „In ebenmäßigen Ver¬
trauen aus Ew. Majestät gerechte Denkungsart," fuhr das Schreiben fort,
„sehe ich auch zugleich mit der Aufhebung des Kriegszustandes der Wiederher¬
stellung eines tractatenmäßigen Besitzes im kottbuser Kreise entgegen, indem deren
erleuchteter Beurtheilung die gemeinschädlichem Folgen eines Grundsatzes nicht
entgehen können, welcher die Sicherheit des Besitzstandes zwischen benachbarten
Mächten aufheben würde."
Inzwischen war Napoleon durch Thietmarus Verhalten in Torgau und
durch des Königs Weigerung, die ihn begleitende Reiterei zur französischen
Armee stoßen zu lassen, argwöhnisch geworden. Napoleon verlangte die Reiter¬
regimenter nochmals und ließ merken, daß ihm dieses Erkalten der Freundschaft
Friedrich Augusts sehr mißfalle. Bald darauf mußte der Herzog von Weimar
dem König in Prag in einem Briefe die Nothwendigkeit klar machen, sich für
oder gegen Frankreich zu entscheiden, und andeuten, daß eine Abweichung von
der bisher innegehaltenen Politik den Verlust Sachsens zur Folge haben werde.
Und als dieses Schreiben keinen Eindruck machte, erschien der französische Ge¬
sandte am sächsischen Hofe, Herr v. Serra, abermals mit der Forderung, die
Festung Torgau und die sächsische Cavallerie dem Kaiser zur Verfügung zu
stellen. Der König versprach, sich die Sache zu überlegen, aber Tags nachher
stellte Senfft dem Gesandten eine Note zu, welche eine wiederholte Ablehnung
des Verlangens Napoleons enthielt. Der Bruch mit Frankreich schien vollendet,
der Anschluß an Oestreich entschieden zu sein. siegten die Verbündeten bei
dem ersten jetzt herannahenden Zusammentreffen mit dem französischen Heere,
so würde sich der wiener Hof ohne Zweifel schon damals auf ihre Seite ge¬
stellt und so würde aller Wahrscheinlichkeit nach Sachsen, der östreichischen Po¬
litik folgend, sich des Schutzes derselben erfreut und seine spätere Theilung
vermieden haben. Denn ein solcher Sieg konnte kaum ein so entscheidender
sein, daß die Verbündeten Oestreichs Bedingungen für seinen sofortigen Beitritt
zu ihrer Allianz abzulehnen im Stande gewesen wären.
Die Schlacht bei Lützen endigte nicht glücklich für die Verbündeten, und
auf die Nachricht hiervon erwachte in Friedrich Augusts engem und ängstlichen
Gemüth sofort wieder die alte halb aus Verehrung, halb aus Furcht gemischte
Untertänigkeit gegen Napoleon. Bittere Vorwürfe trafen Senfft. daß er zu
dem Bündniß mit Oestreich gerathen, reuevoll blickte der König auf seine Nach¬
giebigkeit gegen den Minister, nichts schien seine Seele mehr zu beschäftigen
als die Sorge, wie das Geschehene gut zu machen sei, und die Idee, sich durch
raschen Wiederanschluß an Frankreich zu retten, wurde, ohne Verzug zum
Entschluß. Am 7. Mai schon wurde dem Herrn v. Serra angezeigt, daß der
König seine letzten Forderungen bewillige» werde. Am 8. ging der General
Gersdorf mit der Anzeige hiervon in das Hauptquartier Napoleons ab.
Am 9. wollte Friedrich August nach Dresden abreisen. Die erst in der Nacht
bon 8. zum 9. eintreffende Note Napoleons, welche die frühere Forderung
in Betreff Torgaus und der sächsischen Reiterei wiederholte, eine ausdrückliche
Erklärung, daß der König bereit sei, alle seine Verpflichtungen als Mitglied
des Rheinbundes zu erfüllen, sowie Ausschluß über seine Beziehungen zu Oest¬
reich verlangte und für den Weigerungsfall mit Abreise des französischen Ge¬
sandten drohte, hatte diese Maßregeln nicht hervorgerufen. Sie waren lediglich
Ausflüsse des Eindrucks, den der Sieg Napoleons bei Lützen gemacht. Die
Politik des Grafen Senfft war gescheitert, er selbst nahm seinen Abschied.
Er hatte Sachsen in sicherer Neutralität abwarten lassen, wie der Kampf für
Deutschland endigen werde, er hatte ihm alle Geschenke Napoleons erhalten,
er hatte Preußen, das für Abschüttelung des französischen Jochs seine Existenz
einsetzte, das früher Verlorene vorenthalten, es auf das Maß einer Macht
dritten Ranges Herabdrücken wollen. Dieser Plan wäre in der Hauptsache
wahrscheinlich geglückt, wenn der König den Muth besessen hätte, auch nach
Lützen mit Oestreich zu gehen. Friedrich August besaß diesen Muth nicht, und
so mußte sich sein Geschick erfüllen.
Am 30. April hatte Senfft geschrieben: „Von Frankreich sind wir un¬
widerruflich geschieden." Eine Woche später, und sein Traum war vorbei.
Am 8. Mai schon konnte Napoleon einer ihm von Dresden entgegengesandten
Deputation erklären: „Euer König ist euer Retter. Nur aus Liebe zu ihm
verzeihe ich euch. Am 11. wurde Torgau geöffnet, das sehr bedeutende dort
aufgehäufte Kriegsmaterial den Franzosen zum Kampfe gegen die deutsche
Sache ausgeliefert, die sächsische Armee. 12.000 Mann stark, mit einer französischen.
Division unter Reyniers Oberbefehl gestellt. Thielmann, der zuletzt geneigt
gewesen gewesen, Torgau an die Preußen auszuliefern — er war, wie er selbst
an Stein schrieb, „kein Dort" und hatte zu lange gezögert, das Rechte, das
hier auch für Sachsen das Nützliche war, zu thun — suchte preußische, Senfft
östreichische Dienste. „Am 12. Mai" — wir citiren Hauffer — „führte Na¬
poleon durch die Spaliere seiner Truppen den König von Sachsen in die
Hauptstadt zurück. Es war eine der letzten demüthigenden Scenen, welche der
Bonapartismus dem deutschen Fürsten bereitet hat. Bei dem harten Loose, das später
den sächsischen Monarchen traf, ist nach deutscher Weise vielfach der Maßstab
gemüthlicher Beurtheilung angelegt und für des Königs persönliche Bonhommie
das Mitgefühl beansprucht worden. Dem gegenüber thut die Erinnerung noth,
wie unwürdig Friedrich August zehn Tage nach dem deutschen Heldenkampfe
bei Lützen das Gefolge des Erbfeindes vergrößerte und ihm seine Truppen
preisgab, damit sie in fremdem Dienst deutsches Blut vergießen halfen."
Die Sachsen fochten fast in allen späteren Schlachten bis Leipzig an der
Seite der Franzosen, bei Bautzen, bei Großbeeren, wo sie sich sehr tapfer
schlugen und dafür später von den Franzosen des Gegentheils geziehen wurden,
bei Dennewitz, wo sich dasselbe wiederholte, indem Ney lügnerischerweise die
Schuld des Mißlingens seines Angriffs vor allem auf die Sachsen warf,
während dieselben ihre soldatische Schuldigkeit in jeder Hinsicht besser gethan
hatten als die französischen Bataillone und Schwadronen, bei Dresden, wo sich
vorzüglich die schwere sächsische Reitei auszeichnete, zuletzt in der Völkerschlacht am
18. October.
Schon nach Dennewitz regte sich, wie in allen rheinbündlerischen Kon¬
tingenten, so auch bei den Sachsen ein mehr oder minder starkes Gefühl der
widernatürlichen Stellung, in der sie sich befanden. Man schlug sich für Frank¬
reich gegen Deutsche, man hatte — was deutlicher empfunden wurde — dafür
auf wenig Anerkennung in den Bulletins, vielmehr auf Verdrehung der Wahr¬
heit und auf Zurücksetzung gegen die Franzosen zu rechnen, man wurde in Rück¬
sicht der Verpflegung und Bequartierung stets den Franzosen nachgesetzt, man
mußte Aeußerungen, wie die Neys gegen den würtembergischen General Fran-
quemont hören: „Es liegt in unserm Interesse, daß ihr alle umkommt, damit
ihr nicht am Ende gegen uns fechtet."
Nicht wenige von den bei Dennewitz gefangnen Sachsen, froh, aus den
französischen Reihen gerissen zu sein, zeigten sich bereit, mitzukämpfen für
Deutschlands Unabhängigkeit. Da hielt Bülow den Augenblick für günstig, die
gesammte sächsische Mannschaft zu sich herüberzuziehen. Bülow richtete einen
Brief an den Oberbefehlshaber derselben, General v. Zeschau, stellte ihm vor,
daß es seine Pflicht sei. „seinen König aus dieser schmachvollen Unterwürfigkeit
zu befreien, und fuhr im Geiste, der das preußische Heer damals beseelte, fort:
„Die wahre Ehre gebietet dem Soldaten den Kampf für die Freiheit und das
Wohl des Vaterlandes. Der Eid' der Treue, den er dem ersten Bürger des
Vaterlands leistet, wird auf keine Art gebrochen, wenn er, treu dem Wohle
des Vaterlandes, einen entscheidenden, ewig ruhmwürdigen Schritt für dasselbe
thut." Den König den ersten Bürger des Vaterlands nennen, ihn und seinen
Willen dem Wohl des Landes nachsetzen, was für jacobinische Reden! „Wie
wenig." sagt Wuttke, dem wir hier folgen, „kannte Bülow die in Dresden
großgezogne Engherzigkeit!"
Auch ein Aufruf erging schon am Tage nach dem dennewitzer Siege mit
Bernadottes Gutheißung an die Sachsen. „Sachsen, deutsche Brüder und
Nachbarn," hieß es in demselben, „von den Gefilden einer gewonnenen Schlacht,
in der wir mit Unwillen euer deutsches Blut vergossen, sprechen wir noch ein¬
mal zu euch. Einst zählte Deutschland euch mit Stolz zu dem edleren Theil
seiner Söhne, die jeder Unterdrückung kühn widerstrebten. (Wohl eine der
Verwechslungen mit den Sachsen Wittekinds, wie sie in dieser Zeit nicht un¬
gewöhnlich waren.) Ihr wäret eine der kräftigsten Stützen Deutschlands. Was
seid ihr jetzt? Unterwürfige Knechte eines fremden Monarchen, Helfershelfer bei
der Unterdrückung eurer deutschen Brüder, Theilnehmer an der Verwüstung
eures vaterländischen Bodens. Wählt jetzt! Als Brüder werden wir diejenigen
von euch empfangen, die. eingedenk ihrer heiligsten Pflichten, vereint mit uns
für Deutschlands Wohlfahrt kämpfen wollen, aber wir sagen uns los von aller
Gemeinschaft mit denjenigen, die länger noch die schimpfliche Fessel des Unter-
drückers tragen; unwürdig erklären wir sie des deutschen Namens, und sie selbst
und ihre Eltern und Verwandten sollen erfahren, wie wir Deutschlands ent¬
artete Söhne zu verachten und zu strafen wissen."
Diese Ansprache drang in das sächsische Lager und blieb nicht ohne Wirkung.
Die Sachsen wurden schwierig, sie zeigten „den schlechtesten Geist" so deutlich,
daß Ney darüber an Napoleon berichtete. Einzelne sächsische Offiziere gingen
sogar bald nach der Schlacht zu den Verbündeten über, ja Major v. Bünau
warschirte in der Nacht vom 22. zum 23. September, bei Oranienbaum auf
Vorposten ausgeschickt, mit einem ganzen Bataillon vom Regiment „König" in
das Lager Bernadottes ab und wendete sich dann als Befehlshaber der ersten
Fahne der „königlich sächsischen Legion der Verbündeten" an seine zurückgebliebnen
Kameraden mit einer Ansprache, in welcher er ihnen zurief: „Glaubt ihr, daß
die Zeit nahe ist, wo das Joch der Tyrannei zerbrochen und der Nacken des
Vaterlandes von dem Fuß des Unterdrückers befreit werden wird, so habt auch
den Muth und den Willen, diesen Zeitpunkt herbeizuführen. Kommt also hier-
her zu uns!" Auch das blieb gewiß nicht ohne Eindruck. Doch folgte die große
Mehrzahl noch der Abmahnung von Dresden her, die infolge der Nachrichten
von dem überhandnehmenden Unmuth der Armee um diese Zeit im Lager ein-
traf. Der König war für immer zu Napoleon zurückgekehrt. Als „Landesherr"
wendete sich Friedrich August am 26. September an seine Soldaten. Er sprach
von seinen ..Vaterrechten auf sie" und rief ihnen feierlich zu: „Mir und meiner
Sache habt ihr geschworen"), mir wolltet ihr treu, hold und gewärtig sein."
Und eine zweite Kundmachung des sächsischen Königs vom 27. September er¬
klärte, daß „Unterthanentreue heilig sein sollte", und führte seinen Sachsen zu
Gemüthe, „unbedingt unterwürfig und gehorsam zu sein", drohte auch, „mit
unnachsichtiger Strenge die gegen Rebellen und Vaterlandsverräther in den Ge¬
setzen geordneten Strafen ohne Rücksicht und Ausnahme in Anwendung zu
bringen". In der That, es mußte sehr übel stehen mit der Stimmung des
Volkes und der Armee, wenn man genöthigt war, in diesem Tone über „wahre
Ehre" zu belehren!
So kam die Schlacht bei Leipzig heran. Friedrich August war zum zweiten
Mal von Dresden geflüchtet. Napoleon hatte ihm freigestellt, seinen Aufenthalt
in Torgau oder Leipzig zu nehmen. Der alte König hatte das letztere vor¬
gezogen. Am Tage des Treffens bei Liebertwolkwitz kam er in einem langen
von seiner Leibgarde escortirten Wagenzuge mit der Königin hier an und stieg
am Markt im thomäschen Hause ab.
Die sächsischen Truppen standen am 16. October unter Reynier bei Duden.
Reynier begriff das Mißliche ihrer Lage und kannte ihre üble Stimmung. So
schickte er einen sächsischen Offizier, v. Schreibershofen, an den eben in Leipzig
eingetroffenen König, um ihm zu sagen, „daß. falls er über seine Truppen zu
verfügen wünsche, Reynier dem Befehle nachkommen und sie, vielleicht nach
Torgau, entlassen wolle." Der König aber beließ es beim Alten. Schreibers¬
hofen hatte auch eine Meldung an Napoleon zu überbringe», wahrscheinlich in
Betreff der Unzuverlässigkeit der Sachsen; denn in der Nacht zum 18. kam
von letzterem der Befehl, dieselben nach Torgau zu schicken, doch war der Weg
nicht mehr offen. Inzwischen wären die Sachsen am 17. von Eilenvurg aus
in die französische Schlachtlinie eingerückt, und zwar standen sie theils in Leip¬
zig, theils bei Stötteritz (hier nur Reiterei), theils auf dem linken Flügel Na¬
poleons bei Paunsdorf und dem Vorwerk „Der heitere Blick" und waren hier
circa 4.000 Mann stark, mit 19 Geschützen und 652 Pferden. Den Oberbefehl
führte v. Zehnden, unter ihm commandirten die Infanterie der Generalmajor
v. Ryssel und der Oberst Brause. Beim Eintreffen auf dem Schlachtfelde hielt
Zeschau eine Anrede an sie, in welcher es hieß: „Wir werden in diesen Tagen
im eigentlichen Sinne für unsern König fechten; er ist in Leipzig.' Jeder treue
Sachse hat also Ursache, alle seine Kräfte doppelt anzustrengen, um seine Pflicht
zu erfüllen." Er schloß mit einem Hoch auf den König und glaubte überzeugt
sein zu können, daß „ein guter Geist die Masse beseelte".
Dies war der Fall, wenn auch nicht im Sinne Zeschaus. Die oben ge¬
schilderte Mißstimmung reifte bei den Offizieren allmälig zum Entschluß, auch
die Gemeinen waren erbittert auf die Franzosen, sie wollten nicht, wie später
einer von ihnen sich äußerte, „an eine ausländische Nation versalbadert, ver¬
kauft und verrathen werden". Noch im Laufe des 17. und am Vormittag des
18. October verständigten sich die höheren Offiziere mit einander in Betreff des
Uebertritts zu den Verbündeten, und am Nachmittag des letzteren Tages be¬
gann derselbe. Ein am weitesten nach Taucha hin vorgeschobenes Bataillon
ging zuerst über. Etwas später folgte, von übermächtiger russischer Cavallerie
schwer bedroht, die Reiterei, ein Husaren- und ein Ulanenregiment, mit Hurrah¬
ruf, den Säbel in der Scheide nach. Als Ryssel und Brause dies bemerkten,
baten sie Zeschau, den König wissen zu lassen, daß der Wunsch des Heeres
Trennung von den Franzosen sei. Zeschau ging darauf ein. Nachmittags nach
zwei Uhr kam von Leipzig die schriftliche Antwort Friedrich Augusts, in welcher
die Truppen einfach auf „Erfüllung ihrer Pflichten" hingewiesen wurden. Als
Zeschau diesen Bescheid mittheilte, erwiderte Rysscl, daß die Pflicht gegen das
Vaterland die Grenze für die Pflicht gegen den Souverän ziehe, worauf es
einen Wortwechsel gab, nach welchem Ryssel einsah, daß er jetzt ohne Zeschau
zu handeln habe. Nach drei Uhr ergriff er die Gelegenheit, welche die Flucht
der hinter den Sachsen stehenden französischen Division Durutte vor den Brand-
racketen des englischen Hauptmanns Bogue darbot, und gab das verabredete
Zeichen, worauf Fußvolk und Artillerie sich nach der Linie der Verbündeten hin
in Bewegung setzten. Umsonst thut Zeschau Einspruch, erklärt Ryssel für ab¬
gesetzt, commandirt „Halt, Gewehr beim Fuß!" Vergebens jagt Reynier vor,
schreit: „Wo geht ihr hin? Was thut ihr?" Der Marsch geht weiter, nur
etwa 600 Mann bleiben, abgedrängt, bei Zeschau zurück. Dasselbe ist mit den
bei Stötteritz stehenden Kürassierer der Fall, die auch nicht können, was sie
möchten. Die übrigen Sachsen gelangen glücklich in die russischen Reihen
hinüber.
Sobald Bennigsen das Ereigniß dem russischen Kaiser und dem König von
Preußen gemeldet, ließen dieselben Ryssel und Brause zu sich rufen und dankten
ihnen für diesen Beweis deutscher Gesinnung, doch setzte Friedrich Wilhelm
hinzu, sie hätten lange auf sich warten lassen. Nach sächsischen Angaben hätten
die Bundesfürsten auch versichert, „daß durch den Uebertritt die Integrität
Sachsens gerettet worden sei". Dies klingt nicht wahrscheinlich, wenigstens ist
das Wort „Integrität" gewiß nicht gebraucht worden. Allein etwas Aehnliches
kann geäußert worden sein; denn was in Kalisch und Breslau in Betreff Nord¬
deutschlands verhandelt worden, war Oestreich zu Gefallen und weil der hohe Geist
Steins die Monarchen nicht mehr bestimmte, schon vor dem reichenbacher Ver¬
trage wenn auch nicht ganz aufgegeben, doch sehr beschränkt worden, und so
kann man sich wohl bis zu einen gewissen Grade Beitzke anschließen, wenn
er sagt: „Der Uebertritt des ganzen sächsischen Heeres vor dem Waffenstillstande
(vom 4. Juni), wenn er Thielmann gelungen wäre, hätte dem König ganz
Sachsen erhalten; der Uebergang der sächsischen Division bei Leipzig rettete ihm
wenigstens die Hälfte seines Landes; denn dies war das einzige Argument,
welches die fremden Mächte zur Erhaltung von Sachsen in Anwendung zu
bringen vermochten." Große Bedeutung für den Ausgang der Schlacht hatte
übrigens ,der Uebergang der Sachsen zu den bisherigen Feinden nicht. Jeder
Verständige, der seinen Verstand brauchen will, fleht, daß der Abfall von etwa
Vierthalbtausend Mann nicht einmal an der Stelle der Schlachtlinie Napoleons,
wo er geschah, eine durchschlagende Wirkung üben konnte, geschweige denn auf
den Gang des großen Kampfes von einer halben Million Kriegern. Höchstens
eine moralische Wirkung mag man zugestehen, da Freund und Feind jetzt
deutlich erkennen mußten, daß auch im Bewußtsein der Rheinbundstruppen die
Glorie Napoleons völlig ervlichen war.
Bei Friedrich August wird das nicht der Fall gewesen sein. Als die
Schlacht sich am 18. October näher nach der Stadt hingewälzt hatte und
einzelne Kugeln in die Straßen gefallen waren, hatte er sich in den Keller des
von ihm bewohnten Hauses geflüchtet. Hier kam zu ihm Zeschau und meldete
ihm betrübt, daß die Mehrzahl der ihm anvertrauten Mannschaften zum Feinde
übergegangen sei. „Desto größer ist der Werth derer, die treu blieben", er¬
widerte ihm der alte Herr. Bis zum Abend erhielten ihn die Franzosen
in dem Wahne, daß der Sieg sich ihnen zuneige. Erst um 9 Uhr enttäuschte
ihn ein sächsischer Offizier, und etwas später ließ ihm Napoleon selbst sagen,
daß er sich nach Erfurt zurückziehen werde, und ihm freistelle, ob er ihm da¬
hin folgen oder bleiben wolle. Er bleibe in Leipzig, ließ er dem Kaiser
antworten.
Am 19. früh kam Napoleon selbst, um Abschied zu nehmen. Friedrich
August, der Mann der strengsten Etiquette, empfing ihn, der in dein bekannten
grauen Ueberrock erschien, wie immer in Gala, Uniform mit Ordensband und
Stern, seidnen Strümpfen und Schuhen. Was sie während dieser Viertel¬
stunde mit einander geredet haben, weiß man nicht, doch läßt sich aus einer
späteren Aeußerung des Königs schließen, daß Napoleon ihm Muth einzusprechen
versucht hat. Als der Kaiser fort war, ging Friedrich August wieder in seinen
sichern Keller hinunter. Er war (wir erzählen nach Wuttke) völlig rathlos,
seine Lage höchst peinlich. „Was thun?" fragte er seinen Adjutanten v. Bose.
So rasch als möglich einen Unterhändler an die Verbündeten Herrscher schicken,
war die Antwort, und dieser Rath war gut; denn durch schnelles Unterhandeln
und geeignetes Befehlen in der Stadt, wo der König jetzt wieder einen Willen
haben durfte, hätte sich vielleicht wenigstens die Gefangenschaft abwenden lassen-
Jeder Augenblick Verzug verminderte diese Möglichkeit. Aber Friedrich August
zog vor, sich erst mit seinen gewöhnlichen Berathern, den „alten Getreuen, die
ihn auf den Abweg gebracht hatten", zu benehmen.
Ein Theil der in Leipzig stehenden Polen besann sich, daß sie keine Franzosen
seien, und daß ihr Gebieter eigentlich der Großherzog von Warschau, also
Friedrich August sei. Ihr General Dombrowski schickte zu ihm und ließ ihm
erklären, daß er und seine Leute jeden seiner Befehle aufs pünktlichste voll¬
ziehen würden. Sie vermehrten aber damit nur die Verlegenheit im thomäschen
Hause. „Er habe ihnen nie einen Befehl ertheilt," lautete die Antwort des Königs,
„sie möchten auch jetzt die von Napoleon erhaltenen Jnstructionen befolgen."
Mittlerweile war bei Kaiser Alexander der sächsische Oberst Ryssel der
Jüngere erschienen, der aus freien Stücken, jedoch mit Vorwissen des Cabinets-
ministers Grafen Einsiedel den Versuch einer Vermittelung für seinen König
übernommen hatte. Ryssel soll in französischer Sprache Alexander angeredet
haben: sein König habe ihn beauftragt, zu eröffnen, daß Leipzig den ver¬
bündeten Truppen ohne Schwertstreich übergeben werden würde, wenn diese
den französischen Truppen nur vier Stunden zur Räumung der Stadt zuge¬
standen; falls dieser Vorschlag nicht berücksichtigt werden sollte, würden die
Franzosen die Stadt zu deren Verderben bis auf den letzten Blutstropfen ver¬
theidigen. Alexander soll ruhig zugehört, dann aber nach vorwurfsvollen Be¬
merkungen über das Betragen des Königs von Sachsen, dessen Worten zu
glauben, dessen Vorschläge anzunehmen er keine Veranlassung mehr haben könne,
geäußert haben: nicht einmal eine Minute gewähre er. „Ich habe Ihnen
nun alles gesagt; Sie können zurückkehren."
Indeß nahm man noch einmal Rücksicht, indem Alexander aus seinem
Gefolge Toll und Preußens König aus dem seinigen Natzmer an Friedrich
August sandten, um auf Ryssels Botschaft zu antworten: „Von Unterhandlungen
mit dem König von Sachsen könne nicht mehr die Rede sein, nachdem er alle
frühern Anträge zurückgewiesen habe. Die sächsischen Truppen jedoch wolle
man nicht feindlich behandeln, wenn sie binnen einer halben Stunde ihre Ge¬
wehre in Pyramiden zusammengestellt hätten, und die Stadt werde man schonen,
wenn der Feind sie unverzüglich räume." Als Toll und Natzmer in des Königs
Wohnung gelangten, erregte ihr Erscheinen sichtbare Verwirrung. „Seine
Majestät," hieß es, „sind nicht zu sprechen." Sie traten entschieden auf, es
sei hier keine Zeit zu verlieren. Darauf kam der König „aus dem Keller her¬
vor, in Gala, bleich". Nach ihrem Vordringen antwortete er: „seine sächsischen
Truppen könne er nicht aus dem Gefecht zurückziehen; denn er habe sie dem
Kaiser Napoleon, seinem hohen Alliirten, übergeben, von diesem und dessen
Marschällen, nicht von ihm würden sie befehligt; hinsichtlich der Leipzig be¬
treffenden Maßregeln verweise er die Herren an den Herzog von Padua (Arrighi),
den sein hoher Verbündeter zum Gouverneur der Stadt ernannt habe." Und
dabei blieb es auch, als die Abgesandten ihr Erstaunen über diese Sprache
ausdrückten. Noch immer überwog bei dem König die Hoffnung. Als Toll
darauf hinwies, daß diese Erklärung mit Nyssels Auftrag in offenbarem Wider¬
spruch stand, stellte Friedrich August dies nicht in Abrede, äußerte aber, er
habe geglaubt, Napoleon habe Nyssels Sendung veranlaßt. Vor einer halben
Stunde erst sei dieser, sein hoher Alliirter, bei ihm gewesen und habe ihm ver¬
sichert, daß er Leipzig nur verlasse, um im freien Felde zu manövriren, die
Stadt aber in zwei oder drei Tagen entsetzen werde.
So mußte Leipzig denn gestürmt werden. Endlich war es vollbracht.
Von unermeßlichen Jubelruf empfangen, zogen Alexander und Friedrich Wil¬
helm in die Stadt ein. Es war ein Uhr, als sie auf dem Markte anlangten.
„An der Thür seines Hauses stand der alte König von Sachsen; er ging den
triumphirenden Herrschern nicht entgegen, trat nicht aus der Flur auf die
Straße, er wartete, daß sie zu ihm herankamen. "Kalt seinen Gruß erwidernd
zogen sie ihres Weges weiter." Jetzt erst bedachte sich Friedrich August und
ließ Alexander fragen, wann und wo er ihm seinen Besuch machen könne.
Es war zu spät. Am Abend des Tages wurde ihm die Antwort, er habe in
Begleitung eines russischen Geheimraths nach dem Schlosse Friedrichsfelde bei
Berlin abzureisen. Später brachte man den Gefangenen von dort nach Pres-
burg. Seinen Thron hatte er nach dem Recht der Eroberung verloren, unter
das er sich selbst gestellt. Wie Frankreich und Oestreich bei Hardenbergs
Schwäche und Rußlands unsichrer Haltung ihm das halbe Land zurückvcrschafften,
ist früher von uns bereits ausführlich mitgetheilt worden.
„Wir besitzen gegenwärtig in Wünschenswerther Vollständigkeit die Quellen
für die richtige Auffassung Galileis. Vor allem ist hier die italienische Schrift
des Ritters Venturi von Wichtigkeit, in welcher neben völlig genügenden
Auszügen aus den Proceßacten eine Reihe sehr wichtiger Briefe des damaligen
toskanischen Gesandten in Rom, Niccolini, vorliegen. Aeltere Nachrichten und
die vorhandenen Briefe Galileis werden hierdurch vervollständigt, während
einige neuere Schriften noch brauchbares Material hinzufügen. Unsere Aufgabe
ist es hier, möglichst kurz den ganzen Sachverhalt in klares Licht zu stellen."
Diesen Sätzen begegnen wir gleich auf der ersten Seite einer zwei Druck-
bogen starken Bcochüre, welche vor wenigen Wochen die Presse verlassen hat.
Versetzen wir uns in die Lage eines vorher mit den historisch feststehenden
Thatsachen unbekannten und zugleich an das redliche und tiefe Wissen des
Verfassers glaubenden Lesers, so werden wir auf jene Einleitung hin uns etwa
folgender Gedanken nicht erwehren können: Früher faselte man allerlei über
Galileo Galilei; man hatte eben das genügende Material noch nicht beisammen.
Gegenwärtig ist das glücklicherweise anders. Ein Ritter Venturi hat, jeden¬
falls in jüngster Zeit, das zusammengestellt, was zu einer richtigen Auffassung
des Streites nothwendig war, noch einige Andere haben Brauchbares hinzuge¬
fügt, wiewohl offenbar nicht viel, denn sonst hätte der wackere Gelehrte, von
welchem die Schrift herrührt, die ich in der Hand habe, sie gleichfalls mit
Namen genannt, so gut wie den Venturi, und jetzt endlich werde ich kurz und
klar erfahren, wie die Sache sich eigentlich verhält.
O du guter, gläubiger Leser, wie sehr bist du im Irrthum! Die Gegen¬
wart deines Verfassers ist eine längst vergangene. Ritter Venturi hat freilich
in Modena zwei Quartbände herausgegeben unter dem Titel: Nsmoris s lötters
illöMg dovra v äisperss Al VMvoI,(?Msi, aber das geschah in den Jahren
1818—21, und seitdem ist erst, kann man sagen, der historische Streit über
die Verurtheilung Galileis durch die Inquisition entbrannt; seit der Zeit sind
»se Arbeiten veröffentlicht worden, welche theils mit entschiedener Partei¬
nahme, theils kritisch und parteilos die Frage erörterten, ob gegen Galilei
eine Sünde kirchlicher Justiz begangen wurde, ob nicht. Eine orthodoxe Dar-
stellung im Juliheft 1838 der Dublin Review; eine gegen die katholische
Kirche feindliche Auffassung von Libri im vierten Bande seiner Listoirs ass
«eisuees luatkörnatiquös en Italis, 1841; eine Abhandlung von Clemens in
dem siebenten Bande der historisch-politischen Blätter für das katholische Deutsch,
land von Philipps und Görres. 1841, deren Richtung durch den Namen der
Zeitschrift sich kennzeichnet; eine gleichfalls 1841 erschienene englische Schrift
von Brewster, liives cet Valileo, l^alö Lralrs ima Kepler, tus mart^rs
ok «eignes, folgten einander rasch. 18S0 kam die officielle Darstellung der
römischen Curie: Sslilso s 1' inguisisiollö aus der.Feder des Prälaten Marino
Marini. Alfred von Reumont beschäftigte sich mit dem Gegenstande in einer
vortrefflichen Abhandlung in dem ersten Bande seiner „Beiträge zur italienischen
Geschichte", 1853; Biot in dem Journal ach Savants, 1858 ; Cantor im neunten
Bande der Zeitschrift für Mathematik und Physik, 1864; Bertrand in der
Ksvue ach äsux inonäes desselben Jahres. Dieses nur die Namen der selbst,
ständigen Arbeiten, welche seit Venturi erschienen, und neben welchen noch viele
andere Abhandlungen, als bloße Zusammenstellungen, unerwähnt bleiben mögen,
neben welchen aber auch als Quellenwerk die 1842—56 in Florenz von Alben
besorgte sechzehnbändige Gesammtausgabe von Galileis Werken genannt werden
muß. die manche neuen Actenstücke zu den schon vorhandenen ergänzend hin¬
zufügte. Sicherlich einige neuere Schriften, welche noch brauchbares Material
liefern, mag nun die Brauchbarkeit als eine allgemein geschichtliche, oder als
eine solche aufgefaßt werden, die eine vorausbestimmte Absicht anerkennt.
Bei der Brochüre des Herrn Christian Hermann Vosen „Galileo Galilei
und die römische Verurtheilung des kopernikanischen Systems" dürfen wir die
Brauchbarkeit in dem zuletzt angegebenen Sinne verstehen. Ist sie doch von
dem katholischen Brochürenverein in Frankfurt a. M. herausgegeben; hat sie
also doch sicherlich den Zweck, die sogenannten Verläumdungen aus dem Wege
zu räumen, welche man aus Anlaß des galileischen Processes auf die Kirche,
auf die Religion geschleudert hat; denn wer könnte bezweifeln, daß der
Religion Gefahr droht, wenn man behauptet, eine in ihrer wissenschaftlichen
Eitelkeit gekränkte Clique habe einmal vor 250 Jahren ihren Einfluß mi߬
braucht! Solchen Parteischriften gegenüber sind wir persönlich sehr geneigt,
eine möglich nachsichtige Beurtheilung eintreten zu lassen. Wir verlangen nicht
von H. Vosen, daß er alle die Arbeiten nenne und berücksichtige, welche wir
oben erwähnt haben. Aber das zu verlangen sind wir denn doch berechtigt,
daß er die Abhandlung von Clemens, mit welcher er zuweilen überraschend
wörtlich übereinstimmt, und die er darnach Wohl gelesen haben wird, genannt
hätte; daß er ferner sich mit der, wie gesagt, officiellen Darstellung von Marino
Marini erst bekannt gemacht hätte, bevor er sich erlaubte „den ganzen Sach¬
verhalt in klares Licht zu stellen".
Daß nämlich aus diesem officiellen Buche des verstorbenen Präfecten des
vaticanischen Archivs ein ganz 'anderes Bild des Processes gegen Galilei zu
entnehmen ist, als H. Vosen es gegeben hat, davon mag folgende Zusammen¬
stellung überzeugen, bei welcher für die wichtigsten Momente gerade Marino
Marini*) als Gewährsmann citirt werden soll. Uebergehen wir deshalb
die ganze erste größere Hälfte des vielbewegten Lebens von Galileo Galilei,
die Zeit von seiner Geburt, welche den 18. Februar 1564 erfolgte, bis zum
10. Juli 1610, wo er den Abmahnungen seiner Freunde zuwider einen Ruf
des Großherzogs Cosmus des Zweiten annahm, durch welchen er seine Stellung
als vielgehörter, aber auch vielbeschäftigter Professor in Padua mit der eines
Professors der Universität Pisa vertauschte, ohne die Verpflichtung, auch nur
in Pisa seinen Wohnsitz aufzuschlagen, geschweige denn wirklich dort zu lehren,
dagegen mit der Möglichkeit von der aus der Universitätscasse ausgezahlten
Besoldung bequem leben und seine Zeit ohne Zersplitterung nur seinen
Forschungen, seinen Entdeckungen widmen zu können. Wir verlieren dabei
allerdings die Gelegenheit den Ruhm des großen Mannes, des Archimedes
seiner Zeit, wie man ihn nannte, entstehen zu sehen, näher zu erörtern, wie
er die Pendelgesetze, die Gesetze des freien Falles , die Lehren der Hydrostatik
entwickelte; wie er das Fernrohr nach dürftiger Mittheilung über die Existenz
eines solchen Instrumentes nacherfand; wie er die Monde des Planeten Jupiter,
wie er die Sonnenflecken entdeckte. Wir treffen mit ihm zusammen, gerade
wo er die wechselnde Sichelgestalt des Planeten Venus zuerst bemerkt und in
derselben eine mächtige Stütze der kopernikanischen Ansicht über das Weltsystem
erkennt. Galilei ist also schon im Besitze der kaum bestrittenen Führerschaft in
den Naturwissenschaften, bewundert und geliebt von seinen Schülern und An¬
hängern, gefürchtet und gehaßt von seinen Gegnern und Neidern.
Man muß billig sein, er besaß diese Gegner nicht umsonst. Er selbst hatte
den Kampf von frühester Zeit an gegen die herrschende Schule der Aristoteliker
begonnen, er hatte ihn geführt mit dem scharfen Witze, der ihm zu Gebote
stand, der jedem auch anonym erschienenen Produkte seiner Feder zur un¬
trüglichen Unterschrift diente, der überall, wo er treffen sollte, auch traf und
schmerzhafte Wunden schlug. Jetzt wo er die wichtigsten Entdeckungen gemacht
hatte, die zur Bestätigung der seit 1543 bekannten, aber noch immer nicht über
alle Zweifel erhobenen Lehre von der Sonne als Mittelpunkt und der um die¬
selbe kreisenden Erde dienen konnten, jetzt lag, um mit den Worten des
H- Vosen (S. 7) zu reden, dem übereifriger Astronomen für seine
eigene Ehre und für den Fortschritt der Wissenschaft viel daran,
ein förmliches Gutheißen des Papstes für die neue Anschauung
Zu erwirken. Freilich würden wir statt „des Papstes" lieber gesagt haben
»der in Rom vereinigten hochstehenden Männer der Wissenschaft". Dort gab
es noch Gelehrte, die dem Galilei wenn auch nicht ebenbürtig waren, doch
ihm nahe standen; es gab deren in verschiedenen geistlichen Orden, auch unter
dem der Jesuiten, wir nennen nur Pater Scheiner und Pater Clavius.
So kam Galilei im Frühjahre 1611 nach Rom, und welchen Eindruck er
dort unter den nennenswerthen Persönlichkeiten machte, davon schreibt der
Cardinal del Monte am 31. Mai 1611: „Galilei hat in den Tagen seines
Aufenthaltes in Rom vielfach befriedigt, und ich glaube, auch er ist zufrieden
gestellt, denn er hatte Gelegenheit seine Entdeckungen so gut zu zeigen, daß
alle Männer von Bedeutung und Erfahrung in dieser Stadt dieselben als
völlig wahr und reell anerkannten, aber auch als wunderbar." (M. 80) Freilich
begannen auch schon die Feinde alsbald ihr Spiel. Während die ^eaäömig.
6ol lineei öffentlich für Galilei sich erklärte, schrieb Cardinal Rob. Belwmino
(M. 81) einen Brief an die Mathematiker des Collegio Romano, um sie zu
einer Untersuchung der galileischen Schriften aufzustacheln, ob dieselben vor
dem strengen Glauben bestehen könnten. Die Commissäre, darunter Pater
Clavius, Pater Gremberger, Pater Lembus entschieden zu Gunsten des Galilei,
der also jetzt einer Verurteilung seiner Lehren entging (it libw rests immune
äalle censure äslla In^msiÄove), allein der Anstoß war doch durch Bellarmino
gegeben. Ist es wohl mit Rücksicht darauf, daß H. Vosen denselben S. 12
und S. 18 den mit dem geachteten Astronomen persönlich be¬
freundeten Cardinal Bellarmino nennt? Galilei hatte, durch andere
Erfindungen in Anspruch genommen, unter welchen die des Mikroskops 1612
hervorzuheben sein dürfte, nicht die Zeit, sich jetzt auf Streitigkeiten über das
Weltsystem einzulassen. Waren doch die bedeutenden Männer auf seiner Seite,
und gegen den großen Hausen aristotelischer Professoren richteten Vernunft¬
gründe doch nichts aus. Was konnte man Leuten gegenüber machen, welche
z. B. erklärten, sie wollten den Versuch nicht anstellen, die Sonnenflecken zu
sehen. Die Existenz derselben sei eine absolute Unmöglichkeit; denn bei Aristoteles
seien sie nirgends erwähnt. Freunde und Schüler des Galilei, besonders ein
hochgebildeter Benedictiner. Pater Castelli, führten den Kampf zum Theil mit
den Waffen des Witzes, da eine ernsthafte Discussion oftmals unmöglich war,
und Galilei scheint nur manchmal noch den satirischen Theil jener Streit¬
schriften ergänzt zu haben. In der Redaction des H. Vosen (S. 11) heißt
dieses- „Der übermäßige Eifer, mit welchem Galilei nach seiner Rückkehr von
Rom die neue Ansicht zu verbreiten suchte, stachelte seine Gegner auf, und ein
Dominikaner in Florenz schrieb und disputirte gegen den Gedanken an die
Bewegung der Erde."
Mag nun in jener Disputation zwischen dem Doctor Boscaglia und Pater
Castelli bereits von der Stellung der heiligen Schrift zur Frage des Weltsystems
die Rede gewesen sein, oder mag Galilei von selbst in Versuchung gekommen
sein, den autoritätsbedürftigen Aristotelikcrn eine noch höhere Autorität ent¬
gegenzustellen, genug, jedenfalls spielte sich jetzt der Streit auf theologisches
Gebiet hinüber, indem Galilei in einem Brief an Castelli vom 21. December
1613' auf die Bibelstelle über das Stehenbleiben der Sonne aus Josuas Geheiß
hinwies und zeigte, daß die wörtliche Annahme dieser Stelle zum entgegen¬
gesetzten Resultate führen müßte, als Josua beabsichtigte, nämlich zu einer Ver¬
kürzung statt zu einer Verlängerung des Tages (N. 83). Dieser in vielen
Abschriften verbreitete Brief gab nun Gelegenheit, die Persönlichkeit Galileis
selbst mit ins Spiel zu ziehen.
Ein Dominikaner, Pater Caccini, predigte über die Stelle 8o1 contra
elaoaov ne moveari» (M. 86) und begann die Predigt mit den Worten der
Apostelgeschichte: Viri (ZialilÄ ciuicl Stalls s.<Z8vieievtos in cneluln. Ja ^
gelangte in dieser an heiligem Orte gehaltenen Streit- und Schmährcde so weit,
daß er behauptete, die Mathematik sei Teufelswerk, und die Mathematiker
müßten als Ketzer aus allen christlichen Landen verbannt werden. Der Domini¬
kanergeneral Marofsi entschuldigte zwar diesen Skandal, wie er selbst sich aus¬
drückte: (Reumont a. a. O. S. 314) mit der Albernheit des Redners, allein der
'jetzt durch Caccini abschriftlich nach Rom mitgetheilte Brief Galileis an Castelli
veränderte die dortige Stimmung in bedenklichster Weise. Zwar fehlte es
Galilei auch jetzt noch nicht an hochstehenden Freunden. Neben dem Jesuiten
Nov. Bellarmino, der gegen Galilei wirkte, stand Maffeo Barberini, ein Zög¬
ling desselben Ordens, mit Entschiedenheit ein für den von ihm bewunderten
Gelehrten. Aber die Gegner bildeten bereits die Mehrzahl, und als Galilei
1616 nach Rom gelangte, um die Sache der Wissenschaft zu vertheidigen, da
blieb Cardinal Barberini mit seinem Antrage, die Meinungen Galileis für kühn,
aber nicht für irrig zu erklären (die Zeitschrift „Der Katholik" Juniheft 1864
S. 692 Anmerkung) vereinzelt. Der Ausspruch der von Papst Paul dem Fünften
eingesetzten Qualificatorcn ging dahin 1) daß die Lehre vom Stillstehen der
Sonne als absurd und falsch in der Philosophie und der heiligen Schrift zu¬
widerlaufend erscheine und daher häretisch sei; 2) auch der Gedanke, daß sich
die Erde bewege, sei absurd und falsch in der Philosophie, der heiligen Schrift
zuwider und im theologischen Sinne, wenn nicht gerade häretisch, doch als irrig
im Glauben zu erachten.
Clemens in der früher erwähnten Abhandlung und im engsten Anschlusse
«n ihn H. Vosen (S. 8—10 und S. 13—20) haben sich viele Mühe gegeben,
dieses Urtheil als objectiv correct hinzustellen. Sie haben dazu besonderes Ge¬
wicht auf den Umstand gelegt, daß die kopernikanische Lehre damals in der
That nur zur Hälfte als erwiesen betrachtet werden konnte. Die Astronomie
sprach für dieselbe, die Physik sprach dagegen, so lange man annahm, die Erde
bewege sich nicht mit der Luft, sondern durch die Luft, mit anderen Worten
so lange die Schwere der Luft noch unbekannt war, welche erst von Torricelli
behauptet wurde. Allein wie konnte man deshalb die Lehre zu einer theils im
Glauben irrigen, theils sogar zu einer häretischen stempeln? Wie kam man da¬
zu, an Galilei persönlich ein Verbot zu richten, jemals wieder in irgendeiner
Weise durch Wort oder Schrift jene Ansichten zu hegen, zu lehren oder zu
vertheidigen? Ein Verbot, welchem gegenüber, wie' es in den Protokollen
heißt, Galilei sich zur Ruhe gab und Gehorsam versprach, aeyuiövit et xarcii-L
pwwisit (M. 94).
Ein solches Verbot, die Mundtodtmachung eines Einzelnen, während man
doch die Möglichkeit besaß, seine Schriften nach dem Erscheinen zu prüfen, wie
man es auch mit anderen Schriftstellern übte, dies Gebahren zeigt hinlänglich,
daß der Haß gegen Galilei das Urtheil dictirt hatte, nicht etwa die vorhandene
oder vorhanden geglaubte Gefahr für den rechtmäßigen Glauben. Es zeigt
daß Pater Gremberger die Wahrheit, sagte, wenn er noch 1634 sich äußerte:
„Hätte Galilei sich die Freundschaft der Väter des Jesuitencollegiums zu be¬
wahren gewußt, so würde er ruhmvoll vor der Welt dastehen und hätte nichts
von all dem Mißgeschick erlitten, und es hätte ihm freigestanden, nach Gut¬
dünken über alle und jede Materie zu schreiben, selbst über die Erdbewegung."
(Neumond S. 410.)
Freilich nachdem am 26. Februar jenes Verbot an Galilei ergangen war,
konnte man nicht umhin, auch das Werk zu verurtheilen, aus welchem Galilei
nur die strengen Folgerungen gezogen hatte, und so wurde am 5. März das
Hauptwerk des Copernicus selbst auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt,
bis es Aenderungen erfahren haben würde. Diese Aenderungen, vom Cardinal
Gaetani herrührend (M. 98) erschienen den 16. Mai 1620 und bestanden ein¬
fach darin, daß die Behauptungen des Copernicus in Hypothesen umgewandelt
wurden, während die eigentliche Beweisführung unangetastet blieb.
Ursprung und Bedeutung dieser Veränderungen sind leicht ersichtlich. Schon
als 1343 das Buch des Copernicus erschien mit der beiden bestehenden con-
fessionellen Richtungen innerhalb des Christenthums Genüge leistenden, doppel¬
ten Empfehlung, der Widmung an Papst Paul den Dritten und der Herausgabe
durch Andreas Osiander, schon damals mochte eben dieser Herausgeber die
Wirkung ahnen, welche das gewaltige Buch auf ängstliche Gemüther machen
konnte. Osiander schickte deshalb eine Vorrede voraus, in welcher mit Rücksicht
auf den allgemeinen Gebrauch der Astronomen Hypothesen aufzustellen, auf
deren Wahrheit es nicht gerade ankomme, wenn sie nur der mathematischen
Beweisführung Dienste leisteten, auch die Lehre von der Bewegung der Eröe
als eine derartige Hypothese dargestellt war. In ähnlicher Weise hatte Masfeo
Barberini dem Galilei den Rath gegeben in hypothetischer Form zu schreiben,
und vor allen Dingen die heilige Schrift aus dem Spiele zu lassen. In diesem
Sinne waren also die Veränderungen, zu welchen Cardinal Gaetani ganze vier Jahre
nöthig hatte, während ebensoviele Stunden dazu genügt hätten; ein sicherer Beweis,
daß dieser Rückzug des heiligen Osficiums nach dem Beschlusse vom 6. März
1616 nicht so leichthin angetreten wurde, sondern jedenfalls den Kampf der
verschiedenen Einflüsse bezeugt, der mit dem Siege der freieren barberinischen
Anschauung endigte; eine Anschauung, die in noch liberalerer Weise in jenen
Worten des Kardinals Baronio sich kundgiebt: „der heilige Geist habe uns
lehren wollen, wie man zum Himmel gelange, nicht wie die Himmelskörper sich
bewegten". (M. 53.)
Bis zum Jahre 1623 Verharrte Galilei der Oeffentlichkeit gegenüber in
Stillschweigen, wenn er auch insgeheim nicht unthätig war, vielmehr alles zu
einem entscheidenden Streiche gegen seine Feinde vorbereitete, sobald eine günstige
Gelegenheit sich bieten würde, den Streit wieder aufzunehmen. Da wurde
Maffeo Barberini nach dem Tode Pauls des Fünften als Urban der Achte zum
Papste gewählt. Galilei eilte nach Rom, um dem langjährigen Freunde zu
seiner Erhöhung Glück zu wünschen, und bei dieser Gelegenheit erschien eine
Streitschrift des Galilei, it LaMÄtore, die Goldwage genannt, von der
Akademie dei Lincei selbst herausgegeben und dem Papste gewidmet. Ueber
die wissenschaftliche Veranlassung und über den Erfolg dieser Schrift können
wir H. Vosen reden lassen (S. 20): „Galilei hatte infolge der Erscheinung
dreier Kometen (1618) seinen Freunden Betrachtungen über die Natur und
Eigenthümlichkeit dieser Himmelskörper mitgetheilt. Sein Schüler Mario Gui-
ducci fand sich durch den Stoff dieser Mittheilungen später zur Abfassung einer
Schrift über diesen Gegenstand veranlaßt, in welcher er den Jesuiten Grassi in
Rom scharf beurtheilte. Da der Beleidigte irrthümlich den Galilei selbst für
den Verfasser dieser Schrift hielt, so veranlaßte dieser Irrthum ihn zu Angriffen
gegen den ohnehin den Theologen anrüchigen Astronomen. Bei diesem Anlasse
beachtete der dadurch gereizte Galilei das noch bestehende Verbot zu wenig, und
trat mit einer Streitschrift unter dem Titel Lg,Mg,toi-ö auf, die in Italien
ihres Stiles wegen als ein Muster von Streitschrift bewundert wurde. Hier¬
durch verfeindete er sich im Ganzen mit den Jesuiten und zog sich dadurch von
theologischer Seite neues Mißtrauen zu, indem man das bestehende Verbot
kopernikanische Ansichten anders als blos in Gestalt der Hypothese vorzubringen.
M seinen Auslassungen verletzt finden konnte."
Wir bezweifeln fast, ob H. Vosen, als er diese Zeilen schrieb, daran dachte,
wie sehr dieselben in Verbindung mit jenem, von ihm allerdings nicht erwähnten
Ausspruche des Paters Gremberger dazu angethan sind, den Proceß gegen
Galilei in ein anderes „klares Licht zu stellen", als er beabsichtigt.
Die Versuche, das Verbot des LaMiatorö zu erlangen, schlugen fehl.
Mag sein, daß gerade dadurch Galileis Sicherheitsgefühl wuchs, daß die Zu¬
versicht in ihm entstand, jetzt sei der heißersehnte Augenblick gekommen, seinen
Gegner ganz zu vernichten. Er übergab seine Gespräche über die beiden
großen Weltsysteme dem Drucke. Sie erschienen 1631 in Florenz. Man
sollte nicht denken, daß es möglich gewesen, diesen Gesprächen nachträglich noch
etwas anzuhaben. Der Inhalt freilich war etwas verfänglicher Natur. Sa-
gondo, Salviati und Simplicius unterhalten sich über die ptolemäische und
kopernikanische Weltanschauung. Am Schlüsse des Buches trennen sie sich mit
der Verabredung, demnächst zu wiederholter Besprechung wieder zusammen¬
zutreten, da keiner den andern überzeugt hat. Der unbefangene Leser merkt
jedoch gleichwohl, daß Simplicius, der Vertreter der ptolemäischen Ansicht,
durchaus geschlagen ist, und daß der Verfasser nur aus Vorsicht dieses Ergebniß
der Besprechungen nicht ausdrücklich eingestehen ließ. Aber so bedenklich von
dem Standpunkte der Kongregation aus dieser Inhalt sein mochte, die Correct-
heit der Form mußte dem Buche Sicherheit gewähren. Außer einer Vorrede,
in welcher ausdrücklich hervorgehoben wurde, der Zweck des Werkes sei die
Beweisführung von der Richtigkeit de^s ptolemäischen Systems gegenüber von
dem durchaus verwerflichen und auch mit Fug und Recht von der heiligen
Congregation verworfenen Systeme des Kopernikus, außer dieser Vorrede diente
dem Werke ein doppeltes Imprimatur zum Schutze, das des florentinischen wie
des römischen Censors. Beide hatten demnach die Gespräche einer Prüfung
unterzogen und nichts darin gesunden, was nicht hätte gedruckt werden dürfen.
Wir können sogar mit Wahrscheinlichkeit die Druckerlaubniß noch zu einer
höheren Instanz hinauf verfolgen. Der römische Censor, Palastmeister Riccardi,
erklärte am 23. April 1633 (M. 127), er habe das Imprimatur nur im Ein¬
verständnisse mit seiner Heiligkeit selbst ertheilt, er wies ein diese Aussage be¬
stätigendes Billet des päpstlichen Privatsecretärs Ciampoli vor, das dieser in
der persönlichen Gegenwart von Urban dem Achten geschrieben haben will.
Und wenn auch der Papst später die Wahrheit dieser Aussagen in Abrede stellte,
wenn Riccardi und Ciampoli ihrer Stellen deshalb entsetzt wurden (M. 113),
so scheinen sie doch weit eher bestraft worden zu sein, weil sie 1633 die Wahr¬
heit sagten, als weil sie 1632 eigenmächtig gehandelt hatten. Dann erscheint
aber auch die Vorrede in ganz anderem Lichte, welche Riccardi mit einem
Briefe vom 19. Juli 1631 von Rom nach Florenz schickte (M. 114), und als
ausdrückliche Bedingung zur Erlangung der Druckerlaubniß es angab, daß jene
Vorrede dem Werte vorangeschickt werde, eine Vorrede, die somit möglicherweise
auch bis auf Urban den Achten zurückzuführen ist. Jedenfalls verschwindet
damit der Vorwurf der Feigheit, den man Galilei wohl mitunter darüber ge¬
macht hat, daß er in der Vorrede Heuchlerischerweiseden entgegengesetzten Zweck
angegeben habe, als den er eigentlich im Auge hatte. Und von diesem Ge¬
sichtspunkte aus ist auch zu würdigen, was H. Vosen (S. 21) sagt: „Man
fühlte sehr begreiflichen Unwillen über solch eine listig ausgedachte Form, den
Weisungen der kirchlichen Autorität zu entwischen, die fast wie absichtliche Ver¬
höhnung dieser Autorität erschien. Kein Wunder also, daß man die Gefährlich¬
keit eines solchen Beispiels um so höher anschlug, je bedeutender der Mann
war, von welchem es ausging, und dergleichen nicht ohne nachdrückliche Rüge
lassen zu dürfen glaubte."
Das konnte der wahre Grund nicht sein zu dem Prvceßverfahren, welches
jetzt gegen Galilei eingeleitet wurde; das war nur eine Art von Vorwand, den
man benutzte, ebenso wie es nur ein Vorwand war, daß man jetzt auf das an
Galilei persönlich erlassene Verbot Von 1616 zurückgriff. Hatte er sich durch
Übertretung desselben strafbar gemacht, nun so war diese Uebertretung schon im
Saggiatore vorhanden, so mußte schon damals eingeschritten werden. Was
war denn nun der wahre Grund des Processes, oder, um deutlicher zu reden,
weshalb gab jett Urban der Achte die früher verweigerte Genehmigung zur
Einleitung des Verfahrens? Die Antwort geht dahin, daß es den Feinden
Galileis gelungen war, dem Papst die Meinung beizubringen, als habe Galilei
ihn selbst in der Person des Simplicius verspottet. Simplicius führt nämlich
einen Grund gegen das kopernikanische System an, den er aus dem Munde
einer gelehrten, hochgestellten Persönlichkeit vernommen haben will. (M. 107.)
Es-sei Gott, dem Allweisen und Allmächtigen, leicht gewesen, seine Zwecke auf
die verschiedensten Arten zu erreichen, und somit erscheine es als ein Zweifel
an der Allmacht, wenn man behaupten wolle, nur in einer bestimmten Weise
könne dieses oder jenes erzielt werden, wenn man glaube mit mathematischen
Begründungen dieser Behauptung auszuweichen.
Es ist nun keine Frage, daß dieser Grund allerdings eines Tages in einem
Privatgespräch von dem damaligen Maffev Barbarini gegen Galilei geltend ge¬
macht worden war. Man kann auch zugeben daß Urban der Achte Aerger darüber
empfinden durfte, daß seine vertraulichen Aeußerungen so an die Oeffentlichkeit
gezogen wurden. Allein der Vorwurf ist sicherlich unberechtigt, als ob Sim¬
plicius die Karrikatur des Papstes selbst sein sollte. Wie leicht wäre dieser
Vorwurf schon durch die eine Gegenbemerkung zu entkräften gewesen, daß
Simplicius jene Rede nicht als seine eigenen Gedanken hält, sondern als Mit¬
theilung von hoher Stelle; daß in der That dieser Gegengrund, so sophistisch
er unseren Ohren klingen mag. fast das einzige Vernünftige ist. was Simplicius
ausspricht. Freilich gab es, als die Verläumdung zuerst dies Gift in Urbans
Ohr träufelte, keine Freunde Galileis in der unmittelbaren Nähe des Papstes,
welche Gegenbemerkungen gemacht hätten. Die Jesuiten hatten den geistvollen,
kenntnißreichen, aber jähzornigen Mann zu isoliren gewußt, bevor sie das Reiz¬
mittel anwendeten, sie hatten vielleicht damit begonnen, Galilei als Feind der
Jesuiten darzustellen, um daran anzuknüpfen, wie Urban der Achte doch auch ein
Zögling ihres Ordens sei und deßhalb sehr hämisch verspottet werde. Nachdem
es einmal gewirkt hatte, konnte Urban der Achte zwar in Hinblick auf die alte
Freundschaft und Achtung seinen Zorn niederkämpfen Und, so weit es möglich
war. nach Einleitung des Proceßverfahrens noch seine Hand schützend über
Galilei halten; allein das Gift hatte doch gewirkt, der Proceß hatte begonnen
und mußte bis zu gewissem Grade seinen Lauf haben. Der Papst endlich ließ
sich nie vollständig überzeugen, daß Galilei ihn nicht verspottet habe; das geht
mit aller Bestimmtheit aus Unterredungen hervor, welche er noch nach Ablauf
des Processes sowohl mit dem toskanischen als mit dem französischen Gesandten
führte. Auch hier dürfte es nicht uninteressant sein zu vergleichen, wie diese
Dinge in der Phantasie des H. Vosen sich abspiegeln. Dort heißt es (S. 21):
»Man erzählte später, einer der heftigsten Feinde Galileis, Scipione Chiara
nordi, Lehrer der Philosophie in Pisa, habe sogar beim Papste die Denun¬
ciation angebracht, der Verfasser des Dialoges habe unter der Person des dort
auftretenden und lächerlich gemachten Simplicius den Papst selbst wegen seiner
Einfalt in solchen Fragen zu verhöhnen beabsichtigt. Urban der Achte dagegen
habe so wohlwollende Gesinnungen gegen Galilei gehabt, daß er denselben
von dieser „Intrigue seiner Feinde in Kenntniß setzte". Es ist sehr zu be¬
dauern, daß H. Vosen nicht seinen Gewährsmann für diese letzte Sage an¬
führt, die uns wenigstens in seiner Brochüre zum allerersten Male begegnete.
Das Verfahren begann mit einem Decrete vom 24. August 1632. in
welchem der Verkauf der Gespräche bis auf weiters verboten wurde, sämmtliche
noch vorräthige Exemplare sollten nach Rom geschickt werden. Einen Monat
später erfolgte mit dem Datum des 23. September auf besondere Verordnung
des Papstes (M, 120) eine allgemein gehaltene Vorladung an Galilei, er solle
im Laufe des Oktobers sich vor dem Pater Commissarius des Santo Ofsizio in
Rom stellen, wo er schon erfahren werde, was er zu thun habe. Galilei ver¬
sprach zu kommen und kam nicht. Einer erneuerten Vorladung vom 13. November
wich er in gleicher Weise aus, indem er Krankheit vorschützte. Er war zwar
gichtleidend, hatte auch eben erst ein nicht unbedeutendes Augenübel überstanden,
allein es ist doch nicht unwahrscheinlich, daß neben dem körperlichen Befinden
auch eine gewisse moralische Unbehaglichkeit ihn befiel bei Erhaltung einer Vor¬
ladung vor ein Tribunal, dem Niemand ohne Zaghaftigkeit gegenübertrat.
Ein dritter Befehl vom 11. Januar 1633 konnte nicht länger umgangen werden.
Galilei reiste ab, brachte 25 Tage auf der Reise zu und erhielt trotz aller dieser
Verzögerungen bei der Ankunft in Rom die Erlaubniß in dem toskanischen Ge¬
sandtschaftshotel zu wohnen statt in den Gefängnissen der Inquisition, eine
neue, ganz außergewöhnliche Vergünstigung, welche der Papst selbst ihm ge¬
währte (M. 124), ein Beweis, daß hier schon jener geheime Schutz sich bemerk¬
lich macht, durch welchen Urban der Achte unschädlich zu machen suchte, was er in
einem gereizten Augenblicke selbst gegen Galilei angeordnet hatte. Urban der Achte
blieb sich in diesem Schutze gleich während der ganzen Dauer des Processes.
So versprach er am 13. März dem Gesandten Niccolini, Galilei solle, wenn
seine Gegenwart im Jnquisitionspalaste nöthig erscheine, eine besondere Woh¬
nung, kein Gefängniß angewiesen erhalten, und auch diese Zusage wurde pünkt¬
lich erfüllt. Galilei bereitete sich inzwischen auf sein Verhör vor. Seine Ab¬
sicht war, offen für die Wahrheit dessen einzutreten, was er geschrieben hatte.
Noch am 8. April äußerte er sich in dieser Weise gegen Niccolini. Aber dieser
ermahnte ihn, wie wir aus seinen vorhandenen und mehrfach gedruckten Ge¬
sandtschaftsberichten nach Florenz wissen, sich zu unterwerfen. „Er ist darüber,"
schreibt Niccolini, „in die tiefste Betrübniß verfallen, und von gestern bis heute
dermaßen zusammengesunken, daß ich für sein Leben äußerst besorgt bin."
In dieser Stimmung wurde Galilei am 12, April vorgeführt. Wir be¬
greifen es jetzt, daß er, um sich zu entschuldigen, sogar zu der Lüge sich er¬
niedrigte, er habe das Verbot von 1616 nicht übertreten, weil er nicht für,
sondern gegen die Gründe des Kopernikus geschrieben habe. Wir begreifen
es. daß er im zweiten Verhöre am 30. April, bis zu welcher Zeit er im Jn-
quisitionspalaste verblieb, seine erste Aussage nur dahin änderte, daß er ein¬
sehe, gefehlt zu haben, daß er um Erlaubniß bat. das am Ende des Buches
in Aussicht genommene Schlußgespräch noch schreiben zu dürfen, wo er alsdann
die falsche Meinung gründlich widerlegen werde. Wir begreifen diese Hand¬
lungsweise, so kleinlich, so unwürdig des großen Galilei sie erscheint; denn Galilei
war eben doch ein 70jähriger gebrechlicher Greis; er kannte seine Feinde, er wußte,
wäre es auch nur aus dem Tode des Giordano Bruno gewesen, wessen sie fähig
waren; und der einzige Mann, der offen zu ihm hielt, Niccolini selbst, hatte
ihm die Unterwerfung angerathen. Galilei wurde nun in das Gesandtschafts¬
gebäude zurückgebracht und nur am 10. Mai noch eine kurze Weile verhört
und zur Einreichung seiner etwaigen Vertheidigung aufgefordert, welche er
indessen schon fertig bei sich hatte und übergab (M. 132). Die Beurtheilung
dieser Schrift besorgte dann Pater Jachöfer und Pater Zaccaria Pasqualipo
(M. 65).
So weit stimmen die Thatsachen, welche aus den Berichten Niccolinis zu
entnehmen sind, vollständig mit den Auszügen aus den Proceßaeten überein,
wie sie in dem Buche von Marino Marini sich finden. Jetzt aber tritt ein
offenbarer Widerspruch hervor, der nicht genug betont werden kann. Am 18. Juni
bittet Niccolini um Beschleunigung der Verhandlungen und erfährt von dem Papste,
die Sentenz sei bereits gefällt. Das Buch und die darin ausgesprochenen
Irrlehren würden verboten. Galilei wegen Ungehorsam gegen das Decret von
1616 zu Gefängnißstrafe verurtheilt werden. Ueber eine milde Ausführung
des Urtheils könne man später noch verhandeln, vorläufig sollte aber Niccolini
reinen Mund halten, jedenfalls aber an Galilei nur die erste Hälfte des zu er¬
wartenden Urtheils mittheilen, sowie daß es ihm in Kurzem eröffnet werden würde.
Die Proceßacten wissen nun freilich von einer am 16. Juni gefällten
Sentenz (M. 61), allein diese geht nur dahin, Galilei solle über die Inten¬
tion, d. h. über die Absicht, welche er mit seinem Buche gehabt habe, befragt
werden. Am 21. Juni ward er dazu vorgeführt. Es wird ihm unter anderm
die Drohung vorgehalten, man werde zur Folter schreiten, wenn er nicht die
Wahrheit sage bezüglich dieser Absicht (M. 62: cisvemstur contra ipsum aä
remsäiA Mris se taeti opportune; M. 69: se si äieto quoä äicat veritatem
alias äeveriivtur s,ä torturam). Der Unglückliche ruft verzweifelnd aus: „Ich
bin in Euren Händen (M. 62)! Macht mit mir was Ihr wollt!"
Ob wohl H. Vosen dieses Verhör kannte, als er S. 24 schrieb: „Von
Folter konnte schon an sich der Sachlage nach nicht die Rede sein, denn es
handelte sich ja nicht um irgendein erforderliches Geständnis;, wofür allein an
etwaige Tortur zu denken wäre. Galileis Ankläger war ja sein vorliegendes
Buch, und die Verhandlung, die in Rom persönlich mit ihm zu führen war,
drehte sich nur um die Frage, ob er sich über die anscheinend ihn gravirenden
Aeußerungen des Buches in irgendeiner die Schuld mildernden Weise erklären
könne. Wie hätte dabei die Folter in Anwendung kommen können, wo an
keine verborgene Schuld gedacht wurde."
Galilei wurde nun, wie es scheint, in einen der gewöhnlichen Jnquisitions-
kerker geworfen. Denn einestheils steht es fest, daß er im Palaste zurück¬
gehalten wurde, anderntheils geht aus einer Stelle eines Briefes Galileis vom
28. Juli 1634 hervor, daß er einmal eingekerkert war, und das kann nur bei
dieser Gelegenheit gewesen sein. Jene Briefstelle lautet nämlich „daß ich die
Bitte nach der Stadt zurückkehren zu dürfen nicht wiederholen möge, sonst
werde man mich aufs neue in den wirklichen Kerker des Sant Uffizio ein¬
sperren" (Reumont a. a. O. S. 409). Am 22. Juni morgens wurde Galilei
vor die Versammlung der Cardinäle und die Prälaten der heiligen Kongrega¬
tion gebracht. Sein Urtheil wurde ihm verlesen. Er mußte seine falschen,
den Lehren der Schrift zuwiderlaufenden Meinungen abschwören und einer
Gefängnißstrafe sich unterwerfen, deren Dauer von dem Willen des Papstes
abhängig gemacht wurde. Nach demselben trat er diese Gefängnißstrafe in
mildester Form an, denn zum Orte seiner Haft wurde ihm von Papst die
eigene Villa des Niccolini auf Trinita dei Monti bestimmt.
Wir haben oben auf einen Widerspruch aufmerksam gemacht, welcher
zwischen den Proceßacten und den Thatsachen stattfindet. Hauptsächlich darin
tritt er hervor, daß im Verhör vom 21. Juni mit der Folter gedroht wurde
(daß von derselben keine Anwendung gemacht wurde, werden wir später sehen)
und daß doch vorher kein Beschluß sogenannter „Territion" vorhanden ist.
Sollte hier nicht eine Lücke in den Acten sich finden? Ferner ist das Urtheil
nur von sieben Richtern unterschrieben, drei Richter, unter ihnen der Neffe des
Papstes, Francesco Barberini, haben nicht unterschrieben, dissentirten folglich.
Auch davon steht nichts Directes in den Acten, und doch dürften Verhandlungen
darüber geführt worden sein. Spricht nicht auch dieses für eine Lücke in den
Acten? Endlich behauptet Delambre. welcher die Acten etwa 1798 in Paris
in Händen hatte, sie seien lückenhaft, und Venturi (II, 197) spricht ihm dieses
nicht blos nach, sondern erklärt bestimmt, die Lücke müsse vor dem Verhöre
vom 21. Juni vorhanden sein. So geneigt wir nach Obigem sind, Venturis
Behauptung vollständig beizustimmen, so macht uns doch Marino Marini-wie¬
der stutzig, welcher mehrfach behauptet, die Acten seien nicht lückenhaft. Leider
ist eine Prüfung durch den Augenschein nicht möglich, allein eine Vergleich»««.
einiger Angaben von Marino Marini selbst (M. 65 und 66) scheint zu be¬
weisen, daß er hier die Unwahrheit gesagt hat. Die Acten waren ursprünglich
mi.t anderen Proceßacten in einen Band zusammengeheftet, welcher die Ur. 1180
trug, und von Seite 337 bis zur Seite S62 auf Galilei sich bezog. Noch vor
1789 hat man aus diesem Theile einen neuen Band Ur. 1181 gebildet, und
spätestens damals, behaupten wir, kamen fünf Blätter abhanden. In dem
neuen Bande ist nämlich außer der alten mit Seite 337 beginnenden Paginirung
"och eine neue Paginirung unten an den Seiten angefangen, die aber nicht
durchgeführt ist, sondern bei Seite 103 aufHort, d. h. offenbar bei jener Seite,
die in alter Pagination 439 hieß. Die Seite, die darnach folgt, muß die alte
440 gewesen sein, d. h. eine Rückseite, oder wenn auf dieser aus irgendeinem
Grunde nichts geschrieben war. die Seite 441 alter Bezeichnung. Wenn daher
Marino Maria (M. 65) ausdrücklich jbezeugt, .unmittelbar (jmmöüiÄta.monts)
»ach S. 103 neuer Paginalion komme die alte Seite 451, so fehlen eben die
5 Blätter, welche früher als S. 441—450 bezeichnet waren. Nun kann man
sich auch denken, warum die neue untere Pagination noch vor der Hälfte der
Acten abblicht. Ein Leser derselben, vielleicht gar Delambre, wollte den ganzen
Band frisch paginiren und hörte plötzlich auf, als er an eine Lücke kam.' Die
Zeit endlich, zu welcher die Lücke entstand, haben wir oben, so weit es möglich
ist, angegeben: vor 1798, denn in diesem Jahre kam der Band bereits nach
Paris,'wo er lange Zeit verloren, wahrscheinlich absichtlich verborgen gehalten
blieb, bis er 1850 durch Vermittlung des Grafen Rossi nach Rom zurück ge¬
langte und am 8. Mai jenes Jahres dem Archive des Vatikans aufs neue
einverleibt wurde (M. 152).
Wir haben oben bereits versucht aus Vermuthungen herzustellen, was der
Inhalt der fünf fehlenden Blätter gewesen sein wird; kurz gesagt: die Ver¬
handlungen zwischen der Majorität und Minorität der Commission, letztere
unterstützt durch den Papst, Verhandlungen, welcke zum Theil um die Frage
sich drehten, ob Galilei gefoltert werden dürfe, und die nur dahin führten,
daß es erlaubt wurde, ihm geistige Qualen zu bereiten dadurch, daß man ihn
mit der Folter bedrohte.
Er wurde in Wirklichkeit nicht gefoltert. Das ist sicher gestellt durch den
Bericht Niccolinis vom Abend des 24. Juni, in welchem dieser entzückt ist von
der Milde Urbans des Achten; könnte er sich so äußern, wenn sein Freund ge¬
foltert worden wäre? Das ist ferner sicher gestellt dadurch, daß Galilei am
6- Juli bei frischem Wetter vier Millim zu Fuß zurücklegte; das war absolut
unmöglich, wenn er 14 Tage vorher gefoltert^vordem wäre. Aber weshalb wurde er
denn nicht gefoltert? Wieder aus dem Grunde und nur aus dem Grunde, weil
Urban der Ächte ihn schützte. Die Anwendung der Folter konnte in Rom nicht
ohne Befragung des Papstes (M. 58) zum Vollzuge kommen, und der Papst
verweigerte seine Einwilligung. Die milde Gesinnung Urbans des Achten blieb
sich auch nach der Verurtheilung Galileis so weit getreu, daß er ihm gestattete,
zuerst bei dem Crzbischof von Siena dem Namen nach in Hast zu leben, in
Wirklichkeit aber frei und ungebunden, denn Crzbischof Ascanio Piccolomini
war Galileis Schüler und langjähriger Verehrer. Im December 1633 erhielt
Galilei sogar die Erlaubniß, auf seine eigene Villa zu Arcetri sich zurück-
zuziehen allerdings „mit dem geschärften Befehl, weder nach >der Stadt zu
gehen, noch Besuch vieler Freunde zu empfangen, noch sie zum Gespräche ein¬
zuladen", wie Galilei in dem schon einmal erwähnten Briefe vom 28. Juli
1634 schreibt. Weiteres wurde ihm nie gestattet. Dem Namen nach gefangen
und der That nach wenigstens immerßmit strengem Gefängnisse bedroht, blieb
Galilei in Arcetri bis zu seinem Tode, der den 8. Januar 1642 erfolgte.
Clemens und H. Vosen, der auch hier seinem Vorgänger fast wörtlich
folgt, wissen zwar die letzten Lebensjahre noch ganz anders darzustellen. Sie
kennen einen Brief von Galilei an seinen Schüler Namen vom December 1633,
in welchem es heißt: „Bor fünf Monaten entließ man mich von Rom zu einer
Zeit, als gerade in Florenz die Pest herrschte. Mit liebreicher Großmuth wurde
mir daher als Arrest der Palast des Erzbischofs Piccolomini, meines so theuren
Freundes, den ich in Siena hatte, zugewiesen. Ich genoß dessen angenehme
Unterhaltung mit solcher Ruhe und Zufriedenheit des Gemüths, daß ich dort
meine Studien wieder vornahm. Als nun nach fünf Monaten in meiner
Heimath die Pest aufhörte, wurde mir im Anfange des Decembers dieses
Jahres 1633 erlaubt, die Einschränkung dieses Hauses mit der ^Freiheit des
Landlebens, die ich so sehr wünsche, zu vertauschen. Daher begab ich mich
auf die Villa Bellosquarde und hernach nach Arcetri, wo ich mich jetzt befinde,
um nahe bei meiner lieben Heimath Florenz diese vortreffliche Lust zu genießen."
Die in diesen Sätzen sich kundgebende Sorgfalt des Papstes für Galileis Ge¬
sundheit ist wahrhaft rührend. Wie bedacht ist er. daß Galilei ja nicht der
Pest zum Opfer werde; welche idyllische Freiheit des Landlebens gewährt er
ihm nicht! Wirtlich ist es Jammer und Schade, daß der ganze Brief an¬
erkanntermaßen unecht ist, eine Fälschung des Duca Caetani (Reumont a. a. O.
S. 386).
Doch genug über diesen Gegenstand. Nur einmal noch zum Schlüsse
wenden wir uns an H. Vosen. S. 32 sagt er: „Wer übrigens vom speciellen
Standpunkte des confessionellen Hasses aus den übel angebrachten Eifer der
römischen Glaubenswächter damaliger Zeit gegen Galilei als katholische Un¬
wissenheit bezeichnen will, den mahnen wir'all die gleiche Erscheinung unter
den damaligen Protestanten. Johannes Kepler, der größte Astronom vielleicht
aller Zeiten, hat von den protestantischen Theologen in Tübingen kurz vorher
wegen Vertheidigung der topernikanischen Ansicht viel mehr zu leiden gehabt
als Galilei in Rom."
Worin dies „viel mehr" bestand, was Kepler zu leiden hatte, wissen wir
freilich nicht. Allein das wissen wir: Wenn aus dem Processe Galileis, einem
Parteiprocesse, wie hier gezeigt worden ist, auch jetzt noch Capital gemacht
wird, so ist es nicht der übel angebrachte Eifer der römischen Glaubenswächter
damaliger Zeit, den man geißelt. Das ist es vielmehr, daß heute wie
damals eine nicht religiöse, eine politische Clique unterj gleichem Vorwande
der Religionsgefahr dem Fortschritt auf allen Gebieten des Lebens entgegen¬
tritt. Die Stimme dieser Partei hören wir auch wieder aus den Worten,
die erst bei den jüngsten Heiligsprechungen in Rom ertönten:
„Die Wissenschaft, so sagte man schon zu Zeiten Gregors des Großen,
die Wissenschaft besteht darin, das Gegentheil der Wahrheit zu beweisen und
den Sinn der Worte zu verdrehen."
Daß unser Particularismus mehr als Brot essen kann, ist Ihnen genügend
bekannt. Seine neueste Leistung aber werden Sie nicht erwartet haben: siew
ein completes Wunder, falls es heutzutage irgend noch Wunder giebt. Sie
Wissen, wie man im Sundewitt und auf Alsen früher über den Herzog von
Augustenburg dachte. Ein Dutzend Hofbeamte, einige andere zu Dank und
Unterthänigkeit Verpflichtete hielten zu ihm, die Mehrzahl der Bevölkerung
fühlte sich von ihm abgestoßen. Viele haßten ihn sogar und nicht ohne Ursache,
wenn überhaupt zu hassen erlaubt ist. Auch das jüngere Geschlecht theilte
diese Empfindungen. Und nun hören Sie, was jetzt geschieht. Jetzt kommt
der Herzog, nachdem er Gravenstein in der Stille wiedererworben — Erwerb
und Rückkunft beiläufig gegen sein ausdiückliches versprechen im Artikel 2 des
Uebereinkommens vom 30. December 18S2 —und siehe da, was vegiebt sich!
Die Bekehrung Sanct Paul! ist nichts dagegen. „Es war" — ich citire
die gewiß unverdächtige Nordd. Zeitung — „ein Juveltag, wie Gravenstein
ihn lange nicht gesehen. Das hatte nichts Affectirtcs. das kam von Herzen
und ging zu Herzen." Massen von Volk aus der Umgegend herbeigeströmt,
darunter etliche vierzig Turner, darunter an die dreißig Berittene, die dem
Plötzlich populär gewordenen und sehnsuchtsvoll Erwarteten von Hockeruv bis
Gravenstein als Vorreiter das Geleit geben. Vor dem Flecken, der mit Kränzen
und Fahnen geschmückt ist, eine stattliche Ehrenpforte. Überschwengliches Hoch¬
rufen, Tusch der Musik, Blumenwerfen einer weißgekleideten Damenschaar, als
um zwei Uhr der Herzog mit dem Prinzen Ehristian eintrifft. Dann herzliche
Begrüßungsrede und herablassende Erwiederung. Und nun der Gipfel des
Mirakels — werden sich glauben? — Die Turner spannen die Pferde aus,
verwandeln sich — o Ovidius! — in Rosse und ziehen den Wagen mit der
Durchlaucht unter Hurrahgcwieher bis auf den Schloßhof, wozu die Musikanten
das „Nationallied" ausspielen, selbstverständlich das Schleswig-holsteinische Na-
tionallied. Ausgeschirrt werden die Gäule dann mit einem Frühstück bewirthet,
das Unnatürlichste an dem Wunder, meinte ein Freund, der Zeuge gewesen
war und Heu und Hafer erwartet hatte. Abends zum Schluß brillante
Illumination, Pechtränze, Theertonnen. Serenade mit blaurothweißen Laternen,
wiederholtes donnerndes Vivat, die ganze Luft erfüllt von der Weihe „auf¬
richtiger Anhänglichkeit und Verehrung". Nicht die Spur von Claque. nichts
von Künstlichkeit, von Einwirkung Kiels. Alles genuin aus der innersten
Seele des Volkes gequollen. Sie zucken die Achseln und sagen: Aus dem
Munde der Unmündigen hast Du Dir Lob bereitet. Sagen Sie das nicht,
lassen Sie uns noch ein Weilchen so fortgedeihen wie in den letzten Monaten,
so werden Sie legitimistische Mirakel erleben, wie sie kaum die glänzendste Zeit
der bourbonischen Restauration in Frankreich gesehen hat.
Indeß Scherz bei Seite. Die Sache ist richtig, aber ein Wunder geschah
damit gerade nicht. Die gravensiciner Demonstration kam aus der nachgerade
bekannten Fabrik solcher Kundgebungen zur Verstärkung der particularistischen
Gesinnungstüchtigkeit und zur Täuschung der öffentlichen Meinung in Deutsch,
land. Selbst unsern Blauen war damit des Guten zu viel gethan, das Ge¬
dächtniß der Menschenkinder zu wenig berücksichtigt, ihrem Glauben zu Starkes
zugemuthet. Mehre von ihnen tadelten namentlich an dem Arrangement mit
den Turnern den gar zu altmodischen Geschmack, andere mißbilligten mehr die
Bedientenhaftigteit. die sich von diesem Geschmack hatte mißbrauchen lassen.
Im Großen und Ganzen ist die Stimmung ungefähr die bisherige, weil
die Mittel, auf sie einzuwirken, sich nicht geändert haben. Doch scheint es fast,
als ob die Anschauungen der nationalen, deren Verlangen jetzt ungeschmälerte
Erfüllung der preußischen Forderungen vom 22. Februar ist. wenigstens unter
der gebildeten Classe etwas mehr Boden, oder richtiger mehr offene Bekenner
gewinnen wollten. In Akkon« schmäht „die Schleswig-Holsteinische Zeitung"
w der alten ungeschliffnen Weise aus Preußen fort, aber wer sich dort wirt-
licher Bildung und namentlich politischer Einsicht erfreut, neigt sich auf die
Seite der Preußischgesinnten, und wir erwarten in diesen Tagen Zeichen davon.
In Itzehoe haben mehre angesehene Kaufleute und Fabrikanten sowie der
dortige Physicus das Programm der nationalen unterschrieben. In Elmshorn
unterzeichnete unter andern der Sländeabgevrdnete Dient, in Angeln außer mehren
Gutsbesitzern der außerordentlich beliebte Dr. Wurmb in Gekling. der im Malz
v. I. Wortführer der großen Angliterdepntation war. In der Stadt Schleswig
sogar, die neuerdings start particularistische Gesinnung entwickelte, schlössen sich
eine Anzahl Bürger an, ja selbst in den Marschen erfolgten Leitritte, und aus
dem sehr durchwühlten Eiderstedt wird berichtet, daß zwar die Vereine mit den
gewohnten Thorheiten fortfahren, überall da aber, „wo man sich als Kommunal-
beamter einer größeren Bedeutung seines Votums bewußt ist", einedeutlich erkennbare
Abneigung herrscht, sich an Agitationen und Demonstrationen zu betheiligen.
Wir haben Ursache, zu glauben, baß das Sprichwort: „Wem Gott ein Amt giebt, dem
giebt er auch Verstand", sich an den Herren bald nicht blos in negativer, sondern in
positiver Weise bewähren wird. Die Stillen sind nicht die Schlechtesten, obwohl
etwas mehr Regsamkeit und etwas wenigerSchweigen schon darum gut sein würde,
weil man bei dem Gegentheil in Berlin nicht ersährr. daß noch Verstand im
Lande gilt. Das letztere ist wirklich mehr der Fall, als ich vor einigen Wochen
noch glaubte, das gilt selbst von Gutsbesitzern und Pächtern mittleren Ranges.
Wer Preußen nicht liebt, der weiß doch meist, daß es eine Macht ist, der man
mit Resolutionen und Adressen nicht beikommt>, und daß. wenn das Provisorium
endigen sollte, ohne daß Preußens Forderungen erfüllt würden, das dann ein¬
tretende Definitionen nur ein scheinbares, nur eine andere Art von Prvvisorum
sein würde, und die Leute haben die Ruhe zu lieb, um nicht im Stillen ein wirk¬
liches Definitionen vorzuziehen. Sie verzichten für die Ruhe, bei der man's zu
etwas bringt, gern auf die „Volkshvheitsrechte", die mit Eingehen auf die
preußischen Forderungen in Gefahr gerathen sollen, und von denen sie nicht
recht wissen, was sie in Mark und Schilling ausgeprägt werth sind. Ganz
ähnlich kann man in Kiel, in Eckernförde und in Schleswig urtheilen hören,
vorzüglich unter Kaufleuten, doch nur in vertrauten Kreisen; denn man darf
sich die Kundschaft nicht verscherzen, und der kleine Bürger ist ganz in den
Händen der Demagogen; auch haben wir, wie sie wissen, neben der öffentlichen
eine geheime Polizei, die. wie es scheint, überall, besonders unter den Schul¬
meistern, ihre Agenten hat, und schließlich ist es gelungen, den größten Theil
der Beamtenstellen mit rein-herzoglich und infolge dessen antipreußisch und anti¬
deutsch Gesinnten zu besetzen. Kein Wunder daher, wenn sich selbst Hiesige
über die Meinung des Landes vielfach falsche Vorstellungen machen. Die Ver¬
ständigen meist schweigsam, weil eingeschüchtert, die Unverständigen um so lauter,
weil durch nichts am Schreien gehindert, die Beamten, welche wanken, mit
Nichtbestätigung bedroht (sie sind fast alle nur „constituirt"), die Bauern durch
reisende Agenten belehrt, daß Preußen durch Einführung der Steuer auf Salz
dieses Lebensbedürfniß so theuer wie Zucker machen, daß es die Landeskinder
in polnische Festungen als Garnison legen will, über allen diesen Intriguen end¬
lich die segnende Hand des Herrn v. Halbhubcr!, wie sollte sich der Particularis-
mus nicht'trotz der Bemühungen der patriotischen Partei noch halten und als
eine Art von Macht fühlen und geriren.
Es sind, wie angedeutet, auch außer dem kleinen tapfern Kreis der na¬
tionalen verständige Elemente in Menge vorhanden. Aber Preußen sollte den¬
selben Muth machen, sich zu äußern, sie wenigstens in der Weise stärken, wie
Oestreich den Particularismus stärkt. Selbst einigermaßen Eingeweihte wissen
nur ungefähr, was Herr v. Bismarck will, und nicht entfernt, was er kann.
Sie glauben zu wissen, daß in der Umgebung des Königs Einflüsse sich geltend
wachen, denen das Bündnis mit Oestreich mehr gilt als die Erwerbung noth¬
wendiger Rechte in den Herzogthümern, daß im Abgeordnetenhause eine Partei
sich vernehmen läßt, die unter andern nicht erfreulichen Hebeln, mit denen sie
das Ministerium zu Fall zu bringen versucht, sogar das augustenburgische Erb¬
lecht benutzt. Sie erwarten unter diesen Umständen mit Sehnsucht eine klare
und unwiderlegbare Aeußerung von Berlin her, daß man die Forderungen vom
Februar noch immer als das Minimum dessen betrachte und festhalten wolle,
was Preußen bei uns zu seinem und ganz Deutschlands Besten zu verlangen
bat. Nicht die Neugier, sondern die Noth unserer Partei und die Rücksicht
auf die bevorstehende Einberufung oder Wahl der Stände heißt uns dies dringend
wünschen. Erfährt die Bevölkerung, daß Preußen mit seinen Forderungen
bittern Ernst zu machen, sie unter allen.Umstände» ohne Nachlaß durchzusetzen
entschlossen ist, so wird hier mancher Stille laut, mancher Wilde zahm werden.
Nicht die preußischen Annexionsgelüste, sondern die scheinbare oder wirkliche
Preußische Unentschlossenheit und Unsicherheit ist der faule Boden, auf dem der
Pilz unsres Particularismus gedeiht. Zeige man, daß Preußen den Mitbesitzer
uicht fürchtet, und man wird hier lernen, Preußen zu fürchten. Für ehe aber —
es ist traurig, das sagen zu müssen — wird der Weisheit Anfang sein, und
die Liebe wird nachfolgen, wie unsre Bauern von erzwungenen Ehen sagen.
Vorläufig gelte: oäerirrt arm mötuant!
Soweit hatte ich geschrieben, als die neueste Wendung in Berlin sich an¬
kündigte. Es sieht aus. als sollte wirklich Ernst gemacht werden. Die Ab-
Weisung der Denkschrift des hiesigen Hofes als einer völlig ungenügenden
Aeußerung auf die preußischen Forderungen, durch die „Provinzial-Correspon-
denz" zerstreute die hier in der letzten Zeit eifrig verbreiteten Gerüchte, als
^sse Preußen aus Rücksicht auf Oestreich mit sich handeln, und als würden
wir demnächst genöthigt sein, dem Gegentheil unsrer Wünsche und Bestrebungen,
einem vollkommenen souveränen Gebieter der Herzogthümer, zu huldigen. Wir
^fuhren, daß nicht mit Clauseln, nicht mit Halbheiten, sondern unum¬
wunden und rückhaltslos die preußischen Bedingungen anzuerkennen seien, daß
d>e coburger Convention in Berlin als „nicht im 'Mindesten anwendbar" auf
unsre Verhältnisse angesehen werde, und daß Preußen darauf bestehe, daß alles,
was es im eignen und in Deutschlands Interesse fordern zu müssen glaubt, vor
Erledigung der Frage über die künftige Herrschaft vollständig gesichert werde.
^>r freuten uns dieser Erklärung, die der Kern unseres rendsburger Programms
war. und wir freuten uns ihrer um so mehr, als ihr Schluß versprach, die
nächste Zeit werde den Kielern sowie allen Beteiligten Gewißheit geben,
daß Preußen an seinen Forderungen vom 22. Februar ^unbedingt und in
allen Beziehungen festhält und eine Erledigung der Schleswig-holsteinischen
Angelegenheit ohne vorgängige absolute Anerkennung und Sickerung dieser Be¬
dingungen nicht zugeben wird."""
Die Provinzial „Korrespondenz ist nicht der ..Staatsanzeiger. Aber die
Mieder des Ministerpräsidenten in der Debatte über die Marinevorlage — die
beiläufig, was man sonst auch an ihnen aussetzen möge, jedenfalls preußischer
Waren als die, in welchen der Verleger des „Organs für jedermann aus dem
Volke" und Herr v. Bunsen sich für unsern Particularismus anstrengten —
d'sse sehr deutlichen Reden bestätigten, was das officiöse Blatt gesagt. Preußen
w>rd sein Besitzrecht in Schleswig-Holstein nur gegen Anerkennung seiner
«ebruarforderungen von Seiten der Stände abtreten, es sei denn, daß
unglücklicher Krieg es aus diesem Rechte verdrängte. Das sind starke und
ruyne Worte, die ein Minister nicht vor ganz Europa aussprechen darf, ohne
das Ansehen seines Staates zu schädigen, wenn er nicht entschlossen ist. sie
wahr zu machen, sie im Fall der Noth mit „Blut und Eisen" zu vertreten.
Bleibt in unsrer Rechnung nur übrig, daß der Minister nicht der Köniq
ist. und da uns Freunden Preußens hier die Antwort fehlt, so mischen sich
unsrer Hoffnung immer noch Zweifel, unsrer Befriedigung noch lebhafte Wünsche
nach baldiger Action im Geiste der Reden des Ministers bei. Schon jetzt aber
wird mancher von unsern halbe» Particularisten bedenklich geworden sein in
Betreff der Phrase „nicht octroyiren. sondern pactiren". Weitere Festigkeit in
Berlin, und der Verstand des Landes wird sich noch mehr von dem ihm künst¬
lich beigebrachten Rausch erholen. Die kleinen Mittelchen der Kieler werden
dann der starken Stimme des norddeutschen Großstaates, die zum Erwachen
aus dem langen Traume mahnt, nicht mehr Stand halten, und wir werden
von Anfang an trotz Herrn v. Halbhuber wenigstens eine beachtenswerthe Mi¬
norität vorsichtiger, unbefangener und wahrhaft patriotischer Männer in die
Ständeversammlung bekommen, die Aussicht hat. bei fernerem Beharren Preu¬
ßens in seiner Position zur Majorität zu werden. Giebt es doch schon j?tzt
unter unsern Blauen nicht wenige, die nur Anstands halber, um sich die Seele
zu salviren. noch gegen die preußischen Forderungen Front machen.
Zum Schluß noch ein Wort über die von Preußen vorgeschlagne Befragung
der Stände. Gewisse Blätter befürchten von der preußischen Forderung/daß
vorerst die bestehenden Ständeversammlungen zur Berathung eines Wahlgesetzes
einberufen werden, schwere Beeinträchtigung des deutschen Elements in Schles¬
wig, oder stellen sich mindestens, als ob sie dies fürchteten. Sie sagen näm¬
lich, die gegenwärtige Ständeversammlung enthalte infolge der Wahlumtriebe
der ehemaligen dänischen Regierung eine unverhältnißmäßig große däniscbge-
sinnte Minorität, und völlig neue Wahlen würden diese vermindern. Diese
Behauptung beruht auf Selbsttäuschung oder der Absicht zu täuschen. Wollte
man nach dem Wahlgesetz von 1848 wählen lassen, so würde dieses, da es
den sogenannten kleinen Leuten mehr Stimmen giebt, als das seither gültig
gewesene und dieseinNordschleswigverwiegend dänischgesinnt sind,derPartei.welche
diesen Landestheil wieder an Dänemark zu bringen sucht, eine willkommene
Handhabe werden. Wahrscheinlich ist allerdings nicht, daß die Partei damit
alle ihre jetzigen Abgeordneten wieder in die Versammlung bringen würde,
aber wir halten es mit der „Nordd. Zeitung" für sehr viel weniger bedenklich,
wenn die unter dänischen Regiment gewählten schleswigschen Provinzialstände
eine verhältnihmäßige starke dänische Minderheit enthalten, als wenn unter
deutschem Regiment eine verhältnißmäßig starke Anzahl dänischqesinnter Abge¬
ordneten gewählt wird.
Die dänische Fraction wird übrigens nicht gerade eine gefährliche Stärke haben.
Die Versammlung besteht gegenwärtig (seitdem die deutsche Majorität ihre
Mandate niedergelegt hat) aus zwei Abgeordneten der Geistlichkeit, sechs Ver¬
tretern der Städte und zehn Deputirten'der ländlichen Wcchldistricte. zusammen
aus achtzehn Mitgliedern. Unter diesen werden die beiden Geistlichen jetzt als
deutschgesinnt zu betrachten sein, entschieden ist dies von drei ländlichen Abge¬
ordneten, Jacobsen in Boldixum. Martensen in Drelsdorf und Imsen in Aus¬
acker zu behaupten, und auch die beiden Vertreter Flensburgs sind wohl nicht
zu den dänischen Eiferern zu zählen. Die Neuwahlen für die. welche ihr Mandat
niedergelegt haben, werden ohne Zweifel sämmtlich im deutschen Sinne ausfallen,
und so darf man annehmen, daß die dänische Gesinnung in der Ständeversammlung
ur durch elf. höchstens durch dreizehn, die deutsche dagegen durch einunddreißig,
mindestens durch neunundzwanzig Abgeordnete reprcisentirt sein wird.
An eine neue nationale Anstalt knüpft sich in Deutschland stets ein dop¬
peltes Interesse: sich Glück zu wünschen, daß die die Nation umschlingenden
Bande um eines zunehmen, und zu beobachten, auf welche Weise dieses neue
Band inmitten aller Hemmungen der Kleinstaaten zu Stande gekommen ist.
Es wird daher wohl der Mühe verlohnen, die Entstehungsgeschichte der am
29. Mai zu Kiel ins Leben gerufenen deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiff¬
brüchiger hier im Ueberblick vorzuführen.
Anstalten zur Rettung Schiffbrüchiger sind in England seit 1824, in Däne-
Mark seit 1831 getroffen worden, und Nordamerika kennt sie ebenfalls schon
lange. So civilisirte Länder dagegen wie Frankreich und Deutschland treten
erst jetzt eigentlich in diese Culturarbeit ein, wenigstens insofern man dabei von
vereinzelten und halb verborgen gebliebenen Unternehmungen absieht. Dies ist
kein Zufall. Völker, welche in solchem Grade wie Engländer und Dänen aus
die See hingewiesen sind und am Seeverkehr theilnehmen, überwinden rascher
als andere das Hinderniß, welches in der alten barbarischen Gewöhnung der
Küstenbewohner an die Uebung des Strandrechts steckt. Es ist bekanntlich noch
lange keine hundert Jahre her, daß in Kirchen am Meeresstrand allsonntäglich
von der Kanzel herab gebetet wurde: „Gott segne den Strand!" Die An¬
schauung, daß ein gescheitertes Schiff eine Beute sei, welche Gott seinen Kin¬
dern an der Küste schicke, herrschte in den Gemüthern der Strandbevölkerung
so unbedingt, daß selbst die philanthropischen Lehren der Religion sich ihr an¬
bequemen mußten. Daß aus ihr eine gewisse Abneigung hervorgehen mußte,
auch nur der schiffbrüchigen Mannschaft eine rettende Hand entgegenzustrecken,
versteht sich von selbst. Die Geretteten konnten ja einen störenden Anspruch
auf die Ladung und die Trümmer des Schiffes erheben, welche man bereits
als sein wohlverdientes Eigenthum betrachtete; selbst im besten Falle mußte
wan doch aus dem gewonnenen Gut ihre Blöße bedecken und ihren Hunger
stillen. Vergegenwärtigen wir uns hierzu den wetterhartcn, nichts weniger als
sentimentalen Sinn, den naturgemäßen Fatalismus eines dem Meere zugewandten
Volkes, so begreift sich leicht, daß Schiffbrüchige ihren eigenen Kräften aus-
schließlich überlassen blieben, ja daß sie noch von Glück sagen konnten, wenn
ihre Mitmenschen am Ufer sich nicht geradezu mit Wind und Wellen zu ihrem
Untergang verbündeten. Dieser Zustand dauerte auf dem Continente von
Europa durchschnittlich wohl allenthalben bis in den Anfang dieses Jahrhunderts
hinein. Ja, völlig überwunden muß er noch in diesem Augenblick nicht sein;
denn ganz neuerdings hat der Landvogt der schleswigschen Insel Sylt eine
ältere Verordnung wieder in Kraft gesetzt, welche den Bewohnern bei Sturm
verbietet, den Strand zu betreten, und zwar lediglich weil es vorgekommen ist,
daß sie herannahende Schiffe durch eine Laterne, die sie einem Pferde unter den
Bauch banden, zu täuschen und ins Verderben zu locken suchten. Die Insel Sylt ist
eine Wiege zahlreicher Seefahrer; wenn sogar auf ihr das Strandrecht noch halb
und halb in der Volksanschauung wurzelt, was kann man von anderen Küsten¬
gegenden erwarten? Aber freilich ist die Insel Sylt auch gleich ihren Nachbar¬
inseln eine abgeschlossene kleine Welt für sich, wenig ausgesetzt der öffentlichen
Meinung einer großen und gebildeten Nation. Wo eine solche sich dem See¬
leben thätig zuwendet, da drängt sie bald die gewissenlose Beraubung und
fahrlässige Tödtung Schiffbrüchiger aus der Wirklichkeit in die Herzen der Ein¬
zelnen zurück, um sie mit der Zeit auch aus dieser letzten Zufluchtsstätte der
Barbarei zu vertreiben. Das ist bei Engländern und Dänen bereits seit Jahren
geschehen-, das vollzieht sich nun auch in Deutschland.
In Deutschland stellen sich dem Uebergang vom Strandrecht zur planvollen
Rettung Schiffbrüchiger jedoch Schwierigkeiten in den Weg, von denen die
übrigen civilisirten Nationen nichts wissen. Wir können nicht erwarten, daß
unter uns, wie in Dänemark, der Staat die Herstellung der Nettungsanstalten
übernehme — denn unsre Seeküste ist unter ein halbes Dutzend Staaten ge¬
theilt, deren keiner infolge dessen ein recht lebhaftes Gefühl seiner Verantwort¬
lichkeit für die Sicherheit des Fahrwassers besitzt. Es müßte daneben auch
ungleich schwieriger in Deutschland sein, als es in England gewesen ist, die
freien Kräfte der Nation für eine befriedigende Organisation des Rettungswesens
aufzuwecken, zu sammeln und dauernd zu verbinden.
Das Verhalten der deutschen Regierungen in der Angelegenheit der An¬
stalten zur Rettung Schiffbrüchiger ist in hohem Grade charakteristisch. Niemals
hat eine einzige derselben irgendeinen öffentlichen Schritt gethan. Bis ganz
vor kurzem wußten selbst die Sachkundigen nicht, daß es überhaupt Rettungs¬
boote und Raketenapparate der Regierungen gebe. Dann entdeckte Einer von
ihnen, Gott weiß wie, daß Preußen in Besitz von fünf Rettungsstationen sei.
Er veröffentlichte seine Entdeckung. Er wurde nicht berichtigt; aber kurze Zeit
darauf konnte er selbst mittheilen, daß er sich geirrt habe, und daß der officiellen
preußischen Rettungsstationen nicht weniger als neunzehn seien. Der Mann,
der solche Mühe hatte den wahren Thatbestand zu ermitteln, war kein Hanseat
oder Hannoveraner, sondern der königlich preußische Corvcttencapitän Werner.
Da Raketenmörser und Frcmcisboote doch nicht in Actenkästen verschlossen zu
halten sind, sondern leidlich geräumiger Schuppen bedürfen, die bei der Zahl
von neunzehn auch wohl nicht alle in Einöden und Wäldern versteckt liegen
werden, so ist es noch immer räthselhaft, wie ihre Existenz sich selbst in den
Mittelpunkten des preußischen Seehandels so lange jeder allgemeineren Kunde
hat entziehen können, — räthselhaft sogar dann noch, wenn man annehmen
wollte, sie seien niemals mit der nöthigen Mannschaft ausgestattet, geschweige
denn im Stande gewesen, einen schiffbrüchigen Menschen zu retten. Was aber
von der preußischen Negierung immerhin überrascht, das lautet nur natürlich
von der mecklenburgischen Regierung. Auch von dieser hat die Welt erst in
Kiel ohne ihr Zuthun erfahren, daß sie auf Fischland, einem zum großherzog-
lichen Domanium gehörenden Küstenstrich, ein Rettungsboot, und zwar ein
Peakesches, aufgestellt habe. Wir haben also zwanzig von Staatswegen er¬
richtete Rcttungsanstalten, welche so gut wie niemand kennen würde, hätten
nicht eifrige Patrioten auf eigne Faust sie erst entdeckt und dann öffentlich be¬
kannt gemacht. Dies genügt vollkommen, um die Fähigkeit unsrer Regierungen
ZU solchen Unternehmungen im Allgemeinen darzuthun. Boote und Mörser,
im Schuppen verschlossen, sind doch keine Leuchtthürme, daß sie jedem ins Auge
strahlten, der überhaupt sehen kann, und selbst von Leuchtfeuern gilt die all¬
gemeine Bekanntheit in der seefahrenden Welt als ein nothwendiges, unent¬
behrliches Zubehör. Wenn ein Schiff in Sturm oder unbekanntes Fahrwasser
längs einer Küste geräth, so ist es ihm vom höchsten Werthe, zu wissen, wo
es auf den Beistand einer wohlausgerüsteten und bereiten Rettungsmannschaft
ZU rechnen hat. Aber noch aus einem anderen Grunde bedarf das Nettungs-
wcsen der größten Oeffentlichkeit: wegen des unersetzlichen Antriebes für die
zum Retten taugliche Mannschaft, der in der öffentlichen Theilnahme an ihrem
mühevollen und gefährlichen Handwerk liegt. Ein geheimes Rettungswescn
taugt für ein Land ungefähr ebensoviel wie ein geheimes Feuerlöschwesen für
eine Stadt taugen würde. Sollte daher in Deutschland aus der Sache etwas
werden, so müßte sie dem Staate, der Geheimnißkrämerei der Bureaukratie aus der
Hand genommen werden, zumal bis heute nur die Nation als solche, unab¬
hängig von den einzelnen Staaten, in welche sie zerfällt, sich im Stande er¬
wiesen hat, neue organische Aufgaben im Sinne der Centralisation und nationalen
Einheit zu lösen.
Es war Ende 1860 oder Anfang 1861. als der erste thatkräftige Versuch
von Privatpersonen zur Einbürgerung der englischen Rettungsanstalten in
Deutschland gemacht wurde. Ein Landstrich, der bis dahin durch keinerlei
patriotische oder praktisch-politische Initiative, sondern eher durch kalte, zähe
Ablehnung alles Positiven geglänzt hatte, die hannöversche Provinz Ostfriesland,
übernahm den Vortritt. Die Urheber des Versuchs aber kannten ihr Volk. Sie
vermieden es sorgsam, dem Unternehmen ein allgemeineres nationales Gepräge
zu geben. Vielmehr schnitten sie dasselbe ganz, auf der einen Seite nach dem
Provinzialparticularismus ihrer Landsleute, auf der anderen nach den Zuständen
des Staates zu, welchem sie angehörten. Wer möchte behaupten, daß sie da¬
mit Unrecht gethan hätten? Das Protectorat, welches sie dem König von
Hannover antrugen, verschaffte ihnen nicht blos eine werthvolle pccuniäre Unter¬
stützung, sondern auch jenen officiellen Nimbus und Credit, welcher z. B. dem
Oberzollinspector Breusing in Emden und dem Strandungscommissar Consul
Steinbömer in Norden gestattete, ihr.e Dienstreisen zur Inspection der Rettungs¬
stationen mitzubenutzen. Die Beschränkung des Unternehmens auf Ostfriesland
setzte die ostfriesische Provinziallandschaft in den Stand, dem Verein alljährlich
1000 Thaler oder die ungefähren Kosten der Anlage einer Rettungsstation zu
bewilligen. Sie sicherte ihm ferner eine Popularität in der Provinz, eine Hinge¬
bung der hauptsächlich betheiligten und in Anspruch zu nehmenden Kreise, welche
andernfalls leicht in Mißtrauen und Kälte hätte umschlagen können. So mag
man gern anerkennen, daß die Ostfriesen den rechten Weg einschlugen, als sie
zunächst für sich blieben, ihre eigne gefahrvolle und wrackreiche Küste mit Nettungs-
anstalten ausstatteten und sich im Uebrigen darauf beschränkten, nach den
Hansestädten Kenntniß von ihrem Vorhaben zu.geben.
Man hätte vielleicht erwarten sollen, daß es nicht nöthig gewesen wäre,
die reichen, lebensvollen Hansestädte über ein so wichtiges Mittel zum Schutze
ihrer Schifffahrt von einem so unbedeutenden Nebenplatze her wie Emden aufzu¬
klären. Zu' ihrer Entschuldigung läßt sich indessen sagen, daß vor ihnen kein
rechtes Feld der Wirksamkeit liegt und folglich ihrem Eifer die Herausforderung
fehlt. Das Gebiet der Städte ist klein; hart an der See hat Hamburg wie
Bremen nur einen einzigen Fleck Land zum Außenhafen, wozu bei Hamburg
noch die Zwcrginsel Neuwerk kommt. Die Mündungen der Elbe und der
Weser, an der die beiden Städte mit ihrer Staatshoheit und Verantwortlich¬
keit betheiligt sind, erfreuen sich theils an und für sich einer größeren Sicherheit
gegen Stürme als die umgebende offene See, theils sind sie durch Bedornung,
Befeuerung, Besetzung mit Lootskuttern und ähnlichen auf Posten stehenden
Schiffen bei weitem mehr gegen die Gefahr verderblicher Schiffbrüche geschützt.
Die bedrohlichen Gewässer für die ganze Menge der Schiffe, welche Hamburg
oder Bremen zum Ausgangs- oder Zielpunkt ihrer Fahrt nehmen, liegen z»
beiden Seiten, westlich von der Wesermündung und nördlich von der Elbmündung,
längs der ostfriesischen und längs der schleswigschen Küste. Die Sicherung der
letzteren gänzlich unterlassen zu haben, während Jütland ringsum mit einem Netze von
sechzehn Stationen versehen wurde, ist ein ewiger Vorwurf gegen die nationale
dänische Regierung von 1831—63, ein schlagender Beweis, daß die Forderungen
der Menschlichkeit bei ihr in politischer Parteigesinnung erstickt wurden. Die
andere gefährliche Flanke unsrer Nordseeküste, Ostfriesland und die vorliegen¬
den Inseln, ist durch die Thätigkeit des ostfriesischen Vereins seit 1861 mit acht
Anstalten ausgerüstet, barunter sechs auf den Inseln. Noch im nämlichen Jahre
folgte Hamburg dem gegebenen Beispiel, wenig später auch Bremen. Aus
den angegebnen Ursachen hat jede der beiden Hansestädte bis jetzt nur zwei
Stationen zu gründen vermocht, und der bremer Verein überhaupt noch keine
Vollbrachte Rettung aufzuweisen, während dem ostfriesischen Verein doch schon
65. dem Hamburger Verein einige 20 Menschen ihr Leben danken. Die Absicht
des Hamburger Vereins, auf der wichtigen Insel Neuwerk eine Station zu er¬
richten, ist bisher daran gescheitert, daß dort nur drei Familien wohnen, darunter
vier Erwachsene, mit denen kein Rettungsboot zu bemannen ist. Hierher, oder
auf das erste Feuerschiff der Elbmündung. ebenso wie auf den bremer Leucht¬
thurm in der Wesermündung die nöthige Mannschaft zu legen würde die
nächste, aber auch eine ziemlich schwierige und kostspielige Aufgabe der beiden
hanseatischen Vereine gewesen sein, wenn das deutsche Rcttungswesen in seinem
bisherigen Gange verblieben wäre.
Dem sollte indessen zum Heile des Ganzen nicht so sein. Waren für den
bremer Verein die Aussichten auf reichliche unmittelbare Betheiligung am
Rettungswcrk der Natur der Dinge nach gering, so regten sich in ihm desto
kräftiger die patriotischen Wünsche nach einer allgemeineren Anregung der
Nation und nach Zusammenfassung der zerstreuten Kräfte. Die erste Kunde
von dem emdener Unternehmen hatte keineswegs gleich die ganze bremer
Kaufmannschaft mit dem Drange zu handeln ergriffen. Die Handelskammer,
damals mehr noch als jetzt die Vertreterin des vornehmen, alten Bremen,
lehnte jede Theilnahme an der Begründung eines Rettungsvereins ab. Als
das junge Bremen dennoch dazu schritt, veröffentlichte sie ein Gutachten des
Barsenmeisters, welches sich gegen das Unternehmen aussprach. Indessen hielten
die Vorurtheile nicht lange Stich, als die ersten erfolgreichen Rettungen des
ostfriesischen Vereins bekannt wurden und zum Wetteifer aufforderten. Die
Stimmung schlug bald vollständig um. Diejenigen, welche im Jahre 1862
alles thaten, um die Stiftung des bremer Vereins zu verhindern, reden sich
jetzt gern ein, sie hätten so nur gehandelt, weil sie schon damals von der Noth¬
wendigkeit eines allgemeinen deutschen Vereins durchdrungen gewesen seien. Indessen
überließen sie die Ausführung dieses Gebots der Nothwendigkeit ebenfalls denen,
welche sich durch den Klang der ersten Namen der Börse nicht hatten abschrecken
lassen, etwas Nützliches ins Werk zu setzen. Es war der Schriftführer des
Vereins und Redacteur des bremer Handelsblatts Dr. A. Emminghaus, von
dem die Idee einer zweckmäßigen Centralisation ausging. Seine Genossen
un Vorstand, vermöge ihrer meist anspruchslosen Stellung durch keine vermeint-
lich staatsmännischen Bedenken gehindert, sich dem Zuge seiner Begeisterung an¬
zuschließen, boten ihm aufs willigste die Hand. Zunächst erging also im vorigen
Herbste an den ostfriesischen und den Hamburger Verein die Einladung, in
Gemeinschaft mit dem bremer Verein zur Bildung einer allgemeinen deutschen
Rettungsgesellschaft zu schreiten. Aber beide Nachbarvereine lehnten ab: der
ostfriesische unter Berufung auf seinen in der That eigenthümlichen Standpunkt,
der Hamburger anfangs ohne alle Angabe von Gründen. Es scheint, daß der
in Hamburg vorhandenen Unlust die Ablehnung des ostfriesischen Vereins vollends
die Oberhand verschaffte. Man hätte sonst in der Unmöglichkeit, die dem
Hamburger Verkehr so gefährlichen Gewässer der schleswigschen Westküste von
Hamburg aus mit Stationen, ja selbst nur die Hamburger Insel Neuwerk mit
der erforderlichen Mannschaft auszustatten, wahrhaftig Beweggründe genug
gehabt, den bremer Plan nicht so lakonisch von der Hand zu weisen, sondern
mindestens doch einmal gemeinschaftlich in Betracht zu ziehen. Zu dem Letzten
wäre es wohl unter allen Umständen auch gekommen, hätten die Bremer einige
der Matadore ihrer Börse unter sich gehabt. Das Fehlen fast aller derartigen
Namen konnte kaum umhin, in Hamburg gewisse Bedenken zu erwecken. Da
man diesen aber alsbald die stärkste Wirkung gab, die Verhandlungen nicht so¬
wohl abbrach als gar nicht erst einmal anknüpfte, so beraubte man sich jeder
Gelegenheit zu erkennen, daß bei dem bremer Vorschlage nicht ein kleinlicher,
vaterstädtischer oder gar persönlicher Ehrgeiz, nicht eine avstracte theoretische Be¬
geisterung, sondern thatkräftige Vaterlands- und Menschenliebe verbunden mit
tüchtiger Kenntniß der Sache in ihrem ganzen Umfang die Triebfeder sei.
In Bremen brauchte man sich übrigens durch die motivirte Ablehnung der Ost¬
friesen und durch die unmotivirte der Hamburger nicht entmuthigen zu lassen.
Man begegnete dafür in andern, unbefangeneren Kreisen einer desto wärmeren
Theilnahme. Tief ins Binnenland hinein, bis nach Leipzig und Elberfeld,
antwortete dem noch nicht einmal an das große Publicum.gerichteten Aufruf
ein lebhafter Widerhall. Man forderte die bremer Patrioten auf, ihren
edlen Gedanken der ersten abschlägigen Antworten halber nicht unter den
Scheffel zu stellen. Und was das Erfreulichste, wie das Werthvollste war-
beinah gleichzeitig mit dem or. Emminghaus hatte noch ein andrer that¬
kräftiger Mann, der preußische Corvettencapitän Werner die Idee eines deutschen
Centralvereins ergriffen. Er bestimmte die Redaction des Unterhaltungsblattes
„Daheim", einen Aufruf zu Beiträgen zu veröffentlichen, der verhältnißmäßig
reichliche Früchte trug, — regte in Magdeburg, Halberstadt und andern Binnen¬
städten ein näheres Interesse an der Sache an, — rief schließlich in Stettin
und Danzig den Entschluß ins Leben, auf die Spur der drei Nordsecvcreine
zu treten, aber mit stetem Hinblick auf das Ziel eines nationalen Hauptvcreins,
dessen Unentbehrlichkeit er im „Daheim" schlagend nachwies, literarisch unter-
stützt in der Ostseezeitung durch den Capitän Wagner von der Preußischen
Handelsmarine.
So begrüßt, unterstützt und getrieben, wagte man in Bremen leicht den
entscheidenden Schritt. Es wurde zur Begründung einer deutschen Rettungs-
gesellschaft eine Versammlung auf den 29. Mai nach Kiel berufen. jedermann
zugänglich, wenn auch durch directe Einladung einer Anzahl einzelner Persön¬
lichkeiten mehr eine Notabeln- als eine Volksversammlung. Ihr diesen Charakter
zu geben. war schon zur Vermeidung eines mehr oder minder ausschließlichen
localen Zulaufs unbedingt von Nöthen. Die unendliche Korrespondenz, welche
sich daraus ergab, wurde von or. Emminghaus mit seltner Ausdauer durch¬
geführt.
Die Einladungen waren natürlich auch nach Ostfriesland und Hamburg
ergangen. In Emden und Norden entschloß man sich zu der weiten Reise,
Weil man sich bewußt war, einen wohl zu rechtfertigenden, wenn auch besondern
Standpunkt einzunehmen; in Hamburg zog man vor zu Hause zu bleiben
Weil man selbst in dem nahen und wirthschaftlich einigermaßen abhängigen
Kiel nicht sicher war Recht zu erhalten. Erst als der Entschluß der Ostfriesen
in Hamburg bekannt wurde, machte man sich dort in der letzten Stunde eben¬
falls auf den Weg. Aber die Haltung in der Versammlung entsprach der
Haltung vor der Versammlung. Während der ostfriesische Wortführer, Ober-
Minsptctor Breusing, seiner Auffassung zwar mit allem Ernst und Eifer das
Wort redete, aber ohne Angriff auf die gegnerischen Motive, ließ Consul Laeiß
aus Hamburg sich verleiten, andeutungsweise der ganzen dort herrschenden
Eifersucht und Engherzigkeit gegen Bremen Luft zu machen. In einer Vor-
besprechung waren die beiden widerstrebenden Vereine übereingekommen, statt
des einen allgemeinen deutschen Vereins, der die bestehenden und sich noch
bildenden Einzelvereine mehr oder weniger verschlänge, vielmehr auf eine Art
jährlich wiederkehrenden Vereinstags hinzuwirken, auf dem die durchaus selbst¬
ständig fortbestehenden Orts- oder Kreisvereine ihre Erfahrungen austauschten
und höchstens einzelne gemeinschaftliche Einrichtungen oder Anschaffungen be¬
sprachen. Das war also das Gegcnprogramm. an welchem sich der brcmer
Plan zu messen hatte, formulirt. wie er vorlag, in dem Statutenentwurf des
Dr. Emminghaus.
Wie sich' nach dem vorausgegangnen Schriftwechsel, der mangelnden per¬
sönlichen Verständigung und der gesammten Lage der Angelegenheit erwarten
ließ, traten die Gegner beiderseitig etwas gereizt, mißtrauisch und empfindlich
auf den Schauplatz. Indessen konnte es auch nicht lange dauern, so hatte man.
Auge in Auge stehend, auf beiden Seiten die schlimmsten Besorgnisse fallen
lassen. Dazu kam die Anwesenheit ausgleichender unparteiischer Theilnehmer,
unter denen namentlich des Geh. Staatsraths Francke, dessen Leitung außer
ordentlich fördernd auf den Gang der Verhandlungen einwirkte, und des Capitän
Werner zu gedenken ist, dessen nüchterner und praktischer Enthusiasmus für die
Sache in Vieler Augen nicht unnatürlich durch die populäre Uniform unterstützt
wurde, in welcher er sich dieser Gesellschaft von Seeleuten und Freunden des
Seemannsstandes zeigte. Er vertrat mit zwei andern Herren den danziger Verein,
der, eben gebildet, doch auch schon seine Abneigung verrieth, in dem Central-
verein völlig auszugehen. Man hatte in Danzig einige Mittel zusammengebracht
mit der Bestimmung, an den besonders drohenden Punkten der benachbarten
Küste verwendet zu werden; und obwohl natürlich danziger Kapitäne und
Matrosen ebensogut an der schleswigschen oder pommerschen Küste stranden
können wie bei Leba oder Hela, scheute man doch vor dem Satze des bremer
Verfassungsentwurfs zurück, welcher alle im Einzelnen gesammelten Gelder für
die gemeinschaftliche Kasse in Anspruch nahm und deren Verwendung dem
Centralvorstcmde vorbehielt.
AIs die Vorbesprechung der sich näher interessirenden Theilnehmer am
Morgen des 29. Mai an diesen kritischen Punkt gekommen war, drohte der
Bruch einzutreten. Ein Compromißvorschlag wollte nicht auftauchen. Ein
binnenländisches Mitglied der Versammlung, Redacteur Lammers aus Elberfeld,
schlug daher vor, je ein Vertreter der schon vorhandenen fünf Einzelvereine
außer den älteren und Danzig noch Rostock — die Meistbetheiligten also sozu¬
sagen, möchten in Commission zusammentreten, um eine Ausgleichung zu suchen
und der öffentlichen Versammlung demnächst vorzulegen. Aber dermaßen hatte
man sich doch bereits erhitzt, daß der Sprecher Ostfrieslands im voraus erklärte,
auch dieser Versuch werde unfruchtbar bleibe». Der Versuch wurde gleichwohl
angestellt, und als Frucht ging aus ihm eine vollkommene, ja man darf sagen
innerliche und herzliche Einigung der streitenden Theile hervor, auf welche die
Hauptversammlung nachher nur noch das Siegel ihrer Zustimmung zu drücken
hatte.
Um den getroffenen Kompromiß richtig zu würdigen, muß man Folgendes
bedenken. Einem Mehrheitsbeschluß für die Centralisation im Sinne der bremer
Vorlage würden sich die dissentirenden Vereine nicht gefügt haben — der ost¬
friesische Verein nicht, um nicht seine ganze finanzielle und moralische Basis zu
gefährden, der Hamburger Verein nicht aus Mißtrauen und Eifersucht gegen
Bremen, der danziger Verein nicht wegen der Clausel in seiner Aufforderung
zu Beiträgen, daß das dort gesammelte Geld auch dort in der Nähe verwendet
werden solle. Hätte die Versammlung sich nun aber durch diese Einwände be¬
stimmen lassen wollen, auf den Gedanken eines förmlichen Centralvereins über¬
haupt zu verzichten, sich mit der ostfriesischen Idee eines bloßen Vcreinstages
zu begnügen, so hätte sie damit ohne Noth die wesentlichsten Vortheile fahren
lassen. Es wäre schwer, wo nicht unmöglich geworden, die Theilnahme des
Binnenlandes auf eine solche Höhe zu bringen, daß sie sich in beträchtlichen
und regelmäßigen Geldbeiträgen ausgedrückt hätte. Alle Aussicht insbesondere
wäre zerronnen auf die 7,000 Thlr., welche noch in Elberfeld. und die
2,000 Thlr., welche in Magdeburg von einstigen Flottensammlungen her liegen,
und deren Verwendung zum Zwecke der Rettung der Schiffbrüchigen, sobald es
sich um ein allgemein deutsches Unternehmen handelt, die Inhaber dieser Summen
glauben verantworten zu können. Dazu die sonstigen Segnungen der Centra¬
lisation wie Ersparnis; bei Anschaffungen, Ausgleichung zwischen wohlhabenden
und armen, regsamen und starren Küstengegenden, Uebertragung alles Erprobten
u. tgi. in. genommen, so ergiebt sich leicht, daß die Versammlung, nachdem
die Sache erst einmal (Dank dem ursprünglichen Nein des ostfriesischen und
des Hamburger Vereins) über die Kreise der alten Vereine hinausgetragen
worden war,.auf keine Weise umhin konnte, den brcmer Gedanken zu adoptiren.
Und dieses um so mehr, als man berechtigt war zu hoffen, daß auch die Be¬
denken der abweichenden Stimmen mehr vorläufiger und zeitweiliger als defini¬
tiver Natur sein würden. Der danzigcr Verein wird das von ihm gesammelte
Geld bald ausgegeben und seine Aufgabe dro-tzdem nicht vollständig gelöst haben,
so daß es dann sein eigenes particuläres Interesse wird, in der deutschen Ge¬
sellschaft aufzugehen. Der ostfriesische Verein hat sein Werk in der Hauptsache
vollbracht; er ist bald nicht mehr nothwendig angewiesen auf die Beiträge,
welche ihm nur in seiner provinziellen Selbständigkeit und Abschließung zugehen.
In Hamburg endlich muß das Mißtrauen gegen Bremen an der Erfahrung
schwinden, und die Eifersucht mag, wenn es Zeit ist, durch irgendeine an¬
gemessene Gewährung abgefunden werden.
Die kieler Versammlung hat demnach ausgesprochen, daß eine deutsche
Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger zu gründen sei auf Grundlage des
brcmer Statutcnentwurfs. Die mehrgenanntcn drei Vereine möchten einstweilen
für sich bestehen bleiben; doch gab man von allen Seiten, auch der dissentiren-
den, der Erwartung Worte, sie würden sich alle drei bald als Bezirksvereine
dem neuen Gesammtverein einfügen. Auch bis dahin schon sollen sie sich an
den Ausschußsitzungen desselben durch Vertreter beteiligen, ihre Erfolge und
Erfahrungen der Centralstelle mittheilen und geschehen lassen, daß von dorther
ihren Rettern Prämien zugesprochen werden. Alle neu sich bildenden Vereine,
wurde vorausgesetzt, würden sogleich als Bezirksvereine der Gesellschaft ent-
stehen.
Der bereits gebildete Verein zu Rostock und die in der Bildung begriffenen
zu Kiel und Lübeck hatten sich bereits in solchem Sinne angemeldet.
Die Constituirung der Gesellschaft ging hiernach sehr glatt von Statten.
Hamburgs halbes Fernhalten, so wenig übrigens gerechtfertigt und begreiflich,
hatte doch den Nutzen, daß es die Frage des ersten Vororts für den Gcsammt-
verein bedeutend vereinfachte. Kiel verzichtete mit kluger Großmuth ausdrück¬
lich, und ganz von selber, unbestritten siel die Ehre Bremen zu. Dr. Emming-
haus wurde verdientermaßen Generalsecretär, Consul H. H. Meier Präsident.
Man veifiel auf diesen Mann nicht blos weil er Vorsitzender des deutschen
Handelstags oder seit geraumer Zeit der anerkannte Führer der bremer Kauf¬
mannschaft ist, sondern namentlich auch um die erfreulich veränderte Haltung
anzuerkennen, zu welcher sich sowohl er persönlich wie die bremer Handels¬
kammer neuerdings verstanden hatte, und weil man nun von seiner praktischen
Energie in der That etwas erwarten darf. Als Organ der Gesellschaft wird,
wie wir vermuthen, das bremer Handelsblatt ausersehen werden, — eine in
jeder Hinsicht sich empfehlende Wahl. ^
Damit wäre die Sache denn auf den ebensten Weg geleitet. Die Leitung
wird nun daran gehen, ganz Deutschland mit einem Netz von Agenten zu
überziehen, damit kein Thaler, der sür einen so edlen, humanen und nationalen
Zweck flüssig gemacht werden kann, aus Mangel an einem Kanal in der Tasche
seines Eigenthümers kleben bleibe. Denn das ist vorerst die Hauptsache, daß
ein großer Haufe Geld nach Bremen zusammenfließe. Die schmähliche Vernach¬
lässigung der schleswigschen Nordseeküste vor allem muß gehoben werden, bevor die
Herbststürme neue unnöthige Opfer hinwegraffen. Das Zweite ist eine kräftige
Unterstützung des Triebes, der sich jetzt am Ostseestrande von Hadersleben bis
nach Memel regt. Es dürfen nicht Jahre mehr verstreichen, ohne daß unsre
ganze Küste mit solchen Anstalten ausgerüstet ist, wie sie nach dem heutigen
Stande der Technik der Gefahr, daß Schiffbrüche Menschenleben kosten, nur
irgend vorzubeugen im Stande sind. Dazu sind in runden Summen noch
1S0.000 Thaler für einmal, 20,000 Thaler jährlich von Nöthen — ein unge-
fächrcr Anhaltspunkt für die bevorstehenden Sammlungen und Zeichnungen.
Für einen Zweck, der so wenig Parleigeschmack an sich hat, und der doch auch,
dem Nationalgefühl eine Seite zuwendet, während sein eigentliches Wesen
praktische Humanität ist, zweifeln wir keinen Augenblick, jene mäßigen Summen
binnen kurzer Frist zusammengebracht zu sehen.
Daß der Geist, aus dem die Bücher Tobie und Judith hervorgegangen
sind, ein weit edlerer ist als der, welchem das Buch Esther und der Aristcas-
brief entsprangen, habe ich schon vor kurzem in diesen Blättern angedeutet.
Schon die Pflicht der Gerechtigkeit erheischt daher von mir, daß ich der
Besprechung der letzten beiden Bücher die des erstgenannten Paares folgen
lasse, damit der Leser nicht eine zu niedrige Meinung über den Werth des alt¬
jüdischen Romanes im Allgemeinen bekomme.
Der griechische Text, den wir in den gewöhnlichen griechischen Bibeln
finden, und der, wie wir unten sehen werden, dem Urtext am nächsten steht,
hat folgenden Inhalt:
Nebukadnezar, König der Assyrer in Ninive, liegt im Streit mit Arphaxad,
König der Meder, welcher seine Hauptstadt Ekbatana gewaltig befestigt hat.
Der assyrische König entbietet alle Bewohner Vorderasiens bis nach Aethiopien
hin zur Heeresfolge, aber sie gehorchen nicht. Dennoch schlägt er im siebzehnten
Jahre seiner Regierung den Arphaxad und bringt ihn um, worauf er mit seinem
^reichen Heere ein 120tägigcs Freudenfest feiert.
Im Beginn des folgenden Jahres beschließt er mit seinen Großen, die
unbotmäßigen Völker zu züchtigen. Olophernes, sein erster Feldherr, soll sie
unterwerfen; über die, welche sich ergeben, will er selbst später Gericht halten;
die widerspenstigen soll der Heerführer vernichten. Mit gewaltiger Heeresmacht
zieht dieser aus; alles unterwirft sich. Die Namen der Völker, Länder und
Städte, welche er berührt, sind zum Theil undeutlich und verwirrt, so daß wir
die Richtung des Zuges nicht genau erkennen können, aber so viel ist klar,
nach und nach sind alle Länder ohne Widerstand in den Händen der Assyrer,
mit Ausnahme des gebirgigen Landes der Juden mit Inbegriff Samariens
(welches durchaus als zu Judäa gehörig betrachtet wird). Ueberall zerstört
Olophernes die Heiligthümer der Völker, da er nur die Verehrung eines einzigen
Gottes, nämlich seines Königs, gestattet.
Gerade dieser Umstand macht es den Juden unmöglich, sich zu unter¬
werfen; sie können ihren nach der Rückkehr aus der Verbannung erst vor
kurzem neu erbauten Tempel nicht dem rohen Heiden ausliefern. Sie entschließen
sich also zum Widerstande und befestigen alle Punkte, welche zur Vertheidigung
geeignet sind. Der hohe Priester Jojakim befiehlt besonders den Bewohnern
der Stadt Betylua (Letxlüa), welche den Zugang zu Jubela beherrscht, sich
tapfer zu wehren. Die Lage dieser sonst nie erwähnten Stadt ist nicht ganz
genau bekannt, doch erhellt aus den Angaben des Buches zur Genüge, daß
sie im nördlichen Samaria lag und einen wichtigen Punkt zum Widerstand
gegen die bildete, welche von der Ebene Jezreel (Esdrelon) in das Bergland
eindringen wollten^ um gegen Jerusalem zu ziehen.
Ganz Israel bereitet sich nicht blos mit irdischen, sondern auch mit geistigen
Waffen, Gebet und Fasten, zum Widerstände vor. Olopherncs ist über die
Widerspenstigkeit aufs höchste entrüstet. Er hält mit den Führern der Nachbar¬
völker, welche des Landes kundig sind, Kriegsrath. Hier entwickelt ihm nun
Achior, der Häuptling der Ammoniter (deren Land das der Juden im Osten
begrenzt) die Geschichte und die religiösen Verhältnisse der Jsraeliten. Er zeigt,
wie sich ihr nationales Glück und Unglück stets genau darnach richtet, ob sie
ihrem Gott treu sind oder nicht. Nur wenn sie gegen Gott gesündigt hätten,
sagt er, könnte Olophernes ihnen etwas anhaben; wo nicht, möge er von
seinem Unternehmen gegen sie abstehen, denn Gott werde sie dann schützen.
Diese Rede erregt den tiefsten Unwillen des Feldherrn und des Heeres. Olo¬
phernes, der keinen Gott als den Nebukadnezar anerkennt, befiehlt, den Achior
an die Juden auszuliefern, damit er ihr Schicksal theile und mit ihnen in
seine Hände zurückfalle, die ihn dann mitleidslos umbringen sollen. Er wird
daher in der Nähe der Festung gebunden; die Juden befreien ihn und nehmen
ihn zu sich.
Nun beginnt die Belagerung von Betylua. Auf den Rath der Nachbar¬
völker schneidet Olophernes den Bewohnern das Wasser ab und bringt sie da¬
durch in die äußerste Noth. Nach 34 Tagen geht ihnen das Wasser fast gänzlich
aus; das schmachtende Volk bestürmt die Leiter, an ihrer Spitze den Priester
Ozias, die Stadt dem Feinde zu übergeben, und letzterer versteht sich endlich
zu dem Versprechen, dies zu thun, wenn Gott nicht in den nächsten fünf
Tagen die Erlösung aus der Noth bringe, auf die er noch immer vertrauens¬
voll hofft.
Das hört Judith, eine schöne, reiche und überaus fromme Wittwe; sie
ruft die Obersten der Stadt zu sich, verweist ihnen ihre schwächliche Nachgiebig¬
keit gegen das Volk und bittet um Erlaubniß, in der Nacht aus der Stadt zu
gehn, da Gott dieser durch ihre Hand innerhalb der Frist Rettung bringen
werde; was sie vorhabe, könne sie aber nicht sagen. Ozias und die andern
entschuldigen sich und gehn auf ihre Bitte ein.
Nachdem sich Judith durch Fasten und Gebet vorbereitet hat, schmückt sie
sich aufs Schönste und wird in der Nacht mit ihrer Magd, welche einen Vor-
rath gesetzlich reiner Speisen bei sich trägt, aus der Stadt gelassen. Die
assyrischen Wachen halten sie an und führen sie auf ihr Begehren zum Olo.
Phernes, wobei sie ihre Bewunderung der Schönheit des Weibes nicht stark
genug äußern können.
Vor dem Feldherrn setzt nun Judith auseinander, warum sie die Stadt
verlassen habe. Achivr habe Recht gehabt, wenn er behauptete, daß Israel nur
dann zu überwinden sei, wenn es gegen Gott frevle; das haben aber die Be¬
wohner von Betylua gethan, indem sie in der Noth gesetzlich verbotene Speisen
gegessen; daher müssen sie in des Feindes Hände fallen; sie wolle ihn denn
durch ganz Judäa als Sieger führen. Diese Rede sowie die ganze Erscheinung
der Judith gefällt dem Olophernes so sehr, daß er ihr große Dinge verspricht,
sogar, daß er wenn das alles geschehen, ihren Gott als den seinigen annehmen
wolle. Judith bittet sich darauf die Erlaubniß aus. blos von ihren mitgebrachten
Vorräthen essen zu dürfen, und entkräftet den Einwand, daß diese ja bald ver¬
zehrt sein würden, durch die eidliche Versicherung, daß. noch bevor dies geschehe,
Gott durch ihre Hand seinen Willen ausführen werde. Olophernes, der den
wahren Sinn dieser gegen ihn gerichteten Worte natürlich nicht versteht, erlaubt
ihr auf ihre Bitte ferner, ihre Gebete außerhalb des Lagers zu verrichten,
und giebt den Wachen den Befehl, sie ungehindert aus und eingehen
zu lassen.
Nachdem sie so drei Tage im Lager verweilt und allnächtlich außerhalb desselben
gebetet hat, befiehlt Olophernes seinem Eunuchen Bagoas, das schöne Weib
zu einem großen Gelage einzuladen, da ihn nach ihr gelüstet. Judiths Er¬
scheinung erfüllt sein Herz mit wilder Begierde. Bei dem Gastmahl genießt
Judith von ihren reinen Speisen und Getränken, Olophernes trinkt unmäßig
viel. Gegen Abend gehn die Gäste weg, nur Judith bleibt neben Olophernes.
der in der Trunkenheit eingeschlafen ist. Jetzt ist der entscheidende Augenblick.
Nach einem kurzen Gebet zieht sie dem Feinde sein Schwert von der Seite,
erzreift ihn bei den Haaren und haut ihm mit dem Ruf: „Stärke mich, Gott
Israels, an diesem Tage!" den Kopf ab. Darauf geht sie heraus, übergiebt
den Kopf der Magd, welche zu diesem Zweck mit ihrer Tasche bereit steht, und
sie verlassen ungehindert das Lager, da man meint, sie wollen nur nach ihrer
Gewohnheit draußen beten.
Die Stadtthore werden ihr geöffnet, und sie zeigt den Kopf des Feindes.
Alles ist freudig erregt. Sie heißt den Kopf auf die Mauerzinne hängen und
auf den Morgen einen Ausfall vorbereiten. Achior, den sie herbeirufen läßt,
fällt zuerst beim Anblick des blutigen Hauptes ohnmächtig nieder, dann aber
Preise er laut die Judith, und jetzt völlig von der Fürsorge Gottes für sein
Volk überzeugt, läßt er sich beschneiden und geht ganz zu Israel über.
Als am Morgen die Juden ausfallen, spotten erst die Feinde über dies
Beginnen. Bagoas, der da meint, der Feldherr schlafe bei der Judith, will ihn
auf das stürmische Begehren des Heeres aufwecken; da er nicht erscheint, wagt
er es endlich, in das Schlafgemach einzudringen und erblickt hier den blutigen
Rumpf am Boden. Diese Nachricht verbreitet Entsetzen unter die Krieger; sie
verlieren allen Muth und fliehen. Ganz Israel wird nun aufgeboten, das
fliehende Heer zu vernichten, und nur nach großen Verlusten erreicht dasselbe
Damaskus. Die Bewohner Bctyluas plündern das Lager. Judith erhält das
Zelt des Olophernes mit allen Schätzen.
Judith singt dem Herrn einen schönen Siegesgesang und weiht ihm ihren
ganzen Beuteantheil. Drei Monate lang feiert das Volk. Judith zieht sich
in ihre Wittwcneinsamteit zurück, schlägt alle Anträge aus, schenkt der treuen
Magd die Freiheit und stirbt in Betylua im Hauses ihres Mannes, 103 Jahre
alt. Ganz Israel trauert um sie sieben Tage lang. So lange sie lebte und noch
lange Zeit später beunruhigte kein Feind das Volk.
Der Verfasser dieser Erzählung wollte wahrscheinlich von vorn herein seine
Leser von dem Gedanken abhalten, daß ihnen reine Geschichte vorläge. Nebukadnezar
als König der Assyrer und zwar zu einer Zeit, in der die Juden noch nicht
lange ihren Tempel wieder ^aufgebaut hatten und vom hohen Priester und
Synedrium (Gerufia), nicht von einem König, regiert wurden, das waren
Widersprüche gegen die Geschichte, die sich'jedem Juden, der nur oberflächlich
die heiligen Bücher kannte, von selbst aufdrängten, und die der Verfasser leicht
hätte vermeiden können, wen» er nur gewollt hätte. Man muß daher die
Kühnheit der Leute bewundern, welche trotz alledem aus Widersprüchen eine
Harmonie zusammenfügen und die Geschichtlichkeit des Buches aufrecht erhalten
wollten, Schon Luther hielt dasselbe für eine Dichtung;,und wir können uns der
überflüssigen Mühe entschlagen, dies des Weiteren nachzuweisen.
Dennoch hat das Buch einen geschichtlichen Hintergrund und zwar einen
stärkern als das Buch Esther. Dieser Hintergrund ist ein doppelter. Zuerst
schwebt nämlich dem Verfasser offenbar eine gewisse Zeit mit gewissen Ereignissen
vor, die er seiner Erzählung zu Grunde legt, sodann schreibt er aus den Ver¬
hältnissen seiner eignen Zeit und mit starker Beziehung auf dieselben. Die
erstere Zeit ist schwierig näher zu bestimmen; doch spricht vieles dafür, daß sie,
wie sich A. v. Gutschmid kürzlich ausgesprochen hat. in der Zeit des Artaxerxes
Ochus zu suchen ist. welcher König die Juden sehr stark bedrängt hat. und
unter dem ein Feldherr Olophernes siegreich kämpfte. Unter dem hohen Priester
Jojakim verstand der Verfasser warscheinlich den Reh. 12, 10 erwähnten, der
freilich geraume Zeit früher lebte. Dem König gab er den Namen des als
Zerstörers der heiligen Stadt schrecklichen und verabscheuten Chaldäerkönigs,
machte ihn aber zum König der Assyrer, um sogleich anzudeuten, daß das
Ganze nicht streng geschichtlich zu nehmen. Dafür, daß dem Verfasser diese
Zeit vorschwebte, ließe sich noch mehres sagen. Wir verwahren uns aber
gleich dagegen, daß man diese Ansicht aufgreife, um das Buch aufs neue als
historische Quelle zu benutzen. Dem Verfasser schwebte eben eine solche Zeit
nur vor; er nahm einige Momente aus ihr heraus, welche mit der Lage seiner
Zeit einigermaßen übereinstimmten, und benutzte sie ganz frei.
In Wirklichkeit schrieb nämlich der Verfasser aus seiner Zeit und für die¬
selbe. Der stark didaktische und paränetische Zweck der Erzählung tritt überall
deutlich hervor. Sie soll lehren, wie Gott seinem Volke aus aller Noth hilft,
wenn es ihm treu bleibt, wie selbst die schwächste Kraft, wenn sie mit Frömmig¬
keit und Gesetzlichkeit verbunden ist, den stärksten Feind überwindet. Mächtige
Feinde bedrängen Israel; ein gewaltiger König sendet seinen Heerführer, alle
Nachbarvölker, Ammoniter und Moabiter, Edomiter") und die Bewohner des
Küstenlandes helfen ihm und weisen ihm mit Eifer die rechten Wege zur Be¬
zwingung des Landes, aber Gott hilft den Frommen. Ein solcher Gedanke in solcher
Lage war aber in der Periode lebendig, in die unser Buch zu versetzen alle
Gründe uns veranlassen, in der makkabäischen Heidenzeit. Diese rollt sich hinter
der Dichtung auf. Wir sehen die syrischen Könige, wie sie in stolzer Ucver-
hebung ihre Heere schicken, um das hartnäckige Volk zu vernichten, welches
weder dem König selbst göttliche Ehren erweisen, noch überhaupt einen andern
Gott als den seiner Väter, anerkennen will. Wir sehn dies Volk sich zu¬
sammenscharen, in kleinen Burgen sich unter dem Befehl heldenmüthiger
Priester vertheidigen und den Feind durch Gewalt und List niederwerfen; wir
sehn, wie die Frommen auf die alten Verheißungen vertrauen, indem sie sich
strenger, ja ängstlicher Erfüllung der Gesctzespflichtcn bewußt sind.
Als der Verfasser schrieb, lag gewiß wieder eine der schweren Kriegsnöthe auf
dem Volk. Der Triumph der Gerechten, den er beschreibt, war in der Wirk¬
lichkeit schwerlich schon errungen. Manche mochten kleinmüthig werden, wie die
Einwohner Betvluas, oder mochten in der Noth die Gesetze übertreten, wie
es der Verfasser, etwas aus der Rolle fallend, Judith von ihren Mitbürgern
sagen läßt, aber der Kern des Volks hält fest an dem Glauben, daß Gott,
der ihre Väter so oft gerettet, auch jetzt Netiung bringen werde. Welcher
Kriegszug im Einzelnen den Verfasser zu seiner Dichtung veranlaßte, wage
^ nicht sicher anzugeben. Der sehr weitläufig beschriebene Zug des Olophernes,
ehe er sich vor Betylua lagert, so wie einzelne andere Momente möchten viel¬
leicht späterer Untersuchung Anhaltspunkte zur genaueren Ermittlung der Ab¬
fassungszeit geben. Daß als Schauplatz der Geschichte ein sonst ganz unbekannter
Ort erscheint, wird gewiß auch aus den Verhältnissen der damaligen Zeit zu
erklären sein.
Als Erzählung ist Judith ein schönes Erzeugniß des jüdischen Geistes.
Die Entwicklung könnte zwar mitunter etwas rascher vor sich gehn, die Reden
und Gebete halten den Gang etwas auf, und die Beschreibung der Kämpfe
und Züge des Feindes im Anfang des Buches scheint uns ziemlich überflüssig:
aber wenn wir die Zeit und die Zwecke des Buchs berücksichtigen, so werden
wir den Verfasser hierüber nicht hart beurtheilen. Fromme Reden und Gebete
liebte die Zeit, und der Verfasser hatte Gelegenheit, in ihnen seine eigentlichen
Zwecke recht auszusprechen. Die gewaltigen Thaten und Züge des Feindes
mußten in ausführlicher Schilderung den schließlichen Ausgang durch den Contrast
um so stärker hervorheben, und die Namen der durchzognen und besiegten
Länder erinnerten den Leser gewiß an die Thaten seines mächtigen Feindes. Im
Ganzen sind übrigens Reden und Erzählung gut disponirt und lebendig.
Die Zeichnung der wenigen handelnden Personen ist durchweg fest und in
sich wahr. Eine gelungne Figur ist die des Achior, in dessen Munde die
Lehren der israelitischen Geschiebe ganz besonders eindringlich klingen. Die
Hauptheldin ist als ein Muster jüdischer Tugend geschildert. Freilich hat man
oft in ihrem Benehmen gegen Olopherncs Anstoß genommen: diese schlau durch¬
geführte Lüge, die Bethörung des Feindes durch die Reize ihres Körpers, ver¬
bunden mit dem Meuchelmord, entspricht allerdings nicht den strengsten An¬
forderungen der Moral, aber man darf doch den Verfasser nicht zu sehr darüber
tadeln. Im Kampf mit dem überlegenen Todfeinde greift ein Volk zu allen
Waffen und so wenig sich Lug und Trug irgendwie rechtfertigen läßt, so
wenig sind sie unter solchen Umständen mit einer kurzen Verdammung abgethan.
Eins der ältesten, vielleicht das älteste aller erhaltnen hebräischen Literaturstücke
das Lied der Debora, preist einen unter weit weniger entschuldigenden Um¬
ständen begangnen Meuchelmord vom nationalen Standpunkt aus; rechnen wir
es daher dem Dichter nicht zu hoch an, wenn er, mitten im Kampfe stehend,
nicht nach den Gebote der höchsten Etlnk, sondern unter dem Eindruck von
nationalen und religiösen Begriffen und Gefühlen schreibt. Auch die ängstliche
Gesetzlichkeit der Judith behagt uns nicht sonderlich, aber diese Strenge war eben
die Quelle der Heldenthaten dieser Epoche. Von selbst versteht es sich bei
einem Buche dieses Zeitalters, daß der Versasser vielfach die ältern heiligen
Bücher benutzte, das hat er sowohl in Beziehung auf Form wie auf Inhalt
gethan. Zu dem von ihm benutzten Büchern gehört auch das Buch Esther-
Der Urtext unsres Buches war sicher hebräisch. Daß der griechische Text
eine sehr hebräische Färbung hat, würde an und für sich nichts beweisen, als
daß wir es hier mit einem jüdischen Product zu thun haben; aber hier ist jede
Faser der Rede hebräisch, wie es nur in einer wörtlichen Uebersetzung aus
dem Hebräischen möglich ist. Dazu finden sich mehre Uebersetzungsfehler. die
wir noch deutlich erkennen können; manche andere Stellen mögen ihre Dunkel-
heit gleichfalls einer ungeschickten Übertragung des Originals verdanken. Wahr¬
scheinlich ist der Uebersetzer für einen Theil der Entstellung und Verwirrung
in den geographischen Namen verantwortlich zu machen; einen andern Theil
der Schuld tragen sicher die Abschreiber.
Der griechische Text ist später vielfach überarbeitet. Eine dieser Überarbeit¬
ungen, die übrigens nicht sehr durchgreifen, sondern nur allerlei kleine Abänderungen,
Zusätze und Auslassungen anbringen, welche auf den Gang der Geschichte keinen
wesentlichen Einfluß haben, ist auch in lateinischer und syrischer Sprache er¬
halten. Nach jenem lateinischen Texte hat dann Hieronymus seine eigne Be¬
arbeitung gemacht. Angeblich lag ihm freilich ein chaldäischer Text vor, aber
wenn er vielleicht auch wirklich einen solchen — jüdischen oder christlichen Ur¬
sprungs — kannte, so ist doch seine Uebersetzung sicher eine bloße, nicht ein¬
mal immer verbesserte, Umarbeitung des altlateinischen Textes, welche mit
großer Willkürlichkeit und Eilfertigkeit ausgeführt und des großen Uebersetzers
eigentlich unwürdig ist. Diese Uebersetzung ist aber im Abendland die kirchlich
herrschende geworden, und auch Luther übersetzte aus ihr, nicht aus der griechischen.
Daß die Juden das Buch Judith nicht in hebräischer Sprache besaßen,
erfuhr Origenes von ihnen selbst. Es hat auch nie kanonische Geltung unter
ihnen gehabt, das Original war wohl frühzeitig verloren gegangen. Wenn
das Buch von den Christen zu der heiligen Schrift gezählt wurde, so geschah
dasselbe mit manchen andern griechischen Büchern, welche von den alexandrinischen
Juden gebraucht waren; das Bewußtsein, daß diese Bücher nicht eigentlich zum
Kanon gehörten, brach auch von Zeit zu Zeit wieder durch, bis das tridentiner
Concil den Unterschied zwischen kanonischen und apokryphischen Schriften ganz
aufhob, während die Protestanten ihn immer stark betonten.
Aber auch bei den Juden finden wir Erinnerungen an die Geschichte von
der Judith. Wir könnten sie alle ohne weiteres auf unser Buch, wie wir
es haben, zurückbeziehen, wenn nicht der Umstand uns bedenklich machen müßte,
daß die Juden als die Feinde, gegen welche Judith auftritt, die Griechen
(Jawan d. i. eigentlich Jonier) nennen und somit das Ereigniß in die Makka-
bäerzeit verlegen. Ist es nun Zufall, daß sie hier das Richtige treffen? Kamen
sie durch wirkliche Untersuchung zu diesem Resultat? war gar wirklich noch eine
Ueberlieferung vorhanden, daß der Verfasser zur Makkabäerzeit geschrieben und
M Grunde seine Zeit geschildert hatte? Ich wage diese Frage nicht zu beant¬
worten, doch möchte ich mich am liebsten dafür entscheiden, daß hier der Zufall
gewaltet.
Von den uns vorliegenden Quellen*) ist die wichtigste ein kleines Stück
auf das aus der Makkabäerzeit stammende Fest der Tempelweihe oder
Reinigung. Nachdem hier erst erzählt ist, wie Juda aus dem Hasmonäer —
(d. i. Maccabäer —) Hause den Feldherrn des Königs der Griechen erschlagen
habe, als dieser an seiner Schwester, der Tochter des hohen Priester Johannes
(Jochanan) M primao iroetis habe ausüben wollen, heißt es, aus Rache sei
der König selbst gegen Jerusalem gezogen und nun habe die Wittwe Judith
Jerusalem (auf die im Buche Judith geschilderte Weise) gerettet. Alle wesent¬
lichen Züge unsrer Geschichte finden wir in der kurzen Erzählung wieder, nur
daß der (ungenannte) König selbst und Jerusalem statt des Olophernes und Be-
tyluas auftreten. Die Verknüpfung mit der ersten Geschichte ist ganz lose,
und ich möchte daher durchaus kein großes Gewicht darauf legen. Ganz falsch
ist es, wenn man in neuerer Zeit behauptet, die Juden identificiren die Judith
mit jener hasmonäischen Hohenpriesterstochter, da sie deutlich von ihr unter¬
schieden wird. Wenn daher die Geschichte dieser noch in verschiednen Verstonen
auftaucht, in denen der, welcher den Feldherrn erschlägt, bald als Eleazar, bald als
Mattathia, Sohn des hohen Priesters Johannes, erscheint und in deren einer
die Tochter den Namen Hanna führt, so ist das zwar sehr interessant als Beleg dafür,
wie verwirrt die jüdischen Erinnerungen an ihr größtes Heldengeschlecht, insbe¬
sondere den gewaltigen Johannes Hyrkanus — denn das ist der hohe Priester
Johannes*) — waren, aber Schlüsse auf die Abfassung und ursprüngliche
Form des Buches Judith darf man daraus nicht ziehen. Das Wichtige ist
eben nur die Verbindung der Judithgeschichte mit der der Makkabäer, wodurch
die Verwandlung der Assyrer in die Griechen bedingt ist.
Auf eine solche Verbindung der Judith mit der Makkabäergeschichte und
dem Fest der Tempelweihe weist eine kurze Notiz aus talmudischer Zeit hin
(Tosefta, Megilla sol. 4a). Die Geschichte Judiths nach der eben genannten
Version, aber aus der Verbindung mit der Geschichte von der Tochter des
hohen Priesters gelöst, finden wir in einem kleinem Tractat in gutem Hebräisch-
Eine andere weitläufige Erzählung von Judith geht dagegen unmittelbar auf
unser Buch und zwar, wie sich deutlich nachweisen läßt, auf den Text des
Hieronymus zurück. Aus jenen jüdischen Erinnerungen hat der Bearbeiter bloß
das behalten, daß die belagerte Stadt Jerusalem und das feindliche Volk das
griechische ist; er benutzt außerdem die in mehren Bearbeitungen bekannte
„Rolle des Antiochus", eine kurze ziemlich fabelhaste Erzählung der makkabäischen
Kriege, bestimmt zur Vorlesung am Fest der Tempelweihe. Im Uebrigen folgt
er dem lateinischen Text, aber mit großer Freiheit. Was ihn stört oder über¬
flüssig ist, läßt er weg. Von Nebukadnezar ist keine Rede; Olophernes ist bei
ihm selbst der König; die großen Heereszüge werden weggeschnitten. Durch,
gängig ist seine Bearbeitung sehr geschmackvoll: sie verdiente eine deutsche Ueber¬
setzung. Der hebräische Stil ist so rein, wie man es nur irgend verlangen
kann; freilich erleichtert sich der Bearbeiter die Aufgabe, ein biblisches Hebräisch
zu schreiben, dadurch, daß er seine Rede großenteils mosaikartig aus Bibel¬
stellen zusammensetzt, aber auch hierin zeigt er Geschmack. Die Abfassung dieser
Bearbeitung kann übrigens erst in ziemlich späte Zeit fallen, da wir eine
solche Nachahmung des biblischen Stils nicht vor dem 10. Jahrhundert er¬
warten können; die Benutzung der Vulgata weist uns aufs Abendland als
Ort der Abfassung hin.
Auch bei diesem Buche legen wir den gewöhnlichen griechischen Text unsrer
Inhaltsangabe zu Grunde. Wir trennen dabei den ersten Theil, in welchem
Tobie in erster Person von sich redet, von dem folgenden, durch besondere
Bezifferung.
I. Tobie aus dem Stamme Naphthali wohnt nördlich (oder nordwestlich)
vom See Gennezareth, wird aber mit seinem ganzen Stamm vom Assyrerkönig
Salmanassar in die Verbannung nach Ninive geschleppt, obgleich er sich an den
Sünden seiner Stammesgenossen nicht betheiligt und nicht dem Baal geopfert
hat, sondern nach Vorschrift des Gesetzes jährlich mehrmals zu den Festen nach
Jerusalem gegangen ist. Auch in Ninive widersteht er den Verführungen zu
Uebertretung des Gesetzes. Auf einer Reise läßt er dem Gabael in Ragä
(im Mittelalter Rai. jetzt in Trümmern nahe bei Teheran) 10 Talente Silbers
als Depositum, welche er nicht zurückholen kann, da die Wege seit dem Regierungs-
antritt des Sanherib, Sohnes des Salmanassar, zu unsicher werden. Tobie
sährt fort, Werke der Barmherzigkeit zu thun, namentlich unbegrabne Leichen
M bestatten. Dazu bekommt er besonders Gelegenheit, seit der König von
seinem Zuge gegen Judäa ohne Erfolg zurückgekehrt und nun in seiner Wuth
Viele umbringen läßt. Als es aber dem König hinterbracht wird, daß Tobie
die Leichen der von ihm Getödteten bestattet, wird er zornig. Tobie muß sich
verstecken, um dem Tode zu entgehn, alle seine Habe wird geplündert; seiner
einträglichen Stelle als Hoflieferant geht er natürlich auch verlustig. Aber die
Ermordung des Sanherib und der Einfluß eines Neffen Achiachar, welcher am
Hofe des neuen Königs eine hohe Stelle bekleidet, erlauben ihm bald, zu
seinem Hause, zu seiner Frau Anna und seinem Sohn Tobias zurückzukehren.
Durch diese Erfahrungen nicht abgeschreckt, begräbt Tobie bald wieder die
Leiche eines eben erschlagnen Jsraeliten, obgleicher er gerade fröhlich beim Mahle
des Pfingstfestes gesessen hat. Durch die Berührung der Leiche religiös unrein
geworden, schläft er nicht im Hause, sondern im Hofe an der Wand. Hier
fällt der heiße Koth eines Sperlings auf sein Auge und er erblindet unden'
bar. Anfangs unterstützt ihn Achiachar in seiner Noth, der aber bald das Land
verläßt. Nun muß ihn seine Frau durch ihrer Hände Arbeit ernähren; hierbei
kommt es zwischen den Eheleuten zu einer heftigen Scene, da Anna bezweifelt,
daß er wirklich so fromm gewesen, indem sie keine Frucht der Frömmigkeit
sieht. In tiefer Betrübniß bittet Tobie Gott um seinen Tod.
II. In derselben Stunde richtet fern in Ekbatana (jetzt Hamadan) Sara,
die einzige Tochter des Raguel, an Gott gleichfalls die flehentliche Bitte um
den Tod oder um Hilfe. Sie ist sieben Männern nach einander zur Ehe über¬
geben, und alle sind durch den auf sie eifersüchtigen bösen Geist Asmodäus in
der Brautnacht vor der Vereinigung mit ihr umgebracht. Jetzt beschuldigen
sie selbst ihre Mägde, daß sie ihre Männer erstickt habe.
Der Engel Raphael bringt das Gebet der beiden Gerechten vor Gottes
Thron und wird hinabgesandt, ihnen Rettung zu bringen.
Tobie erinnert sich seines bei Gabael niedergelegten Geldes und entschließt
sich, seinen Sohn Tobias nach Ragä zu schicken, um es wiederzuholen. Er
ertheilt ihm den Auftrag und giebt ihm zugleich viele schöne Sittenregeln, vor¬
an das Gebot, die Mutter aufs höchste zu ehren. Tobias sucht sich einen Reise¬
gefährten und findet den Raphael. der sich, vom Vater "gefragt, für den
Azarias, aus einem dem Tobie befreundeten frommen Geschlecht ausgiebt.
Tobie ist hoch erfreut, bestimmt ihm einen beträchtlichen Lohn und entläßt sie
mit seinen Segenswünschen, obgleich sein Weib wenig mit der gefahrvollen
Reise einverstanden ist.
Die Reisenden kommen am Abend zum Strome Tigris. Tobias badet
sich; ein großer Fisch will ihn verschlingen. Der Engel heißt ihn den Fisch
ans Land ziehn. ihn aufschneiden und Herz, Leber und Galle herausnehmen.
Auf dem weitem Weg belehrt ihn Raphael, daß Herz und Leber gegen böse
Geister, die Galle gegen Blindheit gut ist. Als sie nahe bei Ekbatana sind,
so räth er ihm ferner, Sara, Tochter des Raguel, zur Ehe zu begehren. Da
Tobias sich vor dem Schicksal der sieben früheren Männer fürchtet, so sagt er
ihm, wie der böse Geist durch die auf heißes Rauchwerk gelegten Eingeweide
des Fisches vertrieben werde.
Sie kehren bei Raguel ein, dem sogleich beim ersten Anblick die Aehnlich-
keit des jungen Mannes mit seinem Freunde Tobie auffällt. Sie werden aufs
herzlichste aufgenommen. Raphael vermittelt sofort die Verbindung zwischen
Sara und Tobias; die Einwendungen Raguels werden nicht beachtet, und
dieser spricht sofort den Trauungssegen über die beiden Neuvermählten aus.
Tobias, mit Sara allein gelassen, vertreibt den bösen Geist auf die ihm
von Raphael angegebne Weise: jener flieht ins äußerste Oberägyten und wird
da von Raphael gefesselt. Tobias und Sara beten gemeinschaftlich vor der
ehelichen Vereinigung, Raphael hat unterdessen ein Grab gegraben, um den
Tobias heimlich zu bestatten, wenn es ihm gehen sollte, wie den frühern
sieben Männern. Als aber eine zum Spähen ausgesandte Magd entdeckt, daß
die Beiden in Frieden schlafen, läßt er das Grab zuschulden.
Raguel schwört darauf, er wolle den Tobias nicht vor 14 Tagen weglassen.
Damit nun die Zeit nicht zu lange für seinen alten Vater werde, der in banger
Erwartung seiner Rückkehr harrt, wird Raphael zum Gabaei nach Ragä geschickt.
Dieser erhält das Geld des Tobie gegen den mitgebrachten Schuldschein und
bringt den Gabael selbst mit zu dem Feste in Ekbatana.
Nach Ablauf der 14 Tage läßt sich Tobias nicht länger halten, und
Raguel entläßt ihn mit seiner Tochter und der Hälfte aller seiner Güter.
Tobie hat unterdeß auf seinen Sohn mit großer Angst gewartet. Anna schon
an seiner Rückkehr verzweifelt. Das Wiedersehn mit den Aeltern findet unter all¬
gemeiner Rührung statt. Durch Bestreichung mit der Galle des Fisches werden
Tobits Augen geöffnet. Allgemeine Freude unter den Bekannten des Hauses.
Als Tobie und Tobias dem treuen Begleiter weit mehr als den bedungenen
Lohn überreichen wollen, giebt sich dieser als den Engel Raphael zu erkennen
und verschwindet. Tobie preist den Herrn in längerer Rede, lebt dann noch
lange in Frieden und stirbt im Alter von 158 Jahren. Als auch Anna ge¬
storben und neben ihrem Mann begraben ist, wandert Tobias mit Sara dem
letzten Willen seines Vaters gemäß nach Ekbatana zu den Schwiegerältern.
Auch diese beerbt er. Er stirbt in Ehren 127 Jahr alt, nachdem er noch vor
seinem Tode erfahren, daß Ninive von den Königen der' Chaldäer und Meter
Zerstört ist, wie es sein Vater vorausgesagt hatte, gestützt auf die Weissagungen
des Propheten Jonas.
. Daß diese schöne Erzählung geschichtlich wäre, könnte nur jemand meinen,
der qu die Möglichkeit glaubte, daß der Engel Raphael einen Menschen in
Menschengestalt begleiten und ein böser Geist nicht nur Menschen tödten, sondern
auch durch Gestank Vertrieben und gefesselt werden könnte. Wer so etwas
glaubt, dem ist mit wissenschaftlichen Gründen schwerlich beizukommen. Für
uns genügen diese für die Erzählung sehr wesentlichen Züge zu dem Beweis,
daß wir hier aus d^in Boden der Dichtung stehen. Ob der Dichter aber etwa
überlieferte Nachrichten über einen Tobie und Tobias benutzt oder ob er alles
frei aus seiner Phantasie gestaltet hat, das entzieht sich unsrer Entscheidung.
Die historische Situation ist übrigens der geschichtlichen Ueberlieferung entlehnt
und nicht übel beobachtet. Als eine Figur, die dem Erzähler von fremd-
her übergekommen ist, haben wir übrigens die des Achiachar anzusehn. Die
Geschichte desselben wird als bekannt vorausgesetzt und mehrmals wird auf sie
angespielt; er steht gar nicht in inniger Verbindung mit der Haupterzählung:
kurz es wird uns deutlich, daß wir hier eine Person haben, die dem Versasser
und auch wohl den Lesern, auf die er zunächst rechnete, schon anderweitig bekannt
war. Es gelingt auch wirklich, Spuren von derselben sonst im Orient zu
entdecken.
Die Erzählung von Tobie ist eines der schönsten Denkmale der ganzen
jüdischen Literatur. Eine der ehrenwerthesten Seiten des jüdischen Volks, der
schöne Familiensinn, tritt in ihr mehr als irgendsonst hervor. Nicht als ob
dem Verfasser gerade die Schilderung und Empfehlung dieses Sinnes die Haupt¬
sache gewesen wäre; sein Zweck ist vielmehr zu zeigen, wie der Gerechte, mag
er noch so sehr in Noth gerathen, vielleicht gerade infolge seiner Gerechtigkeit,
dennoch stets unter der ganz besondern Obhut seines Gottes steht, der ihn
endlich aus allem Elend befreien wird. Aber was dies Buch jedem Leser von
Gemüth von jeher so anziehend gemacht hat,*) das ist besonders die Innigkeit
der in ihm geschilderten Beziehungen zwischen den Gliedern der Familie. Das
Buch ist eine Idylle, eine bloße Familiengeschichte, aber dies ist eben ein Feld,
auf dem die hebräischen Schriftsteller von Alters her glänzten (vrgl. z. B.
1. Mos. 24 und das Buch Ruth).
Die Charaktere sind sehr einfach, aber sehr richtig gezeichnet. Der fromme
Dulder Tobie. das gleichfalls fromme, aber ungeduldige und etwas zänkische
Weib: es sind wirklich Personen mit Fleisch und Blut. Wer an dem Engel
Raphael Anstoß nimmt, der muß auch die Genesis mit ihren wiederholten
Engelserscheinungen verwerfen, und wenn uns der böse Geist Asmodäus etwas
seltsam vorkommt, so müssen wir wieder die in der Zeit des Dichters herrschen¬
den Ideen berücksichtigen. Die Evangelien zeigen uns ja durchweg einen ebenso
entwickelten Dämonenglauben; denn daß es keinen Unterschied macht, ob böse
Geister vor dem Gestank verbrannter Fischeingeweide fliehn, oder in eine Sau-
heerde fahren (Matth. 8, 28), wird man zugeben müssen.
Die schlichte Erzählung ist sehr zweckmäßig disponirt; die Reden und Gebete
sind herzlich und zeigen das tiefe Gemüth des Dichters. So unrein sein Griechisch
ist, so ist er doch ein Mann von Geschmack.
Mit Unrecht hat man früher wohl die Einheit der Erzählung bezweifelt.
Allerdings konnte der Wechsel der erzählenden Personen zu einem solchen Zweifel
veranlassen, aber dieser Wechsel läßt sich auch sonst erklären. Der Erzähler
wollte anfangs den Tobie selbst sprechen lassen. So lange, von Tobie am
meisten die Rede war. ließ sich das leicht durchführen, aber sobald Sara auf
die Bühne kam, wie sie in ihrer stillen Kammer zu Gott betet, ließ sich diese
Form nicht aufrecht erhalten, und er gab sie daher auch nachher ganz auf. Es
ist eine kleine Ungleichheit, weiter nichts; die Geschichte selbst hat in sich ihre
nothwendige Einheit.
Wir haben bereits früher bemerkt, daß das Buch Tobie ursprünglich
griechisch geschrieben war. Dies ist wenigstens das bei weitem Wahrscheinlichste.
Zwar bringen die starken Hebraismen den Leser leicht auf die Gedanken eines
sehr wörtlich übersetzten hebräischen Originals, aber sieht man wieder, wie manche
echt griechische Ausdrücke und Wendungen (z. B. Participial- und Jnsinitivcon-
structionen) hier vorkommen, wie oft die Wortfolge eine andere ist als die
hebräische, und wie gewisse Erscheinungen, die sich in allen oder den meisten
Uebersetzungen aus dem Hebräischen zeigen, hier fehlen, so wird man jenen
Gedanken aufgeben müssen. Die Uebersetzungsfehler, welche man hier und
da hat finden wollen, verschwinden bei näherer Betrachtung in nichts. Man
muß aber zugeben, daß der Verfasser des Hebräischen kundig war. da er
(3. 17; 12, 14 f.) auf die Bedeutung des hebräischen Engclnamens Raphael
„Gott heilt" anspielt.
Bei einem griechischen Original ist die Möglichkeit einer Abfassung vor der
Mitte des dritten Jahrhunderts vor Christus und im tiefen Asten, an die man
gedacht hat, ganz ausgeschlossen. An einer solchen Annahme verhindert uns
übrigens auch die Unbekanntschaft mit der geographischen Lage des Schauplatzes
der Geschichte. Der Erzähler denkt sich Ninive eine Tagreise westlich vom
Tigris; wollte man diesen Irrthum auch durch die unwahrscheinliche Erklärung
Neuerer wegschaffen, daß unter dem Tigris hier ein anderer Fluß zu verstehen
sei. so bleibt doch der Fehler, daß sich der Erzähler die Entfernung zwischen
Ekbatana und Naga viel zu gering denkt. Nach dem Zusammenhang der Rede
ist sie ihm eine Tagereise groß; wollen wir aber auch zugeben, daß die An¬
nahme einer längern Reise nicht geradezu gegen den Text verstößt, so wäre es
doch widersinnig, wenn Raphael den Gabael zur Theilnahme an dem vierzehn¬
tägiger Feste aus einer Entfernung holt, die es gerade zuläßt, daß er in
Ekbatana eintrifft, als das Fest eben zu Ende ist. Da nämlich Naga von
Ekbatana auf geradem Wege etwas über ^0 Meilen entfernt ist, so wäre es
für Kameele (9,2) kaum möglich, in weniger als vierzehn Tagen den Hin-
und Rückweg zu machen, für die beiden Flchwcmderer wäre noch eine etwas
längere Zeit nöthig gewesen, und der alte Tobie hätte daher keine Ursache ge¬
habt, sich über das Ausbleiben seines Sohnes zu ängstigen, als er sich vierzehn
Tage in Ekbatana aufhält. Man sieht, der Versasser glaubte, die beiden Haupt¬
städte Mediens lägen dicht bei einander.
Die hohe Verehrung für Jerusalem, welche sich am Anfang und besonders
in den Schlußreden Tobits zeigt, das große Gewicht, welches auf die Festreise
nach der heiligen Stadt gelegt wird, sprechen für die Abfassung in einer
Jerusalem nicht allzufernen Gegend. Das Buch ist entweder in Palästina, oder
in Aegypten geschrieben. Für jenes Land, speciell Galilcia, möchte der
Umstand sprechen, daß hier Tobits ursprüngliche Heimath angegeben wird,
Doch ist die Sprache des Originals, sowie die Wahrscheinlichkeit, daß das Buch
den Tobie als Trost und Muster für Juden im Auslande aufstellt, gegen eine
solche Annahme. Das Wahrscheinlichste ist demnach, daß der Verfasser in
Aegypten schrieb. Hierzu stimmt auch die Verbannung des bösen Geistes in
die „obersten Gegenden Aegyptens", die verrufnen Gebirge im Süden. Vielleicht
ließe sich auch die finanzielle Stellung Tvbits und Achiachars am Hofe zu Ninive
mit der einflußreichen Stellung vergleichen, welche jüdische Geldmänner unter
den Ptolema'ern einnahmen. Auch ist zu beachten, daß die handelnden Personen
durchgängig in sehr guten Vermögensverhältnissen leben, was auch wohl am
besten auf ägyptischen Ursprung paßt. Daß sie in allen Geschäftsangelegen-
heiten sehr pünktlich und sorgfältig verfahren, ist dagegen ein allgemein jüdischer
Zug. Auch aus der entwickelten Geisterlehre möchte ich keinen bestimmten Schluß
auf die Abfassung ziehn, da sich diese in den Jahrhunderten vor Christus aller
Orten, wo Juden wohnten, finden konnte. Ebensowenig folgt natürlich aus der
strengen Gesetzlichkeit Tobits (1, 7).
Der wenig fanatische Charakter des Buchs, welches auch in den Ver¬
heißungen der Schlußreden Tobits keinen Haß der Fremden zeigt, spricht für
die Abfassung vor der Makkabäerzeit. Bei der starken Verherrlichung des Heilig-
thums in Jerusalem würde außerdem wohl eine gewisse Polemik gegen den
Nebentempel des Onias in Aegypten nicht fehlen, wenn der Verfasser diesen
schon gekannt hätte. Da nun die griechische Abfassung, wie gesagt, eine ältere
Zeit als die Mitte des dritten Jahrhunderts ausschließt, so werden wir unser
Buch mit Wahrscheinlichkeit in den Schluß des dritten oder den Anfang des
zweiten Jahrhunderts setzen.
Mit Unrecht hat man sich daran gestoßen, daß Josephus*) von unserm
Buch keine Notiz nimmt. In seine Geschichte des jüdischen Volks gehört diese
Idylle nicht. Freilich hat man selbst das auffallend gefunden. daß er die
Judith nicht erwähnt, während ihm die unchronologische Einkleidung ihrer
Geschichte die Einreihung in seine Darstellung noch unmöglicher machte, als
die des Hiob, für deren historische Fixirung ihm jeder Anhaltspunkt fehlte.
Noch weniger ist auf Philos Schweigen zu geben, der eine ganze Reihe alt-
testamentlicher Bücher unerwähnt läßt.
Die Textgeschichte des Buches Tobie ist der des Buches Judith sehr ähnlich.
Der griechische Text ist früh stark überarbeitet: der Bearbeiter ließ zwar die
Grundzüge und die Hauptsachen des Textes, änderte aber viel gewaltsamer,
als der des Judithbuchs. Dieser überarbeiteteText ist uns nurzum Theil in griechischer
Sprache erhalten, zum Teil wird er durch einen lateinischen und einen syrischen Text
repräsentirt. Nachjenem lateinischen verfaßte ein Jude (der sog.HgbraeusMuster!)
mit vielem Geschick eine freie hebräische Bearbeitung in einem Stil, der fast so gut
biblisch ist, wie der der oben erwähnten hebräischen Judith. Aus demselben Grunde
wie diese kann sie schwerlich vor dem 10. Jahrhundert verfaßt sein. Viel später
herunterzugehen verbietet uns wohl die Benutzung der alten lateinischen Ueber-
setzung, die nach und nach ganz durch die des Hieronymus verdrängt ward.
Mit dieser Bearbeitung scheint eine andere, noch ungedruckte, fast ganz identisch
zu sein; wenigstens stimmt der einzige aus ihr veröffentlichte Vers bis auf eine
Aenderung mit jener wörtlich überein. Nach dem ursprünglichen Text ist eine
zweite syrische Uebersetzung und eine andere freie hebräische Bearbeitung
(LöblÄkus I'aAii) gemacht. Letztere ist in viel unreinerer Sprache abgefaßt als
die oben erwähnte; die geographische Unwissenheit des Bearbeiters ist boden¬
los. Eine nähere Bestimmung des Alters wage ich nicht zu geben.
Wie bei der Judith behauptet Hieronymus auch beim Tobie. aus einem
chaldäischen Text übersetzt zu haben. Ob ihm wirklich ein solcher Text vorlag,
wollen wir dahingestellt sein lassen; jedenfalls war sein Verfahren hier wehend-
!>es dasselbe, wie bei der Judith. Er arbeitete frei nach dem alten lateinischen
Text, verkürzte viel, machte mancherlei Zusätze und sonstige Aenderungen. Daß
ein so geistreicher Mann wie Hieronymus nicht ganz ungeschickt verfuhr, ist
vorauszusetzen; doch sind längst nicht alle seine Veränderungen als Verbesserungen
anzusehen, namentlich wären die erbaulichen Zusätze besser weggeblieben.
Hieronymus veränderte überall die erste Person in die dritte. Mit Recht ve-
zerch,net O. F. Fnßsche, dessen auf gründlicher Forschung beruhende Ansichten
über die Texte der Apokryphen sich uns beim nachprüfen durchgängig bestätigt
haben, diese Arbeit als leichte Waare. Erklärlich wird des Hieronymus
Verfahren durch die geringe Meinung, welche er von den Apokryphen hatte.
Leider hat Luther auch das Buch Tobie nicht nach dem Original, sondern nach
dem Text des Hieronymus übersetzt.
Dr. Ludwig von Nonne, das Staatsrecht der preußischen Monarchie. Zweite ver«
mehrte und verbesserte Auflage. Zweiter Band in zwei Abtheilungen, ent¬
haltend das Verwaltungsrecht. Leipzig, F, A Brockhaus. 1865.
Die Vorzüge, die den ersten Band des rönneschen Werkes auszeichnen,")
treten in vollem Maße auch in dem zweiten das Verwaltungsrecht der preu¬
ßischen Monarchie enthaltenden Haupttheile hervor. Vollkommene Beherrschung
und übersichtliche systematische Gruppirung des überreichen Stoffes, Klarheit
und Bestimmtheit der Darstellung. Besonnenheit und Sicherheit des Urtheils
sichern diesem Buche einen ehrenvollen Platz unter den staatsrechtlichen Werken
der Gegenwart und machen es zu einem durchaus unentbehrlichen Hilfsmittel
für einen jeden, der sich eine eingehende Kenntniß des preußischen Staatswesens
verschaffen will.
Es ist gegenwärtig wohl kein Zweifel darüber, daß das Verwaltungsrecht
für die Entwicklung des constitutionellen Staatswesens von fast ebenso großer
Bedeutung ist als das Verfassungsrecht. Die größere oder geringere Wichtigkeit,
die der einen oder der andern Seite des Staatsorganismus beigemessen ist,
ist wie überall, so auch in Preußen zu verschiedenen Zeiten sehr verschieden ge¬
wesen. So lange der Absolutismus des Königthums für die beste, ja für die
einzig denkbare Form des Staates galt, concentrirte sich die öffentliche Auf«
merksamkeit, soweit sie überhaupt an den innern Verhältnissen des Staates
Antheil nahm, ausschließlich auf die Verwaltung. Im Verfassungsstaat trat
das Verfassungsrecht völlig hinter das Verwaltungsrecht zurück. Die rechtlichen
Beziehungen zwischen König und Unterthanen waren überaus klar und einfach,
und da die Gestaltung ganz von dem Willen des Herrschers abhing, wenig
geeignet, das allgemeine Interesse zu beschäftigen. Die Ueberreste der feudalen
Stände waren politisch machtlos und so unselbständig, daß sie für die Ver¬
fassung des Staates kaum in Frage kommen. Eine selbständige Stellung im
Organismus des Staates nahmen nur die Gerichte ein, deren Wirksamkeit
innerhalb des ihnen zugemessenen Kreises in Preußen eine ungehemmte und
unbehinderte war. Die ganze weiterbildende, entwickelnde und, wenn der Aus¬
druck erlaubt ist, productive Thätigkeit des Staates vollzog sich innerhalb des
Von dem gesetzlich unbeschränkten Willen des Staatsoberhauptes geleiteten Ver-
waltungsorganismus. Erfüllte derselbe seine Functionen in befriedigender Weise,
so lag durchaus keine Ursache vor, eine Veränderung der Grundlagen des
Staates selbst, d. h. der Verfassung zu wünschen, stockte die Maschine, so waren
etwaige reformatorische Bestrebungen ausschließlich darauf gerichtet, erschlaffte
Organe wieder zu beleben, abgestorbene durch neue zu ersetzen, keineswegs aber
darauf, die Lebenskraft des Staates durch Veränderung des Verhältnisses zwi¬
schen Fürst und Volk zu erhöhen. Und selbst wo man von der Nothwendigkeit
einer derartigen Veränderung überzeugt war, ging man dennoch bei allen Re-
formen von der Umgestaltung der Verwaltung aus, in dem richtigen Gedanken,
daß die einzig feste Grundlage einer freien Verfassung eine selbständige Ver¬
waltung der untern Kreise des Staates sei.
Die nach einem glänzenden und vielversprechenden Anfange bald ins
Stocken gerathene Reform der Verwaltung drängte allmälig das Interesse für
diese Seite des Staatslebens in den Hintergrund und ließ den Gedanken auf-
keimen, daß nur eine völlige Umgestaltung der Verfassung im Stande sein
werde, den erschlafften Staatskörper zu kräftigen und den tief gesunkenen Ge-
Meingeist neu zu beleben. Der Umschwung trat schneller und plötzlicher ein,
als man gefürchtet und gehofft hatte. Preußen trat in die Reihe der Ver¬
fassungsstaaten, ehe die Verwaltung im Sinne des Selfgovernment umgestaltet
war. Kaum war aber das Verfassungsgebäude in seinen allgemeinen Umrissen
hergestellt, so machte sich auch das fast abgestorbene Interesse für die praktischen
Aufgaben der Verwaltung in den weitesten Kreisen geltend; denn der Wider¬
spruch zwischen den Principien des Verfassungsstaates und den aus dem absolut-
Monarchischen Staate herübergenommenen Verwaltungsgrundsätzen trat zu augen¬
scheinlich hervor, die Gefahr, mit der den Staat dieser in den Dingen liegende,
neben allen übrigen Parteigegensätzen fortlaufende, innere Conflict bedrohte,
War zu dringend, als daß irgendjemand die Nothwendigkeit einer Wiederher¬
stellung der gestörten Harmonie in Abrede hätte stellen können.
Ueber die Mittel freilich, das gestörte Gleichgewicht zwischen Verfassung
und Verwaltung wieder herzustellen, gingen die Ansichten weit auseinander.
Nach der einen Ansicht bildete das alte Verwaltungssystem die unantastbare
Grundlage des Staates; jedes Hinderniß, welches der freien Bewegung der
Verwaltung von der Verfassung entgegengestellt wird, ist ein Uebel, welches
beseitigt werden muß; wo ein Conflict zwischen Verwaltungsrecht und Ver¬
fassungsrecht entsteht, ist die Präsumption für das ältere, das „monarchische"
Verwaltungsrecht vorhanden: eine Ansicht, die consequenterweise dahin führt,
die Verfassung nicht aus den in ihr niedergelegten, sondern aus den Principien
eines durch die Verfassung theils aufgehobenen, theils wesentlich umgestalteten
Staatsrechts zu interpretiren. — Dieser Ansicht diametral gegenüber steht die
andere, nach welcher die Grundsätze der Verfassung zugleich die Grundlagen
alles öffentlichen Rechtes in Preußen sind: wo die Verwaltungspraxis mit dem
Verfassungsrechte in Widerspruch steht, ist sie der Verfassung gemäß umzugestalten;
die erste und vorzüglichste Quelle aller staatsrechtlichen Interpretation ist die
Verfassung; das ältere Staatsrecht tritt als Jnterpretationsmitel nur subfidiarisch
auf, wo die Bestimmungen der Verfassung durchaus keinen Anhalt für die
Entscheidung einer Frage des öffentlichen Rechts geben.
Es ist für die Entwicklung des preußischen Verfassungswesens von sehr
ungünstigem Einfluß gewesen, daß mehre Jahre hindurch die erstere Richtung
im Abgeordnetenhause selbst, infolge der Erschlaffung, die nach den Stürmen
der Jahre 1848 und 1849 eingetreten war, ein entscheidendes Uebergewicht
gehabt hat. Man kann die rückläufige Bewegung dieser Periode als eine Re¬
action des absolutistisch-büreaukratischen gegen das constitutionelle Regime be¬
zeichnen; indessen ist dieser Ausdruck doch zu allgemein und unbestimmt, um
einen klaren Begriff von dem Kern und Wesen der Revisionsperiode zumal in
ihren letzten Ausläufern zu geben. Zunächst muß man festhalten, daß die
Tendenz des Ministeriums Manteuffel-Westphalen keineswegs darausgerichtet war,
die Verhältnisse, wie sie aus den Stürmen des Jahres 1848 hervorgegangen
waren, im Geiste des altpreußischen Staatswesens umzugestalten. Dieser Geist
war sehr wohl fähig, sich willig und vorbehaltlos in die neuen Verhältnisse
einzufügen; war doch die letzte große That dieses Geistes im innern Staats¬
leben darauf gerichtet gewesen, den Staat auf dem Wege der Verwaltungs¬
reform zum Verfassungsstaate umzubilden. Dies Vorbild war im Kampfe gegen
die Verfassung unbrauchbar; das Einzige, was aus der Stein-Hardenbergschen
Periode entnommen werden konnte, war die einheitliche Gestaltung und scharfe
Concentrirung der obersten Staatsleitung, aber im durchaus bürokratisch-
polizeilichen Sinne gefaßt: wie es denn ganz unzweifelhaft ist, daß in der
Gegenwart jede Reaction gegen ein bestehendes constitutionelles Staatswesen,
sei es mit Vorsatz und klarem Bewußtsein, sei es unwillkürlich unter dem Drucke
der Verhältnisse, sich in der Richtung der französischen Beamtenhierarchie be¬
wegen muß; die Beamten und insbesondere diejenigen unter ihnen, welche im
engsten Amtsbezirke wirksam sind, und daher den größten persönlichen Einfluß
auf die Stimmung der Bevölkerung auszuüben vermögen, werden aus einfachen
Organen der Verwaltung zu Trägern der politischen Richtung der jedesmaligen
Regierung. Daß das System jeden Augenblick in den radikalsten Parlamentarismus,
zu dessen Bekämpfung es gerade in Anwendung gebracht werden soll, umschlagen
kann, ist ebenso ersichtlich, wie es klar ist, daß man es mit keinem unpassenderer
Namen als dem eines specifisch königlichen Regiments bezeichnen kann. Diese
Bezeichnung würde nur dann wenigstens in gewissem Sinne richtig sein»
wenn sich voraussetzen ließe, daß die Regierung eines Versassungsstaates im
Stande wäre, sich vollständig frei von jedem Parteieinflusse zu erhalten; die?
ist aber eben unmöglich; eine jede Regierung bedarf der Hilfe einer Partei;
eine Regierung., die von keiner Partei unterstützt wird, müßte es bereits mit
allen Parteien verdorben haben. Aus diesem unzweifelhaften Satze folgt aber,
daß jede Regirrung, da die Parteien nicht geneigt sind, ihre Unterstützung um-
sonst zu bieten, mehr oder weniger im Sinne der befreundeten Partei regieren
muß. so daß das angebliche königliche Regiment unwiderstehlich in der Richtung
gewisser Parteitendenzen, mögen diese nun parlamentarisch oder antiparlamen¬
tarisch sein, gedrängt wird. Diesem Schicksal ist auch das Ministerium der
Revisionsperiode verfallen; es konnte in absolutistischen Sinne nur wirken,
wenn es sich, was ursprünglich offenbar nicht in seiner Absicht lag. auf die
feudale Partei stützte, was natürlich weitgehende Concessionen zur Folge hatte.
Somit nahm die Reactionsperiode der fünfziger Jahre das doppelte Gepräge
einer verschärften büreaukratischen Centralisation und zugleich einer Begünstigung
der feudalen Interessen an, letzteres natürlich nur in beschränktem Maße, da die
Orgcmisationsideen der feudalen Doktrinäre einfach Hirngespinnste sind, an
deren Verwirklichung, wenige Fanatiker ausgenommen, in Preußen kein Mensch
glaubt. Diese doppelte Tendenz (und dies ist in hohem Grade charakteristisch
für die preußischen Verhältnisse) muß in Preußen jeder Reaction beiwohnen.
Denn jede Reaction, mag sie der leidenschaftlichen Spannung, mag sie der Ab¬
spannung des öffentlichen Geistes ihre Entstehung verdanken, kann sich auf
die Dauer immer nur auf die feudale Partei 'stützen, worin eben der Grund
liegt, daß das conservative bürgerliche Element immer nur vorübergehend der
Reaction eine Stütze bieten wird.
Sehen wir nun etwas näher, worin die Erfolge des Ministeriums Man-
ieuffel aus dem Gebiete des Verwaltungsrechtes bestanden haben, womit zugleich
die Punkte bezeichnet sind, welche jede besonnene und bewußte Reformpolitik
Vorzugsweise ins Auge zu fassen hat.
Die Thätigkeit des büreaukratischen Abso'utismus richtete sich besonders auf
Zwei Punkte 1) das Urtheil über Maßregln der Verwaltung möglichst der
Cognition der Gerichte zu entziehen; 2) die Verwaltung der Kreise und Ge¬
meinden völlig von dem herrschenden Regierungssystem abhängig zu machen.
Was den ersteren Punkt betrifft, so ist co klar, daß ein den Anforderungen
des Rechtsstaats vollkommen entsprechender Zustand nur da besteht, wo der
Beamte wegen jeder Überschreitung seiner dienstlichen Befugnisse auf Antrag
des durch ihn in seinen Rechten Beeinträchtigten vor den Gerichten Rechenschaft
zu geben hat. Daß ein derartiger Zustand keineswegs ein bloßes Ideal ist,
beweist das Beispiel Englands, wo das Urtheil über die Legalität aller
Verwaltungsmaßregeln in letzter Instanz den Gerichten zufällt. Auch in
Preußen kennt das allgemeine Landrecht noch keine Schranken für die gerichtliche
Verfolgung solcher Amtshandlungen, durch die Einzelne sich verletzt glauben.
Bon 1808 beginnt die Gesetzgebung den Weg einzuschlagen, die gerichtliche
Verfolgung eines Beamten wegen gesetzwidriger in Ausübung seines Amtes
begangener Handlungen von. der Genehmigung der vorgesetzten Behörde ab¬
hängig zu machen. Zu einem vorläufigen Abschluß kam dieser Gegenstand durch
das Gesetz vom 29. März 1844, in welchem bestimmt wurde, „daß die gericht¬
liche Untersuchung wegen eines Dienstvergehens oder Amtsverbrechens
nur auf Antrag der vorgesetzten Dienstbehörde eingeleitet werden dürfe", und
ferner, „daß, wenn ein Beamter wegen im Amte verübter Ehrenkränkun¬
gen gerichtlich belangt werde, nach Beendigung der vorläufigen Ermittelungen
und vor Eröffnung der förmlichen Untersuchung die Dienstbehörde des Beamten
mit ihrer Erklärung gehört werden müsse, ob der Beamte sich in Beziehung
auf die ihm angeschuldigte Handlung einer Überschreitung der Amtsbesugnisse
schuldig gemacht habe". Der Artikel 9 der octroyirten Verfassungsurkunde
vom 3. December 1848 stellt als Norm auf, daß es keiner vorgängigen Ge¬
nehmigung der Behörden bedürfe, um öffentliche Civil- und Militärbeamten
wegen der durch Ueberschreitung ihrer Amtsbefugnisse verübten Rechtsverletzungen
(civil- und strafrechtliche Fälle werden nicht unterschieden)' zu verfolgen. Auch
die revidirte Verfassungsurkunde hielt in Preußen an dem Grundsatze fest, daß
es zur gerichtlichen Verfolgung der Beamten wegen der durch Überschreitung
ihrer Amtsbefugnisse verübten Rechtsverletzungen keiner vorgängigen Geneh¬
migung ihrer vorgesetzten Dienstbehörden bedürfen solle, behielt dagegen die
Frage, unter welchen Bedingungen eine solche gerichtliche Verfolgung statthaft
sein sollte, der Gesetzgebung vor*). Soll diese Clausel nicht mit dem zuerst
ausgesprochenen Grundsatze in geradem Widerspruche stehen, so konnte das
vorbehaltene Gesetz doch nur normative Bestimmungen für den Richter im
Auge haben, keineswegs aber konnte es ohne das Princip, auf dem der Artikel
beruht, völlig umzustoßen, dahin gerichtet sein, die Entscheidung über die
Competenz im vorliegenden Falle von den Richtern auf die Verwaltungsbehörden
zu übertragen. Das vielberufene Gesetz vom 13. Februar 18S4 erfüllte diese
Clausel in eigenthümlicher Weise. Allerdings hielt sich dies Gesetz soweit inner¬
halb der Grenzen der Verfassung, als es die Einleitung der gerichtlichen Pro¬
cedur gegen Beamte wegen Rechtsverletzungen, die in Ausübung des Amtes
begangen sind, nicht von der Genehmigung der vorgesetzten Behörde abhängig
machte. Indem es aber dieser gestattete, nach Einleitung der Untersuchung
den Competenzconflict zu erheben, und die Entscheidung über diese Vorfrage
nicht den ordentlichen Gerichten, sondern dem 1847 eingesetzten Gerichtshofe
für Competenzconflicte*) überließ, schloß es factisch die ordentlichen Gericht
Von jeder Beurtheilung der Rechtmäßigkeit amtlicher Handlungen aus. Off .
bar aber war es gerade die Tendenz des erwähnten Verfassungsparagraphen, den
Gerichten die alleinige Entscheidung in den einschlagenden Fällen zu überlassen
und die Beschreidung des Rechtsweges von den derselben entgegenstehenden
Hemmnissen zu befreien. Bedenkt man nun serner, daß der Competenzgerichts-
Hof keineswegs an feste, durch das Gesetz bestimmte Normen gebunden ist.
sondern nach seiner subjectiven Auffassung des concreten Falls, d. h. also doch
Wohl nicht blos nach Rechts- sondern auch nach Verwaltungsgrundsätzen zu
entscheiden hat, so sieht man leicht, daß für die erste Bedingung des Rechts-
staates — Gesetzlichkeit der Verwaltung — noch nicht die genügenden Bürg,
schaften gewonnen sind. Ein Versuch des Ministeriums Schwerin, den nor¬
malen und verfassungsmäßigen Zustand auf dem Wege der Gesetzgebung
herzustellen, scheiterte an dem Widerstande des Herrenhauses**).
Es ist unbestreitbar, daß die Verwaltung durch das Gesetz vom 13. Februar
18S4 eine Gewalt gewonnen hat, vermöge deren es in vielen Fällen von ihrem
guten Willen abhängt, ob sie die verfassungsmäßig gewährleisteten Rechte des
Einzelnen achten will oder nicht. Indessen ist diese Machtfülle nicht nur für
die Entwicklung verfassungsmäßiger Zustände bedenklich, sie birgt auch eine
sehr große Gefahr für die Verwaltung selbst. Sie macht nämlich in einem zu
hohen Grade die Spitzen der Regierung selbst persönlich für jede Ausschreitung
ihrer Organe verantwortlich. Sie versetzt die Staatsgewalt in jedem einzelnen
Falle einer Gesetzesüberschreitung von Seiten eines untergeordneten Beamten
in das peinliche Dilemma, durch Desavouirung dieses das Band, welches die
Veamtenhierarchie bis zu einem gewissen Grade umschlingt, zu lockern, oder
durch consequente Erhebung des Competenzconflictes das Odium wegen aller
Ausschreitungen von den Gliedern auf sich zu lenken. In den meisten Fällen
wird die Regierung, und nicht ohne eine gewisse Berechtigung, den letzten Weg
einschlagen. Denn einem Beamten, außer im Falle der handgreiflichsten Willkür
oder Ungesetzlichkeit einen Schutz zu versagen, den man nach der Lage der Ge¬
setzgebung gewähren kann, würde die Verwaltung sehr bedenklich schwächen.
Die Regierung wird also, mag sie liberal oder conservativ sein, stets das Be¬
streben haben, ihre Befugnisse zum Schutze der Beamten ^in ausgedehntesten
Maße auszuüben; sie wird, das ist eine, man kann sagen psychologische Noth¬
wendigkeit, wo sie keine andere Wahl bat, die Willkür der Schwäche vorziehen;
sie muß. um nicht der Anarchie zu verfallen, absolutistische Tendenzen verfolgen.
Die Folge davon ist, daß auch der geringste Conflict zwischen Verwaltung und
Privaten auf dem Wege der Petition vor das Forum der großen Staatskörper
gebracht wird, daß die Verantwortlichkeit der Minister auf eine Höhe gesteigert
wird, der auch die verdienteste Popularität auf die Dauer nicht gewachsen ist;
denn es müßte wunderbar zugehen, wenn im Fall die Kammer eine Beschwerde
für begründet erklärt, die öffentliche Meinung sich nicht für die Ansicht der
Volksvertretung und gegen die der Negierung aussprechen sollte. Die Kammer
aber, selbst für den Fall, daß das Ministerium aus den Reihen ihrer Majorität
hervorgegangen sein sollte, muß als eine aus dem Volke hervorgegangene
Macht ihr cvntrolirendes Censoramt mit Strenge verwalten. Nun braucht
man nur einen Blick auf die Fülle zum großen Theil durchaus begründeter
Beschwerden, die zu allen Zeiten, auch unter dem liberalen Ministerium, bei
den Häusern des Landtages eingelaufen sind, zu werfen, um zu begreifen,
daß unter den bestehenden Verwaltungsverhäitnissen, auch wenn sie in sehr
liberalem Sinne in Anwendung gebracht werden, selbst das festeste Band
zwischen Ministerium und einer nicht völlig in den stumpfsinnigsten fran¬
zösischen Gvuvernementalismus versunkenen Kammer in wenigen Jahren ge¬
lockert werden muß. So wird die Regierung in allen Fällen, und wir haben
hier eben den glücklichen Fall einer ursprünglichen Harmonie zwischen den
Factoren der Staatsgewalt ins Auge gefaßt, an dem Uebermaß ihrer Macht-
fülle kranken; die aus der gesteigerten Centralisation beruhende Energie wird
sich nicht in einer umfassenden schöpferischen Thätigkeit, sondern nur in fort¬
dauernden, aufreibenden und abnutzendem Kampfe wider eine meist unbesiegbare
Macht bewähren können; Ausschreitungen, wie sie zu jeder Zeit und unter allen
Verhältnissen vorkommen, werden in der öffentlichen Meinung zu einer ernsten
Krankheit des Staates gesteigert werden und bei dem beständigen Andrang aller
Säfte zu dem Haupte in der That unvermeidlich zu einer ernsten Krisis in dem
Zustand des Staatskörpers führen. Wie ist diesem Uebel abzuhelfen? Nur
dadurch, daß die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung ohne jede Zwischenstation
eines Competenzgcrichtshofes der Controle der ordentlichen Gerichte unterstellt
wird. Allerdings muß, um diese Maßregel zu einer alle Fälle der Amts-
Verletzungen betreffenden zu machen, auch das Anklagemonopol der Staats¬
anwaltschaft fortfallen; denn so lange dies besteht würde es in einer großen
Anzahl von Fällen der Amtsüberschreitung an einem legitimirten Kläger fehlen.
Der Einwand, daß die Aufhebung des Gesetzes vom 13. Februar 1854, sowie
die Aufhebung des Anklagemonopols der Staatsanwaltschaft die Ordnung und
Sicherheit der Verwaltung gefährden würde, ist unbegründet. Es beruht auf
der irrigen Voraussetzung, daß die beständige Furcht vor gerichtlicher Verant¬
wortung die Thatkraft und Selbständigkeit der Beamten lähmen würde.
Allerdings wird der Beamte die Legalität eines jeden Schrittes, den er zu thun
im Begriff ist, aufs Strengste prüfen müssen; dies ist aber eine unerläßliche
Forderung des Rechtsstaates, und es ist nicht abzusehen, wie eine Admini¬
stration, von der mit Recht gefordert werden kann, daß sie sich innerhalb der
Schranken der Gesetze halte, dadurch geschwächt werden soll, daß sie für jede
Überschreitung dieser Grenzen verantwortlich ist und wirklich zur Verantwortung
gezogen werden kann. Es läßt sich im Gegentheil behaupten, daß das Ver-
trauen zu den Beamten und damit ihr Einfluß bedeutend steigen wird, sobald
die Institutionen selbst eine sichere Garantie gegen Beamtenwillkür gewähren.
Die Schranke, welche wir für die Vollmacht der Beamten fordern, ist eine
ebenso heilsame, wie nothwendige; sie erlaubt innerhalb der Gesetze denselben
die freieste Bewegung, und dieselben Gesetze, die der Willkür den Zügel an¬
legen, gewähren dem Beamten, der, soweit es das Recht des Landes gestattet,
seine Befugnisse mit kräftigster Energie ausübt, eine sicherere und festere Stellung,
als sie der deckende Schutz seiner vorgesetzten Behörde zu gewähren vermag.
Natürlich ist, wie schon bemerkt, mit dieser Stellung das Anklagemonopol der Staats¬
anwaltschaft unvereinbar, welches überhaupt ein dem deutschen Rechtswesen durchaus
nicht entsprechendes Institut ist, über welches wir uns aber, da dieser Gegenstand
bereits von anderer Seite in d. Bl. eingehend behandelt ist, weiterer Be¬
merkungen enthalten. Uebrigens bemerken wir. daß, was wir in Bezug auf
den Fall einer von einem Beamten ausgeübten speciellen Rechtsverletzung er¬
örtert haben, im Allgemeinen auf jeden Conflict zwischen Gerichten und Ver¬
waltungsbehörden seine Anwendung findet. Denn es ist unzweifelhaft, daß
die einzige Garantie für die Gesetzlichkeit der Verwaltung in der uneingeschränkten
Berechtigung der Gerichte, über ihre Kompetenz zu entscheiden, gesunden werden
kann. Daß die völlige Beseitigung des Competenzconflicthofes nur auf dem
für Verfassungsveränderungen vorgeschriebenen Wege möglich ist, haben wir
schon bemerkt.
Nur auf diese Weise wird es möglich sein, dem Beamtentum die rühm-
lichen Eigenschaften, die zu verschiedenen Zeiten dasselbe zum Vorbild für
ganz Deutschand gemacht haben, zu erhalten und es vor der Gefahr zu be-
wahren, zum Werkzeug wechselnder Parteitendenzen herabzusinken; nur auf
diese Weise, nicht dadurch, daß oppositionelle politische Ueberzeugungen zu einem
Makel für das Beamtenthum gestempelt werden. Je beschränkter die Zahl der¬
jenigen hohen Beamten ist (von niederen Beamten sollte in dieser Beziehung
überhaupt gar nicht die Rede sein), die ihren eigentlichen Beruf in der Durch¬
führung der Principien eines bestimmten Regierungssystems haben, die dann
aber auch unbedingt bei einem Systemwechsel ihre Stellen aufzugeben haben:
desty besser ist es für die Verwaltung, für die Integrität des Beamtenthums.
für die politische Moralität in allen Kreisen des Staates, ein Grundsatz, der
vom konservativen Standpunkt aus dieselbe Beachtung wie vom liberalen
verdient.
Die unbedingte Einführung der richterlichen Instanz in die Verwaltung
reicht aus, um diese zu einer streng gesetzlichen zu machen; sie reicht nicht dazu
aus. um den einzelnen Bürger zu einem angemessenen und heilsamen Gebrauch
seiner politischen Rechte anzuleiten. Dies Ziel kann der Staat nur dadurch
erreichen, daß er den politischen Rechten der Einzelnen ein vollständig durchgeführtes
System administrativer Pflichten zur Grundlage giebt. Auch ist in der That
der preußische Staat in der großen Periode seiner Erhebung mit vollem Be¬
wußtsein in die Bahn des Selfgovernments eingelenkt, und die kleinlichen und eng¬
herzigen Gesichtspunkte her nach dem unvergleichlichen Aufschwünge folgenden
Ermattung hohen nicht vermocht, die Spuren des steinschen Geistes völlig
zu verwischen. Das Städtewesen, welche Mängel auch die städtischen Verfassungen
im Einzelnen haben mögen, ist und bleibt doch eine wahre Schule bürgerlicher
Tüchtigkeit und Selbständigkeit. Dagegen ist die Entwicklung der ländlichen
Gemeindeordnung und der Kreisverwaltung durchaus ins Stocken gerathen,
und Wo ein Ansatz zum Fortschritt gemacht ist, ist schnell der Rückschlag erfolgt.
Und es wird noch einer zähen und geduldigen Arbeit bedürfen, um auf diesem
Gebiet eine gründliche Reform der Verwaltung zum Durchbruch zu bringen.
Denn gerade in Gemeinde und Kreis und bis zu einem gewissen Grade auch,
i« der Provinz haben sich in einer für den preußischen Staat höchst merk¬
würdigen Weise mit den absolutistischen die vereinzelt schwachen, in Ver¬
bindung mit der Regierungsgewalt sehr starken feudalen Elemente alliirt: eine
Alliance, die wir schon im Eingange als charakteristisch für das Wesen der
preußischen Reaction bezeichnet haben. Die bedeutendste Frucht dieses in vielen
Beziehungen so widerspruchsvollen Bündnisses ist die Schöpfung des Herren¬
hauses, welches nicht sowohl auf den Namen einer aristokratischen, als viel¬
mehr einer feudal-absolutistischen (der Widerspruch im Ausdruck liegt durchaus
in der Sache) Körperschqft^Anspruch machen kann/
Das Ineinandergreifen des büreaukratischen und feudcilen Elements macht
sich vorzugsweise geltend in der Verwaltung der Gemeinden und Kreise, schwächer
in der der Provinzen, während die Regierungsbezirke aUsschießlichnachbüreaUkratisch-
administrativen Grundsätzen verwaltet werden. Wir können hier nicht erschöpfend
eingehen auf die Bedenken, die sich gegen den sehr complicirten Organismus
der preußischen Verwaltungsmaschine im Allgemeinen erheben lassen, und die
wiederholentlich den Wunsch erweckt haben, die Eintheilung in Provinzen und
das Institut der Oberpräsidenten ganz zu beseitigen. Einige Bemerkungen
seien indessen gestattet. Wenn für die Beibehaltung der Provinzen als ad¬
ministrativer Bezirke die historische Bedeutung derselben angeführt wird, so will
dies Argument nicht viel besagen, da die Provinzen zum Theil aus sehr ver-
schiedenartigen Elementen bestehen, die erst in neuerer Zeit zu administrativen
Körperschaften verschmolzen sind. Auch ist der Werth der historischen Zusammen-
geHörigkeit für die Einrichtung von Verwaltungsbezirken sehr zweifelhaft. Wo
Besonderheiten des Volkslebens kräftig genug sind, um sich unter dem nivelliren-
den Einfluß der Zusammengehörigkeit mit einem größeren Ganzen lebendig zu
erhalten, wäre es ein brutaler Despotismus, dieselben, wofern sie nicht die Einheit
des Staatcsbedrohen.vernichten zuwollen; dagegen Besonderheiten noch ausdrücklich
zu patronisuen, ist durchaus nicht Sache der Staatskunst, wenigstens nicht in Preußen,
welches gar keine Ursache hat, das Äiviäe etiillxvrazum Wahlspruch seinerinneren
Politik zu machen. — In der That ist die historisch -romantische Vertheidigung
der provinziellen Selbständigkeit nicht viel mehr als ein Aushängeschild für das
Bestreben, möglichst weiten Spielraum für die feudalständische Opposition gegen
die einheitlich-constitutionelle Entwickelung des Staats zu gewinnen. Nicht
also vom historischen, sondern vom rein administrativen Gesichtspunkte aus
wird die Frage nach der Zweckmäßigkeit des Instituts zu erwägen sein. Hier
ist nun zuzugeben, daß in einigen Provinzen gemeinschaftliche auf korporativer
Einigung beruhende Institute und Interessen bestehen. Indessen bestehen der¬
artige Jnteressenverbände auch in einzelnen Landestheilen, die in anderen Be-
Ziehungen keine, Einheit bilden, und es läßt sich im Allgemeinen nicht wohl
behaupten, daß eine Zusammengehörigkeit in gewissen Beziehungen die volle
administrative Einheit der Provinzen zur nothwendigen Voraussehung habe.
Was nun die Stellung des ersten Beamten der Provinz betrifft, so ist dieselbe
bei der Unmittelbarkeit der Beziehungen zwischen dem Ministerium und den
Regierungen eine ziemlich unbestimmte und schwer zu begrenzende. Er soll haupt¬
sächlich den Gang der Verwaltung beleben, für Uebereinstimmung in Ver-
waltungsgrundsätzen Sorge tragen (dies ist aber doch wohl Sache des Ministe-
nums). gewisse Angelegenheiten, z. B. die ständischen, unmittelbar verwalten
«- s- w. Es wird also bis zu einem gewissen Grade von der Persönlichkeit
des Oberpräsidenten abhängen, was er aus seiner Stellung machen will,
und es hat bekanntlich unter den Oberpräsidenten mehre gegeben, die eine
überaus segensreiche Thätigkeit in ihren Provinzen ausgeübt haben und sich
den glänzendsten Erscheinungen des altpreußischen Beamtenthums würdig an¬
reihen. Andrerseits aber liegt die Gefahr nahe, daß gerade die Unbestimmtheit
des Wirkungskreises zu dem Bestreben verleitet, den eigentlichen Beruf des
Amtes in der Leitung des öffentlichen Geistes der Provinz zu finden —
eine Thätigkeit, die dem Beamtenthum im constitutionellen Staate nur in
ganz besonderen Fällen zukommt, und die übrigens, wo sie, wie oft un¬
vermeidlich, in vexatorischer Weise geübt wird, in der Regel gerade das
Gegentheil von dem erzielt, was beabsichtigt wird. Die Leitung des öffentlichen
Geistes, soweit eine solche überhaupt in den Bereich der Negierungssphäre fällt,
ist Sache des Ministeriums durch Vermittelung der Kammern. Eine directe Ein¬
wirkung durch das Beamtenthum ist der Regierung meist schädlich, unschädlich
nur in Zeiten der Abspannung, wo sie völlig unnöthig und überflüssig ist.
Indessen ist zuzugeben, daß alle diese Bedenken noch nicht ausreichend sind,
um die Frage kategorisch zu entscheiden, ob eine Aufhebung der Provinzial-
centralisation und folglich die Abschaffung der Oberpräsidentenstellen zweckmä¬
ßig sei oder nicht: die Frage wird vielmehr zu ihrer völligen Erledigung noch der
sorgfältigsten und allseitigsten Prüfung vom Zweckmäßigkeitsstandpunkt aus, der
hier allein maßgebend ist, bedürfen. Was dagegen die Provinzialstände betrifft,
so ist es unter allen Umständen bedenklich, Körperschaften mit überaus geringen
verfassungsmäßigen Befugnissen (das Gutachten, welches sie über Gesetze von
rein provinzieller Bedeutung abzugeben haben, ist weder für die Regierung
noch für den Landtag irgendwie maßgebend) und sehr hohen Ansprüchen fort¬
bestehen zu lassen. Sie haben jede positive Bedeutung verloren, seit der Versuch,
aus ihnen eine reichsständische Versammlung hervorgehen zu lassen, nach einem
hoffnungsvollen und vielversprechenden Anfange infolge der Stürme des Jahres
1848 gescheitert ist; mit Einführung der gegenwärtig bestehenden Verfassung ist
ihnen die Wurzel abgeschnitten, da es unmöglich ist, sie in den Verfassungs¬
staat organisch einzufügen. Sie sind in dem gegenwärtigen Staate ein fremder
Bestandtheil, dessen völlige verfassungsmäßige Beseitigung, welcher durchaus
kein Rechtsgrund, ja nicht einmal die Rücksicht auf den wahren Vortheil der
Provinzen entgegensteht, vom Staatsinteresse geboten ist.
Man hört zuweilen den Wunsch aussprechen nach Umbildung der Pro¬
vinzialstände zu einer wirklichen Provinzialpräsentation, durch Einführung
eines freien Wahlgesetzes. Auch hiergegen müssen wir uns nachdrücklich erklären.
Wir wollen überhaupt keine Provinzialrepräsentation, da eine solche entweder
Völlig bedeutungslos bleiben würde, oder, wenn sie eine gewisse Bedeutung
erlangte, nur dazu dienen könnte, den geordneten und einheitlichen Gang der
Landesgesetzgebung und allgemeinen Verwaltung zu durchkreuzen und zu lahmen.
Beides aber wäre vom Uebel. Der ganze Wunsch nach Umgestaltung der
Provinzialverfassung im liberalen Sinne beruht auf einer in zwiefacher Hinsicht
mißverständlichen Ausfassung des Selfgovernments. indem man das Wesen
desselben erstens in einer ausgedehnten legislativen Befugniß aller möglichen
Körperschaften sieht, und ferner verkennt, daß die Wirksamkeit desselben, die
wesentlich administrativ und nur in sehr beschränktem Maße legislativ ist, sich
ganz innerhalb des Bereiches nachbarlicher Beziehungen zu bewegen hat. Der
Sitz des Selfgovernments sind die Gemeinden und die (landräthlichen) Kreise,
deren Umfang gerade den an dasselbe zu stellenden Anforderungen entsprechen
möchte. Von der Verbesserung der Gemeinde- und Kreisverwaltung hat jede
Reform in Preußen auszugehn, und es ist wohl kein Zweifel, daß, sobald die
Zeit der Reformen zurückgekehrt sein wird, auf diesem Gebiete eine, wir sagen
nicht rasche, aber durchgreifende Umgestaltung der Verhältnisse bevorsteht. In
welchem Sinne wir diese Umgestaltung verstehen, haben wir wiederholt in
d. Bl. ausgesprochen; hier begnügen wir uns, nach Rönne eine Ueber¬
sicht der Entwicklung des Kreiswesens und der Kreisgesetzgebung, vornehmlich
seit der großen Reformperiode, zu geben, die insofern von besonderem Interesse
ist, weil sich in ihr die Einwirkung der feudalen Reaction aus den Gang der
Preußischen Geschichte am klarsten darstellt.
Den Schwerpunkt der Kreisverwaltung bildet das Landrathsamt. welches
trotz mancher Verbildungen eines der werthvollsten Elemente des preußischen
Beamtenthums ist. In dieser Schätzung darf uns nicht irre machen, daß
die Landräthe gegenwärtig im Allgemeinen, und zwar nicht ohne Grund, als
Organe der reaktionären Bestrebungen gelten. Eine Veränderung in dem Mo¬
dus der Ernennung würde es einer liberalen Negierung. der es vergönnt wäre,
ihre Principien durch eine längere Reihe von Jahren zur Geltung zu bringen,
möglich machen, das Amt nach und nach völlig dem Bereiche der Parteitendenzen
zu entziehen. Das Amt ist ursprünglich ein ständisches. Die Landräthe waren
die von den Kreisständen et. h. den landtagsfähigen Gutsbesitzern) in der Mark
Brandenburg zur Erhebung der bewilligten Steuern und zur Besorgung der
ständischen Geschäfte aus ihrer Mitte gewählten Kreisverordneten, die zugleich
vom Landesherrn benutzt wurden, um ihre Forderungen an die Stände zu
bringen. Allmälig verwischte sich der ständische Charakter dieser Beamten; sie
wurden ganz zu Beamten des Landesherrn und bereits im Jahre 1723 der Kriegs¬
und Dvmänenkammer (etwa den späteren Regierungen vergleichbar) untergeordnet.
Eine Instruction von 1776 macht sie zu Organen der Gesammtverwaltung
der Kreise: sie haben sich über alle Verhältnisse des Kreises die genaueste Aus.
kunst zu verschaffen, statistische Tabellen anzulegen, neue ökonomische Systeme
und Verbesserungen einzuführen, Sümpfe und Sandflächen zur Cultur zu
bringen, kurz nach jeder Richtung hin für die Steigerung der Landeswohlfahrt in
Friedrichs umfassenden, nach allen Richtungen hin wirkenden Sinne zu sorgen.
Die Ernennung erfolgt auf ständische Präsentation durch königliche Bestätigung
(gegen das frühere Verhältniß ein Fortschritt). Zugleich wurde das Institut,
das sich gut bewährte, auch über fast alle übrigen Theile der Monarchie aus¬
gedehnt. Die Reformgesetzgebung traf mit den Kreisverfassungen auf das In¬
stitut der Landräthe, doch kam das Gensdarmerieedict vom 30. Juli 1812,
durch welches bestimmt wurde, daß an Stelle der Landräthe vom Könige er¬
nannte Kreisdirectoren treten sollten, nur in wenigen Punkten zur Ausführung.
1816 wurden die Landräthe als Regierungsorgan wiederhergestellt. Indessen
wurde die Reaction gegen Hardenberg immer heftiger und erlangte allmälig
bedeutende Concessionen, so auch die Wiederherstellung der Kreisstände, jedoch
mit der Modification, daß zu den Rittergutsbesitzern auch eine, verhältnißmäßig
allerdings sehr geringe Anzahl von Abgeordneten der Städte und Landgemeinden
treten sollte. Die Ausführung der Beschlüsse der Kreistage steht dem Landrath
zu, für dessen Ernennung das alte Präsentationsverfahren, soweit solches früher
bestanden hatte (d. h. im Allgemeinen in den alten Provinzen) wiederhergestellt
wurde. Die Verfassung von 1860 behielt in Artikel 105 besondere Gesetze über
die Verwaltung der Kreise vor, und stellte nur als Grundsatz für dieselbe auf,
daß Versammlungen von gewählten Vertretern über die inneren Angelegenheiten
der Kreise zu beschließen hätten, und daß die Ausführung der Beschlüsse vom
Könige ernannten Vorstehern der Kreise zustehen solle. Dieser Artikel, sowie
das zur Ausführung desselben bestimmte Gesetz vom 11. März 1850 wurde
durch das Gesetz vom 24. Mai 1853 aufgehoben; die frühern Kreisordnungen
wurden wiederhergestellt und bald darauf auch das Präsentationsrecht der Stände
bei Ernennung des Landraths, wie es vor 1848 bestanden hatte, d.. h. also
in den alten Provinzen unter alleiniger Betheiligung der Rittergutsbesitzer,
während in denjenigen Landestheilen, in denen vor der Besitzergreifung daS
Institut der Landräthe nicht bestanden hatte, die Präsentation von den ge-
sammten Kreisversammlungen ausgeht. Daß selbst in diesem letztern Falle das
Uebergewicht der größeren Grundbesitzer unverhältnißmäßig groß ist, ergiebt sich
aus der einen Thatsache, daß unter den 11,954 Mitgliedern der Kreisstände sich
neben etwa 10,000 Rittergutsbesitzern nur 979 Abgeordnete der Städte und 976
der Landgemeinden befinden"). Spätere Versuche, die Abnormität durch Einführung
des königlichen Ernennungsrechts zu beseitigen, sind bis jetzt gescheitert. Offenbar
qberist die königliche Ernennung (natürlich mit der Maßgabe, daß grundsätzlich eine
der im Kreise angesessenen Notabilitäten mit dem Amte betraut werde) unbe¬
dingt nothwendig, um die Landräthe wieder ausschließlich zu dem zu machen,
was sie sein sollen, zu den Vertrauten und Leitern der allgemeinen Kreis¬
interessen, während sie gegenwärtig nothwendig die Neigung haben müssen,
sich als die berufenen Vertreter der Interessen ihrer Committenten (wenn
man den Ausdruck hier gebrauchen darf) anzusehn. Demgemäß kann eine
Regierung, die sich auf die feudale Partei stützt, sicher darauf rechnen, in
ihnen eifrige und energische Organe zu besitzen, während eine liberale Ne¬
gierung vielfach nur auf widerwilligen Gehorsam wird rechnen können.
Nun wird aber eine liberale Regierung von ihrer Befugniß, feindlich gesinnte
Landräthe zur Disposition zu stellen, ungern und nur im äußersten Falle
Gebrauch machen, in der richtigen Erwägung, daß es zu einer völligen Desorga¬
nisation der Localverwaltung und zu einer bodenlosen Depravation einer der
einflußreichsten Beamtenclasse führen würde, wenn jeder Wechsel des Negierungs-
shstems auch einen durchgreifenden Personenwechsel im Landrathsamte nach
sich ziehen sollte. Eine liberale Regierung wird sich also damit begnügen,
müssen, die Landräthe möglichst auf ihre administrative Thätigkeit zu beschränken,
sie wird aber nicht fordern, ja sie würde es nicht einmal gestatten dürfen,
daß von Seiten der Landräthe ein amtlicher Druck auf die öffentliche Meinung
in liberalem Sinne ausgeübt wird. In diesem Verhältniß — und da» wird
Wohl völlig verkannt oder wenigstens übersehen — liegt in Preußen ein unbe-
rechenbarer Vortheil für eine conservative Regierung, die sicher ist, nach jeder
Niederlage, sobald sie wieder ans Ruder glangt. gerade an der einflußreichsten
Stelle der Verwaltung eifrige Werkzeuge wieder zu finden. Eine Aenderung
kann an diesem, wie an vielen andern Punkten nur von einer liberalen Re¬
gierung durchgesetzt werden, welche Zeit hat. ein umfassendes, nach einem Plane
angelegtes Resormsystem in allen seinen Consequenzen ins Leben zu führen.
Auch auf dem Gebiete des Gemeindewcsens, das mit der Kreisverwaltung
im engsten, wesentlichsten Zusammenhange steht, hat die Reaction der fünfziger
Jahre ihren Triumph gefeiert, der mehr als alles andere dazu beigetragen hat,
den Grundadel in seiner unrichtigen und verkehrten Stellung festzuhalten: wir
meinen die theilweise Wiederherstellung der gutsherrlichen Amtsgewalt. Zwar
die Patrimonialgerichtsbarkeit ist. dank der raschen und energischen Reorgani¬
sation des Gerichtswesens") aufgehoben geblieben; die Polizeiverwaltung ist den
Rittergutsbesitzern wiedergegeben worden. Die Versuche, die in den Jahren
von 1863 bis 1856 von der liberalen Partei des Abgeordnetenhauses, im
Jahre 1862 von dem liberalen Ministerium gemacht sind, in durchaus ge¬
mäßigtem und rücksichtsvollen Sinne die ländliche Polizeiverwaltung durch Ein¬
führung des Ehrenamtes der Amtshauptleute umzugestalten^, sind bis jetzt er¬
folglos geblieben. Auch scheint es zweifelhaft, ob diese Frage jetzt noch Aus¬
sicht hat. in der schonenden und besonnenen Weise gelöst zu werden, wie es
damals beabsichtigt wurde. Wenigstens ist die Annahme gerechtfertigt, daß, je
länger die Wiederkehr einer von der Regierung ausgehenden reformatorischen
Thätigkeit sich verzögert, um so höher die Ansprüche und die Kräfte des radical-
demokratischen Elementes sich steigern werden.
Wir haben aus dem großen Systeme nur wenige Punkte hervorgehoben,
und zwar gerade diejenigen, an denen es am dringendsten der Reform be¬
darf, wenn das ganze Gebäude auch unter den völlig veränderten staatsrecht¬
lichen Verhälnissen in ungeschwächter Kraft erhalten werden soll. Eine Uebersicht
des gesammten, verwickelten, dabei aber doch im Ganzen wohlgeordneten,
straffen, der kräftigsten Anspannung fähigen, deshalb aber auch der Gefahr
der Ueberspannung und des Strebens nach büreaukratischer Bevormun¬
dung ausgesetzten Systems zu geben, verbot sich von selbst durch die Aus¬
dehnung, die eine solche Darstellung nothwendig gefordert haben müßte; wir
müssen dem Leser, der einen Einblick in die öffentlichen Verhältnisse des preußischen
Staats gewinnen will, auf das in jeder Beziehung ausgezeichnete Werk sebst
verweisen. Denn ein Verwaltungssystem kann nur in detailirter Darstellung,
die nicht nur das gegenwärtig bestehende System beleuchtet, sondern auch, wie
es in dem Werke mit musterhafter Präcision und Klarheit geschehen ist, überall
die geschichtliche Entwickelung der einzelnen Institutionen giebt, mit Erfolg
studirt und aufgefaßt werden.
Mit Ur. SV beginnt^ diese Zeitschrift ein neues Quartal,
welches durch alle Buchhandlungen und Postämter zu be¬
ziehen ist.
Leipzig, im Juni 1863.Die Verlagshandlung.
Der gesammte skandinavische Norden wird gegenwärtig von Verfassungs¬
kämpfen in Athem gehalten.
In den größten und dringendsten konstitutionellen Schwierigkeiten befindet
sich Dänemark, von dessen zwei Verfassungen, der dem Königreich allein an»
gehörigen vom S. Juni 1849 und der das Königreich und Schleswig um>
fassenden vom 18. November 1863, die letztere seit dem vorjährigen Kriege
ihren Gegenstand verloren hat, nämlich die Einverleibung Schleswigs. Die
Gegner dieses eiderdänischen Grundgesetzes nahmen anfänglich an, mit dem
materiellen Sinne habe dasselbe zugleich seine formelle Kraft verloren.
Aber selbst das Ministerium Bluhme-David, obgleich im bewußten Gegensatz
zu den Eiderdänen entstanden, mochte sich dieser Meinung nicht anschließen.
So begannen denn die Verhandlungen über die Außerkraftsetzung der Verfassung
von 1863 und die mehr oder weniger vollständige Wiederherstellung der Ver¬
fassung von 1849. Der letzte Winter ging damit hin, daß zwischen der Ne¬
gierung und den beiden Thingen des Neichsraths. d. h. der Dänemark und
Schleswig gemeinsamen Institution der Novemberverfassung, noch eine Ver¬
ständigung gesucht wurde, deren Ergebniß dann noch der Zustimmung des aus¬
schließlich dänischen Reichstages bedurft hätte. Zu einer solchen Verständigung
indessen kam es nicht. Die im Reichsraths-Folkething herrschende Partei der
Bauernfreunde warf ihr zwei Steine in den Weg, über welche alles Entgegen¬
kommen der Regierung und des Landsthing stolperte. Sie behauptete erstens,
daß die Regierung zunächst an den Reichstag hätte gehen müssen, als die nun¬
mehr hauptsächlich oder allein noch berechtigte Landesvertretung; und zweitens
wollte sie von der Juniverfassung, die den breiten demokratischen Stempel des
Jahres 1849 trägt, wenig oder nichts preisgeben, sie vielmehr am liebsten
einfach wieder in Kraft treten sehen, namentlich aber nicht einer gemäßigt-
conservativen Umgestaltung des in dieser Verfassung enthaltenen Landsthing
zustimmen, wie Regierung und Neichsraths-Landsthing sie wünschten. Das
Landsthing der Junivcrfassung ist wenig mehr als eine zweite Auflage des
Folkething. und gleich diesem in beständiger Gefahr, der Beherrschung durch
die demokratische Bauernpartei zu verfallen.
In dem Gegensatz zwischen dieser und der in den Städten, insbesondere
in Kopenhagen wurzelnden national-liberalen Partei bewegt sich jetzt überhaupt
das innere politische Leben Dänemarks. Die letztere hat dabei zur Bundesgenossin
die Regierung, welche je länger desto mehr die Nothwendigkeit begriffen hat,
im Wesentlichen dieselben Wege wie alle ihre mehr oder weniger eiderdänischen
Vorgängerinnen zu wandeln, — die erstere hingegen die conservative oder
reactionäre Partei, welche gemeinschaftlicher Haß gegen die im Staate und in
der Presse herrschenden Eiderdänen mit ihr verbindet. Aristokraten und Demo¬
kraten kämpfen also miteinander gegen die liberale Nationalpartei. Sie be-
streiten ihr vor allem eine solche Zusammensetzung des zukünftigen Landsthing,
welche dasselbe zu einem Sammelplatz der Vertrauensmänner und Führer der
gebildeten Classen, mithin zu einem sichern Besitz der Nationalpartei und im
Nothfall zu einem Gegengewicht gegen ein bauernfreundliches Folkething machen
würde. Bevor diese Frage der Neugestaltung des verkürzte» Staates in den
Vordergrund trat, standen die Gegner von rechts her voran im Kampf wider
die Eiderdänen. Es bildete sich vor bald einem Jahre der sogenannte August¬
verein, der nach Art des neupreußischen Volksvercins in Berlin die „Stärkung
des Königthums" auf seine Fahne schrieb, d. h. die Erweiterung des Einflusses
von Hof und Adel. Aber der Augustverein machte schlechte Geschäfte. Sobald
die ersten Wirkungen der militärisch-diplomatischen Niederlage des Staates
halbwegs überwunden waren, zeigte sich, daß die Bevölkerung nicht gesonnen
war, die Schuld für die mit ihrer Billigung geführte auswärtige Politik von
1851 — 63 auf deren unmittelbare Träger oder Vertheidiger abzuwälzen, und
daß reactionäre Tendenzen vollends in ihr keinen Boden finden. Die Conser-
vativen zogen sich daher vom Schauplatz der öffentlichen Wirksamkeit größten-
theils wieder zurück, zumal seitdem ihr Freund, der Justizminister Heitzen aus
dem Cabinet hatte weichen müssen, und begnügten sich, den Bauernsreunden
bei deren nun erfolgender Erhebung gegen die liberale Partei in die Hände zu
arbeiten. Als die Regierung das Folkething des Reichsraths auflöste, nachdem
dasselbe jeden Versuch der Verständigung mit ihr und dem Landsthing abgelehnt
hatte, schlugen sich ihre früheren aristokratisch - reaktionären Anhänger auf die
Seite der Demokratie. Edelleute und Bauern gemeinsam standen gegen Kopen¬
hagens traditionelle politische Führung auf. Indessen, wie die Wahlen vom
30. Mai ergeben, ist an eine Abschüttlung des naturgemäßen Uebergewichts
einer Hauptstadt, welche fast ein Zehntel der gesammten Bevölkerung des Lan¬
des in sich faßt und die einzige größere Stadt desselben ist, noch weniger zu
denken als zu der Zeit, da Schleswig und Holstein noch unter demselben
Scepter lebten. Die Neuwahlen haben auf keinen Fall eine Verstärkung der
Koalition mit sich gebracht; vielmehr, wenn die eiderdänischen Organe recht
rechnen, eine kleine Mehrheit zu Gunsten des zuvor verworfenen Regierungs-
vorschlages über die Zusammensetzung des künftigen Landsthing.
Wenn der Reichsrath übrigens mit der Regierung über den neuen Reichs¬
tag einig geworden ist, der ihn und den jetzigen Reichstag zugleich ablösen
soll, dann beginnt erst die wahre Schwierigkeit der Aufgabe, Die Angelegen¬
heit gelangt alsdann vor den bestehenden Reichstag, in dessen Folkething die
Bauernfreunde herrschen und dessen Landsthing ebenfalls keine sichere Stütze
für die Absichten der Regierung bietet. Verfassungsmäßig muß der Reichstag
dreimal abstimmen, die beiden letzten Male nach erfolgter Auflösung und Neu¬
wahl. Wie leicht kann die Vereinbarung der Regierung mit dem Reichsrath
da hängen bleiben! Und sowie der Reichstag an derselben die geringste Ab¬
änderung vornimmt, muß die Sache an den Reichsrath zurückgehen, damit
auch dieser "zu seinem Rechte komme. Genug, das Ende ist noch vollkommen
unabsehbar. Fädrelandet, das Hauptorgan der Nationalpartei, hat es der Re¬
gierung hinterdrein zum Vorwurf gemacht, daß sie mit dem Reichsraths-Folkething
nicht auch gleichzeitig das Folkething des Reichstags ausgelöst habe; die Neu¬
wahlen wären dann voraussichtlich durchweg auf die nämlichen Männer gefallen,
und man hatte beide Versammlungen auf gleiche Weise zufriedenstellen können.
Wie es sich aber damit auch verhalten mag, es ist handgreiflich, daß die Wirren
auch in diesem Falle keineswegs völlig beigelegt oder abgeschnitten gewesen
wären.
Für uns sind indessen diese Verfassungskämpfe selbstverständlich weit weniger
an sich von Belang, als insofern sie auf Dänemarks Haltung nach außen hin
früher oder später übergreifen mögen. Eine bestimmte Aussicht thut sich in
dieser Richtung noch nicht auf. Allein so viel scheint klar zu sein, daß der tiefe
innere Gegensatz zwischen Kopenhagen, dem lebensvollen, bewegten Mittelpunkt
des Staates, und der Landbevölkerung, namentlich Jütlands, sich in Zukunft
auch nach außen hin mehr als bisher bemerklich machen wird. Die Bauern¬
freunde unter S. A. Hansens Führung gehen jetzt Hand in Hand mit dem
was die dänischen Patrioten Hjemmetydskeriet nennen, das „dänische Deutsch-
thum" oder die .Deutschen in Dänemark", ähnlich wie der verstorbene L. Seeger
auf dem frankfurter Abgeordnetentage kurz vor Weihnachten 1863 von den
„Dänen in Deutschland" sprach. Was aber in Frankfurt nicht viel mehr als
eine tropische Wendung, eine drastische Uebertreibung war, das hat in Kopen¬
hagen seine sehr reale Bedeutung; und wir Deutschen haben keinen Grund, in den
dänischen „Hausdeutschen" Bundesgenossen im Feindeslager, gleichsam vorgeschobene
Posten des Germanismus zu verehren. Es sind das vielmehr die dänischen Gegen¬
stücke zu dem. was bis vor Kurzem unsere Scheel-Plessens und Blomes waren
— Männer und Familien, welche aus Privatrücksichten an dem dänisch-deutschen
Mischstaat hingen, der angeblich im europäischen, in Wahrheit lediglich im
russischen Interesse so lange conservirt worden ist, als es irgend gehen wollte,
und den nun die gemeinschaftliche, wenn auch über die Theilung streitende
Arbeit des deutschen und des dänischen Nationalgeistes für alle Zeit zerrissen
hat. Wenn die Bauernfreunde sich den Beistand dieser Fraction oder Partei
in inneren Angelegenheiten gefallen lassen, so wird die Voraussetzung sein, daß
sie ihrerseits den Dienst bei Veranlassungen der auswärtigen Politik wett
machen. Ihre Haltung entspräche dann derjenigen gewisser kleiner schleswig¬
holsteinischer Kreise vor der neuesten Krise, die es kaum über sich gewinnen
konnten, nicht auf Kosten ihrer Nationalität an Dänemarks Freiheit und Gelas-
sen theilzunehmen. Und kann man sagen, dergleichen sehe einer vorzugsweise
aus Landleuten gebildeten Partei nicht ähnlich? Wir kennen ja verwandte Er¬
scheinungen auch im nördlichen Deutschland. Eine Bauernpartei ist niemals
geneigt, sich für die Unternehmungen der auswärtigen Politik zu begeistern;
ihr Blick haftet auf dem Allernächsten, sie ist conservativ im Particularismus,
zäh in Opfern und Leistungen für die großen Aufgaben des Staats. Es scheint
also durchaus nicht undenkbar, daß die bisher zu bemerkende Lauheit der dä¬
nischen Demokratie gegen den Skandinavismus — als das heutige nationale
Programm in Dänemark wie im ganzen Norden — demnächst in entschiedenen
und bewußten Widerstand umschlage. Nur desto eifriger freilich werden dann
die patriotischen Politiker, die Hall und Monrad, Clausen und Orla Lehmann,
Ploug und Bille, auf die Verwirklichung der skandinavischen Idee hinarbeiten,
die unter solchen Umständen neben ihrem eigentlichen Sinne und Werthe allein
auch geeignet wäre, den Staat Dänemark vor der faulen Stockung zu behüten,
in welche ihn jetzt der mit nahezu gleichen Kräften geführte Kampf zwischen
Kopenhagen und der Landbevölkerung zu versetzen droht.
Dem Triebe nach einer nordischen Union, der in diesen inneren Verhält¬
nissen Dänemarks liegt, entspricht ein gleicher Trieb in Schweden und Nor¬
wegen. Und auch dort entspringt er hauptsächlich aus Verfassungsstreitigkciten.
Die Reform der schwedischen Reichsvertretung freilich, die noch immer in Curien
der vier alten Stände besteht, scheint eher die Tendenz zu haben, das politisch
sehr aufgeweckte schwedische Volk von seinem Drange zur Bethätigung nach
außen hin abzulenken. Allein eben deswegen wetteifern jetzt König und Volk,
sie zu schleunigen Abschluß zu bringen. Die Regierung hat im vorigen Jahre
einen wohlbemessenen Reformvorschlag gemacht, den die Fortschrittspartei —
d. h. die liberale Mehrheit des Volkes und aller einzelnen Stände — zu ihrem
Feldgeschrei erkoren hat und nun auf zahllosen Versammlungen zur Gemein¬
forderung der Massen zu machen strebt. Im kommenden Herbste wird dann
der Reichstag zu der entscheidenden Sitzung zusammentreten und. wenn alles
nach Wunsche geht, einem zeitgemäßen Nachfolger Platz machen.
Neben dieser blos schwedischen Verfassungsfrage ist jedoch eine andere im
Gange, welche Schweden und Norwegen zugleich betrifft. Schon lange ist auf
beiden Seiten des Kjöien eine starke Empfindung von der Unzulänglichkeit der
bestehenden Union verbreitet. Die Schweden wünschen das Band vor allen
Dingen fester gezogen, damit sie gegen auswärtige Gefahren, dergleichen sie
namentlich von Rußland ohne Unterlaß besorgen. der Hilfe Norwegens sicher
seien. Den Norwegern kommt es vorzüglich darauf an, daß ihre Gleichberechtigung
mit den Schweden als Volk und Staat gewahrt werde. Sie erachten sich be¬
schwert durch Bestimmungen wie die. daß auch ein Schwede Statthalter von
Norwegen sein könne, wenn es dem König gefalle ihn dazu auszuersehen. Diese
Bestimmung glaubte man in Christiania durch einfachen Storthingsbeschluß ab¬
ändern zu können, den der König als König von Norwegen sanctionire. oder,
falls er sein (bekanntlich blos suspcnsives) Veto dagegen einlegen wollte, durch
Wiederholten Beschluß; wogegen in Stockholm behauptet wird, dieselbe mache
einen Bestandtheil des Unionsvertrags aus, und ihre Abänderung bedürfe daher
der Zustimmung des schwedischen Ministeriums und Reichsraths. Die Streit¬
frage hat. ohne zum Austrag zu gelangen, auf beiden Seiten die Leidenschaften
gewaltig erhitzt und zahlreiche juristische oder historisch-politische Erörterungen
hervorgerufen. Dasselbe war der Fall, als Graf Anckarsvärd 18S9 in der
schwedischen Rittercurie eine innigere Verbindung beider Reiche in Anregung
brachte. Die Norweger nahmen dagegen zunächst eine entschieden ablehnende
Und feindselige Haltung ein.
Diese Haltung kann nicht überraschen, wenn man sich die verschiedene Lage
beider Völker vergegenwärtigt. Die Norweger werden durch ihre beiden stamm¬
verwandten Nachbarnationen geographisch und politisch von aller Berührung
mit der großen Welt ferngehalten. Selbst von den Schweden trennt sie ein
schwer zu überschreitendes unwirthliches Gebirge, von den Dänen die gefahr¬
volle See des Kattegat. An den Ocean,, der ikre steilabfallenden Küsten bespült,
stoßen sie ebenfalls erst da, wo es mit seiner Bedeutung als Welthandelsstraße
ein Ende hat. Keinerlei Durchfuhrverkehr berührt das Land, und selbst Ver-
gnügungs- oder Gclehrsamleitsreiscnde suchen es seiner Entlegenheit halber bei
Weitem seltner auf. als es vielleicht verdiente. In einem solchen Lande findet
das Interesse an den Welthändeln keinen natürlichen Boden. Dasselbe mußte
sich vollends abstumpfen infolge der langen Verbindung mit Dänemark,
dessen auswärtige Politik seit dem dreißigjährigen Kriege bis auf die letzten
Jahrzehnte herunter darin bestanden hat, sich jede Verwicklung in die europäischen
Händel nach Kräften vom Leibe zu halten. Ganz anders aber die Schweden.
Nächst den Franzosen giebt es kein Volk in Europa, das sich in solchem Maße
berufen glaubte eine Wcltrolle zu spielen, Cultur nach außen zu tragen, wie
das schwedische. Sein heroisches Zeitalter, das Zeitalter Gustav Adolfs und
Karls des Zwölften, liegt nicht wie bei den Dänen so weit zurück, daß die
Erinnerung mit ihrem Stachel nicht noch immer lebendig nachwirken sollte.
Der Verlust Finnlands ist bald sechzig Jahre alt, aber in Schweden wird er
empfunden, als hätte man ihn gestern erlitten. Der König, die Prinzen, Adel
und Volk träumen gleichmäßig von einer stolzen kriegerischen Zukunft; und
wenn sie die Unionsbande mit Norwegen straffer anzuziehen wünschen,, so ist
es weit weniger wegen der Gefahren, welchen sie unvermeidlich ausgesetzt
zu sein, als wegen derjenigen, welche sie im rechten Augenblick freiwillig her¬
aufzubeschwören denke». Aber eben das, den Ehrgeiz des schwedischen Volks
und seiner Führer, fürchtet der Norweger, dessen einzige politische Ideale die
des demokratischen Liberalismus sind, Freiheit und Gleichheit.
König Karl der Fünfzehnte, dem die Seele schwillt von mächtigen politischen
Entwürfen, hat bisher mit großer Klugheit vermieden, sich in dem Streite
über die Unionsreform entweder auf die schwedische oder auf die norwegische
Seite zu stellen. Er ließ in der Staatsrathssitzung von 9. April 1861 den
schwedischen Justizminister de Geer insofern die Initiative ergreifen, daß ein
Unionscomit6 von sechs Schweden und sechs Norwegern zur Vorberathung der
Sache in Vorschlag gebracht und einige Hauptpunkte für dessen Verhandlungen
bezeichnet wurden; aber als die norwegische Regierung in Christian!« dieses
Anerbieten von schwedischer Seite nicht als einen annehmbaren Ausgangspunkt
weiterer Unterhandlungen ansehen wollte, überhaupt anrieth die Sache ruhen
zu lassen, da begnügte der König sich, die Aciensiücke zu veröffentlichen, und
vertagte die Reform auf eine gelegnere Zeit. Dabei versäumte er nicht, während
er den Drang der Schweden nach einem strafferen Bande mehr als theilte, die
Norweger durch ausdrückliche Anerkennung ihrer Gleichberechtigung über seine
ferneren Plane im voraus zu beruhigen.
Die gelegenere Zeit ist nun aber in König Karls Augen erschienen. Der
deutsch-dänische Krieg des vorigen Jahres hat für ihn das Gute gehabt, die
Bevölkerung Norwegens in lebhafter, 1848—50 lange nicht so wahrgenommener
Sympathie für das kriegführende Brudervolk zu erwärmen und folglich mittel¬
bar zugleich für eine Verbesserung der schwedisch-norwegischen Bundesverfassung.
Denn nur wenn die gemeinsame Regierung sich nicht durch die Abhängigkeit von
zwei vielleicht sehr verschieden gesinnten Volksvertretungen gehemmt fühlt, wenn
ihr für eine leidlich populäre Politik die Kraft beider Reiche gleichmäßig zur
Verfügung steht, kann sie sich in Zukunft einmal des bedrängten Bruderstammcs
wirksam annehmen. Zu dieser naheliegenden, obwohl an sich schwerlich sehr
angenehmen Betrachtung gesellt sich für die Norweger eine zweite, die sie der
Unionsreform jetzt geneigter stimmen kann. Was sie dabei hauptsächlich fürchten
und in der That stets zu fürchten haben, ist Schwedens materielles und factisches
Uebergewicht, Die formale Gleichberechtigung kann die Thatsache nicht beseitigen,
daß Schweden zwei bis dreimal so viel Einwohner bat als Norwegen. Sollen
vier Millionen in der Leitung der gemeinschaftlichen Angelegenheiten kein größeres
Gewicht in die Wagschage werfen als anderthalb Millionen? Und wenn ihnen
irgendein noch so geringer gesetzlicher Vorrang eingeräumt wird, worin werden
die letztern bei der gründlichen Verschiedenheit in der Richtung und Denkart
beider Völker Schutz gegen Ausbeutung, widerstandlose Anwendung ihrer Mittel
zu ihnen fremden und verhaßten Zwecken finden? Diese größte und anscheinend
unüberwindliche Schwierigkeit der Unionsreform in norwegischen Augen ver¬
schwindet, sobald man sich den Bund, enger oder loser, auf Dänemark
erstreckt denkt. Die Schweden sind zwar auch Dänen und Norwegern
zusammen noch an Volkszahl überlegen, aber sie können kaum etwas da-
gegen einwenden, daß die Summe der dänischen und norwegischen Ver¬
treter in dem gemeinschaftlichen Parlament die Zahl der ihrigen übersteige.
An eine Verschwörung zweier Völker gegen das dritte ist ja nicht entfernt
ZU denken. Die Dänen nehmen politisch gesprochen zwischen Schweden und
Norwegen die ungefähre Mitte ein, was jenen eine Bürgschaft für active und
Positive Politik, diesen eine Sicherheit gegen Vergewaltigung sein mag. In
dem Maße wie die Ergebnisse des Krieges den dänischen Volksgeist empfäng¬
licher für die skandinavische Idee stimmen, in demselben Maße können sich die
Norweger leichter entschließen, auf eine centrciiisirende Unionsreform einzugehen,
in deren Hintergrund sich eine deutliche Aussicht auf den Bund aller drei Reiche
öffnet. Diesen Sinneswechsel in der sprödcrn Halbschied seiner Unterthanen
hat der König mit scharfem Blick erfaßt und alsbald die Wiederaufnahme der
verschobenen Unionsverhandlungen beschlossen. Mitten in der eisigen Kälte des
letzten Februarmonats reiste er nach Christiania hinüber — wobei ihm noch
das Unglück wiederfuhr, mit dem Eisenbahnzüge stundenlang im Schnee stecken
zu bleiben —, um dort die norwegischen Mitglieder des schon 1862 vorgeschlagenen
Reforincomite zu ernennen; und seit mehren Wochen ist dieses nun in Stockholm
bei seiner allerdings mühseligen und weitaussehenden Arbeit.
Aber der Enkel Bernadottes begnügt sind nicht mit gleichzeitiger Betreibung
der schwedischen und der schwedisch-norwegisä'en Verfassungsreform. Er ist der
Aufgabe seines Lebens, der Verwirklichung der skandinavischen Idee, bereits
auch noch viel unmittelbarer nachgegangen, Vor jetzt ungefähr einem Jahre,
zur Zeit der londoner Konferenzen, hat er dem König von Dänemark ein
Schutz- und Trutzbündniß angeboten. Es war schon viel, daß er sich überhaupt zu
einem derartigen Anerbieten entschloß. Der König Christian und seine Umgebungen,
Deutschdänen im politischen Sinne des Worts, konnten einem „Skandinavier"
wenig Vertrauen einflößen. Aber Karl der Fünfzehnte mochte wohl darauf
rechnen, daß in jener entscheidende Krisis der Druck des kopenhagener Volkes
stark genug sein werde, um Christian den Neunten soweit skandinavisch zu com-
Promittiren, daß ihm eine Rückkehr zu der deutsch-dänischen Gesammtsstaats-
politik später unmöglich sein werde; und dann ist es auch wenigstens denkbar,
daß er auf französische Ermuihigung hin handelte. Er schlug also — nach dem,
was bis jetzt darüber verlautet hat — seinem gekrönten Nachbar vor, mit ihm
einen Familienpact und einen eigentlichen Staatsvertrag einzugehen. Jener
sollte so beschaffen sein, daß in nicht zu langer Frist die drei nordischen Kronen
auf einem Haupte vereinigt würden; dieser ein skandinavisches Heer, eine skan¬
dinavische Flotte, eine skandinavische Diplomatie und auswärtige Politik, endlich
ein skandinavisches Parlament ins Leben rufen. Wenn Dänmark auf diese Be¬
dingungen einginge, so sollte Schwedens und Norwegens Macht neben der
inigen dafür einstehen, daß es gegen Süden hin seine nationale Grenze be¬
haupte, also irgendeine ihm günstige Theilungslinie durch Schleswig.
Da von dieser wichtigen und interessanten Proposition einstweilen nichts
bekannt geworden ist als der Kern ihres Inhalts, so fehlen noch die Mittel,
um zu beurtheilen, in welcher Art dieselbe auf den Gang der Dinge im Ganzen
einwirkte. Es ist aber auf alle Fälle wahrscheinlich, daß die damalige über¬
raschende Thätigkeit Rußlands auf die Nachricht von Schwedens kühnem Vor¬
haben zurückzuführen ist. Das Petersburger Cabinet, das sich bis dahin seiner
gegenwärtigen allgemeinen Politik gemäß auch in der Schleswig-holsteinischen
Sache beobachtend verhalten hatte, begann gegen Ende der londoner Con-
fereiizen plötzlich sich eines Abschlusses anzunehmen, der es mindestens vor dem
Aergsten bewahrte, vor der Verwirklichung der skandinavischen Idee. Der
dänische Gesandte am russischen Hofe, Baron Otto Blessen, Bruder unseres
Karl v. Scheel-Plessen und gleich diesem ein ausgemachter Deutschdäne, erschien
urplötzlich in Kopenhagen, warnte den König vor den schwedischen Hintergedanken
und bereitete den bald nachher eintretenden Ministerwechsel vor. der den Eider-
dänen Monrad durch Bluhme. den alten Gesammtstaatsmann von europäischem
Ansehen und Nus ersehe. Es wird wohl die Folge dieser russischen
Sendung gewesen sein, was Christian den Neunten bestimmte, sich den wohl¬
wollenden Nachbar mit guter Manier vom Halse zu schaffen. Er drückte ihm
den Wunsch aus, Holstein in das Schutz- und Trutz-Bündniß mit aufgenommen
zu sehen. König Karl konnte nicht allein auf diese Erweiterung seines wohl¬
bemessenen Vorschlags nicht eingehen, weil sie an die Stelle eines erreichbaren
Zieles ein ganz chimärisches setzte — er mußte daran auch erkennen, daß am
dänischen Hofe der antiskandinavische Geist noch völlig obenauf sei, und brach da¬
her die Unterhandlungen ab. Natürlich auch in diesem Falle nur. um sie im ge'
eigneten Augenblicke mit besseren Chancen wiederanzuknüpfen.
Mit welchen Augen haben wir Deutschen nun diese Bestrebungen anzu-
sehen? Sollen wir uns gegen sie einnehmen lassen, weil das sogenannte „Haus-
deutschthum" in Kopenhagen, die Deutschdänen hüben und drüben den Star-
dinavismus wie die Pest verabscheuen, und weil derselbe in der That dem Ein-
fluß der ursprünglich deutschen oder vorwiegend deutsch gebildeten Adelsgeschlechter
in Dänemark vollends ein Ende zu machen droht? Sollen wir die Verwirk¬
lichung der skandinavischen Idee verwünschen und bekämpfen, weil die dänischen
Patrioten davon vor allem erwarten, daß sie ein größeres oder geringeres
Stück von Schleswig an Dänemark zurückbringe?
Die Beantwortung dieser kritischen Frage wird großentheils von Schwedens
fernerer Haltung abhängen. Begreift man in Stockholm, daß die Unterstützung
der Westmächte allein noch keinen sicheren Erfolg in Aussicht stellt, daß es viel-
mehr darauf ankommt, den Bund der beiden großen Ostseemächte zu sprengen.
Preußen von Rußland zu trennen und für die Zurückerwerbung Finnlands,
als für Schwedens nächste nationale Aufgabe, die Unterstützung oder wenigstens
die Neutralität Preußens zu erkaufen; gelingt es ferner den Schweden, ihre Führer¬
stellung im Verein der skandinavischen Völker dazu zu benutzen, daß Norwegen
und Dänemark mit ihnen alle Anstrengungen zunächst gegen Rußland richten,
daß folglich der Gedanke an die Zurückerwerbung Dänisch-Schleswigs zum
wenigsten vorerst vertagt wir>: so besteht für eine nationale deutsche Politik
kein Grund, den Skandinaven ihre politische Einheit zu mißgönnen. Uns ist
mit der skandinavischen Union nicht die Pforte des Weltmeers zugeschlossen,
wie den Russen. Wir haben die Nordsee und obendrein voraussichtlich bald
den Nordostseekanal. Unsre nationale Politik ist überhaupt nicht wie die eroberungs-
süchtig.vrutale der Russen dabei interessirt, daß unsre Nachbarn in Zersplitterung
und Schwäche fortleben. Im Gegentheil, als gleichfalls ausgesetzt den Ueber-
griffen der beiden großen Militärmächte im Westen und Osten, können wir die
Erstarkung aller in ähnlicher Lage befindlichen Nationen der Mitte Europas,
oder überhaupt aller Nachbarn Rußlands und Frankreichs, nur lebhaft wünschen.
Die skandinavische Idee aber hat für uns noch den ferneren Vortheil', daß sie
von Frankreich und Rußland gründlich verschieden aufgefaßt wird und sie in
ihrem praktischen Verlauf unversöhnbar zu trennen verspricht. Denn während
Rußland allerdings kaum umhin kann, sie aufs äußerste zu bekämpfen, hat
Frankreich sie unter die Zahl jener civilisatorischen Ideen aufgenommen, für
welche es mitunter den Degen zieht. Es begünstigt Karls des Fünfzehnten Entwürfe.
Es mag immerhin der Meinung sein, damit nicht blos Rußland, sondern auch
Deutschland einen Pfahl ins Fleisch zu stoßen: die Hauptsache für uns ist, daß
es für die Unterstützung dieser Idee bis auf Weiteres engagirt ist. Wirken
wir ebenfalls in dieser Richtung, so kann es, sollte man denken, kaum alß.
glücken, dem werdenden skandinavischen Bunde eine ausschließliche Spitze gegen
Rußland zu verleihen.
Leider besteht vorerst nur sehr entfernte Aussicht, daß man sich in Berlin
einer unbefangenen und gesunden Anschauung in Betreff der nordischen Ver-
Hältnisse zuwende. Die Anlehnung an Rußland, das „uns den Rücken deckt",
ist dort ebenso traditionell, wie die Abneigung', in irgendeiner europäischen
Frage mit Frankreich zusammenzugehen. Man siebt die Welt mit preußischen
Augen an, und findet so natürlich das politische Zusammenwachsen der am
Sunde wohnenden Völker höchst bedenklich, anstatt mit deutschen Augen, wo man
erkennen würde, daß unser Zugang zum Weltmeer die Nordsee ist, die Mündung
der Elbe und der Weser und des zukünftigen großen Meerkanals. Das preußische
Staatsbewußtsein ist zwar unzweifelhaft auf dem Wege sich zu einem kräftigen
deutschen Nationalbewußtsein auszuweiden. Aber noch manche innere Fortschritte
werden zu machen sein, bevor dieses Ziel erreicht ist. und bevor demnach auch
von einer lediglich den nationalen Interessen entnommenen Stellung Preußens
zu den Ostseemächten, insbesondere zu Schwedens skandinavischen Entwürfen
die Rede sein kann.
Der Krieg von 1815 und die Verträge von Wien und Paris. Von Julius Königer.
Leipzig, 1865. Verlag von S. Hirzel. 475 S. 8.
Wenn unter den preußischen Forderungen an Schleswig-Holstein der dem
König von Preußen zu leistende Fahneneid eine Rolle spielt, so sind Manche
geneigt, auf denselben kein Gewicht zu legen und ihn so zu den Punkten zu
verweisen, welche das berliner Cabinet ohne Nachtheil für sein und Deutsch¬
lands Interesse fallen lassen könnte. Wir sind andrer Meinung, und zwar
einfach deshalb, weil ohne Erfüllung dieses Verlangens das Heer der Herzog-
thümer bei der Lage derselben ^meer Umständen eine Quelle ernster Verlegen¬
heiten werden kann. Und die Gründe hierfür? Weil auf patriotische Gesinnung
des kieler Hofes vielleicht jetzt, aber keineswegs für alle Conjuncturon zu
rechnen ist, dann weil sich Situationen denken lassen, wo Preußen etwaige
Neigung dieses Hofes zur Anlehnung an das Ausland auf den rechten Weg
zu zwingen nicht wohl im Stande wäre. Der Erbprinz von Augustenburg
ist vielleicht der am meisten preußisch gesinnte Mann in den Herzogthümern,
so sagt uns wenigstens der Abgeordnete Tochter, und wir wollen einmal, wohl'
begründete Zweifel zurückdrängend, annehmen, daß er uns damit nicht blos
etwas Neues, sondern auch die Wahrheit gesagt hätte. Aber wird man u,us
ebenso Erfreuliches über die Augustenburger überhaupt berichten können, etwa
über den alten Herrn in Nienstcidten, den Herausgeber der „Hamburger Zeitung",
oder über den Prinzen von Noer, der seinen eigenen Worten nach jedes Na¬
tionalgefühls baar ist, ja es für ein Zeichen von Bornirtheit hält, national zu
denken? Es ist vieles möglich in einer Zeit, wo preußische Abgeordnete wie
Herr Duncker Reden übers Herz bringen, die ein Abgeordneter vom kieler Sophien¬
blatt ebenfalls halten könnte. Jene Durchlauchten aber zu Preußischgesinnten zu
machen, möchte doch wohl unmöglich sein, und wären sie gute Preußen, so
hätte man auch damit nicht viel gewonnen; denn noch immer befände man sich
dann im Unklaren über die Gesinnung des Nachwuchses der zu begründenden
Dynastie. Der dem preußischen König geleistete Fahneneid macht aller solcher
Ungewißheit von vornherein ein Ende — also sind wir als Freunde von Ab¬
machungen ohne Rest und als Gegner aller Vertrauensseligkeit in Dingen der
Politik dafür, daß er zu leisten ist.
Statt weiterer Gründe lassen wir für unsre Ansicht ein Beispiel sprechen,
welches allerdings nicht in allen, aber in vielen und wesentlichen Beziehungen
hierher paßt und so jedenfalls zur Klärung der Meinungen unter denen bei¬
tragen wird, die sich überhaupt aufklären zu lassen geneigt sind. Wir entnehmen
dasselbe in der Hauptsache der obengenannten Schrift, die wir als eine Arbeit,
Welche sich nach ihrem Inhalt wie größtentheils auch nach ihrer Form, in Be¬
treff der Darstellung der militärischen Ereignisse wie hinsichtlich der Behandlung
der diplomatischen Vorgänge sehr wohl neben Hauffer und selbst neben Bernhardt
sehen lassen kann *), den Lesern d. Bl. angelegentlich empfehlen. Einige Neben¬
sachen fügen wir aus Beitzkes „Geschichte des Jahres 1815" hinzu,
deren zweiter Band soeben erschienen ist. Nicht überflüssig wird sein, noch
darauf aufmerksam zu machen, daß Königer kein Preuße, sondern ein mittel¬
staatlicher Offizier (großherzoglich hessischer Jnsanteriehyuptmannj ist — freilich
ein, vorurtheilsloser.
Unser Beispiel ist das Verhalten der sächsischen Truppen in der Zeit
zwischen der Schlacht bei Leipzig und der Schlacht hei Waterloo, und besonders
die Meuterei derselben in Lüttich. Um dieses Ereigniß in das rechte Licht zu
stellen, müssen wir auf die Verhältnisse in Sachsen selbst nach der Gefangen.
nehmung König Friedrich Augusts und auf die Verhandlungen über die sächsische
Frage beim wiener Congreß zurückgehen, wobei sich wieder Parallelen zwischen
dem damaligen Sachsen und dem jetzigen Schleswig-Holstein ziehen lassen
werden.
Preußen erschien auf dem wiener Congreß ohne sichere Freunde und leider
auch mit keinem bestimmten Willen. Darüber allerdings war der König mit
seinen Ministern einig, daß Preußen wieder ein mächtiger und wohlabgerun¬
deter Staat werden und daß zu diesem Zwecke möglichst viel von dem in
Deutschland eroberten Gebiete verwendet werden müsse. Viel mehr aber stand
nicht fest. Dem König fehlte für verwickelte Fragen der Staatskunst das Ver¬
ständniß und noch mehr die rasche Entschlossenheit, und Hardenberg nahm seine
Aufgabe zu leicht. Er kam nach Wien ohne klaren Plan und ohne eine rechte
Grundlage für die Ansprüche Preußens gewonnen zu haben. Die Verhältnisse
freilich waren wenig günstig und ziemlich verworren, doch konnte eine weit¬
sichtige Politik erkennen, daß in der deutschen Entschädigungsmasse Land genug
für das Bedürfniß Preußens vorhanden war, daß England kein Interesse hatte,
der Befriedigung dieses Bedürfnisses entgegenzutreten, und daß man sich darüber
vielleicht auch mit Oestreich verständigen konnte. Soviel wir aber heute wissen,
ist nach diesen Beziehungen hin nicht einmal ein ernstlicher Versuch vorläufiger
Unterhandlungen gemacht worden, und so „trieb das preußische Staatsschiff
in den Congreß weit mehr wie es die Strömung trug, als wie es der Steuer¬
mann lenkte". Diese Strömung aber wurde bald eine solche, die direct gegen
das Interesse Preußens ging, und wieder nicht ohne Schuld des Königs und
Hardenbergs, wenn auch ebenso sehr dadurch, daß Metternich und Talleyrand
ihre Intriguen gegen Preußen spielen ließen, daß das Legitimitälsvrincip sich
in die Gründe eindrängte, nach denen entschieden werden sollte, und daß Kaiser
Alexander in seiner Unterstützung der preußischen Ansprüche lauer und zuletzt
ganz unzuverlässig wurde.
Zuerst hatte es den Anschein, als bestände eine wirkliche Mittelmacht in
Europa, als wären Preußen, Oestreich und England einig genug, um Frank¬
reich niederzuhalten und die übermäßigen Ansprüche Rußlands zurückzuweisen.
Talleyrands Einmischung änderte daran zunächst nicht viel. Erst als Alexander
in einer sentimentalen Stunde die Unterstützung Friedrich Wilhelms für seine
polnischen Pläne gewann, mit denen er von den übrigen Hauptmächten zu¬
rückgewiesen worden, begannen die allerdings bereits reichlich vorhandenen Ur¬
sachen zum Zwiespalt zu wirken und die Verhältnisse sich auf unnatürliche Weise
zu verschieben. Preußen hatte sich am 6. November 1814 von seinen natür¬
lichen Verbündeten und damit von seinem eignen Vortheil abgewandt, und es
sollte bald die Folgen davon sehen.
Die sächsische Frage trat in den Vordergrund. Nach Friedrich Augusts
Wegführung von Leipzig nach Berlin war Sachsen unter die Befehle des
russischen Fürsten Repnin gestellt und wie alle eroberten deutschen Gebiete der
Centralverwaltung unter Stein überwiesen worden. Das Recht der Ver-
Kündeten hierzu ist in Ur. 24 d. Bl. — wir denken überzeugend — dargelegt
worden. Was die preußischen Staatsmänner und Generale übereinstimmend
verlangten, die Vereinigung Sachsens mit Preußen, damit wenigstens der Haupt,
theil dieses Staates ein in sich geschlossenes kräftiges Ganze bilde, war von
Hardenberg in Paris zu fordern versäumt worden. Vergebens hatte ihn Stein
auch nachher erinnert, die sächsische Sache zum Abschluß zu bringen; sie wurde
verschleppt und gab auf diese Weise — ähnlich wie jetzt in Schleswig-Holstein
— der Hofpartei und der natürlichen Ungeduld in einem Theil des Volkes
Anlaß sich zu regen. Der König suchte sein vermeintliches Recht durch eine sehr
ausführliche Auseinandersetzung zu wahren, welche sein Verhalten seit Gründung
des Rheinbundes vor dem Congreß rechtfertigen sollte. In Dresden wurde
unablässig daran gearbeitet, das Volk für den gefangnen „Vater" in Bewegung
zu bringen, und die Beamten sowie viele vom Hofe abhängige Bürger bezeugten
Wirklich lebhafte Theilnahme für denselben. Die sächsischen Minister trugen dem
Kaiser Alexander bei seiner Durchreise durch die Hauptstadt die Bitte um Rück¬
gabe des Königs vor, eine Anzahl angesehener Einwohner Dresdens, Hofräthe,
Hoflieferanten u. f. w. baten bei Repnin um Erlaubniß, eine Deputation mit
dem gleichen Anliegen nach Wien zu schicken. Beide Petitionen wurden ab-
gewiesen, die Bewegung, eifrig angespornt, nahm darum nicht ab. Doch blieb
es nicht ohne Eindruck, als Repnin wiederholt andeutete, das Land werde nur
als Ganzes und mit seinen Gesetzen und Freiheiten an Preußen übergehen;
die lauten Hoffnungen, mit denen die königliche Partei auf Oestreich hinwies,
blieben unerfüllt, und die große Mehrzahl des Volkes sehnte sich nur nach einer
Entscheidung, welche den ungewissen Zustand beendigte. Nur in der Armee
kam es, wie unten gezeigt werden soll, unter dem Einfluß des Hofes zu einer
Bewegung von lange nachwirkender Bedeutung.
In dieser Lage der Dinge entschloß sich Stein zu einem entscheidenden
Schritte. Am 29. September stellte er dem Kaiser Alexander vor, daß es Zeit
sei, die Verwaltung des eroberten Landes von Rußland an Preußen übergehen
zu lassen. Der Kaiser willigte ein, und die Uebergabe wurde in einer Conferenz
von Stein, Hardenberg, Humboldt und Nesselrode förmlich beschlossen, doch so,
daß Sachsen nicht als Provinz, sondern als besonderes Königreich mit Preußen
vereinigt werde. Am 11. October ertheilte auch Castlereagh seine Zustimmung,
doch bemerkte er ausdrücklich, daß England in die Erwerbung Sachsens nicht
einwilligen könne, wenn Preußen dafür den russischen Ansprüchen in Polen
»achgebe und sich dort eine offne Grenze gefallen lasse, die zu beständiger Ab-
HSngigkeit von Rußland führen müsse. Weniger klar sprach Metternich sich aus.
Den ersten Aufforderungen Hardenbergs wich er aus, dann aber erfolgte seine
Zustimmung zur Uebernahme der Verwaltung Sachsens durch Preußen, und
zuletzt, am 22. October, erklärte er sich über die eigentliche Besitznahme des
Landes dahin, daß es zwar für Preußen besser sein werde, wenn es sich mit
einem Theile desselben begnüge, daß Oestreich sich aber nicht widersetzen werde,
wenn die vollständige Einverleibung um der Herstellung Preußens willen durch¬
aus nothwendig erscheine; nur müsse Oestreich dann darauf bestehen, daß Mainz
und die Mciiniinie zu Süddeutschland käme, und daß Preußen seine Besitzungen
nicht auf das südliche Moselufer ausdehne. Diese Note war nicht sehr er¬
mutigend, dennoch wäre, da England noch fest zu Preußen hielt, ein be¬
friedigendes Abkommen über die sächsische Angelegenheit zwischen den beiden
Mächten und Oestreich wohl noch zu erreichen gewesen. Das Resultat jener
gefühlvollen Stunde am 6. November zerstörte diese Möglichkeit, indem es
gegen die von Castlereagh gestellte Bedingung verstieß. England hörte von
jetzt an auf, Preußen in der sächsischen Frage zu unterstützen. Oestreich nahm
am 11. November schon in einer Unterredung zwischen Castlereagh, Hardenberg
und Metternich die kurz zuvor zugestandn? Abtretung ganz Sachsens zurück,
verlangte für den König wenigstens eine halbe Million Einwohner nebst Dres¬
den und schlug die Besetzung von Mainz durch östreichische und bayerische
Truppen vor. Bald fand auch Talleyrand Gelegenheit, gewichtiger als bisher
für Sachsens König aufzutreten.
Inzwischen war die Verwaltung Sachsens an Preußen übergangen. Die
nach Wien kommenden Berichte von dem Eindruck, den diese Maßregel gemacht,
dienten dazu, die ungünstige Stimmung, die dort gegen Preußen herrschte, zu
vermehren, ihr wenigstens einen neuen Vorwand zum Widerstand gegen die
Einverleibung zu liefern. Friedrich Wilhelm hatte der Sache nur ungern zu¬
gestimmt und sich geweigert, an die Spitze der Verwaltung seinen Bruder
Wilhelm zu stellen, der hier sehr an Platze gewesen wäre. Der Prinz hatte
im Befreiungskriege rühmlich mitgefochten, seine Gemahlin sich mit Eifer an
der Thätigkeit der deutschen Frauen für die Krieger betheiligt, beiden stand der
Ruf reiner und milder Gemüther zur Seite; sie hätten die Dresdner am besten
mit der neuen Ordnung der Dinge versöhnt. Statt des Prinzen aber schickte
man den Minister v. Reck, und dieser hatte gleich zu Anfang das Ungeschick
und den Uebermuth, aus einer Anzahl von höheren Stellen die sächsischen
Männer, die unter Repnin die Geschäfte mit Sachkunde und redlichem Eifer
geleitet, auszuscheiden und an ihre Posten preußische Beamte zu setzen, die
weder die Menschen noch die Verhältnisse kannten. Machte dies mit Recht
böses Blut, so hatten die großentheils äußerst plumpen und gemeinen Angriffe,
die in Betreff der sächsischen Sache von der in München erscheinenden „Aleman-
ma", von dem bayerischen Geheimrath v. Arelim und von dem göttinger
Professor Sartorius gegen Preußen gerichtet wurden, in Sachsen nur schwachen
Erfolg. Es gab hier gar nicht Wenige, die Niebub,rs Schrift „Preußens Recht
gegen den sächsischen Hof" überzeugte, daß die Gefangennahme Friedrich Augusts
nichts als ein anerkanntes Kriegsrecht, die Wegnahme seines Landes nur daS
verdiente Loos für die schweren Hindernisse sei, welche er der Befreiung
Deutschlands vom Joch der Fremdherrschaft in den Weg gelegt, und daß
Preußen , welches für diese Befreiung alles eingesetzt, recht wohl jenen Zuwachs
fordern dürfe. Bei der legitimistischen Partei in Deutschland schlugen solche
Gründe selbstverständlich nicht an; denn dieser war gerade das verhaßt, worauf
Preußen sich damals wie jetzt in Schleswig-Holstein nächst dem Recht der Er¬
oberung am meisten stützte, daß nämlich um Deutschlands und seiner Zukunft
willen ein Staat mit seinem Fürstenhaus erhöht werden und ein andres fürst-
Uches Haus sein Erbe verlieren könne.
In Wien wurde unter diesen Umständen der Plan einer Theilung Sachsens
reif. Für Preußen galt es gerade, das ganze Königreich zu erwerben, damit
der Staat in seiner langgestreckten Lage wenigstens an einer Stelle ein abge-
rundetes und wohlgeschlossenes Gebiet bilde. Auch die Rücksicht auf das sächsische
Volk verlangte, daß das Königreich in der Gemeinschaft des Rechts, der Ver¬
waltung, des Handels und Verkehrs, kurz aller öffentlichen Lebensformen auch
zusammenbleibe, und dieser Rücksicht HU Liebe hatte man bei der Uebergabe der
Verwaltung an Preußen dem Lande die Erhaltung seiner, bisherigen Rechte
und Freiheiten zugesichert. Andrerseits war es auch die Meinung Friedrich
Augusts und der Hvfpartei, daß Sachsen ungetheilt bleiben müsse, nur sollte
eS natürlich beim König bleiben; denn daß dieser sein angestammtes Recht ver¬
lieren könne, galt auf dieser Seite fast wie Gotteslästerung. Das Volk in
seiner großen Mehrheit sah, wie bemerkt, die Sache keineswegs so an. Es
wünschte keine Theilung, war aber, wie in Wien die Berichte Repnins und
selbst die Zeugnisse der sächsischen Obersten v. Carlowitz und v. Miltitz bewiesen,
der Vereinigung mit dem großen Nachbarstaat, der die Befreiung von den
Franzosen gebracht, nicht abgeneigt. Doch sprach es sich für keinen von beiden
Theilen mit Nachdruck aus; denn unter der alten Gewöhnung an die ausschlie߬
liche Fürsorge und Entscheidung der Regierung waren Gefühl und Einsicht
für den eignen Vortheil wenig entwickelt worden und der Gedanke selbst handeln
zu müssen nie aufgekommen.
Kaiser Alexander trat zwar in seinen öffentlichen Kundgebungen für den
Anspruch Preußens aus ganz Sachsen auf, privatim aber gab er deutlich zu
verstehen.daß es ihm leid thue, sich in dieser Sache durch sein Wort gebunden
zu haben. England begann sich Frankreich zu nähern. Talleyrand, Wrede
und Münster sprachen für die Theilung. Am 2. December bot Preußen in
einer Note Hardenbergs an Metternich dem König Friedrich August zur Ent-
schädigung „eine schöne Besitzung" (Besitzung das rechte Wort für die damalige
und auch jetzt in höheren Sphären noch häufig anzutreffende Auffassung vom
Staate) in den ehemaligen Bisthümern Münster und Paderborn mit 350,000
katholischen Einwohnern. Am 10. December erwiderte Metternich, daß Kaiser
Franz die Einverleibung ganz Sachsens in Preußen nicht zugestehen könne;
Grundsätze, Familienbande, Grenz- und Nachbarverhältnisse hinderten ihn daran.
Nur etwa ein Fünftel Sachsens sollte preußisch werden. Hardenberg drückte
darüber sein Erstaunen aus und legte dann die Sache Alexander vor. Dieser
sagte, es sei Zeit, das letzte Wort zu sprechen und versprach energische Unter¬
stützung Preußens. Auf beiden Seiten gewannen Gedanken an einen Krieg
um Polen und Sachsen mehr und mehr Macht. Talleyrands Saaten reiften
zur Ernte. Am 19. December richtete er an Metternich und Castlereagh eine
Note, die im Gewände der Staatsschrift dieselben Redensarten enthielt, mit
denen er bisher gewisse Diplomaten des Congresses, besonders die mittelstaat¬
lichen, entzückt: nur Eifer für die geheiligten Grundsätze des öffentlichen Rechts
beseele Frankreich, es sei nicht gut, daß Preußen in Deutschland zu mächtig
werde, Könige könnten nicht gerichtet werden u. tgi. in. Castlereagh lockte er
mit dem Versprechen von 300,000 französischen Bajonneten zur Wiederherstellung
Polens. Am 29. December verlangte jener Zuziehung Talleyrands zu den
gemeinsamen Conferenzen, und als dies von Preußen und Rußland abgelehnt
wurde, schlössen England, Oestreich und Frankreich am 3. Januar 1816 das
bekannte geheime „Vertheidigungsbündniß zur Ausführung des pariser Friedens"
gegen Preußen und Rußland, dem später Bayern, Hannover und Holland bei¬
traten. Dasselbe war eine entschiedene Treulosigkeit Englands und Oestreichs,
sonst aber nicht so gefährlich, als es in der Regel aufgefaßt wird. Von An-
griffsplanen war darin nicht die Rede, auch hieße es von Castlereaghs und
Metternichs Fähigkeiten zu gering denken, wenn man annehmen wollte, daß
sie mit Frankreich in einen Offensivkrieg hätten gehen wollen, mit einem so
unzuverlässigen Bundesgenossen, der nach Preußens Besiegung allen seinen
Einfluß in Deutschland wiedergewonnen hätte. In Wirklichkeit kam es nicht
einmal zu einer Verständigung der drei Verbündeten über die schwebenden Ver-
theilungsfragen, vielmehr zeigte sich bald, daß Castlereagh nicht einmal so weit
zu gehen gesonnen war als Metternich, und mit Anfang des neuen Jahres
nahmen die Verhandlungen des Congresses allmälig eine friedlichere Wendung.
Zuerst verständigte man sich über die polnische Frage, und als Alexander nun
seine Ansprüche in dieser Sache gesichert sah, begann er in seiner Unterstützung
der preußischen auf Sachsen noch mehr als bisher zu wanken. Dagegen stellte
sich Castlereagh jetzt wieder günstiger für Preußen, und so brachte Metternich
auf Hardenbergs Note vom 12. Januar, welche die Einverleibung von ganz
Sachsen festhielt, am 28. einen neuen Theilungsplan ein, der nicht mehr
blos ein Fünftel, sondern fast die Hälfte des Königreichs anbot. Noch wurde
Über Torgau und Leipzig verhandelt, dann gab Preußen nach. Am 8. Februar
erklärte Hardenberg im Namen seines Königs, daß eine Theilung Sachsens
zwar ein Uebel sei, daß man aber in das von allen Seiten verlangte Opfer
willigen wolle, worauf Forderungen folgten, durch welche Preußen im Wesent-
lichen das Gebiet in Anspruch nahm, welches es heute wirklich besitzt. Am
10. Februar nahm Oestreich diese Vorschläge an, und die andern auf dem
Kongreß vertretenen Mächte folgten.
Die sächsische Hospartei war außer sich hierüber. Auf Oestreichs Betrieb
ließ man den König nach Preßburg gehen, indem man dort eher seine Ein-
willigung zu der Uebereinkunft der Mächte zu erlangen hoffte, die es ermög-
lichen sollte, ihn der Gefangenschaft zu entlassen. Man täuschte sich, Friedrich
August blieb hartnäckig dabei, diese Einwilligung zu versagen. Die Folgen
davon trafen nicht die rechte Stelle, sondern nur unwissende Werkzeuge dieser
Politik ohnmächtigen Widerstandes gegen ein selbstverschuldetes und wenn
nicht für das Land, sicher für den König noch viel zu günstig ausgefallenes
Schicksal.
Damit sind wir zu dem eigentlichen Gegenstand unserer Betrachtung ge-
langt. Nach der Schlacht bei Leipzig war ein Theil der sächsischen Armee in
Sachsen zurückgeblieben, der größere unter v. Thielmann nach dem westlichen
Deutschland dirigirt worden. Das Corps wurde der preußischen Armee vom
Niederrhein, insbesondere dem dritten deutschen Armeecorps zugewiesen, welches
damals eben gebildet worden. Im August 1814 standen diese sächsischen Truppen
bei Marburg in Hessen, als bei ihnen der Hauptmann v. Langenau, Bruder
des östreichischen Generalquartiermeisters, erschien. Derselbe kam in anderer
dienstlicher Mission und nur auf der Durchreise hierher, brachte aber von dem
jüngeren Bruder des Königs von Sachsen, dem damals in Prag lebenden
Prinzen Maximilian, einen geheimen wichtigen Auftrag mit. Bei dessen Aus¬
führung wurde er von dem General Lecoq und dem Obersten v. Zezschwitz
lebhaft unterstützt, und so lief am 31. August das Ergebniß desselben, eine
Adresse an die verbündeten Monarchen um Herstellung eines ungetheilten Sachsen
unter Friedrich August, mit zahlreichen Unterschriften von sächsischen Offizieren
bedeckt, bei v. Thielmann ein. Es war die Majorität der letzteren, welche
hier sprach; die Offiziere der Cavalerie, der ersten leichten Jnfanteriebrigade
und der Sappeurcompagnie beschränkten sich auf den Ausdruck ihrer Ergeben¬
heit für den König, ohne eine politische Meinung zu äußern. General v. Thiel-
en«um hatte kurz vorher bei einem am Geburtstag des Königs von Preußen
veranstalteten Festmahl seinem Wunsche nach Vereinigung Sachsens mit Preußen
unverhohlen Ausdruck gegeben und damit bei den übrigen Herren stark an¬
gestoßen. Ais er jetzt die Commandeure auf das Ungebührliche ihres Schrittes
aufmerksam machte, bestanden sie auf der Einsendung der Adresse.
Nun ging die Meldung an den preußischen General v. Kleist nach Aachen.
der die Rheinarmee damals commandirte. Hierauf folgten Verhandlungen hin
und her, während deren das sächsische Corps nach Coblenz und dessen Nachbar¬
schaft verlegt wurde, wo dasselbe den 15. September eintraf. Dort erschien
der General v. Müffling als Bevollmächtigter des Oberbefehlshabers der Armee,
um die Sache zu ordnen. Es gelang ihm durch ernste und milde Vorstellungen,
die Aufregung zu beschwichtigen, und die sächsischen Commandeure unterschrieben
einen Revers, in welchem sie sich verpflichteten, bis zur Entscheidung über
Sachsen die verbündeten Mächte als alleinigen Souverain anzuerkennen, als
ob sie ihnen geschworen hätten, auch keiner andern Autorität zu folgen,
als dem ihnen vorgesetzten commandirenden General vom dritten deutschen
Armeecorps. Die Adresse reichten sie jetzt in abgeänderter Form ein, nach
welcher sie sich auf die Erklärung beschränkten, daß sie sich des Eides gegen
ihren König nicht unbedingt entbunden erachteten, und den Wunsch hinzufügten,
unter dessen Scepter zurückzukehren.
In dieser Gestalt ging die Adresse nach Wien ab, während Thielmann
einen ausführlichen Bericht über die Angelegenheit an Kaiser Alexander schickte.
Mit einer ähnlichen Bewegung hatte Repnin bei dem in Sachsen zurückgebliebnen
Truppentheile zu thun. Stein, der als Haupt der Centralverwaltung durch
Kleist, Thielmann, Müffling und Repnin über alle diese Vorgänge genau unter¬
richtet war. sprach in dienstlichen Schreiben seine scharfe Mißbilligung über die
Adresse aus. Er meinte, die bewaffnete Macht habe sich nicht in Staatssachen
zu mischen, und es sei gerathen, den schwachen General Lecoq und den intri¬
ganten Obersten v. Zezschwitz zu entfernen, den übrigen Offizieren eine Rüge
zu ertheilen und das Corps zu verlegen.
Dieser Rath wurde leider nicht befolgt, und bald, als vom October an
die widersprechendsten Gerüchte zu den Truppen drangen, gewann die Bewegung
neues Leben. Die Uebergabe der Verwaltung Sachsens an Preußen wurde
in Koblenz zuerst als förmliche Auslieferung des Landes bezeichnet, dann, als
der Streit der Mächte in Wien sich steigerte, behauptete man das gerade Gegen¬
theil. Lecocq hatte die Dreistigkeit, sich am Geburtstag Friedrich Augusts
(23. December) geradezu feindlich gegen Preußen zu äußern. Er wurde daher
vom Corps entfernt. Oberst v. Zezschwitz, der eigentliche Träger und SchKrer
des vom Hofe ausgegangnen Treibens im sächsischen Offizierscorps, blieb leider.
Zu Anfang des Februar 1816 kam das Corps, welches beiläufig ungefähr
14,000 Mann stark war. nach Köln, gegen Ende des März wurde es nach
Aachen, dann nach Lüttich verlegt.
Schnell folgten in dieser Zeit die Nachrichten, daß Sachsen getheilt werden
solle, daß der König sich widersetze, daß Napoleon in Frankreich gelandet sei.
General Thielmann forderte schon am 22. Februar von den Offizieren die Er¬
klärung, wer bei der Theilung in preußische Dienste übertreten, wer in sächsischen
bleiben wolle, worauf die Obersten v. Zezschwitz und v^ Leyser entgegneten,
diese Aufforderung sei so lange ungesetzlich, als die Einwilligung des Königs
nicht vorliege. Die Aufregung nahm zu. Unter den sächsischen Offizieren trat
deutlich eine Spaltung hervor: ein Theil wollte in preußische Dienste treten,
der andere nicht. Immer bedenklicher wurde die Stimmung der letzteren,
namentlich unter den jetzt obwaltenden Verhältnissen. Napoleon war wieder
in Paris, der König von Sachsen erhob von Preßburg aus öffentlich und
feierlich Einspruch gegen die Theilung. Sächsische und östreichische Agenten er-
schienen im Lager, um die Truppen noch mehr aufzuregen. Bewohner von
Huy forderten das Gardegrenadierbataillon beim Durchmarsch auf, zu Napoleon
überzugehen. Der Moniteur sprach von der Achtung Napoleons für Friedrich
August, von der Anhänglichkeit der Sachsen an Frankreich, von ihrem
Preußenhaß.
In der ersten Woche des März traten die ehemals sächsischen Generale
v. Thielmann, v. Ryssel der Erste und v. Brause aus dem russischen Dienst,
dem sie seit dem Herbst 1813 angehört hatten, in den preußischen über, und
Ryssel erhielt das Commando über die Sachsen, aber ohne ihr Vertrauen zu
besitzen, da vielen sein Uebergang bei Leipzig mißfallen hatte.
Inzwischen hatte der König Friedrich Wilhelm durch Verfügungen vom 19. und
21. März die vorbereitenden Maßregeln für die Theilung des sächsischen Staates
und Heeres angeordnet. Die Offiziere sollten sich nach freier Wahl entscheiden,
die gemeinen Mannschaften nach der Zugehörigkeit ihres Heimathsortes vertheilt
werden, doch sollte die Verfügung geheim bleiben, bis der König von Sachsen
in die Ausführung gewilligt habe. Gleichwohl kam die Kunde davon nach
Lüttich, und unter einem Theil der Offiziere fand eine Verabredung statt, nach
welcher der Uebertritt in den preußischen Dienst als Bruch des dem König von
Sachsen geleisteten Eides betrachtet werden sollte. Derselbe konnte sich ja
wieder als Alliirten Napoleons ansehen, und als preußische Offiziere konnten
sie dann in den Fall kommen, gegen den Verbündeten der sächsischen Majestät
fechten zu müssen. Bei der Infanterie wurde auch die Mannschaft gegen die
Theilung aufgewiegelt, beim Gardebataillon soll sogar Geld vertheilt worden
sein. Die Offiziere der Reiterei und der Artillerie bewiesen bessere Zucht und
Einsicht, zogen die Mannschaften nicht in den Streit und suchten ihr Ansehen
zu behaupten.
Am 19. April kam Blücher in Lüttich an. mit ihm Gneisenau und die
übrigen Herren vom preußischen Hauptquartier, sonst aber nur zwölf Ordonnanzen,
so daß die Stadt nur von> sächsischen Truppen, dem Gardebataillon und zwei
Grenadierbataillonen besetzt war. Weitere drei Bataillone Sachsen standen in
der Nachbarschaft. Blücher verstand die schwierige Lage der sächsischen Armee
und war bemüht, sich Vertrauen zu verschaffen. Bald nack) seiner Ankunft —
so berichtet Beitzke —- ließ er die sächsische Generalität und sämmtliche Stabs¬
offiziere zu sich entbieten und sprach ihnen in kameradschaftlicher Weise zu: er
werde keinen Unterschied »zachen zwischen ihnen und den Preußen, alle sollten
gleiche Ehren und Belohnungen erhalten, wenn sie bereitwillig zu dem großen
Zwecke mitwirkten; alles Politische bleibe füglich der Weisheit der Monarchen
in'Wien überlassen. Die sächsischen Commandeure hörten diese Rede kühl an
und gaben keine Antwort. Obwohl dies auffiel, hegte man preußischerseits
noch keinen Argwohn. Auch als bald nachher der sächsische Major v. Weiters¬
hausen bei Blüchers Adjutanten, dem Grafen Nostitz, der mit dem Feldmarschall
im Präfecturgebäude am Kanal wohnte, mit der Warnung erschien, daß unter
den Sachsen eine sehr üble Stimmung herrsche und ein Aufstand drohe,
glaubte weder Nostitz noch Blücher selbst an diese Befürchtung, und es wurden
keine Vorsichtsmaßregeln getroffen.
Da traf gegen Ende des Monats der General Grolmann mit der Verfügung
Friedrich Wilhelms vom 22. April in Lüttich ein, nach welcher des bevorstehenden
Krieges wegen die Theilung des Heeres vollzogen werden sollte. Noch immer hatte
der König von Sachsen — vermuthlich in der Hoffnung auf einen Sieg Na¬
poleons über die Deutschen — seine Einwilligung zu der Maßregel nicht er¬
klärt. Es stand also der Eid, der ihm geschworen war, entgegen,
und die Offiziere hatten in jener Adresse vom September 1814 zwar Gehorsam
gegen die verbündeten Monarchen versprochen, sich aber zugleich als an diesen Eid ge¬
bunden erkält. Allein die Theilung sollte auch mit Rücksicht hieraus vollzogen werden.
Blücher ordnete am 1. Mai an, daß aus dem Corps zwei Brigaden gebildet
werden sollten, eine für den preußischen und eine für den sächsischen Dienst.
In Beziehung auf Eid und Feldzeichen sollte bis zur Einwilligung des Königs
von Sachsen keine Veränderung stattfinden, auch sollten beide Brigaden un¬
mittelbar unter dem Oberbefehl des Feldmarschalls beisammen bleiben. Ja die
Theilung sollte bis auf Weiteres nur in den Listen bemerkt werden.
Am Abend des zweiten Mai waren die sächsischen Commandeure bei
Gneisenau. um diese Anordnungen zum Behuf ihrer Ausführung in Empfang
zu nehmen. Sie äußerten Bedenken und machten darauf aufmerksam, daß
man auf Widerstand stoßen werde. Noch waren sie bei dem General, als sich
auf einmal die Soldaten des Gardebataillons mit lautem Toben vor dem
Hause sammeln, und man durch den Lärm die Worte vernimmt: „Vivat!
unser König soll leben! Wir lassen uns nicht theilen!" Die sächsischen Offiziere
(bei Beitzke Graf Nostitz, Blüchers Adjutant) eilen hinaus, um Ruhe zu stiften.
Der Ruf „preußische Spitzbuben!" wildes Geschrei, wüste Drohungen ant-
Worten ihnen, nach Ryssel wird geworfen. Auf den Zuruf, es werde Alarm
geschlagen, läuft endlich die tumultuirende Rotte auseinander.
Mittlerweile war Blücher geweckt worden. Er befahl sofortigen Abmarsch
des meuterischen Bataillons nach Huy und schickte den Obersten Pfuel aus,
um die nicht weit von Lüttich cantonirenden drei Bataillone des colbergschen
Regiments in die Stadt zu holen. Nostitz wurde abgesandt, um Gneisenau zu
rufen, welcher ihm schon mit Müffling und andern preußischen sowie einigen
sächsischen Stabsoffizieren auf dem Wege zum Feldmarschall entgegenkam. Man
traf v. Zezschwitz. Nostitz fragte, ob er die Beruhigung seiner Landsleute über-
nehmen könne, und als dieser das verneinte, eilte jener zur Hauptwache, holte
eine Compagnie Sachsen unter dem Hauptmann Geibler (Beitzke schreibt
v. Keibel) herbei und stellte sie vor der Wohnung Blüchers auf.
Diese Anordnung war kaum getroffen, als auch die beiden andern in Lüttich
garnisonirenden Bataillone mit lautem Toben vor dem Quartier des Feldmar¬
schalls anlangten. Stürmische Vivats auf ihren König wechseln ab mit Ver¬
wünschungen und Drohungen gegen Blücher, Schimpfreden wie „preußische
Spitzbuben" mit Lebehochs auf Napoleon. Steine und Koth fliegen in
die Fenster des alten Oberfeldherrn, und die Meuterer schicken sich an, das
Haus zu stürmen. Außer sich vor Entrüstung über dieses schmachvolle Treiben
will Blücher selbst mit dem Säbel in der Faust unter die Aufrührer hinunter, um
sie auseinander zu jagen. Mit Mühe wird er zurückgehalten. Die sächsische Wache
thut ihre Pflicht, aber ohne wesentlichen Erfolg. Müffling und Nostitz treten
ebenso erfolglos vor die Thür, um Ruhe zu gebieten. Man drängt sie, reißt Müff¬
ling ein Epaulet von der Schulter, und kaum gewinnen sie den Eingang wieder.
Die Wuth der Empörer hatte jetzt den höchsten Grad erreicht. Unter
wüstem Gebrüll suchte ein starker Hause trotz der Wache in das Haus zu
dringen. Unwürdiger Tod drohte dem ruhmgekrönten Feldmarschall. Noch
eine Weile vertheidigen Müffling und Nostitz d en Eingang unter dem Beistand
des Hauptmanns der sächsischen Wache. Als Blücher, den dringenden Vorstellungen
der Seinen Gehör gebend, das Haus durch einen unbewachten Ausgang verlassen,
ziehen auch sie sich zurück. Die Masse stürzt in das Haus, sucht dort nach
gefangenen Kameraden/findet sich getäuscht und räumt endlich den Platz.
Blücher hatte sich mit den übrigen preußischen Offizieren nach einem be¬
nachbarten Dorfe begeben. Von" hier erließ er den Befehl, sämmtliche sächsische
Truppen sollten Lüttich räumen, die Garde nach Namuv. die Grenadiere nach
Aachen abmarschiren. Ein Theil gehorchte, andere zögerten am andern Morgen
noch, den Befehl auszuführen, und erst als Pfuel ankam und den sächsischen
Officieren eröffnete, daß preußische Truppen in starker Anzahl gegen sie heran¬
rückten, zogen sie ab.
Der Geist der Auflehnung aber hatte in diesem wilden Ausbruch noch nicht
sein Ende gefunden. Er zeigte sich durch die gesammte sächsische Infanterie
verbreitet. Die Offiziere waren der Soldaten nicht mehr Herr. Nicht wenige,
berichtet Königer, Hütten die Sache leicht getragen und nicht einmal ernstlich
versucht, der Unordnung zu steuern, andere dagegen hätte man vor Schmerz
weinen sehen über die Schande, die den sächsischen Namen getroffen. Willkür,
Zügellosigkeit, Widersetzlichkeit herrschten noch die nächsten Tage. In den
Quartieren unaufhörliches Lärmen und allerlei Unfug, Weigerung der Mann¬
schaften, die befohlenen Bivouacs zu beziehen, dazu Hochrufe auf Friedrich
August und abermalige Vivats auf Napoleon.
Es waren strenge Maßregeln nöthig, und Blücher war der Mann, sie zu
treffen. Er befahl Auflösung des Gardebataillons und Verbrennung der Fahne
desselben. Die beiden Grenadierbataillone, die sich bis zu Thätlichkeiten ver¬
gessen, mußten ausrücken und wurden von preußischen Truppen umringt, wo¬
rauf sie zur Nennung der Rädelsführer aufgefordert wurden. Als sie sich dessen
weigerten, wurde von jeder Compagnie der zehnte Mann abgezählt, um dem
Standrecht überwiesen zu werden, falls man bei der Weigerung beharrte. Da
gaben sieben Compagnien je einen Hauptschuldigen an, lauter Leute, gegen
die auch sonst Beweise vorlagen. Nachdem sie ihre Schuld bekannt, wurden
sie vor der Fronte erschossen. Die Uebrigen waren tief erschüttert, viele weinten
laut und fluchten den Verführern.
Auch bei der preußischen Armee blieb der unselige Vorgang nicht ohne
Folgen. Der General v. Borstell, Commandeur des zweiten Armeecorps, hatte
die Sachsen beim Feldzug in Flandern kennen und schätzen gelernt. Er
maß von Anfang an nicht ihnen, sondern den unglücklichen Verhältnissen
und dem etwas taktlosen Benehmen Thietmarus die Hauptschuld bei. Als die
Meuterei in Lüttich stattfand, hatte Borstell sein Hauptquartier in Namur,
wohin, wie gemeldet, zuerst das Gardebataillon gewiesen wurde, dessen Fahne
nach Blüchers Befehl verbrannt werden sollte. Der General erhielt am S. Mai
den Auftrag, dies zu vollziehen. Er aber, nur unvollkommen von dem Vorfall
in Lüttich unterrichtet, hatte den Offizieren des Bataillons versprochen, sich für
dasselbe zu verwenden, auch schien ihm die gedachte Strafe zu hart. Er machte
Vorstellungen im Hauptquartier und gab inzwischen dem sächsischen Major
v. Römer die Zusage, so lange er zu befehlen habe, solle der Fahne nichts
geschehen. Indeß hatte der Feldmarschall die Verbrennung derselben der Armee
bereits durch Tagesbefehl vom 6. Mai verkündigt. Er blieb bei seiner ersten
Verfügung und entsetzte Borstell, als dieser jetzt den Vollzug des Befehls
verweigerte, seines Commandos. Borstell war ein sehr tüchtiger General und
persönlich beim König angesehen; dennoch wurde er durch Spruch des Kriegs¬
gerichts wegen Insubordination zu einem Jahre Festungsarrest verurtheilt, doch
erließ ihm später Friedrich Wilhelm auf Blüchers Bitte diese Strafe. Er
hatte aber, wie er selbst in einem Schreiben an den König sagt, eine härtere
Strafe tragen müssen: er hatte keinen Theil an den Kämpfen und Siegen des
ruhmreichen Krieges nehmen dürfen.
Dieselbe Strafe traf den größten Theil der sächsischen Armee, und es wird
in derselben Leute gegeben haben, die dieselbe schwer empfanden. Die säch¬
sische Infanterie wurde von Namur und Lüttich nach der Gegend von Crefeld
und Geldern verlegt und dann über den Rhein zurückgeführt. Blücher berichtete
seinem König, die Theilung könne in keinem Falle bei der Feldarmee vollzogen
werden, der Geist der Infanterie sei zu verderbt, der Abscheu der preußischen
Truppen vor den sächsischen zu groß, als daß sie gemeinsam gegen den Feind
geführt werden könnten. So wurde denn die Trennung um die Mitte des
Juni in Westphalen ausgeführt. Aus dem Theil, der an Preußen fiel, bildete
man ein Regiment, welches nach der Elbe verlegt wurde. Die 100 Mann
Wache, welche am 2. Mai in Lüttich ihre Schuldigkeit gethan hatten, wurden
(mit Ausnahme des Hauptmanns Geibler, der ablehnte, in preußische Dienste
zu treten) zum zweiten Garderegiment verseht. Die andern Truppen des Corps
gingen nach Sachsen zurück.
Bei der Reiterei und Artillerie wurde schon am 7. und 8. Mai die
Theilung in Ruhe und Ordnung vollzogen, und von der ersteren Waffe machte
der Theil, der an Preußen kam, den Feldzug im dritten Armeecorps ehrenvoll
mit. während bei der Artillerie der Commandeur durch ungehöriges Auftreten
gegen den General Bülow seine Truppe um die Theilnahme am Kriege brachte;
dieselbe mußte nach Jülich verlegt werden.
Das war der Ausgang der sächsischen Frage vor fünfzig Jahren. „Es ist
möglich", meint Königer, „daß dieses Ende sich vermeiden ließ, wenn Preußen
weniger eilig mit der Theilung der Truppen war, oder wenn es, wie zu Anfang
April in Wien zur Sprache kam, das sächsische Corps dem Herzog von Wellington
überlassen hätte. „Allein," so fährt Königer fort, „Preußen hat in seinem Rechte
gehandelt, es hat keine Verletzung der Treue verlangt, und wer kann es tadeln,
daß unter den drängenden Ereignissen jener Tage die Voraussicht für das,
was nachher nicht eintrat, nicht aufkam? Gewiß war selbst von keinem unter
allen, auf welche sich die Schuld vertheilt, vorauszusehen, daß es so weit kommen
werde. Die Mannschaft, welche sich des schwersten Vergehens schuldig machte,
war verleitet und verwirrt. Die Offiziere, welche zum Theil ihre Stellung
und Pflicht in weit höherem Grade verkannten, suchten doch ohne Zweifel keine
Meuterei, und selbst der Hof, der das Heer in diese unglückliche Lage brachte,
hat sich schwerlich den ganzen Ernst derselben klar gemacht. Allein die Offiziere
und Soldaten hatten noch das für sich, daß ihre Verwirrung in der Treue,
die sie gelobt, ihre Wurzel hatte; der Hof dagegen hat leichtfertig mit dieser
Treue gespielt."
Dieses Urtheil ist vollkommen begründet. Schon am 12. März war dem
König Friedrich August die Forderung der damals wieder ganz einigen Gro߬
mächte auf unbedingte Zustimmung zur Theilung Sachsens zugegangen, eine
Forderung, an deren Ernst er durchaus nicht mehr zweifeln konnte. Aber bei¬
nahe zehn Wochen, bis zum 18. Mai. zögerte er, auf dieselbe einzugehen und
den Theil von Volk und Heer, welchen er verlor, seiner Pflicht und seines
Eides zu entlassen. Sechzehn Tage vorher fand die Meuterei in Lüttich statt,
knieten infolge der Hartnäckigkeit des Königs und der Umtriebe seines Hofes sieben
sonst jedenfalls brave sächsische Soldaten auf den Sandhaufen des Standrechts.
„Was anders/' fragen wir mit unserer Schrift, .konnte Friedrich August
zu dieser Verzögerung veranlassen, wenn nicht die Hoffnung auf eine Wendung,
welche nur durch Napoleon und selbst dann nur durch ein halbes Wunder möglich
war?" — „Wie Blücher darüber am 6. Mai an ihn schrieb, so hat selten
ein General zu einem König gesprochen. In einem fünfundfünfzigjährigen
Dienstleben, sagte er, hätte er das Glück gehabt nur das Blut seiner Feinde
zu vergießen, jetzt zum ersten Mal sei er genöthigt worden, ein blutiges Gericht
in der eignen Armee zu verhängen. Daran trage der König die Schuld; denn
Befehle geben und Befehle dulden werde vor dem Allwissenden als dasselbe
betrachtet."
Industrie und Schule. Mittheilungen aus England von Alfred Tylor. Deutsch
bearbeitet und mit einem Anhang über englisches Unterrichtswesen vermehrt
von Bernhard v. Guglcr. Stuttgart, Verlag von W. Nitzschke, 1865.
551. S. 8.
Der Verfasser des Originals dieser Schrift, Gießereibefcher in London und
Vorstand im Comite einer dortigen Schule, giebt über die Verhältnisse der
englischen Arbeiterbevölkerung, Arbeiterverbindungen und Arbeitseinstellungen
Versorgungsgesellschaften u. tgi. vielfach interessante Mittheilungen. In Be¬
treff des Schulwesens dagegen enthält sein Buch mehr Betrachtungen als That¬
sachen, auch gehört er einer Partei an, welche die Schule dem Staate aus den
Händen genommen und der freien Entschließung der Eltern sowie freiwilligen
Geldbeiträgen von Schulfreunden überlassen sehen will. In Deutschland wird
nicht leicht jemand diese Ansicht billigen, wie sehr man auch das andere Extrem
abzuweisen hat, nach welchem gewisse Leute auch hier alles vom Staate er¬
warten. Dennoch wird Manchem die Darlegung der Meinung jener Partei
interessant sein, nur hätte der Verfasser dann gründlicher aus die englischen
Schulzustände selbst eingehen müssen. Auch sollte man nach dem Titel des
Originals mehr Berücksichtigung des Jneinandergreifens von Industrie und
Schule, wie es sich z. B. in dem Conflict zwischen Kinderarbeit und Schul¬
besuch darstellt, erwarten. So bedürfte dasselbe einer Bearbeitung für das
deutsche Publicum und namentlich einer Ergänzung, die das ganze Unterrichts¬
wesen Englands in Betracht zog, und diese ist hier von dem Uebersetzer, welcher
als Rector der Stuttgarter polytechnischen Schule den Beruf dazu hatte, in sehr
dankenswerther Ausführlichkeit in einem Anhang geliefert, den wir im Folgenden
auszugsweise mittheilen, soweit er sich mit den Universitäten und Gelehrten-
schulen beschäftigt.
Im Allgemeinen ist über die englischen Schulen zu bemerken, daß sie ein
starkes Gewicht auf Charakterbildung. Belebung des Willens und der Thatkraft
legen, der individuellen Entwickelung möglichst viel Spielraum gewähren, zu¬
gleich aber durch strenge Disciplin an Unterwerfung unter Gesetz und Regel
zu gewöhnen suchen, während doch die jungen Leute sich in manchen Be¬
ziehungen freier bewegen dürfen und weniger überwacht sind als bei uns.
Sehr viel wird aus Kräftigung des Körpers gehalten. Systematische Turn¬
übungen zwar kennt man nicht, wohl aber haben die meisten Schulen, selbst
die Universitäten ihre „elreens" (Wiesenplätze) für Cricket. Football und andere
nationale Spiele, und dieselben werden sehr fleißig benutzt, da die Knaben und
Jünglinge nicht wie in Deutschland den größern Theil ihrer freien Zeit mit
Schularbeiten überladen sehen. Weniger lobenswerth ist die Rolle, welche das
Prämienwesen in England spielt. Zwar gehen die feierlichen Bertheilungen
Von Preisen nicht mit so widerwärtigen Pomp vor sich wie in Frankreich, aber
immerhin sind sie öffentliche Acte, über welche die Zeitungen mit Namenan¬
gaben ausführlich Bericht erstatten. An höhern Lehranstalten haben die Preise
oft auch bedeutenden materiellen Werth, an den niedern giebt man kleine
Prämien für lobenswerthe Leistungen jeder Art, und außerdem wird der Ehr¬
geiz durch häufige Versetzungen angespornt. An vielen Schulen kommt es vor,
daß die Schüler nach jeder Stunde in andrer Ordnung sitzen, indem die
Plätze je nach den Antworten auf bestimmte Fragen gewechselt werden.
Universitäten im deutschen Sinn giebt es in Großbritannien und Irland
nicht. Die Hochschulen der vereinigten drei Königreiche sind vielmehr ungefähr
das, was unsre philosophischen Facultäten sind, nur greifen sie einerseits durch
Aufnahme unsrer Gymnasialstudien tiefer herab, andrerseits durch Einreihung
einiger allgemeinen Fächer andrer Facultäten weiter aus; auch werden die
Studenten in den älteren englischen Universitäten nicht als der Schuldisciplin
Entwachsene, sondern etwa wie die Zöglinge der sächsischen Fürstenschulen
behandelt.
Zwar werden auch an den englischen Universitäten gewöhnlich vier Ab¬
theilungen unterschieden, die sich ,Meu1tiW" nennen, dieselben haben aber sehr
wenig mit unsern Facultäten gemein; in der theologischen finden wohl einige
Vortrage über theologische Gegenstände, in der medicinischen einige über Heil¬
kunde, in der juristischen einige über Fächer der Rechtswissenschaft statt, aber
alles dies ist Nebensache, und sowohl nach der Zahl der Unterrichtsgegenstände
als nach der der Lehrer nimmt an allen Universitäten, namentlich aber an den
beiden größten in England (Oxford und Cambridge) die ?g.ente^ ok ^res,
die philosophische Abtheilung b/i weitem den größten Raum ein. Die Fach¬
bildung liegt sast ganz außerhalb der Hochschule. Wer sich zum Arzt ausbilden
will, geht entweder in besondere medicinische Schulen oder schließt sich an einen
prakticirenden Jünger des Aeskulap an. Der nach einer Advocaien- oder
Richterstelle strebende junge Mann sucht sich in einem „Inn" das nöthige Wissen
zu verschaffen. Der zum Geistlichen Bestimmte studirt entweder privatim die
theologischen Disciplinen, welche die Universität nicht lehrt, oder besucht ein
Seminar zu diesem Zweck, wobei zu bemerken ist. daß nach Bischof Whatelcy
„die Theologie keine Wissenschaft" und daß nach englischer Ansicht Hebräisch
dem Theologen nicht viel nöthiger als Sanskrit ist.
Die drei Königreiche haben zusammen elf Universitäten, von denen zwei
(eine katholische und eine protestantische) auf Irland, fünf auf Schottland und
vier (Oxford. Cambridge, Durham und London) auf England kommen. Außer¬
dem hat „Kings College" in London ganz die Einrichtung einer Hochschule,
doch führt es nicht den Namen „vniversitz", weil es keine akademischen Grade
ertheilt. Das Recht nämlich, solche Grade zu verleihen, steht nur gewissen
Körperschaften zu, und eine solche Körperschaft führt eben den Namen llruvei'sit,^,
die dazu gehörigen Lehranstalten heißen „volle^Sö". Jene Körperschaft entspricht
ungefähr unseren Universitätssenaten oder Prüfungscommissionen, doch sind die
Mitglieder derselben keineswegs immer als Professoren thätig.
Die protestantische Universität in Dublin ist 1691, die katholische erst
18ö0 gegründet. Die fünf schottischen Hochschulen (in Edinburg, Glasgow,
Se. Andrews, zwei in Aberdeen) sind im fünfzehnten und sechzehnten Jahr¬
hundert entstanden. Oxford und Cambridge gehen in ihren Ansängen sogar auf
das dreizehnte Jahrhundert zurück, ganz neu in England sind die Universitäten
London, welche 1828, und Durham. welche 1837 gestiftet wurde.
Die alten Hochschulen ruhen sämmtlich auf Stiftungen und Vermächtnissen
von Privatleuten. Der Staat hat auf sie keinerlei, directen Einfluß, wie er
sich überhaupt um das Unterrichtswesen so gut wie gar nicht kümmert. In
den Familien einzelner Stifter haben sich Stimmen bei Behebung von Frei-
stellen und Lchrstüblen fortgeerbt, im Uebrigen werden alle Angelegenheiten der
Universitäten von der oben erwähnten Körperschaft besorgt, welche sich durch
Wahlen ergänzt,
Die gewöhnliche Dauer der Studien an einer Universität beträgt drei bis
vier Jahre, wobei indeß nicht unerwähnt bleiben darf, daß in jedem Jahre
mindestens fünf, in Schottland sogar sechs Monate Ferien sind. Wünscht der
Studirende schließlich ein Zeugniß darüber, daß er die Hochschule mit Erfolg
durchlaufen, so macht er ein Examen vor der „vniversitv". Besteht er dasselbe,
so erwirbt er die Würde eines „baenelor vt' arts (oaeealaureus artium) und
damit das Recht, seinem Namen künftig ein L, L.. hinzuzufügen. Diese Würde
kann ungefähr mit unserm philosophischen Doctor verglichen werden, doch ist
sie leichter zu erlangen. Zwar ist die Zahl der Gegenstände, in denen der Be¬
treffende geprüft wird, ziemlich groß. An der londoner Universität wird in
Latein, Griechisch. Englisch, Französisch und Deutsch, in Geschichte und Geo¬
graphie, Physiologie. Logik, Moral, Elementarmathematik, Astronomie, Physik
und Mechanik examinirt. In Oxford und Cambridge zerfallen die Prüfungs-
gegenständc in vier Gruppen: 1) Humanitätswissenschaften, zu denen alte
Sprachen, Archäologie, Philosophie, Bibelkunde, Glaubenslehre und Kirchen¬
geschichte gerechnet werden. 2) Mathematik und Physik. 3) Naturgeschichte.
4) Rechtslehre und neuere Geschichte. Aus der ersten Gruppe müssen sich alle
Kandidaten ohne Unterschied examiniren lassen, von den andern Gruppen haben
sie mindestens eine zu wählen. Aber eine Ausarbeitung von einiger wissen¬
schaftlichen Selbständigkeit wird nicht gefordert, sondern nur Reproduktion des
Gelernten. Die Erwerbung des Bachelor-Grades ist sehr häusig auch unter
denen, die in keinen gelehrten Beruf eintreten; denn es gehört zum Begriff
einer standesmäßigen Erziehung, daß allgemeine, besonders classische Studien
an einer Hochschule gemacht werden.
Dem vorschriftsmäßigen Examen für den genannten Grad kann weitere
Ausdehnung gegeben werden, indem den dazu sich erbietenden Kandidaten in
der „lZxamination lor novours" Gelegenheit geschaffen ist, sich auch in andern
als den unerläßlichen Fächern prüfen zu lassen. Dem Geprüften wird dann
bezeugt, daß er sich den Grad „mit Auszeichnung" erworben, und Oxford und
Cambridge ertheilen in solchen Fällen überdies Preise. Höhere akademische
Würden sind N. ^. (Magister irrtium), L. 0. I.. ldaedelor in tus civil lap)
oder Baccalaureus der Rechte, L. v. (wenelor in äivimtv) oder Baccalaureus
der Theologie; noch höhere v. L!. 1^., Doctor der Rechte, und v. v., Doctor
der Theologie. Medicinische Grade sind auch vorhanden, werden indeß selten
erworben, v. N. oder Doctor der Musik kann man blos in Oxford werden.
Das Aufsteigen von einem niedern Grade zu einem höhern kann nur nach be¬
stimmten Zwischenzeiten, gewöhnlich von zwei Jahren, erfolgen, nach be-
dentender wissenschaftlicher Befähigung aber wird dabei viel weniger gefragt,
als nach der Gebühr, die zwanzig bis fünfzig Pfd. Se. betragt. Die juristischen
Grade sind ohne tiefere Kenntniß des Rechts zu haben, woraus sich erklärt,
daß nicht selten Geistliche Doctoren der Rechte sind.
Verlangt man an den Universitäten für die höhern akademischen Würden
nicht gerade den Nachweis fortgesetzter Beschäftigung mit der betreffenden Wissen¬
schaft, so findet er. wo er beigebracht wird, doch Anerkennung. Und dasselbe
ist der Fall bei den Prüfungen, welche die Bischöfe mit jungen Theologen vor
der Ordination abhalten. Gewöhnlich geht ein solches Examen, durch welches
man sich den Titel „Keverenä" (Ehrwürden) erwirbt, nicht viel über das
Bachelor-Examen hinaus, es gereicht dem Candidaten aber zur Empfehlung,
wenn er den Beweis liefern kann, eingehendere theologische Studien gemacht
zu haben, und das geschieht jetzt am einfachsten durch Vorlegung eines Zeug¬
nisses, daß er sich dem seit einiger Zeit bei den Universitäten Oxford und
Cambridge eingeführten „freiwilligen Examen in der Theologie" unterworfen,
welches einige Zeit nach dem für das Baccalaureat bestanden werden kann,
wenn die dafür vorgeschriebnen (beiläufig ziemlich oberflächlichen) Vorlesungen
besucht sind. Unter der höheren Geistlichkeit Englands hat es niemals an
Männern gemangelt, welche eine gründlichere theologische Bildung achteten, und
der Wunsch, hierzu Gelegenheit zu schaffen, hat hauptsächlich die Gründung der
Hochschule in Durham veranlaßt. Dorthin wendet man sich jetzt vorzugsweise,
wenn man ausgedehntere theologische Studien zu machen beabsichtigt.
Betrachten wir die englischen Universitäten einzeln, so hat Oxford die
früheste Blüthe aufzuweisen und zugleich den größten Besitz. Man schätzt den
jährlichen Ertrag aus dem Vermögen dieser Universität auf 160,000 Pfd. Se.
oder mehr als eine Million Thaler. Sie zählt nicht weniger als vierundzwanzig
zu verschiedenen Zeiten, von 12Si> bis 1714 entstandene, besonders dotirte
Colleges, von denen jedes sein eignes Gebäude, seinen besondern Vorstand und
sein specielles Lehrercollegium hat. Was alle zusammenhält, ist lediglich die
gemeinsame University, die wieder ihr besonderes Gebäude besitzt. Mit Aus¬
nahme der fünf kleinsten, die „Halts" genannt werden, verfügt jedes College
über eine Anzahl Pfründen für solche junge Männer, die nach überstandnen
Baccalaureatsexamen hier noch längere Zeit den Studien obliegen wollen. Wer
in eine solche Pfründe (die in 100 und 400 Pfd. Se. jährlich und freier
Station besteht) eingesetzt ist, heißt ,FsI!on" (College, Genosse). Im Ganzen
bestehen in Oxford S40 solche Pfründnerstellen, englisch I^IIonsdips, von denen
ein Theil nur an Söhne bestimmter Familien oder Kandidaten gewisser Graf¬
schaften vergeben werden darf, während die übrigen durch ein Examen erlangt
werden.
Außer den Fellows wohnen und speisen in den Colleges auch die Studenten,
die eine bestimmte Kleidung, wenigstens eine vorgeschriebne Mütze, den Irsnener
seiner schirmlosen Ulanenmützc ähnlich) tragen. Manche derselben beziehen
Stipendien, viele erhalten wenigstens Wohnung und Essen unentgeltlich. Von
einem Studentenleben wie an den deutschen Universitäten ist nicht die Rede.
Nur wenn in den Gebäuden der Colleges kein Raum mehr ist, darf der
Studirende eine Privatwohnung nehmen, dann aber immer nur in besonders
dazu bestimmten Häusern der Stadt. Wie es sonst in den Colleges zugeht,
beschreibt Thackeray im „Arthur Pendennis" ausführlich. Ursprünglich sollten
die. Colleges keine Lehranstalten sein, sondern bloße Alumnate oder Complete.
Die Vorlesungen waren in den Localitäten der University und zwar von den
Mitgliedern derselben zu ertheilen. Jetzt kommen öffentliche Vorträge durch die
hierfür besoldeten Professoren selten mehr vor, der Unterricht wird vielmehr
an jedem einzelnen College von verschiedenen Lehrern, die aus der Zahl der
Fellows genommen sind, auf ihren Zimmern ertheilt. Jeder neu ankommende
Student wird einem Fellow zugewiesen, welcher als „Hofmeister" (tutor) das
Verhalten desselben zu überwachen, dessen Studien zu regeln und dessen ge-
sammte Angelegenheiten zu ordnen und zu verwalten hat. Dieser Hofmeister
nimmt bisweilen den Unterricht seines Pflegebefohlenen und dessen Ablichtung
für das Bochelor-Examen allein in die Hand, bisweilen überträgt er einen
Theil dieser Aufgabe auf einen andern Fellow, häufig auch tritt er die ganze
Unterweisung des betreffenden jungen Mannes an einen oder mehre Collegen
ab und besorgt nur die Ueberwachung des Studiums und des gesammten Thuns
und Treibens seines Zöglings.
Der Tutor beschäftigt sich mit den ihm zugetheilten Musensöhnen in ge¬
meinschaftlichen Lehrstunden, von denen jedoch nur wenige auf den Tag kommen,
regt zu Privatarbeiten an, ertheilt Rath für die Benutzung von Büchern, giebt
auch gelegentlich Aufsätze auf, die er dann durchgeht. War ein Student, welcher
das Examen für den B. A.-Greld machen soll, nicht fleißig, so muß ihm im
letzten Jahre ein „Privatlehrer" (private tutor), wieder aus dem Kreise der
Fellows, Hilfe bringen, eine Thätigkeit, die. der unsrer „Einpauker" gleich,
mit dem technischen Ausdruck „Org-awing" (Stopfen z. B. von Geflügel oder
Würsten) bezeichnet wird und sehr häufig in Anwendung kommt.
Eine Verpflichtung, sich als Tutor verwenden zu lassen, erwächst dem
Fellow aus seiner Pfründe nicht. Wenn er aber mehre Studenten annimmt
und nicht blos als Beaufsichtiger. sondern auch als Lehrer derselben thätig ist,
so erzielt er damit ein beträchtliches Einkommen, und so bleibt mancher zeit¬
lebens am College. Da indeß die Fellows mit Ausnahme des jedesmaligen
aus ihrer Mitte gewählten Vorstandes des Colleges nicht heirathen dürfen, so
treten die meisten nach einigen Jahren in eine Pfarre oder ein Schulrectorat
über, wozu die Universität selbst, welche das Patronat über zahlreiche Stellen
der Art besitzt (Oxford und Cambridge habe» zusammen über 700 Pfarreien zu
vergeben) behilflich sein kann. Andere Fellows rücken zu Mitgliedern der
University auf.
In Cambridge sind die Einrichtungen denen von Oxford im Wesentlichen
ähnlich. Es giebt hier siebzehn Colleges, von denen das älteste im Jahre 1257
gegründet wurde, und nicht weniger als 430 Fellowships. Auch an der alten
(protestantischen) Universität in Dublin verhält sichs ähnlich, nur in kleinerem
Maßstab; denn dieselbe hat nur ein großes College. Die schottischen Hoch¬
schulen, die beiläufig junge Leute von dem Alter unsrer Quartaner und sehr
geringen Vorkenntnissen zulassen und wegen ihrer nur mäßigen Leistungen in
Mißcredit stehen (nur Edinburg hat Ruf als gute Schule für Mediciner) und die
drei neuen englischen schreiben keine Tutoren vor und lassen die Studenten wohnen,
wo sie wollen. Damit fällt auch das Privatlehrersystem weg; der Unterricht
wird an diesen Anstalten von den Professoren wie bei uns in öffentlichen Vor¬
trägen ertheilt.
Die Gründung der londoner Universität wurde durch die confessionelle
Ausschließlichkeit der beiden englischen Universitäten veranlaßt. Oxford und
Cambridge waren früher nur Mitgliedern der orthodoxen Hochkirche zugänglich.
Jeder Katholik nicht blos, sondern auch jeder Dissenter war für sie rechtlos, und
Dissenter ist jeder, der sich nicht vollständig zu den neununddreißig Artikeln
der anglikanischen Kirche bekennt. Erst 1854 wurde jener Bann gebrochen/)
indem ein Parlamentsbeschluß die beiden Hochschulen zwang, Dissenters zu den
Studien und Prüfungen zuzulassen. Inzwischen hatte 1824 eine von Lord
Brougham geleitete Bewegung begonnen, die das Ziel vor Augen hatte, eine
jedem religiösen Bekenntnisse offenstehende große Hochschule zu schaffen. Die¬
selbe machte rasche Fortschritte, nach zwei Jahren waren bereits 160,000 Pfund
Se. gezeichnet, und 1828 konnte „I^onctoll University" eröffnet werden.
Eifrige Hochkirchler, welche sich durch die Anstrengungen der Dissenters
beunruhigt fühlten, und die es namentlich verdroß, daß gerade die Hauptstadt
des Reichs eine Ketzern zugängliche Hochschule erhalten sollte, waren gleichzeitig
bemüht gewesen, wenigstens für ein Gegengewicht zu sorgen. Besonders die
Geistlichkeit that, was sie konnte, und so gelang es. die nöthigen Mittel auf¬
zubringen, um in London eine zweite, aber aus die Staatskirche sich stützende
und theologische Vorlesungen in sich aufnehmende Hochschule ins Leben zu rufen.
Diese wurde ebenfalls 1828 eröffnet und erhielt, nachdem der König der Bitte
um Annahme des Patronats entsprochen, den Namen „Kings College".
Erst 1836 erlangte die London University das Recht, eine Prüfungs¬
commission zur Ertheilung akademischer Grade zu bilden, und von da an blieb
jener Name «uf diese Körperschaft beschränkt, während die Hochschule selbst
die Benennung „London University College" erhielt. Jene Körperschaft prüft
auch für Kings College; da jedoch University College die Theologie ausschließt,
so kann London University keine theologischen Baccalaureate und Doctorate
ertheilen, und wenn Studenten von Kings College später nach solchen Titeln
Verlangen tragen, müssen sie sich nach Oxford oder Cambridge wenden.
Lehranstalten, welche sich „(Zolle^es" nennen und sich einer Hochschule
nach englischem Begriff auch mehr oder weniger nähern, ohne jedoch mit einer
„University- in Beziehung zu stehen oder von einer solchen anerkannt zu sein,
giebt es in den drei Königreichen noch mehre. Ja man hal. wie in Amerika,
sogar .Mle^es lor I.aäiöL", Damenhochschulen, von denen einige, z. B.
Queens College in Londo.« und die gleichnamige Anstalt in Glasgow einen
sehr ausgedehnten Lehrplan mit Latein, Griechisch, Mathematik und Philosophie
aufweisen.
Unsern Gymnasien entsprechen in England die sogenannten „ttmmmar-
Leliools". dach nur die älteren; denn die in neuester Zeit entstandenen gleichen,
indem sie außer den alten Sprachen auch neuere, sowie Mathematik und Natur-
Wissenschaften in größerer Ausdehnung lehren, als unsere Gelehrtenschulen,
mehr unsern Realschulen. Eine englische Vrammar-LeKool heißt „öffentlich"
(xudlie), wenn sie auf einem bestimmten Statut beruht und durch einen Ver¬
waltungsrath (truLtevs) überwacht wird. Alle andern Institute dieser Art —
und diese bilden die Mehrzahl — sind reine Privatunteinehmungen einzelner
Pädagogen, welchr niemandem Rechenschaft abzulegen haben. Diese Privat¬
gymnasien, welche sich oft den hochtönenden Namen von Akademien beilegen,
bieten die mannigfaltigsten Stufen in ihren Leistungen dar, und neben sehr acht¬
baren Anstalten finden sich auch solche, die auf Speculantenschwindel hinauslaufen.
Die Grenze zwischen der Universität und der auf sie vorbereitenden Schule
ist. wie schon angedeutet, in England nicht so streng gezogen, wie in Deutsch,
land, und zwar weder in Betreff des Lehrstoffs, noch hinsichtlich des Alters
der Schüler. Während englische Universitäten junge Leute mit sechzehn Jahren
zulassen, bleiben an den großen Grammar-schools die Schüler häufig bis in
ihr zwanzigstes Jahr.
Das höchste Ansehen unter den alten englischen Gymnasien genießt da»
1440 von Heinrich dem Sechsten gestiftete Etoncollege bei Windsor, welches
von den Söhnen der ersten Adelsfamilien besucht wird und gewöhnlich über
siebenhundert Schüler hat. Convict ist diese großartige Anstalt nur für 70 Frei¬
schüler. Den außerhalb wohnenden Zöglingen sind Tutoren aus den Lehrern
gesetzt. Alle Schüler haben besondere Tracht.
Die älteste Grammar-School ist das im Jahr 1387 gegründete Winchester
College. Ebenfalls aus alter Zeit stammt die Rugby School in der Nähe von
Coventry, die sich unter ihrem 1842 gestorbenen Rector Arnold, einem auch
in Deutschland bekannten tüchtigen Schulmanne, einen ehrenvollen Ruf erworben
hat. Andere angesehene alte Gymnasien sind Harrow School bei London,
dann Se. Pauls School und Westminster School. beide in der Hauptstadt
selbst.
Fast alle alten Gymnasien Englands haben Alumnate und bedeutendes
Vermögen , welches sich davon herschreibt, daß die ursprünglichen Schenkungen
meist in Grundstücken bestanden, deren Werth sich im Laufe der Zeit verviel¬
fältigte. Die Mehrzahl derselben bewahrt in ihren Einrichtungen und Bräuchen,
der Tracht der Schüler, selbst in der Lehrmethode zum Theil das Herkommen
früherer Jahrhunderte. Die Prügelstrafe (SoMriA) kommt in allen bei be¬
stimmten Vergehen in Anwendung, kann aber an den großen Anstalten dieser
Gattung nur vom Rector im Amtskleide vollstreckt werden und gilt nicht für
beschimpfend. In Eton tritt blos in der obersten Classe, bei achtzehnjährigen
Jünglingen, statt der Auspeitschung RückVersetzung in eine niedrigere Classe
ein, wo dann mit dem Degradirten bei neuen Vergehen keine Ausnahme von
der reßula daeuli gemacht wird. In Rugby wurde unter Arnold nur die
Lüge, in England das Schimpflichste Laster, mit Prügeln gestraft. Die Disciplin
ist durchweg stramm und auf Gewöhnung an strengen Gehorsam gegen die
Schulgesetze gerichtet; indeß fühlen die Schüler sich dadurch nicht gedrückt, da
man sie in Dingen, die nicht unter die Vorschrift fallen, wenig oder nicht be¬
engt. Den älteren Gymnasiasten ist. wie früher und theilweise noch jetzt auf
den sächsischen Fürstenschulen, eine gewisse Autorität über die jüngeren einge¬
räumt. Jeder Schüler der obern Classen hat einen „tag'" (wörtlich Plackholz,
dann etwa unser „Fuchs") aus einer unteren Classe, den er, allerdings unter
Controle des Tutors, maßregeln und zu allerlei Dienstleistungen anhalten kann,
den er aber auch gegen Angriffe andrer Schüler zu schützen pflegt — ein Pen¬
nalismus, der in Meißen und Grimma noch bis vor wenigen Jahren ebenfalls
in vergnüglichster Blüthe stand.
Bei Preisvertheilungen werden den Schülern nicht blos laute Beifallsbe¬
zeugungen gegen Kameraden und Lehrer gestattet, sondern man sieht ihnen auch Kund¬
gebungen des Mißfallens nach, wenn etwa eine Auszeichnung von ihnen nicht
für verdient betrachtet wird. Außer ernsten Feierlichkeiten haben die Anstalten
auch heitere Feste, Auszüge, Wettspiele, dramatische Aufführungen, bei denen
die Schüler die Unternehmer sind und die Lehrer sich nur anschließen. Die
innere Ausstattung der geräumigen, äußerlich meist sehr stattlichen Schulgebäude
ist höchst einfach. Man ehrt und schont die alterthümlichen Haus- und Schul-
geräthe, namentlich die Wandvertäfelungen, in welche abgehende Schüler ihre
Namen einschneiden dürfen; denn jede Schule ist stolz, wenn sie in diesen
Schnitzereien die Namen berühmter Männer aufweisen kann. Besondere Schul¬
zimmer für jede einzelne Classe (englisch: form) giebt es nur in Rugby und
auch hier erst seit Arnolds Zeit. In der Regel sind mehre Klassen in einem
großen Saale vereinigt, wo sie getrennte Gruppen von Bänken, je mit einem
Katheder, bilden. Der Rector kann von einem höhern Katheder den ganzen
Raum überblicken. Nur zuweilen werden diese Gruppen durch Herablassen
von Zwischenvorhängen einigermaßen geschieden. In den lateinischen Lectionen
wird großer Werth auf die Anfertigung von Versen gelegt, und zwar beginnt
die Uebung hierin damit, daß der Schüler die Ausgabe erhält, beliebige lateinische
Worte zu einem richtig klingenden Verse aneinanderzufädeln, der keinerlei Sinn
zu haben braucht, sondern nur die Regeln des Gradus ad Parnassum nicht ver¬
letzen darf. Deshalb heißt die erste Classe, die zur Fabrikation von Versen
angehalten wird, im Jargon der Schule „Nonsenso" (Unsinn), die nächsthöhere,
wo schon Sinn im Spiel verlangt wird. „Lense".
Von den neueren Gymnasien ist das in London befindliche mit KingS
College verbundene das bedeutendste. Es hat neun Classen und zerfällt von
der zweiten derselben an in zwei Parallelabtheilungen: eine classische (äivision
ok olassies) und eine Realabtheilung (äivision ok moclorn Instruktion). Die
Nealabtheilung setzt zwar das Lateinische bis in die oberste Classe fort, lehrt
aber kein Griechisch, sondern statt dessen Physik, Chemie, Zeichnen und höhere
Mathematik. Auch mit London Universtty College ist ein eignes Gymnasium
verbunden, die „Mior Ldiooi^ , die gleichfalls eine Nealabtheilung hat, aber
nicht soweit wie die Kings College School geht, da ihre Zöglinge früher in
das College selbst übertreten. Beide letztgenannte Schulen kennen das Er¬
ziehungsmittel der körperlichen Strafen nicht, und dasselbe gilt von den meisten
andern neueren Gymnasien. Eine der besuchtesten londoner Schulen ist die 1834
von der Gemeinde der Altstadt auf Grund einer alten Stiftung erneuerte, Gym¬
nasium, Realschule und Bürgerschule zugleich umfassende ,Mo ok Lonclon
Lelwol".
Die Studien sind in England nicht blos an den Universitäten, sondern
auch an den Gymnasien sehr kostspielig. Man rechnet für die nothwendigen
Ausgaben des Studenten in Oxford 300 Pfd. Se., also 2000 Thaler jährlich,
in Cambridge 260, in London 200, in Durham 160 Pfd. Se., also immer
noch 1000 Thaler unsres Geldes. An den großen Gymnasien werden die
Kosten für das Nothwendige auf 100 bis 200 Pfd. Se. zu veranschlagen sein,
da das Schulgeld allein schon 10 bis 26 Pfd. Se. beträgt und für die Pension
bei einem Lehrer in Eton 120 Pfd. Se. gezahlt werden.
Um so höher ist der Werth einer Anstalt, welche auch Knaben aus den
nicht vermöglichen Classen des englischen Volks Gelegenheit darbietet, Gymnasial¬
oder Realschulbildung zu erlangen, ja im glücklichen Fall die Universität zu
beziehen. Es ist dies das 1SS2 von Eduard dem Sechsten gestiftete „Christs
Hospital" — ein Alumnat, welches jetzt über fünfzigtausend Pfund jährliche
Einkünfte hat und gegen 1S00 Knaben völlig kostenfrei erzieht. Bei der ge¬
nannten Schülerzahl ist eine mit der Anstalt verbundene Vorschule in Hereford
eingerechnet, welche Knaben von 7 bis 10 Jahren, wenn sie lesen können,
ausnimmt, sie in den Elementarfächern und den Anfängen der lateinischen
Sprache unterrichtet und die besseren mit 12 bis 14 Jahren der Hauptanstalt
zu weiterer Ausbildung zusendet. Hier gliedert, sich der Unterricht nach drei
Hauptrichtungen, sodaß eine classische, eine mathematische und eine gewerblich-
commerzielle Abtheilung zu unterscheiden ist, je nach dem Vorherrschen entweder
der alten Sprachen oder der Mathematik und des Zeichnens oder endlich der
neuern Sprachen. Die meisten Schüler werden für einen industriellen Beruf
vorbereitet. Von den Schülern der mathematischen Abtheilung widmen sich
viele dem Seedienst, und wenn diese später das dafür bestimmte Examen be¬
stehen , empfangen sie eine Ausstattung. Nur die Elite der Schüler wird zu
den eigentlichen Gymnasialstudien zugelassen und für den Abgang zur Universität
ausgebildet, wo 16 Freistellen für sie bestehen. Christs Hospital steht unter
dem Patronat der Krone und einem Kuratorium, welches zunächst aus den
Gemeindebehörden der londoner City gebildet ist, dem sich aber jeder anschließen
kann, der eine Einzahlung von 600 Pfund leistet. Solcher beitragender Mit¬
glieder, von denen jedes das Recht hat, je nach vier Jahren einen Knaben zur
Aufnahme vorzuschlagen, giebt es jetzt gegen fünfhundert. Auch an dieser An¬
stalt sind die Einrichtungen zum Theil noch recht alterthümlich, namentlich
tragen die Knaben noch heute die zur Zeit der Stiftung eingeführte Kleidung,
gelbe Strümpfe, blauen Leibrock mit Metallknöpfen und rothen Gürtel, nach
welcher sie im Volksmunde „blue eoats" genannt werden.
In Schottland übernehmen gewöhnlich die Universitäten zugleich die Auf¬
gabe der Gymnasien. Wo dort eine besondere Gelehrtenschule besteht, führt
sie den Namen „HiA LeKool" oder „^eaäein?". Die beiden besten dieser
Anstalten befinden sich in Edinburg. Die dortige High-School stammt aus der
Zeit vor der Reformation, hat jetzt einen Deutschen zum Rector und zählt
etwa 400 Schüler. Die dortige Academy wurde 1824 auf Actien gegründet^
hat etwa die gleiche Schülerzahl wie die High-School und enthält neben der
classischen Abtheilung eine Realabtheilung. Diesen Instituten am nächsten stehen,
auch in Betreff der Frequenz, die High-School in Glasgow und die Academy
in Perth. Uebrigens aber wird in Schottland fast an jeder städtischen, ja so¬
gar an mancher Dorfschule Latein getrieben.
Für technische Berufsbildung ist in England ebensowenig durch umfassende
Lehranstalten gesorgt als für gelehrte. Es giebt keine gesonderten Realschulen,
keine Gewerbschulen, keine polytechnische Schule wie in Deutschland, Frankreich
und der Schweiz") und mit einziger Ausnahme der londoner Bergbauschule
auch keine eigentliche Fachschule. Wie England trotzdem seine industrielle Höhe
erreicht, erklärt Herr v. Gugler in überzeugender Weise aus dessen natürlicher
Ausstattung. Er sagt darüber:
„Wer von Haus aus wenig bemittelt ist, muß anders wirthschaften als
der Reichgeborne. Es giebt aber kein Land in Europa, welchem England nicht
durch Reichthum an den von der Natur gebotenen Hilfen weitaus überlegen
wäre. Die sorglose, verschwenderische Art, mit welcher in England so häufig
der Salinenbetrieb, die Ausbeutung der Kohlen- und Erzgruben, zuweilen selbst
die Gewinnung des Eisens durch Leute ohne ausreichende Bildung geleitet
wird, ist nur möglich, wo die Vorräthe unerschöpflich scheinen. Auch in den
Gewerben ist der Betrieb keineswegs immer rationell und sparsam. Deutsche
Chemiker waren erstaunt, als sie zur Zeit der ersten londoner Ausstellung auf
Reisen im Lande wahrnahmen, welche Werthe bei manchen chemischen Industrie¬
zweigen aus Mangel an theoretischem Wissen ungenützt verloren gingen.
Wenn mit großartige» Mitteln massenhaft producirt und leicht nach allen Theilen
der Welt abgesetzt wird, fällt immerhin ein sehr bedeutender Gewinn ab, mag
dieser auch nicht jedesmal der größtmögliche sein, während ein kleinerer und
deshalb verhältnißmäßig theuerer Betrieb überall nach sorgfältigster Ausnutzung
trachten muß." — „Wenn bei englischen Ingenieuren der Spruch: Probiren über
Studiren ziemlich in Geltung blieb, so ist dies erklärlich, weil meist das Ca¬
pital groß und das Material wohlfeil ist. Eine unter ungünstigern Umständen
und mit beschränkten Mitteln arbeitende Industrie wird sich zwar des Experi¬
ments nie entschlagen können, müßte aber schon durch Rücksichten der Sparsam¬
keit veranlaßt werden, sich beim Experimentiren von der Theorie leiten zu lassen,
Abgesehen übrigens vom directen Probiren trägt eine Industrie die Gewähr
für den aus Erfahrung entspringenden Fortschritt um so sicherer in sich selbst
je schwunghafter sie bereits im Gange ist und je weiter man die Arbeitstheilung
führen kann. Sobald einmal ein Industriezweig eine Stufe erreicht hat, auf
welcher Erfahrungen und Beobachtungen mannigfacher Art sich häufen, muß
er rasch und rascher vorwärts kommen. Will man in einem andern, weniger
erfahrenen Lande nachkommen, so müssen zugleich die geistigen Mittel der
Wissenschaft möglichst angespannt werben, und daß diese nicht trügen, hat sich
in Frankreich wie in Deutschland hinreichend und in verschiedenen Richtungen
erprobt." Freilich „würde man irren, wenn man annehmen wollte, technische
Bildung werde in England gering geschätzt, oder es fehle dort gänzlich an
wissenschaftlich gebildeten Technikern. Der Engländer mißachtet in industriellen
Dingen nur eine sich übersehende, sich selbst genügende Theorie und das mit
Recht." Er greift gern nach theoretischer Belehrung, und es giebt unter den
englischen Technikern Männer von gründlichster Fachbildung, die sie sich entweder
im Ausland oder durch Privatstudien daheim erworben haben. Allerdings aber
ist diese Bildung, eben aus Mangel an Schulen, in England seltener wie in
Frankreich und Deutschland."
Die oben angeführte londoner Bergakademie («Aoverlunöut Lelrool ok Nimes)
entstand auf Grund der Einsicht, daß die lässige Wirthschaft im Bergwesen
trotz des Ueberflusses an Kohle und Metallen doch zuletzt üble Folgen haben
werde. 1835 wurde aus Anregung des Geognosten de la Beche das Museum
für praktische Geologie in London begründet, später wünschte de la Beche mit
dieser Sammlung eine von Staatswegen unterstützte Lehranstalt zur Heran-
bildung von tüchtigen Montanisten verbunden zu sehen, und die Regierung
ging darauf ein, fand aber ursprünglich Schwierigkeiten im Parlament, sodaß
die Anstalt erst 1851 zu Stande kam. Die dann angeregte Erweiterung der¬
selben zu einer polytechnischen Schule mit Staatsunterstützung war beim Par¬
lament nicht durchzusetzen; es wurde nicht mehr erreicht, als daß man mit ihr
eine Bildungsanstalt für praktische Chemiker verband. Die Bergbauschule hat
einen dreijährigen Cursus, in welchem Chemie. Metallurgie, Physik, Mineralogie
und Geognosie, angewandte Mechanik, Maschinenzeichnen, Bergbau und Hütten¬
kunde gelehrt werden. 1862 zählte die Anstalt gegen anderthalbhundert Schüler,
darunter jedoch nur 40 ordentliche, die übrigen hörten nur eine Auswahl aus
den Vorträgen der drei Jahrgänge. Ein ordentlicher Schüler zahlt ein Honorar
von 30 Pfund Se. für das Jahr, außerdem für dreimonatliche Uebung im
chemischen Laboratorium 12, im metallurgischen 15 Pfund Se. Am Schlüsse
jeden Jahres haben die ordentlichen Schüler eine Prüfung zu bestehen.
Für Architekten werden an dem I^näori Universit^ LolleZs Vorlesungen
gehalten, die indeß mehr die künstlerische als die constructive Seite des Faches
im Auge haben. Für Ingenieure besteht am Kings College eine besondere
Abtheilung, die jedoch keine eigentliche Fachschule ist; denn in dem auf drei
Jahre berechneten Lehrplane kommt Bauconstructionslehre nur während des
zweiten Jahres und blos mit zwei Stunden die Woche, Weg-, Wasser- und
Brückenbau nur während des dritten und ebenfalls blos mit zwei Stunden
Wöchentlich, Maschinenlehre nur mit vier Stunden ein Jahr hindurch vor. Die
übrigen Lehrgegenstände sind: reine Mathematik, descriptive Geometrie, Geodäsie,
geometrisches Zeichnen, Mechanik, Physik. Chemie. Mineralogie und Geognosie.
mechanische und chemische Technologie. Man sieht hieraus, daß diese Anstalt
mehr auf Vorbildung, auf Einführung in die Hilfswissenschaften des Ingenieurs
gerichtet ist. und daß sie nicht blos Ingenieuren dienen will, sondern Technikern
überhaupt. Die durch sie gebotene Gelegenheit, sich nach verschiedenen Seiten
hin auszubilden, wird nicht so benutzt, als sie verdiente, woran vielleicht das
hohe Schulgeld — 40 Pfund Se. jährlich — zum Theil schuld ist: die In.
genieurabtheilung hat gewöhnlich nicht mehr als 30 bis 40 Zöglinge. Jähr¬
liche Prüfungen sind auch hier eingeführt.
Zum Schluß noch einige Notizen über eine Anstalt, die in England einzig
dasteht. 1853 geschah es. daß der Professor Maurice, Lehrer der Theologie an
Kings College in London von dem Curatorium abgesetzt wurde, weil er in seinen
damals erschienenen „Ineologieal Lss^s" sich über einige Dogmen der Hoch,
kirche in ketzerischer Weise zu äußern gewagt hatte. Maurice. der bedeutendste
Vertreter dessen, was England überhaupt an wissenschaftlicher Theologie besitzt,
aber gerade deshalb dem orthodoxen Kretinismus der staatskirchlichen Reverends
verhaßt, widmete sich nun einer großen kirchengeschichtlichen Arbeit und nahm
daneben seine früheren Bemühungen um die Hebung des Arbeiterstandes mit
gesteigertem Eifer wieder auf. Namentlich trachtete er, während er sich bisher
mehr mit Verbesserung der äußern Lage des Arbeiters beschäftigt, jetzt nach
neuen Mitteln. demselben eine intellectuelle, sittlich-religiöse und selbst ästhetische
Ausbildung zu ermöglichen. Er entwarf den Plan zu dem „"WorKinZ meo's
vollLAe", fand uneigennützige Unterstützung bei den Professoren der London
University und andern Lehrern von londoner Unterrichtsanstalten und konnte
so schon 18S4 seine „Arbeiter.Hochschule" eröffnen. Unterrichtsgegenstände
an derselben sind: Religion, Latein und römische Geschichte, Griechisch, Französisch,
Deutsch. Holländisch, Italienisch. Spanisch. Englisch, Geschichte, Mathematik,
Rechnen, Handelslehre und Buchführung, Volkswirthschaftslehre. Zeichnen.
Chemie, Mechanik. Physiologie. Botanik, Experimentalphysik. Zoologie, Ge¬
ologie. Bergbau, Mikroskop, Psychologie, Musik und Gesang. Der Unterricht
findet Abends von 8 bis 10 Uhr statt. Der Eintretende muß mindestens
16 Jahre alt sein. Für die unterste Classe wird von dem Eintretenden nur
verlangt, daß er lesen und schreiben könne. Das eigentliche College aber geht
nicht blos in der Mannigfaltigkeit der Lehrfächer, sondern auch in Behandlung
und Umfang der einzelnen weit über alle ähnlichen Arbeiterschulen lMedg.ille's
Institutions) hinaus, sodaß die Bezeichnung der Anstalt als einer „Hochschule
für Arbeiter" sich rechtfertigt. In der That können die Zöglinge derselben,
wenn sie günstige Zeugnisse über den Erfolg ihrer Studien am College sich
erwerben, sich mit diesen bei der London University zur Erlangung eines akade¬
mischen Grades melden. Die wirkliche Ertheilung eines solchen an einen Schüler
des mauriceschen Instituts (an dem beiläufig im Jahre 1861 Latein von 23,
Deutsch von 20. Französisch von 104, Mathematik von 38 Zöglingen studirt
wurde) scheint indeß noch nicht vorgekommen zu sein, da Tylor eine so bedeut¬
same Thatsache sonst wohl erwähnt haben würde.
Der Verfasser des Originals hat ein offnes Auge für die Art und Sitte des
Volkes und ebenso für die Natur, der Bearbeiter hat das Buch wesentlich verbessert
und zwar theils durch Nachträge und Ergänzungen aus der Kenntniß, die
er sich als Pfarrer der protestantischen Gemeinde in Belgrad erworben, theils durch
Umschreibung des Ganzen für ein deutsches Publikum, welches die Dinge nicht wie
Denton vom Standpunkt der englischen Hochkirche und nicht durch die Brille der
Opposition gegen die von der englischen Regierung in der orientalischen Angelegen¬
heit befolgte Politik anzusehen vermag. Ob der Bearbeiter nicht noch mehr von
dem Enthusiasmus des Originals für die Serben hätte Hinwegthun sollen, lassen
wir unentschieden. Die Naturschilderungen sind sehr hübsch, namentlich die von der
Landschaft des Eisernen Thors. Das Buch kann auch als Führer für Touristen
dienen, welche Serbien bereisen wollen.
Daß eine eigentliche Geschichte des letzten Kriegs mit Dänemark noch nicht
geschrieben werden kann, bedarf kaum hervorgehoben zu werden. Indeß mag eine
geschickte Zusammenstellung dessen, was die Zeitungen über diesen Kampf mittheilten,
vorläufig dem Bedürfniß des großen Publicums genügen, und da hier dieses Ma¬
terial wirklich nicht übel verarbeitet ist, der Versasser auch im Ganzen den rechten
Standpunkt nach der politischen Seite des Gegenstandes hin einnimmt, so stehen
wir nicht an, das von Becks allerliebsten Talent reich illustrirte kleine Buch bestens
zu empfehlen.
Mittheilungen eines östreichischen Lieutenants,der unter Chiavone für die Bour-
bonen die Waffe» getragen. Der Verfasser beobachtet gut, hat ein hübsches Talent
für Naturschilderung und versteht zu erzählen. Seine Tiraden gegen die Piemontesen
sind abgeschmackt, seine Verherrlichung der Bourbonen erweckt Lächeln, und die fri¬
vole Art, mit der er unrühmliche Liebesabenteuer mit liederlichen Frauenzimmern,
darunter Schenkwirthinncn, Tabakskrämerinnen u, d„ einsticht, die nach seiner eignen
Andeutung nicht einmal alle wahr sind, ist auch kein Schmuck seines Referats, er
müßte denn sür die Wachstube geschrieben haben.
Beide Bücher sind im Geographischen Institut zu Weimar herausgekommen,
und beide tragen denselben Charakter einer starken Unselbständigkeit, oder um deut¬
licher zu sein, der Fabrikarbeit, die aus zwei oder drei Büchern Anderer ein drittes
oder viertes macht. „In allen Dingen benutze man die Erfahrungen Anderer"
sagt Herr Gras im Vorwort, und diese Regel ist gewiß sehr nützlich für den Reisen¬
den; Schriftstellern sollte sie aber nicht oder wenigstens nicht in dem Sinne die
Methode ihrer Arbeit angeben, wie hier geschehe» ist. Oder wie soll man es nennen,
wenn hier in erstgenannten Buche außer zahlreichen kleineren Stücken (z. B. bei der
Beschreibung Dresdens S. 10, Zittaus S. 53, der Luisenburg S. 107) ganze
große, mehre Seiten lange Abschnitte (z.B. Bremen, Norderney, Hannover, Spaa.
Eins, Wiesbaden, Luxemburg, Hamburg, 7 volle Seiten, und Kopenhagen, 10 volle
Seiten) vollständig aus den bädeckcrschen Reisehandbüchern ausge¬
schrieben sind, und wenn sich dasselbe (man vergleiche unter Anderm die Abschnitte
Felsberg, S. 7, Luxemburg, S. 19, Zweibrücken, S. 28. Baden-Baden, S. 36,
Constanz. S. 57, Hechingen. S. 102, Sigmaringen, S. 109, Gastein S. 292—295,
Laufen, Aussee, Leoben, S. 301 und 302, Meran, S. 376, Wieliczka, S. 438
mit dem, was Bädecker über die betreffenden Punkte bringt) im zweitgenannten
Buche fast im gleichen Maße wiederholt. Wie sollen wir ein solches Verfahren heißen,
zumal wenn niemals die Quelle genannt ist, aus der man geschöpft hat? Wir
find um die Antwort nicht verlegen; denn wenn es nicht Plagiat ist, so wird es
Wohl Plünderung sein.
Von der elften Auflage des Brockhaus'schen „ Convcrsations-
Lexikon" ist soeben mit dem 40. Hefte der vierte Band vollständig geworden.
Derselbe umfaßt beinahe den ganzen Buchstaben C und den Anfang von D (Cabral
— Dampfschiffahrt) und enthält wieder eine große Anzahl guter Artikel aus den ver¬
schiedensten Gebieten des menschlichen Wissens. Hinsichtlich der Geschichte verweisen wir
in Betreff der neuern Zeit auf die Artikel Chile und China sowie auf die Biogra¬
phien der Staatsmänner Cavour und Cobden; aus der Geschichte des Alterthums
auf die Artikel über Cäsar, Catilina und Cicero. Das Gebiet der Naturwissenschaft
zählt ebenfalls mehre vorzügliche Artikel, wie z.B. über Centralsonne, über Chemie,
Chlor, Cyan, über Cameraobscura, serner über eine große Anzahl Nutz-, Handels-
und Zierpflanzen (Cacao, Cacteen. Ceder, Citrone, Cocospalmc :c,). Auf technischem
Gebiet nennen wir: Conservirung der Lebensmittel. ferner die Artikel Kalorische
Maschin-, Clichircn, Dampfmaschine, Dampfheizung, Dampftochapparatc, Dampf¬
schiff. Aus dem Gebiet der Theologie sind von besondern, Interesse: Christenthum,
Christus, Cölibat, Concilien, Concordat, Cultus. Der Staatswissenschaften ge¬
hören an: Centralisation, Kolonien, Konstitution, Credit. Creditanstaltcn, vreclit
modilior ?c. Der Verehrer der Künste findet die Biographien von Calame,
Cornelius, Callot und Chodowiecki. Den Musiker werden unter andern die Artikel
über Chelard, Cherubim, Chopin, Element! interessiren, den Freund der Bühne die
Biographie der kürzlich verstorbenen Schauspielerin Crelinger.
Die „Wissenschaftliche" Beilage der Leipziger-Zeitung mißbilligt, daß
Ur. 24 d. Bl. in dem Artikel „Sachsen vor fünfzig Jahren" an die Theilung
Sachsens erinnert, und meint, daß die Grenzboten sich der „tactvollen Mäßigung"
hätten befleißigen sollen, mit welcher die übrigen sächsischen Blätter über jenes Er¬
eignis) geschwiegen. Zweitens verdrießt sie die heitere Sprache und Stimmung auf
den ersten Seiten des genannten Aufsatzes, indeß glaubt sie dafür in dem Umstände
einige Entschuldigung finden zu können, daß der Redacteur d. Bl. nicht Sachse,
soudern Schleswig-Holstcincr sei und so das „sächsisch-vaterländische Gefühl"
nicht haben könne, welches in Fragen dieser Art richtig empfinden lasst und eigent¬
lich allein competent mache. Hierzu haben wir zu bemerken:
1) daß der Gegenstand vor uns von dem officiösen Dresdner Journal in
drei langen Fcuillctonartikcln zur Sprache gebracht worden und unser Aufsatz ge¬
wissermaßen nur das tröstende Echo auf die dort ausgestoßner Klagen ist;
2) daß der Redacteur der Grenzboten nicht nur sächsischer Unterthan, und
zwar seit länger als vierzig Jahren, sondern — man wolle sich von dieser Notiz
nicht zu sehr angreifen lassen — sogar geborner Dresdner ist.
Auf das übrige Räsonnement der werthen Nachbarin einzugehen, wäre, wie jede
Discussion mit ihr, nutzlos; doch mag erwähnt werden, daß es von wenig Wahr¬
heitsliebe zeugt, wenn Verfasser des betreffenden Aussatzes unter den von uns be¬
nutzten Quellen gerade die wichtigsten und am meisten von uns ausgebeuteten, na¬
mentlich die Memoiren des k. sächsischen Ministers v. Senfft, vollständig verschweigt.
Nur so freilich rettet man, was gerettet werden soll.
Mit Ur. 27 beginnt diese Zeitschrift ein neues Quartal,
welches durch alle Buchhandlungen und Postämter zu be¬
ziehen ist.
Leipzig, im Juni 1863.Die Werlagshandlung.