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]]> Historische und Politische Aufsätze, vornehmlich zur neuesten deutschen Geschichte.
Leipzig, S. Hirzel. 1865.
Beim Beginn des Jahres ist es einem Blatt, welches die neuen Bil¬
dungen des deutschen Lebens zu beurtheilen hat, besondere Freude, seine
Thätigkeit mit Besprechung einer starken, aufsteigenden Menschenkraft zu be¬
ginnen. Der Name des Mannes, welcher der ersten Seite dieses Jahrgangs
vorgesetzt wird, ist den Deutschen nicht mehr fremd. Seine Gedichte, Volks,
wirthschaftliche Abhandlungen, einzelne Essays in größern Zeitschriften haben
ihm bereits den Antheil der Leser gewonnen. Eine fruchtbare Thätigkeit als
akademischer Lehrer, auf zwei Universitäten bewährt, hat ihn zu einem
Lieblinge seiner akademischen Jugend gemacht; wem Gelegenheit wurde die
Gewalt seines Vertrags vor größerem Publikum, zuletzt bei einem unserer
großen nationalen Feste zu beobachten, der hat sicher einen dauernden Ein¬
druck davongetragen. Das vorliegende Werk aber ist das erste größere Buch,
durch welches er als Lehrer der Geschichte mit seinem Volke in Verbindung tritt.
Es ist ganz darnach angethan seine Persönlichkeit und seine Ueberzeugungen in
weiten Kreisen bekannt zu machen und darf als der Anfang einer schriftstelle¬
rischen Thätigkeit betrachtet werden, welche ihn. wir sind davon überzeugt,
in den politischen Kämpfen unseres Volkes zu einem werthvollen Bundesge¬
nossen oder gefürchteten Gegner machen wird.
An jedem ersten größeren Werke eines frischen Talentes hängt eine edle
Poesie. Nicht nur für den Schriftsteller, welcher dadurch die Stellung bezeichnet,
die er in dem literarischen Leben seiner Nation zu behaupten beabsichtigt, eben
so sehr für die Leser. Unbefangene Anerkennung, so weit diese nicht durch die
eigene Parteistellung des Lesers beschränkt wird, und warme Empfindung für
das Originelle des neuen Bekannten kommen entgegen, das Tüchtige imponirt,
auch die Kritik scheut vorsichtig die Grenzen des Talentes abzustecken, eine
schöne menschliche Freude über den neuen Erwerb ist vorherrschend, zwischen dem
Schaffenden und dem Leser schlingt sich ein zartes Band, jeder von Beiden
hofft, daß es dauerhaft und heilbringend sein werde. Möge dem Verfasser sein
neues Werk reichlich diesen Gewinn eintragen.
Selten tritt aus dem Werke eines Historikers so kräftig die ganze geistige
Persönlichkeit hervor als hier. Nicht nur was er sagt, fesselt, zuweilen noch
mehr wie er es sagt. Es ist eine sehr eigenthümliche, starke Menschennatur,
welche sich ausspricht, hoher Adel der Gesinnung, ein leidenschaftlich bewegtes
Gemüth, ein rastloses Wogen der Empfindung, dem pathetischer Ausdruck
natürlich ist. Oft hört man aus den geschriebenen Zeilen den Sprechenden,
wie lebhast er schildert, wie reich das Detail seiner Kenntnisse ist, nicht die
Darstellung der Begebenheiten und Personen an sich, sondern ihre Bedeutung
steht ihm im Vordergrund, sein Urtheil ist überall kräftig, fest, zweifellos, es
wird allerdings gesänftigt durch hohe Bildung und durch humane Anerkennung
fremden Wesens, aber in jedem Augenblicke empfindet man, daß der Verfasser
seine ethischen und politischen Forderungen nachdrücklich geltend macht, er urtheilt
über Personen in der Regel mild und mit Pietät, aber er steht immer frei und
sicher seinem Helden gegenüber. Diese kurze Entschlossenheit des Urtheils geht
hervor aus einer rücksichtslosen Wahrheitsliebe und aus einem lauteren Idealis¬
mus, der das Leben und seine Aufgaben hoch und rein faßt und gegen Schwäche
und Halbheit die tiefe Abneigung einer kräftigen Natur empfindet. Der Ein¬
druck dieses mannhaften Wesens wirkt sehr mächtig, man darf wohl behaupten,
daß der Leser dadurch nicht weniger gefesselt wird, als durch Sprache und Dar¬
stellung.
Denn auch diese verdienen sehr beachtet zu werden. Noch wird dem deut¬
schen Historiker nicht leicht, gut zu schreiben. Hier aber strömt aus bewegter
Seele reich und voll der Sprache Quell, meist in langen Wellen dahinrauschend,
reich an charakteristischen Worten und Redewendungen, an kurzen, treffenden
Bezeichnungen, volltönend ohne Ueberfluß, häusig glänzend und doch ausdrucks¬
voll. Zuweilen läuft noch eine scharfe Rei Wendung mit unter, welche gespro¬
chenen Vortrag natürlich ist, von der vornehmeren Haltung der Drucksprache
absticht. Man erkennt, daß solche Energie des Ausdrucks dem Wesen des
Schriftstellers sehr natürlich ist. ,
Den Lesern dieses Blattes ist nicht unbekannt, wie nahe der Verfasser den
ästhetischen und politischen Ueberzeugungen steht, welche hier vertreten werden.
Er ist kein geborener Preuße, und doch einer der entschlossensten und beredtesten
Vorkämpfer für die große Idee dieses Staates. Was jedem Preußen natürlich
sein sollte, das ist einem NichtPreußen, der seit 1848 zum Mann wurde, das
höchste Lob, welches wir seinem politischen Urtheil zu ertheilen wissen. Denn
wer aus der Ferne auf das unfertige Treiben dieses Staates sieht, der muß
viel Unbefangenheit, einen scharfen Blick und ein festes Herz besitzen, um kei¬
nen Augenblick an der Bedeutung des Staatsbaues irre zu werden. Das Feuer,
womit der Verfasser den Anschluß der deutschen Stämme an den Preußischen Staat
versieht und die Wärme seiner Ueberzeugung, daß das Heil unserer Zukunft
trotz allem und allem auf Preußen beruhe, soll manchem Preußen die Scham-
röthe in die Wange treiben, der in seiner Heimath verlernt hat stolz zu sein,
oder der gar im Auslande sich zum Diener einer fremden Politik erniedrigt.
Aber es scheint manchmal, als ob außerhalb der Grenzen dieses Staates in sei¬
nen Anhängern mehr froher Stolz und sichere Ueberzeugung von seiner unver¬
wüstlichen Tüchtigkeit zu finden wäre als unter den Stimmführern in Preußen
selbst, von denen die lautesten kleinliche Engherzigkeit mit blödem Junkertrvtz
geltend machen, viele Bessere im aufreibenden Kampfe gegen widerwärtige Er¬
scheinungen des Tages dem Kleinnuith verfallen. Für uns hat des Verfassers
begeisterte Theilnahme an dem Staat Friedrich des Großen einen Werth, der
sehr hoch anzuschlagen ist. Und daß er grade jetzt, wo mancher alte Freund
irre wurde und sich unsicher nach einer neuen Stütze umsieht, mit rücksichtsloser
Entschlossenheit seine Ueberzeugungen ausspricht, das ist eine wackere Ritterlich¬
keit, für welche unsere Partei besonders dankbar sein muß.
Das vorliegende Werk umfaßt zehn Abhandlungen, unter denen mehre
früher vorgetragen oder gedruckt wurden, alle sind so gründlich umgeschaffen,
daß sie den Werth einer neuen Arbeit erhalten. Grade die wichtigsten sind
ganz neu, Wie verschieden auch ihr Inhalt sei, es ist in ihnen ein innerer
Zusammenhang, sie enthalten nicht nur das historische und politische Glaubens¬
bekenntniß des Verfassers, auch eine Darstellung und Beurtheilung der wichtigsten
historischen Ereignisse und politischen Ideen unserer letzten Vergangenheit und Gegen¬
wart. Jede von' ihnen bildet ein geschlossenes Ganze, mehre sind schöne
Musterstücke der Gattung von Aufsätzen, durch welche Macaulay seinen Ruhm
begründete, die in England noch heut mit weit größerer Achtung betrachtet
werden, als der Deutsche dieser Art zuzuwenden gewöhnt ist. Sie gestatten in
Farbe und Stimmung die größte Mannigfaltigkeit, gute Laune, Ironie, poe¬
tische Erhebung, edles Pathos; sie wollen selten ihren Gegenstand erschöpfend
behandeln, aber den Kern desselben in großen Zügen treffend und eindringlich
darstellen, sie wünschen zu belehren, indem sie unterhalten, sie fordern deshalb nicht
gewöhnliche Kunst der Schilderung, zweckvolle logische Anordnung, ein feines
Gruppiren des Stoffes, vor allem einen Geist, der frei wie spielend das
Material bewältigt und der in den Gegenständen sich selbst dem Leser werth
zu machen weiß. Die vorliegenden Aufsätze beweisen die ungewöhnliche Be¬
gabung des Verfassers für diese Arbeiten. Und wenn er, wie aus seiner Ein¬
leitung zu schließen, selbst für gewagt hielt, so früh dem Publikum mit ge¬
sammelten Aufsätzen gegenüber zu treten, er hat doch Recht daran gethan, denn
grade diese eigenthümliche Kunstform des historischen Stils erlaubte ihm auch,
die Virtuosität seiner Methode zu erweisen.
Der erste Aufsatz, das deutsche Ordens land Preußen, zugleich ein
Meisterstück wirksamer Darstellung, schildert Aufsteigen und Verfall des deut¬
schen Ordens. Es ist bedeutsam für die Tendenz des Werkes, daß der Ver¬
fasser den Bericht über die östliche» Anfänge Preußens voranstellte. Darauf
folgen die Essays Milton und Fichte und die Nation alidee, welche
das Erwachen der Freiheitsideen im Volke an zwei Beispielen darstellen,
darauf Haus von Gagern, dann Karl August von Wangenheim,
Leben und Schicksale zweier Staatsmänner der Restaurationsperiode, in bei¬
den zugleich ein geistvoller Ueberblick ni/er die Kämpfe, Intriguen und die
unklaren politischen Ideen der Klcinsiaatler in der Zeit, aus welcher die An¬
fänge unsres Parteilebens stammen. Wieder die beiden folgenden Aufsätze
Ludwig Uhland und Lord Byron und der Radicalismus stel¬
len die Bilder zweier Dichter, welche selbst warmen Antheil an den politischen
Kämpfen ihrer Zeit nahmen, neben einander. Der nächste. Dahlmann, schil¬
dert einen der lautersten Charaktere deutscher Geschichtswissenschaft in den poli¬
tischen Kämpfen bis in das Jahr 1848. Darauf folgt der große Aufsatz:
Bundesstaat und Einheitsstaat, das bedeutsamste Stück des Werkes
den, sich wie ein wohltönendes Finale ein Aufsatz über die Freiheit an¬
schließt.
Wenn auf keiner Seite des Buches die Gesinnung des Verfassers zweifel¬
haft bleibt, in der Abhandlung über Bundesstaat und Einheitsstaat tritt seine
tampfmuthige, entschlossene Art sehr stark und mit sehr rücksichtsloser Polemik
gegen die herrschenden Ideen unserer Zeit ins Feld, er schlägt gegen die Gründe,
womit der deutsche Particulansmuö sich zu rechtfertigen sucht, er weist nach,
daß jede Reform unserer Bundesverfassung, wenn das Princip der Confödera-
tion unserer Dynastie» nicbt gänzlich aufgegeben werde, unfruchtbar sei, er
unterzieht die Idee eines Bundesstaates, selbst unter preußischer Führung,
strenger Kritik, er hält die Entwicklung Nordamerikas und der Schweiz zu einem
Fvderativstaat gegen die Staatsverhältinsse Dentschlands, er beweist, wie sehr
anders dort die Grundlagen gewesen seien, wie wenig unsere Bildungen Ent¬
sprechendes bieten, und daß in einem Complex monarchischer Staaten Selbst¬
opferung der Einzelinteressen verständigerweise nicht anzunehmen sei, er führt
aus. daß auch der ganze bisherige' Lauf der deutschen Geschichte nur ge¬
waltsame Aneignungen, kein freiwilliges Resigniren beweise. Er kommt zu
dem Schluß, daß ein Bundesstaat nicht ausführbar sei und wenn er ausgeführt
werde, bei uns keine Lebensdauer habe» könne, und daß nur der Einheitsstaat,
das heißt Preußen zu Deutschland vergrößert, durch unsere Geschichte, wie durch
unsere politische Lage erreichbares Ziel sein könne, er verschweigt nicht, was
diesem Resultat zur Zeit entgegenstehe, vor allem widerwärtiges Wesen in
Preußen selbst. Zuletzt gehört zu den feinsten und geistvollsten Bemerkungen
der merkwürdigen Abhandlung ein schöner Vergleich italischer und deutscher
Zustände und sein Schluß: Wir sind zurückgeblieben, weil es uns nicht so
schlecht ging als den Italienern und weil durch Preußen auch die übrigen Deut¬
schen bereits Vieles von dem besitzen, was der nationale Sinn der Italiener
seit fünfzig Jahren in Qualen ersehnte.
Man darf diese Abhandlung ein Ereigniß nennen, nicht deshalb, weil sie
vieles Wahre und manches Neue fasst, sondern deshalb, weil sie einmal grade
heraus ohne allen Rückhalt sagt, was Viele denken, und Viele auszusprechen
anstehen. Kein Zweifel, man kann mit Erfolg gegen manchen Schluß in der
großen Kette seiner Beweise pvlemisiren, der Verfasser hat ja nur ins Bewußt¬
sein bringen wollen, was nach dem Zuge unserer Entwickelung, nach Beschaffen¬
heit der jetzt in Rechnung zu bringenden Factoren unwahrscheinlich, und
was vernünftig und möglich ist. Kaum eine der jetzt bestehenden Parteien,
selbst nicht die conservative in Preußen, welche der Verfasser grade am strengste»
verurtheilt, wird ihr Programm in seiner Abhandlung wiederfinden. Dem un¬
geachtet war grade jetzt zeitgemäß, daß ein fester Mann die innern Widersprüche
in den Schlagwörtern des Tages nachwies und den Parteien die Forderung
aufzwang, ihre Parteisätze und die Phrasen, welche sich daran hängen, gründlich
zu revidiren. In diesem Sinn war der Aufsatz eine That und der muthige
Verfasser soll dafür bedankt sein.
Ja es ist schwer, ruhig zu bleiben, wenn man nicht Engländer u»d Fran¬
zosen, sondern Deutsche den preußischen Staat fortwährend mit seiner gegen¬
wärtigen Regierung oder mit der unläugbaren.politischen Schwäche seiner Par¬
teien identificiren hört. Der Staat hat manche Mißregierung überdauert, er
wird noch manche ertragen, und wird doch dabei im Ganzen größer und stärker
werden. Wie viele Jahre hat England im vorigen Jahrhundert erlebt, in denen
seine Regierung so löblich war, daß der Engländer jetzt mit Freude darauf zu¬
rücksieht? Sehr wenige, und doch ist seit der Königin Anna das Jnselvolk
zu einem Weltreich ausgeschossen. Vieles in Preußen ist sehr ärgerlich, auch
die politische Entwickelung des Volkes ist dort in wesentlichen Punkten hinter
den Anforderungen der Zeit zurückgegeben, ja man darf zugeben, daß das
Terrain des Staates, daß die angeborene Art seiner Stämme, daß die Cultur¬
verhältnisse dieses östlichen Flachlandes überhaupt nicht nach jeder Richtung zu
einer Führerschaft unsers politischen Geistes besonders günstig angethan sind.
Aber dies alles ist unwesentlich gegen die eine Thatsache, daß in Preußen
18 Millionen Deutsche leben, welche durch starke Zucht, durch große Opfer
vieler Generationen gewöhnt sind, sich für die Idee ihres Staates zu be¬
geistern und hinzugeben. Dies ist etwas so Großes, Bleibendes, daß dagegen
alles Häßliche und Unfertige, das man leicht schelten kann, unwesentlich wird.
Gern betonen wir, daß die Preußen sich vor Allem als Deutsche fühlen
müssen, denn wenn auch die politische Macht bei ihnen ist. ein abschließendes
Preußenthum wird doch sür diesen Staat zum Verderben. Er ist vielleicht im
Stande sich selbst zu schützen, aber nicht im Stand, aus sich selbst das geistige
Leben zu produciren, dessen er zu seinem Gedeihn bedarf. So lange Preußen
ein Staat ist, war ,hin nöthig, sich durch' Herbeiziehn fremder Talente zu stärken.
In jeder Richtung des geistigen und materiellen Lebens haben eingewanderte
Deutsche an diesem Staatsbäu gearbeitet. Wie kernhaft die Kraft sei, welche
auf den Schollen der östlichen Provinzen und Westphalens herauswächst, sie
ist in keiner großen Periode dieses Staates genügend erfunden worden, ihm
Staatsmänner, Feldherrn, Lehrer und Bildner zu geben.
Die Preußen sollen den Vettern außerhalb dem Gebiet des einköpfigen
Adlers bereitwillig einräumen, daß Preußen nicht nur ihre Messen, Fabriken
und Eisenbahnen, sondern noch mehr die Tüchtigkeit ihrer Geister und den warmen
Schlag ihrer Herzen für sein Gedeihn nöthig habe.
Dagegen, darf man mit nicht geringerer Wahrheit sagen, daß die
übrigen Deutschen — von Deutschöstreich ist hier nicht die Rede — bereits
jetzt halbe Preuße» sind, vielleicht ohne es zu wissen, und die nicht am wenig¬
sten, welche am lautesten gegen sein Wesen sich sträuben.
Deshalb darf man auch die Abneigung, welche sich zumal in Süddeutsch¬
land gegen Preußen geräuschvoll ausspricht, nicht in ihrer Bedeutung über¬
schätzen. Dort ist man heißzornig auf eine Politik, der man das Aergste zutraut,
man hat sich dennoch unter dem Beifall und Drängen auch der süddeutschen Be¬
völkerung im Zollverein wieder an Preußen geschlossen. In den letzten sechszehn
Jahren ist mehr als einmal die Meinung gegen den Norden schnell umgeschlagen,
das wird wieder der Fall sein, sobald der grvßeStaat den Nachbarn ein freundliches
Angesicht zeigt. In Wirklichkeit bestehn die Deutschen schon seit tem Jahre
181S als Nation nur durch Preußen, die Fürsten des Rheinbundes hätten in
keinem Jahrzehend weder Russen noch Franzosen von den deutschen Grenzen
abgehalten. Dies und was daraus folgt, wissen viele, aber wer gesteht gern
die eigene Schwäche sich oder Andern,
Und doch haben die letzten Monate das auffallende Resultat gehabt, daß
trotz der großen und lauten Unzufriedenheit mit der Politik Preußens in einer
deutschen Cardinalfrage die Zahl derer gewachsen ist. welche für deutsche Pro¬
vinzen Annexion durch Preußen fordern. Ein Jahr kriegerischer Verwickelungen
hat die Ohnmacht des Bundes, die Hoffnungslosigkeit der Triasversuche, die
Schwäche der Mittelstaaten mit so grellen Farben auf unsere Zeitungsbogen
gemalt, daß selbst vielen Gegnern des Herrn v. Bismarck seine Methode der
Politik besser schien, als eine Lage, in welcher man gar keine Politik zu treiben
vermag. In Zeiten tiefen Friedens schallen auch die Worte aus schwachem
Munde laut durch das Land, in Zeiten stärkerer Bewegung schärft sich schnell
der Blick für die wirklichen Machtverhältnisse.
Die gegenwärtige Regierung Preußens ist in der That höchst unpopulär,
und doch wird auch außerhalb PreußenZ überall für und gegen die Einverleibung
von Schleswig-Holstein gesprochen und man kann bemerken, daß die Zahl derer,
welche allerdings nicht sich selbst, sondern zunächst andere von Preußen erobert
wünschen, in starker Zunahme ist. An sich ist auf diese Bewegung der öffent¬
lichen Meinung nicht viel zu geben, es ist die Fluthwelle, welche jeden politischen
Erfolg begleitet, aber die befremdliche Stimmung beweist doch, wie stark auch
bei Gegnern Preußens schon jetzt das Gefühl geworden, daß ihn>,'N nichts übrig
bleibt, als sich der Existenz dieses Staates zu fügen.
Daß dies Bedürfniß der Vereinigung in Preußen sowohl, als im übrige»
Deutschland weit größer und zwingender werde, ist, was wir zu erstreben haben.
Noch sind wir weit vom Ziele. Alle Ideen, welche dazu helfen, dem Volk
diese Vereinigung in die Seele, zu schlagen sind uns willkommen. Die Idee
des Bundesstaats hat von diesem Standpunkt zwei praktische Vorzüge. Sie
trägt zuerst der Liebe zum Heimischen, dem alten Selbständigkeitstrieb der ein¬
zelnen Stämme behaglich Rechnung. Vieles ist in Preußen nicht so gut und
so entwickelt, daß man sich freuen könnte, daran Theil zu haben, man will
auch das Gefühl bewahren, als Freund, nicht als Unterworfener in die
Societät zu treten. Ferner aber ist die Agitation für einen Bundesstaat durch
kein Staatsgesetz zu verbieten, sie ermöglicht ein offenes, großes Werben in
Presse, Versammlungen und Vereinen; die Agitation für den Einheitsstaat
verfällt, sobald sie den Boden wissenschaftlicher Erörterung verläßt, höchst
wahrscheinlich den Gesetzen, denn ihre Voraussetzungen sind dem Bestehenden
allzufeindlich, ihre Operationen werden revolutionär. So war es in Italien.
In Preußen selbst aber steht die Frage so, daß die Parteien dieselbe ver-
schieden beantworten. Die Militärpartei und die unternehmende Minorität der
Junker sind für Eroberung, Occupation, Annex; die Liberalen für eine fried¬
liche Vereinigung und allmäliges Zusammenwachsen der einzelnen Glieder un¬
serer Nation. Es steht nicht anzunehmen, daß diese Auffassung der deutschen
Frage sich dort in der nächsten Zeit wesentlich ändern werde, beide Parteien
mögen einander einmal Concessionen machen, sie werden immer wieder zu ihren
Neigungen und Stichwörtern zurückkehren. Die Entscheidung aber über den
einzuschlagenden Weg wird dort noch lange fast ganz in der Persönlichkeit des
Fürsten liegen.
Vereinigung der deutschen Stämme mit Preußen ist das große Ziel. Wie diese
Vereinigung zuletzt lebendig werden wird, weiß niemand. Aber wie wir dafür
zu arbeiten haben, soll uns nicht zweifelhaft sein. Die Arbeit des Einzelnen
muß bei uns eine gesetzliche sein, sie darf den Respect vor dem Volkswillen nie
verläugnen, sie muß auf jedem Gebiet unserer Interessen die Annäherung her-
beizuführen suchen, eine friedliche, allmäli>ge, stetig fortschreitende Annäherung.
Nur in dieser Weise vermag der einzelne Liberale zu agitiren. Er weiß recht
gut, daß die Annäherung der Staaten nicht so regulär Schritt um Schritt vor
sich geht, und daß die Ereignisse einbrechen, wie ein Orkan, seinen Wegebau
zerstörend oder überspringend. Aber er soll doch nicht irre werden, und nicht
müde. Ob dem Einen bei solcher Thätigkeit der Bundesstaat als letztes Ziel
vor Augen steht, dem Andern der Einheitsstaat, das darf keinen Hader hervor¬
rufen. wer am Werke'hilft, ist uns werth und unser Genosse. Soll hier zu¬
letzt eine runde Ueberzeugung ausgesprochen werden, so ist es dieselbe, welche
heimlich unsere partikularistischen Gegner hegen: jeder Bundesstaat führt uns
zum Einheitsstaat; aber der Bundesstaat wird doch die nächste Form sein, in
welcher sich das deutsche Bedürfniß nach Vereinigung ausprägt.
Unterdeß frmen wir uns der ehrlichen Worte, welche der Verfasser seinen
Landsleuten zuruft, wir wünschen, daß ihre Wirkung eine starke sei. Er hat
kühn seine Stellung genommen, und das Bild seiner geistigen Persönlichkeit,
welche in diesem Buche so stattlich und edel hervortritt, wird fortan von Freun¬
den und Gegnern mit lebhaftem Antheil betrachtet werden.
Wenigstens ein Vierteljahrhundert lang hat München für die vornehmste
Heimatsstätte der modernen deutschen Kunst gegolten, auch gegenwärtig noch
will es sich diesen Ruhm nicht nehmen lassen. Sicherlich können ihm die
Kunstschulen, welche sich neuerdings an kleineren Residenzen unter fürstlichem
Schuh aufgethan haben, den Rang nicht streitig machen; Düsseldorf seinerseits
beschränkt sich nach wie vor auf die Malerei, und wenn dort in den beiden
letzten Jahrzehnten einige neue Talente (namentlich in den kleineren Fächern)
aufgetreten sind, welche die Münchener hinter sich zurückgelassen haben, so hat
es dagegen von seinen älteren namhaften Künstlern an andere Städte abgeben
müssen. Wien und Berlin allerdings scheinen jetzt nahe daran, die Münchener
Kunst zu überholen: auch in ihnen werden Architektur, Plastik und Malerei
mit gleichmäßigem Eifer betrieben, zudem haben sich wenigstens in den beiden
letzten Künsten neue Richtungen hervorgethan, welche aus dem bequemen Ge¬
leise einer überlieferten und ins Akademische verlaufenden Anschauung heraus-
strcben und mit der Frische ursprünglicher Empfindung die Kunst neu zu bele¬
ben suchen. Indessen, um davon nicht zu reden, daß auch in München Anläufe
zu einem derartigen Umschwung sich zeigen, daß zudem seine Kunst, so weit sie
auf den schon gebahnten Wegen weiter geht, auf die feste Schulter einer erfolg¬
reichen Vergangenheit sich stützt, so genießt es auch jetzt noch den Vortheil,
durch den es bisher jenen deutschen Hauptstädten zuvorkam: die Gunst und
den Eifer seiner Könige, welche dem ganzen Kunstleben durch monumentale
Werke einen fruchtbaren Boden zu verschaffen bis in die neueste Zeit ver¬
sucht haben.
Denn ohne Zweifel, eine selbständige Blüthe und eine gemeinsame Ent¬
wicklung der bildende» Künste werden nur da möglich, wo die Bedingungen
zu monumentalen Schöpfungen gegeben sind. So wenig die Kunst ein bloßes
Reizmittel für die blinde Menge ist, so wenig soll sie eine bloße Liebhaberei
reicher Privatleute sein! sie ist vielmehr vor allem Angelegenheit des Volkes,
das heißt, nicht der Masse, sondern aller derjenigen, welche nicht in die klein¬
lichen Interessen des täglichen Daseins versunken, noch Sinn haben für die gro¬
ßen, das Einzelne in sich fassenden Züge des ganzen Menschenlebens. Ist die
Kunst überhaupt Darstellung des Lebens in ausdrucksvollen Formen, welche die
Noth und den Zufall der Wirklichkeit abgestreift haben, dagegen ihre unver¬
gängliche beseelte Gestalt in leuchtender Erscheinung widerspiegeln: so hat sie
vorab das öffentliche Leben, die großen Formen des allgemeinen Daseins zu
einem Denkmal zu gestalten, in welchem sich der Geist als in seinem idealen,
verklärten Leib wiederfindet. Wie demnach in der monumentalen Kunst das
Einzelleben in die lichte Welt des Gcsammtlebens hinausgehoben ist. so ist auch
zu ihrer Betrachtung nicht blos der Einzelne, sondern das ganze Volk berufen.
Auf diesem Wege allein kann in dem letzteren eine Anschauung sich bilden,
welche in der Kunst den idealen Schein des Daseins mit freiem, über die mühe¬
volle Wirklichkeit hinausgehobenem Sinn zu genießen versteht und dann wiederum
für den Künstler den fruchtbaren Schooß abgiebt, aus dessen dunklem Grunde
seine Pliantasie neue Bildungen und Gestalten herausarbeitet. Voraus die mo¬
numentale Kunst stellt zwischen dem Schaffenden und dem Beschauer eine leben"
tige Wechselwirkung her, welche die Werte des Einen in die beseelende Em¬
pfindung des Andern und aus dieser neue Kräfte, neue Anregungen in jenen
hinüberleitet. So wird allmälig die wirkliche ganze Welt zum Bilde, des Volkes
That und Arbeit zur schönen Erscheinung, in der sie ihm unvermerkt zum reinen
Genuß des Lebens umschlagen. Und nicht blos ein Denkmal seines realen
Daseins wird so die Kunst, sondern sie selber eine zweite vom Drang des
Augenblicks und dem unruhigen Wechsel der Materie befreite wirkliche Welt,
in welcher der Kampf des Lebens sich spielend wiederholt und so alle mensch¬
lichen Kräfte ungebrochen und unzerstückt ihre volle Befriedigung finden. Nur
aus diesem monumentalen Boden, auf dem sich in großen Zügen das ganze
Leben gestaltet, empfängt die Kunst überhaupt die Fähigkeit, alles Wirkliche im
Bilde widerzuspiegeln; nur auf ihm entwickelt sich eine eigenthümliche und ge¬
meinsame Anschauungsweise. — das, was wir Stil nennen — die sich ebenso
im Kabinetsstück wie im Staatsgebäude ihren Ausdruck giebt. Und nur aus
diesem Wege kommt in die ganze. Kunst ein Zug des Gestaltens, der in das
Kleine wie in das Große den Athem und Schwung des Lebens bringt und
alle ihre Schöpfungen zu einem rcichgegliederren Ganzen aneinander reiht.
Doch niemand wird erwarten, daß dieses Ideal des Kunstlebens in unserer
Zeit sich verwirkliche. Nur zu oft ist es ausgesprochen, daß die Interessen, welche
unsere Welt bewegen, der künstlerischen Darstellung nicht blos fremd und spröde,
sondern geradezu widerstrebend entgegenstehen. Wir ringen nach einer neuen,
Gesittung und nach neuen gesellschaftlichen Zuständen, die wir auf allgemeiner
Bildung und Wohlfahrt aufbauen wollen, nach einem neuen politischen Dasein,
das mit starker nationaler Macht die Freiheit individueller Entwicklung ver¬
binden soll. Aber noch sind wir kaum über den Anfang des Weges hinaus,
und alles treibt und drängt sich in unfertiger Gährung; was kaum in
dem einen Moment Gestalt gewonnen, fällt im nächsten zu neuem Werden
wieder auseinander, Nur daran sind wir erst, uns die Mittel zu den neuen
Lebensformen zu verschaffen. Mit rastlosen Rädern durchfliegen wir die Weit
des Geistes, um sie, in ihre Elemente aufgelöst, uns nutzbar zu machen, das
Gebiet der Natur, um ihre Stoffe in dem unermüdlichen Triebwerk des Handels,
der Gewerbe und Industrie für unsern Gebrauch zu verarbeiten. Wie uns
keine überlieferte Form mehr heilig ist. und jedes überkommene feste Gefüge.
sei es Menschen- oder Naturwerk, von der Forschung oder dem praktischen Be¬
trieb zerlegt wird, so wenig ist uns daran gelegen, die Interessen, welche die
Gegenwart in athemloser Bewegung erhalten, in Formen und Gestalten be¬
ruhigt vor uns zu sehen. In dieser ewigen Schwebe, diesem verzehrenden
Wechsel, in welchem das Product von heute schon morgen nur Stoff zu neuer
Verwerthung, flüchtig das erste beste Gewand sich umwirft, die Erscheinung des
sich überstürzende» Lebens in allen Farben schillert, und eben deshalb farblos
ist. flieht die bildende Kunst der Gegenwart unter den Händen weg: sie läßt
sich kaum fassen, am schwersten in da? feste Kleid der monumentalen Leistung,
und indem sie vvrübcrrauscht, aus ihrem Strom nur blindlings und zufällig
das Eine und Andere zu einem gleich ihr flüchtigen und verschwimmenden
Bilde herausgreifen.
Doch die Kunst giebt sich darum nicht auf, so wenig jemals in dem Räder¬
werk des Lebens eine wesentliche Eigenschaft des menschlichen Geistes zu Grunde
gehen kann. So weit ab auch von ihr die Hauptzüge der Zeit laufen, so ist
diese doch auch auf allseitige Ausbildung des menschlichen Wesens gerichtet und
kann daher der Kunst nicht entrathen. Zugleich will sie. wie keine frühere
Epoche, auf dieser Welt heimisch werden und holt daher die Schönheit der
Götter aus dem Himmel herab, um sie dem Diesseits zurückzugeben. Noch hat
sie nicht die Formen gefunden, in denen sie zu ihrem wahren, künstlerischen
Ausdruck käme, aber auch da, wo es nicht den Anschein hat. sucht sie darnach.
Muß man es den Königen nicht Dank wissen, daß sie diesen stillen Trieb un¬
terstützen und die sich regende Kunst unter ihre Obhut nehmen? daß sie ihr
große, zeitgemäße Stoffe bieten, und so gleichsam die flüchtige Geschichte des
Augenblicks festhalten, um sie von den Künstlern packen zu lassen, oder die mäch¬
tigen Gestalten der Vergangenheit als die Borboten der Gegenwart in ihre
Hände liefern? daß die fürstlichen Besteller selber die Anregung zu neue» For¬
men geben, indem sie dem öffentlichen Leben der Zeit seinen architektonischen
Leib bauen lassen und trotz der Ungunst der widerstrebenden Zustände Boden
und Nahrung der monumentalen Kunst verschaffen wollen?
Das alles haben die bayrischen Könige Ludwig der Erste und Maxi¬
milian der Zweite für die Neubelebung der Kunst gethan. Daß diese von
oben herab, von der Staatsgewalt, geschützt und gepflegt wird, ist ganz in der
Ordnung, denn sie ist und soll Ausdruck auch des öffentlichen Lebens sein.
Selbst die Blüthe der griechischen Kunst wäre in Athen nicht so voll aufge¬
gangen ohne die belebende Macht des Perikles, und was zu der günstigen Ent¬
wicklung der Renaissance in Florenz die Herrschaft der Medici beigetragen, das
hat ja spätere Fürsten zur Nacheiferung angespornt. Zweimal hat Rom
die Kunst ganzer Zeitalter in sich aufgenommen, und ihre besten Werke, ihre
größten Talente an sich gezogen: das eine Mal unter den jütischen und slavischen
Kaisern, das andere Mal unter den Päpsten Julius dem Zweiten und Leo dem
Zehnten. Weder mit Athen und Florenz noch mit R^in wird das moderne
München sich messen wollen; aber die letzten bayrischen Regenten haben wenig¬
stens, so scheint es, das Ihrige gethan, um die deutsche Kunst so weit vorwärts
zu bringen, als sie sich unter den gegebenen Verhältrissen bringen läszt.
Eines freilich war ihnen von vornherein im Wege und hing sich bleischwer
an alle ihre Unternehmungen: die Gleichgültigkeit, um nicht zu sagen Stumpf¬
heit des Volkes in Kunstdingen. Mit dem Kunstinteresse verhält es sich von
Haus aus im lieben deutschen Vaterlands nirgends zum Besten, und so hat die
gegenwärtige Kunst zu anderen noch die Aufgabe, dasselbe wenn nicht zu wecken,
doch fortwährend anzuregen und wach zu halten.
Mag man es nun in München nicht richtig angefangen haben, oder der
Kunstsinn im Altbayer noch tiefer versteckt liegen als in andern Stämmen: die
hier mit allen Ehren und reichen Mitteln eingebürgerte Kunst ist für die Be¬
wohner ein Fremdling geblieben. König Ludwig hat in seinen Bauten die
ganze Geschichte der Architektur wie in einem steinernen Compendium wieder¬
gegeben; aber an der neuen Duodezausgabe der Gothik in der Auer Kirche,
den nüchternen verständnißlvsen Experimenten in den Uebergangsformen unkla¬
rer Bauperioden, wie an den edlen Werken Klenzes im Stil der Antike und
der Renaissance geht nach wie vor der Einheimische gleichgiltig und theilnahm-
los vorüber. Sie sind wie zugewanderte Gäste, die man wohl an feierlichen
Gesellschaftstagen mit empfängt, aber als unbequem und fremdartig in den
vertraulichen Freundeskreis nicht zuläßt, wie überhaupt der Münchener gegen
alles Ausländische eine stille oder offene Abneigung hat. Wie die Gebäude
in die Sandflächen vom Verkehr abgesperrter Gegenden zufällig hinausge¬
worfen find, so haben sie auch in der Anschauung des Volkes nur einen dürren
und ungewissen Boden gefunden. Darauf hat es König Maximilian mit „einem
neuen Baustil" versucht. Das Neue, namentlich wenn es wie hier mit aller¬
lei seltsamem Schmuck und Zierrath behängt ist, zieht die gewöhnliche Schau¬
lust an; so hat denn auch diese „moderne Architektur" eine Weile Glück gemacht,
indessen jetzt, nachdem die Zeit des ersten Staunens vorüber, ihren Reiz voll¬
ständig verloren. Durch den neuen Stil hat sich im Volk eine Kunstbegeiste¬
rung ebenso wenig erwecken lassen, als durch die musecnhafte Aufstellung aller
vergangenen Bauformen unter Ludwig. Und doch ist die Architektur, indem
sie den Raum für das öffentliche Leben und die Stätte für die Werke der Pla¬
stik und Malerei künstlerisch gestaltet, durch die große unmittelbare Wirkung
ihrer monumentalen Formen doch noch am ehesten geeignet, die Phantasie des
Volkes anzuregen und zu beleben.
Freilich, wenn es den Königen ernstlich angelegen hätte, durch ihre
Schöpfungen den Sinn des Bote'es für die interesselose Welt des Schönen zu
wecken und zu veredeln, so hätten sie neben der Förderung der Kunst selber
vor allem um das andere sich bemühen müssen: um die Hebung und tue gründ¬
liche Pflege der Volksbildung Wie wenig dafür in Bayern auch nener-
dings grschchen, und bei dem Spielraum, der den katholischen und kirchlichen
Hinflügen noch immer geöffnet ist, bat geschehen können, ist zu bekannt, als
daß man davon zu reden brauchte. Was hilft es nun. daß in öffentlichen
Hallen, unter freiem Himmel, vor den Augen des Volkes sich Kunstgebilve er¬
hoben haben, wenn man das Volk in die alltäglichsten Interessen versinken, mit
gebundenem Sinn und Verstand in der Noth und Sorge des Bedürfnisses sich
abquälen, in gewöhnlicher Lust sich berauschen läßt, ohne dafür zu sorgen, daß
sein Geist, indem man ihn zu höheren Dingen und zu selbständiger Thätigkeit
"hebt, zugleich für die reinen Genüsse des Daseins empfänglich werde? Wenn
man es so zu erziehen versäumt, daß es dem großen Leben, welches der Vor¬
wurf der monumentalen Kunst ist. nicht klein und todt, sondern mit dem stolzen
und vertrauten Gefühle gegenüberstehe, in seinem Bilde einen Theil des eigenen
Wesens ausgesprochen zu finden?
Weit entfernt also, daß dem Kunstsinn seiner Könige das Volk entgegen¬
gekommen wäre, hat es — aus was immer für Gründen — ihm nicht einmal
nachfolgen können. Was auch die bildende Kunst seit fünfzig Jahren in Mün¬
chen geleistet hat-, nicht blos für die Menge, auch für einen großen Theil der
Gebildeten hat es ungefähr dasselbe Interesse, wie ein in fremdländischer
Sprache geschriebenes Buch, das in der Auslage des Buchhändlers vergebens
auf einen Käufer wartet. Vor längerer Zeit hat sich hier ein Verein zur Aus¬
bildung der Gewerke im künstlerischen Sinne aufgethan. und an seiner Spitze
stehen tüchtige Männer, die sich alle Mühe geben, die Kunstindustrie zu fördern
und eine künstlerische Behandlung der Formen in das Handwerk einzuführen.
Aber die Anstalt fristet ein kümmerliches Dasein und die Arbeit des hiesigen
Gewcrbmannes unterscheidet sich in nichts von dem gewöhnlichen Fabrikerzeugniß;
höchstens daß sich hie und da eine einsame und mißverstandene Erinnerung an
gothisches Maßwerk in Stühlen und Bänken zeigt, die ihre altvaterische Un¬
bequemlichkeit mit sauertöpfischer Miene in einen Winkel verstecken. Noch immer
ist das Geräth, welches der Münchener mit Vorliebe und Emsigkeit gebraucht,
der irdene Maßkrug, und diesem eine künstlerische Form zu geben, daran wür¬
den selbst ein Thcrikles und ein Benvenuto Cellini verzweifeln. Wie groß ist
der Abstand zwischen dem kunstsinnigen Griechen und Italiener früherer Zeiten
und dem Deutschen des neunzehnten Jahvhundetts. Die lebendige Mitwirkung
freilich, mit welcher das griechische Volk am Kunstwerk gleichsam mitarbeitete,
die Schönheit seines eigenen Leibes ausbildend das künstlerische Ideal schon
in sich zur Natur verloipcrte, und daher im Bilde mit doppeltem Genuß sich
wiederfand, die Zeit dieses Kunstsinns im Volke, der zugleich Kunsttrieb war,
ist vorüber. Was würden auel, die heutigen Ehemänner von ihren Weibern
sagen, wenn diese, wie die Spartcuierinnen, einen Apollo oder Bacchus in
ihre Schlafkammer stellten, um von deren Anblick ganz durchdrungen schöne
Kinder zu gebären? was die Mütter, was gar die Welt von den Töchtern,
wenn sie wie die fünf ehrbaren Mädchen von Kroton zur Helena des Zeuxis
dem Maler nicht blos mit dem Kopfe, sondern auch mit dem Körper Modell
säßen? Doch ist ein solches Jneinanderwirken von Kunst und Leben mit dem
Christenthum auch zu Ende gegangen, so hat doch noch in christlichen Zeilen
das Volk die Kunst gehoben und getragen, wie eine öffentliche und alle be¬
rührende Angelegenheit. Als die Madonna des Cimabue nach der Kirche Santa
Maria Novella gebracht wurde, begleiteten sie die Bewohner der Stadt im
feierlichen Aufzug, mehr zum Cultus der Kunst, als dem der Religion, und
die Aufstellung von Michel Angclos David vor dem Palazzo dei Signori war
ein Ereigniß, nach dem die Florentiner zu rechnen pflegten.
Stellt sich aber den künstlerischen Unternehmungen der Fürsten von Seiten
des Volkes eine theilnahmlose Trägheit entgegen, so ist schon dadurch die monu¬
mentale Kunst in ihrem Schaffen beschwert und gehindert. Denn sie will das
öffentliche Leben — ob es nun der Gegenwart oder der Vergangenheit angehöre
— in einen verklärenden Nahmen fassen, und das Dasein des Volkes aus der
Unruhe und Verwirrung des Tages in das heitere Gebiet der Kunst erheben.
Aber nun hat sie statt beseelter Körper eine leblose Masse vor Augen, die selber
nicht den geringsten Schwung fühlt, vom Boden sich abzulösen. Alle Be¬
geisterung muß der Künstler nur aus sich, alle Bilder und Gestalten nur
aus seiner eigenen, ganz auf sich angewiesenen Phantasie schöpfen, und was
er endlich zu Stande gebracht, darauf liegt das bleierne Auge des Beschauers
mit ertödtenden Blick. Hier schlägt nicht Leben dem Leben in einem Wechsel¬
spiel entgegen, das die Wirkung des Bildes verdoppelt, dem Künstler neue
Kraft des Schaffens giebt und die Gestalt des Beschauers unwillkührlich hebt
und veredelt; sondern den Figuren ist ein mühsamer Athem cingcblascn und
auch diesen Nest von Seele hauchen sie unter der erstarrenden Kälte einer
theilnahmlosen Betrachtung aus. Auch die Vergangenheit kann der Künstler
nur dann recht beleben, wenn ihm die Gegenwart mit frischem Verständniß und
der anregenden Bewegung natürlicher Schönheit entgegenkommt. So oft er
aber gegenwärtige Stoffe gestalten will, muß die Wirklichkeit, in der er sich
findet, gestaltungsfähig und gestaltungsbedürftig sein, unbewußt muß sie die
Mettmale des Schönen an sich tragen und ebenso nach seinem Anblick sich
sehnen, um endlich mit naivem Entzücken am Spiegelbild der eigenen Gestalt
bewundernd sich freuen zu können. Durch diese Empfänglichkeit des Volkes,
die im Genuß einen Theil deS Schaffens mit übernimmt, sind die griechische
und die italienische Kunst zu unvergänglichen Mustern, durch die gegenseitig
sich tragende Theilnahme von Kunst und Volk die eine in Athen, die andere
in Florenz heimisch und groß geworden. Nicht so glücklich lagen die Dinge
in den beiden römischen Epochen: in die Stadt der Kaiser wie der Päpste war
beide Male die Kunst eingewandert und das Interesse für dieselbe der Be¬
völkerung mehr angewohnt und angelernt, als angeboren. Aber die heidnischen
wie die christlichen Regenten verstanden durch ihre monumentalen Schöpfungen
die Theilnahme des Volkes zu erwecken, indem sie zugleich der Kunst des Zeit¬
alters zu ihrer Weiterbildung Verhalten.
Auch für unsere Zeit noch ist die->Art und Weise lehrreich, wie sie dieses
Ziel erreichten. Sie, hatten Sinn und Verständniß für den eigenthümlichen
Entwicklungsgang der bildenden Kunst. Achtung vor der Selbständigkeit und
der Natur des Künstlers; sie gaben der Production^rast desselben freien Spiel¬
raum, und indem sie ihm seine Aufgabe nur in ihren allgemeinsten Zügen und
im Einklang mit seinem Talente stellten, überließen sie ihm alles Weitere, die
Auffassung sowohl wie die Darstellung. Seine Phantasie empfing daher durch
sie nur die wohlthätige Schranke eines bestimmten Ideenkreises. behielt aber
innerhalb desselben die volle Freiheit der Bewegung und blieb in dem beleben¬
den Zusamtncnhang mit dem Kunstcharakter des ganzen Zeitalters. Auf diese
Weise konnte unter Trajan ein Apollodor die antike Architektur zu neuer Blüthe
erheben, unter dem Papst Julius ein Rafael und Michel Angelo der Kunst der
Renaissance die Krone aufsetzen. Zugleich ließen es sich diese fürstlichen Besteller
angelegen sein, die großen Werke vergangener Kunstperioden zu sammeln und
c>is unvergängliche Vorbilder auf öffentlichen Plätzen aufzustellen. So sorgten,
sie für die Bildung des Künstlers, daß er. auf den Schultern der Vorgänger
fußend, ihre Art, die Natur veredelt und verklärt wiederzugeben, ihre schon
ausgebildete Formenanschauung sich aneigne, um desto freier den Inhalt
seiner eigenen Phantasie gestalten zu können. So weckten sie zugleich die
Liebe zur Kunst im Beschauer und bildeten seinen Geschmack. Sie- selber
hatten eine heilige Scheu vor den ewigen Gesetzen des Schönen und wagten
nicht leicht, selbst wenn sie, Tyrannen waren, diese zu verletzen. Nur da, wo von
oben herab die Kunst mit dieser Ehrfurcht-vor ihrer Selbständigkeit und dem
'hr eigenthümlichen Leben geschützt wird, gelaugt sie zu einer fruchtbaren und
unverkümmertcn Ausbildung; nur da wird sie ein gesundes Glied sowohl in
dem ganzen Körper der Kunstgeschichte, als in dem Organismus des allgemeinen
Lebens, nur da kann sie, wenn auch nicht von Anfang an durch die Theilnahme
des Volks getragen, diese hervorrufen und ausbilden.
Gerade hierin aber, in dieser Achtung vor dem eigenen Wesen der Kunst
haben es die Könige Ludwig und Maximilian verfehlt. Es fällt -uns nicht ein,
an ihrem vielgerühmten Kunstsinn zweifeln zu wollen, und die Verdienste, die
sich vorab der Erstere sowohl durch seine Sammlung antiker Werte, als durch
die Errichtung der von Klenze ausgeführten Bauten und die Anregung zu den
Arbeiten von Cornelius und Nottmann erworben hat, lassen wir unbestritten.
Aber beide hätten vielmehr, ja sie hätten ganz Anderes leisten und die deutsche
Kunst wirklich ein Stuck vorwärts bringen können, wenn sie dieselbe nicht
betrachtet hätten als ein Ding, das sich nach fürstlichem Belieben betreiben
lasse, und um in Werth zu steigen nur der fürstlichen Gunst bedürfe, sondern
als einen lebendigen Organismus, der wohl Pflege und Nahrung braucht,
aber nur nach seinen eigenen Gesehen gedeiht und sich entwickelt. Der Dilet¬
tantismus ist in aller Kunst vom Uebel: aber wenn die Spielerei des Privat¬
manns harmlos und unschuldig ist, so ist die Einmischung königlicher Einfälle
in das künstlerische Schaffen fast immer gefährlich, und nicht selten sind die
eigenthümlichen monumentalen Gebilde, welche plötzlich und mit einem Male
auf ein königliches Zauberwort aus dem Boden tauchen, ein bloßes Gaukel-
werk. Selbst ein Hadrian, als ausübender Künstler nur ein Dilettant, als
Kenner aber und Beschützer der Kunst wahrlich nicht zu verachten, hat Wohl
der antiken Plastik zu einer Nachblüthe verhelfen, aber sie zugleich dem Ver¬
fall, dem sie schon zuneigte, durch seine besonderen Liebhabereien zugetrieben:
so entstanden neben den Antinousstatuen die gezierten Nachbildungen der steifen
ägyptischen Götter und der Pracht des Materials mußte öfters die Schönheit
der Form weichen. Waren solche Verirrungen damals möglich, als nach grie¬
chischer Ueberlieferung noch griechische Künstler arbeiteten und auch die Laune
des Kaisers die durch Jahrhunderte fest ausgeprägte Änsclmuung nicht ganz
durchbrechen konnte: was erst muß aus der Kunst unsrer Zeit werden, die von
der Vergangenheit abgeschnitten, nur auf ihre eigenen jungen Füße gestützt,
durch eine widerstrebende Welt sich ihren Weg suchen muß. wenn sie durch ein
willkürliches Eingreifen und Drängen von oben bald nach dieser bald nach
jener Seite und athemlos zwischen Gegensätzen hin- und hergewoifen wird?
König Ludwig traf es noch glücklich. Die neuerwachende deutsche Kunst
brachte ihm große Talente entgegen: in der Malerei einen Cornelius und Rott¬
mann, in der Architektur einen Klenze (der, falls man die Genialität seiner
Begabung bezweifelt, immerhin ein tüchtig geschulter und durchaus gebildeter
Künstler war), um vom Bildner Schwanthaler abzusehen, dessen künstlerische
Tüchtigkeit für uns keineswegs ausgemacht ist. Aber nicht blos sollte durch
diese die Antike erneuert und ihre gestaltenreiche Welt — zudem noch durch
IZMWjM
Cornelius die fromme Pracht der katholischen Kirche — wiedergeboren werden:
sondern der König suchte und fand auch Leute, die ihm das romantische Mittel-
alter wieder herbeizauberten, überdies noch Kräfte, die sich anheischig machten,
der Malerei ein neues großes Feld zu eröffnen, das geschichtliche. Nicht blos
sollte in allen Stilen gebaut werden, und neben Standbildern von großen
und kleinen Männern Erzkoiosse nach Art der Athene Promachos des Phidias
über die Stadt sich erheben, sondern auch die ganze Stoffwelt von der grie¬
chischen Sagenzeit bis zu der neuesten Kunstgeschichte herab, in welcher Ludwig
selber die erste Rolle spielt, im Bilde wiederkehren. Der Menge und Mannig¬
faltigkeit der großen Aufgaben waren die berufenen Meister nicht gewachsen;
es fand sich um sie. die selber, da die neue deutsche Kunst eben ihre ersten
zaghaften Schritte gethan, den Lehrjahren noch kaum entwachsen waren, ein
buntgemischtes Hier von Schülern zusammen, deren Arbeit und Mitwirkung
denn auch über das Schülerhaste nicht hinauskam. So liefen nicht nur in
Verwirrender Gesellschaft die verschiedenartigsten Stoffe — oft in einem und
demselben monumentalen Raum — neben einander her. sondern wirkliche Kunst¬
werke und Stümperarbeiten, in denen nicht einmal die Zeichnung des Meisters
mehr zu erkennen war, blind durcheinander (beispielsweise: in den Arkaden
des Hofgartens die wahrhaft classischen Landschaften Rottmanns neben den
Fabrikilluminationen zur bayerischen Geschichte, dann wieder die bessern
Schlachtengemälde von Peter Heß aus dem griechischen Befreiungskampfe). In
dieser Unruhe eines Producirens. das ohne innern Halt, ohne den gemeinsamen
Zug einer stetigen Entwickelung an allen Ecken zugleich begann, und fast ohne
alle Vorbereitung an die größten Aufgaben sich machte, bei dieser betäubenden
Menge von Versuchen, in welcher das Auge vergebens Maß. Zusammenhang
und Ordnung sucht, wie hätte sich da im Künstler eine feste Anschauung bil¬
den, in die Darstellung die Sicherheit der Schule kommen, im Volk ein tieferes
Interesse und künstlerischer Sinn Wurzel fassen können? Ebenso wenig wie der
Künstler ist eine neue Kunstepoche der Pallas Athene gleich, welche fertig in
die Welt springt. Um die treibenden Kräfte und Neigungen ihres Zeitalters
im Bilde zu fassen, muß sie der Formen erst Herr werden, und dazu muß sie
einen allmäligen Bildungsgang durchmachen, in welchem sie ihre eigene An¬
lage entwickelt und zugleich bei den vollendeten Schöpfungen ihrer Vorgänge-
rinnen in die Schule geht. Dann mag sie. wenn sie ihre junge Kraft an be¬
scheidenen Vorwürfen versucht, ein lebendiges Gebilde zu Stande bringen.
Werden ihr aber, so lange sie noch unreif und ungeübt ist, allzu mannich-
faltige. die ganze Welt umfassende Ausgaben und Stoffe, die zudem großen¬
teils ihrer Natur widerstreben, aufgebürdet, so bricht sie unter der Wucht zu¬
sammen und liefert handwerksmäßiges Stückwerk.
Nicht so weit .und ins Universale gegriffen waren die Kunstpläne Maxi-
miiians. Er beschränkte sich auf die Architektur — „er glaubte auch hierin
nach Rankes feinem Ausdruck fast etwas Eigenes leisten zu können" —für die
er, wie schon bemerkt, nach dem Stile des neunzehnten Jahrhunderts suchte;
außerdem ließ er sich noch für seine Baute» namentlich die historische Malerei
angelegen sein, die er deshalb weit systematischer auszubilden strebte, als es
sein Vorgänger gethan hatte. Ihm lag vorab die Verherrlichung der baye¬
rischen Geschichte und seiner eigenen Negierung im Sinn: daß es ihm dabei
mehr um den Stoff, als um die künstlerische Form zu thun war, liegt in der
Natur der Sache und mag man dem Regenten ruche verargen. Wie sich die baye¬
rische Geschichte im farbigen Gewände ausnehmen wird, wissen orr nicht, da
die jetzt fertigen von den bestellten Werken unter ängstlichem Verschluß gehalten
werden. Aber daß der Kunst der aufgedrungene Stoff, der wohl zudem nach
der Denkart des Jahrhunderts historisch treu wiederzugeben ist, also um so
weniger Spielraum der Phantasie läßt, kaum vorwärts helfen wird, ist nicht
schwer vorauszusehen. Es ist mit d-.r historischen Malerei, welche unsere
Aesthetiker als die Kunst der Zukunft bezeichnet haben, etwas Aehnliches, wie
mit dem modernen Baustil, wenn sie auch weiter vorgerückt ist. Man fühlt,
man ahnt, daß dahinaus die Kunst sich zu einer neuen Blüthe entfalten könne,
aber die Ungeduld des Zeitalters, dem es eigenthümlich ist. mit der Reflexion
dem Schaffen voranzugehen, wartet nicht ab und will den Keim, der noch ver¬
schlossen im Boden ruht, mit künstlichen Mitteln hervortreiben. Damit aber
ist die gesunde Entwicklung von innen heraus gestört und auch das, was die
gegenwärtige Kunst leisten könnte, verloren, oder doch verkümmert. Was der
neue Baustil zu Wege gebracht hat. darauf werden wir zurückkommen. Der
günstigen Ausbildung aber der Malerei stand nicht nur entgegen, daß ihr
ein Stoff geboten wurde, den künstlerisch zu überwältigen sie noch nicht die
Mittel hatte, sondern auch die unbequeme Bestimmtheit der historischen Vor¬
würfe, mir denen in nicht wenige» Fällen selbst der nicht leicht verlegene Rubens
kaum hätte etwas anzufangen wissen. Und doch hatte dieser noch leichteres
Spiel als der Maler von heute; was er ungescheut wagen dürfte, unter
seine Menschen olympische Götter, christliche Engel und allegorische Figuren zu
mischen, das würde der historische Realismus unserer Zeit streng zu rügen wissen.
War so König Max durch das System, das er im Auge hatte und die
Vorliebe sür den Stoff um die freie Bewegung der Kunst noch weniger als
Ludwig bekümmert, so schien er andrerseits Eines gut machen zu wollen, was
dieser versäumt hatte: die selbständige Beschäftigung der jungen Talente. Er
wollte diese nicht als bloße Arbeiter unter wenigen Meistern verkommen und
die Wände nicht mit schablonenmäßigen Bilder» bedecken lassen; vielmehr sollten
sie ihre jungen Kräfte aus eigene Hand versuchen und so in die Kunstwecke
Mannigfaltigkeit und die Frische des Lebens kommen. Auch wer von den at-
deren Künstlern nur irgend Namen hatte, wurde zu den geschichtlichen Dar¬
stellungen herzugezogen (neben der bayrischen Geschichte im Nationalmuseum
gilt es die Weltgeschichte im Athenäum in einem großen Gemäldecyklus zu
schildern) und so tan» es an einem Reichthum individueller Auffassungen und
an der Verschiedenheit eigenthümlicher Formen nicht fehlen. Allein hat man
schon bei den älteren Meistern wenig darnach gefragt, ob der Vorwurf, den
man ihnen zutheilte, für ihr Talent und ihre Kunstweise auch paßte, so ist man
ja, was die jungen Maler, die oft selber noch über das Ziel ihres Berufes im
Unklaren sind — anlangt, über ihre Leistungsfähigkeit und den Charakter ihrer
Begabung völlig im Ungewissen. Zudem werden diese in nicht wenigen Fällen,
kaum dem akademischen Unterricht entwachsen und so noch auf der untersten
Stufe ihrer Ausbildung, schon mit großen monumentalen Aufgaben betraut:
wo es dann nicht ausbleiben kann, daß manche höchst jugendliche Versuche und Irr¬
thümer monumental verewigt werden. Allein, davon abgesehen, was kann bei
einer solchen Mannigfaltigkeit und dem" bunten Gemisch „selbständiger" Anschau¬
ungen herauskommen? Was den jungen Künstler betrifft, so mag er zu einer
Art Selbständigkeit, wenn man den Ausdruck gehörig ausspannt, gelangt sein;
dafür aber fehlt ihm Schule, künstlerische Bildung und Entwicklung. Kenntniß
der Formen, die Uebung seines Fachs. Er ist zum Meister gemacht, kaum
nachdem er Lehrling gewesen und hält sich für einen fertigen Mann, denn er
besitzt ja für seine Mündigkeit ein Zeugniß, das Stück Geschichte, das er
gemalt hat. Was die Kunst betrifft, so wird sie unter der Menge verschieden¬
artiger sich kreuzender Züge ein Angesicht von eigenem Charakter kaum noch
ausweisen können: nach allen Richtungen auseinandergetrieben, wird ihre Ge¬
stalt unförmlich und ausdruckslos, unter den tausend umgehängten Gewändern
ihr Leib entstellt, ihr innerer Lebenskeim erstickt. Also nicht blos durch die
Schwere des Stoffs, sondern auch durch diese Zersplitterung wird ihr die freie
Bewegung aus sich, das naturgemäße Wachsen fast unmöglich gemacht, und
weder kommt so ihr eigenes Wesen zum Ausdruck, noch lernt sie die Formen
bilden, in denen sie den Inhalt unserer Phantasie gestalten könnte.
Daher hauptsächlich mag es kommen, daß. so viel auch durch die beiden
Könige tur die Kunst geschehen ist. sie ihr doch nicht zu einem eigenthümlichen
und lebenskräftigen Fortgang haben verhelfen können, so wenig die Münchener
monumentale Kunst zu einer geschlossenen Anschauungsweise und Formenbehand-
lung, zu einem Stil sich zu erhebe» vermocht hat. Mit dem allmäligen Wachs¬
thum von innen heraus fehlt es ihr an naturwüchsiger Entwicklung und an
dem Charakter einer in sich zusammengehaltenen Kraft; sie verzettelt sich in
die Breite, setzt bald hier bald dort neue Richtungen an. tritt in Gegensätze
auseinander, die besondere Ausdrucksweisen und Wirkungen einseitig ausbeuten und
darüber das harmonische Ganze der Erscheinung aus den Augen verlieren und
bringt es so weder zu einer künstlerischen Bollendung der Form, noch zum vollen
Schein des Lebens. Gilt das vorzugsweise von der historischen Malerei, so
verhält es sich doch ähnlich mit der Architektur und Plastik. Man sieht mit
einem Wort keinen inneren Zusammenhang, keinen naturgemäßen Verlauf, kein
Ineinandergreifen, nicht die großen gemeinsamen Züge, die jede schöpferische,
von innerem Gestaltungstrieb durchdrungene Kunstepoche kennzeichnen. Was
Wunder, daß es so auch den Werken der monumentalen Kunst am eigenen
inneren Leben fehlt, daß der Laie, auch der gebildete, kaum Interesse für sie
aufbringen kann und nach dem ersten neugierigen Blick an ihnen, wie an einer
Rarität von zweifelhaftem Werth oder an einer fürstlichen Liebhaberei mit kühler
und scheuer Achtung vorübergeht?
So scheinen die beiden Könige bei allem guten Willen und dem edlen Be¬
streben, ihre Regierungen durch den Schimmer einer neuen Kunstblüthe und
durch das dauernde Denkmal eigenthümlicher Schöpfungen zu verherrlichen, doch
im Grunde verkannt zu haben, woran cZ der Kunst unserer Tage gebricht und
was ihr noth thut. Dem Herrscher begegnet es leicht und für Herrscher ist es
menschlich, wenig Sinn für fremde Selbständigkeit zu haben und — in bester
Absicht — auch da befehlen zu wollen, wo sich eigentlich nicht befehlen läßt.
Da es den bayrischen Regenten versagt war, große Politik zu treiben, so woll¬
ten sie sich doch darin als Könige beweisen, daß sie Großes, der eine durch
ein reiches Vielerlei, der andere durch ein absolut Neues, auf dem Felde der
Kunst zu Stande brachten. Diesen Zweck im Auge versäumten sie wohl zu
bedenken, was die heutige Kunst vermöge und wie es mit ihr stehe, und da
sie danach nicht frugen, so untersuchten sie auch nicht weiter, wie ihr zu helfen
und wie sie vorwärts zu bringen sei. Die hohen Gedanken, welche zur Aus¬
führung kommen sollten, hatten sie gefaßt und die Mittel zu dieser flössen reich¬
lich aus, ihren freigebigen Händen. Aber der Genius der Kunst ist ein eigen¬
sinniger Knabe, der aus eigenem Antrieb und spielend die wunderbarsten Dinge
vollbringt, weil er dann nur unternimmt, wozu er in sich die Fähigkeit und
die Lust fühlt; wird er zu einer Arbeit getrieben, zu der er jetzt gerade nicht
aufgelegt, zudem nicht reich genug ist, oder in den kindischen und launenhaften
Einfällen, zu denen er bisweilen sich gehen läßt, bestärkt: so zeigt sich nur zu
bald an dem fertigen Werke, daß es nicht aus Gold und von der bildenden
Hand eines Genius — sondern aus gemeinem Metall von der Faust eines
Kobolds gemacht ist.
Weshalb aber hat die deutsche Kunst nicht leisten können, was ihr Lud¬
wig und Maximilian zugemuthet haben? Ist es deren Schuld, wenn sie zu
den großen Aufgaben nicht reif war und konnte sie eben unter der Arbeit nicht
reif werden? Selbst in ihrer Kindheit haben sich ja frühere Kunstperioden vor
den gewaltigsten Vorwürfen nicht gescheut und mit naivem Selbstvertrauen die
schwierigsten Aufträge ausgeführt. Wenn dann auch die Erscheinung in Form
und Ausdruck noch unbeholfen, in einer gewissen typischen Steifheit befangen
und zum vollen Schein des Lebens noch nickt aufgeschlossen war, so war doch
das Eis gebrochen und, mit dem ersten Schritt aus der Enge eines überliefer¬
ten und ausgelebten Ideenkreises in die neue Welt, eine neue fruchtbare Ent¬
wicklung eröffnet, welche alsdann die Nachfolger fortführten und vollendeten.
Aber für die moderne Kunst liegen die Verhältnisse ganz anders, als^für die¬
jenige früherer Zeiten. Nicht nur ist ihr das ganze bisherige geschichtliche Le¬
ben als Stoff überliefert, während ihr eine eigene gestaltenvolle Idealwelt
abgeht, sondern sie hat zugleich alle vergangenen Kunstformen überkommen,
und dies, wie jener Mangel, machen es ihr schwer, sich eine eigene Anschauungs¬
weise'zu bilden. So liegt ihr die doppelte Versuchung nahe, sich ebensowohl
in allen jenen Stoffen, als in allen diesen Formen zu versuchen oder auch vor¬
eilig auf dem Wege der Reflexion nach etwas Neuem zu streben. Vor diesen
Gefahren der Zersplitterung, der Verfluchung und des Experimentirens muß sie
behütet werden, und das eben, so scheint uns, haben die bayrischen Könige ver-
säumt. Statt sie aus jenem Labyrinth sich durch eigene Kraft herauswinden
ZU lassen, haben sie vielmehr sie tiefer hineingeführt- der eine, indem er in
allen möglichen Formen und Stilen bauen, ja, soweit das anging, auch malen
ließ, der andere, indem er die Architektur antrieb, sich ihre neue Gestalt, die
des neunzehnten Jahrhunderts, zu suchen, und die ganze Weltgeschichte im Bilde
baden wollte. Dazu kam — wovon schon die Rede war — noch das andere,
was allerdings weniger ihre Schuld war. als die der Zeitverhältnisse überhaupt:
daß nämlich der geschichtliche Stoff jetzt weit mehr die Phantasie des Malers
bindet, als in früheren Epochen. Denn wir wolle» die erfüllte Wahrheit des
Diesseits und halten den Schmuck der die Realität umflatterndem Idealgestalten.
welche in die Kunst der Renaissance und des Zopfs so viel Reiz und Heiterkeit
bringen, in unseren Tagen für eine bedenkliche Zugabe; und zudem erwartet
die geschichtskundige Gegenwart, auch das Kleid der Vergangenheit bis zum
alterthümlichen Stiefel und Sporn herab wiedergegeben zu sehen. Auch schien
Maximilian nur für die Darstellung historischer Stoffe Sinn und Neigung zu
haben und gab so der Kunst selten oder nie Gelegenheit, sich mit freiem Flügel¬
schlag in die schöne Welt idealer Gestalten zu erheben, die gerade in monu¬
mentaler Erscheinung von so großer künstlerischen Wirkung find. Endlich konnte
auch hier nicht ausbleiben, was bei fürstlichen Bestellern immer eintritt, wenn
sie nicht von Haus aus einen genialen eindringenden Blick für die ächten Ta¬
lente und eine feine Empfindung für das eigentlich Künstlerische haben: daß
sie. übel berathen, nicht immer die rechten Leute treffen und manche Aufträge
in Hände kommen, die geschickter sind, sich hcrzuzudrängen und die günstige
Gelegenheit zu ergreifen, als eine ernste und tüchtige Arbeit zu liefern.
Alles dies zusammengenommen, erklärt sich Wohl, was zuerst seltsam er¬
scheint: daß nämlich neuerdings sowohl in den kleineren Fächern, in denen die
Künstler sich selber überlassen auf eigene Faust produciren, als auch in den
größeren aus eigener Lust und Liebe zur Sache unternommenen Arbeiten fast
immer die Kunst im ächten Sinne des Wortes besser daran und die Leistung er¬
freulicher ist. Auch da freilich ist eine volle Blüthe und das frische fruchtbare
Leben einer harmonischen Entwicklung so lange schwerlich zu erwarten, als nicht
hiermit die monumentale Kunst vorangeht, welche immer gleichsam den Um¬
riß zum ganzen Kunstcharakter der Zeit herzustellen bat.
Und vielleicht wäre eine naturgemäße, gesunde und fortschreitende Bewe¬
gung der Münchner Kunst, voran der monumentalen, wohl möglich gewesen,
wenn man mit richtiger Einsicht in die Bedingungen und die Eigenthümlichkeit
des modernen Kunstlebens die Bahn, welche sie im Einklang mit der neu er¬
wachenden deutschen Kunst überhaupt angetreten, hätte verfolgen lassen und
sich nur bemüht hätte, ihren Gang nach' dieser Richtung zu unterstützen. Von
den classischen Borbildern der Antike und der Renaissance war letztere ausge¬
gangen und von ihrem Geiste waren die ersten monumentalen Kunstwerke in
München eingegeben und erfüllt. Da die neue deutsche Kunst damit angefangen
hatte, sich an jene vollendeten Muster zu halten, war ihr nicht der richtige
Weg vorgezeichnet, an ihren unvergänglichen Formen sich fortzubilden und ihre
vollkommene, ewig verständliche Sprache zu lernen, um den künstlerischen Aus¬
druck für den Inhalt ihrer eigenen Phantasie finden zu können? Aber als das
wißbegierige Jahrhundert auch die Formen der übrigen Kunstepochen herbei¬
schleppte und sich sowohl in dem ahnungsvollen Dunkel aufsteigender, als in
der Ueppigkeit abwärts gehender Zeiten gefiel: da ergriff die ausübende Kunst
— und großentheils auf fürstlichen Antrieb — der romantische Taumel, wenig¬
stens jene mysteriösen Bilder und Gestalten der dunklen Perioden wieder her¬
vorzuholen und es ihnen nachzuthun. Sie verlor sich in die unklaren Tiefen
vergangener Empflndungsweisen, in die endlose Fülle der wiedergefundenen
Formen und sprang so von jenem geraden Wege ab. In der Meinung, diese
ganze neuentdeckte Welt sicher beherrschen zu können, weil sie mit jugendlicher
Biegsamkeit Allem sich anzuschmiegen vermochte, glaubte sie sich fertig und der
strengen Schule der classischen Kunst schon entwachsen, da sie doch kaum in sie
eingetreten war. Die schlimmen Folgen dieses Taumels und dieser Ueberhebung,
an der die bayrischen Könige nicht ohne Schuld sind, konnten »lebt ausbleiben.
Darüber zu reden, was die deutsche Kunst statt dessen hätte thun sollen und
wie es besser hätte kommen können, wäre unnütz, wenn nicht auch jetzt noch
die Rückkehr zu den ächten Vorbildern möglich und in fast allen tüchtigen Künst¬
lern Bedürfniß wäre. — Von dem Verhältnisse, das die gegenwärtige Kunst und
insbesondere die Münchener zur vergangenen einnimmt, sprechen wir nächstes Mal.
Am 3, November 1864 fand im großen Saal der Judustriegesellschasi zu
Mühlhausen die erste Jahresversammlung des oberrheinischen Vereins für Ge-
meindebibliotheken statt. Es verlieh ihr einen besondern Glanz, daß der an¬
gesehene Akademiker Jules Simon, der Versasser des „Arbeiters" und der „Schule"
zugegen war und die Provinz durch seine hauptstädtische Beredsamkeit elektri-
sirte. Aber die Versammlung hätte dieses glänzenden Ornaments nicht bedurft,
um Beachtung auch über die Grenzen der Provinz und selbst des Staates
hinaus zu verdienen. Die Bewegung, deren Symptom sie war, und deren
bisherige Resultate der Sekretär der Gesellschaft, Jean Mace, in seinem Be¬
uchte zusammenstellte, ist ein heuere'en.swerthes Zeugniß des im heutigen Frank-
" reich sich regenden Triebs nach Erweiterung und Vertiefung der Volksbildung,
und gleichzeitig des Triebs der persönlichen Initiative, der municipalen Auto¬
nomie. Sie ist ein vielleicht unscheinbares, aber darum nicht bedeutungsloses
Stück französischer Geschichte.
Daß gerade das Elsaß der Ausgangspunkt dieser Bewegung ist, welche
bis jetzt auch hier allein Wurzeln zu schlagen vermochte, dürfen wir mit schmerz¬
lichem Stolze zum Theil der Erbschaft zuschreiben, welche diese Provinz von
der mütterlichen Nationalität in ihr Adoptivvaterland mitgebracht hat. Aber
wer selbst in den letzten Jahren Zeuge des materiellen und geistigen Aufschwungs
»n Elsaß gewesen ist. wird auch den Werth des praktischen Geschicks, der ent¬
schlossenen Initiative schätzen gelernt haben, welche nicht von uns ererbt ist
und durch welche uns die Franzosen ebenso überlegen sind, als sie bei den,
Austausch der Ideen noch immer mehr die Nehmenden als die Gebenden sind.
Die Arbeiterverhältnisse in Mühlhausen gelten bekanntlich geradezu als muster-
haft für die Art und Weise, wie die socialen Fragen der Gegenwart auf prak¬
tischem Wege zu lösen sind; die schulze-delitzschen Voll'sbankcn haben im Elsaß
einen Anklang gefunden, der manche Provinz unsres Vaterlands beschämt. I»
der theologischen Wissenschaft hat Straßburg die Erbschaft der tübinger Schule
angetreten, und im Temps und in der Revue germanique finden wir den Ein¬
fluß des Elsasses in wirksamster Weise b,S in die hauptstädtische Presse vorge¬
schoben. Das Elsaß, dessen Bewohner in der französischen Komödie als Typus
eines gutmüthigen Tölpels eingebürgert ist. ist heutzutag ein wichtiges Ferment
für die innere Entwicklung der französischen Gesellschaft geworden, und wenn
wir auch den Verlust des schönen Landes schwerlich je verschmerzen werden,
können,wir doch die Fügung anerkennen, welche, als Frucht der blutigen Er-
oberungst'riege, hier eine internationale Stätte zum friedlichen Austausch und
gegenseitigen Verständniß zweier Culturvölker geschaffen hat. Das Elsaß
hat mit Erfolg die Vermittlerrolle zwischen Deutschland und Frankreich über¬
nommen, es hat seine civilisatorische Mission, und vielleicht darf sich eines Tages
auch die Mutter nicht schämen, von dem fremdgewordenen Sohne zu lernen.
Der Volksunterricht bildet noch ein schwarzes Capitel im heutigen Frank¬
reich. In keinem Lande zeigt das Budget für die Armee und das Budget für
den Unterricht ein so schreiendes Mißverhältniß. Der Uebelstand ist längst ge¬
fühlt. Kein Minister, der nicht alsbald die Nothwendigkeit eingesehen hätte,
ihm abzuhelfen; auch Duruy, der bis jetzt so geschäftig im Lycealwesen herum-
organisirte, hat diese Nothwendigkeit anerkannt. Bei der Unzulänglichkeit der
verfügbaren Staatsmittel sind Regierung und Private längst darauf verfallen,
durch indirecte Mittel die Volksbildung zu heben. Im Jahre 1860 bildete sich
in Paris eine „Wohlthätigkcitsgesellschast zur Gründung von Gemeindebiblio¬
theken". Zunächst sollten an 3000 Gemeinden, dann je nach den Mitteln an
alle Gemeinden unentgeldlich Bibliotheken vertheilt werden. Die Gesellschaft
genoß den Schutz der Negierung, Prinz Louis Napoleon, Präsident der Re¬
publik figurirte als Protector. Der Päpstliche Nuntius, Bischöfe und Prälaten,
viele angesehene Herren und Damen zu Paris standen an der Spitze; ein
Rundschreiben des Ministers Baroche vom 31. Mai 18S0 an die Präfecten
forderte alle Beamten auf. thätige Mithilfe zu leisten. Aber trotz des großen
Anlaufes wollte die Sache nicht in Gang kommen; mehrmals wieder auf¬
genommen hatte sie, zum Theil wegen innerer Mängel der Organisation keinen
Erfolg. Nur das eine Verdienst kam ihr zu, daß das Wort Gemeindebiblio¬
theken einmal ausgesprochen war und fortan auf der Tagesordnung des Mi¬
nisteriums blieb. Allein zehn Jahre später sah sich die Regierung zu dem Be¬
kenntniß genöthigt, daß sie die Ausführung für unmöglich halte. Ein Rund¬
schreiben des Ministers Roulano vom 31. Mai 1860 sprach sich dahin aus:
„Die arbeitende Bevölkerung mit einem Schatz interessanter und nützlicher Werke
auszustatten, ist ein Bedürfniß, das sich täglich fühlbarer macht. Eine aus¬
gedehnte Organisation der Gemeindebibliotheken würde diesem Zweck entsprechen,
aber sie bietet Schwierigkeiten dar, welche nur eine allseitige Mitwirkung des
guten Willens und der Opfer vollständig überwinden könnte." An diesen
Schwierigkeiten verzweifelte der Minister, er resignirte sich auf die Gründung
von Schulbibliothekcn, die natürlich dem allgemeinen Zwecke nicht genügen
konnten. Aber Neuland hatte ein wahres Wort ausgesprochen. Es kam auf
die „allseitige Mitwirkung des guten Willens und der Opfer" an. Die Frage
war nur: wie diese zu erzielen? Dadurch konnte sie nicht erreicht werden, daß
man die Gemeinden mit einem Almosen beschenkte, wie es jene Gesellschaft
versucht hatte. Auch nicht dadurch, daß die Regierung ihre Präfecten in Be-
wegung setzte. Nicht von oben herab, nicht durch Befehle von Paris nach den
Provinzen konnte ein solches Werk abrundet werden. Die Gemeinden mußten
vielmehr selbst dafür interessirt werde», und dies war nur möglich, indem man
in ihnen selbst die Initiative erweckte. Diese Einsicht bewog jetzt einige ein¬
sichtsvolle Männer im Oberrhein, auf eine ganz andere Weise die Sache wieder
aufzunehmen.
Im Elsaß war allerdings schon vorgearbeitet, durch altere Institute war
ein gewisses Interesse an der Sache bereits vorhanden. Das oberrheinische
Departement hatte in dieser Beziehung von jeher die erste Stelle in Frankreich
eingenommen. - Von den Scbulbibliothekcn abgesehen hatte die elsässische Ge¬
sellschaft Bücher und den Geschmack am Lesen zu verbreiten gesucht. Religiöse
Gesellschaften warfen Tausende von Büchern unter das Volk. Durch den
Eifer der Geistlichen waren an vielen Orten Pfarrbiblivtheken entstanden, die
zum Theil schon eine große Ausdehnung hatten. Ganz besonders aber ist zu
erwähnen, daß die großen Fabrikbesitzer im Oberrhein, in Mühlhausen, in
GuebnMer, in Beaucourt u. a. O. besondere Bibliotheken für ihre Arbeiter
gegründet hatten, was von wohlthätigem Einfluß auf die geistige Erziehung
dieses Standes war. Um nur ein Beispiel zu nennen, besteht die Bibliothek
in dem Etablissement des Herrn Trapp in Mühlhausen schon seit fünfzehn
Jahren, sie ist im Lauf dieser Zeit auf 1200 Bände angewachsen, die unter
700 Arbeitern von 500 regelmäßig benutzt werde». Allein damals waren doch
nur locale Bedürfnisse befriedigt, die Institute waren auf einzelne Kreise be¬
rechnet. Einen allgemeinen Charakter konnte die Bewegung nur annehmen,
wenn die Gemeinden als solche vermocht wurden, die Sache in die Hand zu
nehmen. Der Grundsatz, ans welchem die neue Organisation beruht, ist des¬
halb der, daß die Bibliothek Eigenthum der Gemeinde sein, aus Kosten der
Eittwobner unterhalten, von ihnen selbst verwaltet werden soll. Es handelte
sich darum, den Gemeinden ein neues Eigenthum zu schaffen, das in ihrem In¬
ventar unter der Rubrik: geistige Bedürfnisse figuriren sollte. Es war mit
einem Wort auf ein nationales Institut abgesehen; man sollte eines Tages
sagen können, daß in Frankreich jede Gemeinde ihre Bibliothek besitzt, wie sie
ihre Kirche, ihre Schule, ihre Mairie hat. Unter diesem Gesichtspunkt springt
die Wichtigkeit der Sache in die Augen. Es ist ein Anfang, die Gemeinde an
eine selbständige Behandlung ihrer Angelegenheiten zu gewöhne». Indem sie
diese Bibliotheken zu ihrer eignen Sache macht, in welcher sie souverän auf¬
tritt und entscheidet, sind dieselben — von allem moralischen Gewinn noch
abgesehen — schon formell ein Erziehungsmittel zur Selbständigkeit der Ge¬
meinden, zur Emancipation von Kirche und Staat, sie sind ein Stück Self-
government. Die ganze Bewegung steht von hier aus betrachtet im engsten
Zusammenhang mit den Bestrebungen der einsichtsvollsten Politiker in Frank-
reich, die Zukunft des Landes auf die Bildung zu begründen und die Fort¬
schritte, anstatt diese von den Decreten der Regierung zu erwarten, auf die
persönliche Initiative zu bauen.
Fast gleichzeitig tauchten in den Jahren 1862 und 18K3 an mehren
Orten Versuche zur Gründung von Gemcindebibliotheken auf. Aber das Ver¬
dienst, von jenem höher» Gesichtspunkt aus die Sache erfaßt und ihr eine feste
Organisation gegeben zu haben, gebührt wesentlich einem einfachen Privatmann,
dem Lehrer an einem Erziehungsinstitut in der Nähe von Colmar. dem schon
genannten Sekretär der Gesellschaft, Jean Mace. Ich darf wohl ein Wort
von Mac6 selbst hinzufügen, denn in seinem Lebensgang spiegelt sich selbst
wieder ein Stück französischer Geschichte.
Jean Mach hat vor Jahren auch der Politik seinen Tribut bezahlt. Das
Jahr 1848 sah ihn als Mitarbeiter am Journal I,g> röxudlicsue, als Präsi¬
denten von Clubs und Banketen. Der Staatsstreich vertrieb ihn aus Paris.
Er fand ein Asyl an dem Mädchcnpensional Petit Chateau zu Veblenheim,
eine Meile unterhalb Colmar. Mitten unter den Weingeländen, welche von
den Vogesen sich an den Rhein hinziehen, erhebt sich das Schlößchen. Es ist
die lachendste Gegend; von Normest winken die drei malerischen Ruinen von
Ribeauvillk (Rappoltsweiler) und weiterhin die hohe Königsburg herüber, nach
Osten erscheint über demi Rhein die blaue Linie des Schwarzwaldes. Die
Lehrstunden und die jugendlichen Spiele ließen unserem Professor Zeit genug
übrig, oder vielmehr sie regten ihn an zu einer Reihe von geistvollen Jugend¬
schriften, welche in der von Hetzel veranstalteten didliotnöque ä'6<Zueg,t.i(in et
as reerelttion an der Spitze stehen und im Grund ein ganz neues Genre
der pädagogischen Literatur geschaffen haben. Der besondere Reiz derselben
liegt in der mit seltenem Glück getroffenen Einkleidung des wissenschaftlich be¬
lehrenden Stoffs in ein die Einbildungskraft anregendes unterhaltendes Ge-
plauder. Am bekanntesten ist seine oistoire et'une doucnee ac Min geworden,
die in Frankreich in 13 Auflagen verbreitet ist und die Geschichte des mensch¬
lichen Ernährungsprocesses, bei aller wissenschaftlichen Strenge in der Sache, in
der amüsantesten Form erzählt. Die Fortsetzung davon: Iss serviteurs as
1'estciMÄe schreibt er gegenwärtig in die treffliche illustrirte Zeitschrift maMsirr
ä'öäueÄtion et <Ze rvereÄtion, welche er in Verbindung mit Hetzel (P. I. Stahl)
herausgiebt. Dieser Sprung vom demokratischen Volksredner zum bescheidenen
Pädagogen, ist er nicht im Kleinen eben das, was dem heutigen Frankreich
noth thut? Aber diese stille Wirksamkeit that doch seinem regsamen Geist
nicht volle Genüge, wir kehren zu den Gemeindevibliotheken zurück.
Mit einer unermüdlichen schriftstellerischen und persönlichen Thätigkeit ging
Mach ans Werk. Er besprach den Plan mit einflußreichen Männern, insbe¬
sondere Fabrikanten, gewann den Präfekten des Departements für sein Vor-
haben, eine Unterstützung, die nicht zu entbehren war. und forderte zur Bildung
einer „Gesellschaft der Gemeindebibliotheken des Oberrheins" auf. in jeder Ge¬
meinde warb er passende Leute. Aerzte, Notare. Lehrer. Geistliche. Gutsbesitzer,
Fabrikanten u. s. w. und so konnte am 29, Nov. 1863 die constituirende Ver¬
sammlung mit 813 Mitgliedern eröffnet werden. Alle Lebensstellungen und
alle Meinungen waren u> dieser Versammlung vertreten, der Millionär neben
dem Dorfschulmeister, der Konservative neben dem Liberalen, der Protestant
neben dem Katholiken, der Deutsche neben dem Franzosen. Zum Vorsitzenden
wurde der Bürgermeister von Mühlhausen. Jean Dollfus. gewählt, ein Name,
der überall in erster Linie steht, wo es eine gemeinnützige Sache gilt. Der
Generalrats des Oberrheins sprach seine vollständige Sympathie mit den
Zwecken der Gesellschaft aus und trat ihr mit allen seinen Mitgliedern bei.
Die liberale Presse in Frankreich lenkte auf sie die allgemeine Aufmerksamkeit.
Die Gesellschaft durfte nicht in denselben Fehler verfallen, an welchem die
früheren Plane gescheitert waren. Sie durfte nicht von oben herab anordnen,
Was nur aus der Initiative der Gemeinden selbst hervorgehen kann. Ihren
Statuten zufolge untersagt sie sich deshalb jeden directen Ankauf und jede offi-
cielle Bezeichnung von Büchern, indem sie in Bezug auf Meinungen und Buch¬
handlungen völlig unparteiisch bleiben will; ihre Mitglieder behalten sich vor.
denjenigen, die sich an sie wenden, mit Rath beizustehen. Alljährlich soll über
den Stand der Bibliotheken Bericht erstattet, denjenigen Gemeinden, welche sich
besonders auszeichnen, Aufmunterungsprämien zuerkannt, ebenso Bibliothekaren,
die besonderen Eifer zeigen, Ehrenbelohnungen ertheilt werden. Im Nothfall
unterstützt die Gesellschaft auch die Gründung von Bibliotheken durch Geld,
und vermittelt z. B. mit den Buchhandlungen die Lieferung der Bücher zu
Rabbatprciscn. Hetzel in Saris hat sich aus freien Stücken mit Nachlaß seines
ganzen Buchhändlerrabbats den Gemeinden zur Verfügung gestellt. Für die
deutschen Bücher hat sich die Schmidt'sche Buchhandlung in Straßburg mit
einem Rabbat von 10 Proc. an den Katalogpreisen angeboten. Aber die Haupt¬
sache ist, daß die Gesellschaft die lokale Initiative der Gemeinden anspornen
will. Was sie geben will, ist der Impuls, und zwar der Impuls von unten
herauf, durch die persönliche Thätigkeit der Mitglieder. Es wäre keine Kunst,
den Gemeinden Bibliotheken zu schenken, aber die Kunst ist zu machen, daß
die Bücher gelesen werden, und das erste Mittel hierzu ist. daß den Gemeinden
nicht Bücher geschenkt, sondern daß sie vermocht werden, sie sich selbst anzu-
schaffen. Die von jeder Gemeinde gewählte Commission ist das eigentliche
active Element der Organisation, sie muß die Bibliothek gründen und fort¬
setzen, die Gesellschaft des Departements hat blos die Bildung anzuregen, auf-
zumuntern, zu unterstützen.
Was sind nun die bisherigen Erfolge? Sie scheinen vielleicht nicht eben
glänzend. Die erste Jahresversammlung am 4> November 1864 wurde mit
930 Mitgliedern eröffnet, und der Sekretär zeigte an. daß bis jetzt in 33
Gemeinden solche Bibliotheken gegründet wurden. Da der Oberrhein 491 Ge¬
meinden zählt, so hat die Gesellschaft noch ein reiches Feld vor sich. Bedenkt
man aber, daß der Anfang doch immer das Schwerste ist. daß die Wirksamkeit
sich erst über ein Jahr erstreckt und daß eine weitere Anzahl von Gemeindc-
vibliothcken eben in der Bildung begriffen ist, so ist der Erfolg keineswegs
entmuthigend. Die statistischen Berichte geben Kunde von einem überraschenden
Wachsthum der einzelnen Bibliotheken. So ist z. B. in dem kleinen Orte
Beblenheim, wo allerdings ungewöhnlich günstige Umstände mitwirkten, die
Bibliothek von 12 Bänden, mit welchen sie im December 1862 eröffnet wurde,
jetzt auf 1300 Bände angewachsen. In der Regel haben natürlich größere
Orte auch größere Bibliotheken. In Städten, wie Mühlhausen und Aitkirch.
die zuvor schon Gemcindebibliotheken hatte», wurden eigene Annexe zum all¬
gemeinen Gebrauch des Volles gebild-t. In Mühlhausen hat Jean Dollfus
diesen Annex im Administrationsgebäudc der Arbeiterstadt untergebracht. Sonst
ist in der Regel die Bibliothek in einem Saal der Mairie. An manchen Orten
ist hier auch für die Winterabende ein Lesesaal eröffnet, und von Ribeauvillö
wird berichtet, daß der dortige Gasunternehmer die Beleuchtung desselben un-
entgeldlich stellt. Meistens ist der Bürgermeister Borsteher der Gemeinde¬
kommission, und ein Lehrer der Bibliothekar. Doch finden wir auch Geistliche.
Fabrikanten. Gutsbesitzer in diesen Functionen. In Ribeauvill6 wurden,, um
allen konfessionellen Dissidien zu begegnen, drei Bibliothekare angestellt, ein
protestantischer, ein katholischer und ein israelitischer Lehrer; auch die Kommission
ist paritätisch zusammengesetzt und verträgt sich aufs Beste.
Die Hauptsache ist jedoch, daß die Bücher nicht blos da sind, sondern auch
gelesen werden. Die verhältnißmäßig größte Leserzahl stellt ein Dorf bei Col-
mar, Sundhofen. Es sind hier vom 15. November bis 1. Mai von 122 Fa¬
milien 1303 Bücher entlehnt worden. Gewöhnlich versammelte man sich Abends
bei den Gcoßeltern. und eines der Kinder, in der Regel ein Mädchen, las laut
vor. Den Sommer über ist die Bibliothek geschlossen. In Beblenheim werden
im Durchschnitt täglich 10 Bände ausgeliehen, wobei für den Band 5 Cent.
Auslcihegeld berechnet werden. Dieser Modus ist meistens acceptirt, woneben
an manchen Orten zugleich ein Jahresabonnement von 3 Fr. eingeführt ist. Man
ging hierbei von der Ansicht aus. daß das unentgeltliche Ausleihen den Werth
der Bücher verringert und will nur diejenigen davon dispensiren, welche aus¬
drücklich darum nachsuchen, was aber bis jetzt noch nie vorgekommen ist. Dies
ist, wenigstens in Beblenheim, der einzige Paragraph des Reglements. Man
holt die Bücher, wenn man will, und bringt sie wieder, wenn man sie gelesen
hat. Die Kommission will erst abwarten, bis sich Mißbräuche einstellen, um
ihnen durch eine Reglemcntation zu begegnen. Es hat sich gezeigt, daß da.
wo ein Katalog der Bibliothek gedruckt ist. die Leselust zunahm. Aus diesen
Katalogen erfahren wir zugleich die Zusammensetzung der Bibliotheken, die im
Allgemeinen nur gelobt werden kann. Das Französische und Deutsche findet
ziemlich gleiche Berücksichtigung. Die Hälfte ist belehrenden Inhalts: Geschichte.
Reisen. Geographie. Industrie. Ackerbau. Natmkuudc u. s. w. Aber die andere
Hälfte, die erzählende" Literatur. scheint allgemein weit mehr begehrt zu sein.
Der Abbe Arnold, der Bibliothekar von Lutterbach. klagt, daß trotz seiner drin¬
genden Empfehlung die Bücher über Landwirthschaft. Industrie u. s. w. unbe¬
nutzt im Kasten stehen, und das die Leser fast ausnahmlos in Erzählungen und
Romanen Erholung von ihren Fabrikgeschäftcn suchen. In der Bibliothek zu
Dvrnach, deren Katalog uns vorliegt, finden wir die deutsche erzählende Litera¬
tur vertreten durch Werke von Chr. Schmid (dieser scheint namentlich auf dem
Lande besonders beliebt zu sein). B. Auerbach, W. Hanfs. L. Pichler. Jer. Gott-
helf, O. Wildermuth, v. Horn, G. Schubert, Nieritz. Stöber. Hebel u. f. w.
Es wäre für uns besonders interessant zu wissen, in welchem Verhältniß
die französische Lectüre zur deutschen stehl. Hierüber finden wir nur in dem
Berichte drs Bibliothekars von Cernay eine Andeutung. Wärend des ersten
Halbjahres, Vom April bis October 1864, wurden in Eernay an 88 Leser
423 Bücher ausgeliehen, davon waren 337 französische, 86 deutsche. Diese
88 Leser, nach Geschlecht und Lebensalter vertheilt, lasen 13 Männer 45 fran¬
zösische. 25 deutsche Bücher. 9 Frauen 47 französische. 4 deutsche Bücher. 47
junge Leute 146 französische. 48 deutsche Bücher, endlich 19 Mädchen 98 fran¬
zösische. 19 deutsche Bücher. Aus diesen Daten ergiebt sich, daß die Jugend
ungleich mehr liest als das Alter, daß aber die Jugend weit mehr französische
Bücher liest als deutsche, und daß endlich die Weiblichkeit fast nur französisch'
liest. Im Ganzen kommen 4 französische Bücher auf 1 deutsches Buch. Aller¬
dings ist nun hier in Rechnung zu ziehen, daß die Bibliothek aus 488 fran¬
zösischen und 113 deutschen Büchern besteht, und der Berichterstatter spricht den
dringenden Wunsch aus. daß die Bibliothek, die sehr arm an deutschen Büchern
sei. namentlich mit leichteren Erzählungen in dieser Sprache bereichert werde.
So viel wir wissen, sind die elsässischen Gemeindebibliothekcn bereits von einigen
deutschen Verlagsbuchhandlungen beschenkt worden. Es liegt auf der Hand,
daß es zugleich ein patriotisches Werk wäre, wenn dieses Beispiel Nachahmung
fände. Für die Weihnachtskrebse fände sich hier eine sehr passende Verwendung.
'
Das Beispiel d^s Oberrheins Kat auch im übrigen Frankreich gezündet.
Von überallher erhielt die Gesellschaft Zuschriften, wurde sie um Rath ange¬
gangen; aus dem fernsten Süden kamen Freunde der Volksbildung, um sich
die Einrichtungen in der Nähe anzusehen und das Gesehene in ihrer Heimath
anzuwenden. Welche Früchte daraus hervorgehen werden, bleibt abzuwarten.
Nicht überall liegen die Verhältnisse so günstig wie im Elsaß. Nicht überall
sehen die Präfekten so gut zur Sache, und das Damoklesschwert des Vereins¬
gesetzes sei/webt auch über diesen friedlichen civilisatorischen Gesellschaften. In
Paris bat erst kürzlich Minister Daruy, eifersüchtig auf die Concurrenz, weiche
diese Anregung seinen eigenen Reformplänen macht, das Gesuch des Abg. Da-
rimon und seiner Freunde, eine Gcmcindebibliothek im dreizehnten Arrondisse-
ment der Hauptstadt zu gründen, abschlägig beschieden, oder an Bedingungen
geknüpft, welche einem Verbot gleichkommen. Die Regierung soll den Biblio¬
thekar ernennen, soll das Aufsichtsrecht über die Anschaffung der Bücher aus¬
üben dürfen! Als ob nicht für das Gelingen der Institution alles davon ab-
hinge, daß die Regierung sich nickt darein mischt, daß sie Eigenthum der Ge¬
meinde bleibt! Solche Vorgänge mahnen natürlich zu äußerster Vorsicht. Jener
letzte Gedanke, daß es sich um ein Mittel zur Selbsterziehung des Volkes, um
den Anfang municipaler Selbständigkeit handelt, muß eher versteckt als an die
große Glocke gehängt werden, und die Selbstbeherrschung, der gesunde Takt,
mit welchem alle Parteien zusammengehalten werden, um dem gemeinsamen
Feind, der Unwissenheit des Volkes zu Leibe zu gehen, verdient alle Anerkennung.
Aber wird nur der Sache el» natürliches, ungestörtes Wachsthum gewährt, so
sind die socialen und schließlich die politischen Folgen unausbleiblich. Was an
Ausklärung des Volkes gewonnen wird, kommt den Parteien der Zukunft zu
statten. Der Oberrhein hat, um mit Jean Mac6s Worten zu schließen, „Frank¬
reich in einem weisen und männlichen Beispiel gezeigt, wie man auf loyalem
und sicherem Wege zu den socialen Fortschritten gelangt, nicht indem man sie.
sei es von den Regierungen, sei es von den Revolutionen verlangt, sondern
indem man sie selbst macht; nicht durch Almosen, sondern durch die Arbeit."
Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, fortgesetzt von
or. Rudolf Hildebrand und or. Karl Weigand. Fünften Bandes erste
Lieferung (K bis Kartenbild) von or. Hildebrand.
Das große Nationalwerk war durch den Tod Jacob Grimms in eine
Krisis gekommen. Wie gut diese überwunden ist, beweist das vorliegende
neue Heft und das nahe bevorstehende Erscheinen der nächsten Lieferungen.
Während die erprobte Kraft Weigands zunächst die Fortsetzung des vierten
Bandes über den Schluß von F hinaus übernommen hat, beginnt ein neuer
Band mit dem Buchstaben K. Der Bearbeiter, Dr. HUdebrand, der langjährige
treue Gehilfe für Durchsicht der Druckbogen Grimms, tritt hier in selbständiger
Thätigkeit für das Werk ein. dessen innere Geschichte und Inhalt Wenigen so
vertraut ist. als ihm. Die Vorzüge, weiche er als Herausgeber seiner histo¬
rischen Volkslieder bewährte, erfreuen auch an dieser größern Arbeit, bei welcher
wohl sichtbar wird, wie fleißig und geschickt derselbe in den legten acht Jahren
dem Leben unserer Sprache nachgespürt hat.
Die Hefte, welche Jacob Grimm herausgab, haben der Kritik manche
Veranlassung zu kleinen Ausstellungen gegeben. Diese sind auch in diesem
Blatt mit der achtungsvollen Rücksicht geltend gemacht worden, weiche der
große Gelehrte, der Begründer des Werkes, für sich fordern durfte. Seine
etymologischen Excurse, die Häufung der Male aus Luther und einigen andern
Lieblingsquellen, eine gewisse Gleichgiltigkeit gegen die .logische Einordnung
der Wortbedeutungen und gegen die abgeleiteten Wörter und zuletzt seine Ab¬
neigung, der Sinn der Wörter in deutscher Umschreibung zu erklären, waren
Uebelstände, welche er. seine ambrosischen Locken schüttelnd, nicht zugeben wollte.
Sie waren aber fühlbar geworden und Abhilfe war geboten. Vortrefflich hat
der Herausgeber des neuen Heftes frühere Erfahrungen benutzt, das Gute der
alten Methode ist geblieben. gerechter und noch umfangreicher ist die Benutzung
der Quellen, schärfer die Disposition der einzelnen Wortbedeutungen geworden.
Besonders erfreulich aber ist eine reichere Behandlung der abgeleiteten Wörter,
die sehr sorgfältige Berücksichtigung alter Sitten und Gebräuche des Volkes
und seiner einzelnen Berufsklassen.
Mit Bienenfleiß sind aus kleinen Druckwerken, aus Kleiderordnungen, alten
Taxen. Volksliedern, die Eigenthümlichkeiten der Bedeutung zusammengetragen,
und dem volksmäßigen Leben der Wörter so große Aufmerksamkeit gewidmet,
daß dies neue Heft auch für die Privatalterthümer hohen Werth erhält und
das Nachschlagen und Lesen an vielen Stellen zur Unterhaltung wird.
Der Buchstabe K. nicht der umfangreichste, aber sehr reich an schönen
und einflußreichen Stammwörtern gab die beste Gelegenheit. Talent und Wissen
zu erweisen, die gelungene Leistung führt den verdienstvollen Gelehrten würdig
in die Reihe unserer Lexikographen ein. Möge ihn der Antheil des Publikums
bei einer Arbeit ermuntern, welche zu den mühevollsten der deutschen Sprach¬
wissenschaft gekört.
Der nachschlagende Leser denkt selten daran, wie umfangreich die Mühen,
und wie vielfach die Sorgen sind, welche sich dem Bearbeiter eines Wörter¬
buches fast an jede Zeile hängen. Bekanntlich besteht ein Theil des Materials,
das dieser verarbeitet, aus einzelnen Zetteln, worauf Stellen alter und neuer
Schriftsteller ausgezogen sind. Diese Zettel wurden ursprünglich durch eine
Anzahl Gelehrter bei der Lectüre deutscher Schriftsteller ausgezogen, dann durch
diesjährige Thätigkeit der Brüder Grimm, zumal Jacobs, sehr vermehrt, sie
bilden, nach dem Alphabet geordnet, gewissermaßen den Grundschatz des Wörter¬
buchs. Aber der Bearbeiter sucht für seine Buchstaben »och außerdem zu
sammeln, was ihm irgend erreichbar ist — aus dem letzten Heft ist ersichtlich,
daß Hildebrand viele Jahre selbständig für das K zusammengetragen haben
muß. — Dennoch, wie groß scheinbar die Fülle der Citate ist, fast bei jedem
Worte wird dem Bearbeiter fühlbar, daß sie manche Bedeutungen des Wortes,
vielleicht gerade die allergewöhnlichsten gar nicht enthalten, denn man ver¬
zeichnet bei der Lectüre am liebsten auffallende Wörter und Redensarten und
übergeht die landläufigen. So wird der Bearbeiter häufig in die Lage gesetzt,
bevor er die für ein bestimmtes Wort vorhandenen Zettel verarbeitet, noch
selbst in den Quellen neue Belegstellen zu suchen. Wer zu erfahren wünscht,
ob dies zeitraubend ist, kann sich die gemüthliche Aufgabe stellen z. B. das
Wort Kater in Luthers oder Goethes Werken auszusuchen.
Bei allen Stammwörtern des Wörterbuchs ist die Beifügung des ent¬
sprechenden Wortes aus andern indogermanischen Sprachen eingeführt. Da
niemand alle Vvcabcln im Kopf haben kann, so wird dafür ein Nachschlagen
in etwa zehn Wörterbüchern nothwendig, eine Arbeit, welche hübsche Zeit in
Anspruch nimmt und doch nur wenige Druckzeilen füllt. Dann werden die
ältern deutschen Wörterbücher durchmustert und sorgfältig wird geprüft, was
sie über das einzelne Wort zu melden wissen, das Merkwürdige wird auf¬
gezeichnet. Darauf werden die Zettel durchgelesen und geordnet, der Bearbeiter
sucht sich ein Bild zu machen von der Geschichte des Wortes, die älteste oder
Grundbedeutung wird vorangestellt, die abgeleiteten planmäßig nacheinander
gesetzt. Das macht ihm oft nicht geringe Sorge, Vieles bleibt unsicher, über¬
all empfindet er den Mangel an Vollständigkeit in seinen Quellen — den Citaten,
vielleicht muß er tagelang sinnen, die beschlossene Ordnung wiederholt umwerfen,
bevor er sich genügt. Je großer seine Sprachkenntnisse, je behender sein Scharf¬
blick, um so schneller wird ihm die Arbeit von statten gehn, aber auch die
stärkste Kraft und der beste Takt werden ihn nicht vor Unsicherheit bewahren.
Woher kommt z. B. dem Wort Katze die Nebenbedeutung einer ledernen Geld¬
tasche, welche um den Leib geschlungen wird? war diese ursprünglich aus
Katzenfellen, frägt er sich grübelnd und hat solche Verwendung des Katzenfelles
vielleicht einen abergläubischen Grund, der erwähnt werden sollte? Der Be¬
arbeiter eilt zu seinem Bücherschrank und sucht nach der socialen Stellung, welche
die Katze in unserer alten Mythologie eingenommen hat. Endlich nach langem
Sinnen und Suchen hat er das wichtige Stammwort Katze vollendet, er denkt
vielleichteinwenig beiden leichterverständlichenKompvsiten dieses Wortes auszuruhen.
Da tritt ihm sogleich das allbekannte Wort K a tzen ja um er drohend entgegen.
Die Bedeutung ist ihm keinen Augenblick zweifelhaft. Aber um so ärgerlicher
»hebt sich die Frage: woher kommt diese Bedeutung? Als gewissenhafter
Mann will er dem Leser darüber doch Mittheilung machen. Seine Citate gehn
kaum über den Anfang dieses Jahrhunderts, nur wenige Jahre über Göthes
westöstlichen Divan zurück? die alten Wörterbücher verweigern jede Auskunft.
Und doch ist das Wort interessant, die Bedeutung sehr auffallend. Der Bearbei-
ter eilt wieder zu seiner Bibliothek — wohl ihm. wenn er eine ausgiebige
Büchersammlung zur Hand hat — er schlägt in Commersbüchern des vorigen
Jahrhunderts nach, er durchsucht alte Predigten und Tractätlein bis in das
sechzehnte Jahrhundert hinauf, er findet nirgend eine Spur dieses Wortes.
Wahrscheinlich ist die allbekannte Bedeutung neue Erfindung, erst von unsern
Großvätern erdacht, aber kein Mensch weiß warum und bei welcher Gelegenheit.
Nach langem Nachschlagen ist Lexikograph wahrscheinlich zu dem Bekenntniß
genöthigt, daß er hierüber nichts Sicheres beibringen kann. Mißvergnügt und
kummervoll arbeitet er weiter. Bei Katzenpfote fällt ihm vielleicht noch zu
rechter Zeit ein, daß in der Seemannssprache das Wort auch eine kleine kurze
Welle bezeichnet, aber dafür hat er keine Belegstelle. Er denkt nach, ob bei
einem bekannten Autor an irgendeiner Stelle das Wort vorkommen könnte,
denn die Uebersetzer Marryats darf er nicht füglich als Autorität einführen, er
eilt wieder zu seinen Büchern und sucht vielleicht lange vergeblich.
Nun aber kommt sogleich wieder ein Wort, welches ihm alles Behagen zu
nehmen droht und dies Wort heißt Katzen ritt er. Allerdings er hat einige
Belegstellen' aus alter Zeit dafür, nach denen es so viel als Thierbändiger
oder Gladiator bedeutet. Aus einem undeutlichen Citat kann er ferner schließen,
daß es noch eine andere, häßliche Bedeutung gehabt hat. Dunkel aber ist ihm
als hätte er das Wort vor Jahren einmal in einer niederdeutschen Chronik
gefunden/ Nach langem Suchen entdeckt er es wieder bei dem mürrischen
Stralsunder Chronisten Berckmann. Dort liest er, daß im Anfang des fünfzehnten
Jahrhunderts zu Stralsund ein Mann am Schandpfahl mit einer Katze im
Beisein des Raths gekämpft habe und nach erlangtem Siege vom Bürgermeister
zum Katzenritter geschlagen worden sei; und er fragt vor diesem neuen Räthsel
wieder erstaunt: was bedeutet das? —
Ist er endlich mit all diesen und andern Sorgen um Katze und Genossen
ins Reine gekommen, so umfaßt, was der Leser davon empfangt, den Raum
weniger Spalten, er aber hat vielleicht Tage, ja Wochen lang darüber gesonnen
und gearbeitet.
Und das sind nur einige von den kleinen Leiden dieser wissenschaftlichen
Thätigkeit, es giebt größere. Kein Gelehrter fühlt lebhafter als der Verfasser
eines Wörterbuchs, wiesehr alle Menschenarbeit an dem großen Strom unseres
Lebens nur Stückwerk ist, keiner hat mehr die Tugenden eines Forschers, Ge«
tuit und ausdauernden Muth nöthig, Daß der Bearbeiter des vorliegenden
Heftes diese in ungewöhnlicher Weise bewährt hat, dazu umfassende Kenntniß,
ein feines Urtheil und unendliche Liebe am Detail, dafür verdient er Dank.
Auch dafür, daß die Fortsetzung des Werkes in so tüchtiger Weise gesichert
ist. müssen wir dankbar sein, denn dies Wörterbuch wird vollendet ein Schatz
werden, um den uns andere Culturvölker noch lange beneiden mögen.
Auch die maliciösesten Federn werden es endlich müde, für den morgige»
Tag den Zusammensturz des Königreichs Italien zu prophezeihen. Eine Schöpfung,
welche mit geistigen Mitteln längst vorbereitet war. an welcher mit pädagogischen
Instinkt die gesammte Nationallitcralur gearbeitet hat, die dann endlich mit kühne»
Händen aus dem Reich der Idee in die Wirklichkeit eingeführt wird, eine solche
Schöpfung ist doch kein Kartenhaus, das der Athem seiner Feinde umblase» könnte.
Die italienische Wiedergeburt ist nicht das Werk Cavours oder Victor Emanuels
oder des Nationalvereins, diese sind nur die geschickten Hebannnenkünstler, weiche die
reife Frucht eines funfzigjährigen Entwicklungsprocesses glücklich zu Tage förderten.
Sie klügelten keine Programme aus, die mit der Laune des Tages wechselten, son¬
dern sie vollzogen das Programm, welches die Geschichte gegeben und mit deutlichen
Lettern geschrieben hatte. Ans diesen tieferen Wurzel», mit welchen das Werk von
1860 in der Vergangenheit gegründet ist, beruht die Bürgschaft für seine Zukunft.
Es mag ihm noch manche Krisis beschieden sein, aber es darf hoffen, daß sie zu
seiner Befestigung dienen werde». Auch die neueste Krisis, dies kann jetzt schon be¬
hauptet werden, ist ihm eine heilsame Krisis.
Als der Scptembcrvcrtrag wenige Tage nach seiner Unterzeichnung in die
Oeffentlichkeit kam, war die Ucbciraschung so tief und allgemein, daß nicht alsbald
eine unbefangene Beurtheilung erwartet werden konnte. In Turin, der bisherigen
Hauptstadt, flammte der verletzte Municipalgcist in kurzer aber heftiger Wallung zum
Versuch der Empörung auf. Der Mazzinisnius fluchte einem Vertrag, dessen einer
Paciscant L. Napoleon war, der Rom dem Papste scheinbar sicher stellte und jeden¬
falls die Erwerbung der ewige» Stadt mittelst eines Handstreichs verbot. Andrer¬
seits war es der Zorn über Turins Haltung, auch wohl die Schadenfreude, welche
zuerst die anderen Städte für den Vertrag gewann. Dies die ersten Eindrücke.
Dann, begann man. die Bestimmungen vom 15. September schärfer zu untersuchen.
Man wußte, da.ß die italienischen Unterhändler kein Aktenstück unterzeichnen konnten,
das so zu sagen wider den Strich der italienischen Politik ging. Mußte die Bedin¬
gung der Verlegung der Hauptstadt im erste» Augenblick bestürzcu — sie hatte, wie
Ricasoli schrieb, die Wirkung eines Donnerschlags bei heiterem Himmel, — so war
nur um so klarer, daß sie, wenn die Minister Victor Emanuels sie zugestanden. durch
wichtige Vortheile aufgewogen sein mußte. In der That ließ der Wortlaut der Sti-
pulationen verschiedene Auslegung zu, aber er begünstigte, mehr noch durch das, was
er verschwieg , als durch das, was er sagte-, eine für Italien günstige Auffassung.
Diese wurde noch mehr befestigt, als nach der turiner Emeute Männer ins Mini¬
sterium berufen wurde», welche, zuvor der Convention abgeneigt, sofort für dieselbe
gewonnen wurden und deren Durchführung auf ih.r Programm schrieben. Nicht
blos Lcunarmora wurde Plötzlich aus einem Saulus zu einem Paulus. Von allen
Zweifeln, so durste man hoffen, würden die Debatten befreien, welche in beiden Pat-
lamcntshäusern bevorstanden, und zu welchen Ende October die Senatoren und Ab¬
geordneten i» bisher nie gesehener Vollständigkeit zu der alten HauptstadtPiemonts zogen.
In einem früheren Artikel versuchten wir die Bedeutung des Septembervertrags
dahin zu Präcisiren; er ist ein Schritt auf dem Weg nach Rom, aber ein Verzicht
auf Rom als Hauptstadt, Rom soll italienische Stadt, aber Nicht die Hauptstadt
Italiens werden. Die Parlamentsdebatten sind vorüber, sie haben diese Ansicht
durchaus gerechtfertigt. Sie habe» außerdem den Beweis geliefert, daß die Ver¬
legung der Hauptstadt nach Florenz zugleich eine Nothwendigkeit für die innere
Politik Italiens ist.
Als die Debatten im Palast Carignan eröffnet wurden, war eben der heiße
Federkrieg zwischen Turin und Paris über die Bedeutung der Convention aus-
gefochten. Es war vegreiflich, daß die Rote» des Herrn Dronyn de Lhuys und
die von ihm inspirirte Presse dem Vertrag eine Deutung gaben, welche den Klerus
beruhigen oder wenigstens zum Schweigen nöthige» sollte. War der Klerus auch
bestürzt, so sollte ihm doch jeder ostensible Grund zur Befehdung der kaiserlichen
Regierung genommen werden. Ju es wurde ihm eigentlich zugemuthet, die beson¬
dere Fürsorge, welche der Kaiser auch hier wieder für die Regierung 'des Papstes be¬
wiesen, anzuerkennen. Und wirklich, der Klerus schwieg. Nur wenige Prälaten
konnten es nicht unterlassen, ihre Bekümmernisse öffentlich zu äußern. Umgekehrt
hatte das Ministerium Lamnrmora das Interesse, eine Deutung abzuwehren, welche
die Durchsetzung des Vertrags in den Kammern gefährden mußte. Man sah das
seltsame Schauspiel, daß während die Tinte noch naß war, mit welcher der Ver¬
trag geschrieben war, beide Parteien sich über dessen Auslegung öffentlich in die
Haare geriethen. Aber niemals ist eine diplomatische und journalistische Fehde glän¬
zender und erfolgreicher ausgefochten worden. Die Gründe, welche Italien ins Feld
rückte, waren von schlagender Wirkung. Je mehr man in Paris sich abmühte, dem
Vertrag eine papstfreundlichc Deutung zu geben, um so peinlicher trat der Wider¬
spruch hervor, in den man mit sich selbst gerieth. Die Fortsetzung der Discussion
diente nur dazu, die wahre Bedeutung desselben nach allen Seiten und in Bezug
auf alle Evcntualiiälcn sicher zu stellen. Frankreich erklärte nie: wir garantiren
das weltliche Papstthum, Italien nie: wir verzichten auf Rom. Frankreich behielt
sich die Freiheit der Action vor, Italie» desgleichen. Man fühlte endlich in Paris,
daß man die Sache nur schlimmer mache und überließ Italien das Feld. Den
officiösen Blättern wurde Schweigen auferlegt. Die diplomatische Correspondenz
wurde durch die stolze Note Lamarmoras vom 7. Nov. abgeschnitten, der die Pole,
mit über die eventuellen Folgen eines politischen Acts in die Zcitungspresse ver¬
weisend erklärte, die italienische Regierung halte sich einfach an den stritten Wort¬
laut desselben. Der Sieg war vollständig.
Vom Eindruck dieser internationalen Polemik war die Debatte des Abgeord¬
netenhauses durchaus beherrscht. Sie war deren Fortsetzung, eben deshalb war sie
ermüdend. Es wurden nur dieselben Gründe wiederholt, welche in Depeschen und
Leitartikeln bereits endlos variirt worden waren. Die Beziehungen zu Frankreich
standen im Vordergrund, hier nahm die Opposition, hier die Vertheidigung ihre
Stellung. Was der Vertrag für Italien selbst bedeute, welchen positiven Beitrag er
zur endlichen Lösung der römischen Frage liefere, wurde wenig berührt. So konnte
zwar Minister Lanza feierlich erklären, die Convention beeinträchtige die nationalen
Strebungen (asM'aÄoui) Italiens in keiner Weise, mit andern Worten, Rom bleibe
nach wie vor das Ziel der italienischen Politik. Aber Minister und Kammer schienen
es zu vermeiden, sich klar über diesen Punkt auszusprechen. Und die Frage, ob
Florenz die provisorische oder die definitive Hauptstadt werden solle, wurde erstickt
in der Verwerfung des Amendements der Linken, welches eine Wiederholung des
bekannte» Beschlusses vom 27. Mai 186 l bezweckte. Jndircct lag freilich schon in
der stillschweigenden Beseitigung dieses Amendements, welche unfraglich der größte
Triumph des Ministeriums war, die Anerkennung einer Modisiccition des Feldzugs¬
plans gegen Rom. Offen ausgesprochen wurde sie vom Senat.
Die Debatten im Palazzo Madana waren sachlich ungleich bedeutender als die
des ander» Hauses. Der Streit mit Frankreich war zu Ende, »ach dieser Seite die
italienische Politik gerechtfertigt. Jetzt konnte man die Folgen, welche die Aus¬
führung der Convention innerhalb Italiens selbst haben werde, ungestört ins Auge fassen.
Es war das erste Mal, daß der Senat des Königreichs Italien in eine be¬
deutende politische Discussion trat. Diese hohe Körperschaft, deren Kern die alt-
piemontesische Aristokratie bildet, hatte bisher die Dinge fast schweigend geschehen
lassen, die Führung der Revolution war nicht ihre Sache. Sie hatte dieselbe der
jungen Generation von 1859, welche das Abgeordnetenhaus füllte, überlassen.
Jetzt zum ersten Mal war eine Frage aufgetaucht, welche den Staatsmännern der
alten subalpinischcn Monarchie, den Notabilitäten der anderen Staaten, die durch
Wort und Schrift, durch Beispiel und That die Zeit der Erfüllung vorbereitet
hatte», die Zunge löste. Das Wiederaufleben dieser Elemente war an sich ein
Symptom; es schien anzudeuten, daß ein Abschnitt der Revolution, der die junge
Thatkraft der Sckülcr Cavours erfordert hatte, jetzt zu Ende sei und ein ruhigerer
Gang der Entwickelung beginne. Der große Zusammenhang des ganzen Werkes
der Wiedergeburt, das bis in die ersten Decennien des Jahrhunderts reicht, trat in
voller Lebendigkeit vor Augen, als man die silberweißen, zum Theil fast ver¬
schollenen Männer auf den Bänke» sitze» so!,, die sie nur selten einnahmen. Da
erschien Alessandro Manzoni, der Patriarch der italienischen Dichtkunst, das über¬
lebende Haupt der romantischen Schule, welche unmittelbar nach den wiener Ver¬
trägen das neue geistige Leben der Halbinsel inaugurirt hatte. Wie weit liegen
jene Träume der romantischen Ncuguclfen zurück, die einst den Teufel mit Beelzebub
austreiben wollten, die Verjagung Oestreichs vom Papst erwarteten! Welche lite-
rarische Entwickelungen, welche politischen Erfahrungen sind sich seit jenen Anfängen
gefolgt! Manzoni ist der alte geblieben. Ein treuer Sohn der Kirche, blieb er
nicht minder ein treuer Sohn seines Landes, und heute warf der Greis eine weiße
Kugel in die Urne und stimmte für einen Vertrag, dessen geistiger Urheber Ccrvour
ist. Da erschien sein Schwiegersohn, der vielseitige ritterliche Massimo d'Azeglio, der
einst, als das Vaterland mehr zu bedürfen schien als Romane und Landschaften,
Feder und Palette weggelegt hatte und, mit Balbo und Giobcrti der dritte im
Bunde, am Vorabend der Revolution von 1348 als beredter Apostel Piemonts von
Ort zu Ort gereist war. In ernster Zeit hatte ihn Victor Emanuel mit dem Mi¬
nisterium betraut, und in schwierigen diplomatischen Missionen hatte er Pius den
Neunten und die Natur der Curie kennen gelernt. Er war vor drei Jahren der
erste gewesen, welcher, der Jmpopnlaritäl trotzend, Florenz zur definitiven Haupt¬
stadt des Reiches erklärt wissen wollte, er lenkte sich damit auch das Recht er¬
worben, die seither begangenen Mißgriffe jetzt scharf zu beleuchten. Ein wackerer
Name aus alter Zeit war der Marchese Giorgio Pallavicino; einst der Genosse
Silvio Pcllicos auf dem Spiclbcrg, der gleichfalls seine Memoiren über den
östreichischen eareers Zuro veröffentlicht hat, aber in anderem Stil als der rcsignirte
bigotte Verfasser der priZiom, Es war ihm Spannkraft genug geblieben, an» die neue
Zeit zu begreifen und zu fördern. Mit Mamin und Lafarina gründete er den
Nationalvcrcin, er. der das Element der entschiedenen Linken in jenem Dreibund
rcprcisentirtc, und so vertritt auch heute noch der jugendliche Greis Ansichten in der
erlauchten Versammlung, welche den intimen Freund Garibaldis verrathen. Lmenzo
Valerio war ein anderer Name, der an eine halbvergcsscnc Zeit gemahnte. Zum erste»
Male hervorgetreten um die Mitte der vierziger Jahre in den Kämpfen der agrarischen
Gesellschaft, wo der leidenschaftliche „Volkstribun" als Führer der Radicalen dem
noch wenig genannten Grafen Camillo Cavour gegenüberstand, — Kämpfe, welche
das Vorspiel der späteren Partcivcrhältnissc waren — hätte er damals wohl
acht gedacht, daß er eines Tages im Senat sitzen und — mit den piemon-
tesischen Hochtories, den Grafen Neval und Sclvpis und Santi stimmen werde.
Von Rattazzi zum Präfecten von Como ernannt, hatte er diese Stelle eigens
niedergelegt, um im Parlament eine Lanze für feine bedrohte Vaterstadt Turin
einzulegen. Der Radicale im Bund mit den Particularisten, wir kennen dies!
Da saßen ferner der General Durando, der in den spanischen Kriegen sich von unten
an zu den höheren Graden heraufgcdicnt, dann in der Verbannung zu Paris als
Ultrarepublikaner die Schrift „über die italienische Nationalität" herausgegeben hatte,
später aber mit Cavour befreundet im Jahr 1847 die Opinione in Turin leitete,
derselbe, der vor zwei Jahren als Minister Victor Emanuels durch seine ungcnirte
Aufforderung an Frankreich, Rom zu räumen. den Rücktritt Thouvencls und die
conscrvatwc Wendung der französischen Politik veranlaßte. Weiter der Graf Tcrcnziv
Mamiani, der als katholifirender Dichter, als platonischer Philosoph und Gegner
RosminiS begonnen hatte, infolge seiner Theilnahme am Aufstand der Romagna
gleichfalls nach Paris verschlagen wurde und dort italienische Propaganda trieb,
später liberaler Minister Pius des Neunten, dann Professor der Philosophie in
Turin, und abwechselnd Abgeordneter, Minister. Gesandter, Senator im Königreich
Italien. Aus Toscana der Abbate Raffael Lambruschini, dessen Verdiensten der große
herzogliche Staat den Flor seiner Schulen und seines Ackerbaus mitvcrdankte. Und
so wäre die Galerie interessanter Charakterköpfe, die hier im Senat beieinander
sitzen, noch lange nicht erschöpft, — lauter Namen, welche in der Geschichte der ita¬
lienischen Wiedergeburt ihre Stelle haben. Selbst der erblindete Nestor der italie¬
nischen Gelehrtenwelt, der Marchese Giuv Capponi. für dessen Stellung im geistigen
Leben seiner Nation uns jede Bezeichnung fehlt, weil uns jede Analogie einer son.
feig so bedeutenden, national gesinnten, durch Förderung, wie eigene wissenschaftliche
Tüchtigkeit so hervorragenden Aristokratie fehlt, selbst dieser ehrwürdige Stolz seine»
Landes konnte zwar seinen Palast in Florenz nicht verlassen, um seinen Sitz im
Senat einzunehmen , aber er wollte wenigstens schriftlich sein Votum über ti-e wich'
tige Frage abgeben. Und es hatte Hand und Fuß, was der toscanische Minister
von 1848 an seinen Freund Lambruschini schrieb. Piemont allein, so sprach er
seine Ueberzeugung aus, mit seinem starken Gefüge, seiner militärischen und bürger¬
lichen Disciplin, seiner innern Geschichte und dem Hochsinn seines Königs, hat das
Einigungswerk unternehmen und ihm die erste unentbehrliche Form geben können.
Jetzt freilich erscheine Italien nicht anders denn als ein übermäßig vergrößertes Pie-
mont, aus den natürlichen Grenzen seiner Ausdehnungsfähigkeit hinausgetrieben.
Darum sei die Verlegung der Hauptstadt eine Nothwendigkeit. Aber, führt er fort,
die Dienste, welche Piemont Italien geleistet hat und nur Piemont leisten konnte,
hören diese deswegen auf? Nein, sage ich zu den Piemontesen. Unter den verschie¬
denen Mischungsclcmentcn, aus welchen Italien besteht, unter den verschiedenen Eigen¬
schaften, welche jede Provinz auszeichnen, sind die eurigen für uus alle die noth¬
wendigsten; sie sind es, welche die Bildung Italiens möglich gemacht haben, sie
müssen in erster Linie stehen, um dasselbe zu erhalten. —
Ein Wort zog sich als der rothe Faden durch die Reden des Senats, es hieß -
Aussöhung mit dem Papstthum. Als im Abgeordnetenhaus ein Sicilianer dasselbe
Wort aussprach, freilich einer der wenigen Ultrcnnontancn in dieser Versammlung,
erweckte es ungläubige Heiterkeit; dennoch drückte es einen staatsmännischen Ge¬
danken aus, welcher in der That die Konsequenz der durch die Convention ge-
schaffenen Lage zieht. Massimv d'Azeglio sprach diesen Gedanken am klarsten und
bestimmtesten aus. Rom, sagte er ungefähr, hat keineswegs die politische Bedeu-
tung sür Italien, die man ihm bisher zugeschrieben hat, es ist eine Stadt der Ver¬
gangenheit, der großen historischen Erinnerungen. Allerdings hat es ein Recht da¬
rauf, an den Fortschritten der Civilisation Theil zu nehmen und italienische Stadt
zu werden. Aber ein Anderes ist Rom als italienische Stadt, ein anderes Rom
als Hauptstadt Italiens. Gehen wir nach Rom, so verfeinden wir uns tödtlich die
katholische Macht des Landes und die ganze katholische Welt. Der König von
Italien und das Haupt der Kirche können nicht an einem und demselben Ort re-
sidiren, nun ist es aber im Interesse Italiens wie des Papstthums, daß der Papst
in Rom bleibe Italien und der Papst, beide können sich nicht ausschließen, sich
nicht entbehren, sie müssen sich entgegenkommen, anstatt, wie in den letzten Jahren
geschehen ist, einander zu bekriegen. Die Lösung kann also nur darin bestehen, daß
der Papst der nominelle Souverän der Stadt bleibt, aber die Regierung in die Hände
der Stadt selbst zurückgiebt. So wird Rom, regiert vom Municipalsystcm unter
der Souveränetät des Papstes, italienische Stadt und tritt in die engste Verbindung
des Verkehrs und der Civilisation mit dem Königreich ; anderseits bleibt dem Papst¬
thum seine unentbehrliche Unabhängigkeit, seine Souveränetät gewahrt. Dies ist
eine Lösung, welche sür beide Theile annehmbar, für beide ersprießlich ist. Es ist
der einzige Weg zur Aussöhnung beider Mächte.
Diese Idee ist bekanntlich nicht neu. Sie bildet im Grunde den Kern der
lagueronniörcschen Broschüre, sie wird also wohl den Intentionen des Kaisers Napo-
teor nicht eben fern stehen. Es ist weiter ein offenes Geheimniß, daß Massimo
d'Azeglio zugleich den innersten Gedanken Victor Emanuels ausgesprochen hat, der
nicht im mindesten nach dem zweifelhaften Glücke geizt, in päpstlichen Gemächern zu
logiren und in Gesellschaft des heiligen Vaters Rom zu bewohnen. Aber wenn die
Idee nicht neu ist, so kann doch erst, seitdem der Vertrag vom 15. Sept. unter¬
zeichnet ist, an ihre Verwirklichung gedacht werden. Man begreift nun, weiche
Wichtigkeit für Louis Napoleon gerade die Bedingung der Verlegung der Hauptstadt
haben mußte. Turin wurde stets als provisorische Hauptstadt betrachtet. So lange
hier der Sitz der Negierung blieb, wandten sich die Blicke nach Rom. Es war unmög¬
lich, diesem idealen Ziel ein anderes zu substituiren. Durch den raschen Entschluß, nach
Florenz zu ziehen, lst die Lage völlig verändert. Schon die enormen Kosten des
Umzugs setzen der Lust, ihn so bald zu wiederholen, einen Dämpfer auf. Man
wird sich an die neue Hauptstadt gewöhnen, mit jedem Tag die Angemessenhcitdiescr Wahl
mehr schätzen lernen^). Aber was die Hauptfache ist, das Verhältniß des Papstes zu
Italien wird damit ein ganz anderes. Mit Turin konnte er nie unterhandeln, der
Hintergedanke: Rom die Hauptstadt; machte es unmöglich. Noch weniger war an
eine Aussöhnung zu denken : der Papst im Vatican, der König im Quirinal be¬
deutete nur tödtliche Feindschaft, Es wäre ein Schauspiel, jenen mittcralterlichen
Fehden vergleichbar, als die Häupter fe-i-üblicher Familien sich in ihren Palästen
gegen einander verschanzten. Ist aber die italienische Regierung definitiv in Florenz
installirt, so kann die Kurie, gegen jeden Angriff gesichert, ohne ihre Würde zu
vergeben, sich zu Unterhandlungen herbeilassen.' Eine Annäherung, eine Abgrenzung
der Gewalten, eine Aussöhnung ist wenigstens möglich. Ob wahrscheinlich, ist eine
andere Frage.
Zu einer Aussöhnung gehören zwei. Ist zu erwarten, daß der Papst die auf
solche Bedingungen hin dargebotene Hand annehme? Wird er sich darauf resigni-
ren, in Rom Souverän zu. sein, aber nicht mehr zu regieren — re-Z-zers, non gu-
Ksrnars, wie die neue Formel heißt, deren Durchführung man im gegenwärtigen
Stadium für praktischerhält als die ideale cavour'sehe: Freie Kirche im freien Staat?
Man muß es bezweifeln. Pius der Neunte hat sich daran gewöhnt, das Steuer des Schiff¬
leins Petri der lieben Vorsehung zu überlassen und seine schönen Hände in Un¬
schuld zu waschen. Entschlüsse, politische Gedanken sind von ihm nicht mehr zu er¬
warten. Seit den Tagen von Gaeta ist ihm sein Weg unabänderlich vorgezeichnet.
Diese himmlische Sorglosigkeit hatte aber nur so lange wenigstens den Schein einer
Politischen Haltung, als die entscheidenden Mächte ein Interesse an der Aufrechthal¬
tung des solus (zuo hatten. Etwas Anderes ist es, wenn das Papstthum auch auf
die angestrengten Versuche, eines der größten weltgeschichtlichen Probleme ohne Ka¬
tastrophe zu lösen, keine andere Antwort hat, als den üblichen Jammer über die
Verderbtheit der Zeit, das obligate, aus den Rüstkammern des Mittelalters zusam¬
mengeborgte Manifest wider die moderne Cultur. Durch diese unschädlichen Mono¬
loge, durch das unabänderliche non xossumus verzichtet das Papstthum darauf, selbst
ein Wort zu jener Lösung auszusprechen. Es ist zum bloßen Object der andern
Mächte geworden.
Allein man weiß auch, daß das thatsächlichste Hinderniß einer Aussöhnung mit
Italien eben die Person des gegenwärtigen Papstes ist. Das Cardinalcollegium be¬
steht zu zwei Dritttheilen ans Italienern. Wer mag errathen, was hier für den
Fall einer päpstlichen Vacanz vorbereitet wird? Selbst Antonclli, der Gegner der
hcißspornigen ausländischen Partei, ist nicht ohne Etwas, was man eine Art von
Nationalgefühl nennen könnte. Unvergessen ist, daß in den letzten Zeiten Eavours
Agenten dieses Staatsmannes heimliche Verhandlungen mit Agenten des Cardinal-
staatssekretärs führten, die freilich von letzterer Seite rasch abgebrochen wurden,
und ein sonderbarer Zufall ist es doch, daß wiederholt bei „piemontesischen" Ver¬
schwörungen in Rom Antonelli das Unglück hatte, daß Privatsckrctnre als Agenten
von ihm unter den Mitschuldigen ertappt worden find. Unverkennbar sind in
Frankreich zugleich mit der Scptcmbcrconventio» die gallikanischen Tendenzen leb¬
haft wieder aufgetaucht. Werden die italienischen Mitglieder des Car? inalcollcgiums
nicht eine ähnliche Nutzanwendung aus der neuen Situation ziehen? werden sie
sich für einen Widerstand erhitzen, welcher eventuell das Papstthum außer Landes
treiben müßte? Wird der Cardinal d'Andrea, der jetzt i» freiwilliger Verbannung
mit den liberalen Priestern Neapels gemeinsame Sache macht, der einzige sein, der
im künftigen Conclave für die Aussöhnung mit Italien die Stimme erhebt! Dies
sind Fragen, vie heute nicht zu beantworten sind, die aber auch von dieser Seite
wenigstens die Möglichkeit für das Gelingen jenes Versöhnungsplancs eröffnen.
Man muß indeß gestehen, eine Entscheidung ist für die römische Kurie um so
schwieriger, als sie sich nicht verbergen kann, daß die Ausführung dieses Programms
im günstigsten Fall doch nur ein Aufschub, eine Zwischenstation, aber nicht eine
definitive Lösung ist. Die Frage ist im Grund nur die, ob die weltliche Herrschaft
des Papstthums mit einem Mal oder in zwei Absätzen beseitigt werden soll. Aller¬
dings ist dem Papst in dem einen Fall ein ehrenvoller Ausweg geboten, sich in das
Unvermeidliche zu fügen. Er hat die Gelegenheit, das als freiwillige Gabe erschei¬
nen zu lassen, was nun einmal unabänderlich ist. Es wäre die glänzendste That
des Papstthums seit Jahrhunccrten, wie von einem Abendroth würden die letzten
Tage seiner weltlichen Herrschaft übergössen, und leicht könnte sich der begeisterte
Jubel der Tage von 1847 wiederholen. Es wäre ein Ziel, würdig, den Ehrgeiz
eines die Weltgeschichte verstehenden Papstes zu reizen. Aber er müßte sich auch
darauf gefaßt machen, den letzten Flitter weltlicher Herrschaft preiszugeben und sich
stolz auf die Mittel seiner geistlichen' Macht zurückzuziehen. Denn über den wirk¬
lichen Werth seines Souveränctütsrechts über die Stadt Rom könnte er sich nicht
täuschen. Das Ende wäre doch die Annexion. Nicht daß Italien nöthig hätte,
Rom sich zu nnnectircn; Rom selbst würde, sich überlassen, den Anschluß voll¬
ziehen. Vielleicht daß es einem aufgeklärten humanen Papst gelänge, diesen Zeit¬
punkt hinnuszuschicbcn und die Nönnr, froh ihrer ungewohnten Municipalrechte,
eine Zeit lang an seine milde Suzercmclät zu fesseln. Auf die Dauer schwerlich.
Der erleichterte Verkehr, der geistige Austausch mit Italien müßte über kurz oder
lang die Einheitspartei ans Nuder bringen, die letzte Scheidewand würde fallen und
Rom seine Abgeordneten ins Parlament nach Florenz senden.
Mit dein Septcmbervertrag ist das Schicksal der weltlichen Herrschaft des Papst¬
thums besiegelt. Indem er das Nichtinterventionsprincip auf Rom anwendet und
den Papst allein seinen Unterthanen gegenüberstellt, ist ihr Ende unvermeidlich.
Aber es ist nicht gleichgiltig, in welcher Weise dieses Ende herbeigeführt wird, ob
durch den Bruch oder durch die Aussöhnung zwischen Italien und dem Papst.
Ebendeshalb hat jenes Programm, zu dessen Organ Massimo d'Azcglio und andere
im Senate sich gemacht haben, hohe staatsmännische Bedeutung. Es bedeutet
Italien gegenüber den Protest gegen Rom, Frankreich gegenüber die loyale Ausfüh¬
rung der Convention, und gegenüber von Rom den aufrichtigen Wunsch, die
unvermeidlich gewordene Transformation des Papstthums zugleich als einen Act der
Versöhnung zwischen Rom und Italien zu feiern. Weist das Papstthum dieses
äußerste Angebot Italiens zurück, so ist die Freude an denen, welche schon lange
kürzeren Proceß mit ihm gewünscht hatten, und deren Zahl gerade in Italien täg¬
lich wächst. _ _ ^_________
s
Vor sechzig Jahren leitete Goethe seine Schilderung Winckelmanns mit
den Worten ein: Wenn man dem würdigsten Staatsbürger gewöhnlich nur
einmal zu Grade läutet, er mag sich übrigens noch so sehr um Land und
Stadt, im Großen oder Kleinen, verdient gemacht haben, so finden sich dagegen
gewisse Personen, die durch Stiftungen sich dergestalt empfehlen, daß ihnen
Jahresfeste gefeiert werden, an denen der immerwährende Genuß ihrer Milde
gepriesen wird. In diesem Sinne haben wir alle Ursache, das Andenken solcher
Männer, deren Geist uns unerschöpfliche Stiftungen bereitet, auch von Zeit
zu Zeit wieder zu feiern und ihnen ein wohlgemeintes Opfer darzubringen."
Das Wort des Dichters ist zur Wahrheit geworden; alljährlich sammelt
sich .ins dem römischen Capitol wie an zahlreiche» Orten unsres deutschen
Vcuerlandes an Winckelmanns Geburtstag, dem 9. December, die stille Ge¬
meinde der Verehrer der Kunst zu gemeinsamer Erinnerung an den Mann, der
uns zuerst das Verständniß der Kunst erschloß. Am Schluß des vergangenen
Jahres aber war es gerechtfertigt, auch vor weiteren Kreisen dem Andenken desselben
ein solches „wohlgemeintes Opfer" darzubringen, denn es ist gerade ein Jcchr-
bundert verflossen, seit die „unerschöpflichste" unter allen „Stiftungen" des winckel-
mannschen Geistes, die längst verheißene und sehnlichst erwartete Geschichte der
Kunst des Alterthums in Dresden erschien. Lessing arbeitete damals
an seinem Laokoon. Er war ausgegangen von dem bekannten Satze in Winckel¬
manns Erstlingsschrift, das allgemeine vorzügliche Kennzeichen der griechischen
Meisterwerke sei eine edle Einfalt und eine stille Größe, während er es in der
Schönheit fand und hieran seine Gedanken über die Grenzen der Malerei und
Poesie knüpfte. Lessing begab sich in manchen Punkten einer festen Ansicht,
über welche er „in des Herrn Winckelmanns versprochener Geschichte der Kunst
die völligste Befriedigung zu erhalten hoffen" durfte. Endlich ist sie erschienen:
er wagt keinen Schritt weiter, ohne dieses Werk gelesen zu haben, erst „wo
so ein Mann die Fackel der Geschichte vorträgt, kann die Speculation kühnlich
nachtrettn". Wie mußte Lessing sich freuen, den, dessen Urtheil er so hoch
stellte, nunmehr in dem Ausgangspunkte mit sich einig zu finden, denn auch
für Winckelmann war jetzt das Streben der Kunst auf Darstellung des Schön¬
heitsideals gerichtet; aber freilich faßte jedes Volk dieses höchste Ideal sein em
nationalen Charakter gemäß und in verschiedenen Zeiten seiner Entwicklung
verschieden auf. suchte jeder Künstler seine individuelle Auffassung der Idee zum
Auedruck zu dringen. Mochte auch das persönliche Verhältniß zwischen beiden
Männern hin und her schwanken; wie hoch Lessing Winckelmanns Verdienst
und Bedeutung anschlug, das zeigte er durch die schöne Aeußerung, da er die
Kunde vini dessen Ermordung vernommen: „das ist seit Kurzem der zweite
Schriftsteller — Sterne war kurz zuvor gestorben — dem ich mit Vergnügen
ein paar Jahre von meinem Leben geschenkt hätte."
Mächtiger noch als auf den schon gereiften und auf eigener Bahn einher-
wandelnden Lessing wirkte die Kunstgeschichte auf den damals zwanzigjährigen
Herder, der in den anonymen Fragmenten über die neuere deutsche Literatur
seiner Bewunderung in einem dithyrambischen Lobe Winckelmanns Ausdruck
lieh. „Ich führe es nicht an, wie er die besten Blüthen jeder antiken Schön¬
heit in seine Seele gesammelt, wie er hier unter Schriften, dort unter Denk¬
mälern sein Auge und seinen Geist gebildet, wie er seine Werke so wie Ra-
phael seine Gemälde mit Feuer entwarf und mit einem glücklichen Phlegma
vollendete, wie er eine systematische Geschichte unter Ruinen und Ueberbleibseln
liefern konnte; sondern ich muß mich hier blos auf die Schreibart einschränken
.....Einfältig im Vortrage, natürlich in der Ausführung und erhaben in
den Schilderungen sind die winckelmannschen Schriften Werke der Unsterblichkeit
würdig und der Name unsres Jahrhunderts." Die Geschichte der Kunst ist für
Herder das Muster jeglicher Geschichtsschreibung; „wo ist aber noch ein deutscher
Winckelmann, der uns den Tempel der griechischen Weisheit und Dichtkunst so
eröffne, als er den Künstlern das Geheimniß der Griechen von ferne gezeigt?"
— Aber das Werk des Meisters verlangt nicht blos Lob und Preis, es erheischt
auch Nacheiferung; die nächsten Jahre Herders waren eifriger und eindringender
Forschung auf den Gebieten gewidmet, welche Winckelmann und Lessing eröffnet
halten. Die Fragen über Ursprung und Wesen, über Grenzen und Ziel der
Kunst und der Künste war auch er an seinem Theile zu erörtern und nach
Kräften zu lösen beflissen, und gar oft ereignete es sich dabei, daß er sich in
streitigen Punkten auf Seiten Winckelmanns gegen Lessing stellen mußte. Ein
Gegengewicht gegen Lessings Hervorhebung der Malerei und zugleich eine Folge
von Winckelmanns Werk, in welchem schon wegen der Natur des auf uns ge¬
langten Stoffes die Rücksicht auf die Sculptur überwiegt, zeigte sich darin,
daß Herder zu dem Entwurf einer Darstellung der Plastik schritt. Er suchte
die Unterschiede der beiden Schwesterkünste tiefer zu ergründen und die Be¬
deutung jener Unterschiede für die Wahl und Durchführung der Gegenstände
sowohl wie für die Auffassung und Beurtheilung von Seiten des Beschauers
darzulegen. Aber das Werk blieb unvollendet, andere Interessen und Studien
zogen Herder fernab in die verschiedensten Gebiete; auch der Anblick Italiens
wirkte nicht mehr stark genug auf den den fünfziger Jahren nahe stehenden
Mann. Nur sporadisch kehrte er zu den früheren Lieblingsbeschäftigungen zurück,
niemals ohne an Winckelmann wieder anzuknüpfen. Da ist es in der That
rührend zu sehen, wie noch in seinem Todesjahre ein kleiner Aufsatz, die Be¬
deutung von Winckelmanns Geschichte der Kunst in warmen Worten erörtert,
als ob die alte Jugendliebe noch einmal hervorbräche. So spricht sich am An¬
fang wie am Ende seiner reichen schriftstellerischen Thätigkeit die gleiche Ver¬
ehrung für den Mann aus, welchem er so viel Anregung verdankt.
An Lessing und Herder knüpft unmittelbar Goethe an. Ein Jahr nach¬
dem die Kunstgeschichte erschienen, kam er als sechzehnjähriger Student nach
^ivzig. Zu den Männern, welche hier am tiefsten auf ihn wirkten, gehörte
der Maler Oeser, welcher als Director der Kunstakademie i» der alten Pleißen-
burg thronte. Oeser war einst in Dresden mit dem gleichaltrigen Winckelmann
nahe befreundet gewesen und nicht ohne Einfluß auf dessen Kunstanschaunngcn
geblieben; die Anhänglichkeit und leidenschaftliche Verehrung hatte durch die
Leistungen, welche der römische Aufenthalt in Winckelmann gezeitigt, nur ge¬
steigert werden tonnen. Die Pietät des Lehrers gegen den großen Mann ging
aus die Schüler, unter ihnen Goethe, über; mit Andacht nahmen sie seine Schuf-
ten in die Hände und studirten sie fleißig, ebenso durch den reichen Inhalt und
die Tiefe der Anschauungen gefesselt, wie durch die eigenthümlich volle und hohe
Persönlichkeit angezogen. „Bei allen Bemühungen, welche sich auf Kunst und
Alterthum bezogen — so erzählt Goethe selber — hatte jeder stets Winckel¬
mann vor Augen, dessen Tüchtigkeit im Vaterlande mit Enthusiasmus aner¬
kannt wurde." Alle freuten sich, den Gefeierten bald mit leiblichen Augen an¬
schauen zu dürfen, da siel „wie ein Donnerschlag bei klarem Himmel" die Nach¬
richt zwischen sie nieder, auf heimischem Boden sei durch feigen Mord dem kaum
Fünfzigjähriger ein frühes Grab bereitet. „Dieser ungeheure Vorfall that eine
ungeheure Wirkung; es war ein allgemeines Jammern und Wehklagen, und
sein frühzeitiger Tod schärfte die Aufmerksamkeit auf den Werth seines Lebens."
Winckelmann hat in der That auf Goethe dessen ganzes Leben hindurch tiefen Ein¬
fluß ausgeübt, ihre Naturen sind in gar manchen Punkten einander verwandt.
Winckelmann verband mit der in Rom ihm zuströmenden Fülle der künstlerischen
Anschauung die glücklichste Naturanlage, welche ihn in den Stand setzte, die an
ihn herantretende Schönheit rein in sich aufzunehmen und in sich neu zu beleben,
so daß sie sein ganzes Wesen durchdrang und all sein Dichten und Trachten erfüllte.
Dazu kam die wunderbare Gewalt seiner Rede, welche der Fülle und Macht
des Stoffes ein treuer Spiegel wird, welche die klar erfaßten Gedanken, die in
seltener Lebendigkeit ihm vorschwebenden Anschauungen stets mit dem ange-
messensten, wahrhaft schwungvollen Ausdruck zu umkleiden weiß. Nirgend treten
diese Eigenschaften in höherer Vollendung uns entgegen, als in seiner Geschichte
der Kunst. Wie sollten sie nicht mächtig auf Goethe gewirkt haben, der ja auch
von Jugend eine ungewöhnliche Begabung für die bildende Kunst besaß, in dessen
Poesie und Prosa wir die plastische Gestaltungskraft vor allem zu bewundern gewohnt
sind? Den Beweis giebt uns Goethes römischer Aufenthalt. Da steht er inmitten
der Wunderwerke, an denen einst Winckelmann sich gebildet hatte, nun auch selber
eifrig bemüht zu schauen, in sich aufzunehmen, zu erkennen. Längst sind Oesers
Lehren und der Einfluß seiner zur Reflexion und Allegorie übermäßig hinneigenden
künstlerischen Richtung überwunden, aber immer ist ihm Winckelmann der treue
und bewährte Führer, von dem er mit der höchsten Anerkennung, mit der grö߬
ten Verehrung spricht. Freilich verhehlt er sich nicht das Unvollkommene der
Kunstgeschichte; „wie viel that Winckelmann nicht und wie viel ließ er uns ,u
wünschen übrig. Mit den Materialien, die er sich zueignete, hatte er so ge¬
schwind gebaut, um unter Dach zu kommen. Lebte er noch, und er könnte noch
frisch und gesund sein, so wäre er der Erste, der uns eine Umarbeitung seines
Werks gäbe." Gewiß; waren doch der Kunstgeschichte die Anmerkungen dazu,
diesen die neue kürzere Bearbeitung in italienischer Sprache auf dem Fuße
gefolgt, war doch die verhängnißvolle Reise nach Deutschland vorzugsweise
unternommen, um wegen einer neuen Ausgabe der Kunstgeschichte Unterhand¬
lungen anzuknüpfen. Goethe bedauert es, daß das Einzelne um ungewissen
Dunkel liege, den Begriff aber findet er richtig und herrlich aufgestellt, die
Epochen wohl gesondert, den historischen Verlauf in seiner Gesammtheit richtig
gezeichnet. Und wo es dann fehlt, da hat er einen treuen Führer an Hein¬
rich Meyer, dem Schüler von Winckelmanns Freund Füßly, dem nicht genia¬
len aber treu fleißigen Forscher auf Winckelmanns Pfaden, der wohl verstand
Einzelnes nachzutragen und zu berichtigen, im Allgemeinen aber sich ganz inner¬
halb der von Winckelmann gesteckten Schranken bewegte. Der Verkehr der
beiden Männer überdauerte die Zeit des italienischen Zusammenlebens und
ward zum eifrigsten Zusammenwirken, seitdem Meyer in den letzten Jahren des
vorigen Jahrhunderts seinen festen Wohnsitz in Weimar aufgeschlagen hatte.
Da begann die Thätigkeit der weimarischen Kunstfreunde, die in der
theoretischen Begründung und praktischen Durchführung winckelmannscher Lehren
ihre eigentliche Aufgabe fanden. Aus ihrem Kreise gingen die Propyläen her¬
vor, denen außer Goethe und Meyer auch Schiller und Wilhelm von Hum¬
boldt ihre Theilnahme widmeten. Es war freilich nicht die erfreulichste Conse-
quenz der winckelmannschen Grundsätze, welche hier gezogen ward. Seine Lehre
von der abstracten Schönheit, dem reinen Wasser ohne Geschmack vergleichbar,
als einem der Natur fremden Ideal fand hier die eifrigste Verbreitung. Leb¬
haft widersetzte man sich der schon auftauchenden Ketzerei, welche das Charak-
teuflische, den Ausdruck als höchstes Princip der Kunst an die Stelle der Ein¬
heit setzte, den Inhalt gegenüber der einseitigen Betonung der Form hervor¬
hob. Jenes Ideal war am reinsten in der alten Kunst zum Ausdruck gekom¬
men, also fand man in ihr die alleinige Lehrmeisterin und Gesetzgeberin auch
der neueren Kunst, ohne zu beachten, wie die griechische Kunst an der ge¬
wissenhaftesten Naturbeobachtung groß geworden und erstarkt war. und ohne
alle Rücksicht auf die im Laufe der Zeiten so ganz und gar geänderte Anschau¬
ungsweise. Endlich wirkte die Alleinberechtigung der alten Kunst auch dadurch
verhängnisvoll, daß aus den zufällig so zahlreich uns erhaltenen Reliefs allge¬
meine Regeln gezogen,wurden, welche man ohne Weiteres auf die Malerei über¬
trug, da es für diese — ebenso zufällig — an alten Mustern fehlte. Herders
Bemühungen waren also vergeblich gewesen, und hatte man früher die Sculp-
tur malerisch behandelt, so trat jetzt das entgegengesetzte Extrem ein. Nicht
zufrieden mit der Darlegung der angedeuteten Principien, suchte man dann
auch dieselben durch Preisaufgaben und Kunstausstellungen praktisch zu beleben;
wer erinnerte sich nicht jener akademischen Gemälde, welche ebenso correct in
den Linien sind als kalt und leblos in Ausdruck und Empfindung? bei denen
man sich unwillkürlich fragt, warum der Maler nicht wenigstens ein Relief ge¬
schaffen, da er auf alle seiner Kunst eigenthümlichen Vorzüge geflissentlich ver¬
zichtete. — Je weniger diese Art Winckelmanns Ansichten zu befolgen und aus¬
zubilden unsere Billigung finden kann, desto inniger dürfen wir jenes schöne
Zeugniß warmer und verständnißvoller Pietät anerkennen, welches Goethe und
Meyer im Vereine mit Friedr. Aug. Wolf in ihrer Schilderung Winckelmanns
und seines Jahrhunderts niederlegten; namentlich was Goethe hier über Winckel¬
manns Charakter. Eigenthümlichkeiten. Bedeutung bemerkt, sind goldne Worte,
ebenso würdig dessen, der sie spricht, wie dessen, dem sie gelten.
Es ist wohl eine bedeutsame Thatsache, daß drei der Männer, welchen
unsre deutsche Literatur ihre Neugründung und ihre schönsten Erzeugnisse ver¬
dankt, so eng mit Winckelmann und seinen Werken verbunden dastehen. Der
gewaltige Einfluß Winckelmanns und ganz besonders seiner Kunstgeschichte
auf die ganze geistige Bewegung der damaligen Zeit, wie sie sich namentlich
in der zählenden deutschen Literatur aussprach, wird heutzutage leicht über¬
sehen oder gering angeschlagen. Und doch erkennen wir die Größe und Be-
deutung eines Mannes nicht allein an seinen unmittelbaren Schöpfungen, son¬
dern ebenso sehr, ost noch deutlicher an dem Anstoß, den er Andern gegeben,
an den anhaltende» und kräftigen Schwingungen, welche diesem Anstoß folgen.
Wir haben aus Herders Worten gesehen, daß mau nicht unempfindlich war
gegen die Bereicherung, welche die deutsche Muttersprache in ihrem Wortschätze
sowohl wie besonders in der Ausdrucksfähigkeit für hohe, mit Inhalt gesät¬
tigte Gedanken und für schwungvolle, fast sehergleiche Anschauungen durch
Winckelmanns Schriften empfing. Aber höher ist noch die Anregung anzuschlagen,
welche die ästhetische Betrachtung der Kunst mittelbar und unmittelbar durch
den auch hierin mit Lessing vereinten Winckelmann erhielt. Das war die
Saite, welche ganz besonders in Deutschlands Forschern nachtönte, welche in
allen den fruchtbaren Untersuchungen, Debatten, Speculationen wiederklang,
in denen ein nicht geringer Theil der literarischen Wiedergeburt Deutschlands
sich vollzog. Wir denken jetzt wohl anders über das Verhältniß des Ideals
zur Natur; uns scheint auch der zu Anfang des Jahrhunderts so lebhaft er¬
örterte Gegensatz zwischen Schönheit und Ausdruck weder an sich so unlösbar,
noch' auch die ausschließliche Anwendung eines dieser beiden Principien auf die
griechische Kunst den historisch erkennbaren Thatsachen zu entsprechen. Wir
glauben ferner die verschiedenen Gesetze nicht blos der bildenden und der dich¬
tenden Kunst, sondern auch der einzelnen bildenden Künste klarer zu erkennen;
aber nie dürfen wir vergessen, auf wessen Schultern wir stehen, und immer
wird dann Winckelmanns Name unter denen genannt werden, welchen das
Verdienst der ersten Anregung gebührt.
Neben der hohen Formvollendung und der ästhetischen Grundlage kommt
aber bei Winckelmanns Kunstgeschichte ein andres, vielleicht noch wichtigeres
Moment in Betracht. Man denke nur, wie es damals noch meistentheils im
Gebiete historischer und antiquarischer Forschung aussah. Bei wie Wenigen
zeigte sich auch nur eine Ahnung davon, daß Geschichtsforschung etwas Anderes
sei als das fleißige Zuscunentragen der uns überlieferten Notizen. Es war
eine dürre Citatengelehrsamteit, die über all dem Kleinen und Vereinzelten nur
selten den Blick zu dem großen Zusammenhang des Ganzen zu erheben ver¬
mochte, welche aus eben diesem Grunde die Kritik nur unsicher und unmetho¬
disch zu handhaben verstand, welche sich ängstlich auf die so vielfach abgerissenen
Zeugnisse der alten Schriftsteller beschränkte und, da sie von der in sich zu¬
sammenhangenden und aus einem Kerne heraus nach den verschiedensten Rich¬
tungen wirksamen Schöpferkraft des menschlichen Geistes keine Ahnung Hatte,
auch jedes noch so kleine Gebiet der Forschung als ein vollständig für sich
bestehendes betrachtete. Daß vollends die Geschichtsforschung nicht blos ein
Äußeres Aneinanderreihen der Thatsachen, sondern ein Erkennen und eine Dar¬
stellung der organischen Entwicklung aus dem innern Wesen heraus bezwecke,
das war eine von Wenigen erkannte Wahrheit; noch war auf keinem Gebiete
historischer oder philologischer Forschung der Versuch gemacht, ein etwas um¬
fangreicheres Ganze von solchem Gesichtspunkte aus zu betrachten und zu be¬
handeln. Das Werk, welches zuerst mit vollem Bewußtsein diese Aufgabe zu
lösen strebte, welchem daher ein Ehrenplatz an der Spitze moderner Geschichts¬
schreibung gebührt, ist Winckelmanns Geschichte der Kunst. Klar und deut¬
lich spricht es die Vorrede aus. „Die Geschichte der Kunst des Alterthums,
welche ich zu schreiben unternommen habe, ist seine bloße Erzählung der Zeit-
folge und der Veränderungen in derselben, sondern ich nehme das Wort Ge¬
schichte in der weiteren Bedeutung, welche dasselbe in der griechischen Sprache
Hai, und meine Absicht ist, einen Versuch eines Lehrgebäudes zu liefern. Dieses
habe ich in dem ersten Theile, in der Abhandlung von der Kunst der alten
Völker,____auszuführen gesucht. Der zweite Theil enthält die Geschichte der
Kunst im engeren Verstände, das ist in Absicht der äußeren Umstände.....
Das Wesen der Kunst aber ist in diesem sowohl als in jenem Theile der vor¬
nehmste Endzweck." Es versteht sich, daß Winckelmann, um dieses Ziel zu
erreichen, sich nicht mit'einer Musterung und kritischen Behandlung der so frag¬
mentarisch aus dem Alterthum «uf uns gekommenen Nachrichten von der Kunst
und den Künstlern begnügte, sondern daß er vor allem die Kunstwerke selber,
die ja nicht allein Quelle, sondern auch Gegenstand der Forschung sind, herbei¬
zog und befragte. Welche Antwort sie dem berufenen Frager gaben, das weih
ein jeder, der einmal die begeisterte Beschreibung des belvederischen Apollon
oder den Hymnus auf den Hcraklestvrso im Vatican gelesen hat. Indessen
auch diese Mittel der Erkenntniß genügten ihm nicht, da er wohl einsah, daß
in der Kunst sich nur eine Seite desselben schöpferischen Geistes offenbart, wel¬
cher den Glauben und die religiösen Anschauungen, die Staatseinrichtungen
und die Sitte des täglichen Lebens, die Dichtung und das Denken desselben
Volkes hervorbringt und bedingt, daß also aus der genaueren Erforschung aller
dieser Zweige auch in die Erkenntniß der Kunst neues Licht strömen muß.
Andrerseits konnte er sich nicht verhehlen, daß der menschliche Geist diese
Thätigkeit nicht ausübt, ohne auch seinerseits auf das Stärkste in Abhängig¬
keit von äußeren Einflüssen zu stehen; die Menschen machen nicht blos die Ge¬
schichte, sondern jeder Einzelne wird auch wieder durch das Geschehene und
durch die Umgebung, kurz durch alle die Bedingungen und Voraussetzungen
seiner Existenz in seinem Handeln bestimmt. So zog also Winckelmann die
Art des Klimas und die Natur des Landes, die Körperbildung der einzelnen
Völker und ihre Trachten, die politischen Verhältnisse, unter denen die Kunst
geübt ward und die Stellung der Künstler zu Staat und Publikum, endlich
auch die Verschiedenheit des Materials und der technischen Behandlung in den
Kreis seiner Betrachtung. Es ist wahrhaft staunenswerth, mit welchem Scharf¬
blick er kein Moment übersah, aus dem die Betrachtung der Kunst Gewinn ziehen
konnte, wenn ihm auch bei der Durchführung natürlich manche Thatsache ver¬
borgen blieb oder in ihrer Bedeutung entging. Dazu aber, daß er die Auf¬
gabe so groß und richtig erfaßt hatte, kam noch der geniale Seherblick, mit dem
er aus der chaotischen Masse des Stoffes die Unterschiede herausfand, die Zei¬
ten und Stile sonderte und, da ihm jede Einzelheit das Bild des Ganzen ver¬
vollständigte, die klare Einsicht des Ganzen aber jedes Einzelne in ein helleres
Licht setzte, auch da richtig erkannte oder errieth, wo in dem ihm vorliegenden
Material kaum ein schwacher Urkalk zur Divination gegeben war. Denn ver¬
gessen wir nur nicht, Griechenland mit seinen Schätze» war noch nicht
wieder geöffnet; was Winckelmann von Kunstwerken kannte, gehörte fast aus¬
nahmslos der Zeit der sinkenden Kunst oder gar des gänzlichen Verfalls an,
während er die ältere Zeit und die höchste Kunstblüthe nur in dem trüben
Spiegel späterer Kopien erblicken konnte. Und doch zeichnet er mit dem sicheren
Griffel des Meisters die großen Epochen des Wachsthums, der Blüthe und des
Verfalls, des harten, des großen, des schönen und des sinkenden Stils, so
anschaulich und so wahrheitsgetreu, daß wir hieran vielleicht am schlagendsten
den echten Propheten der Kunst in ihm erkennen.
Auch die eben geschilderten Eigenschaften, durch welche Winckelmanns Ge¬
schichte der Kunst für die Geschichtsforschung wie für die Alterthumswissenschaft
epochemachend geworden ist, wurden rasch in ihrer Bedeutung erkannt. Herder
stellte sofort die gleiche Forderung an eine Geschichte der griechischen Dichtkunst
und Weisheit, „welche mit der Kunstgeschichte einen großen Weg zusammen
thun könne". Aber wie lange dauerte es, ehe auf den übrigen Gebieten Aehn-
liches auch nur versucht ward! Lebhafter war die Mitarbeit auf dem nunmehr
vorbereiteten Felde der Kunstgeschichte selber. Heyne verschaffte dieser das
Bürgerrecht in den Hörsälen der Universitäten und machte dadurch eine allge¬
meinere Betheiligung möglich; was er durch eigne Arbeit gerade auf diesem
Gebiete förderte, das war gewiß dankenswert!), aber es verschwand neben den
Leistungen des Vorgängers, dessen hohe Begeisterung und Jntuitionsgabe seine
kühle Natur, die jeglicher eigenen Anschauung entbehrte, nicht zu fassen und
zu schätzen vermochte. Von andrer Seite machte Hirt Opposition gegen Winckel¬
mann. Er war es. der, wie ich vorhin andeutete, in der Kunst den Ausdruck
anstatt der Schönheit als das Maßgebende betonte und diese nicht minder ein¬
seitige Auffassung durchzuführen suchte, mit einer unverächtlichen eigenen Kennt¬
niß der Kunstwerke, die aber nicht durch eine entsprechende selbständige Durch¬
forschung der übrigen Hilfsmittel, namentlich der von den alten Schriftstellern
überlieferten Nachrichten, geläutert ward. Letzterer Mangel trifft auch Heinr.
Meyer, der überhaupt nicht anders als in Einzelheiten über Winckelmann
hinauszublicken vermochte — und das in einer Zeit, da schon die ganze Grund¬
lage unsrer Erkenntniß von der alten, namentlich von der griechischen Kunst
eine durchaus andere geworden war.
In Rom war bald nach Winckelmanns Tode - und zum Theil infolge der
von ihm ausgehenden Anregungen durch Sammlung der zerstreuten Kunstschätze
und durch erfolgreiche neue Ausgrabungen ein überaus reiches und bequem
übersehbares Material zusammengebracht in dem neugegründeten vatikanischen
Museum, durch dessen feinsinnige Erklärung sich En rio Quirin o Visconti
wenigstens mittelbar ein großes Verdienst auch um die Kunstgeschichte erwarb.
In ähnlicher Weise war dort Georg Zoega thätig, den Inhalt andrer Samm¬
lungen für die Wissenschaft nutzbar zu machen. Zu Anfang unsres Jahrhunderts
sah dann das kaiserliche Museum zu Paris, aus der Kriegsbeute namentlich
Italiens gebildet, alles was von bedeutenden Kunstwerken erreichbar gewesen,
in sich vereinigt und bot in ziemlicher Vollständigkeit das Material dar, welches
damals den Stoff der Kunstgeschichte bildete. Da nun hier die Blüthezeit der
griechischen Kunst nur in späten römischen Copien, die spätgriechischc und rö-
mische Kunst aber in Originalen vertreten war, so konnte sich bei Visconti und
bei dem unter seinem Einfluß stehenden Thiersch jene Ansicht festsetzen, daß die
Kunst, nachdem sie mit Pheidias die Höhe erklommen, von da an lange Zeit
gleichsam auf einer Hochebene in gleichmäßigem Schritte hingewandelt sei, bis
sie unter Hadrian in raschem Falle wieder herabsank. Es ist uns heute kaum
begreiflich, wie eine allem Wesen der Geschichte so durchaus widersprechende
Ansicht überhaupt Wurzel fassen konnte. Man denke sich, sechs Jahrhunderte
soll die Kunst auf immer gleicher Höhe bleiben, während Religion und Litera¬
tur in vollständiger Umgestaltung sich befinden, während Staat und Nation
den größten Wechsel durchmachen! Dort das periklcische Athen, der feste Gottes¬
glaube des Aischylos, die klare und gemessene Schönheit der sophokleischen Poesie,
der feine Kunstsinn des hellenischen Volkes; hier die römische Weltherrschaft und
die Modelaune des augenblicklichen Gewalthabers, das zerbröckelnde Heidenthum.
in der Literatur ein Treibhaus statt eines blumcnprangenden Gartens, ringsum
nur Prunk- und Prahlsucht; dazwischen alle die Stufen, welche von dort hier¬
her geführt hatten. Ja freilich wenn das'möglich war, daß die Kunst von alle-
dem nickt berührt ward, da war Winckelmanns Glaube an die Gemeinsamkeit
und den festen Zusammenhang aller Culturentwicklung gar thöricht, da konnte
und mußte sich ja die Kunstgeschichte auf den Isolirschemel stellen und alle Be¬
rührung mit der übrigen Geschichtsforschung sorgfältig vermeiden.
Wenige Jahre vor seinem Tode ward Visconti auf Veranlassung des eng¬
lischen Parlaments nach London gerufen, um sei» Urtheil über die Marmor¬
werke abzugeben, welche der frühere englische Gesandte an der Pforte, Lord
Elgin, aus Athen mitgebracht und dem Staate zum Verkauf angeboten
hatte. Visconti fand in den Parks en on ssculpturen nur eine Bestätigung
seiner Ansicht, er erkannte in ihnen denselben Stil wie im Laokoon, im Torso
vom Belvedere, im borghesischen Fechter. Winckelmann hatte den „schönen" Stil
erst mit Praxiteles beginnen lassen, hier zeigte sich ja, daß er auch schon dem
Pheidias eigen war — also ein neuer Beweis für das Axiom von der gleichen
Höhe der Kunst in jenen Epochen! Erscheint uns ein solches Urtheil bei einem
so gründlichen Kenner wie Visconti schwer begreiflich, so dürfen wir doch nicht
ungerecht gegen ihn sein. Wer zum ersten Male ein fremdes Land betritt,
dem drängt sich zunächst das Uebereinstimmende in der Gesichts- und Körper¬
bildung der Bewohner auf, ehe er die individuellen Besonderheiten klar zu er¬
fassen vermag; wer zuerst eine Landschaft unsres deutschen Vaterlandes besucht,
in welcher ein ihm fremdartiger Dialekt herrscht, der glaubt anfangs, es sei
kein Unterschied zwischen den Organen, der Aussprache, den Ausdrucksweisen
der Einzelnen erkennbar, bis fortgesetzte und genauere Bekanntschaft ihn eines
Besseren belehrt. So erging es auch Visconti, und es ist das um so erklär¬
licher, da seine Meinung sich auf die Ueberzeugung eines langen, ganz der Kunst
gewidmeten Lebens stützte. Thiersch, der damals noch jugendlich war, hat in
späteren Jahren, je genauer er die neuen Entdeckungen studirte und je rascher
diese sich mehrten, desto bestimmter den früheren Ansichten entsagt und sich zur
Anerkennung einer wahrhaften und ununterbrochenen Entwicklung bekehrt.
In ungeahnter Fülle entstiegen dem griechischen Boden die treu behüteten
Schätze, auch ohne daß Winckelmanns später von L. Roß und der preußischen
Regierung wieder aufgenommener Plan, in der nur mit Flußschlamm überdeckten
Ebene von Olympia Ausgrabungen anzustellen, bis zum heutigen Tage eine
Wahrheit geworden wäre. Am geringsten ist natürlich die Ausbeute der neueren
Entdeckungen auf dem Felde derMalerci, deren Erzeugnisse ja die vergänglichsten
sind. In Griechenland selbst ist kein antikes Gemälde zum Vorschein gekommen.
Pompeji hat zwar noch reiche Schätze an Wandgemälden geliefert, aber sie alle
sind doch bloße Decorationsarbciten einer späten Zeit, welche nur in seltenen
Fällen einen directen Rückschluß auf die kunstmäßige Malerei früherer Zeiten
gestatten. Andrerseits hat sich durch die umfangreichen Funde namentlich in
Etrurien und Unteritalien die Menge der bemalten Vasen sehr beträchtlich
vermehrt. Winckelmann hatte zuerst der früher herrschenden Ansicht von dem
etruskischen Ursprung solcher Thongefäße widersprochen und sie als griechisch
erkannt; neuere Untersuchungen haben dies Resultat nur bestätigt und weiter
festgestellt, daß dieselben größtentheils in Griechenland, namentlich in Attika,
gefertigt und auf dem Wege des Handels nach allen Weltgegenden verbreitet
worden sind. Dieselben begleiten nun allerdings einen großen Theil der griechi¬
schen Kunstentwickelung, aber nur als Erzeugnisse des Handwerkes, wo neben
vielen trefflichen Gefäßen eine Masse unbedeutender Waare sich erhalten hat.
Theils wegen der Mannigfaltigkeit der aus ihnen dargestellten, vorwiegend
mythologischen Gegenstände, theils als Zeugniß für die allgemeine Verbreitung
des Kunstsinnes bei den Griechen sind uns die Vasen unschätzbar, aber um die
alte Malerei daraus kennen zu lernen genügen sie so wenig, wie heutzutage
Bilderbogen oder die Schildereien unsrer Kaffetassen und Pfeifenköpfe uns einen
Ueberblick über die Entwickelung unsrer Malerei gewähren können. Wir würden
also fast vollständig auf die Nachrichten der alten Schriftsteller von der Malerei
und von einzelnen Gemälden der berühmten Meister angewiesen sein, wenn nicht
hier das ncubelebte Studium der neueren Malerei durch Ermittelung der all¬
gemeinen Gesetze der Kunst und der besonderen Regeln für jeden einzelnen Zweig
der Technik einen weiteren Anhalt böte. So ist z. B. der namentlich von
Letronne und Raoul-Rochette so lebhast geführte Streit nach der Verbreitung
der Wand- und der Tafelmalerei bei den Alten bei der Beschaffenheit der
Nachrichten kaum anders zu lösen, als indem wir die erhaltenen Beschreibungen
und namentlich die daraus ersichtliche Compvsitionsweise mit modernen Fresco-
und Oelbildern vergleichen; wobei sich dann ergiebt, daß die in den Farben so
einfachen, in der Menge der Figuren so mächtigen, in der Composition so
streng gegliederten Bilder des Polygnotos in Delphi kaum anders als in engster
Verbindung mit der Architektur, d. h. als Wandmalereien sich auffassen lassen.
Es liegt auf der Hand, daß eine farbige Wand, welche also der Theil eines
Bauwerkes ist, viel ruhiger in der Farbe behandelt und viel strenger in der
Composition aufgebaut sein muß, als ein isolirtes Staffeleigemälde, welches
die speciell malerischen, auf der Farbe und Perspective, aus Schatten und Licht
beruhenden Wirkungen in den Vordergrund stellen wird. Daß übrigens den
Alten alle Künste auch dieser Jllusionsmalcrei bekannt waren, das zeigten theils
deutliche Zeugnisse, theils die wenigen erhaltenen Neste antiker Tafelmalerei;
grundfalsch ist also die Ansicht derer, die in der alten Malerei durchweg nichts
Anderes als eine Art farbigen Reliefs erblicken zu dürfen glauben.
Weit ergiebiger als für die Malerei waren zahlreiche Reisen und Ent¬
deckungen für die beiden Schwesterkünste, die Architektur und Sculptur.
Im Anfange unsres Jahrhunderts haben Reisende aller Nationen Griechenland
hinsichtlich seiner Kunstreste geradezu wiederentdeckt, und jeder einzelne Fund
verbreitete unerwartetes Licht über viele und bis dahin dunkle Gebiete; ähnlich wie
Winckelmanns Untersuchung der Tempel von Pästum den ersten Blick in die
Verschiedenheit der griechischen Architektur von der römischen hatte werfen lassen.
Dodwell und Gell lenkten ihre Aufmerksamkeit auf die Polygonen, sogenannten
kyklopischen Mauern der alten Burgen und Städte; sie entdeckten die The¬
sauren, die Schatzhäuser und Grabmäler der ältesten griechischen Fürstengeschlechter,
deren architektonische Construction, ohne Säulen wie ohne Bogen, den späteren
hellenischen und italischen Baustilen so ganz fremdartig gegenübersteht. Indem
man diese Bauweise über das ganze Gebiet, welches einst die griechisch-italischen
Völkerschaften inne hatten, und nur hier verbreitet fand, vermochte man darin
eine diesen Stämmen von Alters her gemeinsame und eigenthümliche Ent¬
wicklungsstufe der Baukunst zu erkennen. — Dann folgte die Auffindung der
Giebelgruppen des Athenatempels auf Aigina, welche fast gleichzeitig mit der
Aufstellung der elginschen Sculpturen im britischen Museum, nach München in
die Glyptothek gelangten. Also war es kein vereinzelter Statuenschmuck, den
die Giebelfelder des Parthenons getragen, auch andere Tempel hatten einst in
ähnlicher Schönheit geglänzt! Die Anwendung dieses Fundes auf die längst be¬
kannte Niobegruppe, die Verkeilung der letzteren Statuen in dem festen Rahmen
eines Giebelfeldes war die nächste Folge; eingehende Untersuchungen über ver¬
loren gegangene Giebelgruppen. von denen nur eine schwache Kunde zu uns
gelangt ist, schlössen sich an und fanden in jenen erhaltenen Beispielen ein
sicheres Fundament. — Andere Funde an dem Tempel von Aigina sowie die
Entdeckung eines großen Frieses im Apollotempel von Bashal unweit Phigaleia.
dessen Platz im Innern des Tempels über den Säulen noch erkennbar war,
erwiesen unwiderleglich, wenn auch nicht ohne Widerspruch, die vielfach an¬
gezweifelte Nachricht, daß die größeren unter den alten Tempeln hypäthral
waren, d. h. ihr Licht durch eine Oeffnung im Dache erhielten. Die Richtig¬
keit dieser Ansicht ward fernerhin durch die genauere Untersuchung bestätigt,
welche nach jenen Funden im griechischen Mutterlande den zahlreichen Tempel¬
resten Siciliens zu Theil ward; die hier üblichen langen und schmalen, durch
abgeschlossene Vorraume und diese Säulenhallen noch mehr verdunkelten Tempel-
cellen würden ohne jenes Auskunftsmittel vollständig finster gewesen sein. —
Noch etwas Anderes aber lehrten uns die Tempel Siciliens und der von Aigina.
Das unedlere, poröse und nicht schön gefärbte Material, aus welchem dieselben
errichtet sind, hatte einen Ueberzug von Stucco, dieser wiederum wegen seines
harten Weiß eine farbigeBemalung hervorgerufen. Ein einfacher Ton bedeckte
Säulen, Wände und andere Flächen, künstlichere Malereien die Gesimse und
sonstigen Verbindungsglieder, wie wir das von den pompejanischen Gebäuden
ja schon länger kannten. Die Frage lag nahe, bis zu welchem Umfange über¬
haupt in der alten Architektur zu verschiedenen Zeiten Farbe angewandt worden
sei. Unser Sinn hat sich an das spröde Weiß und Gold in der Ausschmückung
unsrer Prachtsäle und an die nüchterne Kalktünche unsrer Gotteshäuser so ge¬
wohnt, daß eine lebhaftere Färbung dem Ernst und der Würde des Baues nicht
recht entsprechend scheint. Und doch hat eine genauere Untersuchung gezeigt,
daß nicht blos in den mit Stucco überzogenen, sondern auch in den aus Mar¬
mor errichteten Gebäuden in der That unverkennbare Spuren von Bemalung
sich erhalten haben. Bei diesen letzteren ist dieselbe jedoch auf diejenigen Theile
der Architektur beschränkt, welche von minder einfachem Wesen und minder
klarer Form einer Erklärung ihrer Bedeutung zu bedürfen schienen; während
andere Theile, wie die aufstrebende und tragende Säule, das darauf lastende
Gebälk, die verschließende Wand ihr einfacheres Wesen auch ohne eine solche
Erklärung aussprechen. Das ist aber überhaupt einer der bedeutendsten Fort¬
schritte, den die Erkenntniß griechischer Kunst seit Winckelmann gemacht hat,
die Einsicht, daß Inhalt und Form eins sein und einander decken sollen,
daß „des Körpers Form auch seines Wesens Spiegel" ist. Diese Einsicht ist
zunächst auf dem Felde der Architektur gewonnen. Der hellenische Tempel wurzelt
in bestimmten Anschauungen und Gebräuchen ^des Cultus, aus diesen heraus¬
wächst sein Grundplan, der in der Tempelcella einen abgeschlossenen Raum als
Wohnung der Gottheit und einen geöffneten Raum zur Vermittlung des Aller-
heiligsten mit der Außenwelt in den Säulenhallen erheischt. Vom Boden empor
aber wächst ein System von tragenden und getragenen, schwebenden und decken¬
den Gliedern, alle nicht blos ihrem Einzelzweck entsprechend, sondern auf das
Innigste aus einander berechnet und untereinander verbunden durch eine Anzahl
feinerer Glieder, die bald eine engere Verknüpfung, bald einen Conflict zwischen
zwei entgegengesetzten Functionen zum Ausdruck bringen; wie z. B. das Kapitell
der Säule den Widerstreit des mit seinen senkrechten Kanälen aufwärts streben¬
den Säulenstammes und des darauf lMenden, zur Aufnahme der Decke wie
des Daches dienenden Gebälkes darstellt. Diese Bedeutung der so wichtigen
Zwischenglieder anschaulicher zu machen hilft das Ornament, weiches sich be¬
sonders gern farbiger Zeichnung bedient, um an eine bezeichnende Analogie der
allen bekannten Natur zu erinnern. So weisen die Kannelüren der Säule auf
die Rippen eines aufschießenden Stengels, jenes unter dem irreleitenden Na¬
men des Eierstabes bekannte Ornament auf die durch einen Druck von oben
umgebogenen aber doch noch elastisch widerstrebenden Blätter hin; ein bald
eckig, bald rund gewundenes Muster (wie in den Verzierungen ^ 1a grse^ne)
aus ein Riemen- oder Bandgcflecht, welches bald zu festem Umschnüren ge¬
braucht, bald schwebend in der Höhe über dem freien Raum ausgespannt werden
kann. Es ist nicht zu viel behauptet, wenn wir sagen, daß der Einblick in
den Organismus des hellenischen Tempels uns verschlossen war, ehe die „Te¬
ktonik der Hellenen" erschien. Dasselbe Kunstgefühl aber, welches hier die Form
nur als den congruentem Ausdruck des Wesens gestaltete, durchdringt auch alle
andern Zweige der Kunst. —
In der Sculptur ist wiederum die Bereicherung des Stoffes ebenso unend¬
lich als die Fülle der daraus für die Wissenschaft neu erwachsenden Aufgaben.
Auf die Statue» vom Parthenon und von Aigina, wie auf die Reliefs von
Bashal ward schon hingewiesen, auch die sicilischen Tempel lieferten bedeutende
Ausbeute; aus der reichen Masse der übrigen Werke möge nur eines der
schönsten, die Aphrodite von Melos. und zwei der neusten Funde Erwähnung
finden, die Entdeckung der für die älteste wie für die spätere Zeit gleich wich¬
tigen Sculpturen Lykiens durch den Kohlenhändler Ch. Fellows, und die Aus¬
grabung des Maussolleions in Halikarnasos. Dieselbe Frage nach der Poly-
chromie, welche wir oben bei der Architektur erwähnten, ist durch die neuen
Entdeckungen auch für die Sculptur besonders nahe gelegt. Es treten nämlich
an manchen jener Marmorwerke unzweifelhafte Reste von Malerei hervor, ja
in einigen der Selinuntischen Reliefs finden wir gar die nackten Körpertheile aus
Marmor, den Rest aus bunt bemaltem Kalktuff gebildet. Dies kann nicht auf-
fallen, wenn wir bedenken, daß die berühmtesten Götterbilder des Alterthums
aus Elfenbein und theilweise emaillirtem Golde zusammengesetzt waren und
daß Praxiteles unter seinen Marmorstatuen diejenigen besonders hoch schätzte,
bei denen er sich der Hilfe des berühmten Malers Niklas bedient hatte. In
der That besitzen wir — auch abgesehen von den ganz gefärbten Figuren aus
gebranntem Thon -—noch Marmorstatuen genug, welcheeine mehr oder minder
vollständige Bemalung aufzuweisen haben. Die in Pompeji ausgegrabenen
Standbilder zeigen fast durchgängig gefärbte Haare, Augen und Lippen, sowie
auch die Säume der Gewänder durch einen farbigen Streifen hervorgehoben
zu werden Pflegen; an einer kürzlich in der Nähe Roms entdeckten Kolossalstatue
des Augustus ist sein Mantel ganz und gar purpurn, die Reliefs an seinem
Harnisch in mehren Farben ausgemalt. Da das Factum der Bemalung somit
feststeht, so ist nunmehr die Untersuchung ihrer Grenzen unabweisbar geworden,
für welche vor allem eine möglichst genaue Feststellung des noch nachweislichen
Thatbestandes erforderlich ist.
Auch außerhalb des griechischen Bodens ist in unserm Jahrhundert der
Entdeckungen das Material emsig vermehrt. Aegypten ist seit der Expedition
Bonapartes zu wiederholten Malen neu erforscht; in den letzten Jahrzehnden
sind im Wetteifer der Engländer und Franzosen die Paläste der assyrischen
Hauptstädte wieder ans Tageslicht gezogen. Da ist denn natürlich auch die
Fragenach den Anfängen der griechischen Kunst wiederum in den Vorder¬
grund getreten. Bekanntlich hat Winckelmann die Herleitung der griechischen Kunst
aus Aegypten geläugnet; „es wäre — sagt er — für diejenigen, welche alles
aus den Morgenländern herfuhren, mehr Wahrscheinlichkeit auf Seiten der
Phönicier, mit welchen die Griechen sehr zeitig Verkehr hatten." Auch hier
scheint Winckelmann das Nichtige gesehen zu haben. Einen umfassenden Ein¬
fluß der ägyptischen Kunst auf die griechische tonnen wir mit ziemlicher Sicher¬
heit in Abrede stellen; nicht so vollständig lassen sich dagegen die Zusammen¬
hänge der ältesten griechischen Kunst mit dem asiatischen Orient abweisen, mit
jener eigenthümlich erstarrten Kunst, die uns in Assyrien entgegentritt und, wie
im Mittelalter die romanische Sculptur, mit ihrem leblosen Schematismus nur
das Ende einer langen Kunstentwicklung zu bezeichnen scheint. Hier bedarf es
»och einer eindringenden Untersuchung der assyrischen Kunstwerke, wie sie nur
erst eben begonnen ist. Auch die Frage nach der Rolle, welche etwa die
Phönicier durch selbständige Kunstübung oder als Vermittler fremder Kunst ge¬
spielt haben, harrt noch ihrer Lösung, wenn auch so viel schon jetzt sich sagen
läßt, daß die spätere, für uns mustergiltige Kunst der Griechen ein eigenstes
hellenisches Erzeugniß ist und ohne bedeutende fremde Einflüsse sich entwickelt hat.
Bei solchen Forschungen kann die Archäologie natürlich der Beihilfe der Philo¬
logischen Schwcsterdisciplinen nicht entrathen. Wie ließen sich Wohl die zuletzt
bezeichneten Fragen lösen, ohne die allgemeineren politischen und culturhistorischen
Verhältnisse und Verknüpfungen zu berücksichtigen? Ebenso verdanken auch eine
ganze Reihe andrer Fragen aus der Kunstgeschichte der lebendigen Thätigkeit
innerhalb der verwandten Zweige der Wissenschaft ihre Anregung und zum
Theil die Möglichkeit ihrer Lösung. Längst war es anerkannt, daß in der Ge¬
schichte Griechenlands die Stammesunterschiede, namentlich der Gegensatz
des dorischen und ionischen Stammes, eines der allerwescntlichsien Momente
bilden; der Gegensatz tritt nicht allein in der äußeren Geschichte hervor, sondern
ebenso in allen Einrichtungen und Gebräuchen. Allmälig entdeckte man ihn
auch in der Literatur als nicht minder wirksam: den beweglicheren, feineren,
für die Außenwelt und ihre Eindrücke empfänglicherer Sinn der Jonier gegen¬
über der Abgeschlossenheit, dem Ernst und der Tiefe, aber auch der Härte und
Schwerfälligkeit des dorischen Stammes, endlich die Auflösung der Gegensätze
bei den am reichsten begabten Attikern. Was sich früher nur vermuthen ließ
haben die neueren Entdeckungen uns sichtbar vor Augen geführt, daß dieselben
Gegensätze auch die Entwicklung der Kunst bedingen, Der plumpen Unbeholfen-
heit der sicilischen Sculpturen, welche sich neuerdings ebenso in altertümlichen
Werken des dorischen Griechenlands wiedergefunden hat, stellt die feine Anmuth
und Zierlichkeit altattischer und altivnischcr Werke, wie des sogenannten Harpyicn-
monuments von Xanthos, gegenüber. In Aigina erreicht der dorische sei
in vollendeter lebensvoller Darstellung des Körpers seine höchste Blüthe, indessen das
Gesicht noch in althergebrachter Starrheit verharrt; in Athen entwickelt sich
theils die feine Behandlung des Gewandes, theils das schwierigste aber auch
Höchste der Kunst, die Darstellung des Inneren durch den Ausdruck des Gesichts.
Ja noch in der höchsten Blüthezeit der Kunst ist der Dorier Polytleitos mit
seiner Schule vorzugsweise thätig, die Schönheit des jugendlichen .Körpers in
den mannigfachsten Variationen zum Ausdruck zu bringen, während aus der
attischen Schule ein Götterideal nach dem andern hervorgeht, eine große ge¬
dankenvolle Komposition der andern folgt. Nicht ganz so deutlich läßt sich der
Gegensatz in der Malerei verfolgen (wo auch die Schulzusammenhänge stärker
in einander greifen), obgleich die Alten ihn hier bestimmt erkannten. Die
hauptsächlichen Anregungen scheinen auch hiervon Jonien und Attika ausgegangen
zu sein, wogegen bei den Doriern die Tendenz auf das Lehrbare, bis zur Ein¬
führung des Zeichenunterrichts in die Schulen, vorherrschte. Wie der Gegensatz
in der Baukunst zu Tage tritt, bedarf nur einer Andeutung, und gerade hier
Zeigt sich das Vermittelnde, die Gegensätze Abschleifende des attischen Charakters
besonders deutlich in der Ausbildung, welche sowohl der dorische wie der ionische
Stil in Athen erhalten hat.
Vielleicht am allernächsten von allen Zweigen der Alterthumswissenschaft
ist mit der Archäologie die Mythologie verbunden. Wiederum ist es Winckel-
manu, der diese Verbindung zuerst streng durchführte, da er erkannt hatte, daß
nicht Geschichte, am wenigsten römische, sondern die Gestalten und Begebenheiten
der griechischen Götter- und Heldensage den Hauptinhalt der alten Kunst bilden.
Er hatte auch von der griechischen Religion bessere Vorstellungen als die meisten
seiner Zeitgenossen; während diese in Schalen Pragmatismus nur entstellte
Historie in den Mythen erkannten, hatten für Winckelmann die Götter der
homerischen Gesänge ein wahrhaft göttliches Dasein. Doch erst in unsrem
J.ünhundert ist die Mythologie zur Religionsgeschichte geworden, und erst so
kann sie nicht blos mit der Kunsterklärung, sondern auch mit der Kunst¬
geschichte in das richtige Verhältniß treten. So lange die Kunst in schönster
Blüthe stand, ist die Schöpfung der Göttergestalten ihre höchste Aufgabe ge¬
wesen; in der verschiedenen Art und Weise, wie sie diese Aufgabe zu lösen
suchte, spiegelt sich am treusten ihre Entwicklung. Zunächst gilt es nur noch
der äußeren Form Herr zu werden: ein ruhiger Typus mit eng angeschlossenen
Armen und kaum getrennten Beinen neben einem bewegteren, weit ausschrei¬
tend und die Arme gewaltsam ausgestreckt oder gehoben — diese beiden Gc-
staltungsmeisen genügen für die Menschen sowohl wie für die männlichen Götter
allzumal, die nur durch das äußere Beiwerk sich von einander unterscheiden
Trägt die Hand einen Blitz, so ist Zeus gemeint, ein Dreizack bezeichnet
Poseidon; der übrige Ausdruck zeigt keine Verschiedenheit, ein stereotypes Lächeln
ist überhaupt noch die einzige Weise, wie sich das Innere äußert, wie sich die
Freundlichkeit des gnädigen Gottes offenbart. Nicht anders ist es bei den
weiblichen Gottheiten; auch hier deuten blos die Attribute aus die ver¬
schiedenen Göttinnen hin, mögen sie steif und vierkantig da sitzen, die Hände
auf den Schenkeln, oder vor uns stehen und durch ein leises Heben des Ge¬
wandes auch in dieses ein erstes bescheidenes Motiv der Bewegung bringen,
wie durch das Lächeln ins Gesicht. Ganz langsam erstarkt so, im Einzelnen ver¬
folgbar, die Fähigkeit, das Aeußere darzustellen. Kaum aber ist diese Schwie¬
rigkeit überwunden, da tritt mit voller Gewalt die Aufgabe an die Kunst heran,
nicht mehr blos durch Attribute das Wesen der Gottheit anzudeuten, son¬
dern ihr Inneres in dem Körper und auf dem Antlitz selber wirklich auszu¬
drücken. Und noch empfand die Zeit in gläubigem Sinne die Tiefe der Gott¬
heit. Da schafft Pheidias seinen Zeus für den Tempel von Olympia, wo die
Sieger bekränzt werden; zum bedeutsamen Vorbild nimmt er sich die homerischen
Verse, wo Vater Zeus der flehenden Thetis für ihren Sohn Ehre und Sieg
verheißen hat:
Nie ist gnädige Gewährung und übermächtige Majestät schöner gepaart worden
als in den wenigen Versen. In diesen beiden Eigenschaften liegt das ganze
Wesen des Zeus wie im Kerne enthalten; das erkannte Pheidias mit wahrer
Genialität, und indem er in der Stirn, in den Brauen und dem Löwcnhaar
die Majestät, in dem leise geöffneten Munde die Gnade thronen und alles andre
Beiwerk des Bildes nur diese Eigenschaften weiter entwickeln ließ, schuf er seinen
Hellenen den Zeus, bei dessen Anschauen sie all ihr Leid vergaßen. Diese Fülle
des übermenschlichen Gottesbegriffes zum reinen und gesammelten Ausdruck zu
bringen, vermochte nur die attische Kunst der besten Zeit. Nach dem pelo-
Ponnesischen Kriege ist der Glaube ein andrer geworden und damit auch die
künstlerische Auffassung der Götter. Der eine Künstler zerlegt unter dem Ein¬
flüsse der Philosophie das einige Wesen der Gottheit in seine verschiedenen
Seiten; neben Eros, den Liebesgott, stellen sich Himeros und Pothos, Sehn¬
sucht und Verlangen, Aphrodite erhält Peitho und Paregoros. die Göttinnen
der Ueberredung und des Liebestrostes, zu Begleiterinnen, ja es dienen sogar
Dopvelbustcn. um zwei Seiten'eines Wesens zum Ausdruck zu bringen. Der
andre Künstler schwelgt in der Darstellung schaler Formen und verlockenden
Liebreizes; ihm sind die Götter den Menschen gleich geworden, Aphrodite ist
nicht mehr die Herrscherin der Liebe, sondern das schöne, von Liebe beherrschte
Weib. So nähern sich die Grenzen der Götter, Heroen und Menschen einander,
bis sie in der Hofkunst Alexanders des Großen und seiner Nackfolger ganz in¬
einander fließen. Die Götterdarstellungen werden seltener, dafür erhalten die
irdischen Gewalthaber den Blitz des Zeus als Abzeichen. Die Künstler gehen
nicht so sehr darauf aus, das gesammte Wesen, sei es auch in einzelne Seiten
zerlegt, hinzustellen, sondern sie begnügen sich mit einer Seite, oft der aller-
individuellster; wie wenn Herakles, in dem frühere Zeiten das Ideal des kraft¬
vollen Helden schilderten, zu dem von Liebesnoth gepeinigten Diener der Om-
Phale wird. Endlich zerstört die Allegorie, die Darstellung ganz abstracter Re¬
flexionen, alle Kunst; der Inhalt, und zwar der unkünstlerische, überwuchert
und vernichtet die Form. —
Winckelmanns Werk hat uns zu solchen Betrachtungen den Anlaß gegeben.
Alle Geschichte der griechischen Kunst wird immer wieder von Winckelmann aus¬
gehen, aber sie darf nicht mehr bei ihm stehen bleiben. Die innere Kräftigung
der gesammten Alterthumswissenschaft nicht minder als der gewaltige Zuwachs
an Material schaffen stets neue Aufgaben, führen aber auch ihre Lösung näher.
Zugleich wird, je mehr der Stoff auch wächst, derselbe dennoch in gleichem
Maße zugänglicher. Im Gebiete der Archäologie herrscht ein reges Zusammen¬
wirken vieler Glcichstrebender, zahlreiche Publicationen sorgen sür weite Ver¬
breitung des zerstreuten Materials. Die Originale selbst sind in den Museen
bequemer vereinigt, Gipsabgüsse überall erreichbar; der Verkehr wird von Tage
zu Tage leichter. Seit in Zeitschriften und Einzelarbeiten der Stoff unablässig
durchforscht wird, seit das britische Museum die Ecksteine der griechischen Kunst¬
geschichte in sich schließt, seit auch Athen. Rom und Neapel durch Dampfschiffe
und Eisenbahnen bis auf wenige Tagereisen uns nahe gerückt sind, seitdem
bedarf es nickt mehr eines Wechsels der Konfession, um zur zusammenhangen¬
den Anschauung des Schönen zu gelangen. Findet sich doch jetzt allwinterlich
auf den, Capitol eine ganze Schaar älterer und jüngerer Forscher zusammen,
um in gemeinsamer Arbeit Winckelmanns Werk durch tiefere Ergründung der
einzelnen Aufgaben fortzusetzen. Gar mancher Schritt zum Ziele ist auch gethan
diesseits wie jenseits der Alpen, manch trefflicher Baustein zu dem neu zu er¬
richtenden Palast der Kunstgeschichte herbeigebracht. Und doch, bei all der Gunst
der Verhältnisse, wagt nach Ablauf eines vollen Jahrhunderts Keiner Winckel¬
manns Erbe im Ganzen anzutreten! Für die jetzt lebende Generation ist das eine
ernste Mahnung, für Winckelman» der höchste Ruhm!
Der Schluß des Jahres 1861 sah die Krieg führenden Theile der Union
vollständig gerüstet einander gegenüber. Der Norden mit einer Bevölkerung
von 21 Millionen und im Besitze aller Hilfsmittel, welche reicher Boden, voll¬
ständig entwickelte Industrie und ausgedehnter Handel gewähren, hatte sich die
Aufgabe gesetzt, den Süden mit seiner Einwohnerzahl von höchstens 10 Milli¬
onen Seelen, inbegriffen das feindselige Element der fast 4 Millionen Sklaven,
zum Verbleiben in der Union zu zwingen.
Das Heer, welches der Norden ins Feld führte, zählte über 600,000 Mann.
Der Süden hatte sich mit der Hälfte dieser Stärke begnügen müssen, da seine
Einwohnerzahl und die Bewachung der Sklavenbevölkerung keine Steigerung
zuließen. Der große Unterschied des beiderseitigen Machtverhältnisses wurde
einiger Maßen ausgeglichen 1) durch die bessere militärische Organisation des
Südens. 2) durch den für Kriegsoperationen wenig geeigneten Kriegsschauplatz
und 3) durch die Beschaffenheit der Einwohner des zu erobernden Landes; hier
nämlich kommt einestheils die geringe Dichtigkeit der Bevölkerung, anderseits
die Unabhängigkeit der Existenz des Einzelnen in Betracht; beides Umstände,
welche moralische Eroberungen durch große Schläge, wie wir sie in unsren
Kriegen kennen gelernt haben, fast unmöglich machen. Der Krieg in Nordame-
rika erinnert in diesen Beziehungen an die Kämpfe Napoleons in Rußland
1812, wo die Franzosen zwar überall siegten und Städte einnahmen, aber
dennoch das Land nicht eroberten. Die Kriegsgeschichte lehrt uns, daß in Fäl¬
len, wo ein ganzes Volk als Feind bekriegt wird, so daß eigentlich jeder ein¬
zelne Mann erobert oder geschlagen werden muß, nur die volle Beherrschung
des Landes zum Ziele führt, nicht aber der Gewinn einzelner Schlachten.
Beim Kampfe gegen die Spanier konnte sich Napoleon nur durch Occupation
der großen Städte und Festungen im Lande halten. Nordamerika entbehrt
aber auf seinem Kriegsschauplatz solcher Schwerpunkte der Landschaft in hohem
Grade. Die Kriegführung der Römer mit ihren großartigen Straßenanlagen,
Netzen von Lagern und dem systematischen Vorschreiten ihrer Herrschaft, könnte
hier als Maaßstab zur Beurtheilung der Richtigkeit des Verfahrens der Nord¬
staaten dienen, wenn der Norden schon beim Beginne des Krieges die Ueber¬
zeugung gehabt hätte, daß der Süden nur durch Eroberung zu bezwingen sei.
Man wähnte aber statt dessen auch nach den Erfahrungen vom Jahre 1861,
daß es nur einer Tracht Schläge bedürfe, um den Jungen zur Raison zu brin¬
gen, und zu dieser Operation hielt man sich als das stärkere Stammvolk be¬
rechtigt und befähigt. In dieser pädagogischen Auffassung der Sachlage irrte
man sich gewaltig und sah erst nach harten Erfahrungen ein, daß es an der
Zeit sei, den Abtrünnigen entweder als gleichberechtigt neben sich zu dulden oder
aber in die Zwangsjacke zu stecken.
Das Richtige wäre also offenbar gewesen, möglichst systematisch vorzu-
gehn. auf den beiden großen Operationslinien, im Osten von Washington nach
Richmond, im Westen von Cairo nach New-Orleans am Mississippi, Festung
nach Festung zu bauen, sich immer mehr zu basiren und keinen Schritt vor¬
wärts zu thun, der nicht mindestens einmal zurück gethan war. — Wie aber
die allgemeine Stimme, welche den Norden mehr lenkte als die Vernunft der
Sache, solche systematische Kriegführung beurtheilte, spricht niemand klarer aus
wie Pope, als er an die Spitze der Potomacarmee berufen, der Welt das
Programm seiner künftigen, natürlich nur kurzen Thätigkeit verkündete. Er
sagte in seinem ersten Armeebefehl: „Ich habe beständig vom Einnehmen und
Behaupten starker Positionen gehört, — von Rückzugslinien, Operationsbasis
und Depots für Hilfstruppen, laßt uns solche Ideen über Bord werfen." Und
ferner: „Laßt uns vielmehr die wahrscheinliche Rückzugslinie unsers Feindes
studiren. die unsere wird für sich selber sorgen."
Wirkliche d. h. in ihrem Metier durchgebildete Generale fehlten den Nord¬
amerikanern. Der Süden hatte wenigstens solche, deren frühere Studien ihrem
jetzigen Berufe zu Gute kamen, der Norden hatte außer Mac Clellan Keinen,
der dieses Vorzugs genoß, dieser war aber und ist heute noch nicht Soldat, son¬
dern nur Verwalter. Die Folge davon war, daß auch in diesem Jahre die
Leitung der Angelegenheiten der Sicherheit, ja beinahe jedes durchgehenden Ge¬
danken entbehrt und diese Syiiemlosigkeit macht es schwierig, ein scharfes Bild
der kriegerischen Ereignisse zu geben. Um dies annähernd thun zu sonnen
bleibt nur übrig, den Gang derselben örtlich zu theilen nach den Kriegstheatern.
1) gegen Richmond und 2) am Mississippi als den Hauptgcbieten, daneben die
einzelnen Begebenheiten auf den Zwischengebieten zu erwähnen und dabei den¬
jenigen Zusammenhang der Dinge zu zeigen, welcher sich durch die Leitung der
Armee im Süden stellenweise ergiebt.
General Mac Clellan führte beim Beginn des Jahres 1862 noch neben
der Potomacarmee das Commando der gesammten Streitkräfte der Union
und hatte deshalb auf dem Kriegstheater von Virginia die bedeutendsten Streit¬
kräfte vereinigt. Sein nächstes Streben war vorwiegend auf Organisation und
Ausbildung der eigenen Truppen gerichtet. Die ersten Monate verstrichen daher
in Virginien ohne kriegerische Thaten, sehr unbedeutende Ereignisse des kleinen
Krieges abgerechnet. Anfang März erhielt die Potomacarmee feste Formen
durch eine Eintheilung in S Armeecorps unter den Generalen Mac Dowell,
Summer. Hcintzelmann, Kepes und Banks. Jedes Armeecorps zählte 3 Divi¬
sionen, die Division bestand aus 3 Brigaden Infanterie g. 4 Regimentern oder
Bataillonen; jeder Division waren zugetheilt 4 Batterien, von denen 3 den
Freiwilligen, die 4. aber der regulären Armee angehörten. — Ein Armeecorps
zählte mithin 36 Bataillone oder über 36,000 Mann und kann mit den andern
Waffen in voller Stärke auf 40,000 Mann und 96 Geschütze berechnet werden.
Eine durchschnittlich permanente Einbuhe durch Kranke, deren Zahl einen monat¬
lichen Abgang von 10,000 Todier für die Nordstaaten ergab, läßt aber
30,000 Mann als höchste Stärke eines Corps oder von 10,000 Mann für eine
Division in Anschlag bringen. An Cavallerie war die Armee außerordentlich
schwach, sie betrug wahrscheinlich nur 3-4 Regimenter oder 2000 Pferde. Das
ist für den Dienst der Cavallerie selbst auf dem sehr bedeckten nordamerikanischen
Kriegstheater viel zu wenig. Dies empfand man, als es sich herausstellte,
daß der Wirkungskreis derselben sich aus den Vorpostendienst beschränkte und
die ohnehin geringe Geschwindigkeit der militärischen Bewegungen durch die
Reiterei keine wesentliche Förderung erfuhr. In den europäischen Armeen
fordert man den 8. bis 7. Theil der Armee als Cavallerie. Diese Truppe will
aber nicht nur zur Handhabung, sondem auch zur Erhaltung des Materials
eine Disciplin, wie sie das Freimilligenhecr des Nordens nicht darbot.
Die Potomacarmee zählte also ungefähr 130,000 Mann und tummelte sich flei¬
ßig auf Parade- und Exercierplätzen. Das schien aber der beurtheilenden und
regierenden Welt höchst überflüssig. Die öffentliche Meinung erhob sich gegen
Mac Clellan, er verlor das Obcrcommando der gesammten Streitkräfte und der
Präsident Lincoln und sein Kriegsminister, welche beide in der Advokatur die
Vorstudien ihrer jetzigen Stellung gemacht hatten, übernahmen es selbst. Hatten
sich ihre Kräfte und diejenigen ihrer schlecht orgamsirten und schlecht basirten
Verwaltungsmaschine schon bei Bildung, Bekleidung, Ausrüstung und Er¬
haltung der Armee nicht als hinreichend bewährt, so mußten sie jetzt voll¬
ständig Fiasko machen, natürlich nicht ohne erheblichen Nachtheil für das Land.
Das blieb denn auch nicht aus; aber erst im Herbst trat Halleck wieder an die
Spitze der Armeeleitung.
Mac Ciellan behielt nur das Kommando in Ostvirginia mit dem bestimm¬
ten Befehl, sofort gegen Rickmond vorzugehen, während Fremont. der sich be¬
reits in Missouri als unthätig erprobt hatte, das Departement in den vir-
ginischen Gebirgen (dem Shenandoahthal) und Banks, der bis dahin nur in
der Niederhaltung von Maryland seine militärischen Fähigkeiten geübt hatte,
die obere Leitung in Westvirginien erhielt. Zu diesen drei unabhängigen
Befehlshabern auf demselben Kriegstheater trat nach der Ankunft Mac Clellans
vor Richmond noch ein vierter. Mac Dowell. der mit der besondern Deckung
Washingtons beauftragt war. Mac Clellan behielt nur 11 Divisionen, während
4 Divisionen seiner Truppen und noch 2 neuformirte Divisionen den drei an¬
dern genannten Generalen zugetheilt wurden.
Am Mississippi und Ohio wurde die zweite größere Armee unter Hallcck
formirt und zwar in Missouri General Pope mit 2 Divisionen, bei Cairo
General Grant mit 5 Divisionen und in Mitteltennessee Gen. Buell mit 5 Divi¬
sionen. Der Westarmee zur Seite stand eine Flottille, aus Kanonen- und
Mörserbooten, sowie einer Anzahl Tranöpvrtdampfern bestehend und von sehr
tüchtigen, im Kampf mit den Elementen entwickelten Seeoffizieren geführt, an
deren Spitze Kommodore Foote stand. Hier im Westen begann die kriegerische
Thätigkeit frühe im Jahre, indem Foote die Frühjahrswasser benutzte und gefolgt
von Grant am 6. Februar den Cumberland hinauf ging und das Fort Henry
an der Grenze von Kentucky und Tennessee nahm; dasselbe hatte nur 120 Mann
Besatzung. Grant ging von hier quer durch das Land nach dem auf derselben
Grenze gelegenen Fort Dowelson am Tennessee. während Foote erst wieder
durch den Ohio dorthin fuhr. Hier standen die Conföderirten in einer Stärke
von 13.000 Mann verschanzt. Vom 14. bis 16. Februar ein heftiger Kampf,
der mit der Uebergavc des Forts und der Besatzung schloß, nachdem die Haupt¬
masse des Gegners in der Nacht abgezogen war. Im Laufe des ganzen Feid-
ZUgs ist es auffallend, wie kurz in der Regel der Widerstand der Bertheidiger
in verschlossenen Orten ist. Das tritt der Natur der Sache nach am meisten
bei den fast stets als Vertheidiger kämpfenden Conföderirten hervor und be¬
weist die geringe Ausdauer und mangelhafte Disciplin der Heere. Nur momen¬
tane Leistungen bemerken wir, keine Reihe von Thaten, welche den Krieg för¬
dern. Erst in der neuesten Zeit scheinen die Führer in höherem Grade Herren
der Gesammtkräfte der Soldaten und dadurch zu nachhaltigen Unternehmungen
befähigt zu werden.
Nach Wegnahme des Fort Dowelson setzten Foote und Grant ihre Ope¬
rationen auf und an dem Tennessee fort und gelangten bis zur Grenze von
Alabama, wo sich Grant auf dem linken Ufer des Flusses bei Pitsburgh Lan-
ding festsetzte, einerseits um hier die Beherrschung seiner Verbindungslinien
des Tennessee zu sichern, andrerseits um sich mit General Bucll zu vereinigen,
der längs der Eisenbahn von Nashville her operirte. Dann wollte Grant, der
Eisenbahn folgend, über Farmington und Corinth gegen Memphis vordringen
und sich hier wieder mit Foote in Verbindung setzen, der mit Zurücklassung
weniger Kanonenboote bereits nach dem Mississippi abgesegelt war und auf
diesem, die Vertheidigungsfvrts zerstörend, ebenfalls gegen das starkbcfestigte
und vertheidigte Memphis anrücken sollte. Auf der Linie Pitsburgh Landing
und Memphis stehend, hätte man so zwei große Ströme und zwei Eisenbahnen
als Verbindungslinie nach rückwärts, eine sehr gute Basis zum weitern Vor¬
dringen innegehabt.
Das wurde vom Südgegncr C. Gi. Beauregard vollständig erkannt. Er
beschloß deshalb Grant anzugreifen, ehe er sich mit Buell vereinigt hatte. Alle
disponibeln Kräfte der Conföderirten vereinigten sich bei Corinth, überfielen
Grant am 6. April bei Pitsburgh Landing. und warfen ihn an den Tennessee.
Dort gaben die Kanonenboote und die einbrechende Dunkelheit einen Halt und
Schutz. Durch den Kanonendonner zur Eile angetrieben, aber aufgehalten durch
den Tennessee langte Bucll am Abend dieses Tages und im Laufe der Nacht
an, so daß der am 7. April neu beginnende Kampf mit frischen und überlegenen
Kräften fortgesetzt werden konnte und mit einem Zurückweichen des Gegners
endigte. Die Schlacht kostete der Union 13,000 Mann und nöthigte die West-
armce, sich die nächste Zeit mit sich selbst zu beschäftigen, während Beauregard
von derselben verschwand und auf den Kampfplatz bei Richmond eilte.
Foote hatte unterdessen vor den Grenzbefestigungen Tennessecs im Missis¬
sippi auf dem Island Ur. 10 gelegen, konnte aber erst nach dreiundzwanzig-
tägigem Bombardement und nach einer Kanallegung, welche die Flotte mit dem
von Missouri herankommenden General Pope in Verbindung brachte, die Werke
nehmen. Sie ergaben sich am 7. April, nachdem die Besatzung abgezogen war.
Pope folgte dem fliehenden Feinde, an den er bis dahin keinen Weg gefunden
hatte, mit großer Entschiedenheit und berichtete von bedeutenden Erfolgen. Zu
einem wirklichen Gefecht gelangte er aber erst, als er in der Nähe von Grant
angekommen, bei Farmington auf die Conföderirtcnarmee stieß. Hier wurde
er am 7. Mai geschlagen, bewerkstelligte aber dennoch seine Vereinigung
mit Grant.
Nun waren die Truppen der Westarmce unter Grant, Buell und Pope
vollständig vereinigt. Gen. Halleck traf zur Uebernahme des Kommandos ein
und besetzte das von den Conföderirteu verlassene Corinth am 30. Mai. —
Kommodore Foote war unterdes; unausgesetzt auf dem Mississippi in Thätigkeit
gewesen. Am 6. Juni legte sich eine seiner Abiheilungen unter Capitän David
vor Memphis und nahm dasselbe nach kurzem Bombardement. Halleck, der so
ohne Anstrengung Besitz von der Linie Memphis-Corinth erhielt. Halle nun
alle Freiheit, gegen Süden vorzudringen und Untier nach Orleans hin die
Hand zu bieten, da die Confödenrten fast alle ihre Kräfte auf Richmond ge¬
zogen hatten. — Halleck aber begnügte sich mit dem. was er besaß, und ver¬
harrte in der Hitze des Sommers in Ruhe, bis er im Juli das Obercommando
der gesammten Streitkräfte der Union übernahm, nachdem Pope kurz ont,er
zum Commandeur der Potomaccmnee ernannt worden war. Grant erhielt das
Obercommando der Wcstarmee.
Weniger erfolgreich waren inzwischen die Kämpfe der Ostarmee gewesen.
Am 10. März hatten die Confödenrten ihre Stellung vor Washington über
Nacht geräumt, um sich bei Richmond zu concentriren und die verfügbaren
Kräfte im Westen zum Angriff bei Pitsburgh Lanoing zu verwenden. Die
öffentliche Meinung drängte schon lange zum Handeln, jetzt mußte Mac Clellan
seine sorgsam gedrillte und gepflegte Armee an den Feind bringen. Aber wie?
das war die Frage. Einfach gerade darauf loszugehen, bis man auf den Feind
traf, das erschien zu wenig systematisch; dabei hatte man im vorigen Jahr zu
schlechte Erfahrungen gemacht, ein dunkler Drang nach Flankenbewegungen und
Umgehungen machte sich geltend, man entschloß sich endlich, die Armee zunächst
eine Seereise nach Fort Monroe machen zu lassen, die Flotte der Conföderirten
bei Norfolk, welche in ihrem Merrimac (dem ersten Panzerschiff) einen sehr ge¬
fährlichen Gegner besaß, zu schlagen, dann zu landen und auf der an Wegen
armen, ganz dicht bewaldeten Halbinsel von Uorkstown gegen Richmond vorzu¬
dringen. Man hatte dabei einen zwei bis drei Meilen nähern Landweg zurück¬
zulegen, wie von Manassas Junction aus, entbehrte aber der dort vorhandenen
beiden Eisenbahnen und sonstigen bessern Straßen, deckte auch nicht die eigne
Hauptstadt, sondern mußte zu diesem Zweck noch eine eigene Armee bei Ma¬
nassas Junction aufstellen. — Für einfache Anschauung der Dinge ist diese
Operation ganz unverständlich; aber gerade der Unwissende sucht nach Abson¬
derlichem statt nach dem Einfachen.
Am 2. April trat Mac Clellan seine Fahrt nach Fort Monroe an. am 4.
beginnt die Landung und gerade einen Monat darauf rückt er in dem drei Mei¬
len entfernten, vom Feinde verlassenen Uorktown ein; am 3. Mai kam es zum
ersten Gefecht, welches 2300 Mann kostete; am 22. entwickelte sich die Armee
am Chickahoming und am 31. kam es nach vollendetem Uebergang über diesen
Fluß zur Schlacht bei Fair Oaks, deren Fortsetzung am 1. Juni mit einem
kurzen Rückzug Mac Clellans schloß und das Mißlingen seines ganzen Unter¬
nehmens bezeichnete. Die Union verlor hier 6000 Mann.
Unterdessen hatte Mac Clellan zwei Divisionen unter General Porter auf
die Verbindung zwischen Richmond und Washington geworfen, um sich auf
Fredericksburg, wo Mac Doweil stand, basiren und von dort möglicherweise
Hülfe erhalten zu können. Es gelang ihm auch, durch ein glänzendes Gefecht
Herr der beiden von Richmond nördlich führenden Eisenbahnen zu werden, aber
aus Washington kam der Befehl, die geöffnete Communication durch Zerstörung
aller Brücken sofort zu unterbrechen, damit die Conföderirten keinesfalls diesen
Weg dorthin benutzen könnten. Dem Conföderirtengencral Jackson war es
nämlich gelungen, längs und in den Rocky Mountains gegen den Potomac
vorzudringen und mit seinen höchstens 20,000 Mann nicht nur die beiden gegen
ihn in Thätigkeit gesetzten, mindestens gleich starken Corps von Banks und Fre-
mont einzeln zu schlagen, sondern auch Mac Dowell mit 40.000 Mann bei
Fredericksburg in Schach zu halten. Diese Erfolge allarmirten das Land und
forderten eine energische Sicherung der Hauptstadt. Lincoln legte deshalb den
Befehl der einzelnen Corps in eine Hand und berief Pope zu diesem Zweck;
Fremont trat in Folge dessen zurück und Sigel kam an seine Stelle. Aber
selbst den vereinten Bestrebungen des übermächtigen Gegners verstand es Jack¬
son noch Erfolge abzuringen, sich dabei durch rechtzeitigen Rückzug allen um¬
fassenden Manövern zu entziehen und dann nach Richmond zur großen Ent¬
scheidung zu eilen, während der Gegner stehen blieb und sich freute, daß er
fort war. Anfang Juni schlug Jackson noch in der Nähe des Potomac, am
26. griff er schon den Flügel Mac Clellans am Chickahominy an und warf
ihn. Lee mit dem Hauptheer der Conföderirten verband sich mit ihm und beide
drängten den Gegner in wiederholten Schlachten bei Gaincshill, bei Peack
Orchard, bei White Oak Swamp und bei Malvern Hills, mit einem Verlust
von über 15.000 Mann nach dem Jamec-River, wo derselbe unter dem Schutze
seiner Kanonenboote am 1. Juli Halt gewann. Hier traf der General Burn-
side. der bisher in Nordcarolina commandirt hatte, zur Verstärkung ein und die
Armee benutzte die gewonnene feste Position, um sich zu erholen und zu reformiren.
Mac Clellan hoffte nach Heranziehung seiner Depots und nach dem Ein¬
treffen noch einiger frischer Truppentheile von seiner neuen Basis aus. mit
wieder neu zu erbauenden Straßen, Brücken und Werken gegen Richmond vor-
zugehn. In Washington aber hatte man die Lust zu so weit ausgreifenden und
die eigene Hauptstadt bloßlassenden Operationen verloren, man konnte sich jedoch
noch nicht entschließen, vor der Welt offen einzugestehen, daß der mächtige
Norden geschlagen war. Man ließ Mac Clellan, außer Stande, etwas zu
thun, auf seiner Halbinsel stehen, bis der Feind vor den Thoren Washingtons
stand und alle irgend verwendbaren Streitkräfte der Union dorthin zwang.
Bereits am 10. Juli verschwand C. Gen. Lee von der Front Mac Clellans;
die Conföderirten, bis dahin in ihrer eigenen Hauptstadt angegriffen und ge¬
nöthigt, alle andern Punkte von Truppen zu entblößen, gingen jetzt am Missis¬
sippi sowohl als auch gegen Washington zur Offensive über, wahrend dem
70—80,000 Mann starken Mac Clellan gegenüber nur 30,000 Mann stehen
blieben. Freilich ging auch bei ihnen zur Erholung und Stärkung der Truppen
der Monat Juli ohne äußere Thaten vorüber und erst mit dem Anfang August
traten sie wieder vor den Feind.
Zur Deckung der Unionshauptstadt standen, wie schon angedeutet: Mac
Dowell bei Fredcricksburg, nach Abgabe von zwei Divisionen an Mac Clellan
nur noch zwei Divisionen, also 20.000 Mann stark. Westlich davon Gen. Pope
mit den ebenso starken Corps von Banks und Sigel; der Rapidann und
Rappahannvck, an welchem Fredericksburg liegt, bildeten die Front der Vor¬
posten. Am Z, August rückte Jackson längs der Eisenbahn von Gordonsville
an den Rapidann, übeischiitt ihn und stieß aus Banks, es kam zu einem leb¬
haften Gefecht bei Ccdar Mountain. das bis in die Nackt wähne und Jackson
zum Rückzug und zum Abwarten größerer Streitkräfte bestimmte. — Mac Clellan
halte inzwischen auch den Befehl zur Rückkehr erhalte» und begann die Ein¬
schiffung unier dem Schutze eines Angriffs ohne Belästigung. Am 14, August
war die ganze Armee aus dem Rückzüge.
Der Präsident stellte nunmehr die gesammten Streitkräfte der Union in
Pirginien unter d^n Befehl des Generals Pope, um den sich ebensalls con-
ccntnrenden und gegen Washington heranrrückenden Conföderivlen unter Lee
entgegenzutreten. ,
Die Well erwartete eine Entscheidungsschlacht, aber von beiden Seiten wich
man derselben aus, von dem angreifenden Süden, indem man statt einfach
drauf los zu gehen durch Jackson und den Reitergeneral Stuart eine großartige
Umgehung mit weitem Bogen durch das Sbenandoah-Thal machte, von dem
Vertheidigenden Norden, indem Pope unter einzelnen Gefechten sich eiligst zurück-
zog. Dabei gelang es den U. Gen. Hooker und Sigel, dem C. Gen. Ewell bei
seiner Umgehung nicht unbedeutende Berluste beizubringen. — Am 30. August
hatte Pope in der alten Stellung am Bull Rum einen Theil seiner Macht
concentrirt und wurde hier von Lee angegriffen und geschlagen. Die Conföde¬
rirten folgten am nächsten Tage, aber nur mit geringen Kräften, deren Angriffen
Pope bei Ccntrevilte glücklich genug widerstand, um zu ungestörtem Rückzüge
nach Washington Zeit zu gewinnen. Die Conföderirten gingen wieder vom
geraden Wege ab. passirten sechs Meilen oberhalb der Hauptstadt den Potomac
und drangen in Maryland ein, wahrscheinlich in der Voraussetzung, daß dieser
Staat ihnen zufallen und damit die Union ohne Kampf noch weiter nördlich
verwiesen würde. Sie täuschten sich aber. So lange das feindliche Heer im
Felde stand, konnte Lee nicht auf wirkliche Eroberungen rechnen; er mußte jetzt
erst die Schlacht schlagen und zwar nun in ungünstiger strategischer Front, die
Rückzugslinic in der Verlängerung des reckten Flügels, gegen einen inzwischen
verstärkten und innerlich gekräftigten Gegner, den er vierzehn Tage früher bei
schlechter Verfassung in seiner eignen guten Lage vermieden hatte. Pope hatte
mittlerweile das Comando verloren und Mac Clellan, immer noch der beste der
obern Führer, war wieder an die Spitze der Virginischer Armee getreten. Am
15. September siel noch Harpcrsferry mit it.000 Mann Besatzung in die Hände
Jacksons, am 17. aber stand ihnen am Antielam das ganze Unionshecr in der
Stärke von 118,000 Mann gegenüber, während die Conföderirteir nur 80,000
zählten. Sie Verloren die Schlacke, für welche der Norden seinen Verlust auf
12,000 Mann angiebt, mußten sieh in der Nacht zurückziehen und gewannen
in den folgenden Tagen unbelästigt das rechte Ufer des Potomac. Harpersferry
räumten sie am 20. September wieder, während Stuart noch mit seiner Reiterei
einen kühnen Streifzug nach Maryland hinein machte. — Lee nimmt von neuem
seine Aufstellung bei Manassas Iunction und fährt fort die Hauptstadt zu bedrohen,
während die siegreiche Armee hier eine defensive Stellung behält und mehrfach erneute
Einfälle Stuarts in Maryland nicht zu hindern vermag. Am 23. October erst
beginnt Mac Clellan bei Harpersferry und östlich den Uebergang über den
Potomac, folgt aber erst mit allen Kräften am 31. October, als Lee sich dem
drohenden Schlag durch Beginn des Rückzugs entzieht. — Dies Zaudern kostete
Mac Clellan wieder das Obercommando; am 3. November wird Burnside,
der im Lauf des Sommers wohlfeile Lorbeern gegen die nordcarolinischen
Milizen errungen hatte, sein Nachfolger. Er formirt die jetzt aus 7 Armee-
corps, also 210,000 Mann bestehende Potomacannce in 4 größere Corps,
den rechten Flügel unter Summer, die Mitte unter Hooker, den linken Flügel
unter Franklin, alle 3 bestehen aus 2 Corps, 1 Corps Reserve erhielt Sigel.
Am 15. November brach Burnside gegen Fredericksburg ans, wo Lee Stellung
genommen hatte; am 17. traf Summer, der die Avantgarde hatte, gegen¬
über dem Orte ein und die Armee beginnt die Arbeiten, um die Verbindung
mit rückwärts sicher zu stellen und die zum Brückenbau nothwendigen Mate¬
rialien herbeizuschaffen; am 12. December geht Burnside über, Sigel als
Reserve zurücklassend, am 13. kommt es zur Schlacht. Die Unionsarmec verlor
nahe an 8000 Mann und zog sich in den nächsten Tagen wieder hinter den
Rappahannock zurück, diesen für den nächsten Winter als Grenzlinie zwischen
sich und dem Feinde lassend. — So endete der Feldzug in Virginem nach
vielen blutigem Anstrengungen und ganz kolossalen Opfern an Menschen und
Geld für die Union, aber ohne ihre Herrschaft im Geringsten ausgedehnt zu
haben. —
Die Westarmee haben wir im Juli frei von einem Gegner im Besitz der
Linie Corinth-Memphis und unter Commando des General Grant gelassen.
Dieser scheint nach den wenigen über ihn vorhandenen Nachrichten zu schließen,
seine Kräfte zunächst auf die Organisation des besetzten Landes und auf die
Beherrschung des Mississippi gewendet zu haben. Erst im Monat September
wurde er aus seiner Ruhe durch den gegen ihn anrückenden C. Gen. Price ge¬
stört. Er warf ihm den General RosecranS mit einem Armeecorps entgegen,
um sich unterdeß bei Corinth concentriren zu tonnen. Rosecrans gelang eS,
den Gegner durch ein Gefecht bei Inka am 19. September zum momentanen
Halt zu zwingen. er konnte ihn aber nicht von weiteren Vordringen abhalten;
Grant jedoch hatte die nothwendige Zeit gewonnen, empfing den Gegner am
3. October mit überlegener Zahl bei Corinth, schlug rbn und brachte rhin auf
einer mehre Tage anhaltenden Verfolgung noch bedeutende Verluste bei. Er
ging nunmehr mit seinen Kräften dem Lauf des Mississippi nach und entsandte
Gen. Shermann gegen Vicksburg, hatte hier aber keine Erfolge. — Der Schluß
des Jahres sieht Grant in Corinth und Shermann in Meinphis. So fest
ersterer den errungenen werthvollen Besitz zur Beherrschung des Mississippi und
Tennessee hielt, so wenig glücklich im Behaupten waren seine Nachbarn. In
Missouri und Arkansas wogte der Kampf hin und her, ohne daß eine der
beiden Seiten zu einem festen Besitz gelangte.
Aehnlich stellten sich die Verhältnisse im mittlern und östlichen Tennessee
und Kentucky. Buell verlor nach und nach immer mehr Terrain und Mitte
September standen die Conföderirten unter den Generalen Bragg und Morgan
sogar nur Ohio. Cincinnati bedrohend, Cumberland Gay und das Terrain bis
nach Westvirginien hin beherrschend.
Lincoln hatte nämlich alle bereiten Kräfte zur Deckung Washingtons heran¬
gezogen. Erst nach der Schlacht bei Änticlam gelang es den nördlichen Trup¬
pen wieder vorwärts zu kommen und wieder in den Besitz der Hauptstädte zu
gelangen. — Buell aber wurde von seinem Commando entfernt und Rosecrans
kam an seine Stelle. Dieser organisirt seine geringen Kräfte und unternimmt
es im Anschluß an die Stellung Granes das Terrain östlich des untern
Tennessee wieder in seine Hand zu bekommen und durch die Eisenbahn von
Louisville über Nashville nach Corinth mit Grant in Verbindung zu treten.
Dies Streben führte mit dem Schluß des Jahres 1862 zur fünftägigen Schlacht
bei Murfreesboro in welcher der Zweck, wenn auch mit dem Verlust von bei¬
nahe 12,000 Mann erreicht wurde.
In den östlichen Theilen dieser Landschaften jedoch behaupteten sich die
Conföderirten infolge der günstigen Resultate der Schlachten in Ostvirginien.
Die kleinen Gcfechtsfelder in Texas, Neumexiko und in den Jndianer-
lerritorien lieferten der Union ebenfalls keine günstigen Erfolge. Unbestritten
steghaft war sie nur zur See und in den mit der Flotte zusammen gewagten
Unternehmungen an der Küste. Nord- und Südcarolina, Georgia, Florida und
vor allem Luoisiana wurden längs der ganzen Küste angegriffen und rasch ihrer
festen Punkte beraubt. Aber diese Erfolge, so jubelnd man sie im Norden be¬
grüßte, weil sie fast die einzigen waren, blieben doch auf den Gang des Krieges
mit Ausnahme der Einen größern Unternehmung, der Eroberung von New-
orleans, ohne Einfluß und die dorthin geworfenen Kräfte waren verschwendet;
doppelt verschwendet, da das Festhalten dieser Küstenpunkte in der heißen Jahres¬
zeit nur mit einem ungeheuren Opfer von Menschenleben möglich war und der
Feind ihnen nicht seine Feldtruppen, sondern meist nur die heimathlichen Milizen
gegenüberließ. — Wir können deshalb die einzelnen Ereignisse übergehen und nur
auf die Eroberung von Neworleans uns beschränken, die zwar ohne alle Schwie¬
rigkeit vor sich ging, aber gerade in dem geringen Widerstand, welcher hier
factisch geleistet wurde und in der Zähigkeit, mit welcher die unterworfene Stadt
der Regierung der Union widerstand, den Krieg sehr charakterisirt.
Schon im December 1861 langten Truppen von der Mississippunün-
dung an und setzten sich aus dem ship Island fest. Am 2S. März 1862
erst traf ihr Führer, der General Butler, bei ihnen ein. Die Truppe zählte
15,000 Mann, die Flotte unter dem alten Commodore Farragut hatte
48 Fahrzeuge mit 310 Kanonen. — Neworleans war geschützt durch Ge¬
neral Bragg, der Angabe nach mit 20,000 Mann, durch sehr bedeutende
Festungswerke und durch eine Flottille, welche an Zahl der der Union min¬
destens gleichkam. Alle diese Vertheidigung^mittel verschwanden, lösten sich in
ein Nichts auf durch den Willen eines einzigen Mannes, des Commodore
Farragut, der ohne das Landungsheer abzuwarten mit seinen hölzernen Schiffen
an allen Hindernissen und Forts vorbeifahrend sich unmittelbar vor die Stadt
legte und die Kapitulation forderte. Zwanzig Meilen weit steuerte er in den
Fluß hinein, ließ die ganz unbeschädigten Forts hinter sich und erklärte diese,
die nun zwischen ihm und Butler lagen, für abgeschnitten; die für unüber¬
windlich geachteten Forts ergaben sich und unter dem Eindrucke des Falles dieser
sür unüberwindlich geachteten Weile, die im Vorbeifahren genommen wurden,
folgte die Stadt. Gen. Bragg zog mit seinen Truppen ab und Butler ein.
Jetzt begann ein kleiner Krieg jcoeS einzelnen Einwohners gegen die Eroberer,
der mit einer Energie geführt wurde, die vorher entwickelt, den Feind gar
nicht in die Stadt gelassen hätte und jetzt nur den General Butler selbst wieder
daraus vertrieb. Im December ersetzte ihn General Banks. —Butler halte in
dieser Zeit nicht nur Stadt und Land in feste Hand genommen, sondern auch
mit Hilfe Farraguls den Mississippi hinauf d>s Natcby bebenscht; zu EtoberungS-
zügen, welche Grant halte unterstützen können, fehlten ihm aber die Kräfte.
Wenn wir nun zuiückdlicken auf die Ereignisse des Jahres, so kommen
wir zu dem Resultate, daß die beiden Gegner im Ganzen an innerer Kraft
ziemlich gleichstehn, daß der, wenn auch nur geringe Erfolg des Feldzugs aber
dem an Mitteln stärken, Norden gehört. Das Resultat bestand darin, daß am
Mississippi von Norden durch Grant, von Süden durch Butler die Union ihre
Hnrschaft geltend gemacht hat, im Uebrigen weder Terrain gewonnen, noch
verloren worden ist. Was haben die beiden Armeen aber an Männern in diesem
Jahr hervorgezogen, denen sie die Zukunft anvertrauen können? Der Süden
hat seine höhern Führer trotz mancher Fehlgriffe erhalten. Lee und Beauregard
haben immer Gutes, wenn auch nicht Hervorstechendes geleistet. Jackson hat be¬
wiesen, daß er ein ausgezeichneter General. Stuart. daß er ein genialer
Reiterführcr ist. Der Norden aber hat mit allen seinen Generalen Fiasco ge¬
macht trotz alles Wechselns und Suchens. Nur im Westen haben Grant und
Butler ihren Aufgaben genügt und können für die Zukunft Hoffnungen er¬
wecken. So sehr die Union aber kräftiger Männer und genialer Soldaten be¬
darf, so sehr fürchtet sie deren Gewalt und Einfluß aus das eigene Land. So
kommt es. daß mancher Name von der Armee genannt wird, den die Regierung
nicht kennt und daß die letztere immer wieder Personen in entscheidende Posten
bringt, die von der Armee längst verurtheilt sind. —
Die italienische Einheitsbewegung hat seit der französisch-italienischen Con¬
vention einen Sauiet vorwärts gethan. Wenigstens sehen die Italiener die
neu geschaffene Situation als einen Fortschritt an, und es läßt sich mit ziem¬
licher Sicherheit annehmen, daß die italienische Diplomatie durch kluges und
geduldiges Temporisiren die ihr günstigste Auffassung der vieldeutigen Bestim¬
mungen des Vertrages zur Geltung bringen wird. Mit Recht dalle Oestreich
in dem Frieden zu Villafranca viel weniger Gewicht auf den Besitz der Lom¬
bardei als auf die Erhaltung der kleinen Dynastien gelegt. Denn so lange
diese bestanden, blieb es die Vormacht Italiens, wenigstens des offinellen Ita¬
liens; ein Verhältniß, in dem die Erwerbung der Lombardei durck Piemont
nichts änderte. Denn die Dynastien waren mehr als jemals vorher gezwungen,
Oestreich als Schutzmacht und Rettungsanker anzusehen. Mit der Durchführung
des Annexivnsprincips ist dies anders geworden. Oestreich ist von jedem Ein-
fluß auf die italienischen Dinge ausgeschlossen. Venetien kann nur regiert
werden, wie eine eroberte, widerwillig gehorchende Provinz. Und wenn Oest¬
reich den Italienern den höchsten Grad politischer Freiheit, die Aussicht auf
die glücklichsten staatlichen Zustände bieten könnte: sie würden jedes Glück ver¬
schmähen, welches ihnen von Wien aus dargebracht wird; für sie giebt es nur
eine Befreiung: die Vereinigung mit dem Königreiche Italien. Wie hierüber
in Oestreich, selbst unter den Liberalen, Illusionen bestehen können, ist nur
daraus erklärlich, daß man bei aller Schwarzsehern es doch nicht über sich zu
gewinnen vermag, die Quellen der den Staat bedrohenden Uebel da zu suchen,
wo sie sich wirklich befinden.
Die Schwierigkeiten der Lage sind so einleuchtend, daß man sich nicht
wundern kann, wenn Oestreich wiederholt der Rath gegeben worden ist, eines^ so
unbequemen Besitzes, der es hindert, den Bestand seines Heeres zu vermin¬
dern und seine Finanzen zu verbessern, der es mit beständiger Kriegsgefahr be¬
droht, und ihm für alle diese Uebelstcindc doch keinen nennenswerthen Vortheil-
bietet, sich auf möglichst anständige Weise zu entäußern. Wie denkt man sich
aber diese Entäußerung? Soll Oestreich seinen Besitz für eine stattliche Geld¬
summe verkaufen? Dies wäre wohl ein sehr vortheilhaftes, aber doch nicht
grade ehrenvolles Geschäft, und ein Vermittler, der den Verkauf Venetiens als
Grundlage eines Abkommens zwischen Italien und Oestreich aufstellen wollte,
würde von der östreichischen Regierung ohne Zweifel trocken abgewiesen werden,
ja er würde kaum Aussicht haben, die Zustimmung eines bedeutenderen Theiles
der östreichischen Bevölkerung zu gewinnen. Es giebt nur zwei Arten, von
einer Großmacht eine Gebietsabtretung zu erlangen, durch die Waffen,
oder im äußersten Falle durch einen Ländertausch. Da es aber für jetzt noch
an einem Tauschobjecte fehlt, so muß die venetianische Frage entweder mit den
Waffen entschieden werden, oder man muß versuchen, dieselbe zu vertagen, bis
ein geeignetes Tauschvbject gesunden sein wird.
Ob eine derartige Vertagung möglich oder wahrscheinlich ist, das hängt
größtentheils von der Bedeutung der französisch-italienischen Convention ab.
Durch diesen merkwürdigen Vertrag ist eigentlich niemand gebunden. Den
Italienern ist ein förmliches Aufgeben ihrer Tendenzen gar nicht zugemuthet
worden, und wenn Frankreich die Verlegung des Regierungssitzes als Garantie
für ein loyales Verhalten ansieht, so kann niemand die Italiener hindern,
Florenz als Station auf dem Wege nach Rom anzusehen, vorausgesetzt, daß
Victor Emanuel den letzten Theil des Weges nicht an der Spitze seines Heeres
zurücklegt. Was Frankreich betrifft, so hat es allerdings Cautelen für das
Papstthum getroffen. Indessen bleibt trotzdem die Thatsache bestehen, daß es
seine Hand zunächst von dem Papstthume abzieht, und es von den Umständen
abhängig macht, in wie weit es ihm im Falle der Noth wiederum Schutz ge-
währen wird. Der Kaiser hat also zwar keineswegs Italien den Weg nach
Rom geöffnet, im Gegentheil, er hat Rom mit einem Bollwerk von Garantien
umgeben; wohl aber hat er dem Papste zu erkennen gegeben, das, der bisher
gewährte Schutz ein Ende nehmen werde, und daß die Curie daher sich rüsten
müsse, den Rest ihres weltlichen BesitztlnimS mit eigener Kraft zu schützen.
Indessen läßt sich nicht in Abrede stellen, daß der Territorialbesitz der
Curie besser als durch äußere Gewalt durch die Schwierigkeit, eine befriedigende
Antwort zu geben auf die Frage, welche Stellung der Papst nach Verlust der
weltlichen Herrschaft einnehmen solle, geschützt wird. Man macht sich in Ita¬
lien die Antwort auf diese Cardinalsfrage sehr leicht, wenn man sie ;u lösen
glaubt durch Formeln wie: „Versöhnung des Papstthums mit Italien", oder:
„eine freie Kirche im freien Staate". Diese Formeln aber sind nicht Lösungen,
sie sind nur Paraphrasen des Problems. Auch anderswo, selbst im protestan¬
tischen Staate, ha« man mit dem Grundsatze: „die Kirche ist frei" keineswegs
unmittelbar eine feste Grundlage für die Ordnung der Beziehungen zwischen
Staat und Kirche gewannen. Der. Gedanke ist ganz richtig, in sofern er als
ideales Ziel für eine langsam reisende, mit besonnener Weisheit und kräftiger
Hand geleitete Entwicklung vorschwebt: er ist eben das Ziel einer Entwickelung,
nicht aber ein Grundgesetz, das man in völligem Verkennen des Verhältnisses
als Ausgangspunkt der Entwickelung setzen könnte. Versucht man dies den¬
noch, so ruft man. während man die Absicht verfolgt, mit einem großen'Worte
eine Principienfrage zu entscheiden, gerade den allererbittertsten Principienstreit
hervor. Man stiftet nicht den Frieden zwischen Staat und Kirche, sondern
schafft ihnen nur Raum zu gegenseitiger Bekämpfung. Indessen im protestanti¬
schen Staate, und auch in der großen Mehrzahl der katholischen Staaten, ist
die Gefahr dieses Kampfes doch nicht so groß, daß' sie die Existenz des Staates
selbst bedrohen könnte. Wo im protestantischen Staate die Kirche in Über¬
spannung des Begriffes der Autonomie dem Staate feindlich entgegentreten
sollte, würde die Staatsgewalt unbedingt ans die Zustimmung der öffentlichen
Meinung rechnen können, wenn sie eine derartige Anmaßung mit Entschiedenheit
in ihre Schranken zurückweist, und wenn sie den Satz, daß keine Macht inner¬
halb der Grenzen des Staates einen höheren Grad von Selbständigkeit bean¬
spruchen kann, als mit den Staatszwecken vereinbar ist, in jedem einzelnem
Falle mit dem gebührenden Nachdruck zur Geltung bringt*). Für Italien aber
wird die Frage, wie die freie Kirche und der freie Staat neben einander be-
stehen sollen, noch bei weitem schwieriger zu beantworten sein, als für jedes
andere Land; die übrigen rein oder zum großen Theil katholischen Staaten
nicht ausgenommen. In jedem andern Lande kann die Stellung der katho¬
lischen Kirche zum Staate, sei es durch die Landesgesetze, sei es auf dem
allerdings nicht unbedenklichen Wege des Concordates, d. h. eines völker¬
rechtlichen Vertrages mit dem souveränen Haupte der Kirche geordnet werden:
Sache der Diplomatie ist es, die etwa entstehenden Zwistigkeiten auszugleichen.
Anders in Italien. Sobald Victor Emanuel in Rom seinen Einzug
gehalten hat, ist Rom, wenn der Papst auch in diesem Falle im Vatican
bleibt, der Sitz zweier Souveräne. Denn der Papst, als Haupt der
allgemeinen, ihrer Idee nach weitumfassenden, ihrem stieben nach weit»
beherrschenden Kirche, kann sich nicht dem Könige eines Nationalstaates unter¬
ordnen, er kann nicht der Unterthan des Königs von Italien werden. Er
muß unabhängig dastehen und wenigstens den Bezirk seines Palastes als Sou¬
verän bewohnen. Glaubt man aber, daß durch eine Combination, die eine
Stadt zum Sitze zweier Herrscher macht, die vorliegende Frage genügend gelöst
sein würde? Unmöglich, das geben wir zu. ist ein solches Arrangement aller¬
dings nicht; der Papst könnte in eine Lage gebracht werden, in der ihm nichts
übrig bliebe, als die ihm gebotenen Bedingungen — natürlich unter offenem
oder verstecktem Protest — anzunehmen. Würde aber für Italien ein solches
Verhältniß wünschenswerth sein? Man beachte wohl: Der Papst, als Sou¬
verän des Barnam, wird ein Pfand sein, welches die gesammte katholische
Kucke dem Könige Italiens anvertraut. Dies müßte aber von der größten
Bedeutung tur das Verhältniß Italiens zur Kirche sein; es würde dem Könige
Rücksichten auferlegen, wie sie kein anderer Souverän zu nehmen hat. Denn
jeder wirkliche oder vermeintliche Eingriff in die dem Papste der italienischen
Kirche gegenüber gebührenden, oder auch nur von ihm beanspruchten Rechte
würde in dem gehässigen Lichte einer Vergewaltigung des Schwachen durch den
Starken erscheinen; die Curie würde nicht säumen, sofort die ganze katholische
Christenheit als Zeugen des gegen ihren Oberhirten ausgeübten Attentates auf¬
zurufen; als Zeugen und wo möglich als Rächer. Der Papst, zum Märtyrer
geworden, würde aus seiner Schwäche neue Kraft schöpfen. Es würde sich auf
engerem Raum der Kampf des Mittelalters zwischen Staat und Kirche wieder¬
holen, ein Kampf, in dem die Kirche der Bundesgenossenschaft aller Italien
feindlichen Mächte sicher sein könnte. Diese Gefahr für Italien kann nur da¬
durch, wenn nicht beseitigt, doch gemildert werden, daß die Rechte des Staates
aufs genaueste bestimmt und notificirt werden, daß die italienische Kirche eine
Verfassung erhält, die sie zu einem selbständigen, von der Curie möglichst Un-
abhängigen Gliede der katholischen Gesammtkirche macht, und daß ferner die
freie Religionsübung und die staatsbürgerlich vollberechtigte Stellung der Nicht-
katholiken in unwiderruflicher Weise verfassungsmäßig gewährleistet werden.
Auf dem We.^e einer Convention mit Rom wird dies nicht geschehen ; es muß
geschehen, ehe Unterhandlungen mit Rom ihren Anfang nehmen, auf dem
Wege verfassungsmäßiger Gesetzgebung. Ja, noch mehr, die Selbständigkeit
der italienischen Kirche muß nicht nur gesetzmäßig festgestellt sein, sie muß ge¬
wissermaßen zu einem Bestandtheile des Nationalbewußtseins geworden sein, so
daß keine Macht der Erde im Stande wäre, sie zu verletzen. Dies Ziel ist
aber jedenfalls nicht schnell zu erreichen, denn noch fehlt viel daran, daß der
Romanismus in den Herzen der Bevölkerung überwunden wäre.
Man darf wohl annehmen, daß auch die weitblickenden unter den italieni¬
schen Staatsmännern, mögen sie noch so geläufig über jene Formeln sich er-
gehn, doch von klaren Vorstellungen über das künftige Verhältniß Italiens
zum Papstthum noch weit entfernt sind, und daß daher eine Ausgleichung der
scharf collidirenden Interessen, falls nicht der Knoten unerwartet und mit Ge¬
walt zerhauen wird, in nächster Zukunft nicht wird gefunden werden. Es ist aller¬
dings unbestreitbar, daß die römische Frage durch die Convention in Bewegung gesetzt
und ihrer Lösung um einen Schritt näher geführt ist: die Frage ist nämlich aus einer
französisch-italienischen bis zu einem gewissen Grade eine rein italienische geworden.
Aber die nächste Folge dieser Wendung kann und wird nur die sein, daß
man sich in Italien der Schwierigkeit einer „Versöhnung des Papstthums mit
Italien" jetzt, wo es sich darum handelt, die leicht ausgesprochene Formel vom
staatsmännischen Gesichtspunkte aus praktisch zu entwickeln, ihr einen bestimmten,
positiven Inhalt zu geben, allgemein bewußt werden wird. Und da man klar
sieht, daß die Ereignisse für Italien arbeiten, da man sich also mit einem
gewissen Rechte der Hoffnung hingeben kann, daß unerwartete Zwischenfälle einen
Theil der Schwierigkeiten ebnen werden, da man sich serner nicht verhehlen
kann, daß jeder directe Versuch, die Curie zu gewinnen, diese in die günstige
Lage versetzen würde, bei den Verhandlungen der umworbene Theil zu sein:
so wird man thun, was man schon oft gethan: man wird warten, geduldig
aber zäh, bis der Augenblick gekommen ist, wo der König von Italien nicht
in Folge eines drückenden Vertrags, sondern eines Actes des Nationalwillcns
seinen Einzug in Rom halten kann. Man wird also vorläufig resigniren, aber
gewiß nicht um das bis jetzt Gewonnene in Ruhe zu genießen. Man wird
das so glänzend begonnene Werk der inneren Erstarkung, der festen Vereinigung
und Verschmelzung der bisher gesammelten Glieder fortsetzen: und wer könnte
verkennen, daß diese Arbeit die nothwendigste für den jungen Staat ist? Und
zugleich ist es eine Arbeit, zu der bereits der Grund gelegt wurde, zu der die
Kräfte vorhanden sind, für die das Verständniß in den weitesten Kreisen ver¬
breitet ist. Wird man sich indessen damit begnügen, zunächst ausschließlich in
dieser einen Richtung das nationale Werk zu fördern? Wir bedauern, diese
Frage nicht mit Zuversicht bejahen zu tonnen. Denn so lange noch «in Theil
des italienischen Gebietes nicht blos dem nationalen Leben entfremdet, sondern
auch in den Händen einer fremden und feindlich gesinnten Macht ist. kann der
junge Staat sich des bereits erworbenen Besitzes nicht mit Sicherheit erfreuen.
Venetien in den Händen Oestreichs muß den Italienern als eine beständige Be¬
drohung ihrer Unabhängigkeit erscheinen. Ein aufrichtiger Friede ist zwischen den
velde.n Staaten nicht möglich. Ihr Verhältniß zu einander ist das einer Waffenruhe
auf unbestimmte Zeit, die beiden mit jedem Tage lästiger und drückender wird. Die
italienische» Staatsmänner machen kein Hehldaraus, daß siein demZiele vollkommen
mit der Actionspartei übereinstimmen. Und daß man in Oestreich auf alles
gefaßt und zu allem entschlossen ist, geht aus der Entschiedenheit hervor, mit
der Gras Mensdorf unter scharfer Hinweisung auf das gespannte Verhältniß zu
Italien die Möglichkeit einer Entwaffnung in Abrede gestellt Kar. Und man
hat alle Ursache, auf seiner Hut zu sein und sich für jede Eventualität bereit
zu halten. Denn wenn, woran sich doch nicht zweifeln läßt, die italienische
Negierung feindliche Absichten hegt, so kann sie die Ausführung derselben nicht
besser vorbereiten, als durch Verlegung des Regierungssitzes von dem nach der
ersten entschiedenen Niederlage aufs Ernstlichste bedrohten Turin nach dem durch
die Apenninen geschützten Florenz, Wir wollen nicht behaupten, daß die Rück¬
sicht auf Verbesserung der militärischen Lage des Landes das vorwiegende Mo¬
tiv bei dem Abschluß der Convention gewesen sei; -aber die Thatsache, daß durch
die Verlegung des Regierungssitzes die Defensivstellung Italiens unberechenbar
gestärkt und damit auch die Befähigung desselben zur Offensive gesteigert wird,
steht nun einmal fest, und diese eine Thatsache ist hinreichend, um die Gefahr
eines italienisch-östreichischen Krieges nahe zu rücken und die Italiener zur
Vertagung der einer raschen Lösung widerstrebenden römischen Frage bis nach
der Befreiung Venetiens geneigt zu machen.
Die Aussicht auf einen italienischen Krieg ist aber für Oestreich nichts
weniger als erfreulich. Daß die östreichische Armee zunächst militärische Erfolge
davontragen wird, mag man als wahrscheinlich annehmen können. Was würde
aber mit einigen gewonnenen Schlachten in politischer Beziehung gewonnen
sein? Welches Ziel kann sich überhaupt Oestreich bei einem ^Kriege gegen Ita¬
lien stecken? Die Vertheidigung seines Besitzes, wird man sagen. Wird denn
aber ein glücklicher Feldzug die Venetianer in gute Oestreicher, die Italiener
in freundliche Nachbarn umwandeln? Kann Oestreich dies aber nicht erreichen,
so würde, vorausgesetzt, daß Oestreich nur an Vertheidigung denkt, die Lage
der Dinge auch durch den glücklichsten Krieg auf die Dauer nicht verändert
werden. Ein Krieg in Italien zur Aufrechterhaltung des StatusquV ist ein
Unding. Will Oestreich Krieg führen, so kann es sich kein anderes Zivl setzen,
als die Eroberung der Lombardei und die Wiedereinsetzung der vertriebenen
Fürsten, d. h. als» die Vernichtung des Königreiches Italien. Es bedarf aber
nicht des Beweises, daß ein solcher Restaurationsvcrsuch durchaus unausführbar
sein würde, selbst für den Fall unausführbar, das, Italien ohne Bundesgenossen
Oestreich gegenüberstehn sollte. Nun würde aber Italien aller Wahrscheinlich¬
keit nach nicht allein stehen. Es würde vielmehr, wenn nicht früher, doch sobald
Oestreich Miene machte, das Restaurativnswerk z» beginne», mit Sicherheit auf
den Beistand Frankreichs rechnen können. Denn wenn Frankreich auch Prin¬
cipiell ohne Zweifel einem lockeren italienische» Staatenbunde vor einem kräf¬
tigen Einheitsstaate den Vorzug geben würde, so kann es doch nicht Oestreich
gestatten, einen Bau zu zertrümmern, der größtenteils der französischen Hilfe
seine Entstehung verdankt, mag der Bau auch solider auszufalle» versprechen,
als es dem Architekten an der Seine selbst erwünscht ist.
Somit sind die Chancen eines italienischen Krieges für Oestreich unter
allen Umständen höchst bedenklich. Nun giebt es aber in Oestreich eine wenig¬
stens numerisch sehr starke Partei, die Venetien festhalten und dabei doch mit
Italien in Frieden bleiben will. Die Erfüllung dieses doppelten Wunsches
hoffte man von Frankreichs gutem Willen. Der Kaiser Napoleon soll die Ver¬
mittlerrolle zwischen beiden Staaten übernehmen, wobei man von der an sich
ganz richtigen Ansicht ausgeht, daß Italien gegen den entschieden ausgesprochenen
Willen Napoleons schwerlich wagen wird, einen Krieg gegen Oestreich zu unter¬
nehmen. Worauf aber gründet sich die Hoffnung, daß der Kaiser der Fran¬
zosen Italiens Angriffsgelüsten auf die Dauer entgegentreten wird? Glaubt
man denn, daß Napoleon ein definitives Abkommen zwischen Italien und Oest¬
reich auf einer anderen Grundlage als auf der einer Abtretung Venetiens für
möglich hält? So lange Napoleon des Friedens für Frankreich bedarf, so lange
wird er natürlich auch Italien nicht zum Schauplatz eines Krieges gemacht zu
sehen wünschen, bei dem er schwerlich die Rolle eines müßigen Zuschauers
würde spielen können, da er weder eine Wiederherstellung der östreichischen
Macht in Italien dulden kann, noch ein Sieg der Italiener ohne französischen
Beistand, der gleichbedeutend wäre mit einer Emancipation Italiens von Frank¬
reich, seinem Interesse entsprechen würde. Es ist in der That möglich, ja wohl
wahrscheinlich, daß der Kaiser für das nächste Jahr, vielleicht für die nächsten
Jahre, keinen Krieg wünscht. Aber es wäre ein Irrthum, zu glauben, daß
die gegenwärtige Friedenspolitik Frankreichs Venetien zu einem auf die Dauer
haltbaren Besitz für Oestreich machen würde. Mehr als eine kurze Frist, die
weder zu einer Penninderung des Heeresbestandes, noch zu einem ernstlichen
Versuch, die Finanzen zu verbessern, hinreichen würde, vermag Napoleon selbst
beim besten Willen (den vorauszusetzen übrigens durchaus kein Grund vorliegt)
Oestreich gar nicht zu bieten. Eine systematische Allianz zwischen Oestreich und
Frankreich zur Unterdrückung der übergreifenden Begehrlichkeit Italiens ist auf
lange Zeit hin undenkbar. Napoleon wird lieber einige Unarten seines eigen¬
willigen Zöglings ertragen, als sich mit Oestreich zur Zügelung und Züchtigung
desselben verbünden. Denn letzteres kann er nicht, weil er damit seinem Princip,
Oestreich von jedem Einfluß auf Italien auszuschließen, untreu werden würde.
In diesem Verhältnisse liegt gegenwartig die Stärke der politischen Stellung
Italiens, welches sich dieses Vortheils wohl bewußt ist.
Die Verlegenheiten und Gefahren Oestreichs sind also durch die Convention
in hohem Grade gesteigert, und zu dem ungelösten Conflict im Innern tritt
die Aussicht auf einen Krieg, dessen Dimensionen sich noch nicht berechnen las¬
sen, einen Krieg um ein Object, dessen Besitz Oestreich seit einer Reihe von
Jahren nur Kosten auferlegt und keinen Vortheil gebracht hat. Da ihm nun
aber ein Krieg voraussichtlich eine Befestigung des Besitzes nicht bringen wird,
leicht aber den völligen Ruin des Staates herbeiführen kann, so bleibt Oest¬
reich nichts übrig, als den peinlichen Versuch, durch Temporisiren die Ent¬
scheidung hinzuziehen, so lange fortzusetzen als es möglich ist. Die Gefahren
und Unzulräglicht'eilen einer derartigen Politik haben wir offen anerkannt,
schlagen sie aber geringer an, als die Gefahren eines Krieges, bei dem jeden¬
falls der Bestand der Monarchie eingesetzt werden müßte. Oestreich wird also
jeden Schritt zu vermeiden haben, der die schon vorhandene Spannung noch
steigern konnte; es wird sich vor allem jeder Maßregel zu enthalten haben, die
in ihren Konsequenzen zwingen könnte, selbst den Angriff zu eröffnen. Es ist
mit einem Worte auf eine durchaus passive Politik angewiesen.
Oestreich vermag nach Süden ebenso wenig wie nach Westen und Norden eine
fruchtbare Wirksamkeit auszuüben. Die einfache Folge dieser unbestreitbaren That¬
sache ist, daß es seine ganze Thätigkeit nach Osten zu lenken hat, wo ihm die
Aussicht auf eine lebenskräftige Entwickelung, auf dauernde und werthvolle
Eroberungen winkt. Also auch aus der Lage der italienischen Dinge geht die
dringende Mahnung an Oestreich hervor, vor allem Ungarn mit dem Gesammt-
staat zu versöhnen, um nur erst die Grundlage zu einer thätigen Politik zu
gewinnen. Sobald dies gelungen, ist Oestreich im Stande, die Angelegen¬
heiten des Ostens ins Auge zu fassen und gestaltend und bildend in die Ge¬
schicke der bald von Anarchie zerrütteten, bald in Lethargie verkommenden
Länder an der unteren Donau einzugreifen. Inzwischen hat die auswärtige
Politik sich wesentlich darauf zu beschränken, die italienische Krisis bis zu einer
orientalischen Krisis, deren Ausbruch, sobald Oestreich mit Ungarn sich ge¬
setzt haben wird, nicht auf sich wird warten lassen, hinzuziehen. Denn, wir
müssen wiederholen, was wir schon früher ausgesprochen haben, die Ent¬
schädigung für den Verlust Venetiens, das nun einmal ein unhaltbarer Besitz
ist, kann nur im Oriente gesucht werden. Von dem Augenblicke dieser Wen¬
dung an kann Oestreich auch mit Sicherheit auf die Mitwirkung Preußens und
Deutschlands rechnen. In dem Besitz Italiens — das fühlt man auch in
Wien sehr gut — kann Preußen Oestreich nicht unterstützen. Wohl aber kann
und wird es die Ausbreitung Oestreichs nach Osten hin begünstigen. Daß aber
die Sicherheit Oestreichs von dem guten Einvernehmen mit Preußen abhängig
geworden, ist eine Thatsache, deren Erkenntniß wenigstens bei einem Theil der öst¬
reichischen Staatsmänner allmälig. wenn auch langsam, Eingang zu finden
scheint. Ob Oestreich den Ausbruch der italienischen Krise noch auf eine Reihe
von Jahren hin wird verschieben können, das ist freilich nicht allein von der
Weisheit seiner Staatsmänner, sondern auch von der Gunst des Glückes ab¬
hängig. Aber mag die östreichische Politik welche Richtung sie wolle ein¬
schlagen, sie wird sich dem Glücke anzuvertrauen haben. Der Unterschied ist
nur der: Beharrt Oestreich auf seinen alten Traditionen, so wird es auch die
glücklichste Wendung der Dinge fruchtlos und unbenutzt vorübergehen lassen
müssen; schlägt es dagegen unbeirrt die Wege ein. welche die Natur der Dinge
ihm vorschreibt, so wird es im Stande sein, den günstigen Moment zu er¬
greifen, ihn festzuhalten und dadurch die Fähigkeit zum Handeln wieder zu ge¬
winnen, die ihm versagt bleibt, so lange es die neuen Formen nur als Hülle
Die undeutliche Politik Preußens in Sachen der Herzogthümer hat einen
Wirrwarr von Vermuthungen, einen Sturm von Anschuldigungen hervorgerufen,
sie hat, was uns wichtiger ist, auch in der liberalen Partei lebhafte Erörterungen
veranlaßt. Ein großer Theil der liberalen Preußen ist für Annexion, ein Theil
der liberalen Süddeutschen ruft seine heimischen Regierungen auf zum Schutz gegen
die Annexionswünsche der preußischen Regierung. Nirgend fehlt es an auf¬
richtigen Liberalen, welche sich gradezu als Annexionisten aussprechen und
nicht wenige unserer tüchtigsten Männer gehören in diese Zahl, darneben solche,
welche zur Zeit keine lebhafte Betheiligung an unserer Tagespolitik bewährt
haben, stille Friedliebende, welche jetzt durch die Ohnmacht der kleineren
Staaten und durch die Zerrissenheit Deutschlands bitterlich gekränkt sind. Es
lohnt einmal, das Für und Wider solcher Erörterungen kurz zusammenzu¬
stellen, wie es sich innerhalb der liberalen Partei, zumal außerhalb Preußens
ausdrückt.
Zuerst sprechen die entschiedenen Annexionsmänner, zu denen vor andern
liberale Preußen gehören, aber auch einzelne Stimmführer in den Herzog-
thümern selbst, nicht wenige im übrigen Deutschland bis südlich vom Main:
wir wollen feinen neuen Kleinstaat mit all seiner Schwäche, wir wollen keine
neue Fürstenfamilie, wir sind damit reichlich begabt, wir wollen keinen neuen
Hof. wir wollen im Volke keinen neuen Particularismus. dies alles wurden
uns neue Gegner sein, welche wir in der Zukunft zu bekämpfen hätten. Ein
Anschluß der Herzogtümer an Preußen würde die Herzogtümer mehr drücken
als herausheben, er würde ihnen Lasten geben ohne die besten entsprechenden
Vortheile, er würde eine Art von Vasallenstaat schaffen, ein doppeltes Regiment,
dem Conflicte der Gewalten niemals fehlen würden, zumal unsere Preußen
leider als Befehlende bureaukratisch ungeschickt, an unrechter Stelle hockfahrend,
bei aller Tüchtigkeit unbequeme Herren sind. Eine Vereinigung der Herzog¬
tümer mit Preußen dagegen giebt den Schleswig-Holsteinern für größere Lasten
auch größeres Selbstgefühl, sie werden Theil eines großen Staatskörpers, ihre
gestimmte Intelligenz erhält ein weites Gebiet, in dem sie sich zum Wohl An¬
derer geltend machen kann, ihre Vertreter stellen sich neben die Altpreußen in
den Kammern und der Negierung. das Volk erhält Antheil an einem großen po¬
litischen Leben. Auch pecuniär wird wahrscheinlich seine Lage günstiger, die gute
Seite der preußischen Verwaltung, wohlgeordnete Finanzwirthschaft, vermag
auch ihm vielfach zu Hilfe zu kommen. An Stelle der provinziellen Abge¬
schlossenheit wird ein frisches GemcingefüKl treten, kurze Zeit und die Herzog-
thümer werden mit Preußen verwachsen sein. Preußen selbst aber wird durch
diesen neuen Erwerb gezwungen, energisch auf neuem Wege fortzuschreiten, seine
Stellung zu Deutschland, ja zu fremden Mächten wird eine total andere, es
muß nach Occupation der Herzogtümer, um sich zu erhalten, große deutsche
Politik treiben und die deutsche Frage, deren Lösung wir schmerzvoll und un¬
geduldig ersehnen, tritt dadurch der Entscheidung näher.
Es sind Liberale, welche so sprechen. Gegen die Gründe dieser Entschie¬
dener haben wir zunächst einen einzigen geltend zu machen. Wir haben kein
Recht, über die Zukunft eines deutschen Stammes zu beschließen gegen seinen
Willen. Daß das Volk selbst die entscheidende Stimme haben müsse ist ein
Fundamentalsatz der liberalen Politik, von dem wir unter keinen Umständen,
auch bei der lockendsten Versuchung nicht abgehen dürfen. Wir haben das Recht
des Herzogs Friedrich von Schleswig-Holstein stark betont, so lange dieses Recht
der Schutz der Herzogtümer gegen die Herrschaft der Dänen war. wir dürfen
dies Recht jetzt nicht als gleichgültig bei Seite werfen, aber wir dürfen aller¬
dings dem Herzog zumuthen. daß er selbst fein Recht opfere, ebenso wie wir
jeder anderen deutschen Dynastie, auch der preußischen zu Gunsten der deut¬
schen Frage Resignation zumuthen. Das ist nach unsern Parteigrundsätzen er¬
laubt. Aber in keinem Fall dürfen wir dem Volke von Schleswig-Holstein
Zwang oder Gewalt anthun lassen, selbst nicht um das zu fördern, was wir
für sein bestes Heil halten. In dem Respect Vor dem Volkswillen liegt das
letzte Geheimniß unserer Stärke, diese Rücksicht bestimmt und beschränkt guck
gebieterisch die Mittel und Wege unserer Politik.
Das geben viele unserer Freunde zu. Aber sie knüpfen ein anderes Ar¬
gument daran: Wohl, was wir niemals thun dürfen. mögM wir doch unsre
Gegner thun lassen. deren politisches Credo ihnen solche Pflicht nicht auflegt.
— Ohne Zweifel giebt es in der Politik Conflicte, wo eine politische Partei
in der Stille erfreut ist, daß ihre Gegner thun, was ihr selbst aus Partei¬
rücksichten durchzusetzen unmöglich ist. Jede Partei kommt zeitweise in die Lage,
auel ihre fundamentalen Sätze zu revidiren und zu erkennen, daß wenige da¬
von eine abf-olute Geltung haben. In Deutschland ist manchen feurigen Geistern
die Sehnsucht nach stärkerer Concentration so hoch gesteigert, daß sie auch
eine Tyrannis mit Freuden begrüßen würden, welche ihnen die Grundlagen
eines großen Staatslebens zu schassen vermöchte. In manchen Landschaften
empfindet grade der Liberalste mit bitterem Schmerz, wie unvollständig in der
Majorität seuier Mitbürger das volttische Bedürfniß nach einem größeren
Staatsbäu entwickelt ist, und wie wenig Berechtigung dort die Tagesstimmuiig
der Bevölkerung hat, welche über den Kirchthurm der Heimath noch nicht
h »ausreicht. Solcher Erkenntniß liegt die Ausfassung nahe, daß auch der
Werth des Volkswillens in der Politik weder cur unveränderlicher noch ein höchster
Werth sei, daß eine Schwäche und Beschränktheit des BoltswiUens zu gleicher
Zeit eme Schwäche und Beschränktheit unserer Partei wird und da^ wir des¬
halb allerdings in die Lage kommen können, uns in der Stille über das freuen
zu müssen, was kühne Gegner gegen unsere formulirten Parteigrundsätze wagen.
Diese Auffassung vermag sich auf den wirklichen Lauf der Dinge zu stützen.
Selten vollzieht sich ein großer politischer Fortschritt nach den Wünjchen und
Grundsätzen einer Partei, auch die am beste» berechtigte wird durch unvoryer-
gesehene Thatsachen überrascht, sie muß selbst nahe am Siege ehren Gegnern
Concessionen machen. Mehr als einmal ist offnes Unrecht zu gutem Recht ge¬
worden, auch die Bereinigung Italiens zu einem Staat ist viel weniger durch
die Majorität der Bvltswünsche als durch die Stimmung des Kaiser Napoleon
bewirkt worden, und der Preis, den die Italiener dafür bezahlten. Savoyen
und Nizza , wurde ihnen deshalb nicht weniger schmerzlich, weil die Bcvöikeru»g
dieser Landschaften durch die tyrannische Parodie einer Boltsabstimmung von lehren
gelöst ward. Sie suhlen etes das Unrecht gegen ihr patriotisches Ideal, welches
damals begangen wurde, sie fühlen auch , baß diese Abtretung wie ein schwarzer
Schatten auf ihrem jungen Staatsleben liegt, und doch empfinden sie bereits
jetzt lebhaft den Segen, zu einem großen politischen Körper vereinigt zu sem.
Wenn in Deutschland die gegenwärtige preußische Regierung Muth und iUast
hätte, große Eroberungspolitik zu treiben — die Verhältnisse liegen nicht un¬
günstig dafür und ein Erfolg erscheint wenigstens nicht unmöglich — so
würde ohne Zweifel durch die Resultate des Kampfes nicht nur' das gegen¬
wärtige System in Preußen modificirt werden, es würden auch nach wenig
sichre» sehr viele der Unzufriedensten völlig bekehrt sein. Dies alles soll hier
zugegeben werden. Aber wir meinen, auf die Taktik unserer Partei darf auch
diese Annahme keinen Einfluß ausüben.
Zunächst aus einem Grunde der Zweckmäßigkeit. Preußen ist bereits auf
dem besten Wege, die deutschen Stämme mit sich zu verbinden. Auf die ein¬
zelnen Thatsachen soll kein übergroßer Werth gelegt werden, weder auf den
Zollverein noch die Gründung einer Flotte, noch darauf, daß Preussen mit dem
Auslande bereits als Bertreter deutscher Interessen Beiträge schließt. Thatsache
tst aber, daß durch die friedlichen und gesetzlichen Fortschritte, welche Preußen
seit Gründung des Zollvereins gemacht hat, nicht mehr der Weg und das Ziel,
nur die Zeit in Frage gestellt sind. Die eine Hälfte Deutschlands heißt Preu¬
ßen, die andere Hcifte ist in vielen wichtigen Beziehungen bereits Von dem Leben
dieses Staates so abhängig, wie nur ein Clientetstaat sern kann. Wenn wir das
Ungenügende solches Fortschritts lebhast fühlen, vergessen wir leicht, wie
groß er in der That war. Dieser Fortschritt aber ist durchaus und nur
nach den Grundsätzendes Liberalismus erworben und wir haben durchaus kein
Recht zu zweifeln, daß dieser seine stegreiche Gewalt weiter bewähren werde, sobald
Preußen die großen Hilfsquellen, welche er eröffnen kann, benutzt. Eine jede
Legierung in Preußen muß anstehen, mit schnellem Sprunge den betretenen
Weg aufzugeben und den einer gewaltsamen Erwerbung gegen Cabinete
und Böller zu betreten. Vollends die liberale Partei, als solche, darf
ihre Operationen nicht sofort ändern, weil die Chancen für einen kecken Ent-
Schluß gestiegen sind. Aber die Schleswig-holsteinische Frage darf von un¬
serer Partei überhaupt nicht nach Gründen der augenblicklichen Zweckmäßigkeit
beurtheilt werden, deshalb sind wer liberal? Weil unserem Herzen Bedürfniß
ist, von dem Menschen groß zu denken. Weshalb betonen wir überall das
Selbstbestimmungsrecht der Völker? Weil wir darin den edelsten Ausdruck der
politischen Freiheit finden, welche wir sür uns, wie sür andere fordern. Ist es
redlich und klug hier liberal zu sein, dort octroyiren zu lassen? Heute einen großen,
Grundsatz »>it Emphase zu betonen, morgen denselben Satz aus Utililärsgrün-
den gleichgiltig fallen zu lassen? Mit welchem Recht maßen wir uns an, bes¬
ser als d>e Schleswig-Holsteiner zu verstehen, was ihnen und dem Ganzen
frommt? Sie sind es, um deren Zukunft sichs zunächst handelt, sie müssen doch
die erste Stimme haben, und ihre Entscheidung haben wir doch vor allem zu
rcsvecnren. Deshalb dürfen wir als Liberale keineswegs schweigend zusehen,
wen» man sie, ohne sie zu fragen oder gar wider ihren Willen zu dem machen
wollte, was wir ihnen und uns nützlich halten, zu Preußen.
Wir sind der Meinung, daß die Liberalen in Deutschland dann das Rechte
thun, wenn sie die Ueberzeugungen der Majorität >n Schleswig-Holstein respec-
tiren, das heißt mit den Forderungen, die sie erheben, nicht weiter gehn als
diese; in jedem Falle aber nicht müde werden zu betonen, daß die Frage nur
nach dem Willen der Schleswig-Holsteiner erledigt werden dürfe. Was wir sür
sie und uns wünschen steht erst rü zweiter Linie, das Nächste ist, daß ihnen
nichts aufgedrungen werden darf, was sie selbst nicht wollen.
ES scheint, daß die preußische Negierung ebenfalls die öffentliche Meinung
für sich zu gewinnen sucht und eine Wandelung der Ueberzeugungen im Lande
von der Zeit erwartet. Man argwöhnt, daß sie die Entscheidung der Frage in
die Länge zieht, um den Bewohnern der Herzogtümer den Gedanken der Annexion
populär zu mache». Es ist möglich, daß dieser Gedanke auch dort einiges Terrain ge¬
winnt, aber es ist ein bedenkliches Spiel, deshalb die Ent Scheidung der Frage hinaus¬
zuziehen, denn jeder Tag kann Veranlassung zu einer neuen Verwicklung bringen, welche
die Stellung der Großmächte ändert und die verhältnißmäßige Glerchgiltigkeit. mit
welcher sie bisher diese Frage betrachtet haben, in lebhafte Parteinahme ver¬
wandelt. Eine der klügsten Operationen des Kaisers Napoleon war, daß er
schnell den Frieden von Villafranca schloß und ebenso schnell seine Beute in
Sicherheit brachte. Die Preußen haben schon einmal das Versehen gemacht,
mit dem Friedensschluß zu säumig zu sein, es war Glück, daß daraus kein
wesentlicher Nachtheil erwuchs. Weit gefährlicher ist jetzt das lange Aufschieben
der Entscheidung, denn es sichert ihnen keinesfalls den größern Gewinn und
setzt sie in Gefahr, auch' das noch zu verlieren, was ihnen jetzt so ungenügend
däucht. den Anschluß der Herzogthümer. Schnelle Entscheidung und ein mäßiger
Bortheil, und in allem Uebrigen freie Hand, das wäre wohl auch für die
Negierung Preußens die beste Politik. Für uns aber, die Liberalen der preu¬
ßischen Partei, darf in Sachen der Herzogthümer die nächste Forderung gar
nicht sein weder die Annexion, noch Anschluß, sondern die Forderung, daß
dem Schleswig-holsteinischen Boll sein Recht der Mitentscheidung über diese
Frage nicht verkürzt werde.
Ihrer Zerfahrenheit bat es die monumentale Kunst der Gegenwart groszen-
theils zuzuschreiben, daß sie weder zu einer stetigen Entwicklung noch zu
einer eigenthümlichen und stilvollen Anschauungsweise hat gelangen können.
Sie hätte sich vor der charakterlosen Vielseitigkeit, welche über der Mannig¬
faltigkeit und der Bedeutung des Stoffs die Formenvollendung und den schönen
Ausdruck des Lebens aus den Augen verliert, wohl behüten lassen, wenn
sie der Schule großer Vorbilder, in welche sie anfänglich eingetreten, von
Seite der fürstlichen Kunstherren mehr erhalten als entfremdet worden wäre.
Allerdings empfand die ganze moderne deutsche Kunst, von der Zeitbildung
mitgezogen, den Trieb in sich, aus dem neuentdeckten Schacht der Vergangen,
heit alle möglichen, auch die abgelegensten Formen hervorzuholen, um sich in
ihnen mit neuer, doch auch künstlich gesteigerter Lebenslust spielend zu versuchen.
Aber diese Universalität, welche wohl Sache der Bildung ist und deren diese
allmälig für die Zwecke ihres Zeitalters Herr wird, kommt über die Kunst
wie eine fremde Gewalt, der sie unterliegt. Denn die Bildung dringt durch
das Aeußere zum Geist, zum Inhalt der Vergangenheit durch und nimmt ihn
ZU freiem Gebrauch in sich auf; die Kunst aber, wenn ihr nicht eine mäch¬
tige eigene Kraft einwohnt, verwickelt sich in der Fülle des Stoffes und
bleibt, was noch schlimmer ist. an der Form hängen, auch an der ver¬
gänglichen und ausgelebten, die nur als Ausdruck einer bestimmten Zeit be¬
seelte Gestalt war. Die Umkehr aber zu solchen unentwickelten Formen ist
keineswegs im Wesen der Kunst begründet, sondern nur in einer launenhaften
Vorliebe für das Ungewöhnliche und Geheimnisvolle oder in einer Ueberspannt-
heit des Gemüthslebens: in einem Reiz der Empfindung, die durch das
ahnungsvolle Dämmerlicht gefangen wird, mit welchem aus den unreifen Zügen
jener Formen eine in der Wirklichkeit unbefriedigte Seele hervorbricht. Diese
romantische Stimmung paßte zu gut in die rückströmende und erschlaffte Be¬
wegung vergangener Jahrzehnte, um von der Kirche und den Fürsten nicht be¬
nutzt zu werden; dabei lieh sich zugleich diese gemachte Gcfühlsinnigkcit für
deutsch ausgeben und von „nationaler" Kunst schwärmen. Sich selber über¬
lassen, wäre diese- Kunstweise bald in sich zusammengefallen, und wie über
ihren Inhalt, so über die gezierte Unbeholfenheit ihrer Formen und die sü߬
liche Schwäche ihres Ausdrucks die innerlich von gesunden Trieben bewegte
Zeit zertretenden Schrittes weggegangen. Einer der vornehmsten Vertreter der
neuen deutschen Kunst. Cornelius, bietet an sich selber ein bezeichnendes
Beispiel, wie bald eine kräftige und gut angelegte Natur sich aus dieser künst¬
lichen Rückversetzung in eine gebundene Anschauungsweise der Vergangenheit
herausarbeitet.
Welche Pflege und Verbreitung diese unklaren Richtungen der Neuzeit, in
der Malerei das Naza ren erthum, in der Architektur die für das moderne
Bedürfniß zurechtgemachte romanische Bauweise, in München gefunden haben,
ist bekannt, und wir werden sehen, wie sie ihre Schößlinge bis in die jüngsten
Tage treiben: von den byzantinischen und gothischen Zwischenspielen, welche
mitunterliefen und auch jetzt noch einzelne schwache Nachklänge vernehmen lassen,
nicht zu reden. Durch diese Neuerungen war die kurze classische Kunstblüthe,
die mit Cornelius, Klenze und Rottmann angesetzt hatte und erst im
vollen Aufgehen begriffen war, mit einem Male abgeschnitten. Zugleich tauchte
mit wahrhaft fanatischer Unduldsamkeit die Idee der „nationalen Kunst"
auf. Selbst die Nazarener,'deren überreizte Empfindung sich doch an der vor>
raphaelischen Malerei entzündet hatte, meinten in ihren Producten dem denk,
schen Gefühl einen neuen Ausdruck gegeben zu haben, und jene Bauart, die
in Gärtner über Klenze triumphirte und in der Ludwigsstraße das hoch¬
mütige Angesicht einer versteinerten Langeweile zur Schau trägt, erklärte sich
unumwunden für die wahre, deutsche und zeitgemäße, da sie doch nichts war
als eine bald abgeschwächte, bald vergröberte, immer aber kenntnißlose An¬
wendung der romanischen Kunstweise. Daneben mußten echt deutsche Stoffe,
die Gebilde deutscher Dichter, die Nibelungensage und die Geschichten der
größten deutschen Kaiser, deren Gestalten in der Nacht der Jahrhunderte ver¬
graben waren, im Bilde noch einmal aufleben. Wie hätte man für die alten
Recken und die blonden noch halb barbarischen Kraftmenschen classische Formen
gebrauchen können? In der wilden Größe des Ausdrucks und der Ungeschlacht¬
heit ihrer hünenhaften Glieder, in der sie gern die dichterische Phantasie sich
denkt, mußten die Helden an den Wänden des königlichen Schlosses daher-
schreiten. Zu solchen Aufgaben berufen schlug sich der deutsche Künstler stolz
an die eigene Brust und ging keuschen strengen Blicks an der nackten Anmuth
der Antike, wie an der weichen Ueppigkeit der Renaissance vorüber. Das
war die Zeit, wo der junge Maler — immer noch mit langwallendem
Haupthaar — nur in deutschen Kunststädten Studien machte und Italien mied,
wie die leibhaftige Frau Venus, in deren Armen seine zarte deutsche Seele
und Phantasie nur Schaden leiden könnte.
Aber noch war die deutsche Kunst nicht fertig. Deutsche Empfindung,
deutsche Sage, deutsche Geschichte — es fehlte offenbar Eins, gerade das,
worauf wir uus am meisten zu Gute thun- der deutsche Geist. Daß die Kunst¬
werke sein Gepräge trugen, das genügte nicht. Er selber in seiner ganzen
modernen Vielgewandtheit, mit seiner philosophischen Weltanschauung, welcher
alles Göttliche menschlich und die ganze Welt ein verständliches Diesseits ist,
und doch wieder mit seinem Gemüth, welches das Jenseits nicht missen mag,
mit seiner Ironie, welche an jeder Erscheinung die erbärmliche Kehrseite zu fin¬
den weiß, endlich noch mit seiner verkappten Sinnlichkeit, die im Stillen nur um
so brünstiger ist, als sie öffentlich vor der Keuschheit des deutschen Wesens sich
beugen muß: der Geist selber mit allen diesen Attributen mußte sich in der
Kunst verkörpern. Und das Unglaubliche geschah. Das neunzehnte Jahrhundert
brachte einen Künstler zu Staude, der den modernen deutschen Geist auf die
Malerleinwand zu bannen wußte, mit dem „NarrenHaus" begann und nun,
am Ziele seiner Laufbahn, sowohl den Entwickelungsgang der Weltgeschichte
als die schönsten Schöpfungen der deutschen Dichtung, Goethes Frauengestalten,
im Bilde faßt. Wenn auch Kaulbach über eine so beschränkte Empfindung,
wie das Nationalgefühl, hinaus ist, so beruht doch seine ganze Kunst lediglich
darauf — und eben das hat ihn bedeutend gemacht — daß er unsere moderne
Denkweise und Reflexionsbildung und ebenso unsere Begierden wie unsere Ideen
aus seinen Gebilden Herausblicken läßt. Freilich nicht, was das Rechte wäre,
als den eigenthümlichen Inhalt lebensvoller und das Leben ganz in sich tragen¬
der, ausdrucksvoll in sich zusammengefaßter Gestalten: sondern als ein Schein¬
spiel, das er seine Figuren mit allen den Bewegungen und Beziehungen, welche
die moderne Anschauung in der Welt findet, in unterhaltender Mannigfaltigkeit
aufführen läßt (daher Reinecke Fuchs sein bestes, ein sicher bleibendes Werk).
Natürlich ist mit diesem bedeutungsvollen Spiel der Kunst nicht geholfen. Es
weidet den Gestalten ihre Seele aus und setzt ihnen dafür ein besonderes Licht
ein, daher werden sie schemenhaft und maskenartig; es häuft, um eine Welt
von Geist auszuschütten, Figuren auf Figuren und verliert so alles Maß der
Gruppirung; es kennt nur einen scheinbaren und gemachten Formenreiz, weil
ihm vor allem am witzigen oder tiefsinnigen Einfall liegt, dem die Erscheinung
nur wie ein verlockendes Kleid umgeworfen wird; es verhält sich endlich stumpf
und gleichgiltig gegen seine farbige Verkörperung, weil es schon im abstracten,
mehr geistigen Zug der Linien seinen befriedigten Ausdruck findet. Es fürchtet
überhaupt die malerische Durchführung und die sinnliche Wärme des Daseins.
weil dann zu Tage kommt, wie viel ihm zum Ausdruck und zur Fülle des
Lebens fehlt. Denn im Grunde ist dieses Spiel unschöpferisch und gestaltungs¬
los, weil dem Künstler, wie viel die Natur auch sonst ihm gegeben haben
mag, die vornehmsten Bedingungen des künstlerischen Schaffens fehlen: der
Ernst, die Begeisterung und die Empfindung für die still in sich erfüllte Schön¬
heit, nicht zu rechnen, daß bei ihm, dem Meister des Scheins, auch die Be¬
herrschung der Darstellungsmittel, die gründliche Formenkenntniß — nur
Schein ist.
Doch von Kaulbach ist in d. Bl> schon oft die Rede gewesen. Hier ge¬
hörte er her, weil er die Richtung unserer Kunst, welche nur auf ihren eigenen
Füßen stehen und deutsches Wesen zum Ausdruck bringen will, auch ohne daß
er es Wort hat, zu einer Art von Abschluß, bringt. Mag auch bisweilen seine
Formengebung die raphaelische Anmuth und Reinheit uns vorspiegeln wollen:
von dem edlen Blut der italienischen Anschauung ist schon deshalb kein Tropfen
in ihm, weil ihm die Gestalt nur ein Gefäß ist für den Sinn, den er hinein¬
legt, und der ihr umgehängte Formenschein nichts weiter als ein Reizmittel.
Auch ihm fehlt, wie der ganzen Richtung, der wir ihn zugezählt haben, das
tiefere Verständniß, die Vollendung der Form (im weitesten Sinne des Wortes),
welche allein dem Kunstgebilde das beseelende Gepräge des Lebens giebt, auch
ihm ist der Inhalt, der ausgedrückt werden soll, sei er nun mehr geistiger
oder mehr sinnlicher Natur, die Hauptsache.
Diese Merkmale sind es auch, welche die auf ihre Selbständigkeit so eifer¬
süchtige „nationale" Kunst mit jenen Erneuerungen halbentwickelter Kunstweisen
der Vergangenheit gemein hat. Fast überall derselbe Mangel liebevoller Durch¬
führung, dasselbe Unvermögen zu der Durchdringung der Form mit dem vollen
Schein des Lebens, die doch allein dem Kunstwerk seinen wahren bleibenden
Reiz geben. Das gilt nicht blos von der Malerei — es ist immer von
der monumentalen die Rede — sondern ebenso von der Münchner Architektur,
die von den Bauten Gärtners an bis zu dem „modernen Baustil" herab die¬
selben Erscheinungen zeigt, und von der Plastik, die doch vor allem auf lebendige
Durchbildung der Gestalt angewiesen ist. Auch sie sucht, in ihrer gegenwärtigen
Hauptaufgabe der BildnWcttuen zwischen modernem Realismus und antiker
Formenidealität bin- und herschwankcnd, eine eingebildete und schließlich doch
unsichere Selbständigkeit und versäumt darüber die künstlerische Vollendung.
Für die Malerei aber dieser ganzen Richtung ist es bezeichnend, daß die Meister
es gemeinhin nur bis zum Carton bringen und die farbige Ausführung den
Schülerhänden überlassen; für die Architektur, daß von Jahr zu Jahr das Bau¬
handwerk mittelmäßiger und die Ausführung der Ornamente roher, unsicherer
und schablonenhafter wird.
Das also ist damit erreicht worden, daß man einerseits die mystische
Empfindung noch gährender und dunkler Kunstperioden wieder heraufbeschwor,
andrerseits das Banner der nationalen Kunst und der deutschen Originalität
aussteckte. Was die bayerischen Fürsten bewog, diese Richtungen zu unterstützen
und so viel an ihnen war auszubilden, ist an andrer Stelle besprochen;
die Künstler trieb, wie wir gesehen, eine gewisse Strömung des Zeitalters in
diese Bahnen und ein unklares Streben Juans Eigenthümlichkeit. Allein unter
der Decke und manchem unbewußt spielten noch andere Beweggründe: die
Scheu vor dem strengen Studium nach der mustergiltigen Kunst und die Aengst-
lichkeit, in einer gewissen conventionellen Nachbildung stecken zu bleiben. Es
war weit bequemer, sich blos an die Natur oder an minder entwickelte Formen
zu halten und im stillen Bewußtsein, daß man über deren befangene Anschauung
doch hinaus sei, ihre Weiterbildung keck in die Hand zu nehmen. Denn Männer wie
Overbeck, dem es mit der frommen Versenkung in die umbrische Schule wenig¬
stens eine Zeit lang Ernst war, gab es wenige. Die vollendeten Formen der
Antike und der Renaissance, so machte man sich vor, seien der abgeschlossene
Ausdruck einer in sich erfüllten Lebensauffassung und Ideenwelt, von diesen
nicht abtrennbar und in ihrer fertigen Erscheinung eine Fessel für die Freiheit
der modernen Phantasie. Man liebte es, als abschreckendes Beispiel einer ge¬
spreizten Klassicität, welche die Eigenthümlichkeit abtödte, die davidsche Schule
anzuführen, ja an den Erneuerern der deutschen Kunst Schick und Wächter
bei kühler Anerkennung den Mangel an schöpferischer Kraft und lebendiger Ge¬
staltung hervorzuheben, an Karstens endlich zu tadeln, daß er in michelange-
lesker Formen befangen es zum Maler nicht habe bringen können. Daß in
der Architektur Klenze über eine mittelmäßige Nachahmung nicht hinausgekommen,
War nun vollends gewiß. Wenn nur die Herren selber, die mit achselzuckender
Weisheit derlei Dinge vorbrachten, die Eigenschaften besessen hätten, deren
Mangel sie an jenen rügten! Doch die Beispiele selber waren unpassend und
zeugten von der beschränkten Reflexion, die absprechender Emporkömmlingen
eigen ist.
Jede ncuanhebende Kunst sucht sich an den überlieferten Mustern der Ver¬
gangenheit zu bilden, und es ist natürlich, daß ihre noch ungeübte Hand nicht
sofort deren Formvollendung erreicht oder, von der Ungeduld der Production
getrieben, blos ihren äußeren Schein äußerlich sich aneignet. Denn nur all-
mälig, durch hingebende Liebe und Arbeit erhält die neue Zeit die Fähigkeit,
in ihren jugendlichen Schooß die reife Frucht der vorangegangenen aufzunehmen.
Machte sich denn die erwachende italienische Kunst mit einem Griff die Formen-
schönheit der Antike zu eigen? Fast drei Jahrhunderte liegen zwischen Nicolo
Pisano und Raphael, und so oft auch die Neubelebung des Alterthums unter¬
brochen, derselben die eigene Empfindung der Zeit, ihre malerische Anschauung
und der Anschluß an die Natur entgegenzutreten schienen- dennoch nahm sie in
wenn auch langsamem und nicht selten verborgenem Wachsen ihren stetigen Fort¬
gang. Dabei fiel es auch dem eigenartigen Künstler nicht ein, die Formen,
welche die Arbeit des Vorgängers oder des Zeitgenossen aus dem Schacht der
Antike wieder hervorgeholt hatte, eigensinnig von sich abzuweisen, sondern er
nahm sie aus dieser zweiten Hand, um was ihm seine Phantasie eingab, in
um so klarerer und festerer Erscheinung an den Tag zu bringen. So bildete
sich der lebendige Zusammenhang und die Wechselwirkung der verschiedenen
Richtungen, durch welche die italienische Kunst das Höchste erreichte. Denn
auch diese selbständige Umbildung der überlieferten Formen durch den neuen
Inhalt und die neue Naturanschauung wirkte auf die classischen Schulen zurück
und aus diesem fruchtbaren Doppelleben entstand zuletzt die wurde-rbare Ver¬
schmelzung der antiken und der neuen Formenwelt, in welcher die Lionardo,
Raphael, Michelangelo und Tizian, die Brunelleschi. Peruzzi und Bramante
das zweite Vorbild der Kunst schufen.
So widerlegt die Renaissance auch noch das Andere: daß nämlich die Rück¬
kehr zu den vollendeten Mustern den Künstler in einer sklavischen Nachbildung
halte. Wem unter den Künstlern jener Zeit hätte die Begeisterung für die
antike Schönheit Abbruch gethan? Die Poeten, ein Petrarca und Boccaccio,
schrieben sogar in lateinischen Versen über Dinge des alten Roms und im rö¬
mischen Sinne, ja deshalb hielten sie sich für unsterblich; sind deshalb ihre
italienischen Dichtungen weniger eigenthümlich und unvergänglich? Selbst wenn
die Cinquecentisten zur griechischen Götterwelt zurückgriffen und nur um so
enger also an die antiken Formen gebunden schienen, blieben sie eigenthümlich
sie faßten ihre Lust und Empfindung des Lebens in die nackten Idealgestalten
und gaben ihnen den malerischen Wurf ihrer Anschauung. In abgeschlossenen
Bildungen schienen die griechische und römische Architektur verfestigt zu sein;
und doch haben die Italiener von Brunelleschi bis auf Bramante und Palladio
ihre Formen wieder in Fluß zu bringen und zu neuen organischen Schöpfungen
für neue Zwecke, für kirchliche, wie öffentliche und für den edlen Genuß eines
reich entwickelten Daseins zu gliedern und zu verbinden vermocht. Freilich, die
in unserm Jahrhundert neu aufgelegte „deutsche" Baukunst (sie will es natür¬
lich nicht Wort haben, daß sie im Grunde französischen Ursprungs ist) sieht im
stolzen Bewußtsein ihrer „nationalen" Constructionsstrenge auf das Formenspiel
und die ausländische Schönheit des Renaissancestils mit Geringschätzung herab.
Aber sie selber muß ja, wenn sie den Raum für unsere Lebensart und unsere
Bedürfnisse herstellen will, ihrem constructiver Princip, dem einseitig vertikalen
Aufbau und dem Spitzbogen — der nur als die Form für die Einheit in der
Mannigfaltigkeit des Gewölbebaues, daher nur als constructives Glied Sinn
und Ausdruck hat — abtrünnig werden und sich mit einem bedeutungslosen
Ornamentcnspicl begnügen, das armselig in der Erfindung blos eine fortwäh-
rente Wiederholung der großen structiven Formen im Kleinen, halb organisch,
halb geometrisch und daher keines von beiden ist. das zudem losgelöst von der
streng gemessenen und doch phantastischen Pracht des Kirchcnstils unvermittelt
an der Mauer klebt. Dagegen ist selbst noch in dem Reichthum der Spät¬
renaissance das sichtbare Maß einer gesetzlichen Ordnung und Gliederung;
wenn sie auch in dem überquellenden Gestaltungstrieb der ganzen Maucr-
fläche den Schein bewegter Schönheit zu geben, structive Forme» verschwenderisch
wie Ornamente gebrauchte, so ist dieser Ueberfluß noch lange kein Beweis, daß
eS dem Stile, wie man Wohl behaupten hört, an einem einheitlichen und strengen
Gesetz des Aufbaues gebreche. Doch von dem Werthe und der Entwicklungs¬
fähigkeit desselben auch für die Bedürfnisse deö heutigen Lebens war in diesen
Blättern schon bei Gelegenheit der Münchener Ausstellung von 1863 die Rede.
Hier sollte uns diese Bauart nur zeigen, wie ein späteres selbst schöpferisches
Zeitalter die Formen der Antike aufnahm und sie mit Verständniß und künstle¬
rischer Freiheit zugleich zu gebrauchen wußte, um in den Combinationen der¬
selben zu neuen Bildungen seine Zwecke zu erfüllen und seine Phantasie
auszuprägen. Und nicht blos für sich, auch für die Gegenwart liefert jener
Stil den Beweis, daß die spätere Zeit, indem sie die entwickelte Kunst einer
früheren zu ihrer Grundlage macht, weit entfernt, sich in ein todtes Spiel der
Nachahmung zu verlieren, vielmehr eine neue lebensfähige Kunst hervorzu¬
bringen vermag: denn die besten deutschen und französischen Architekten dieser
Tage haben es durch die That bewiese», baß unser Jahrhundert in diesem Stile
seine schönsten Bauwerke, solche zugleich, welche seine Eigenthümlichkeit am klar¬
sten aussprechen, zu schaffen vermag.
Die Furcht, durch das Studium der mustergiltigen .Kunst an der Selb¬
ständigkeit, sei es der allgemeinen Zcitanschauung oder der individuellen Phan¬
tasie, Schaden zu nehmen, zeugt von einem groben Mißverständniß, mag dieses
nun aus der Enge künstlerischer Einsicht oder aus träger Scheu vor der An¬
strengung herrühren. Nicht darum handelt eS sich ja, die Auffassung eines ver¬
gangenen Lebens, den Borsteliungskreis eines ausgelebten Bewußtseins sich an¬
zueignen. Sondern die Art, wie die früheren großen Kunstepochen auf dem
Gipfel ihrer Entwicklung die Erscheinung der Natur, befreit von, Zwang und
der Noth zufälliger Wirklichkeit, zur schönen, vollendet künstlerischen Gestalt
umgeschaffen haben: daran soll die jüngere Kunst sich bilden. Die Welt der
Forme», in welcher die Natur mit dem vollen Auodruck ihrer schöpferischen
Freiheit, dem »»verkümmerten Gebrauch ihrer Kräfte, gleichsam in einer glück¬
lichen Stunde, festgehalten und durch eine gereiste künstlerische Anschauung zu
einem neuen idealen Dasein wiedergeboren ist- das ist und bleibt das unver¬
gängliche Borbild des später kommenden Künstlers. Diese Formenwelt bildet
eine zweite zum reinen Schein des Daseins geklärte Wirklichkeit, welche, gleich-
sam aus der Vermählung der Natur mit dem menschlichen Geiste hervorgegangen,
die eigentliche Heimath des Künstlers ist. Im Verkehr mit ihren Gestalten wird
ihm der dunkle Inhalt seiner eigenen Seele lebendig und ringt sich allmälig
zu klarer, geordneter Erscheinung an den Tag. Sie überliefert ihm die unver¬
gänglichen Gesetze, nach denen er, was im inneren Bilde ihm vorschwebt, leicht
und sicher zu gestalten vermag; sie zeigt ihm, wie er die Natur zu fassen hat,
um sie zum vollen Ausdruck des Wesens zu bringen, das er in ihr entdeckt
oder in sie hineinlegt. Sie offenbart ihm, wie im Bilde die flüchtige Bewegung
des Lebens greifbar sich ausprägt und doch wieder mit bald sanftem, bald nach,
eigen Zuge fortzufließen scheint, sie endlich enthüllt ihm auch in der gebrochenen
und getrübten Erscheinung die Schönheit.
Was Jahrhunderte vor ihm gethan und glücklich errungen haben, das sollte
er, ein Kind seiner Zeit, die selber auf den Schultern der Vergangenheit ruht,
als fremd von sich abweisen, um aus eigenen Kräften die Arbeit ganzer Ge¬
schlechter aufs Neue vorzunehmen? wozu es des Kreislaufs ganzer Epochen be¬
dürfte, vom Zwang der Natur uns loszulösen und ihre Erscheinung zur ge¬
läuterten Hülle des Geistes umzubilden, auf eigene Faust vollbringen? Er sollte
aus eigenen Mitteln leisten können, was bevorzugte Zeiten unter günstigen Ver¬
hältnissen, in einer Natur, die mit dem ungebrochenen Schwung ihrer Formen
der Phantasie entgegenkam, und nur durch eine ganze Kette schöpferischer Kräfte
allmälig zu Staude brachten? Doch, auch wenn er durchaus selbständig sein und
lediglich aus sich und der Natur die Formen seiner Darstellung holen wollte:
er könnte es nicht. Mehr als jeder frühere findet sich der moderne Künstler
in einem Bildungskreise, der nicht blos den ganzen Inhalt der Vergangenheit,
sondern auch einen großen Theil ihrer Anschauungen in sich aufgenommen und
die Arbeit früherer Zeiten als das Erbe angetreten hat, von dessen richtigem
Gebrauch der Erfolg seiner eigenen Wirthschaft abhängt. Auf der Bildung
beruht ja die Macht und die Eigenthümlichkeit des Jahrhunderts. Durch ihre -
Verbreitung liegen mehr als je die Vorstellungen verflossener Zeiten in der
Luft, ihren Einflüssen kann sich auch die selbständigste Kraft nicht entziehen.
Der die Natur und die Welt nur mit eigenen Augen zu sehen glaubt, merkt
nicht, daß schon sein Auge eine ihm überlieferte Anschauung mitbringt. Willen¬
los und unbewußt unterliegt er so den Eindrücken der mit fremden Elementen
geschwängerten Zeit und seine Phantasie, statt, wie er meint, ein reiner Spiegel
zu sein, den er der Natur, um ihr Bild zu empfangen, nur vorzuhalten brauche,
ist vielmehr eine von unfertigen und verworrenen Gestalten angehauchte und
blind gewordene Scheibe, welche die Wirklichkeit nur falsch und trüb reflectiren
kann. Statt also frei zu sein, ist er vielmehr den zufälligen Wirkungen einer
halben und verschwommenen Bildung unterworfen, die ohne sein Zuthun über
thu gekommen ist: während doch seine Phantasie ihre volle Freiheit zurück-
erhielte, wenn er durch eigene Arbeit und ernstes Studium den Zwang dieser
Einflüsse überwunden und sich so zugleich die Bedingungen und Mittel für seine
eigene Kunstübung erworben hätte.
Denn die entwickelte Formenwelt, welche in den guten Denkmälern classischer
Zeiten erhalten, auch auf das heutige Auge noch den alten Zauber ausübt, ist
nicht mehr der bloße Ausdruck einer bedingten Lebcnsanschauuiig und eines
besonderen Zeitinhnltcs. Sie ist „die Gestalt, welche frei von jeder Zeitgcwalt
die Gespielin seliger Natur ist." Nur dann vermochte die Kunst diesen ewig
schönen Leib zu schaffen, wenn sie im Bilde des bestimmten Lebens, das sie
darzustellen hatte, die beschränkten Züge hinter die allgemein menschlichen zurück¬
drängte und so ein Werk hervorbrachte, das die Zeit über sich selbst hinaushob
und ihren Gestalten die blühende Jugend eines unvergänglichen Daseins gab.
Die vollendete Kunst mit einem Wort befreit die Phantasie des Zeitalters von
der Schranke des Tages und der Einmischung stofflicher Interessen und unreiner
Empfindungen; wie sie ihren Schöpfungen die Selbständigkeit der nur aus sich
beseelten Erscheinung giebt, so prägt sie zugleich die Form zu einem selbständigen,
für alle Zeiten mustergiltige» Dasein aus. Sowohl die Aphrodite» des Praxi¬
teles als Raphaels Madonnen haben sich für uns ihres göttlichen Nimbus be¬
geben: aber beide haben das Ideal des schönen Weibes gestaltet und indem der
eine über die enthüllte Form die verklärte Sinnlichkeit des Heidenthums aus¬
goß, der andere im Angesicht den Liebreiz seelenvoller Innerlichkeit ausschloß,
hat jeder in seiner Art ein Bild des Weibes geschaffen, dessen Züge in der
menschlichen Phantasie selber liegen, und das ihr nun in ewig giltiger Vollendung
gegenübersteht.
Nicht also um in ihren Vorj)elln»gskrcis sich einzuleben, oder ihre Ge¬
stalten nachzubilden, soll sich der Künstler an die Meisterwerke vergangener
Zeiten halten; sondern um in ihrer Schule seine» Formensinn zu bilden
und sich die Handhabung der künstlerischen Mittel zu erwerben, in deren BesH
allein er was ihn bewegt zu lebendiger Erscheinung und ausdrucksvoller
Schönheit ,zu bringen vermag. Dabei soll er um so weniger das Studium
der Natur aufgeben, als er auch diese kennen und verstehen muß, wenn er
an jenen Vorbildern lernen will, wie sie die Natur angeschaut und gestaltet
haben. Eines freilich ist unerläßliche Bedingung, falls er die überlieferte»
Formen zu seinen Zwecken frei gebrauchen soll: daß er sie sich gründlich zu
eigen gemacht habe und bis zu einem gewissen Grade beherrsche. Mit einem
Absehen von Kunstgriffen und Handfertigkeiten, mit dem Schein einer ober¬
flächlichen Sicherheit ist es nicht gethan, so wenig wie mit der bloßen Ge-
schicklichkeit, welche mit täuschender Hand nicht sowohl die Form als den Cha-
rakter und Ausdruck einer vergangenen Kunst, gleichsam ihren eigenthümlichen
Hauch wiederzugeben sucht. Vielmehr handelt es sich darum, den innern Zu-
'
sammenhang der Formen, ihr lebendiges Gefüge, die klare und sichere Art,
wie in ihrem Ganzen der organische Bau der Natur zur schönen Erscheinung
gefaßt ist. verstehen und wiederbilden zu lernen. Wer auf diesem Wege vor¬
dringt, dem werden die Vorstellungen seiner eigenen Phantasie nicht ver¬
schwimmen, sondern immer deutlicher sich ausprägen. Wer aber in die Welt
der classischen Kunst, sei es der Antike oder der Renaissance, ganz aufgeht und
in ihr verloren scheint, weil er unter diesen stillen idealen Gestalten sich
heimischer fühlt, als in der drängenden Wirklichkeit des Tages, für den ist die
Gegenwart und ihr Inhalt doch nur ein spröder widerstrebender Stoff, den er
auch ohnedem in den Fiuh der Form nicht hätte bringen können. Der ist von
Haus aus den Interessen der Zeit entfremdet, er steht nur ihr gestaltloses
Wesen, nur das Angesicht derselben, welches der Kunst abgewendet ist; da er
sich einmal in die heitere Welt der letzteren flüchtet, thut er nicht Recht, in
ihrem schönsten Theile sich anzusiedeln?
Indessen, wenn auch die Formenwelt der Antike und der Renaissance das
eigentliche Vorbild für den modernen Künstler ist, so soll er deshalb auf sie
nicht beschränkt bleiben. Insbesondere bietet die Malerei, welche die verflossenen
Jahrhunderte als die eigentliche Kunst der Neuzeit nach allen Richtungen ent¬
wickelt haben, eine Mannigfaltigkeit in ihrer Art musterhafter Formen, nach
denen die Gegenwart sich bilden kann; wie denn neben den Venetianern nament¬
lich die belgische und holländische Schule das farbige Element, einerseits die
Pracht und den Schimmer der Stoffe und des Fleisches, andererseits das
ahnungsvolle Wechselspiel von Licht und Schatten, das Stimmnngsleben der
Luft und das eigenthümliche Verschwebcn der Dinge im harmonischen Ton des
Ganzen in meisterhafter Weise ausgebildet haben. Immer aber bleiben auch
für diejenige Kunst, welche eine ähnliche Richtung einschlägt, die classischen
Muster durch ihre große Anschauung der Natur, durch den schwungvollen und
sicheren Bau ihrer Formen die unentbehrliche Grundlage des Studiums. Daß
eine einseitig coloristische Schule nach den Borbildern jener zweiten Gattung es
in der Behandlung monumentaler Stoffe meistens nicht weiter bringt, als zu
einer überraschenden Wirkung, welche sich bald überlebt, das hat sich an der
neuesten belgischen Malerei gezeigt.
Auf die Nothwendigkeit der Kunstbildung, die für den unbefangenen
Blick längst außer Zweifel ist. haben wir hier noch einmal deshalb die Rede
gebracht, weil aus ihrer Vernachlässigung zum großen Theil die Schwächen
und Mängel herrühren, welche bis auf den heutigen Tag eine ganze Classe
von monumentalen Werken der Münchner Kunst kennzeichnen. Schon Cor¬
nelius hat es mit dem Studium der großen Vorbilder nicht allzu genau
genommen; um von der Farbe nicht' zu reden, ist auch die künstlerische
Durchbildung seiner Formengebung mehr als zweifelhaft. Indessen spricht
doch aus allen seinen Werken eine lebendige Erinnerung an die Antike
und die ersten italienischen Meister, wie er denn auch inmitten seiner Lauf¬
bahn an den römischen Kunstwerken seine Anschauung immer wieder bildete
»ut begeisterte. Zudem war hier ein großes ursprüngliches Talent, das wie
im Fluge die Gestalten der Vergangenheit fassend ihre Hauptzüge festhielt, und
eine schöpferische von Ideen erfüllte Phantasie, welche im Sinne der classischen
Kunst und doch mit eigenthümlicher Kraft die gchaltschweren Stoffe, welche sie
aus der Bildung der Gegenwart aufnahm, in reicher geistvoller Gruppirung
zu einem organisch gegliederten Ganze» zu versinnlichen vermochten ein Geist,
der ebenso viel dachte als gestaltete, und umgekehrt, eine merkwürdige, doch
in ihrer Art harmonische Doppelnatur. Das aber war ein Irrthum des Mei¬
sters, daß er glaubte eine Schule bilden zu können. Die Herrschaft über die
künstlerischen Mittel und sei»e Formenkenntniß waren zu wenig ausgebildet
als daß er seinen Schülern eine feste Grundlage hätte geben können; die
ihm eigenthümliche Anschauung aber konnte er so wenig auf Andere über¬
tragen, als die Gewalt seiner Phantasie. Doch natürlich meinten jene es dem
Meister nachthun zu können, um so mehr, als sie dieser gewöhnt hatte, nach
seinen Entwürfen die Werke selber — was auch schließlich so ans Licht treten
mochte — auszuführen. Sank schon in diesen die künstlerische Erscheinung
unter das Maß der Mittelmäßigkeit herab: was mußte erst werden, als nicht
blos die Darstellung, sondern auch die Erfindung und Composition ihnen über¬
lassen war. Da kam zu Tage, wie gefährlich die in ihrer Breite und Tiefe
erschlossene Stoffwclt, der von der Gegenwart gehobene Schatz der Vergangen¬
heit für die neue Kunst war. Nur hineingreifen zu müssen glaubte der Künstler,
und je größer der Gegenstand war. den er zufassen bekam, um so mehr fühlte
er sich ihm gewachsen, um so gewisser dachte er, nun sein Meisterstück zu
liefern, auch wenn er kaum in seiner Kunst über den Elementarunterricht hin¬
aus war.
So ging es fort und noch schlimmer, als die Schule zersprengt und die
classische Richtung von der romantischen und nationalen abgelöst war. Denn
nun wurde mit aller Ueberlieferung gebrochen, jede gemeinsame Entwicklung,
selbst das lebendige Verhältniß zwischen Meister und Schüler aufgegeben, das
doch eine Art Geschick und Sicherheit in die Behandlung hätte bringen kön¬
nen, und jeder wurde ein Original auf eigene Hand. Doch diese Zustände
und ihre Ergebnisse sind schon früher besprochen. Ganz spät endlich, als man
sich in der allgemeinen Verwirrung ebenso von der Kunst wie von der Natur
entfernt hatte, und sich nur noch einige Meister lediglich durch ihre natürliche
Begabung darüber empor hielten, während andere, deren Phantasie an der
classischen Kunst groß gezogen war, wie Naht und Genelli es auf diesem
Boden nicht mehr aushielten und anderswo innere Nahrung und äußeren Er-
folg suchen mußten: da that sich endlich in der Malerei wenigstens eine Schule
auf, die wieder begriff, daß die Erscheinung, die Gestalt und ihr sichtbares
Leben in der Kunst nicht die Nebensache, nicht ein beliebiger Lappen sei, welcher
der Idee oder dem Stoff des Kunstwerks, weil das nun einmal so herkömmlich,
müsse umgehängt werden: Piloty und seine Anhänger. Doch auch sie griffen
nicht zu den künstlerischen Vorbildern zurück, sondern meinten sich nur an die
äußere Form des Urbildes, die Natur, halten zu müssen, angeregt zudem durch
den glänzenden Erfolg der neuen belgischen Versuche, von denen oben die Rede
war. Da die Münchener Malerei mehr noch als die Form die farbige Erschei¬
nung der Dinge vernachlässigt hatte und von ihren schemenhaften blutlosen
Schatten der äußere natürliche Schein des Lebens gewichen war, so war die
neue Schule vor allem darauf bedacht, diesem, der greifbaren, vom Licht des
Tages beschienenen und in ihrer farbigen Bestimmtheit hell hervortretenden Ober¬
fläche der Wirklichkeit zu ihrem Rechte zu verhelfen. Man siel also wie immer,
wo eine Richtung einseitig fortgetrieben eine neue als Gegensatz hervorruft,
von einem Extrem ins andere: Von der Idee und dem bedeutsamen Object der
Darstellung in den körperhaften, vom Inhalte abgezogenen Schein der Realität.
Wie viel die Kunst bei diesem schroffen Wechsel gewann, sollte sich erst all-
mälig zeigen; daß sie auch jetzt nicht die Bildung ^nach der mustergiltigen
Kunst zu ihrer Angelegenheit machte, das war von vornherein ausgemacht, da
ja das Abbild der äußeren, sichtbaren Wirklichkeit, von ihr selber durch die
künstlerische Hand treu und mit schlagender Wahrheit abzunehmen, nach dem
Programm der Schule das neue Ideal war.
Doch indem wir von dem Mangel der Kunstbildung und ihrer Pflege in
München reden, scheinen wir eines ganz übersehen zu haben: die Wirksamkeit
der Akademie der Künste. Die Akademien haben ja von Staatswegen die
Ausgabe übernommen, den jungen Talenten nicht blos die wissenschaftliche Vor¬
bereitung zu geben, welche sie zu ihrer Kunst bedürfen, sondern auch im gründ¬
lichen und allseitigen Unterricht die Mittel der Darstellung zu überliefern, welche
durch die reichen Kunstentwickclungcn vergangener Epochen ausgebildet auf
unsere Zeit gekommen sind. So ist durch ihre Errichtung die Nothwendigkeit
der Schule und der Durchbildung nach den von großen Mustern gegebenen
Regeln thatsächlich anerkannt; gerade weil die neue Zeit sich wohl bewußt ist,
daß sie den im Lauf der Jahrhunderte angehäuften Bildungsstoff in sich auf¬
zunehmen und zu verarbeiten habe, hat sie das Lernen unter einem einzelnen,
selbstgewählten Meister unzureichend gefunden und jene Anstalten gegründet,
welche die Summe der überlieferten Kenntnisse und die entwickelte Technik, in
ein faßbares System gebracht, dem Schüler mitzutheilen haben. Hier haben
wir nicht auseinanderzusetzen und zudem ist bekannt genug, wie durch diese
Institute, was auf der einen Seite gewonnen wurde, auf der andern verloren
ging: wie denn schon nach jenem Programm, das stillschweigend oder offen
ausgesprochen den Schulen zu Grunde liegt, die Technik' von der künstlerischen
Anschauung losgelöst und damit ihrer Seele beraubt, zu einem todten Inbegriff
von Regeln, zu einem bloßen Schema, in dei Ausübung zu einer mechanischen
und charakterlosen Fertigkeit herabsinken mußte. Es war, wie wenn man der
Kunst die Haut abzog und nun an dieser den Bau ihres Körpers, die Be¬
wegung ihres Lebens dcmonsirircn wollte. Das also, worauf es gerade ankam,
die lebendige Ueberlieferung der vollendeten Formen durch eindringendes Ver¬
ständniß der classischen Kunst und ihrer Naturanschauung, das eben konnten die
Akademien nicht leisten. Und nur noch schlimmer wurde die Sache im Prak¬
tischen Verlaufe einerseits durch den Beamtcngeist, der mit Haut und Haar
d. h. mit seinem Zopf in die lehrenden Künstler fuhr, andererseits durch das
phantasielose Einerlei des durch kein innerliches Verhältniß zwischen Meister
und Schüler getragenen Unterrichts. Doch wir halten uns bei diesen Uebel¬
ständen nicht weiter auf, da ja gerade die Münchener Akademie zum Theil
wenigstens ihnen abzuhelfen versucht hat: durch die Errichtung nämlich der so¬
genannten Meisterschulen, d. h, der Werkstätten, in welche der Zögling nach
beendigtem Voruntcrricht zum praktischen Betrieb seiner Kunst unter der an¬
regenden Leitung bestimmter Meister eintritt. Mit dieser Reform, so schien es,
war das geistlose und unfruchtbare Lehrshstem beseitigt, das von jeher die
Akademieen in Verruf gebracht hat und den jungen energischen Talenten nichts
übrig ließ, als ihre Fesseln zu brechen und sich mit offener Kriegserklärung auf
ihre eigenen Füße zu stellen. Ja als die Münchener Akademie mit Piloty eine
junge naturwüchsige Kraft in sich aufnahm, die ja von vornherein aller her¬
gebrachten Regeln spottete und auf die rcinnatürliche Wahrheit der Erscheinung,
daher auf eine eigenthümliche und wirkungsvolle Technik den Schwerpunkt der
Malerei legte, da schien wenigstens den Malern sich die anregende, bildende
Schule einer neuen Kunstweise zu eröffnen, wo sie sich früher mit einem todten
Gerippe abgezogener Vorschriften zu quälen hatten.
Doch ist es durch jene Reform in München mit der Kunstbildung, dem
gründlichen Studium nach den mustergültigen Werken wirklich besser geworden,
hat sich die Akademie überhaupt dieses Studiums — in dem oben besprochenen
Sinne — je mit Eifer und Einsicht angenommen? Darauf, daß bis jetzt
große Talente, namhafte Künstler, welche ihr vorab ihre Bildung zu verdanken
hätten, nicht hervorgegangen sind, wollen wir kein Gewicht legen; was sie
leisten kann, wird sich am sichersten aus ihrer Organisation und der Beschaffen¬
heit ihrer Lehrer abnehmen lassen.
Der vorbereitende Unterricht beginnt wie überall mit Zeichnen nach Ab¬
güssen antiker Statuen. Schon hier also handelt es sich darum, den Schüler
vor einem vcrständnißlosen Wiedergeben des bloßen Umrisses und des räumlichen
Nebeneinander der Formen zu bewahren. Der Lehrer hat ihm zu zeigen, wie
sich einerseits in der Verbindung derselben und in ihren Uebergängen der innere
organische Bau ausspricht und der Umriß nichts anderes ist als die Grenze
dieser Verhältnisse, wie andererseits in der Breite der Behandlung, der Ver¬
einfachung der Natur, dem Hervortreten der Hauptzüge, in der klaren Verbin¬
dung und Trennung der Glieder, endlich dem eigenthümlichen Fluß der das
Leben aussprechenden Bewegung sich die vollendete Anschauung der classischen
Kunst ausspricht. Glaubt man, daß das die beiden Zeichnungsprofessorcn zu
lehren vermögen, welche ver Eine, ein Schüler von Cornelius, der Andere —
der als Lehrer in der tüchtigen sichern Führung des Strichs immerhin sein
Verdienst haben mag — von Schmorr, beide mit der mangelhaften Kunstbil¬
dung behaftet, die wir an jenen Schulen kennen, sich selber das nicht haben
erwerben tonnen, was sie Ander» mittheilen sollen? Von den Bildern des
Einen — der Andere hat wenig producirt — wollen wir nicht einmal reden, da
wir es hier nur mit dem Lehrer zu thun haben. Doch wird sich auch unseres
Wissens darum nicht gekümmert, ob dem Schüler bei seinen Zeichnungen das
Verständniß des Körperbauesund der classischen Formenanschauung aufgehe, wenn
nur das Gypsmodell in sauberen Strichen und ziemlich treu auf der Papicrflächc
nachgemacht ist. Wie es dann dem Zögling der Natur gegenüber „im Kopf
und Busen bang" wird, er sich nicht zu rathen und zu helfen weiß, läßt sich
denken. Auf den Zeichenunterricht nach der Antike folgt die Malclasse, die
nun vollends auf den Unverstand errichtet ist, daß „die Maltechnik" — der sinn¬
lose Ausdruck ist nicht blos unter den Schülern , auch unter Künstlern gäng und
gäbe — die doch ihrer Natur nach an sich unfaßbar ist, von der künstlerischen An¬
schauung und Phantasie, den großen Meistern, welche die Malerei als solche ge¬
schaffen und ausgebildet haben, sich absondern und sich ebenso gut wie das
Farbenreiber- und mischen überliefern lasse. Noch weniger als die Zeich¬
nung läßt sich ja die Färbung von der eigenthümlichen Auffassung des Künstlers
trennen; in ihr spricht sich jene geheimnißvolle Weit der Seelenstimmungen,
andrerseits des Licht- und Luftlebens in einer Unendlichkeit von Tönen aus und
nur in diesem Zusammenhang mit dem innerlichen Leben sowohl des Künstlers
als der Natur hat sie Sinn und Charakter. Ihre handwerksmäßige Grund¬
lage aber lernt sich leicht und rasch unter dem Meister. Wie es sich in dieser
so beschaffenen Classe mit dem Lehrer — dessen Fähigkeit übrigens besonders
zweifelhaft ist — verhält, kommt da kaum noch in Anschlag. Neben diesen
beiden Classen geht das Zeichnen und Malen nach der lebenden Natur, nach
dem Nackten, in Winterabendstunden beiher. Davon abgesehen, daß sich hier
die Uebelstände der Zeichnenciasse wiederholen, wird dieser ganze Zweig viel
zu beiläufig und als Nebensache betrieben. Schon früher ist bemerkt, daß das
Studium nach den großen Vorbildern immer von dem der Natur begleitet sein
muß, denn es gilt ja zu sehen, wie in jenen diese aufgefaßt und behandelt
ist, und so hat immer der Unterricht beides zugleich zu umfassen. Vollends
hier thäte die Pflege des letzteren um so mehr noth, als schon das erstere
nachlässig und ungenügend behandelt wird.
Doch dies alles erscheint ja von untergeordneter Bedeutung gegen die
„vortreffliche" neue Einrichtung der M e i se er c l a sser. Hier also erwirbt sich
endlich der Schüler das lebendige Verständniß der Natur und der unvergäng¬
lichen Muster. Doch wie? Ist auch nur ein einziger der „Meisterlehrer" selber
bei den alten Meistern in die Lehre gegangen? Etwa Schraudvlph — der
Professor für die Hciligenmalerci —, welcher jener süßlichen modern verflachten
Richtung der Nazarener angehört, die nicht einmal wie Overbeck an den Vor-
raphaeliten, geschweige an der vollendeten Kunst sich gebildet haben? oder
Philipp Foltz. der sich eine Zeit lang in der romantischen Kunst umgetneben,
welche sich für malerisch hielt, weil sie sich mit wenig Phantasie und Sinn für
das eigenthümliche Leben ihrer Kunst die eine und andere poetische Stimmung
vom Dichter borgte; der endlich durch ein halb naturalistisches halb empfind¬
sames Genre hindurch in den Hafen der Geschichte eingelaufen ist, auf dieser
ganzen Fahrt aber den Lallast der vergangenen Kunst und des Studiums nach
den alten Meistern mit sich zu nehmen offenbar, für überflüssig hielt? Was
Piloty, den anderen Meister der historischen Kunst anlangt, so haben wir schon
gesehen, daß er mit seiner Richtung aus den körperlichen Schein der Natur und
der Ausbildung der Technik in diesem äußerlich realistischen Sinne sich der
Kunstbildung geradezu entgegensetzte. Eine gewisse Fertigkeit der Behandlung,
welche die farbige Oberfläche und den stofflichen Schein der Dinge keck wieder¬
zugeben weiß, mögen sich seine Schüler Wohl aneignen können; auf die echte
ideale Wahrheit der Erscheinung, welche die großen Kunstepochen ausgebildet
haben, sehen sie natürlich mit dem Lehrer geringschätzig herab. Schwind
endlich, ein Mann für sich und ein Talent ganz eigenthümlicher Art, ohnehin
der alten wie der ausländischen Kunst abgeneigt, zählt kaum hierher, da er
weder Schule bildet, noch waS ihm eigen ist und in seinen Mitteln liegt, mit¬
theilen kann. Hier hatten wir es nur mit den Lehrern zu thun; was die
Künstler und ihre Werte betrifft, so wird darauf später die Rede kommen.
Doch was sollen auch die Jünger der Meisterclasscn nach den großen Vor¬
bildern sich Schulen und entwickeln lernen? Sie haben Besseres zu thu». Mit
ihrem Eintritt in die Werkstätten haben sie den Schulstaub von den Füßen ge¬
schüttelt und werden rasch gemachte Leute, denen über kurz oder lang die eine
oder andere öffentliche Wand zur Verherrlichung der bayrischen Geschichte über¬
lassen wird. Zu monumentalen Arbeiten berufen oder doch auf dem Sprunge,
gehoben von den, stolzen Gefühl, ihr Jahrhundert zu vertreten nud die Zukunft
vorzubereiten, können sie mit der alten Kunst sich nicht mehr befassen. Daß
auf der Akademie Meisterwerke copirt werden — die eigentliche Feuerprobe für
den jungen Maler, die er bestehen muh, um in die Welt der Kunst einzutreten
und aus dem Schüler zum Meister zu werden —, daß ihr Zögling den Raphael,
Tizian und Rubens anders als von, Hörensagen oder durch die oberflächliche
Bekanntschaft einiger Galcriebcsuche kenne, davon hat sich bis jetzt eine sichere
Spur nirgends auffinden lassen.
Wie es mit dem Unterricht in der Plastik und Architektur bestellt ist,
darüber können wir uns um so kürzer fassen, als, wie das die Zeit so mit sich
bringt, diese beiden Fächer mehr in den Hintergrund der Schule treten. Auch
gilt für den jungen Bildhauer, was von dem Zeichnenuntcrricht und dem Stu¬
dium des Nackten oben bemerkt ist. Was die Lehrer der Sculptur anlangt,
so wird sich bei Gelegenheit der neuen Münchener Monumente zeigen, daß der
Eine, seinen Werken nach zu urtheilen, schwerlich im Stande ist, dem Schüler
das lebendige Verständniß der Form, sei es nach der Natur oder nach der An¬
tike, auszuschließen. Eine eigene Classe ist — wie in Bayern begreiflich —
der kirchlichen Sculptur gewidmet. Sie steht unter einem Mann von Talent,
der aber natürlich in die Bildwerke, auch in ihre Form, einen eigenthümlich
christlichen, ins Gothische hinüberspielenden Ausdruck zu bringen und demnach
seine Schüler so zu unterrichten sucht, wie wenn es neben dem ein für alle
Mal mustergiltigen Stil der antiken Plastik noch jetzt eine besondere schulgerechte
Weise katholischer' Bildnerei gäbe. In der Architekturschule ist unseres Wissens
der lebendige organische Zusammenhang der classischen Formen, wie er in den
Meisterwerken der großen Epochen als sichtbares Borbild erhalten ist, kein Ge¬
genstand des Unterrichts. Dagegen ist seit mehren Jahren der „moderne Bau¬
stil" ein eigener Lehrgegenstand unter einem besonderen Professor, und hier bleibt
uns nur übrig, den Lehrer zu bewundern, der sich den Mann fühlt, das der
neuen Baukunst eigenthümliche Mißverständniß der überlieferten Formen und
Gesetze und ihre sinnlose abenteuerliche Vermischung, in ein System gebracht,
der jugendlichen Phantasie einleuchtend und begreiflich zu machen.
Doch wir erinnern uns ja, daß eines der merkwürdigsten Lebenszeichen,
welches die Münchener Akademie von sich gegeben, in dem Programm des Jahres
1851 bestand, das nicht blos die architektonische Aufgabe unserer Zeit, „eine
neue Bauart zu finden", mit unwidersprcchlichen Gründen darthat, son¬
dern auch die Mittel und Wege zu ihrer Lösung bezeichnete und so den neuen
Baustil förmlich und feierlich in die Kunstgeschichte einführte (das 'Nähere in
den Artikeln über „die Münchner Maximiliansstraßc und den modernen Baustil"
im Jahrgang von 1863 dieser Blätter). Das rühmliche Zeugniß muß
man jener Körperschaft überhaupt lassen, daß sie darauf aus ist, die Kunst zu
bereichern, nicht blos mit neuen Formen, sondern auch mit neuen Fächern.
So hat sie neuerdings der Photographie den Ritterschlag ertheilt, der sie
in das Gebiet der Kunst erhebt, zwar mit einer Beschränkung, welche dieselbe
zum Theil wieder in ihre Knappenstellnng zurückweist: das; sie nämlich in ge¬
wissen Fällen als Kunst betrachtet werden könne, Beiläufig bemerkt, ist diese
neue Standeserhöhung der Photographie durch ein officielles vom Schriftführer
der Akademie unterzeichnetes Actenstück lin den wiener Recensionen über bildende
Kunst Ur, 44 v. I,) in einer Weise motivirt, die für den Unterricht der Aesthe¬
tik, falls er in ähnlicher Art an der Anstalt betrieben wird, alles befürchten
läßt. Das Erste, meint die Akademie, bei einen, Werke der Kunst sei der
künstlerische Gedanke oder die künstlerische Auffassung der Natur, das Zweite
die Mittel zur „vollständigen" Versinnlichung der Idee oder zu schöner „Durch¬
bildung" des Naturobjectes, beides aber vermöge der Photograph zu leisten.
Die schwache Sophistik dieser Auseinandersetzung liegt auf der Hand. Davon
abgesehen, daß die künstlerische Auffassung des Photographen, wenn überhaupt
vorhanden, immer eine bedingte ist, weil sie die Natur an sich lassen muß,
wie sie ist, der Darstellung nur vorangeht und daber ihren Gegenstand von
den zufälligen Trübungen der Wirklichkeit nicht zu befreien, in die läuternde
Kraft der Phantasie nicht hereinzunehmen vermag; das nicht zu rechnen, daß
die künstlerische „Durchbildung" in der Photographie lediglich in der Retvucbc
bestehen kann, welche zudem nicht zur Sache gehört und den Mängeln des
Abbildes nur mangelhaft abhilft: so ist ja der eigentliche künstlerische Proceß,
der allein dasMunstwerk hervorbringt und durch die eigene Natur der Photo¬
graphie geradezu ausgeschlossen ist, die wirkliche Gestaltung, die freie, vom
Zwang der Natur losgelöste Production aus der Phantasie heraus (einerlei
nun, ob ihr Werk gut oder schlecht ist). Diese volle Mitte des künstlerischen
Schaffens, welche jene zwei Momente „Auffassung und Durchbildung" Boll¬
endung) bestimmend in sich zusammenfaßt, hat jenes seltsame Schriftstück über¬
gangen, wohl weil sie ihm zur Rechtfertigung jenes die Photographie zur Kunst
erhebenden Gutachtens jeden Ausweg versperrte, dagegen einen solchen in
jener zweideutigen und gewundenen Fassung gesucht, welche das Wesen der
künstlerischen Production auf jene zwei nur mitwirkende» Momente beschränken
möchte (durch den Doppelsinn des Ausdrucks: „Durchbildung" und durch das
Einschieben des Wortes „vollständig" bei „Veranschaulichung der Idee"). Daß
es der Akademie darum zu thun schien, die Arbeit des Photographen gegen
unbefugte Nachbildung zu schützen, dagegen ist nichts zu sagen: wenn aber das
Gesetz hier eine Lücke hat. weil es eine neue Erfahrung in sein System noch
nicht hat bringen können, so geziemt es nickt der Akademie, durch einen falschen
Gebrauch unzweifelhafter Kunstbegriffe eine doch unpassende Anwendung des
nun einmal unvollständigen Gesetzesparagraphen herbeizwingen zu wollen. Neben
dieser künstlichen Begriffsverwirrung trägt übrigens das Schriftstück noch das
rührende Gepräge eines menschlich naiven Zuges, den wir dem Leser nicht vor-
enthalten wollen, weil er so treffend den akademischen Standpunkt bezeichnet.
Nachdem der Vorwurf des Dünkels, welcher der Anstalt gemacht worden war,
mit würdiger Fassung abgewiesen ist, werden schließlich — von dem Schrift¬
führer der Akademie, durch dessen Mund doch wohl diese selber spricht — ihre
Mitglieder als Männer bezeichnet, „welche durch ihre künstlerischen Leistungen
(als ob diese hierher gehörten) wenigstens zu den namhaftesten im In- und
Ausland geehrtester der Gegenwart gehören." zum Argument, so scheint es,
daß menschliches Irren an diese Region nicht hinanrciche, für den Leser aber
zum tröstlichen Beweis, daß es auch im neunzehnten Jahrhundert noch Akademie-
Professoren giebt, denen es „bei ihrer Gottähnlichkeit nicht bange" wird.
Doch genug von der Akademie und davon, was sie für die Kunstbildung
leisten sollte und in Wirklichkeit nicht leistet. Was sonst in München für die¬
selbe, namentlich durch die Erhaltung und Pflege der alten Kunstwerke ge¬
schieht
Bei den Epigonen der beiden classischen Völker des Alterthums ist bekannt¬
lich die Sicherheit des Eigenthums, ja des Lebens seit undenklicher Zeit nie
ganz ungefährdet gewesen. Der Hang zu wildem, abenteuernden Treiben ist be¬
sonders den Gebirgsbewohnern angeboren und die Neigung zu gewaltsamer
Selbsthilfe hat nach und nach dem Morde sein Ungewöhnliches genommen, selbst
den Abscheu vor dem Mörder gemildert. Nur einzelnen energischen Regenten ist
es gelungen, durch Handhabung unerbittlicher Strenge größere Achtung gegen
das Gesetz zu erzielen. Das Uebel kehrte aber immer wieder und besonders
in Zeiten politischer Verwirrung wuchs die Unsicherheit in schreckenerregender
Weise. Gerade jetzt wagt es wieder einmal der Reisende nicht, ohne Bedeckung
die Hauptstadt des griechischen Königreiches nur einige Stunden weit zu ver¬
lassen und in Italien beschäftigt der Kampf mit den nur zu gern nach dem
politischen Deckmantel haschenden Briganten die volle Aufmerksamkeit und Kraft
der herrschenden Gewalt. Diese Erscheinungen greifen bis in das classische
Alterthum zurück. Allein eine kurze Vergleichung zeigt doch, daß dergleichen
Unordnungen dort der eigentlichen guten Zeit fremd waren, daß sie am häufig-
sten vorkamen in der der Civilisation vorangehenden roheren und wüsteren Pe¬
riode, sowie in der Zeit des Verfalls, der Entartung und Verarmung, daß
endlich die Wegelagerer und Diebe selbst ihre Banden weniger aus geborenen
Römern und Hellenen, als aus den eingeschleppten Sklaven barbarischer Zunge
rekrutirten.
In der griechischen Sagengeschichte findet man mancherlei Belege für ein
der gesitteteren Heroenzeit vorangehendes Intervall kriegerischer Rohheit und
rücksichtslosen Faustrechts. Der Weg von Athen nach d.em Peloponnes soll
damals so unsicher gewesen sein, daß die Reisenden die Seefahrt vorzogen.
Schon an der Grenze zwischen Attika und Mcgaris hauste der berüchtigte Räu¬
ber Skiron, der die Fremden nicht blos ausplünderte, sondern sie auch zwang,
ihm auf einem seinen Name» tragenden Felsen die Füße zu waschen, worauf
er sie ins Meer stieß. Den korinthischen Isthmus machte ein andrer Bandit,
Sims, „der Fichtenbeuger", unsicher, so genannt, weil er die Vorübergehenden
nach der Beraubung an zwei umgebogene Fichten band, die er dann schnell
losließ, so daß die Unglücklichen zerrissen wurden. Auch die sprichwörtlich ge¬
wordenen Bettstellen des eleusinischen Straßenräubers Proüustes deuten auf
die raffinirte Grausamkeit der Unholde dieses Schlags hin. Sie sind aber nur
die Koryphäen des Handwerks; denn daß überhaupt große Unsicherheit herrschte,
sieht man schon daraus, daß sich die Familie des Königs Lajos von Theben,
der von seiner Reise nach Delphi nicht wiederkehrte, schnell damit beruhigte,
daß er von Räubern erschlagen worden sei. Die Sage schreibt dem Theseus
Und Herakles großen Antheil an Vertilgung dieses Gesindels zu. Gleiches Ver¬
dienst soll sich der Kreterkönig Minos durch Unterdrückung der Piraterie er¬
worben haben. Doch hatte diese Besserung keinen langen Bestand; denn noch
in dem von Homer geschilderten Zeitalter wird der Seeräuberei als eines ganz
gewöhnlichen Gewerbes Erwähnung gethan. Nicht blos phönizische und taphische
Schiffe trieben neben Handelsgeschäften Freibeuterei, besonders Menschenraub,
auch den hellenischen Helden verunehrte es nicht, Raubzüge ohne weitere Ver¬
anlassung zu unternehmen. War es doch sogar keine Beleidigung, wenn man
fremde Gäste fragte, ob sie vielleicht Seeräuber wären, die da das Meer durch¬
streiften „das Leben aufs Spiel setzend, Unheil den Fremden bringend". Von
dem bewegten Flibustierleben dieser Zeit entwirft Homer ein treffliches Bild,
indem er den Jthakerkönig selbst in der Hütte des treuen Eumäos seine Erleb¬
nisse unter der Maske eines kretischen Seeräubers erzählen läßt, der nie in
seinem Leben für Anderes Sinn hatte, als für Raubschiffe, glatte Wurfspeere
und Pfeile. Auch lernen wir aus dieser Erzählung, daß der Corsarenführer
sich nickt nur unter der Beute das beste Stück herauszulesen, sondern auch bei
dem Verlvosen des Uebrigen eine» Loosantheil zu beanspruchen pflegte. Da-
m si»det sich unter den homerischen Helden keine heimliche Dieberei, wiewohl
das Stehlen wohl unter dem gemeine» Bolle vorkam, da ja der Dichter die
Staubwolken der trojanischen Ebene vergleicht dem sich über die Berggipfel
verbreitenden Nebel, „dem Hirten nicht angenehm, dem Diebe aber lieber, als
die Nacht". Auch Hesiod räth dem Landmanne, sich einen scharfzahnigen Hund
zu halten, damit ihm nicht ein „tagschlafender" Mann seine Habe entfremde.
Bei Stämmen, wo der Hauptreichthum in Heerden bestand, war natürlich der
Viehraub an der Tagesordnung. Bei dem Gelage, das der thralische Fürst
Seuthes dem griechischen Heere unter Xenophon gab, führten unter Anderem,
Thassalier einen mimischen Waffentanz auf, der folgendermaßen beschrieben wird.
„Der Eine legt die Waffen ab, säet und pflügt, sich furchtsam dabei nach allen
Seiten umblickend. Da erscheint der Räuber und der Bauer rafft seine Waffen
empor und vertheidigt nach der Musik fechtend sein Gespann. Endlich bindet
der Räuber den Mann und führt das Ochsenpaar fort; bisweilen thut dies
auch der Pflüger mit dem Räuber." Auf dieselbe Sitte weist endlich klar die
in Arkadien entstandene Mythe vom Rinderdiebstahl des jungen Erzdiebes Her¬
mes hin, der auch der Freund und Hort der Eigenthumsverwechsler geblieben
ist. „Und doch, so oft du deinem Herrn ein Hausgeräth entwandtest, hielt ichs
stets geheim und half dir durch," sagt Hermes zu Karion im anstophanischen
Plutus, und bekommt zur Antwort: „Mit dem Beding, Dieb, daß du selbst
was abbekamst; ein wohigebackner Kuchen lief dir immer zu!" Ueberhaupt
schwächte sich das eigentliche Räuberhandwerk in der historischen Zeit mehr und
mehr zu Dieberei und Gaunerei ab. Eine Ausnahme machten die Aelpler,
Akarnaner und vzoUschen Lokrer, die nicht nur die Sitte des Waffentragens
nicht aufgaben, sondern auch dem Raubleben fröhnten, weshalb sich selten an¬
dere Griechen in diese Gegenden verirrten. Während der Diebstahl von Lebens¬
mitteln in Sparta, als Borübung für den Krieg, den Knaben straflos hinging,
so lange sie sich nicht ertappen ließen. Halle in Athen der Gesetzgeber Drakon
auf die geringfügigste Entwertung die Todesstrafe gesetzt, was Solon dahin
mäßigte, daß der Dieb das Doppelte des Werthes als Strafe erlegen mußte
und zur Schärfung derselben fünf Tage lang gefesselt ausgestellt werden konnte.
Wurde freilich der Delinquent auf frischer That ertappt und war der That ge- .
ständig, so wurde er sofort der Executivbehörde übergeben und ohne langen
Proceß hingerichtet. Besonders galt dies von Einbruch. Tempelraub und dem
an öffentlichen Orten, z. B. in Bädern und Gymnasien verübten Diebstahl.
Darum lautet auch eins der aristotelischen Probleme: „Warum wird derjenige,
welcher aus dem Bade oder der Ringschule oder auf dem Markte oder an
einem ähnlichen Ort gestohlen hat, mit dem Tode bestraft, während der Be-
stehler eines Privathause^ mit dem zweifachen Ersatze des Gestohlenen davon-
kömmt?" und der Grund wird darin gefunden, daß der Diebstahl an öffent¬
lichen Orten Viel leichter auszuführen sei, als im verschlossenen Hanse, also der
Gesetzgeber im Interesse der öffentlichen Sicherheit gehandelt habe; daß ferner
der Hausbesitzer nach Gutdünken die Leute annehmen und abweisen rönne,
während in öffentlichen Localen kein Unterschied ^stattfinde, daß die vor aller
Augen Stehlenden bcsserungsunfcihige und ganz schamlose Subjecte seien und
daß endlich an öffentlichen Orten der Bestohlene noch außerdem dem Gelächter
und Spotte Anderer durch den Dieb ausgesetzt werde. Der letzte Grund be¬
zieht sich auf den sehr häusig vorkommenden Kleiderdiebstahl in den Badebäusern,
wo die Diebe sich zugleich mit vielen Andern badeten, dann sich etwas eher
ankleideten und im Nu nnter dem weiten Obergewande fremde Kleiber mitgehen
hießen. Es war deshalb eine allgemein beobachtete Klugheitsrcgel, beim Laden
seine Kleider im Auge zu behalten. Theophrast sagt, schon Manche, die in den
Bädern recht eifrig mit einander politisier hätten, wären um ihre Kleider ge¬
kommen und auch im „Rudens" des Plautus äußert Trachalio: „Du weißt
doch: wer bade» geht und im Badehause noch so sorgfältig auf seine Kleider
Acht giebt, dem werden sie doch gestohlen. Er täuscht sich nämlich in den
Leuten, die er im Auge behalten soll. Der Dieb sieht leicht, wen er zu be¬
obachten hat; der Wächter weiß aber gar nicht, wer der Dieb ist." Da die
Kleider der Allen, besonders die der Männern von gleichem, der Mode we¬
nig unterworfenen Schnitte und Stoffe waren, da zumal das Obergewand aus
einem ungereihter großen Zeugstücke bestand, das fast durchgängig ungefärbt
war, so ließ sich das Eigenthumsrecht des Bestohlenen sehr schwer nachweisen.
Weil aber ferner das obere Gewand blos als Hülle umgeworfen, nichl ange¬
zogen wurde, war es leicht, einem Sorglosen vermittelst eines starken Ruckes
das Kleid vom Leibe zu reißen und die Aeußerungen von Furcht vor solchen
Gaunern, die hinter den Säulenhallen und Denkmälern aller Art außerdem
reichliche Gelegenheit hatten, sind, des Nachts zu verbergen und auf vorüber¬
gehende zu lauern, sind recht häufig. In den „Vögeln" des Anftophane.' er¬
zählt Euelpides: - '
„Ach! wegen des Haushahns kam ich einmal um das Kleid aus phrygischer Wolle.
Man lud mich am Kindtauffeste zu Gast in die Stadt. Da traut ich eil. Bischen,
Und schlief dann; ehe die Andern noch am Gelag sind, krähte der Haushahn.
Da wähn' ich, es sei schon Morgen und will nach Alimus; drücke mich eben
Vor die Mauer hinaus, und ein Gaudieb schlüge mit der Keule mich über deu Rücken.
Ich falle zur Erd' und versuche zu schrein, und hinweg huscht der mit den, Mantel."
Die psychologische Erfahrung, daß der Dieb von Profession daraus erpicht
zu sein pflegt, seine Beule in sinnlichen Genüssen zu verschleudern, veranlaßte
den Komiker Alexis in seiner „Erbtochter" folgenden Rath zu geben: „Wer
selbst in Bettelarmuth, reichlich Fische tauft und. sonst in Mangel, hierzu Geld
bat. der macht des Nachts, die ihm begegnen, alle des Mantels bar. Darum,
ist jemand ausgezogen worden, gleich am Morgen par' er aus den Fischmarkt
und wen armselig und noch jung er sieht bei Mition um Aale handeln, den
pank' er und schlepp' ihn ins Gefängniß!" Auch vor den Einbrechern hatte
man arge Furcht in Athen; zdenn die leichte Bauart der Häuser ermöglichte
es, ohne große Schwierigkeit die Mauern und Wände zu durchbrechen und
andrerseits waren anch die Räuber mehr auf diesen Weg angewiesen, da
die nach der Straße gehende» Fenster zu hoch und gewöhnlich zu klein waren,
um das Durchpassircu zu gestatten. Man nannte deshalb auch die Ein¬
brecher „Wanddurchgrabcr". In dieselbe Kategorie gehörten vor dem Ge¬
setze die Berauber der Tvdtcngrüfte und die Seelenverkäufer, welche entweder
Freigeborene auf irgendeine Weise der Sklaverei überlieferten, oder auch
fremde Sklaven ihren Herren abspenstig machten. Die Landstraßen dagegen
scheinen ziemlich ohne Gefahr zu bereisen gewesen zu sein. Doch fehlt es
nicht an Erzählungen von Mordthaten, die habsüchtige Gastwirthe an Reisen¬
den verübte». (Vergl. Liesro <Zv invent. II,, 4. <1ö äivinat. I, 27.) „Seit
Stirvn und Prokrustes todt sind," läßt Tenophon den Sokrates sagen, „thut
niemand den Kindern etwas zu leid." Man pflegte ja auch niemals ohne
Begleitung wenigstens eines Dieners zu reisen und von ganzen Räuberbanden
hört man nichts. Als freilich später infolge der politische» Zerrissenheit und
der bürgerlichen Kriege die Parteien sich mit fanatischer Wuth verfolgten und
eine Masse heimathloser Flüchtlinge im Lande umherirrten oder zu Tausenden
als Söldner in fremde Kriegsdienste zu treten gezwungen wurden, überhaupt
eine allgemeine Verarmung und Nahrungslosigkeit um sich zu greifen begann,
da wucherte auch das Unkraut der Wegelagerei lustig empor, gleichen Schritt
haltend mit der sittlichen Verwilderung des Volkes. So erwähnt Diogenes,
der Laerticr, in seiner biographischen Anekdvtcnsammlung, daß im dritten
Jahrhundert vor Christus der Philosoph Mcnedcmos einem Freunde den Ge¬
fallen erwies, dessen Gemahlin von Delphi in Phot'is bis nach Chalkis auf
Euböa zu geleiten, da dieselbe sich vor den Dieben und Räubern auf dem
Wege fürchtete. In der römischen Zeit scheint sich das Banditenwesen in
Griechenland noch sehr vervollkommnet zu haben. In dem von Lukian und
noch weitläufiger von Appulejus aus Madaura im goldenen Esel benutzten
Romane des Lucius von Paträ, der vielleicht dem ersten Jahrhundert nach
Christus angehörte, liefert das Räuberleben mit seinen Abenteuern reichen
Stoff zur Unterhaltung. Der in einen Esel Verzauberte Held des Stückes wird
i» der thessalischen Stadt Hypata aus dem Hause seines Gastfreundes durch
Räuber entführt, die während der Nacht sich einen Weg durch die Mauer ge¬
bahnt hatten und alle Schätze des Gebäudes mit sich nahmen. Nach einem
formten Marsche gelang! die Bande Mittags zu einem Gehöfte, dessen Be¬
sitzer ihr befreundet war und wo Rast gemacht wurde. Am Abend erreichte
man endlich im Gebirge die durch Gunst der Natur wohl versteckte, auf einem
hoben Berge gelegene Räuberhöhle. in der ein eitles Weib die Wirthschaft und
Küche der Strolche besorgte. Kaum hatten sich die Angekommenen durch ein
Warmes Bad gestärkt und zum Schmause gelagert, so erschien eine andere Ab¬
theilung, die unterdessen eine» Raubzug nach Böotien ausgeführt hatte und
ebenfalls mit reicher Beute an goldenen und silbernen Münzen und Geschirren,
seidenen und golddurchwirkten Gewändern zurückkehrte. Bei dem wüsten Ge¬
lage, das nun folgt, wird endlich der zweiten Partei vorgeworfen, daß sie
ohne ihren tapfern Hauptmann zurückgekehrt sei und wahrscheinlich aus Feig¬
heit sich nur mit lumpigem Diebstahl befasst habe. Dies giebt Veranlassung,
das Ende des Lamathos nebst einigen anderen charakteristischen Abenteuern zu
erzählen. In Theben angelangt, hatten die Banditen ihre Angen sogleich auf
das Haus eines steinreichen, aber filzigen Geldwechslers gerichtet. Sie schlichen
sich daher des Nachts hinein, und da sie es nicht wagten, die Thür mit Ge¬
walt zu erbrechen, so steckte der Hauptmann Hand und Arm in das im Thür¬
riegel befindliche Schlüsselloch, um so die in dasselbe von oben einfallenden
Bolzen zu heben. Allein der Wucherer hatte die Anstalten bemerkt und wie
der Räuber seinen Versuch begann, trieb er durch einen einzigen starken Hammerschlag
einen großen Nagel durch das Holz und nagelte die eingedrungene Hand fest
an die Thür. Dann stieg er schnell auf das Dach seines Hanfes und schrie
Feuer, um die Nachbarn durch die jeden näher angehende Gefahr herbeizu¬
ziehen. Da blieb denn den Räubern nichts übrig, als den Oberarm ihres
Führers durch einen Schwerthieb abzutrennen und ans schleuniger Flucht Ret¬
tung zu suchen. Weil jedoch die Fortschaffung des Verwundeten das Fort¬
kommen erschwerte und die Gefahr steigerte, so bat derselbe die Genossen, ihn
lieber zu tödten, da er überhaupt seine Hand nicht überleben wollte, mit der
er ja allein rauben und morden könnte, und da sich keiner zu dem Liebesdienst
verstehen wollte, küßte er sein Schwert und stieß es sich mit der Linken in die
Brust. — Einen noch schmachvolleren Tod fand ein anderes Mitglied der
Bande, Alkimos. Er war in das Häuschen einer alten Frau eingebrochen
und hatte dieselbe im oberen Stocke schlafend angetroffen. Weniger aus Mit¬
leid, als weil er ihren Widerstand nicht fürchtete, unterließ er es, sie zu er¬
würgen und begann alle werthvollen Habseligkeiten durch ein Fenster zu werfen,
damit seine Genossen die Beute leicht wegschaffen könnten. Nachdem er nun
alles auf diesem Weg expedirt hatte, gelüstete es ihn auch nach dem Bette
der Alten; er warf sie also heraus und wollte eben das Bettzeug durch das
Fenster entsenden, als das listige Weib sich ihm zu Füßen warf und sprach:
--Ich beschwöre dich, mein Sohn, wozu machst du mit den Bettellumpcn einer
unglücklichen alten Frau den reichen Nachbarn dort ein Geschenk, nach
deren Hause dieses Fenster führt?" Bei diesen Worten wurde der Räuber
stutzig, bog sich zum Fenster hinaus, um die Lokalität zu prüfen und be-
sonders das reiche Nachbarhaus zu recognosciren. Die Alte aller faßte sich ein
Heiz und beförderte ihn durch einen gewaltigen Stoß kopflings ihren Sachen
macht Die Leiche des Alt'imos wie die des Lamathos warfen die Räuber der
Sicherheit wegen ins Meer. Nachdem ihr durch solche Unglücksfälle der Aufent-
halt in Theben verleidet worden war, zog die Schaar nach dem nahen Platäa.
Dort wollte gerade ein angesehener, reicher Mann, Namens Demochares, ein
großartiges Gladiatoreiigefecht, verbunden mit einer Thierhetze dem Volke geben.
Die geübtesten Fechter, die gewandtesten Jäger standen bereit; Zimmerleute
und Maler waren in voller Arbeit, um die zur theatralischen Ausstattung des
Schauspiels gehörigen Gerüste. Maschinen und Coulissen auf das Glänzendste
herzustellen. Auch eine große Bienge theils gekaufter, theils geschenkter riesiger
Bären war bereits zusammengebracht, die bei dem Feste natürlich eine Haupt¬
rolle spielen sollten. Da brach plötzlich unter den Bestien eine an¬
steckende Krankheit aus, welche die meisten wegraffte und - man überließ
die dem Tode nahen Thiere dem Pöbel als leckeren Braten, ein Umstand,
der unsere Näuber auf einen äußerst verwegenen Plan brachte. Sie verschafften
sich einen der Todcscandidaten, zogen ihm das Fell ab und präparirten es zur
Aufnahme eines der Ihrige», der, in des Demochares Haus geführt, während
der Nacht seinen Kameraden Portierdienste leisten sollte. Die Wahl traf einen
gewissen Thrasylevn und nachdem man noch einen Brief im Namen eines thra-
kischen Gastfreunds geschrieben hatte, als dessen Geschenk der falsche Bruder
Petz ankommen sollte, überbrachten einige Räuber den Käsig gegen Abend dem
Demochares. Hocherfreut zahlte dieser ein gutes Douceur und wollte den Bären
sogleich in seinen Thiergarten außerhalb.der Stadt schaffen lassen. Dies war
natürlich den Gaunern keineswegs gelegen; sie redeten ihm eifrig ab und
empfahlen ihm, das Behältniß an einem schattigen und kühlen Ort des Hauses
aufzustellen, sieh selbst zu Wärtern und Wächtern anbietend. Letzteres lehnte
Demochares ab; doch ließ er den Bären im Hause. Die Räuber entdecken unter¬
dessen in einer entlegenen Gegend außer der Stadtmauer ein verfallenes Grab¬
monument und bestimmen die darin gefundenen Särge zur Aufnahme der zu
hoffenden Schätze, Um Mitternacht erscheinen die bewaffneten Gesellen am
Hause; Thrasylcon schlüpft aus seinem Zwinger, tödtet alle Wachen sammt
dem Thürhüter im Schlafe, riegelt die Thür auf und zeigt den Gefährten die
Kleinodicnkammer, worauf das Fortschleppen beginnt, während Einer an der
Thür Wache hält und der Pseudobär im Hause herumspaziert, um alle etwa
erwachenden Diener zurückzuscheuchen. Aber gerade in diesem Punkte täuschte
sich die umsichtige Berechnung. Denn ein Sklave, den das Geräusch erweckt hatte,
spähte leise aus seiner Zelle hervor und verkroch sich nicht wieder zitternd, als
er das Unthier frei umherlaufen sah, sondern schlich sich zu den Hausgenossen
und macht Lärm. Plötzlich stürzt das zahlreiche Gesinde des Hauses, mit
Knütteln, Schwertern und Lanzen bewaffnet hervor; Fackeln , Kerzen, Laternen
machen die Nacht zum Tage; große Jagdhunde werden auf den unglücklichen
Bären gehetzt, kurz Tbrasylevn ist gezwungen, entweder die angenommene Rolle
zu Ende zu spielen oder durch Gestcindniß sich aus seine Menschenwürde zu
berufen, was ihm freilich ohne Zweifel denselben qualvollen Tod, nur einige
Wochen später, gebracht haben würde. Er wählte das Erste, kämpfte muthig.
bald angreifend bald zurückweichend gegen die feindliche Uebermacht und gewann
endlich, aus mancher Wunde blutend, das Freie. Doch hier erwarteten ihn
die Hunde der ganzen Nachbarschaft und endlich durchbohrte eine Lanze aus
der Hand eines wüthenden Insassen des bestohlenen Hauses den bis zum letzten
Athemzug nach Bärenart brüllenden Räuber.
Während bei den erwähnte» Abenteuern die Räuber rottenweise agirten,
begaben sich auch einzelne auf Kundschaft und lieferten das Geld, das sie auf
eigene Faust den Reisenden abnahmen, an die gemeinschaftliche Kasse ab. End¬
lich aber ereilte die ganze Bande das Verderben. Sie hatten nämlich mitten
aus einem reichen Hochzeitshause am hellen Tag die Braut entführt, um von
den Eltern ein großes Lösegeld zu erpressen, und der Bräutigam, ein starker
und muthiger Mann, entschloß sich das Aeußerste zu wagen und sich selbst unter
dem Schein eines Handwerksgenossen zu den Feinde» zu begeben, was ihm um
so leichter gelang, als die Räuber gerade darauf ausgingen, durch Werbung
ihre geschwundene Zahl zu ergänzen. Er führte sich sogleich bei ihnen als
Räuberhauptmann ersten Rangs ein. „Ich habe eine sehr tapfre Schaar com-
mandirt," sprach er, „und ganz Macedonien ausgeplündert. Ich bin der be¬
rühmte Räuber Hämvs aus Thracien, vor dessen Namen ganze Provinzen zit¬
tern; ich stamme von einem ebenfalls ruhmreichen Bandcnführer ab, bin mit
Menschenblut genährt worden, habe meine Erziehung in der Compagnie erhalten,
als Erbe und Rival der väterlichen Tüchtigkeit." Nach diesen großsprecherischer
Einleitung, deren Ton aber vielleicht für solche Kreise in jener Zeit charakte¬
ristisch war, gab er als Grund seiner Flucht nach Süden an, seine ganze Bande
sei von kaiserlichen Soldaten vernichtet worden, nachdem sie dnrch Beraubung
einer vornehmen römischen Beamtenfamilie den speciellen Zorn des Kaisers auf
sich gezogen hätte. Sein Anerbieten, an die Spitze der verwaisten Bande zu
treten, wird mit stürmischer Freude angenommen, um so mehr, als er ein paar
tausend Goldstücke mitbringt. Das Uebrige läßt sich leicht errathen. Bei dem
großen Verorüderungsschmause, den man sogleich anstellte, zeigt der neue Führer
auch seine Geschicklichkeit als Koch und Mundschenk, bringt aber den Kameraden
so viel betäubende Mittel bei, daß sie schließlich alle in Morpheus' Armen sich
von einem Manne fesseln lassen und der Justiz übergeben werden.
Heliodor, ein im vierten Jahrhundert nach Christo lebender Romanschrift¬
steller, der lieber den Krummstab — er war Bischof von Trikka in Thessalien
— als die Feder niedergelegt haben soll, da ihm von einer Synode nur diese
Wahl gelassen wurde, schildert in seinen „Äthiopischen Geschichten" ein gro߬
artiges Räubernest an der Küste von Aegypten. „Die ganze Gegend," heißt
es bei ihm. „wird von den Aegyptern das Hirtenland genannt. Es ist dies
aber eine Vertiefung des Erdreichs, welche Ueberströmungen des Nils in sich
aufnimmt und zu einem See wird, der in der Mitte eine unermeßliche Tiefe
hat, aber in einen Sumpf ausgeht. In diesem wohnt alles, was bei den
Aegyptern vom Raube lebt. Der Eine hat sich auf einem Fleckchen Land, das
etwa aus dem Wasser emporragte, eine Hütte gebaut; ein Andrer lebt auf einer
Barke, die ihm als Nachen und Wohnung dient; auf dieser wirthschaften die
Frauen, auf ihr gebaren sie." Die Strandräuber selbst beschreibt er als schwarze
Gestalten mit düsteren Gesichtern und lang flatternden Haaren. Ihre Beute
theilten sie nicht nach dem eigentlichen Werth, sondern nach dem Gewicht und
auf einer Insel hatten sie mühsam eine kunstvoll verborgene und vielfach ver¬
schlungene Höhle zu deren Aufbewahrung aufgegraben, Zu Scnecas Zeit gab
es in Aegypten eine Art Straßenräuber, die man Phileten oder Liebende nannte,
weil sie die Begegnenden umarmten — um sie zu erdrosseln. Heliodor schildert
auch den Angriff eines Seeräubers auf ein von Zarte nach Afrika segelndes
Kauffariheischlff. „Da sich jetzt Frühlingslüfte erhoben," schreibt er, „segelten
wir Tag und Nacht und der Steuermann lenkte das Schiff gerade nach Libyen
hin; denn er sagte, bei so günstigem Winde sei es möglich, das Meer in ge¬
rader Richtung zu durchschneiden; auch thue es noth, Land und Hafen zu ge¬
winnen, da sich im Rücken ein Schiff zeige, das er für einen Kaper halte.
Seitdem wir, sagic er. das kretische Vorgebirge verlassen haben, folgt es uns
auf der Spur und segelt unverrückt denselben Kurs. Auch habe ich bemerkt,
daß es öfters um uns vvrübergesegelt ist, wenn ich unser Schiff bisweilen ab¬
sichtlich von der geraden Richtung ablenkte. Diese Worte machten auf Viele
Eindruck, und diese forderten die Mannschaft auf, sich zur Vertheidigung zu
rüsten, Andere nahmen die Sache ganz leicht. Es sei. sagten sie, auf dem Meere
gewöhnlich, daß die kleineren Fahrzeuge den größeren Lastschiffen folgten, weil
diese mit größerer Erfahrung gelenkt würden. Während nun hierüber von beiden
Seiten gestritten wurde und die Sonne sich neigte, ließ die Heftigkeit des Windes
nach und mit der eintretenden Stille näherte sich das Schiff ungemein schnell
mit Hilfe seiner Rudcrkraft, Bei seiner Annäherung rief einer von den Zan-
tiern: Da haben wirs! Wir sind verloren: es ist ein Naubschiff! Bei dieser
Nachricht gerieth unser Fahrzeug in große Bewegung und trotz der Windstille
füllte eS sich mit Sturm und Wellen; grosser Lärm, Wehklagen, Geschrei und
Hin- und Herrufen tobte darin. Die Einen verbargen sich im Schiffsraum, die
Andern ermunterten sich zum Verdccktampf, Einige wollten in das Beiboot sprin¬
gen und entfliehen. Unterdessen näherten sich die Räuber und drangen in schräger
Richtung von der Seite auf uns ein, und indem sie das Schiff ohne Blutver¬
gießen in ihre Gewalt zu bekommen suchten, thaten sie keinen Schuß, hinderten
uns aber durch beständiges Umkreisen, von der Stelle zu weichen, nicht anders,
als ob sie uns belagert Kleider und unser Schiff durch Kapitulation zu nehmen
gedächten. Ihr Unglückseliger, riefen sie uns zu, warum seid ihr so rasend,
gegen eine so ungleiche Macht die Hände zu erheben und euch dem offenbaren
Tode auszusehen? Noch gestatten wir euch, das Beiboot zu besteigen und euch
zu retten, wenn ihr wollt! Unsere Mannschaft aber war voll Muths und wei¬
gerte sich, das Schiff zu verlassen. Als aber einer der kühnsten von den Räu¬
bern auf unser Schiff sprang und wer ihm in den Wurf kam, niederhieb und
ihnen zeigte, daß es ein Kampf auf Leben und Tod sei, und auch die Uebrigen
ihm folgten, da gereute die Phönizier ihr Widerstand, so daß sie sich nieder¬
warfen und um Gnade flehten, die ihnen auch gegen alle Erwartung vom Haupt¬
mann gewährt wurde." Auch hier war es allgemein geltendes Cvrsarenrecht.
daß der, welcher das feindliche Fahrzeug zuerst bestieg, sich ein beliebiges Beute¬
stück wählen durfte.
In der früheren Zeit wurde der Seeraub ebenfalls weniger von Griechen
als von Barbaren, besonders von Eiliciern und Isauriern getrieben, und zu
Kriegszeiten gab man nicht blos Kaperbriefe aus, sondern nahm auch bekannte
Seeräuber in Dienst, deren Schiffe sich durch ihre leichte und scharfe Bauart
ausnehmend nützlich erwiese». Lysander z. B. sendete nach Xenophon den
milesischen Seeräuber Theopompos nach Lukonien, um die Nachricht vom Siege
am Ziegeufluß zu überbringen und dieser landete bereits am dritten Tage am
Peloponnes. Bekanntlich erreichte die cilicische Piraterie ihren Höhepunkt nach
dem ersten mithridatischen Kriege, wo die Frechheit und Macht der Räuber so
hoch stieg, daß sie mit mehr als tausend Schiffen, die zum Theil ersten Ranges
und luxuriös ausgestattet waren, das mittelländische Meer befuhren, den ganzen
Handel auf demselben lahm legten, feste Plätze mit Sturm nahmen, ja endlich
die italischen Küsten selbst brandschatzten, die Handelsschiffe im Hafen von
Gaeta kaperten, in dem von Ostia verbrannten, zu'el römische Prätoren ge¬
fangen nahmen! Die Summen. die sie durch Erpressung von Lösegeld (von
Cäsar verlangten sie. ohne ihn zu kennen, 20 Talente!) durch Plünderung und
durch Wegführung der Schätze aus den berühmtesten Tempeln zusammenrafften,
müssen ungeheuer gewesen sein. Wie Plutarch erwähnt, ertönten auch die Ge¬
stade des Meeres von ihrem Gesang, von dem Saiten- und Flötenspiel, wo¬
mit sie ihre Schmausereien und Zechgelage begleiteten. Der römischen Herr¬
schaft gegenüber zeigten sie sich am erbittertsten. Denn wenn ein Gefangener
sich darauf berief, baß er ein Römer sei und seinen Namen nannte, benebelten
sie Schrecken und Furcht, fielen ihm zu Füßen und baten um Verzeihung, so
daß el ein eine Sinneswandlung glaubte. Dann bekleideten sie ihn mit der
Toga und dem römischen Schuh, als ob er dadurch gegen abermalige Ver¬
rennung gesichert sein sollte. Endlich, nachdem sie ihn lange genug verspottet
hatten, legten sie mitten auf der See eine Leiter ins Wasser hinab und be¬
fahlen ihm, hinunterzustcigen und sich i» Frieden zu entfernen. Zögerte er,
den freiwilligen Tod zu wählen, so stießen sie ihn hinab. Pompejus der Große,
der mit ungemeiner Schnelligkeit und Energie das Mittelmeer von diesen Fli¬
bustiern säuberte, befreite endlich in Cilicien, ihrem Hauptfilme, eine große
Menge auf Lösegeld harrende Gefangene und sehr viele zum Schiffsbau gepreßte
Handwerker. Die Seeräuber selbst, von denen er 20,000 gefangen nahm, er¬
hielten Pardon und wurden größtentheils in Cilicien angesiedelt. Während
aber das Mittelmeer in der späteren Zeit mit Ausnahme kriegerischer Unruhen
ziemliche Sicherheit vor Piraten gewährte, klagt noch Strabo über die Frech¬
heit, mit welcher die im Nordosten des schwarzen Meeres vorhandenen Zygcn
und Heniochen das Flibusticrgcschäst betrieben. Ihre kleinen, nur fünfundzwanzig
bis dreißig Mann fassenden Schiffe hatte» weit über das Wasser hervorragende
und nach oben hin convergirende Nippen, die gewissermaßen ein Dach bildeten,
und waren so leicht, daß sie dieselben in die Wälder trugen und verbargen,
während sie ans Menschenraub ausgingen. In vielen Häfen des Bosporus
verkauften sie ungescheut ihre Beute und die römischen Gouverneure trafen ge¬
wöhnlich seltener Maßregeln zum Schutze ihrer Untergebenen als die Fürsten
selbständiger Länder.
Auch zu Lande war die Sicherheit der asiatischen Provinzen unter römischer
Herrschaft kaum größer, als heute. Von den Pamphyliern und Pisidicrn sagt
Strabo, daß sie zur Räuberei geneigt wäre». In Paphlogonic» fehlte es nicht
an Stämmen, die von hölzernen Thürmen aus die Reisenden überfielen. Ueber
den an der Grenze von Mysien, Vithynicn und Phrygien liegenden Berg
Olympos (Keschisch Dagh) heißt es bei demselben Geographen: „Aus seinen
Höhen find viele große Wälder und von Natur feste Plätze, die zu guten Zu-
fluchtsörtern für die Räuber sich eignen, welche sich hier oft eine geraume Zeit
gegen jeden Ueberfall der Feinde vertheidigt haben. Ein solcher war Kleon,
das Haupt aller Räuber zu unserer Zeit, aus dem Flecken Gordium gebürtig.
Zu seinem Raubschloß bediente er sich anfangs des sehr festen Castells Kallydion
und war dem Antonius sehr nützlich, indem er diejenigen, welche dem damaligen
Statthalter von Kleinasien, Labienus, die nöthigen Gelder z» liefern hatten,
überfiel und demselben alle Einkünfte abschnitt. Nach der Schlacht bei Antium
verließ er die Partei des Antonius und ging zu Augustus über, von dem er
größre Wohlthaten empfing, als er werth war. Denn Augustus fügte dem,
was er ohnehin durch die Freigebigkeit des Antonius besaß, neue Geschenke
hinzu, so daß er nun, während er vorher nur für einen Räuber galt, für einen
Fürsten angesehen wurde." Auch bei andern Gelegenheiten zeigten kleinasiatische
Räuber, wie gut sie des Handwerks kundig waren. Ein cilicischer Sklave, eben¬
falls Kleon genannt, i» seiner Jugend ein dreister Räuber, spielte eine Haupt¬
rolle im ersten sicilischen Sklavenkrieg; im zweiten stand Athenion an der Spitze
der Insurgenten, el» vorher in seiner Heimath Cilicien gefürchteter Banditen¬
chef und wieder ein Cilicier, Agamemnon, leistete den Piccntinern im Bundes-
genvssenlrieg gute Dienste, „da er", wie Diodor sagt, „im Räuberwesen viel
Erfahrung hatte". Die Sklaveninsurrection auf Sicilien wurde freilich durch
die dort längst von den Sklaven der reichen Plantagenbesitzer betriebene Räuber-
Wirthschaft sehr gefördert und begünstigt. Jene reichen Herren, deren Sklaven¬
zwinger von impvrtirter Menschenwaare wimmelte», Ware» ebenso luxuriös und
sittenlos als hartherzig gegen ihre Leute. Besonders den zahlreichen Hirten
ihrer ungeheuren Biehheerdcn verweigerten sie Nahrung und Kleider und wiesen
sie gradezu an, vom Raube zu leben. Diodor, selbst ein Sicilianer, schreibt
hierüber^ „Die Besitzer vieler Sklaven gewohnten ihre Hirten, denen sie keine
Nahrung reichten, an so freches Betragen, das; sie ihnen erlaubten, Räuberei
zu treiben. Da nun diesen Leuten, welche wegen ihrer ttörpcrstärke im Stande
waren, alles, was sie beschlossen hatten, durchzusetzen, so viel Freiheit gestattet
wurde, so geschal, es. daß bald die Gesetzlosigkeit überHand nahm. Denn zu¬
erst ermordeten sie auf den bevölkertsten Straßen diejenigen, welche einzeln oder
zu zweien reiste»; dann rotteten sie sich gegen die Landhäuser der minder
Mächtigen bei Nacht in Massen zusammen und besetzten diese mit Gewalt,
Plünderte» die Habe und erschlugen, wer sich ihnen widersetzte. Da nun die
Frechheit immer höher stieg, so konnte man in Sicilien weder bei Nacht reisen,
noch war der Aufenthalt derer, die auf dem Lande zu leben gewohnt waren,
sicher, sondern alles war voll Gewalt. Räuberei und Mordthaten aller Art."
Dasselbe geschah während des zweiten Aufstandes und das Schlimmste dabei
war noch, daß der Pöbel und das Proletariat mit den empörten Sklaven ge¬
meinschaftliche Sache machte, so daß kaum noch das innerhalb der Stadt befind¬
liche Eigenthum für gesichert betrachtet werden konnte.
Unter den westlichen Provinzen standen besonders Spanien und Sardinien
nicht im besten Rufe der Sicherheit, ja Varro erwähnt in seiner Schrift
über den Landbau, daß viele treffliche Gegenden dort nicht ordentlich bebaut
werden könnten wegen der Räubereien der Nachbarn. Der Kaiser Tiberius
schickte in, Jahre 19 viertausend junge Leute aus dem Stande der Freige¬
lassenen, welche Proselyten der jüdischen »ut ägyptischen Religion geworden
Waren, nach Sardinien, um die Räuber zu bekämpfe»; ,.we»n sie durch die
Urgesundheit des Klimas umkamen, sei es ein geringer Verlust." Noch schlimmer
spricht Strabo von den wilden Bewohner» des felsigen Korsika. In Italien
selbst waren es ebenfalls die Gebirgsbewohner der Apenninen, hauptsächlich
im Süden. die bei politischen Umwälzungen und kriegerischen Unruhen gar zu
gern den Hirtenstab mit dem Schwerte vertauschten. Bereits um 180 v. Chr.
hatte das Räuberwcsen in ?lpulien so überHand genommen, daß die Straßen
und Triften ganz unsicher waren. Von den damals verschworenen Hirten
wurden auf einmal gegen 7000 Mann verurtheilt; viele flohen, viele wurden
hingerichtet. Am schrecklichsten litt das Land im großen Näuberkriege des
Spartacus, der, selbst ein ehemaliger thracischer Bandit, seine anfangs nur aus
Gladiatoren bestehende Schaar bald durch entlaufene Sklaven, Hirten und Schä¬
fer vergrößerte, „die," wie Plutarch se.gr. „alle tüchtige Fäuste und schnelle Füße
besaßen." Nach Niederwerfung dieses gefährlichen Aufstandes wurde zwar Apu-
lien und Lukanien von dem Gesindel gesäubert ; aber in den bald darauf aus¬
brechenden Bürgerkriegen schössen auch die Rinaldos wieder wie die Pilze aus
dem fruchtbaren Boden und Octavian kostete es viel Mühe, dem Unwesen zu
steuern. „Rom selbst und Sicilien," schreibt Appian, „wurde um diese Zeit durch
förmliche Banden von Räubern beunruhigt, die ihr Wesen so offen trieben, daß
es mehr einer frechen Plünderung, als einer heimlichen Räuberei ähnlich sah.
Zur Abstellung dieser Unordnung wählte Cäsar den Sabinns. Unter den ge¬
fangenen Räubern richtete er eine große Niederlage an, brauchte aber doch ein
ganzes Jahr, bis er wieder allgemeine Sicherheit und Frieden hergestellt hatte."
Jene Zeit, wo es nach Properz sogar ein Wagstück war, ohne bewaffnetes Ge¬
leit von Rom nach dem nahen Tibur zu reisen, mag wohl auch Plinius der
Aeltere im Auge haben, wenn er sagt, daß vor dem Beginne des häufigen
Straßenraubs vor jedem Fenster in Rom kleine Blumen- und Gcmüsepflcuizun-
gen gegrünt hätten, daß man aber später die durch Verschluß der Fenster be¬
wirkte Sicherheit dieser Annehmlichkeit vorgezogen habe. Schon zu Ciceros
Zeit war die Umgebung ier Hauptstadt höchst unsicher. Er schreibt an seinen
Freund Atticus: „Mein lieber C. Quintius ist beim Grabmal des Basilius
verwundet und ausgeplündert worden," und nennt in der milonischen Ver¬
theidigungsrede dieselbe Strecke der appischcn Straße „gefährlich, von Straßen¬
räubern wimmelnd." Von der Menge der Banditen bekommt man eine Bor¬
stellung , wenn man bei Strabo liest, daß in dem großen, besonders berüchtigten
gallinarischen Fichtenwald bei i^unä in Campanien die Offiziere des Sexrus
Pompejus während des Krieges mit den Triumvirn förmliche Werbungen unter
den Räubern anstellten! So gerade den Zustand der Unsicherheit vorschützend
trugen die Wegelagerer ganz ungescheut das Schwert an der Seite! August
ließ die Straßen erweitern, die Hohlwege abgraben, legte überall, besonders
an verrufenen Orten, Svldatenstalivnen an und traf selbst militärische Vor¬
kehrungen, so oft er in einem künstlichen See an der Tiber dem Volke das
Schauspiel einer Seeschlacht geben wollte. Daß es ihm dennoch nicht gelang,
das Uebel auszurotten, sieht man daraus, daß schon sein Na.lfo^ > sich ge¬
nöthigt sah, die zu diesem Zwecke angelegten militärischen Posten in Italien zu
verstärken. Auch in der Folgezeit schwand die Furcht vor Straßenrand nie ganz
aus dem Herzen der Reisenden. Während der Nacht Pflegte man ganz ge¬
wöhnlich Fackeln bei fiel, zu führen und Juvenal schreibt: „Magst du auch nur
kleine Büchschen reinen Silbers bei dir tragen, wenn du des Nachts eine Reise
antrittst, so wirst du dich fürchten vor Schwertern und Wurfstangen, und er¬
zittern vor dem Schatten des im Mondschein schwankenden Rohrs. Leeren
Beutels wird nahe dem Räuber fröhlich singen der Wanderer." In der Haupt¬
stadt selbst war es zur nämlichen Zeit trop der aus sieben Cohorten bestehenden
Scharwache um die nächtliche Sicherheit nicht besser bestellt. „Bor dein Nacht¬
schwärmer nicht allein graue dir/' liest man bei demselben Satiriker, „denn
nicht ausbleiben wird, der dich beraubt, nachdem die Häuser geschlossen sind
und allenthalben der schlieheube Riegel der cingeketteten Bude verstummt. Zu¬
weilen treibt auch der hurtige Gauner mit dem Stahle sein Handwerk, so oft
von sicherer Hut der Bewaffneten umstellt ist hier der pvmptinischc Sumpf,
dort der gallinarischc Wald. Alle rennen dann von dort hierher, wie zu einem
hegenden Park." Ueberhaupt erreichte die Gaunerei zu Rom in der Kaiserzeit
einen hohen Grad der Vnfeinerung. Sogar die Eitelkeit des schönen Geschlechts
wurde zum Betrüge ausgebeutet. Ornd warnt in seiner Liebeskunst die Damen
vor galanten Gaunern in folgenden Worten: „Manche Räuber verbergen sich
unter dem lügnerischen Schein der Liebe und suchen durch solche Annäherung
schamlosen Gewinn. Weder das von duftenden Nardenöl glänzende Haar möge
euch täusche.!, noch der in feine Falten gepreßte knappe Gürtel, noch betrüge
euch die Toga aus feinstem Gewebe, noch wenn Ring neben Ring die Finger
zieren wird. Vielleicht gerade unter der Zahl solcher Leute befindet sich jener
feingekleidctc Dieb, der da glüht von Liebe — zu deinem Gewände. Mein
Eigenthum gieb her! schreien oft die beraubten Mädchen; mein Eigenthum gieb
her! hallt es über den ganzen Markt hin."
In den römischen RechtsKestimmungen findet man alle Arten des Dieb¬
stahls und Raubes vertreten. Da werden die Taschendiebe erwähnt, „welche
durch magische Künste aus fremden Beuteln das Geld verschwinden lassen," die
Einschlcicher, die Einbrecher, welche sich bereits trefflich ans die Kunst verstanden,
Vermittelst eingeschlagener Eisenstachcln senkrechte Wände zu erklimmen, die Auö-
Plündcrer, die bewaffneten und »nbcwaffnetcn Ritter von der Landstraße, die
Väderdiebe, die gewöhnlich berittenen Vichwegtreiber. Bewaffnete Straßen-
räuber und Mitglieder verschworncr Banden wurden, gewöhnlich dnrch Kreu¬
zigung, hiugericktet und zwar meist an dem Hauptorte ihrer Thaten, „damit
Andere von demselben Verbrechen abgeschreckt werden und die Verwandten der
von ihnen Ermordeten darin einen Trost finden." Die Schärfung der Todes¬
strafe aber durch Ablieferung der Delinquenten an die Gladiatoren- und Vena-
torenschulen wurde immer häufiger, als unter den Kaisern sich die Zahl der
hierzu verbrauchten Menschenleben riesig steigerte und kaum läßt sich annehmen,
daß bei allen zu diesem schrecklichen Tode verdammten Missethätern die Strafe
in gesetzlichem Verhältniß zur Schuld stand. Avr Claudius, nicht dem will¬
kürlichsten Kaiser, erwähnt es Sueton ausdrücklich, daß er, das gesetzliche
Strafmaß überschreitend, Leute, die nur größerer Eigenthumsvergehen überwiesen
waren, zum Kampfe mit den wilden Thieren verurtheilte und von Caligula
sagt Dio Cassius: „Allgemeinen Tadel zog er sich dadurch zu, daß er so viele
Bürger als Gladiatoren auftreten ließ und daß er. sich an keine Gesetze band
und überall nach Willkür schaltete. Seine Grausamkeit vermochte ihn einmal,
als es an zum Tode verurtheilten Verbrechern bei einer Thierhctze fehlte, aus
dem an den Schranken aufgestellten Volte Einige aufgreifen und den Thieren
vorwerfen zu lassen!" Die Hinrichtung der Koryphäen unter den Räubern und
Mordbrennern umgab man oft mit theatralischen Pomp, wenn man sie nicht
nackt und wehrlos an den Pfahl gebunden den wilden Bestien preisgab. Zu
Strabvs Zeit wurde ein finnischer Räuberhauptmann, der lange Zeit die Ge¬
gend um den Aetna gebrandschatzt hatte und sich selbst „Sohn des Aetna"
nannte, nach Rom geschafft und dort auf dem Forum in der Weise hingerichtet,
daß er zuerst auf einem hohen Gerüste in Form eines Bergs, das den Aetna
vorstellen sollte, sich präsentirte, dann aber, als die Bretter unter ihm durch
einen Maschinenzug auscinandcrsiclen, zu den unten lauernden wilden Thieren
hinabstürzte! Ausgezeichnete Diebe wurden zuweilen unter der Maske des Her¬
kules verbrannt oder unter der des Orpheus von Bären zerrissen, und als Do-
mitian einst einen Verbrecher den Tod des berüchtigten Räubers Läureolus
in der Arena sterben ließ, der zuerst gekreuzigt, und dann von Raubthieren
zerstückelt wurde, so tröstete sich Martial damit, daß der Unglückliche wohl noch
ein schwererer Uebelthäter gewesen, als sein auch als dramatischer Stoff die¬
nendes Vorbild, vielleicht seinem Vater oder Herrn die Gurgel durchschnitten
oder sich an heiligen Tempelschätzen vergriffen oder Brandstiftung versucht habe!
Einem ähnlichen Schicksal verfiel auch der größte Banditenhäuplling der Kaiser¬
zeit, Bullas. genannt Felix, fast in jeder Beziehung bereits das Urbild der
echten, Züge von Hochherzigkeit, Großmuth und Galanterie zur Schau tragen¬
den Fra Diavolos des modernen Italien. Seine Bande war gegen 60V Köpfe
stark und ihrem Führer blind ergeben. Während die römischen Legionen
gegen Parther, Gallier und Schotten siegreich fochten, während sich der Kaiser
Septimius Severus selbst in Italien aushielt und starke Truppenabtheilungen
Italien besetzt hielten, beherrschte Felix die ganze appische Straße. Er war
genau unterrichtet über alle, die von Rom abreisten oder in Brundusium lan¬
deten; er kannte ihre Namen, ihre Zahl, ihre Habe. Er plünderte die Rei¬
senden aber nie vollständig aus, sondern begnügte sich mit Procenten ihres
Vermögens. Künstler jedoch und Handwerker, deren Dienste er nöthig hatte,
behielt er oft Monate bei sich, bezahlte ihnen aber auch dann freigebig Mühe
und Versäumnis;. Dabei entging er allen Verfolgungen mit bewundernswerther
Gewandheit und Klugheit: „weder sah man ihn, wenn er gesehen, noch fand
man ihn, wenn er gefunden, noch hatte man ihn, wenn er gefangen worden
war." Tue Anhänglichkeit seiner Leute sicherte er sich durch Freigebigkeit und
aufopfernden Beistand in der Noth. So waren einst zwei seiner Genossen in
einem Flecken in Gefangenschaft gerathen und hatten keine Hoffnung, den Zäh¬
nen der wilden Thiere zu entgehen. Da verkleidete sich Felix als Magistrats-
person, begab sich zum Gefängnißwärter und verlangte einige Gefangene zu
irgend einer öffentlichen Arbeit. Der Cerberus ließ sich übertölpeln und die
Spießgesellen waren gerettet. Schlimm spielte er aber einem Hauptmann mit, der
ihm durch zu eifrige Nachstellungen lästig geworden war. Als Landmann ver¬
kleidet erschien er im Quartier und versprach, gegen eine Belohnung den
Schlupfwinkel des Räuberhauptmanns verrathen zu wollen. Arglos folgte der
Verrathene mit wenigen Begleitern dem gefährlichen Führer und kam nach be¬
schwerlichem Marsche durch das wilde, unbekannte Gebirg endlich in die roman¬
tische Waldschlucht, die man zu seiner Falle ausersehen hatte. Ein Signal er¬
tönte und von allen Seiten umzingelt mußte sich der Leichtgläubige ohne Wi¬
derstand ergeben. Hierauf warf sich Felix in ein fürstliches Prachtgewand, ließ,
von seinen Getreuen umgeben, den Centurio Vor seinen Richterstuhl führen und
befahl, dessen Haupt kahl zu scheren. Dann verließ er ihn mit den Worten:
Geh nun heim und verkündige deinem Herrn von mir folgenden Rath: „Gebt
euer» Sklaven genug zu essen, damit sie nicht Räuber werden!" Er hatte näm¬
lich viele ehemalige kaiserliche Diener bei sich, die theils sehr geringen, theils
gar keinen Gehalt bekommen hatten. Severus, ein höchst jähzorniger und un¬
geduldiger Herr, geriet!) nun in den heftigsten Zorn und sandte einen hohen
Offizier seiner Leibgarde mit vielen Reitern aus, schwere Drohungen beifügend,
wenn sie den Räuber nicht lebendig brächten. Nun wurden alle Hebel in Be¬
wegung gesetzt und Felix siel zuletzt seinen Verfolgern in die Händ-e. als Opfer
seiner Neigung zum,schönen Geschlechte! Es gelang, den habgierigen, vielleicht
auch eifersüchtigen Mann einer Schönen, die er liebte, zu gewinnen, welcher auch
seine Frau überredete, den Geliebten zu verrathen und so wurde er schlafend
in einer Höhle ergriffen und beschloß seine Laufbahn in der Arena unter den
Es wird immer lehrreich sein, die Genesis der reactionären Gewaltstreiche,
an denen die zwanziger Jahre unsers Jahrhunderts so reich sind, genau kennen
zu lernen. Als ein Beitrag hierzu mag die folgende Aufzeichnung dienen, die
sich in den Papieren eines mit Mettenrich enge befreundeten deutschen Staats¬
mannes fand. Nach den Mittheilungen über die drei Fürstenvereine, die wir
Gervinus verdanken (Gesch. d. 19. Jahrh. IV. S. 785—877) ist sachlich nicht
mehr viel Neues zu erwarten. Dennoch ist die vorliegende Aufzeichnung nicht
ohne Interesse, weil sie präciser, als dies Gervinus vermochte, für alle in
Verona zu behandelnden Furgen das Stadium feststellt, in welchem sich die¬
selben zur Zeit der dem Kongresse vorausgehenden Besprechungen der Minister
zu Wien befanden. Wir lasse» die Aufzeichnung selbst folgen:
Bei den vorläufigen Besprechungen, welche in Wien Statt hatten, sind
sämmtliche Minister übercingel'omnem, die Berathungen des Kongresses in Ve¬
rona (welchem der Name„Cabinetsverein" beigelegt wird) ans folgende Gegenstände
zu beschränken:
Die Hauptfrage ist als entschieden zu betrachten und es kann von einem
Krieg mit der Pforte um so weniger mehr die Rede sein, als Rußland sich jetzt
rictu mehr in eine Fehde einlassen wird, die es früher mit weit mehr Vortheil
hätte beginnen könne». Die Erhaltung des Friedens ist dciniiach nicht mehr
zu bezweifeln und es handelt sich dermalen mehr um die Formen der noch zu
beendigenden Negvtiationcn, als um die Resultate, die vo» denselben zu er¬
warten sind. Zu Gunsten der Griechen soll von Verona aus noch ein letzter
kräftiger Versuch gemacht werden, von dem aber wenig zu erwarten steht, weil
das türkische Eabinet hartnäckig darauf besteht, diese Angelegenheit ohne fremde
Einmischung zu ordnen und verlangt, daß man sich desfalls auf die feierlichst
gegebenen Zusicherungen einer milden Behandlung und vollkommener Garantie
der Person und des Vermögens aller Griechen, welche die Waffen niederlegen
und sich unterwerfen, verlassen könne und müsse.-
Nachdem der König von Neapel selbst die Fortbesetzung seines Landes durch
die darin sich befindende östreichische Armee wünscht und bei den Monarchen
feierlich, nachsuchen wird, so wird in Verona von nichts anderem die Rede sein.
als die Mittel ausfindig zu machen, wie auf die Verpflegung dieser Truppen
gespart werden könne, um das Land in pecuniärer Hinsicht möglichst zu er¬
leichtern.
Der König von Sardinien hat bereits officielle Schritte bei den größeren
Höfen gethan, um den Abzug der Oestreicher aus seinem Königreich zu erwir¬
ken und dabei erklärt, daß er sich bereits stark genug glaube, um mit eigenen
Kräften die Nuhe zu erhalten. Da aber sowohl gesandtschaftliche Berichte als
andere Nachrichten nicht so beruhigend über den inneren Zustand dieses Landes
lauten und man Ursache hat. zu vermuthen, daß der König selbst diesen Schritt
nur gethan habe, um sich dadurch populär zu machen, im Grunde aber nichts
anderes wünsche, als daß seinem Ansinnen von den Mächten nicht willfahrt
werden möge oder daß wenigstens alle Truppen, die zurückgezogen werden dürf¬
ten, auf östreichischen Grund und Boden stehen bleiben möchten, so wird diese
Frage einer gründlichen Erörterung unterworfen und dem König erklärt wer¬
de», daß Von der Aufstellung einer östreichischen Observationsarmce an den
Grenzen seines Königreiches keine Rede sein könne, daß demnach, wenn er den
Mächten die Ueberzeugung zu geben im Stande wäre, daß nach dem Abzug der
Oestreicher keine Unruhen mehr zu befürchten seien, man feinen Anstand nehmen
würde, seinem Wunsche zu willfahren. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird es
dahin kommen, daß die östreichischen Truppen zwar zurückgezogen, die Haupt¬
festungen des Landes hingegen von denselben besetzt bleiben werden.
Ueber das, was in Rücksicht dieser beiden unglücklichen Länder zu beschließen
sein dürfte, find bis jetzt die Meinungen noch sehr verschieden. Nur darüber
ist man einig, daß dies einer der wichtigsten Gegenstände der Berathung sein
müsse. Im verflossenen Jahre hatte Nußland den Antrag förmlich gestellt, den
Unruhen in Spanien mit gewaffneter Hand im Namen der Allianz ein Ende
zu machen. Frankreich hat vor wenige» Monate» noch sich anerboten, dieses
Geschäft allein zu übernehme», jedoch ebenfalls im Name» der Alliirten, so wie
Oestreich gege» Neapel Verfahren hat. Seit bien letzten bedeutende» Fortschrit¬
ten, welche die Armee des Glaubens gemacht hat, besteht das Cabinet der Tui-
lerien nicht mehr auf seinem Antrag und glaubt nur, daß sich seine Einmischung
auf die Aufstellung der Occupationöarmee beschränken und man die weitere
Entwicklung der Gegenrevolution abwarten solle.
Zu den vielfältigen Bedenllichleite» u»d Hindernissen, die sich einer Ein¬
mischung fremder Mächte in die inneren Angelegciiheite» Spaniens entgegen¬
stellen, kommt noch der Umstand, daß England feierlich erklärt hat, nie an
einem solchen Unternehmen theilnehmen zu können. Es würde demnach eine
*
factische Trennung der Allianz daraus erfolgen, deren Fortbestand und Be¬
festigung das Hauptaugenmerk der Cabinete bei jeder Gelegenheit bleibt.
Man wird sich -daher fürs Erste beschäftigen, die verschiedenen Folgen,
welche aus dem dermaligen Zustande Spaniens sich entwickeln können, mög¬
lichst zu berechnen und für jeden der kommenden und gedenkbaren Fälle be¬
stimmte und für sämmtliche europäische Gesandte zu Madrid gleich verbindliche
Jnstructionen aufzusetzen, In solchen werden die Ereignisse vorgesehen werden,
wo die Gesandten sich von Madrid entfernen und die Verbindungen somit
aufheben sollen. In diesem jetzt nicht mehr so wahrscheinliche» Fall ist sodann
eine fernere Berathung über die alsdann zu ergreifenden Maßregeln vor¬
behalten.
Vom König von Sardinien ist den Alliirten bereits vorläufig Anzeige ge¬
schehen, daß, da infolge der stattgehabten Untersuchungen über die letzte Re¬
volution es sich ergaben habe, der präsumtive Thronerbe, Prinz von Carignan,
durch die revolutionäre Partei verleitet, die Hand zu diesem strafbaren Unter¬
nehmen geboten und sich bei dieser Gelegenheit selbst staatsverrätherische Hand¬
lungen zu schulden habe kommen lassen — er Willens sei, dem Prinzen durch
einen eigenen Gerichtshof den Prozeß machen zu lassen und nach erwiesener
Schuld ihn — jedoch unbeschadet der Rechte seines Sohnes — von der Thron¬
folge auszuschließen, wozu der König sich vor allem der Genchmhaltung sämmtlicher
Monarchen versichern müsse. Obschon der König beigefügt hat, daß auf den
Fall, daß sein Antrag Schwierigkeiten begegnen sollte, er selbst die Krone
niederlegen würde, so scheint es doch nicht, daß die Mächte in einen Vor¬
schlag, wodurch der Grundsatz der Legitimität so sehr angegriffen werden dürfte,
je einwilligen werden, sondern daß man vielmehr alles versuchen wird, um
die Sache beizulegen und den König mit dem Prinzen zu versöhnen.
werden jedenfalls einer der wichtigsten Gegenstände der Berathung sein, indem
man überzeugt zu sein glaubt, daß, vorzüglich in den südwestliche» Staaten
des deutschen Bundes fortwährend ein Geijt der Unruhe und der Uebertreibung
im constitutionellen Wesen herrscht, der sowohl die Ruhe dieser als auch der
übrigen Staaten gefährden würde, wenn nicht Mittel gefunden werden, diesem
immer wachsenden Uebel Einhalt zu thun. Indessen werden die Alliirten (als
solche) sich nur mit dem Gcsammtbund als europäischem Staat und Mitalliirten
einlassen, demselben wie allen übrigen Mächten Europas von ihren Beschlüssen
Kenntniß geben und sodann dem Bundestag überlassen, den aufgestellten Grund¬
sätzen auf bundesverfassungsmäßigen Wegen die zweckdienliche Anwendung zu
verschaffen.
Bei Gelegenheit des Hinweises auf Schmidts Übersetzung der Odyssee sprachen wir
aus, baß als einzige Form der Wiedergabe Homers außer der Uebersetzung in Hexame¬
tern uns die in Prosa erscheine. Wir erhalten nnn hier eine Odyssee in deutschen
Reimversen, Der Übersetzer, der früher schon mehre Versuche veröffentlicht hat.
antike Poesie durch Assimilation an deutsche Formen uns näher zu bringen, hat
sich nicht gemüßigt erachtet, sich über dieses neue Unternehmen zu erklären, Gründe
für seine Wahl und Absicht anzudeuten. Die Sache soll, wie es scheint, selbst für
sich reden. Wir finden, grad heraus gesagt, daß das Unternehmen von der ersten
Seite ab sich als ein vollständiger Mißgriff offenbart. Die jambischen, dann und
wann mit trochüischcn wechselnden Verse der fünfzig Lieder fließen geschmeidig dahin,
aber alle Kraft des Heidenmäßigen, ja des Epischeu überhaupt ist vollständig
verloren; erschreckend trivial, nicht selten im übelsten Sinne modern tritt alles
vor uns, woran sonst die Phantasie sich voll ergötzt hat. Von Talent zeigt
sich nicht mehr als ein mäßiges Geschick, Prosa durch'Reimzeilen abzutheilen. Aber
selbst wenn die Gedichte zehnmal besser gelungen wären, sie würden nicht im Stande
sein, uus zu überrede», daß es künstlerisch gerechtfertigt sei, die Odyssee auf diese
Weise wiederzugeben. Die Form ist beim Epos so nothwendig wie bei andern Gat¬
tungen der Poesie und sie verdient die gleiche Pietät wie andere; vollends wenn
Homer in Frage kommt. Giebt uns jemand ein Bild der Erzählung in poetischer
Prosa, wie dies Ferdinand Schmidt mit Glück versucht hat, so zieht er eben nnr
einen Theil, wenn auch einen sehr wichtigen, vom Ganzen ab; wer aber
den Inhalt in eine völlig andere poetische Form prägt, die gar nichts mit
der Welt zu thun hat, in welcher Homers Gesänge leben, so ist das schlechter¬
dings verwerflich. Und wir fragen! wozu de>s ganze Benus»? Man mag be¬
haupten dürfe», daß die vvssische Übersetzung manche Unehe»beide» und Ge¬
schmacklosigkeiten um sich habe, die zum Theil auf Rechnung des in einzelnen Zügen
bemerkbaren Fortschrittes unsrer Sprache kommen, immerhi»; aber solchen Versuchen
gegenüber, wie der vorliegende ist. hat Voß i» allen Punkten recht; seine Fehler
erscheinen nicht mehr als solche, wenn sie mit diesem völlig unberechtigten Bestreben,
einem Bedürfniß von heute zu entspreche», verglichen werde». El» solches Bedürfniß
'se entweder gar nicht vorhanden, oder es ist vom Uebel, wenn es anerkannt oder
gar, wenn es befriedigt wird. Das Werk wendet sich an die Frauen. Verstehe,!
Unsre Frauen den Homer nicht so, wie er von Voß übersetzt ist. so mögen sie es
lernen; es hält nicht schwer; aber sie sind es, die ihm entgegenzukommen haben. Wer
dein großen Alten zumuthet. Handschuhe anznzieh» und sich in modisches Habit zu
stecken, damit er den Damen ohne Mühe verständlich werde, der verkennt den Homer,
steh selbst und wie wir glauben, auch die deutschen Frauen. —
Das Buch, obgleich es in seiner Ausstattung den bunten Lichtern des Christ¬
baums angepaßt ist, verdient doch auch nach der Festzeit eine angelegentliche Em¬
pfehlung. Die bekannte Jugendschriftstcllcrin versteht in ausgezeichneter Weise sür
den literarischen Bedarf junger Damen zu sorgen, denen sorgliche Mütter noch un¬
gern den Schlüssel zu einer Bibliothek unserer ästhetischen Literatur in die Hand
geben. Auch in Auswahl und Erfindung des vorliegenden Buches hat sich Talent
und Tact der Herausgeberin bewährt. Wo sie Mist erzählt, freut die lebhafte und
anmuthige Darstellung, eine feine Laune und der gebildete liberale Sinn, wo
sie Uebersetzungen bringt, aus dem Französischen nach Madame Guizot, aus dem
Englischen nach Miß Edgeworth, ist die Uevcrschnng ungewöhnlich gut. Das aus
dem Reisewerk'e des Herzogs von Coburg zwei hübsche Episoden mitgetheilt sind, ein
Auszug aus dem Tagebuch der Herzogin Alexandrine und ein Jagdabenteuer des
Herzogs, wird Vielen willkommen sein, denen das Reisewerk nicht zugänglich ist. Druck
und Ausstattung des Buches thun ebenfalls das Ihre, die freundliche Gabe jungen
Leserinnen zu empfehlen.
Geehrte Redaction wird im Interesse der Sache um Aufnahme des Folgenden
sowohl dringend als ergebenst von den Unterfertigten ersucht.
Wenn man die Summe prüft, welche im Budget für Pensionen der Generale,
Admiräle, Stabs- und Obervfsizicre, sowie der Militärbeamtcn angesetzt erscheint und
wenn man Zahl und Gattung der Pensionisten im Schematismus derselben käuf¬
lich in Wien, Wcnedickts Buchhandlung —) einsieht, möchte man glauben, daß wir eine
zweite, invalidgeschvsscnc Armee zu erhalten haben, wenn es nicht ausfiele, daß die
Zahl der höhern Stünden angehörigen Pensionirten in keinem Verhältniß zu
der Zahl und Gchaltsziffer der gemeinen Mannschaft steht.
Dagegen, so oft man in den Garnisonen die zahlreichen rein vegetirenden pensionirten
Militärbcamten und Offiziere etwas näher betrachtet, hat man Ursache, sich über die sehr
guten Gesundheitsumstände, das rüstige Mannesalter und auch über die Bildung und
Intelligenz einer großen Anzahl dieser meist zu unfreiwilligem Nirbsthun Bemüssigtcu
zu wundern. Viele unter ihnen leiden Elend, da ein großer Theil derselben mit bestem Willen
einen Nebenerwerb entweder nicht auftreiben kann oder darf, wieder Andere leben
in Behäbigkeit und Reichthum, welche geradezu auffallen. — Gratz, das bekannte
Pension opolis und Eldorado hat mehre Tausend der letztem Art auszuweisen, —
I» unserem Staate soll die Pensionirung der Staatsangestellten ein gesetzlicher
Ruheplatz und ein Asyl für solche Leute sein, welche durch Wunden, hohes Alter
oder Sicchthuni zum activen Dienst ohne ihr Verschulden untauglich geworden sind.
Derlei Pcnsivuirtc haben wir in den höher» Ständen »eboch nur in der Minder¬
zahl,— Ausnahmsweise gestattet die Milliärgesctzgebung bei gerichtlichen Unter¬
suchungen die zeitweilige Pensionirung solcher Inquisiten, deren Schuld erwiesen ist,
um dieselben bis zu deren cvcutneller Verurtheilung oder Entlassung wohlfeiler im
Arrest erhalten zu können. Diese Classe ist selbstverständlich nicht zahlreich.
Als gesetzliche Strafe jedvcl, soll die Pensionirung höchster Verordnung zu¬
folge nie in Anwendung kommen. Am 12. Mai 1864 erließ sub. Ur. 2928,
Avth. 1. das Kriegsministerium eine streng stilisirte darauf bezügliche Verordnung,
nachdrückliche Erinnerung an alle Militärcvmmaudanten, daß man dem Pcnsivniren
solcher Individuen Einhalt thu» möge, die unter irgend einem Vorwande sich auf
diese Art dem Dienste entziehen oder entzogen werden sollten.
Dieses Verbot wäre sehr zeitgemäß schon vor fünfzehn Jahren gewesen , aber
es dürfte in der Armee wohl selten, in der Marine sa se n in beachtet worden sein.
Die Millionen, welche für Pensionen derer verausgabt werden, die dem
Offiziers- und Beamtenstande angehören, sind also wie nachstehend verwendet:
1) Mit circa 2/,<> des Budgetposteus für solche Individuen, die wirtlich durch
Wunden, Alter oder unverschuldete, unheilbare schwere Krankheiten und Siech-
rhum gesetzlichen Anspruch auf Ruhe und Pcnsivusgcnuß haben. 2) Mit viel¬
leicht V-.<> des Budgetposteus für solche zweideutige Individuen, welche infolge ge¬
richtlicher Untersuchungen u. tgi. wegen Mangel an Beweise», wegen bedeutenden
Fehlern oder halbcrwiesc»en Verbrechen, oder solchen, die man ihrer Charge
oder Person halber nicht strafen wollte, sich in Pension und meistens wohl
vesiuden. Der größte Theil dieser Art Nuhcgenießender hätte mindestens die Ent¬
lassung statt der Pension verdient, 3) Mit circa 7,o der Anzahl — für solche In¬
dividuen, welche ihren Vorgesetzten nicht zu Gesichte standen, oder irgendwie sonst
mißliebig wurden oder Prvtegirtcn Platz machen mußten, indem man wirkliche oder
erdichtete kleine Fehler derselben als Anlaß der Pensionirung vorschützte. Derlei
unglückliche Opfer von Bosheit, Beschränktheit und Parteilichkeit der Höhergestellten
find meistens rüstige, freimüthige und intelligente Menschen, welche dem Staate noch
lange Jahre sehr ersprießliche Dienste leisten konnten.
Dieses sind die kostspieligsten Pensionisten, deren Platze oft bis zehnmal
der Staatsrechnung zur Last fallen, d. h. einmal für den, welcher den bezüglichen
activen Posten besetzt hält, und nenn nach und nach pensionirte, die dem jeweilig
Begünstigten Platz machen mußten. Namentlich sind derlei Pensioniruugen in der
kleinen Kriegsmarine im Schwunge, wo man z, B, nur ein Linienschiff, dafür aber
"n Dutzend theils active theils pensionirte Linicnschiffcapitainc (Oberste) und mehr
als ein Dutzend theils active, theils pensionirte Admiräle zählt, des Unfuges mit der
Pensionirung der übrigen Beamten und Offiziere gar nicht zu gedenken, während
taube, halbblindc und idiotische Günstlinge ungenirt fortdiencn müssen.
Diese Classe ist eine schreiende Beeinträchtigung der Staatskasse sowohl wie der
persönlichen Rechte des Einzelnen.
Die unglücklichen Opfer dieser Art von Pensionirungcn vermögen beinahe
nie den eigentlichen Grund derselben zu erfahren, um zu ihrem Rechte gelangen zu
können. Die über sie entscheidende geheime Vehme motivirt ihr Vorgehen fast nie der
Wahrheit getreu, alle Anfragen der Betheiligten bleiben shstemgcmäß unbeantwortet.
Hatte man sich dock schon so weit emancipirt, einem solchen Individuum officiell
und schriftlich zu antworten, man sei nicht in der Lage, die vom Petenten erbetene
unparteiische Untersuchung der Ursache seiner Pensionirung bewilligen zu können. —
Dieses that das k. k. Marine-Kommando mittelst Erlaß 'I. 2. Ur. 1566 vom
24. Juli 1864, um einige Vorgesetzte zu decken, die durch eine unparteiische Unter¬
suchung — nebst einem ganzen Amte — in Beseitigung gerathen wären. 4) Mit
circa '/lo solche für Individuen, die einer Beförderung nicht wohl fähig sind, aber die¬
jenige Charge, welche sie bekleideten, ziemlich gut versahen. Diese sollte man belassen,
wo sie zu brauchen sind, offenbar stupide Individuen gar nicht anstellen, dumm oder
nachlässig gewordene eventuell entlassen oder bestrafen. 5) Mit circa Via für
Solche, die, nachdem sie ihre Zwecke erreicht haben oder nicht mehr dienen
wollen, sich zur Pensionirung freiwillig und vorsätzlich hindrängen. Krankheiten
fingiren, Aerzte täuschen oder gewinnen, simnliren— kurz auf alle mögliche Weise
ihre Pensionirung selbst herbeiführen. Solche Leute giebt es überall.
Um den Staat von der Unzahl von nichtinvalidcn Pensionisten zu befreien,
wäre vor allem!
Ein streng controlirtcs Pcuironsgesetz zu erlassen, und unter persönlicher Ver¬
antwortlichkeit des Kriegsministers nur für den Fall 1.,' und ausnahmsweise 5.,
Pensivnirungen zu gestatten. Ferner darauf zu dringen, daß eine eigens zusammen¬
gesetzte strenge und unparteiische Commission alle bereits Pensionirten unter sechzig
Jahren einer genauen Superrevifion unterzöge. Dabei wären die Pensionirten eidlich
über den'Grund ihrer Pensionirung zu befragen, um den Nichtinvalidcn oder un¬
gerecht Pensionirten auf die Spur zu kommen und die Pcnsionsveranlasscr zur
Rechenschaft ziehen zu können.
Alle diensttauglich gefundenen Pensionisten der Classe 3., welche das sechzigste
Lebensjahr nicht überschritten haben, müßten in die Activität gesetzt und bis zu
deren Einbringung alle bezüglichen Neuavancements eingestellt bleiben. Halbübcr-
wiescnc, den, Gerichten entschlüpfte oder entzogene Pensionisten, und solche, wo die
Umstände auf Simulationen, erdichtete Krankheiten und Unlust zum Dienste hin¬
weisen, wären sofort zu entlassen. Für die Zukunft müßte man ernste Sorge
tragen, damit das Pcnsionirc» aus Haß, Mißliebigkeit, oder um anderen Begünstigten
Plätze zu schaffen, wenigstens sehr erschwert werde, weil diese Art Willkür der
betreffenden Machthaber dem Staate außer »anhaften Baargeldschadcn auch die
besten Kräfte und namentlich offene und freimüthige Charaktere zu entziehen Pflegt.
. - -
Es würde uns schleckt anstehen, wenn der blendende Glanz des Renanschen
Buches uns dasjenige übersehen l'eße, was sonst die französische Wissenschaft
auf dem Gebiet der Erforschung des Urchnstenthuins zu Tage fördert, oder wenn
wir wegen des vielfach Verfehlten, wodurch Renan allerdings bei uns mehr ein
zweideutiges Renommee erlangt hat, die üverrhcinischcn Leistungen sammt und
sonders über die Achsel ansehen wollten. Mit Recht ist von französischen Beur-
thcilern bemerkt worden, das; in der Vie as ^sus an manchen Punkten un¬
vermerkt der Katholik, der unter dem Saviae, ä6sind6rW8« verborgen steckt, zum
Vorschein komme. Die tiefe Kluft zwischen dem orthodoxen Katholicismus und
der modernen Bildung, welche doch nur durch die Entwicklungen des Protestan¬
tismus organisch ausgefüllt ist, konnte der ehemalige Seminarist von Se. Sul-
pice nicht ungestraft überspringen. Auch in Frankreich ist deshalb Renan ge¬
wissermaßen eine abnorme Erscheinung, und wir haben allen Grund uns zu
dem französischen Protestantismus zu wenden, wenn wir von dem wissen¬
schaftlichen Stand der urchristlicher Fragen in Frankreich einen richtigen Be¬
griff erhalten wollen.
Damit sind wir an die Straßburger Schule gewiesen, und wir denken uns
schon im Boraus, daß der Aufschwung, welchen in Frankreich nicht minder als
in Deutschland eben diese Studien neuerdings genommen, wesentlich auf die
nähere Berührung mit der deutschen Wissenschaft zurückzuführen ist. So ist es,
und die Franzosen machen daraus gar kein Hehl. Sie geben bereitwillig zu,
daß deutsche Forschung das schwerste Material aus der Tiefe herausgegraben
hat, mit welchem nun weiter zu bauen ist. Aber eben hier, in der Verwendung
dieses Materials, zeigt die französische Theologie ihre eigenthümlichen Verdienste.
Wenn sie schon einen glücklichen Jnstinct für das besitzt, was in den Erzeugnissen
der deutschen Theologie, von welcher wohl das Wort von den mancherlei Ga¬
ben, aber Mit das vom einerlei Geiste gilt, einen wirklichen Fortschritt der
Wissenschaft bedeutet, so ist ihr namentlich eigen die Leichtigkeit, mit der sie die
wissenschaftlichen Ergebnisse in genießbarer Form zu verbreiten, zu anziehenden
Darstellungen abzurunden und Problemen, die bei uns allzulang in der Ge¬
lehrtenwelt verschlossen blieben, eine praktische Spitze zu geben weiß. Besonders
voraus sind uns die Franzosen in der Anwendung der wissenschaftlichen Fort¬
schritte auf das kirchliche Leben, auf Kanzel und Schule. Ihnen ist es undenk¬
bar, daß die Theologie in den letzten dreißig Jahren Riesenschritte gemacht hat
und das kirchliche Leben sich in dem hergebrachten Schlendrian fortbewegen soll;
unbegreiflich ist ihnen die Schwerfälligkeit, die uns kaum daran denken läßt,
den Gewinn aus den Gelehrtenstuben hinaufzutragen in die lebendige Wirklich¬
keit. Der einzige praktische Erfolg aus den neuesten Debatten, dessen wir uns
rühmen können, ist der durch Schenkels Buch veranlaßte Erlaß der badischen
Oberkirchenbehörde. Aber so hoch wir unter unsern Verhältnissen dieses Votum
anschlagen, was ist doch dieser Erlaß einer Behörde gegen die spontane frische
Bewegung, welche der französische Protestantismus seit etwa einem Jahrzehnt
zeigt, und die sich unter Laien wie unter Geistlichen, auf den Pastoralconferenzen
wie in den Salons, in Kirche und Schule, in der Literatur und in der Presse
zu erkennen giebt! Diese ganze praktische Richtung, welche auch die gebildeten
Laien weit tiefer als dies bei uns möglich ist, wieder in das Interesse für reli¬
giöse und kirchliche Fragen gezogen hat, fordert unser ernstes Nachdenken heraus.
Wir dürfen in dieser Beziehung von dem französischen Protestantismus um so
eher lernen als wir nur die Früchte unserer eigenen Geistesarbeit von ihm
zurückerhalten werden. Daß wir außerdem auch noch für die wissenschaftliche
Erörterung etwas profitiren können, mag neben den gelehrten Werken von
Ed. Reuß, dessen Geschichte der christlichen Theologie im apostolischen Zeitalter
soeben in dritter Auflage erschienen ist, das in der Ueberschrift genannte Buch
von T. Colcini bezeugen, welcher in seiner eigenen Person die Verbindung
von Praxis und Wissenschaft in einer Weise darstellt, wie sie bei uns seit
Schleiermacher mehr und mehr abhanden gekommen ist. Denn Colani, derselbe,
der vor einem halben Jahre trotz des Geschreis der Orthodoxen zum ordentlichen
Professor an der theologischen Facultät zu Straßburg ernannt wurde, ist nicht
blos unbestritten der erste Prediger des heutigen protestantischen Frankreich,
sondern er hat in seiner Kevrw äA tlrsolcgis (seit 18S0), dem Sammelplatz
der freisinnigen Theolvgcnschule des Elsaß, auch für die Besprechung wissenschaft¬
licher Fragen ein einflußreiches Organ gegründet, das für die Vermittlung
deutscher und französischer Geistesarbeit epochemachend gewesen ist.
Den Charakter einer Mittelstellung zwischen französischer und deutscher
Wissenschaft hat nun auch sein Buch über Jesus und die Mcsstasidee, schon
hinsichtlich der Methode, welche von der Straußfeder wie von derjenigen RenanS
gleichweit entfernt ist. Denn einerseits ist es weit kritischer, es hat einen weit
solideren wissenschaftlichen Boden als das berühmte Werk seines Landsmanns,
es zeigt eine Vielseitige gründliche Kenntniß der deutschen Literatur und ist vom
Geiste derselben hinlänglich berührt, um nicht de>. wo die Quellen unzureichend
sind, zu phantastischen Combinationen die Zuflucht zu nehmen. Andrerseits
aber hat es nicht nur jene Formvollendung, jenen glatten Fluß der Rede, der
dem Franzosen ebenso natürlich ist, als er uns noch immer schwer erreichbar
zu sein scheint, sondern es geht zugleich mit einer Energie auf bestimmte ab¬
schließende Resultate aus, welche nicht wenig contrastirt mit der bedächtigen Art,
wie Strauß zu Werke gegangen ist, der sich lieber mit einem non liMst be¬
scheidet, als ein vorschnelles Urtheil aussprechen will. Diese Tendenz zu ent.
scheidenden Resultaten giebt der ganzen Schrift etwas anziehend Bewegtes, et¬
was logisch Consequentes. hat aber freilich auch ihre bedenkliche Seite, sofern
leider nun einmal die Beschaffenheit der Quellen eine solche ist, welche weit
weniger logische Consequenz als vielmehr eben jenes bedächtige Abwägen er¬
fordert, um zu denjenigen Resultaten verarbeitet zu werden, welche sich über¬
haupt noch gewinnen lassen.
Colani greift einen ganz bestimmten Punkt im Leben Jesu für seine Un¬
tersuchung heraus, aber es ist derjenige, der für das Ganze centrale Bedeutung
hat. Er stellt sich die Frage: in welcher Beziehung steht die Mission, welche
sich Jesus selbst beigelegt hat, zu jener mysteriösen Person der jüdischen Glau-
bensvorstellungen, welche man Messias nannte, — mit anderen Worten: bis
zu welchem Grade ist Jesus Jude gewesen? Um diese Frage zu beantworten,
erzählt er zuerst die Entwicklung des messianischen Glaubens der Juden und sucht
besonders festzustellen, was die Gestalt und der Sinn dieser Vorstellung zur
Zeit Jesu war. Im zweiten Theil untersucht er, ob Jesus diesen Erwartungen
entsprochen und sich für denjenigen Messias ausgegeben habe, auf den die Ju
den hofften.
Wenige Ideen, sagt Colani, zeigen eine so regelmäßige und natürliche Ent¬
wicklung, wie diese. Anfangs ist es nur der poetische, bildliche Ausdruck, wel¬
chen einige Propheten den Hoffnungen des jüdischen Volks auf einen endlichen
Sieg über die heidnischen Völker verleihen. Ihre Vorstellung ist, daß Gott
durch die Vermittlung des auserwählten Stammes Davids, durch einen großen
Helden, ähnlich dem Gründer der Dynastie, das neue theokratische Reich be¬
herrschen werde. Als indessen die Familie Davids verschwand und die Juden
sich an die Herrschaft einer Priesteraristvlratie unter fremder Oberhoheit ge¬
wöhnten, schwebte die Persönlichkeit des Messias, von der übrigens im alten
Testament überhaupt nur selten die Rede ist, nur noch wie ein flüchtiger Schat¬
ten durch die Träume von der Zukunft, und so blieb es auch als dieselben
unter dem Eindruck der Leiden und Verfolgungen der Makkabäerzeit größere
Lebhaftigkeit und Bestimmtheit annahmen. Man träumte den Sieg der Häup¬
ter, unter welchen man litt und kämpfte, den Sieg Gottes, nicht den eines
Davidsohns. Erst als die nationale Aristokratie der verworfenen Dynastie des
Jdumäers Herodes Platz gemacht hatte, gaben der Schmerz und die Empörung,
welche die Gemüther erfüllten, dem Davidssohn wieder ein außerordentliches
Relief; er bleibt von nun an die lebendige Personificatio» alles dessen, was die
unterdrückte und erniedrigte Nation von der Zukunft hofft.
Um den historischen Verlauf der Messiasidee zu verstehen, kommt es also
wesentlich darauf an, von den messianischen Hoffnungen im Allgemeinen die
Erwartung eines persönlichen Messias zu unterscheiden, und vielleicht hätte
Colani diese wichtige Unterscheidung noch strenger durchführen sollen. Die ur¬
sprüngliche Vorstellung, in welche sich die unzerstörbare Gewißheit des Volkes
kleidete, besonders vor allen Völkern von Gott bevorzugt zu sein, war die, daß
Jehova selbst nicht nur zur Niederwerfung der Feinde, sondern auch zur Auf¬
richtung seiner Herrschaft in Israel erscheinen werde. Die ältesten Propheten
(Mitte des neunten Jahrhunderts vor unsrer Zeitrechnung) wissen noch nichts
von einem Davididen. Das künftige Reich ist ihnen das Reich Gottes; dieser
selbst wird, nachdem er in einer Entscheidungsschlacht sein Urtheil gesprochen,
in Zion residiren. Später, als die davidische Dynastie in um so herrlicheren
idealem Glänze strahlte, je mehr sie der Zeit entrückt wurde, und je schmerz¬
licher mit ihr die Gegenwart contrastirte. entlehnten die nationalen Hoffnungen
ihre Farben den nationalen Erinnerungen. David wurde der Typus des großen
theokratischer Fürsten, der nach dem gewonnenen Sieg über die Heiden das
Volk wieder sammeln und durch ein Regiment des Friedens, der Gerechtigkeit
und der wahren Gottesverehrung das goldene Zeitalter heraufführen sollte.
Es sind die großen Propheten im Zeitalter vor der babylonischen Gefangen¬
schaft, im achten und siebenten Jahrhundert v. Chr., welche diesen Typus in
ihren Visionen ausbilden.
Allein während der Gefangenschaft schwächte sich die Anhänglichkeit an die
Dynastie ab. Bei der Wcdcrbcrstcllung des Tempels sehen wir noch Seru-
babel den Davididen neben dein Priester Josua in gleich hervortretender Weise
thätig. Aber bei dem Verlust der staatlichen Unabhängigkeit konnte sich kein
nationales Fürstenthum befestigen, und die Nachkommen Serubabcls verlieren
sich in das Dunkel. Fortan bildet der Tempeldienst den nationalen Mittelpunkt,
und demgemäß behaupteten sich die regierenden Priesterclassen, an ihrer Spitze
die Familie der Zadokiten, als die eigentlichen Herrscher im Volk. Dies war
von unmittelbarem Einfluß auf die Messiasidee. Schon bei den jüngeren
Propheten, welche während und nach dem Exil auftreten, finden wir keine
Spur mehr vom Davididen. Dieser bleibt verschollen, und selbst die messiani¬
schen Hoffnungen im weiteren Sinn sehen wir allmälig erkalten. Es ist sehr
bezeichnend, daß in den Ereignissen der tiesaufgeregten Zeit des heldenmüthigen
Maktabäeraufstandes gegen die Sekunden uns nicht die geringste Spur eines
Einflusses dieser Idee begegnet, die man sich gewöhnlich als den beherrschenden
Mittelpunkt des Nationalbewußtseins der Juden vorstellt. Es ist nicht minder
bezeichnend, daß wir, um ihre weitere Entwickelung zu verfolgen, einzig ans
die sogenannte apokalyptische Literatur angewiesen sind, welche an die alten
Formen der hebräischen Prophetie sich anschließend als eine Geheimliteratur nur
in engen Kreisen fortlebte.
Das Buch Daniel ist bekanntlich auf die Ausbildung der christliche»
Messiasidee vom größten Einfluß gewesen, aber in seinem Texte findet sich
Nichts vom Messias, noch weniger vom Davidssohn. Diese Apokalypse
oder Offenbarung, welche der Mattabäerzeit angehört, giebt in ihren Visionen
eine Art von Elcmentcuphilosophie des Weltverlaufs, dargelegt an den auf
einander folgenden Weltherrschaften, ebenso wie in der persischen Religionssage,
deren Einfluß dieses Buch auch sonst verräth, eine Reihe von tausendjährigen
Reichen dem ewigen Reiche Ormuzds vorausgeht. In einer dieser Visionen
sieht der Prophet vier Thiere, welche nach ihren Attributen das chaldäische,
das medische, das persische und das griechische Weltreich bedeuten. Es erscheint
der Alte der Tage, umgeben von himmlischen Heeren auf einem feurigen
Throne, und sobald er die Bücher öffnet, wird das vierte Thier getödtet.
Und nun folgt die berühmte Stelle: „Und siehe, mit den Wolken des Himmels
kommt wie eines Menschen Sohn, gelangt zum Alten der Tage und wird
vor ihn gebracht. Und ihm wird gegeben das Reich, die Ehre und das König¬
thum, damit alle Völker ihm dienen. Sein Reich ist ein ewiges Reich und
hat kein Ende." Die christliche Auslegung verstand seit den ältesten Zeiten
unter diesem Menschensohne den Messias, der auf den Wolken vom Himmel
herabkommen werde. Unser Text weiß nichts davon, er giebt selbst unmittel¬
bar darauf eine ganz andere Auslegung vom Menschensohn, der überdies gar
nicht aus den Wolken des Himmels herabkommt, sondern im Gegentheil, zu
Gott hinaufgebracht wird. Die Symmetrie der Vision erfordert offenbar, daß
der Menschensohn wie die vier Thiere gleichfalls die Personifikation eines
Weltreiches ist, dessen unterscheidende Züge eben damit bezeichnet sein sollen,
daß es nicht unter thierischer, sondern unter der edlen menschlichen Gestalt
dem Seher erscheint. Es ist das jüdische, das auf die vier anderen folgen,
sich über alle Völker erstrecken und kein Ende haben soll. Und ausdrücklich
wird, wie der Prophet selbst sein Geficht erklärt, die Herrschaft und die Macht
über alle Reiche „den Heiligen des Höchsten", dem „heiligen Volke des Höchsten"
verliehen. Vom Messias, von einem Haupt der Heiligen ist gar nicht die Rede.
Es ist vielmehr, wie aus einer anderen Vision noch deutlicher hervorgeht, viel¬
mehr die Form einer Aristokratie, unter welcher er sich dao künftige Reich vorstellt.
Eine Nachahmung des Buches Daniel ist das Buch Henoch, das unter
Johannes Hyrkanos, dem dritten Fürsten der Makkabäerfamilie etwa um das
Jahr 110 vor Christus verfaßt ist. Auch dieses Buch, das bei den ältesten
Christen im höchsten Ansehen stand und sogar in einer unserer neutestamentlichen
Schriften, dem Brief des Judas, als eine echte Schrift vom Urgroßvater des
Noa angeführt wird, enthält unter einem Schwall von gesuchten Bildern, in
deren Häufung die ganze Productivität der Zeit sich zusammenzudrängen scheint,
einen prophetischen Ueberblick über die gescmuntc Weltgeschichte von der Schöpfung
bis zum Weltgericht. Ausführlich werden in der Hauptvision die Geschicke des
jüdischen Volkes während der Scleucidenzcit geschildert, unter dem Bild einer
Schafheerde, die von ihren Hirten (den heidnischen Königen) mißhandelt, von
Raden und Geiern (den heidnischen Völkern) verheert wird. Aber es erstehen
muthige Lämmer (die Mal'kabäer), welche die Naben bekämpfen, insbesondere
eines von ihnen (Johannes Hyrkanos) ist mit dem Horn, dem Zeichen der
fürstlichen Würde geschmückt, und die anderen folgen ihm. Die Hirten und
Raubvögel versuchen einen letzten Andrang gegen die Lämmer. D« erscheint
der Herr der Heerde (Gott) zur Hilfe, vernichtet die feindlichen Thiere, dem
Judenthum wird die Weltherrschaft verlieben, ein Thron wird in Palästina
errichtet und Gott spricht das Gericht über die gefallenen Engel, über die
Hirten und über die abtrünnigen Juden aus. Den Treugeblicbenen wird ein
neuer Tempel gebracht, die versprengten Juden und besseren Heiden werden
gesammelt; der Krieg hört auf, und allen Schafen werden die Augen geöffnet,
daß sie daS Gute sehen. Jetzt erst wird ein „weißer Falte" geboren mit
großen Hörnern, welchen alle Heiden fürchten und anflehen; die Schafe aber
werden alle verwandelt und gleichfalls zu weißen Farren, und der Herr der
Heerde hat seine Freude an ihnen. Dieser weiße Farre, der zum Schluß auf¬
tritt, ist die einzige Spur, welche die Idee eines persönlichen Messias in unserem
Buch, das eine so ausführliche Schilderung der künftigen Dinge enthält, zu¬
rückgelassen hat. — Unmittelbar daran schließt sich eine andere Vision, die sich
gleichfalls über den gesammten Wcltverlauf verbreitet. Aber obwohl hier der
letzte Kampf, die Aufrichtung eines Thrones, das große Gericht, der Welt¬
untergang, noch einmal el» Gericht, endlich die Schaffung eines neuen Himmels
noch viel ausführlicher und scheinbar chronologisch genauer erzählt werden, hat
doch der Messias gar keine Stelle gefunden. Gehören beide Darstellungen dem¬
selben Verfasser an, was allerdings zweifelhaft ist, so liegt auf der Hand,
Welche geringe Bedeutung für ihn die Messiasidee hat. Aber auch in der ersten
Darstellung macht der weiße Farre, der am Ende geboren wird, ganz den Ein¬
druck, als wolle der Verfasser schließlich noch etwas nachholen, was er vergessen,
oder wofür er keinen rechten Platz gesunden. Auch ist nicht zu übersehen, daß
der Messias nicht blos aus dem Volke Gottes selbst hervorgeht, sondern auch
alle anderen gleich ihm weiße Farren werden, er also nur als der Erste unter
Gleichen erscheint. Er ist mehr als Priester, denn als Fürst gezeichnet. Die
alte Idee des Messias, des Davididen, ist kaum zu erkennen.
In einem dritten Abschnitt des Buches Henoch erscheint allerdings ein
sehr ausgebildeter Messiastypus, zugleich schon ganz in das Uebernatürliche
erhoben, aber auch bereits mit so unverkennbaren Anklängen an den Messias
der christlichen Lehre, daß man diesen Abschnitt allgemein für ein Erzeugnis;
des Christenthums hält. Aus einer merkwürdigen Stelle, welche auf das
wollüstige Badeleben einer westlichen Gegend deutet, „am Fuße eines Berges
mit flüssigen Metallen, über einem unterirdischen, mit Flammen erfüllten
Thale, welches der Aufenthalt der gefallenen Engel ist und woraus Fcuerbäche
ausströmen," aus dieser Stelle, welche Hilgcnfeld auf Baja am Fuße des
Vesuvs gedeutet hat, darf man mit Sicherheit schließen, daß dieser Abschnitt
nach dem ersten Ausbruch dieses Vulkans im Jahre 79 nach Christus ge¬
schrieben ist. Eben dieser Theil des Buches war es aber, auf welchen sich die
Christe» besonders stützten. Apologeten wie Tertullian nahmen dessen Echtheit
gegen die Zweifler eifrigst in Schutz. Dciucbt es doch diesem gelehrte» Kirchen¬
vater ganz natürlich, daß Noa dieses Wert seines Urgroßvaters mit i» die
Arche nahm, oder wenn es etwa in der Sündfluth untergegangen sein sollte,
so sei es ja Gott ein Leichtes gewesen, es durch seine Allmacht wieder her¬
zustellen.
Ist schon in dieser Geheimliteratur unsre Ausbeute dürftig genug, so ist
sie es noch mehr in den übrigen Schriften dieser Epoche, in de» sogenannten
Apokryphen des alten Testaments. Die messianischen Erwartungen, so weit sie
überhaupt aufzufinden sind, reduciren sich auf das Allgemeinste, was der ganzen
Idee zu Grunde lag: auf die Erwartung einer künftigen glücklichen Zeit für
das Volk Gottes. Selten nur taucht die Vorstellung auf, daß Gott vor der
großen Entscheidung den Propheten Elias senden werde; dieser erscheint dann
nicht als der Vorläufer eines Messias, sondern als Vorbote des Gottesgerichts,
ebenso wie die persische Rcligionssage den großen Propheten Sosiosch vor dem
Beginn des Reiches Ormnzdö auftreten läßt. Nur in einer einzigen apokry-
Phischen Schrift des Makkabäerzcitaltcrs, in den sogenannten Psalmen des Salomo,
begegnen wir der altprvphetischcn Hinweisung auf den Davidssohn, aber sie ist
einfach eine Reproduction der Schilderungen der großen Propheten, zusammen¬
getragen aus Stellen ihrer Visionen. Bei Philo endlich, dem Vertreter des
alexandrinischen mit griechischer Weisheit gesättigten Judenthums finden wir den
ganzen Vorstellungskreis nur noch in einer sehr vergeistigter Form, die mit der
Idee eines nationalen Fürsten nichts mehr zu thun hat.
Mit einem Mal sehe» wir nun zur Zeit des Herodes in Palästina die
Erwartung eines persönlichen Messias, des Davidssohns wieder aufflammen.
Je überraschender dieses plötzliche Wiederauftauchen ist. um so berechtigter ist
unsre Frage nach den Beweismitteln, auf welche sich diese Annahme stützte.
Und hier zeigt sich denn, daß wir nächst den schon erwähnten Schriften, welche
zum Theil selbst schon in die Zeit des Herodes reichen, einzig und allein auf
secundäre Quellen, ja eigentlich blos aus unsre Evangelien angewiesen sind.
Denn Josephus schweigt, und die Targume, welche man herbeigezogen hat.
d. h. die damals entstandenen Übersetzungen des alten Testaments in die
Volkssprache, haben ihre Endredactivn erst in einer viel späteren Zeit erhalten.
Solche Stellen, wo die Uebersetzung den Messiasglauben verräth, sind also für
diese Zeit keineswegs beweisend. Wie vorsichtig aber unsre Evangelien gerade
in dieser Frage als historische Quellen zu gebrauchen sind, liegt auf der Hand.
Sie sind geschrieben vom Standpunkt des Glaubens an den erschienenen Messias,
sie haben das natürliche Interesse, Jesus als die Erfüllung aller Prophetie
darzustellen, und es lag von hier aus nahe, auch die Erwartung gerade zur
Zeit Jesu als hockgesteigert, als der Erfüllung entgegenkommend zu schildern.
Jedenfalls bedarf dieser Punkt, auf welchen alles ankommt, wenn man auf
historischem Weg von Seiten der Messiasidee in die Entwicklungsgeschichte des
Christenthums eindringen will, einer noch genaueren und abseitigeren Erforschung,
als sie bei Colani sich findet, wobei insbesondere auch das jüdische Parteiwesen
zu berücksichtigen ist. Eine schärfere Unterscheidung dessen, was sich wirklich als
Vorstellung der Juden zur Zeit Jesu nachweisen läßt, und dessen, was die
Messiasidee erst dem durch die Erscheinung Jesu gegebnen Anstoß verdankt,
und zwar nicht blos im Kreis seiner Bekenner, sondern auch innerhalb des
Judenthums selbst, dürfte zu dem Resultat führen, daß zwar unter der er¬
drückenden Wucht der Römerherrschaft die messianischen Erwartungen aufs neue
lebendig wurden, daß aber damit die Erwartung eines persönlichen Messias gar
nicht nothwendig VerHunden war. Alle Erscheinungen des damaligen Juden¬
thums weisen auf eine angespannte Erregung der Geister. In der gesteigerten
reichsstürmerischen Frömmigkeit der Pharisäer, in den mystischen Vereinen der
Esscicr, in der weltflüchtigen Askese der Therapeuten in Aegypten, in dem Auf¬
treten von Wüsteneinsiedlcrn spricht sich der allgemeine Drang der Zeit aus,
sich auf ein nahe bevorstehendes Neues vorzubereiten. Aber gerade die Er¬
wartung eines persönlichen Erretters läßt sich ungleich schwerer nachweisen.
Auch aus dem herkömmlichen Bilde des Täufers Johannes werden wir zwar
nicht die Hinweisung auf das Gericht, wohl aber die Hinweisung auf den
nahen Messias zu streichen haben*). I» jedem Fall kann von einem dogmatisch
fixirten Glauben an das Kommen des Davidssvhns nicht die Rede sein. Das
ganze Volk aufs Tiefste von der Messiasidee aufgeregt sein lassen, ist ungefähr
ebenso, wie wenn in tausend Jahren ein Schriftsteller aus einem Dutzend
unserer Dichter die Belegstellen zusammentragen wollte, daß in der ersten Hälfte
des neunzehnten Jahrhunderts das Volk der Deutschen erwartungsvoll den
Kyffhäuser umstanden, den Flug der alten Raben beobachtet und jeden Augen¬
blick die Erhebung des verzauberten Kaisers von seinem elfenbeinernen Stuhle
erwartet habe.
Wird der Messias vor oder nach dem Gericht erscheinen? Die Frage scheint
bei einem Gegenstande, der nur ,der Phantasie angehört, von wenig Bedeu¬
tung. Aber sie führt auf eine eigenthümliche chronologische Veränderung, welche
im Lauf der Zeit die messiaiuschen Ideen erfuhren. Die alttestamentliche Vor¬
stellung ist die. daß die kommenden Zeiten eingeleitet werden durch den Ge¬
richtsact, d. h. durch das Kommen Jehovas zur Entscheidungsschlacht gegen
die heidnischen Völker; denn die Intervention Gottes in den menschlichen An¬
gelegenheiten wurde eben als ein Gericht vorgestellt. Nach der Entscheidung
tritt erst der Messias auf und beherrscht das theokratische Reich. Nach der
christlichen Lehre geht umgekehrt das Messiasreich dem Gericht voraus, das
folgerichtig in eine höhere übernatürliche Sphäre gerückt ist; und was ein
weiterer unterscheidender Zug ist, der Messias fungirt selbst als Weltrichter,
während in der-jüdischen Prophetie dieses Amt stets Gott allein vorbehalten
ist. Diese chronologische Umwälzung tritt aber keineswegs plötzlich mit dem
Christenthum ein, sie ist vielmehr innerhalb des Judenthums selbst schon vor¬
bereitet und geht in der christlichen Epoche auch in die jüdischen Vorstellungen
ein. während andrerseits die Vorstellung vom Messias als dem Weltrichter auch
dem ältesten Christenthum noch fehlt und erst auf Paulus zurückzuführen ist,
der es ausdrücklich betont, daß seinem Evangelium zufolge Gott durch Jesus
Christus das Richteramt ausüben lassen wird, also der Neuerung sich wohl be¬
wußt war.
Noch in den Visionen Daniels wird erst nach dem Gericht das neue theo-
kratische Reich aufgerichtet, hier, wie schon gesagt, ohne persönlichen Messias.
Nun tritt aber im Buch Henoch und in den Weissagungen der Sibylle, unter
welcher Pseudonymen Form damals auch Juden ihre Ideen in der Heidenwelt
zu verbreiten suchten, die neue Vorstellung von einem starken glänzenden Fürsten
auf, dessen Herrschaft dem Gericht vorangeht. Im dritten Buch der sibyllinischen
Orakel, das von einem alexandrinischen Juden um die Middle des zweiten Jahr¬
hunderts v. Chr. verfaßt ist, sendet Gott vor dem Gericht vom Osten her einen
Fürsten, der eine glückliche Epoche für das Volk Gottes herausführt, während
dann nach der großen Katastrophe erst die allgemeine Friedcnsära auf der ganzen
Erde eintritt. -Jener Fürst vom Osten bezieht sich ohne Zweifel auf enim
Makkabäer, wie aus dem Buch Henoch hervorgeht, das bei der Schilde¬
rung der Herrschaft des Johannes Hyrkanos, gleichfalls vor dem Gericht, auf
welches dann die messianische Periode folgt, mit besonderem Nachdruck verweilt.
Dies hing nun zunächst ganz mit den damaligen politischen Verhältnissen zu¬
sammen, welche den Gedanken nahelegten, daß die Wiederaufrichtung des po¬
litischen Fürstenthums die Einleitung zu der großen Entscheidung bilde. Aber
es führte bald weiter. Man begann eine glückliche Zeit vor dem Gericht zu
hoffen. Je mehr das letztere allmälig ins Wunderbare ausgemalt wurde, wäh¬
rend man doch die politische Idee festhielt, um so mehr trat beides auseinander,
das Messiasreich und das Gottesgericht, und es war schließlich nur consequent,
wenn jenes vor das letztere gestellt wurde. Zunächst aber war ein unsicheres
Schwanken in den chronologischen Bestimmungen die Folge. Neue Vorstellun¬
gen wie die von der künftigen Auferstehung der Todten, später die von einem
Ort der Seligkeit und der Verdammniß, an welche die Seele sofort nach dem
Tod gelange, reißen das alte prophetische Schema aus den Fugen, die Grenzen
zwischen der gegenwärtigen und der künstigen Weltepoche werden unsicher. Als
Jesus auftritt, können ihn — den Evangelien zufolge — Einige bereits als
den Messias anerkennen, während die Mehrzahl, der älteren Lorstellung getreu,
ihn nur für einen der Propheten hält, die als Lorläufer vor dem Gericht kom¬
men sollten. Noch während des jüdischen Kriegs unter Titus scheint die ältere
Vorstellung dominirt zu haben, da wenigstens von keiner Seite ein Messias
auftrat. Erst im vierten Buch Esra, welches in der christlichen Aera, etwa
96 bis 98 unsrer Zeitrechnung, von einem frommen Pharisäer verfaßt rst, aber
schon mannigfache christliche Einflüsse verräth, kommt der Messias bestimmt vor
der großen Katastrophe. Er kommt auf den Wolken vom Himmel herab, denn
so wurde jetzt die bekannte danielsche Stelle ausgelegt. Aber er ist ein irdischer
König, sein Reich hat eine begrenzte Dauer, und die Vorstellung, daß der
Messias der Weltrichter sei (die wir aber auch in der Offenbarung des Jo¬
hannes noch nicht finden), wird ausdrücklich unter deutlichem Protest gegen die
christliche Lehre zurückgewiesen. Während der letzten Erhebung der Juden gegen
die Römer im Jahre 132 n. Chr. war die neue Idee von dem Kommen des
Messias vor der Katastrophe schon so weit durchgedrungen, daß Bar-Kochba
als der Messias anerkannt werben konnte, Es brauchte jetzt nicht mehr erst
der Katastrophe des Gerichts, damit der Messias, der nationale Heros erscheinen
konnte. Diese letzte Lebensciußerung des nationalen Judenthums beweist am
besten, wie eng der Messiasbegriff bei den Juden an ihre politischen Hoffnungen
gebunden blieb. Dennoch ist unverkennbar, daß die messianischen Vorstellungen,
wenn wir sie im weiteren Sinne fassen, im Lauf der Zeit mehr und mehr ngch
der geistigen Seite ausgebildet und ihrer schroffen sinnlich-nationalen Bestandtheile
entkleidet wurden. Hierdurch wird eben die Auflösung des alten bei aller Frei¬
heit der dichterischen Phantasie doch in den Grundzügen geschlossenen Messias-
typus herbeigeführt und die spätere Umdeutung des ganzen Vorstellungskreises
ins Geistige vorbereitet. Allerdings hatten der Messiaserwartung niemals
ideale Momente gefehlt. Es war ja ein thevkratisches, ein Gottesreich, welches
die Geschicke des Volkes vollenden sollte, und die alten Propheten hatten die
geistige Umwandlung, welche dann mit dem Volte vorgehen werde, in beredter
Weise geschildert. Allein jene siegreiche Schlacht gegen die Heiden bildete doch
die Voraussetzung dieses Reichs. Der Triumph über die fremden Völker, unter
deren Herrschaft man seufzte, blieb der dominirende Gesichtspunkt; auch die
Bekehrung der Heiden, welche schon einige der älteren Propheten nach der Ka¬
tastrophe eintreten ließen, wurde als eine Unterwerfung unter Jehova als den
Gott der Juden gedacht. Während der Verbannung erlitt dieses einseitig par
ticularistische Bewußtsein einen ersten Stoß. Die Juden waren in vielfache"
Berührung mit den Heiden gekommen, hatten von ihnen Sitten und Kennt¬
nisse, selbst religiöse Vorstellungen angenommen; ihr Horizont erweiterte sich,
ein universalgcschichtliches Interesse begann den starren Nationalismus zu durch¬
brechen. Konnten sie sich auch die Zukunft nicht anders als den definitiven
Sieg und die Vollendung ihrer Sache denken, so wurde doch auch der Verlauf
des Heidenthums als ein nothwendiges, im göttlichen Heilsplan vorherbestimm¬
tes Glied des Weltganzen anerkannt. Es waren eben die Apokalypsen der
Makkabäerzeit, in welchen dieser erste Schritt gegen den Universalismus hin
geschah. ,
Jene Umänderung vollzog sich aber ganz besonders an dem Begriff des
Gerichts. War das Gericht ursprünglich nichts andres als der letzte Entschei¬
dungskampf mit der Heioenwclt. so wurde zwar diese Bedeutung fortan fest¬
gehalten, aber es entwickelten sich daran bald auch diejenigen Momente, welche
im Begriff eines Gerichtes liegen. Die Scene wurde ein wirklicher Gerichtsact,
eine Entscheidung zwischen Guten und Bösen, und es beweist schon ein Nach¬
lassen des schroffen Particulansmus, wenn dieses Gericht zu einer Scheidung
der Guten und Bösen innerhalb des erwählten Volks selbst wird. Indem
ein Theil der Juden als abtrünnig verworfen wird und andrerseits ein Theil
der Heiden sich zur wahren Gottesverehrung beugt, kommen die nationalen An¬
schauungen in einen Conflict mit den moralischen, oder vielmehr die letzteren
beginnen als die höheren anerkannt zu werden. Die weitere Folge ist die,
daß die Schlacht und der Genchtsact, welche ursprünglich identisch sind, nun
auch zeitlich auseinanbertreten. So sehen wir im Buche Henoch eine Folge
von verschiedenen Schlachtscenen sowohl als von Gerichtssccnen. Die ursprüng¬
liche Bedeutung des Gerichts hat sich jetzt verloren, das politisch-nationale Er-
eigniß wird zum Finale des Weltdramas, und es beweist nur, wie ungeschickt
noch die Verfasser sind, diese kolossale Idee zu bemeistern, wenn sie in der Schil¬
derung desselben immer wieder neue Ansätze machen und Scene auf Scene
häufen, um den Inhalt möglichst zu erschöpfen.
Vom Buch Daniel 'an kommt nun dazu noch die dem Parsismus entlehnte
Vorstellung von einer Auferstehung, der Todten zum Gericht und zur Theilnahme
an den Freuden des künftigen Reichs, und, wie phantastisch sie ist, so liegt doch
auch hierin ein bedeutsames Moment der Verallgemeinerung. Die Katastrophe
wird weit über das äußere historische Ereigniß hinausgehoben, wenn nicht blos
die zufällig damals Lebenden davon betroffen werden. Indem den Gestorbenen
ein zweites Leben eröffnet wird, dämmert der Begriff des Jenseits auf, das
Gericht wird in eine höhere ideale Form gerückt, es bekommt welthistorische,
ja kosmische Bedeutung, und wenn gleichwohl die politischen Erwartungen nicht
aufgegeben werden, so ist die Folge, daß beides getrennt und schließlich das
Messiasreich als eine Episode des gegenwärtigen Weltverlaufs betrachtet und
das Gericht an das Ende verlegt wird. Eben dies ist die tiefere Bedeutung
jener chronologischen Umwälzung. Selbst das Zurücktreten der messianischen
Persönlichkeit ist nur ein Beweis, wie der ganze Vorstcllungskeis sich erweiterte
und vergeistigte. Bei Philo sehen wir die politischen Vorstellungen nahezu
überwunden. Die Pharisäer, welche so start den theokratischen Charakter des
künftigen Reichs betonen und zu den politischen Bewegungen vor und nach
Jesus wesentlich den Anstoß geben, bilden gleichwohl die ethischen Bestimmun¬
gen des Reiches Gottes als einer Herrschaft der Gerechtigkeit Aller vor Gott,
als eines allgemeinen Priesterthums besonders aus. Und in der Vorstellung,
daß jede Seele gleich nach dem Tode an einen Ort der Wonne oder der Qual
verseht werde, die wir nicht blos bei den Essäern finden, sondern welche bereits
allgemeiner Volksglaube gewesen zu sein scheint, wie aus dem Gleichnis; vom
reichen Mann und vom armen Lazarus zu schließen ist, tritt eine Idee auf,
welche nur consequent gedacht zu werden brauchte, um die ganze Symbolik der
Eschatologie über den Haufen zu werfen. Denn was kann ein Schlußgericht
hinzufügen zu der Seligkeit, deren die Einen, zu der Qual, deren die Anderen
schon mit dem Eintritt des Todes theilhaftig werden?
Hieraus erhellt nun, mit welchem Recht Colani sein Schlußurtheil dahin
fällt, daß die Messiasidee nur Ausdruck des exclusiver Patriotismus des jüdi¬
schen Volkes war, daß Jesus mit diesem Messias nicht das Mindeste gemein
hatte, und daß folglich diese Idee gar keinen Einfluß auf das Werk Jesu ge¬
habt habe. Es ist wahr, der Messias war den Juden nichts anderes, als ein
theokratischer König, und insbesondere ist alles, was von einem leidenden,
sterbenden, sich opfernden Messias im alten Testamente stehen soll, erst durch
die christliche Auslegung in dasselbe hineingetragen worden. Aber es ist nicht
minder wahr, daß gerade die Idee eines persönliche» Messias sehr in den
Hintergrund gedrängt war durch andere Vorstellungen, die in enger Verbindung
mit ihr standen, und deren allmälige Ausbildung über den exclusiver Natio¬
nalismus weit hinausführte und die spätere Umdeutung des ganzen Messias-
glaubens ins Geistige einleitete. Auch von dieser Seite her ist die Vorbereitung
welche das Christenthum in den vorausgegangenen Neligionsbildungcn fand,
nicht zu verkennen, und es ist nur das natürliche Seitenstück dazu, das; wir
auch das christliche Mcsfiasideal keineswegs mit einem Mal fix und fertig, viel¬
mehr auch nach Jesus in einen geschichtlichen Proceß gestellt finden, in welchem
es sich von verhältnißmäßig gröberen, sinnlicheren und particnlaristiscberen For¬
men erst loszuringen hat zu höheren und geistigeren Anschauungen. Die Offen¬
barung des Johannes, welche den Standpunkt des ältesten Christenglaubens
repräsentirt, fleht unstreitig den jüdischen Büchern Henoch und Esra nicht ferner,
als dem vierten Evangelium.
Aber in welchem Verhältniß stand nun Jesus persönlich zur Messiasidee?
Offenbar ist durch die Uebersicht über ihre historische Entwickelung für diese
Hauptfrage wenig genug gewonnen. Wir haben allerdings zwei Grenzpunkte.
Unsere sichere geschichtliche Kenntniß hört auf in der Zeit des Herodes. und
sie beginnt wieder mit dem schon festgcbildcten Glauben der Jünger an die
Messianität Jesu. In die durch diese Endpunkte bezeichnete Lücke fällt aber
nicht blos die Erscheinung Jesu, sondern auch die Bildung des Messiasglau¬
bens der Jünger, und die Frage ist eben, ob wir noch-im Stande sind, mit
Sicherheit zu unterscheiden, was wir Jesus selbst zuzuschreiben und was wir erst
auf Rechnung des Jüngerglaubens zu bringen haben.
Colcmis Ansicht kennen wir bereits. Es Ist im Wesentlichen dasselbe Re¬
sultat, zu welchem auch die neuere deutsche Wissenschaft fiel, neigt. Aber er
gelangt dazu auf einem eigenthümlichen Wege. Anstatt, wie z. B. Strauß,
vorsichtig aus den vermuthlich ältesten Bestandtheilen der Evangelien das reli¬
giöse Bewußtsein Jesu herzustellen und daraus dann auch sein Verhältniß zur
Messiasidee abzuleiten, geht er sofort mitten in die Sache, hält sich an eine
Erzählung, der er unbedingt geschichtliche Autorität vindicirt, und macht sie
zum Mittelpunkt seiner Schlußfolgerungen. Es ist die Erzählung von dem
Bekenntniß des Petrus, in welcher allerdings die drei ersten Evangelien auch
in den Orts- und Zeitbestimmungen auffallend zusammentreffen. Es ist kurz
vor dem Ausdruck) Jesu zu schien entscheidenden Gange nach Jerusalem; da
richtet er an seine Jünger die Frage: wer sagen die Leute, daß ich sei? Sie
antworten: Einige sagen, du seiest Johannes der Täufer, Andere, d» seiest
Elias oder ein anderer der Propheten. Jesus fährt fort: und was saget ihr,
daß ich sei? Petrus antwortet: Du bist der Messias (Christos), der Sohn
des lebendigen Gottes, ein Bekenntniß, das Infus unter Seligpreisung des
Petrus annimmt, aber weiterzuverbreiten verbittet. Von dieser Zeit beginnt er
dann auch von seinem bevorstehenden Leiden zu sprechen. — Auch Baur hat
in dieser Erzählung wiederholt die Spur eines geschichtlichen Vorganges an¬
erkannt, der einen Wendepunkt in dem messianischen Bewußtsein Jesu bezeichne.
Colani ist kühner und führt nun von diesem Punkte aus in einem glänzenden
exegetischen Versuche aus, daß Jesus erst im Moment des Aufbruchs nach
Galiläa sich den Mcssiasnamen beigelegt, daß er aber von ihm nur die Idee
eines geistigen Hauptes der Menschheit sich angeeignet habe, daß er wohl
Messias sein wollte, aber nicht ein triumphirender, sondern ein leidender und
sterbender, daß er das Gottesreich als ein universelles menschheitliches Ideal auf¬
gefaßt und an die Stelle der Katastrophen der Apokalypse» den Begriff einer
organischen Entwicklung gesetzt habe. Auch nach dem Vielen, was schon über
das Reich Gottes, den Namen Menschensohn u. s. w. geschrieben worden ist
wird man die Erörterungen Colanis mit Nutzen lesen. Das Ganze ist eine
originelle, scharfsinnig begründete Hypothese. Aber es ist doch nur Hypothese.
Zwei gewichtige Einwendungen liegen nahe. Wenn Jesus das Gottes¬
reich rein geistig faßte, wenn er mit dem Messiasnamen einen ganz andern
Begriff verband, als die jüdische Lorstellung war, wie kam es, daß er über¬
haupt diesen Titel annahm, daß er sich also, — wie man fast sagen muß —
für einen anderen ausgab, als er war? Und dann: wie kommt es, daß wir
in der ersten Gemeinde, bei den eigenen Jüngern Jesu doch wieder einen weit
sinnlicheren und selbst particularistischeren Messiasbegriff finden, der sich erst
durch die inneren Entwickelungen des Christenthums der ersten zwei Jahr¬
hunderte läuterte, aber auch zugleich so ins Uebernatürliche steigerte, daß er
im Grund sich von dem Gedanken Jesu noch weiter entfernte? In diesen bei¬
den Fragen liegt offenbar die Hauptschwierigkeit des ganzen Problems, das
nur durch eine Erklärung des urchristlicher Bewußtseins ganz gelöst werden
könnte.
Letzteres nun lag der Untersuchung Colanis ferner. Aber dem ersteren
Einwand, wie Jesus trotz seines geistig hohen und freien Standpunkts seinem
Berufe jene Aufschrift habe geben können, sucht er einmal durch die Erinnerung
an die allegorische Schnftauslcgung zu begegnen, deren sich damals jedermann
bediente. Jesus konnte es also aus Stellen des alten Testaments herauslesen,
daß der künftige König Israels anstatt ein zweiter David zu werden, das Loos
der Propheten und des „Knechts Gottes" im Jesaia theilen werde. War der-
Messias nicht ein siegreicher König, sondern vielmehr ein Opfer, so konnte er
unbedenklich sich für den Messias halten. Allein dieselbe Umwandlung des
Messiastypus war auch möglich ohne diese künstliche Herleitung aus der Schrift.
Jesus fühlt mehr und mehr seine Bestimmung, ein Mann des Opfers zu sein,
das Leben für seine Sache zu lassen; denn er kann nicht in Galiläa bleiben
ohne zurückzuweichen, und er kann nicht den Mächten in Jerusalem entgegen¬
gehen ohne sich dem sichern Tod auszusetzen. Dieses Entschlufies einmal ge¬
wiß, erkennt er es als Gottes unwürdig, wenn der Messias ein solcher wäre,
wie ihn die Juden erwarten und die Propheten verkündigten, daß der Messias
vielmehr nothwendig der sein müsse, der er selbst ist, der Mann dus Opfers,
da im Reich Gottes nichts großer ist als den Brüdern zu dienen und für '.sie
zu sterben. Oder aber — die andere Möglichkeit — Jesus, der sich seit lauge
als der große Religionsstifter der Menschheit fühlt, nimmt nicht ohne Wider¬
streben den Titel Messias an, als denjenigen, der im Geist der Jünger am
leidlichsten seiner Mission entspricht, nur daß er sofort die Perspektive des
Martyriums eröffnet, und er muß sich für den Messias erklären, damit sie
aufhöre» einen anderen zu erwarten. Nach der letzteren Ansicht accommodirt sich
also das Evangelium äußerlich dem Messianismus aus Rücksicht auf die Schwäche
der Jünger. Nach der andern wandelt das Evangelium den Messianismus um,
asstmilirt ihn sich, behält den Namen, der aber einen Völlig anderen Inhalt
bekommen hat und wirft das Andere zur Seite. Welche von beiden Erklärungen
hat mehr Wahrscheinlichkeit? Aber, fahrt Colani fort, muß man nothwendig
zwischen beiden wählen? Das geistige Leben, insbesondere das der Größten und
Besten, spottet unserer Classificationen, es ist weiter, complicirter und zugleich
spontaner. Gewiß, seitdem Jesus sich als wahres Haupt des Reichs Gottes
fühlte, mußte er sich fragen, ob außer ihm Raum für einen Messias sei, er
mußte sich sagen, daß der einzige Messias, den in Wahrheit die Propheten
ankündigen konnten, nur er war, der Mann der Schmerzen. Aber andrerseits
konnte er diesen Titel, der nichts zu seinem Ruhm hinzufügte, nur in Rücksicht
auf die Jünger annehmen, weil er in ihren Augen, wenn er nicht der Messias
war, auch nicht ihr oberstes Haupt sein konnte. Es war also beides zugleich,
eine Vergeistigung der Messiasidee und eine Accommodation.
Es ist also schließlich nur die bedenkliche Accommvdationstheorie, durch welche
Colani seine Hypothese zu stützen vermag, — bedenklich, weil sie Jesus den
Jüngern gegenüber einen bedeutsamen Titel annehmen läßt, den er nach den
übrigen Voraussetzungen sich nicht mit voller Ueberzeugung aneignen konnte.
Hat Jesus sich die Messiasidee angeeignet, so mußte dies, wie Strauß sich
ausdrückt, im Wesen eine innerlich entsprechende That sein. Umgekehrt, je höher
wir Jesus mit seinen Ideen vom Gottesreich stellen, um so schwieriger ist zu
erklären, wie er sich in die Rolle des Messias hineindenken konnte. Die Frage:
wie konnte Jesus einen unter jenen Voraussetzungen so mißverständliche» Titel
cnnrehmen, der auch in der That mißverstände» worde» ist. so daß die Folgen
des Mißverständnisses heute noch nachwirken, ist nicht beantwortet und sie wird
nicht zu beantworten sein, wenn es nicht gelingt, schärfer als bisher geschehen
ist. vom Bewußtsein Jesu dasjenige auszuscheiden, was erst das Bewußtsein
der Jünger nach der großen Krisis der Auferstchungsvisionen in dasselbe hinein¬
gelegt hat. Es treibt an diesem Punkt noch eine Art von Hacmvnistck >hr
Wesen, die ebenso zu beseitigen ist wie auf dem Gebiet der Evangelienkiitik.
Zu dieser Aufgabe hat aber Colani selbst am Schlüsse seines Buchs einen
sehr wesentlichen und verdienstvollen Beitrag geliefert durch seine Untersuchung
über die Ansichten Jesu in Betreff der zukünftigen Dinge. Das Kapitel: „Hat
Jesus geglaubt, daß er nach dem Tode wiederkehren werde, um das wahre
messianische Reich zu gründen?" ist ein Meisterstück der Kritik. Die apokalyp¬
tischen Rede», welche die Evangelisten Jesus in den Mund legen, waren immer
ein mißlicher Punkt für den Biographen. Glauben zu sollen, daß Jesus selbst
seine Auferstehung und seine Wiederkunft auf den Wolken des Himmels zum
nahe bevorstehenden Weltgericht Vorausgesagt habe, war eine starke Zumuthung,
und doar schien nichts so sicher bezeugt zu sein als diese Reden. Zwar daß sie
in der uns überlieferten Form nicht echt sein können, lag wenigstens bei einem
Theil derselben nahe genug, nämlich bei denjenigen, unter welche die Tradition
Züge ans der Zerstörung von Jerusalem gemischt hat. Allein für die Haupt¬
sache war banni wenig gewonnen. Renan war der katholischen Tradition am
treuesten geblieben und hatte ans den Glauben Jesu an sein schwärmerisches
Wiederkommen >in Grund seine ganze dramatische Charakterentwicklung gebaut.
Baue schrieb zwar Jesus ein weltrichtcrliches Bewußtsein zu / „weil die Lehre,
nach deren Norm die Menschen gerichtet werden, seine Lehre ist," wies aber
den concreten sinnlichen Ausdruck in den Evangelien ab. Schleiermacher erklärte
den ganzen Gegenstand sür eine der schwersten Aufgaben, die man gar nicht
hoffen könne befriedigend zu lösen, gab aber deutlich zu verstehen, daß, was
Jesus von seiner Wiederkunft und vom Gericht sage, nicht buchstäblich, sondern
nur als Parabel genommen werden könne. sah enkei meint, Jesus könne wohl die
nunmehr beginnende Periode der christlichen Weltgemcinde als die Periode seiner
Zukunft, gleichsam seiner zweiten Ankunft auf Erden beschreiben. Dabei sei es
ganz natürlich, daß er sich der dem theokratischen Bvrstellungskreise geläufigen
Bildersprache bediente, aber ebenso natürlich sei, daß ihn die Jünger mißver¬
standen. Dagegen sagt Keim, nur in der Idee der Wiederkunft mit göttlicher
Glorie habe Jesus das glühende Mcssiasbewußtscin mit dem unerbittlichen
Todesschicksal ausgleichen können. Auch für Weizsäcker gehört es zu den ge¬
wissesten Bestandtheilen der Geschichte Jesu, daß er seine Wiederkunft mit dem
Himmelreich vorausgesagt habe. Allein das weiuichtcrliche Bewußtsein Jesu
saßt er doch nur wie Baue; eine Apokalypse der Zukunftsgeschichte habe Jesus
nicht gegeben, und die einzige Angabe, die man auf ihn selbst zurückführen dürfe,
sei die, daß das gegenwärtige Geschlecht die künftigen Dinge selbst noch erleben
werde. SNauß, der, wie immer, am umsichtigsten die Gründe für und wider
erörtert, wagt gar kein abschließendes Urtheil auszusprechen, doch scheint seine
Meinung eher die. daß es psychologisch undenkbar sei, Jesus jenen Glauben zu¬
zuschreiben. Neuerdings hat Zeller eine sinnreiche Hypothese aufgestellt. Die
Aorm der Zukunftsreden giebt er preis; allein wenn auch nur hypothetisch,
habe Jesus doch deuten müssen: falls ihm der Tod bestimmt sei, werde dies
nicht das Letzte sein. Denn so lange er sich für den Messias hielt, habe er von
der persönlichen Betheiligung an der Stiftung des Reichs nicht abgehen können.
Aber er mildert die Undenkbarkeit dieser Vorstellung einmal durch die Erinne¬
rung an den weliüberwindendcn Idealismus, an den felsenfesten Glauben an
die Zukunft, der hinter dieser Hülle lag, und dann durch die Hindeutung auf
den der damaligen Judenwelt geläufigen Auscrstehungsglauben. Der Glaube
an seine Wiederkunft sei nur die eigenthümliche durch sein messianisches Be¬
wußtsein bestimmte Anwendung eines Glaubens gewesen, der allen gemein war;
die Auferstehung sollte sich an ihm blos zuerst vollziehen, und damit die Voll¬
endung des messianischen Reichs eintreten.
Colani weist vor allem, und mit Recht, die Annahme, daß jene Reden
bildlich zu nehmen seien, in ihre gebührenden Schranken zurück. Jesus habe
sich allerdings der Bildersprache und der Begriffe seiner Zeit bedienen können
und wirklich bedient, aber die Accommodation habe ihre Grenzen und niemand
könne in einem Kurs der Astronomie, wenn es sich darum handle, die Be¬
ziehungen der Sonne zur Erde darzulegen, sagen: die Sonne geht aus, die
Sonne geht unter. Und nun weist er — nicht vom Standpunkt der psycholo¬
gischen Denkbarkeit oder Undenkbarkeit, was doch zumal bei einer so außeror¬
dentlichen Erscheinung immer eine zweifelhafte Instanz bleibt — sondern auf
exegetischen Weg, durch Untersuchung der einzelnen Stellen, durch Vergleich der
Berichte, durch Gegenüberstellung von Worten größerer und geringerer Authentie
nach, daß jene Wiederkunftsrcden unecht seien und Jesus weder geglaubt habe,
auferweckt zu werden, noch wiederzukommen, noch dem Schlußgerichte vor-
zustehn.
Dieser negative Beweis ist überzeugend geführt. Vielleicht daß sich durch
ein ähnliches Verfahren noch weitere Resultate gewinnen lassen. Nachdem durch
Strauß die Kritik des Thatsächlichen in der evangelischen Geschichte abge¬
schlossen ist, wäre es vielleicht an der Zeit, die uns überlieferten Reden Jesu
gleichfalls im Zusammenhang zu untersuchen, und so die Aufzeigung der my¬
thischen Geschichte durch die Aufzeigung der mythischen Reden zu ergänzen. An
wichtigen Vorarbeiten fehlt es nicht. Es handelt sich blos darum, Forschungen;
deren Resultat bisher nur nach der Seite des apostolischen und nachaposto¬
lischen Zeitalters verwerthet worden sind, auf die Geschichte Jesu anzuwenden.
Was auch das Ergebniß wäre, das wirkliche Geschichtsbild Jesu könnte davon
nur gewinnen, wie ja erst durch den Nachweis der mythischen Elemente das,
was wir vom Leben Jesu noch wissen können, sicher gestellt worden ist. Aber
auch davon könnte nicht die Rede sein, daß damit der Größe der Persönlichkeit
unseres Religionsstifters Eintrag geschähe. Denn alles das, womit die Phan-
tasie und das Glaubensinteresse der Jünger nach dem Hingang ihres Meisters
sein Bild ausstatteten, vergrößerten und endlich über die Wolken erhoben, giebt
doch nur Zeugniß für den ungemeinen, unauslöschlichen Eindruck, welchen diese
einzige Persönlichkeit in den Jüngern und durch sie in der ganzen Menschheit
Hessen spielte bekanntlich in dem großen Drama des letzten Krieges mit
Frankreich eine ganz abgesonderte Rolle. Dem Regenten wie dem Volke war
es versagt, selbstthätig nach irgendeiner Seite hin mit einzugreifen und so
wurde einer der tüchtigsten deutschen Volksstämme, in welchem Patriotis¬
mus, Muth und Aufopferung reichlich zu finden sind, zu kläglichster Passivität
verurtheilt, Dank deren er den harten Druck der übermüthigen Eroberer am
empfindlichsten und am längsten ertragen mußte.
Der Hesse ist sprichwörtlich bekannt als der beste, tapferste, hingebcndste
Soldat; aber bei keiner deutschen Truppe ist der Probierstein an all die gu¬
ten Eigenschaften schärfer angesetzt worden, als bei der hessischen. Trotz der
peinlichsten Situationen, der verführerischesten Anfechtungen, in die er gerieth,
hat sich der hessische Kriegerstand bis auf den heutigen Tag musterhaft verhalte»,
nie ist er durch eigenes Verschulden mit einem Makel behaftet worden.
Was bei solcher Eigenschaft der hessische Soldat während der napoleonischen
Herrschaft gelitten, kann nur der ermessen, der diese Zeit bis ins Einzelne zu
würdigen weiß. Es drängt sich aber zunächst die Frage auf: wie sind die
armen Hessen in jene Calamität hineingcrc>N,en und war es möglich, ihr zu ent¬
gehen? Würde unter anderen Umständen der leichtfertige Jerome König von
Westphalen geworden sein und hätte er wohl seine luftige Negentenbude ge¬
rade im Herzen des Kattenlandes aufgeschlagen? Vom hessischen Gouvernement
ist bekanntlich am wenigsten gethan worden, Aufklärung zu geben, und Eingang
in die hessischen Archive sich zu verschaffen, ist bis jetzt ein Ding reiner Un¬
möglichkeit gewesen. Selbst sür den bekannten hessischen Geschichtsschreiber
Nommel blieb vieles unter Schloß und Riegel. So müssen uns denn Auf¬
zeichnungen einsichtiger, urteilsfähiger und solider Männer aus der betreffenden
Zeit besonders willkommen sein. Dem Einsender dieses liegen solche von einem
höheren hessischen Militär vor, wie er sie im März 1807 niedergeschrieben.
Der Leser wird finden, daß das Ganze das Gepräge der Wahrheit, Unpartei¬
lichkeit und der genauesten Kenntniß trägt. So wollen wir denn auch das
interessante Schriftstück seinem wesentlichen Inhalte nach wiedergeben.
Das harte Schicksal des Kurfürsten von Hessen und seiner braven Militärs
begann mit der Besitznahme Kassels durch den Marsch all Mortier am
1. November 1806. Wir fragen zunächst, gab es kein Mittel, wodurch jene
schimpfliche Lage hätte gemildert werden können?
Um darauf richtig zu antworten, muh man sich die Bemühungen des preu¬
ßischen Cabinets seit dem Juli des Jahres 1806, den Kurfürsten zur Theil¬
nahme an dem nun einmal so unvorsichtigen Kriege gegen Frankreich zu be¬
wegen, und das Betragen des Letzteren gegen Napoleon vergegenwärtigen.
Da er wußte, wie mißlich die Lage seines Landes im Fall eines Krieges gegen
Frankreich sei, und da er eingedenk war, wie oft ihn schon das preußische
Cabinet durch Versprechungen getäuscht, ja hintergangen hatte, widerstand der
Kurfürst lange den directen Anmuthungen Preußens sowie den Anreizungen
vieler durch preußische Vorstellungen elektristrter Stimmen seiner Umgebung.
Dennoch schienen zu Anfang September diese Machinationen zu siegen, denn
es wurde befohlen, einen Theil der Truppen mobil zu machen, sowie auch die
beiden unbedeutenden und unhaltbaren Festungen Ziegenhain und Hanau einiger¬
maßen in Vertheidigungsstand zu setzen; aber alles wurde so heimlich, so kärg¬
lich, so langsam betrieben, daß die Verständigen an einer Verbindung mit
Preußen um so mehr zweifelten, als man bestimmt wußte, daß der Kurfürst um
Beibehaltung seiner Neutralität in Paris nachgesucht hatte und noch in Unter¬
handlungen darüber stand. Als jedoch im October die Mobilisirung der Ka¬
vallerie factisch in Angriff genommen, auch ein Corps unter dem Vorwande
des Manvvrirens zwischen der Edder und S chwalm, in enge Cantonnirungen
verlegt wurde, schien die Theilnahme am Kriege mehr als wahrscheinlich*).
Dieses Corps, wozu noch drei Bataillone und fünf Schwadronen, letztere aber
noch unvollständig beritten, stießen, rückte den 11. October in die Gegend von
Ziegenhain und besetzte die darmstädtsche Grenze, jedoch mit der Weisung,
diese nicht zu überschreiten, sowie keine Feindseligkeiten gegen Frankreich und
dessen Verbündete auszuüben und nur bei einem Angriff Gewalt mit Gewalt zu
vertreiben. Einige Tage zuvor traten indeß Begebenheiten ein, welche den ent¬
scheidendsten Einfluß auf das Schicksal des Kurfürsten und seines Landes, viel-
leicht auch auf die preußische Armee gehabt haben. Die nachgesuchte Neu-
tralitätszusichcrung kam aus Paris unter der Bedingung an: daß der Kurfürst
seine Truppen auf dem Friedensfuß lassen und keine Preußen aufnehmen
würde,*). Ferner aber rückte der Vortrab des blücherschcn Corps aus Westphalen
kommend in Hessen ein und marschirte durch Kassel, wahrscheinlich um sich
mit den Hessen zu vereinigen und mit diesen dann gemeinschaftlich gegen den
Main zu operiren. Das war der Moment, wo für den Kurfürst die Alter¬
native eintrat, entweder mit Preußen zu stehen und zu fallen und dann seine
Truppen nach schleunigster Einziehung aller Beurlaubten der Feld- und Gar¬
nisonregimenter, wodurch ein Corps von 18 bis 20,000 Mann anwuchs, mit
denen des Königs zu vereinigen, oder, was das Vernünftigere war, bei der
mangelhaften Verfassung der preußischen Armee die Neutralitätszusicherung
Napoleons anzunehmen und zu proclamiren, und die Truppen zu entlassen.
Leider geschah keines von beiden; der Kurfürst reiste schleunig ins preußische
Hauptquartier nach Erfurt und bewirkte, daß das blüchersche Corps umkehren
und einen anderen Weg einschlagen mußte, wodurch in diesem kritischen Augen¬
blick die Operation des rechten Flügels der preußischen Armee wenigstens ab¬
geändert und eine kostbare Zeit verloren wurde. Das hessische Corps blieb
inzwischen ruhig in den Cantvnnemcntsquartieren bei Ziegenhain liegen, man
fuhr fort zu mobilisircn, ohne jedoch die auf Urlaub befindlichen Mannschaften
einzuziehen. Daß der Kurpünz zur preußischen Armee abging, geschah, wie
man sagte, gegen den Willen seines Vaters.
Die halben Maßregeln hätten wie immer, so auch hier, Verderben zur Folge.
Nach dem späteren Verlauf der Dinge würde das Unglück von Jena allerdings
auch eingetreten sein, wenn das hessische Corps sich mit den Preußen vereinigt hätte;
aber man hätte dann doch einen Entschluß gehabt. Auf diese Weise jedoch konnte
man nur die Ungunst des Geschickes auf sich ziehn. Um einige Tausend Thaler
zu sparen waren die Beurlaubten auch jetzt noch nicht alle eingezogen, es fehlte
noch an vielen zum Kriegführen sehr wesentlichen Dingen, besonders an Pul¬
ver, was auch in der kurzen Zeit nicht wohl mehr zu beschaffen war.
Am 14. October erfolgte nun die Niederlage der Preußen. Das furcht¬
bare Ereigniß ist noch lange nicht befriedigend aufgeklärt. Ob zu dieser Cam-
") Am 2. October 180ti hatte der Fürst von Ben event um den hessischen Botschafter
in Paris, den Minister v, d. Malsburg geschrieben:
I,a Hesse emane sein armes 8ur Is piecl or6iua!re <Ze paix se us relevant point as
trouxss xrussisrmes, aura rempli envers la Graues Iss von<Zitions 6'nov voi'itadte neu-
tralits, äavs la Situation on Nils so trouvs xlaess,
La Najsstv I'^inpersur se Roi reeovuaitra oetts neutralite, se Is,, rsspeeterg, aveo
uns üäslits xartaits.
pagne bei der preußischen Armee ein vernünftiger Operationsplan für den
Angriff entworfen gewesen ist. bleibt ziemlich zweifelhaft. Der Schreiber dieser
Mittheilungen befand sich Ende des Monats August am unteren Main, als
Einer seiner Bekannten ihm folgende Stelle aus dem soeben erhaltenen Briefe
eines nicht unbedeutenden preußischen Offiziers, von Gotha geschrieben, vorlas:
„Der Krieg gegen Frankreich ist beschlossen; zwischen hier und Jena werden
die ersten Schläge ausgetheilt werden." Das Letztere war mir zu unwahr¬
scheinlich, als daß ich nicht darüber hätte lächeln sollen, und doch hat der Er¬
folg alles bewahrheitet. —
Am 16. October erklärte Mr. B ignon, kaiserlich französischer Gesandter
zu Kassel, die Neutralität des Kurfürsten sür treulos (por-Lele). weil die Truppen
zum Theil noch versammelt und die auf den Kriegsfuß gesetzten nicht wieder
demobilisirt wären. Hätte sich nach dieser Erklärung der Kurfürst entschließen
können, sogleich zum Kaiser zu reisen, um sich mit ihm zu verständigen, er
würde wahrscheinlich sich und sein Land gerettet haben; so aber wurden von
diesem Augenblick an, Gott weiß auf wessen Rath, die widersprechendsten
Maßregeln getroffen. Von dem bei Ziegenhain zusammengezogenen Corps
marschirten nun nach und nach S Bataillone und 20 Schwadronen in ihre
Garnisonen zurück, mußten auch die von den Bauern erhaltenen Pack- und
Wagenpferde an dieselben wieder zurückgeben; aber zu eben der Zeit wurde
auch die Mobilmachung von noch 5 Bataillonen und einer Batterie schwerer
Artillerie anbefohlen. — Diese auf so ganz entgegengesetzte Zwecke abzielenden
Befehle mußten natürlich bei jedermann Mißtrauen und Verwunderung er¬
regen. In und um Ziegenhaiu blieben nur noch 7 Bataillone, 3 Schwa¬
dronen Husaren und 130 Jäger, in allem kaum 3000 Mann stehen.
Vom 7. October an sammelte der Marschall Mortier das 8. Corps der
großen französischen Armee in der Gegend von Frankfurt, die kurhessische Grenze
deS Fürstenthums Hanau wurde jedoch, wie bisher, genau respectirt. Den
22. October setzte sich dieses Corps in Marsch und schien, der eingeschlagenen
Direktion nach, der großen Armee durch Sachsen folgen zu wollen; am 29.
rückte dasselbe jedoch ganz unerwartet über Fulda, ungefähr 6000 Man» stark,
in Herschfeld ein. Der Marschall äußerte noch immer die friedlichsten und
freundschaftlichsten Gesinnungen, vorgebend, daß er vom Kaiser Befehl erhalten
habe, über Münden ins Hannöversche zu mcirschiren. Den 30. ging dieses
Corps bis Melsungen und es wurde befohlen, den andern Tag weiter bis Mün¬
den zu marschiren, dieser Befehl aber den 31. October Morgens unter dem Vor¬
wand abgeändert, daß die Truppen zu sehr ermüdet wären und einen Rasttag
bedürften, im Grunde aber wohl nur, weil man hier auf Nachricht warten mußte,
wie früh der König von Holland mit seiner Armee auf der andern Seite von
Kassel erscheinen könne. Als man Morgens 9 Uhr darüber im Klaren war,
setzte sich der Marschall Mortier in Bewegung, marschirte aber nur 1'//Meile
bis Dörnhagen, machte dort Halt und ließ den Wald und die Anhöhen
zwischen diesem Ort und Cassel militärisch besetzen.
Denselben Morgen langte nun auch der Vortrab der holländischen Armee,
von deren Annäherung man in Cassel nicht das Mindeste geahnt zu haben
scheint, in der Gegend von Ziegenhain an. Nun konnte dem Kurfürsten kein
Zweisel mehr über die nicht friedlichen Absichten der um seine Residenz
sich sammelnden fremden Truppen bleiben; dennoch geschah weiter nichts,
als daß einige Patrouillen ausgeschickt und einige Infanterie-Pikets vor die
Thore postirt wurden, die so wenig wie die ganze Garnison mit scharfen Pa¬
tronen versehen waren. Ja, man versäumte sogar die räthlichsten Sicherheits¬
vorkehrungen, obgleich Zeit genug dazu gewesen wäre.
In dieser Unentschlossenheit und Unthätigkeit wurde verharrt, bis Abends
11 Uhr der französische 01in>og6 ä'aKiiirLS, Mr. Se. Genest, die bekannte
Note überreicht hatte. Nunmehr, da beide feindliche Corps vor Kassel's Thoren
standen, war kein Zusammenziehen der Hessen und keine Vertheidigung mehr
möglich. Die an den Marschall Mortier in der Nacht zum Unterhandeln
abgesendete Deputation wurde mit der Antwort von diesem zurückgewiesen, daß
er hierzu keinen Austrag habe. Obwohl der Kurfürst zum feindlichen Bund zu
treten versprach und seine Truppen zur Disposition dem Kaiser hatte anbieten
lassen, wurde dennoch französischcrseits gefordert, die Waffen niederzulegen
und das ganze hessische Militär aufzulösen. Hierzu erschien in Kassel am
1. November 1806 folgende kurfürstliche Ordre:
„Die kaiscrl. französische Armee wird sämmtliche dessen-lasset'schen Lande
in Besitz nehmen und sollen nach Übereinkunft, gleich Kassel, in allen übrigen
Garnisons den Leuten der Regimenter ihre Gewehre und Armatur abgenommen
und an schickliche Orte zusammengelegt werden, damit keine gewaltsame Ent¬
waffnung geschehe. Die Soldaten und Kavalleristen mit Pferden werden einst¬
weilen nach Hause beurlaubt, bis nach Zurückkunft Jhro Kurfürstl. Durchlaucht
aus.dem Hauptquartier Sr. kcnserl. Majestät von Frankreich andere Einrich¬
tungen getroffen werden. Den Soldaten in Garnisons, welche die Compagnie-
chcfs nicht beurlauben können, sollen ihre Löhnungen ausbezahlt werden, wie
auch Officiers und Civilbeamten ihre Gage behalten. Die gelieferten Pferde
aus dem Lande bei der Kavallerie werden ihren Eigenthümern zurückgegeben."
Auch den Gouverneurs und Commandanten der Festungen Ziegenhain, Ha-
nau und Rinteln wurde die Ordre ertheilt, diese ohne Vertheidigung und ohne
weitere Bedingungen zu übergeben. Der Kurfürst nebst dem seit 14 Tagen
von der preußischen Armee zurückgekehrten Kurprinzen, anstatt wie man er¬
wartet, nach Berlin zum Kaiser Napoleon zu reisen, flüchteten sich kurz vor dem
Einrücken des mortierschen Corps am 1, November nach Arolsen und gingen
von da weiter zum Landgrafen Karl nach Schleswig.
Beim ganzen Benehmen des Kurfürsten im September und October, in¬
dem er seine Truppen zum Theil mobil machte, gegen die darmsiädtsche Grenze
zusammenzog, sogar nach der bedingungsweise erhaltenen Neutralitätszusicherung
in diesen Maßregeln beharrte, war mit Gewißheit vorauszusehen, daß Kaiser
Napoleon über kurz oder lang sich rächen würde; denn wollte der Kurfürst
die Rolle einer bewaffneten Neutralität mit einiger Wahrscheinlichkeit spielen,
so mußte er gleich zu Anfang October nicht allein die südliche Grenze Hessens
gegen Frankreich, sondern auch die nördliche, östliche und westliche gegen Preu¬
ßen besetzen lassen. Das unerwartete Einrücken des Marschalls Mortier
in Herschfeld am 29, October mußte den Kurfürsten trotz aller gegebenen fried-,
liehen Versicherungen schon überzeugen, daß dieser Augenblick der Züchtigung
bereits gekommen sei. Nun war noch Zeit, seine sämmtlichen in Nicdcrhesscn
zerstreuten Truppen (sicher an 12,000 Mann) auf einen beliebigen Platz an der
Schwalm oder Edder zusammenzuziehen. Gesetzt aber auch, man habe sich
in diesem Augenblicke noch mit Hoffnungen getäuscht, so konnten doch am
31. October Mittags, wo Mortier bei Dörnhagen Halt gemacht hatte und
die von der andern Seite anrückende holländische Armee nur noch 4 bis S
Stunden entfernt war, kein Zweifel mehr übrig bleiben, und es mußten Vor¬
kehrungen getroffen werden. Ich weiß sicher, daß, obgleich Mr. Se. Genest
die Note in diesem Augenblick noch nicht überreicht hatte, der Kurfürst doch be¬
stimmt von dem Herannahen der beiden Corps unterrichtet war.
Kassel zu vertheidigen war unmöglich, wenn man die Stadt nicht einer
gründlichen Plünderung und Verheerung aussetzen wollte; hätte man aber, an¬
statt unthätig zu bleiben, am 31. October Mittags sogleich die nöthigen Ver¬
fügungen getroffen, so konnten am 2. November etwa 10,000 Mann bei Ziegen¬
hain versammelt sein, und entweder mit den Waffen in der Hand accordiren
oder fechten. Man sagt, der Kurfürst habe diesen Gedanken gehabt, habe seinem
Bruder, dem Landgrafen Friedrich das Commando übertragen, für seine Person
aber nebst dem Kurprinzen direct nach Berlin zum Kaiser Napoleon reisen wollen,
es wäre ihm jedoch von alle dem abgerathen worden. Daß er dem Rathe
folgte, entschied sein Verhängniß.
Um die Möglichkeit dieser so schnellen Zusammenziehung der Truppen bei
Ziegenhain zu beweisen, welche von Manchem bezweifelt werden könnte, muß
im Detail angegeben werden, wie die verschiedenen Regimenter seit dem 26. Oc¬
tober verlegt waren, und welche ungefähre Stärke sie hatten nach Abzug der
auf entfernten Kommandos oder sonst abwesenden Mannschaften:
Hierzu hätten in 48 Stunden von den Beurlaubten sämmtlicher Jnfanterie-
regimenter leicht noch 1000 Mann eingezogen werden können. Am 2. Novem¬
ber würden demnach gegen 10,000 Mann unter dem Oberbefehl des Landgrafen
Friedrich bei Ziegenhain versammelt gewesen sein. Man wird mir die un¬
sinnige Annahme nicht unterlegen, als hätten diese wenigen Hessen in der
Verfassung, worin sie sich befanden, nur der combinirten französisch-holländischen
Armee, die doch gegen 18.000 Mann zählen mochte, oder gar dem, was von
Frankfurt und Mainz aus sich ihnen gar bald im Rücken gezeigt haben würde,
lange Widerstand leisten können. Es war jedoch sicher, daß dadurch Zeit ge¬
wonnen werden konnte, und hierauf kam in diesem Augenblick alles an. Wenn
der Kurfürst am 31. Ociober Nachmittags schleunigst nach Berlin abgereist
wäre, so daß Mr. Genest die bekannte Note ihm nicht mehr hätte überreichen
können, so war es möglich, daß Mortier unschlüssig geblieben wäre, was zu
thun sei. Wahrscheinlich ist indeß, die combinirte Armee würde nach Besetzung
der verlassenen Residenz am 1. November noch bis an die Edder, dann bis
gegen Ziegenhain vorgerückt sein. Hätte nun Landgraf Friedrich laut eines
gemessenen Befehles vom Kurfürsten erklärt, keine Feindseligkeiten gegen Frank¬
reich und dessen Verbündete auszuüben, im Falle eines Angriffs aber sich bis
auf den letzten Mann zu vertheidigen und hätte er, da sein Bruder abwesend
sei, den König von Holland um die Erlaubniß gebeten, einen Courier an
jenen abzusenden, um nähere Verhaltungsbefehle einzuholen, bis zu dieser Frist
aber Waffenstillstand begehrt, so konnte die Situation offenbar verbessert werden.
Aus mehren Gründen glaube ich, daß das alles nicht nur zugestanden
worden wäre, sondern auch, daß der Kurfürst durchsein persönliches Erscheinen
Mittel gefunden haben würde, den Zorn Napoleons zu besänftigen und so das
harte Geschick seiner selbst, seines Militärs und seines Landes zu mildern.
Gesetzt aber auch, der König von Holland und Marschall M orei er hätten das
Gesuch des Landgrafen abgelehnt und die sofortige unbedingte Niederlegung der
Waffen verlangt, so ist kein Zweifel, daß die Hessen durch eine tapfere Ver¬
theidigung ihren alten Ruhm behauptet haben würden. Sie wären überwunden,
aber nicht beschimpft worden. Was nicht auf dem Wahlplatze geblieben, was
in den Festungen, die sich 14 Tage halten konnten, gefangen worden wäre,
kam dann in französische Gefangenschaft. Der unsinnige sechs Wochen später aus¬
brechende Aufstand hätte nicht stattgefunden; es wären keine Patrioten füsikrt,
keine Häuser angezündet, keine Städte übermäßig gebrandschatzt worden. Hessen
würde nur das allgemeine Schicksal des ganzen Norddeutschlands habe theilen
müssen, aber es wäre- ein Leid in Ehren gewesen.
Es ist hinreichend bekannt, wie der Kurfürst nach siebenjähriger Entfernung
wieder in seinem Lande einzog, wie er von den erschütternden Zwischenfällen
gar keine Notiz nahm, und, weder Zeit noch Zustände beachtend, gerade so zu
regieren fortfuhr, wie er, durch die „fatalen Accidents" unterbrochen, begonnen
hatte. Am meisten hatten die Offiziere zu leiden. Männer, die, von ihrem
Kriegsherrn im Stich gelassen, widerwillig unter den fremden Adlern gefochten,
aber in vielen Schlachten und Gefechten geblutet und durch ihr tapferes, ritter¬
liches Benehmen sich die Achtung Aller erworben, wurden auf das Empörendste
zurückgesetzt; ihre derzeitigen Chargen hatten beim Kurfürsten keine Willigkeit.
Alles, was unter der Fremdherrschaft gedient, haßte er gründlich, namentlich
aber die Neuerungen, die eine so bewegte Zeit mit sich gebracht hatte. Des
Kurfürsten ganzes Streben ging nur dahin, jede Spur davon möglichst zu ver¬
wischen und hierzu scheute man kein Mittel. Wurde doch selbst der alte, bereits
vergessene Zopf wieder aus der Rumpelkammer hervorgesucht, damit die in ihn
hineingeflochtenen Ideen wieder neuen Halt gewännen! —
Wir fügen hier noch eine darauf bezügliche Cabinetsordre an, die Zeugniß
davon ablegen mag, wie Wilhelm der Erste die Zeit auffaßte und wie er,
als er wieder fest im Sattel saß, seinen braven Kriegern, die ihn bei der Rück¬
kehr mit jubelnden Herzen empfingen, dankte.
Wilhelmshöhe d. 6. July 1816.
Die Orärv v. 3. dieses hat sattsam bewiesen, daß Ich nun alles gethan habe,
was man von meiner besondern Gnade und Liebe für mein Armee Lorps er¬
warten möge, der empörende Vorgang einer beyspiellosen, strafbaren Verbindung
sämtlicher sudalterv ot'üewrs aller L-LAiwentei' und lüorxs ist nun beendigt.
Aber nie darf ein gleicher und ähnlicher Auftritt wieder statt finden.
Alle sträfliche Verbindungen zu einem solchen Endzweck dürfen weder unter den
OMiors eines lieZimonts vielweniger mehreren, vorfallen; Ich würde sonst
furchtbare Maßregeln und die strengsten Strafen anwenden müssen. Der Ruhm
der hessischen Nilitair Disciplin war sonst ausgezeichnet! leider hat sich jetzt
eine Ausartung desselben gezeugt, sie liegt in Hsvrpatvrischen Westfä¬
lischen Grundsätzen oder in verderblichen Modischen Gesinnungen der Einzelnen
die aus so verschiedenen Ständen zum Wlitair kommen, oder, und vieleicht
größtenteils in dem Mangel einer so nothwendigen Aufsicht, ohne welche ein
Armee Lorxs ja dem (sie) Staat selbst in die größte Gefahr kommen kann.
Ich hege nunmehro das Vertrauen zu Meinen LriMäe (ütiöts daß sie als die
ersten Befehlshaber meines Lorvs, gewarnt durch einen Vorgang den ich selbst
in meiner langen nunmehr 63jährigen Nilitair Oari6rL nie erfahren hatte,
jetzt alle ihre Bemühungen anstrengen werden, um für immer Thatsachen zu
verhindern die für die hessische Militair Geschichte sonst unauslöschliche Flekken
bleiben. Zu dem Ende fordere Ich sie auf sich nunmehro nach folgender in-
struction püncktlichst und unter ihrer persönlichen Verantwortung für deren
Beobachtung zu richten.
1. ) Müssen sie die genauste Aufficht in ihrer anvertrauten Li-igaälz in den
Regimentern Lattl. u. lüorvs derselben halten, und ebenso auch die Lvinmim-
Äeurs, Lg.Ms.ius u. Lubiiltsi'n Okries: überhaupt.
2. ) Der Oavits,in soll von allem in seiner OomMgriie der Lsttr. Lomman-
ckeur eben so in dem unterhabenden Lattl, der tutet' oder Lowmanäeur von
allen in seinem Kssiinent und der Lrigaäier von allen Vorfällen in seiner
Li-iMÄö unterrichtet sein.
3. ) Keine geheime Verbindungen geheime Versammlungen oder ge¬
heime Oorresvonäensen und Verschickungen von einigen oder mehreren (M-
eiren dürfen nicht statt finden, sie müssen wen sie nun endeckt sind sogleich
der Militair Behörde und Mir angezeigt werden, und haben in dieser Rücksicht
die LriMäiers selbst mit ein ander zu Oomunieiren.
4. ) Kein vtüoir darf sich zu Bewürkung oder zur Erkentniß in einer
Militärischen Angelegenheit ohne Erlaubniß seines Obern an eine Nicht Mili¬
tärische Behörde wenden.
5. ) In den sogenanten Militair LÄsine-s oder Llubs wenn sie länger ge-
duldet werden sollen muß jeder Zeit Ruhe und Ordnung herschen, es dürfen
darin keine Handlungen vorgenommen, keine Äußerungen gehört werden, die
nicht ganz öffentlich geschehen könnten.
6. ) Die (Ms: sollen sich hinführo auch immer mehr zu ihrem eigenen
Stande u. nicht zu den andern Ständen des Staats halten oder mit denselben
in engere Verbindung treten.
Da die (üliets und OommÄnäeurs nach vorstehenden Punckten nun künftig
von den Hualitaiten und der Noralitait, eines jeden (Meiers genauer wie
bisher Kentniß erlangen sollen, so kan ich auch mit Recht fordern, daß in
den künftig einzureichenden Ooväuitten Listen die wichtigsten Angaben umständlich
und bey jedem (Meier mit den Abänderungen eingezeicht werden. Zu noch
besserer Erreichung dieses Zwecks aber soll außer dem vlrek oder (üommanäeur
des lie^laeues noch ein Staabs (Meier die Ooiräuitten Liste mit abfassen
und unterschreiben, wozu der Lrigaäier den schicklichsten erwählt. Schließlich
wird erinnert daß Ich jede minder oder größere Vergehung wieder Meine Vor¬
schrift in Zukunft was die Aufsicht angehet so wohl von Staabs (Meiers als
wegen der (üouäuite der 8ubs,1terii (Mes: auf das aller strengste ahnden und
bestrafen werde.'
Wer von der Höhe des Leopolds- oder des Kahlenbergs auf das Häuser¬
gewirr, das sich um den Stephansthurm gruppirt und das Wien heißt, herunter¬
blickt, gewahrt am Südostende desselben, durch eine Blachfeldsstrecke von den
letzten Häusern geschieden, einen düsteren quadratischen Fleck, der ungefähr den
Raum einer kleinen Provinzialstadt einnimmt. Etwas entfernt von ihm ragen
rechts und links andere, kleinere Punkte aus der Ebene auf; das Fernrohr
läßt sie als die gewaltigen Bauten der Südbahn erkennen, welche über und
durch die Alpen die morgenländische Welt mit ihren Handelsschätzen uns näher
rückt. Weiter hinauf liegt die Raabbahn; das Glas irrt über ihren weitzer-
sireuten. rauchgeschwärzten Gebäuden hin — dann setzt es ab und was als
eine Gruppe von Palästen erschienen, schwindet wieder in ein winziges Fleck¬
chen zurück neben jenem oben erwähnten Viereck, wie Trabantenvolk neben der
Sonne.
Dies freilich ist die einzige Ähnlichkeit mit der Sonne, die jenes Viereck
beanspruchen kann; wenigstens hat das Sonnenspectrum uns bis jetzt noch keine
Aufklärung darüber verschafft, ob unsere milde Himmelsfreundin auch so viel
Eisen in ihren glühenden Adern birgt, daß daraus eine andere Aehnlichknt
mit dem Inhalt der Feueressen jenes Quadrates abzunehmen wäre. Sonst
bildete schon sein äußerer Anblick den vollständigsten Gegensatz zu einem leuch¬
tenden und noch mehr zu einem freundlichen Gestirn. Die in doppelter Manns¬
höhe über dem Boden beginnenden dichtvergitterten Fenster schauen grämlich
ins Land hinaus; die rothen Ziegelsteine, aus denen es erbaut ist, scheinen
ihren bräunlichen Teint nicht allein vom Wetter bekommen zu haben; bastei¬
artige Thürme erheben sich hier und da aus der einförmigen Linie und decken
die Flanken wie Elephanten, die eine Heerde von Rhinozerossen escortiren.
Jeder andere Vergleich würde noch mehr hinken als dieser.
Ich habe es glücklicherweise nur bei Sonnenschein gesehen; bei Regenwetter,
glaube ich, könnte sein Anblick einen Harlequin mit tödtlicher Melancholie er¬
füllen, — Schnell rollte unser Fiaker dahin, passirte die Barriöre der Metropolis,
kreuzte den Schienenstrang der Naabbahn — noch ein paar Minuten zwischen
unfruchtbarem Ackerland, das auf beiden Seiten trostlos und humusbegehrend
zu mir aufblickte, und der Wagen hielt vor dem riesigen Einsahrtsthvr, ein Unter¬
offizier löste sich von dem starken Wachtposten unter der Halle und trat an uns
heran. Mein Gefährte reichte ihm die speciell für uns ausgewirkten Erlaub¬
nißkarten, deren Unterschrift jener einen Augenblick aufmerksam betrachtete. Dann
trat er militärisch grüßend zurück, und wir flogen in den Hofraum des Arse¬
nals zu Wien, will sagen in den Tower von Oestreich.
An dem Namen des Towers hingen Jahrhunderte lang die Geschicke Eng¬
lands. Jenes Gebäude auf dem Themsehügel, das Zwinguri Albions, zu dem
die Römer den Grund gelegt, hat lange und gute Dienste geleistet. Wer den
ummauerten Hügel in Händen hielt, der mochte nach Belieben schalten. Nach
den Römern kamen die Sachsen und schwangen sich auf seine Zinne, nach ihnen
die Dänen und den Dänen folgten die Normannen — alle wußten und erprobten:
wer ihn hielt, der hielt London, und wer London hält, der hält England.
Der Zügel, den der habsburgische Reiter seinem angestammten Reitpferde
angelegt, ist nicht so alt wie jener von Britannien. Im Gegentheil, er ist sehr
modernen Ursprungs und schon deshalb nicht so schwerfällig eingerichtet. Das
mystische Gewebe fehlt, das die Vorzeit um jenen gewoben; es fehlt die No-
maudit. die fehdelustigen Barone, der Werth persönlicher Kraft und Tapferkeit.
So fehlen hier die Wälle und Gräben, die Ausfallsthore und Zugbücken des
Urbildes; es ist sicher nicht zu besorgen, daß die Barone des Kaiserstaats mit
dem Schwert in der Hand heranrücken gegen ihn, um für Oestreich eine Magna-
chcirta zu erzwingen, und darum trägt er auch keinen hochpoetischen, crinne-
rungweckenden Namen, sondern man nennt ihn einfach „das wiener Zeugbau?"
oder wie man sich in hiesiger Stadt, um der Majorität der Bewohner verständ¬
lich zu sein, lieber ausdrückt, „das Arsenal".
„Voilg. I'^utrieriö", sagte mein Begleiter lächelnd zu mir, während einer
von den wachehaltenden Panduren vor uns aufschritt, vor dessen eiserner
Wünschelruthe die massiven Thüren des unheimlichen Palastes knarrend auf¬
sprangen. „Sie werden am Schluß überraschter sein als Sie erwarten. Sie
kommen in der Boraussetzung, gewaltig aufgehäuftes Kriegsmaterial zu finden,
Zerstörungswerfzeuge alter und neuer Construction. künstliche, complicirte Ma¬
schinerien, in denen der menschliche Geist über die Widerstandsfähigkeit der Natur
triumphirt. Und am Ende werden Sie entdecken, daß in diesen Räumen eins
der wunderbarsten Erhaltungssysteme geschmiedet wird, welche die Erde kennt.
Was Sie für Kanonen, für Geschosse, für Gewehrläufe gehalten, wird sich
vor Ihren Augen in ebenso viele Klammern und Ketten umgestalten, mit denen
man einen morschen Riesenleib, der seit Jahrhunderten an tödtlichem Siechthum
im Innern krankt, krampfhaft zusammenhält. Sie werden ein Dampfwerksehen,
in welchem Völker von unheimlicher Kraft bewegt sich als Stempel benutzen
lassen, um Böller zu zermalmen; geschickte, dämonische Triebkraft, die eins durch
das andere engt und preßt, bis es die Form erhalten, in die man es zwängen
will, bis es sich wieder benutzen läßt, im großen Getriebe der Maschine andere
in ähnliche Form hineinzupressen--bis der Kessel einmal springt und in
furchtbarer Explosion das ganze Zwangssystem zerschmettert durcheinander¬
wirft. Denn es ist halt Alles möglich unter der Sonne."
Der Pandure machte das dümmste Gesicht, das sich in Slavonien auf¬
treiben läßt. Wir waren aus der glänzenden Maimorvorhalle in den ersten
Saal getreten, der mit Reliquien aus der Vergangenheit des habsburgischen
Kaiserhauses und seiner Anhänger angefüllt ist. „Ja, ja, gewiß," sagte er
Verschmitzt lächelnd, als mein Gefährte seine technische Exposition beendet; dann
buchstabirte er mühsam die in die goldene Tafel neben uns eingravirtcn Worte:
»In Deinem Lager war Oesterreich."
Es ist das der Stab, den der seligvcrstorbene Feldmarschall Radetzky als
Anerkennung seiner vieljährig um den Kaiserstaat erstrittenen Verdienste erkalten.
Derselbe ist aus Gold und hat die Form eines auf der Lafette ruhenden Ka¬
nonenrohrs: Saphire, Ruhme und sonstige Orientalien schmücken den Rand;
hauptsächlich aber Amethyste, die nach der morgenländischen Sage vor Untreue
relpective demagogischen Verlockungen bewahren. Rundumher, in den Lorbeer¬
kranz gefügt, den man den Wohlthätern der Menschheit immer aufs Grab
legt, laufen Tafeln, welche die Namen der Schlachten zeigen, in denen er die
äußern und innern Feinde Oestreichs zu Boden geschmettert. Die Jahreszahlen
datiren von dem Tode des großen Napoleon, Unter ihnen aufgestapelt liegen
die vergoldeten Embleme seines Handwerks, Kanonen, Degen, Fahnen, Kugeln,
Lafetten. Helme, Pistolen, Bandclierc, Reitgeschirr, Bajonnette und Ketten.
Nichts ist vergessen, als die Leichname, die anderswo in unvergoldeten Gräbern
eingescharrt sind.
Man sieht, der Stab ist sehr werthvoll und es müssen werthvolle Dienste
gewesen sein, die er dem Kaiserstaat oder richtiger dem Beherrscher desselben
geleistet. Ja es muß gewissermaßen „das Verdienst par exoellerios" sein, für
da? man ihm bei Lebzeiten dies Monument errichtet, denn es bildet den Mittel¬
punkt des Saales und alles Licht scheint nur von ihm auszugehen. Riesenhafte
Stadtlhorschlüsscl aus dem Mittelalter, auf verschossenen Sammetkissen, wie
sie dereinst ehrwürdige Bürgermeister und langperrückte Magistratspersonen in
demüthigen Zug mit schlotternden Knieen den Vorgängern Radetzkys, vielleicht
dem Tilly entgegengetragen. Zerrissene Fahnen von hier und dort; Trophäen
aus dem dreißigjährigen Kriege. Aus dem siebenjährigen gewahrte ich keine;
daß diejenigen aus der Zeit der deutschen Freiheitskriege sehr neu und frisch
aussehen, wird sich aus der Kürze der Zeit erklären. Ab und zu hing ein ver¬
staubtes Etwas dazwischen, das ich nicht zu erkennen vermochte.
An dem kugeldurchlöcherten Hute Pappenheims vorüber, dessen Filzkrämpe
nach ihrer Breite zur Beschattung einer halben Dragonerschwadron bestimmt
gewesen scheint, gingen wir auf einen Glasschrank zu, auf den der Führer be¬
sonders hinwies, dann hielt ich erstaunt inne vor dem Unerwartetem.
Inmitten dieser denkwürdigen Ausstellung von Ueberbleibseln der körper¬
lichen Existenz von Erzherzogen und Fürsten, die der alleinseligmachenden Kirche
angehört, rings umgeben von den goldgestickten Waffenröcken und Uniformen
seligmachender kaiserlicher Generale älteren und neueren Datums hing ein graues
Büffelkoller von so protestantisch nüchterner Einfachheit, daß man den Träger
desselben auf hundert Schritte als Ketzer herausgewittert haben müßte, und
unter dem schlichten Wamms stand ein theurer Heldenname. — Wie kam dieser
Saul unter die Habsburgischen Propheten?
„Sein kewesen kroßer Räuber — hat Massen kroßer Kaiser Ferdinand hin-
richten/' bruchstückte mein Pandure, der mir nachgekommen und meinen Ausruf
als Frage nach dem Gegenstand meiner Betrachtung aufgefaßt. Mein Begleiter
warf einen Blick auf denselben und wandte sich lächelnd mit dem Kommentator
nach dem anstoßenden Saal. Ich aber blieb noch einen Augenblick zurück, von
seltsam durcheinander wogenden Gefühlen bestürmt. Du warst kein habsburgi-
scher Prophet! Ohne die kleine Kugel in deinem Rücken, wo wäre heut der
Staat der vierzehn Königreiche und Herzogthümer? Wer säße heute drüben in
den alten Prachtsälen der Burg und was für Decrete bestimmten mit Gesetzes¬
kraft die Eigenschaften und Liebhabereien des höchsten Wesens? Der Anblick
deiner Reliquie an dieser Stelle machte mich zweifelhaft, ob Schiller wirklich
recht hatte, als er von dir sagte, der größte Liebesdienst, den du Deutschland
erwiesen, sei gewesen, daß du damals starbst.
Mit einer kleinen Kugel ballvtirt die Weltgeschichte über das Geschick von
Jahrhunderten. Vielleicht hinge sonst im Museum zu Stockholm der Purpur¬
mantel Kaiser 'Ferdinands und der dumme Lappe, der als Aufseher fungirte,
spränge ebenfalls mit den historischen Thatsachen in seiner Weise anachronistisch
um. Die Lappländer sind übrigens, obgleich sie Protestanten und zum Theil
sogar noch weit weniger, nämlich halbe Heide» sind, doch bei Weitem nicht so
dumm als die Panduren. Letztere besitzen nur mehr Glauben und das ist viel¬
leicht der Grund dafür, daß jene mehr historischen Sinn haben. Mindestens hätte
ein Lappländer mehr als unser Begleiter von den deutschen Kaisern gewußt,
in deren eherne Reihe wir jetzt hinabstiegen. So glaubte ich wenigstens an¬
fangs; später entdeckte ich, daß ich dem armen Cicerone Unrecht gethan. Er
hielt nämlich ein kleines Büchlein in der Hand, aus dem er vor jedem Harnisch
einen Abschnitt vorlas. Da er dies nun, der deutschen Sprache unkundig,
methodisch that, ohne selbst zu verstehen, was er las, so bemerkte er nicht, daß
er einen Mißgriff begangen und uns die Kaiser des Habsburgischen Hauses
statt nach einem geschichtlichen Compendium nach einer Taschenausgabe des
„Lebens der Heiligen" erklärte. Das gab zu komischen Verwechslungen Anlaß,
wenn Kaiser Karl der Fünfte z. B. als ein demüthiger Knecht des Herrn gepriesen
wurde, der in Sanftmuth und Menschenliebe sein Leben begonnen und beendigt,
oder wenn sein Großneffe Rudolf immer stegreich den Verlockungen der Sinne
und des Sarans widerstand. Welchem armen Menschenkinde wird ein Billig-
denkender ein harmloses Gelächter bei so ergötzlichen Mißverständnisse» verargen.
Meine Heiterkeit aber verscheuchte unsern Declamator, so daß er sich mit dem
Leben der Heiligen stillschweigend in einen Winkel zurückzog und uns die deut¬
schen Kaiser oder vielmehr die Ehrvsaliden, aus denen die glänzenden Falter
vor manchem Jahrhunderte ausgeflogen, allein überließ. Sie standen da in
Reih und Glied, lebensgroß, eine ernste, stille Versammlung. Die verschie¬
densten Zeitalter, die mannigfachsten Trachten und Rüstungen. Und alle echt
und authentisch; alle „eigenhändig", ja sogar „höchst eigenhändig" um weiland
blühende Leiber gelegt.
Wenn ich Kaiser von Oestreich wäre, ich ließe nur den Thronfolger diesen
Saal betreten, aber nicht mit dem „Leben der Heiligen", sondern mit einem
guten specifischen Geschichtswerke, das leider noch nicht geschrieben ist. Einst-
weilen würde ich zur Vertretung des (bis jetzt) letzten Bandes desselben die
derzeitigen Tageeblättcrberichte über die Verjagung der nord- und süditalienischen
Fürsten anempfehlen.
Es sind weit über hundert Erzgcstalten in langer Parade den Saal hinab
aufgestellt und sie bilden ein breites Spalier. Man geht unwillkürlich leise, als
fürchtete man sie aufzuwecken und als könnte ihnen dann plötzlich eine Anwand¬
lung kommen, mit ihren breiten Riescnschwcrtern über einander herzufallen.
Auf der rechten Seite vom Eingang aus stehen die Rüstungen der Kaiser, meist
reich verziert und eingelegt: Feld- und Paraderüstung derselben Person neben
einander, oft mehrfach, wie von .Karl dem Fünften; seine Galarüstung, die
von oben bis auf die Füße übergoldet ist, blitzt wie ein Sonnenstrahl durch
graue Wolken aus den andern hervor. Ab und zu steht eine Figur im Leder-
toller mit verbrämten Wamme und Puffärmeln dazwischen. Diese haben nur
wenige kriegerische Embleme, häusig nur Buckclschild und Schwert und mögen
bei Lebzeiten mehr darnach gestrebt haben, Frauenherzen als Königreiche zu er¬
obern. Dafür sprechen .',und die bei diesen, da sie kein Visier tragen, unter dem
Varett hervorblickenden '^malten Puppentopfgcsichter. Sie sehen friedfertiger
aus als die andern und scheinen sich vor ihren vramarbasircnden Nachbarn
zu fürchten.
Ihnen gegenüber ste! t eine gleiche Zahl von Rüstungen, in denen einst
Grafen, Barone. Ritter und Edle gehaust. Durch ihre Stellung ist hin und
wieder auf ihre Lieblingsbeschäftigungen hingedeutet. Einige halten die Lanzen
gegeneinander und sind im Begriff die Spitzen derselben sich durch die Panzer¬
fugen in die Gelenke zu bohren. Andere strecken die Eisensinger aufs Schwert
und schwören auf seinem Kreuzgriff dem Lehnesherrn Urphede. Es ist als
hörte man ihre Zähne hinter dem Gitter ingrimmig dazu knirschen, während
man durch das Visier ihrer Nachbarn deutlich die Augen funkeln sieht, mit denen
sie wie Raubthiere in zusammcngehocklcr Stellung sprungbereit den Kaufmanns¬
zug beobachten, der unter den Mauern ihrer Burg vorüberzieht.
In der letzteren Reihe saß ein Arbeiter, der beschäftigt war, die im Laufe
der Zeit rostig gewordenen Eisenplatten abzupolircn und glänzend zu erhalten.
Er war gerade mit einer Figur fertig geworden und kam auf eine andere zu,
vor der ich bewundernd stand. Eine hohe, gewaltige Gestalt; das geschwungene
Schwert in der Rechten mochte Ehemals ebenso dichte Schaaren gemeiner
Krieger zaghaft ferngehalten haben, wie der adlig erlauchte Name, der darunter
verzeichnet stand, heutzutage ihre gemeinen, unkriegerischen Nachkommen. Der
Arbeiter jedoch ging unerschrocken darauf zu und nahm ihm den Helm herab,
und unter dem Helm steckte, um den Gehirnraum auszufüllen, ein verschimmelter
hölzerner Klotz. Den warf er mit plebejischen Händen dröhnend in die Ecke
in den Staub.
Ich hatte kaum einige Schütte weiter gethan, als sich die Panzcrreihe
Plötzlich unterbrach und ein seltsamer Anblick sich den Augen darbot. Zusam-
mengcthürmt standen die schönfarbigen Banner mit dem weißen Kreuz auf
rothem Grunde, wie es dereinst in Esthland der Himmel selbst dem allerchrist-
lichsten Könige Waldemar zum Siege über die Heiden in die Hände geworfen.
Es war das damals im Grunde keine glückliche Anleitung, denn es veranlaßte die
Nachkommen des grossen Eroberers, wenn sie unter der Fahne kämpften, bis
auf unsere Tage zu dem Wahn, sie hätten es immer noch mit Heiden zu thun,
die man auf jede Weise, wenn nicht anders mit Feuer und Schwert, zum
kopenhagener Glauben bekehren müsse. Was aber noch schlimmer, sie meinten
auch stets, der Himmel sei dabei mit ihnen und im heiligen Eifer für diese
Ueberzeugung ließen sie sich so weit fortreiße», bis das Symbol ihres Glau¬
bens, der Danebrog, noch weiter fortgerissen wurde, nämlich bis in das k. k.
Arsenal zu Wie«.
Dieser hängt dort aber jedenfalls an der unrechten Stelle und ist wohl
nur durch ein MißVerständniß in die antike Gesellschaft östreichischer Trophäen
gerathen. Wie ich nachträglich vernommen, wird er dort auch nur kurze Frist
bis zur Uebersiedelung an den ihm ursprünglich bestimmten Platz verbleiben,
und ich beklage nur, daß .es durch dies Provisorium in den Augen Spott¬
süchtiger den Anschein erhalten, als sähe ein Staat von vierzig Millionen seinen
Kriegsruhm durch diesen Gewinn vermehrt. Ich erinnere mich, daß ihm vor
einem halben Decennium von anderer Seite zugerufen wurde: Hie KKoäus,
die salta,! — aber ich kann mich schlechterdings nicht erinnern, Spolien dieser
Tanzleistung in dem k. k. Arsenal erblickt zu haben. Ich vergesse, man sagte
mir, auf dem Hofraum hinter dem Kugeldcpot habe lange die französische
Broncekanone gelegen, welche ihre früheren Besitzer, ich weiß nicht ob bei
Magenta oder Solferino unbrauchbar gefunden. Sie ist augenblicklich dem
Schmelzofen übergeben und wird, anstatt in einem Winkel übersehen zu werde»,
als Medaille von vielen bestaunt, die Brust der Tapferen schmücken, die in¬
mitten ihrer Niederlage ein Herz für das Bedürfniß ihres Vaterlandes nach
Metall besessen.
Wir treten in die Arsenalkirche, wo der alte weißbärtige Krieger-Küster
andachtsvoll vor dem wunderbaren, rosenumgürtetcn Madonnenbilde anhält.
„Sie sehen hier, meine Herren," begann er mit feierlicher Stimme, die wohl
schon manchen fremden Hörer mit den Schauern eines großen Augenblickes
überrieselt hatte, „das gebenedeiteste Bild der heiligen Mutter Gottes in
Oestreich. Bei der Erstürmung des Gebäudes, in dem es sich befand, sind
die feindlichen Kugeln rings umher eingeschlagen; jede Rose bedeutet eine Ku¬
gel, aber durch den Schutz der allerherrlichsten Jungfrau ward es ihnen ver-
wehrt, auch nur den Saum ihres geheiligten Gewandes zu verletzen."
Daß die Schütze» Insurgenten und gottlose Empörer waren, versteht sich
von selbst, denn vor den Kugeln loyaler Soldaten hätte die heilige Jungfrau
ihr Bild nicht zu schützen gebraucht. Das ist aber Nebensache neben der »n-
bezweifelten Erhabenheit des Wunders selbst. Dagegen ist das aufthauendc
Blut des heiligen Januarius ein Kinderspiel; denn es müssen wenigstens hun¬
dert dieser boshaften Umstürzler das erhabene Gemälde als Zielscheibe ihrer ge¬
stohlenen Donnerbüchsen gewählt haben. Eine wahre Hekatombe von Rosen
umgiebt dasselbe; und in der That, nicht einmal der Rock ist berührt, ja so¬
gar wo derselbe von den Händen der Zeit am Rande etwas ausgefranzt er¬
scheint, sind die herabhängenden Fäden respectirt. Sonst ist ihr ganzer Korper
von den Zerstörungswerkzeugen so dicht umrahmt wie der eines gewöhnlichen
Menschen von der Luft. Giebt es ein schöneres Symbol der Religion in einem
Arsenale. als daß der Glaube Kugeln in Rosen verwandelt? Wie manches
Dutzend wettermorsche Madonnenbildcr hatte ich schon auf einsamen Gebirgs¬
pässen Bayerns oder Badens mit abgehacktem Nasen und verhagelter Gesichtern
angetroffen. Wären sie echt gewesen, sie würden vor dem Unglimpf des Wet¬
ters und der Menschen bewahrt worden sein. Um so ergreifender wirkte hier
die Erhaltung. Was Wunder, wenn den Oestreich«, wie er sein soll, ange¬
sichts dieses Bildes das große Gefühl entzückt, daß die Mutter Gottes nur
dem Staate des Concordates in voller Wundcrhcrrlichkeit zu erscheinen würdigte?
Ihm wird es auch nicht entgehen, welchen erhabenen Sinn es hat, daß hier
unter dem wunderthätigen Madvnnenbilde, dem Symbole der mit dem Kaiser¬
staat verbündeten göttlichen Macht, der Danebrog als srwlia opima, seine Stelle
finden wird.
Mit diesem freudig erhebenden Gefühl ging ich weiter und machte mich
an die Besichtigung der eigentlich activen Rüstkammern der göttliche» Providenz.
Es nahm mich freilich Wunder, daß das Erste, was mir darin aufstieß. 60,000
Gewehre waren, die auf Bestellung des Sultans für die Türken verfertigt wur¬
den, von deren Bekehrung zum Katholicismus mir noch nichts bekannt geworden.
Indeß bedachte ich noch zeitig genug, laß diese ehemals die erbittertsten Feinde
Oestreichs gewesen und daß zu Vergeben und Böses mit Gutem zu vergelten
ein christlicher Grundsatz sei. Ich bedachte, daß ja auch das Geld der Ungläu¬
bigen, zu frommem Zweck verwandt, von seinem Schmutz gereinigt werde. Ich
sah ein. daß ein kranker Mann heilkräftiger Medicin bedarf, um Sieb gegen das
Uebel, das ihm droht und leicht weiter um sich greifen könnte, zu wehren; daß
eine umsichtige Sanitätsbehörde Präscrvativmaßregeln ergreift und daß, wenn
es auch nicbt gerade dient, den k. k. Glauben zu befestigen, nach der Variante
eines alten Wortes ein Türke doch immer noch kein Protestant sei.
Mochten aber jene 50,000 Exemplare immerhin nur indirect den Zwecken
der alleinseligmachende» Kirche zu dienen bestimmt sein, was verschlägt dies
gegen die Riesenbibliothek der Heilsüberzeugung, die sich jetzt vor meinen stau¬
nenden Augen aufthat, gegen diese °/« Millionen k. k. Musketen, die in den
nächsten Räumen paradirten, und gegen die Kanonen jeden Kalibers, die unten
im Hofraum aufgespeichert waren?
Meine Anmerkungen über den erstaunlichen Apparat mußte ick unterdrücken;
denn wir hatten noch einen ansehnlichen Cursus vor uns, den Gang durch
die höllisch-heißen Werkstätten, wo die Donnerkeile für die k. k. Götter des Lichts
geschmiedet werden. Ich folgte mechanisch von Saal zu Saal: überall dieselbe
glühende, erstickende Atmosphäre, überall an den Wänden das dumpfe Schnur¬
ren und Summen der riesigen Zahnräder, die in verschiedener Weise alle dem¬
selben großen Hauptzweck, der Vertilgung menschlichen Lebens, dienten. Da¬
zwischen die rußgeschwärzten, halbnackten Cyklopen, aus allen Stämmen und
Sprachen zusammengewürfelt, in unermüdlicher Hast die eignen Ketten sich
schmiedend. Auch Knaben befanden sich unter ihnen und lagen den leichteren
Handthierungen ob; alle wie Ameisen durcheinander wimmelnd, jeder nur seiner
engbegrenzten Bestimmung bewußt.
Hier bereitet man „jene gefalzten Cylinder mit einer konischen Verlängerung,
die weder eigentlich spitz' noch rund, gewiß aber keine Kugeln sind". Fortwäh¬
rend in ununterbrochenem Zug tragen keuchende Arbeiter aus der anstoßenden
Werkstatt dünne, 5 Fuß lange Vleistangcn herbei; eilige Hände raffen diese auf
und legen sie in ein Dutzend wcbstuhlartiger Maschinen, welche sie rastlos ab¬
schneidend in zollgroße Stücke verkleinern, die in Korbe herabfallen, aus denen
andere Hände sie wieder heraufholen, um sie in ein Dutzend andere Maschinen
zu werfen. Ein kränkender Schlag und im selben Augenblick fällt auf der an¬
dern Seite die Spitzkugel heraus, vollständig fertig, um in einem andern Saal
in Patronen verpackt, und auf irgendeinem Felde irgendeinem Menschenkinde
in die Brust gejagt zu werden, den man dann mit hundert anderen in irgend¬
einer Grube einscharrt, während vielleicht hundert Meilen davon in irgendeinem
Hause ein paar Augen noch jahrelang um das dumme Ding weinen, das ich
da in meiner Hand halte. Wenn man die Sache so im Werden ansieht, würde
es gar nicht befremden, wenn der ganze Kreislauf ihrer Bestimmung gleich
hintereinander wegfabricirt würde.
Ein ähnliches Bild, nur mit entsprechenden Größemodisicationen der Ma¬
schinerien in den anstoßenden Sälen, wo die Kugeln für die Artillerie angefer¬
tigt werden. Auch hier Spitzkugeln für die gezogenen Kanonen. Dieselbe
Thätigkeit der Menschen und Maschinen, nur der Widerstandsfähigkeit und
Schwere der Objecte gemäß etwas verlangsamt. Dennoch fällt in jeder Mi¬
nute eine fertige Kugel, die in rohem Zustande hineingeworfen, in glänzend
ausgearbeitetem Bleimantel aus der Maschine hervor. Ich versäumte nicht,
die in meiner Anwesenheit Neugebornen mit dem Fuße zu bekreuzigen und heim-
lich einen furchtbaren chaldüischen Segen darüber auszusprecher^ aber ich habe
ihnen damit vielleicht zuviel gethan; denn es gilt als langjährige Beobachtung,
daß diese Producte der k. k. Prometheuse die hohen Zwecke, für welche sie ver¬
wendet zu werden pflegen, allzugenau in ihrem Laufe nachahmend in humanen
Schwunge über die Häupter der Sterblichen hinwcgsausen.
Dann kommen Säle, wo neue Kanonen in zierlich modellirter Lchmform
gegossen und alte in weißglühenden Oefen, die auf zwanzig Schritt eine un¬
erträgliche Hitze ausströmen, umgeschmolzen werden; Säle, wo mit eintönigem
Gebrumm der Stahlbohrer sich in die massive Rohrstange hineinfrißt, langsam
aber unaufhaltsam durch die harte Masse vorwärts dringend. Säle, wo von
ähnlichen Stahlmaschinen die frappantesten Züge der Neuzeit, die neu erfun¬
denen Zugstreifen in das rundgebohrte Rohr gegraben werden; Säle, wo die
gezogenen Broncckanonen den letzten Schliff für die pädagogische Bearbeitung
ungezogener Gegner erhalten.
Hier hört man durcheinander schwirrende Urtheile, wie sie dem Laien „in
seines Nichts durchbohrende Gefühle" stumm Augen und Ohren sperren machen,
und Sterne, der sich darüber wunderte, wie geläufig in Frankreich jeder Straßen¬
junge französisch spreche, würde noch mehr durch die Fülle kriegswissenschaftlicher
Kenntnisse in Erstaunen versetzt worden sein, die hier jeder lumpenbehängte
Kroate in präadamitischen Kehllauten austrank. Still schlich ich mich fort, mit
dem gesteigerten Gefühl, die Menschheit zerfalle in zwei Theile, in den, der
todt schieße und den, der zum Todtgeschosscnwerden bestimmt sei; oder kürzer
ausgedrückt, in Kanonenbedicnung und Kanonenfutter.
Mein Begleiter rüttelte mich aus meinen Kreuz- und Quergedanken auf,
in die ich versunken war. „Jetzt aufgeschaut, jetzt sollen Sie das wunderbarste
von allen diesen Wundern sehen." Er öffnete eine Thür und ein imposanter
Anblick bot sich dar. Es war ein Saal wie die vorigen, nur ganz von einer
einzigen Maschine ausgefüllt. Ein riesenhaftes Schwungrad, das von ihr in
immer gleichmäßiger Bewegung erhalten wurde, theilte diese durch Züge, die
sich in den Wänden verloren, an sämmtliche Maschinen sämmtlicher Säle mit, die
wir zuvor betrachtet hatten. Die größte wie die kleinste Arbeit derselben, jedes
Bcrnichtungswerkzeug, das aus dem Ganzen hervorging, war das Werk ihres
Antriebs. Sie war noch nicht alt; an ihrer Spitze über einem dünnen Stahl¬
cylinder stand wie in allen Sälen eingravirt: ^. I.
Der Aufsicht haltende Posten, der uns geführt, hatte schon längere Zeit
meinem Begleiter die complicirte Einrichtung der Maschine erläutert; doch ich
stand zu fern und hatte die Beschreibung über dem wüsten Getöse des Rades
nicht vernommen. Er schloß gerade seinen Sermon, als ich hinzutrat, und sagte,
auf den vorher von mir betrachteten Stahlcylinder deutend: „Schauens. Euer
Gnaden; dies kleine Strifterl hält das Ganze z'sammen, man sollt's net
denke. Aber wenn man ihn raußizög oder er brach' z'sammen, da stand d'
ganze G'schicht still und's wär' alles aus und nix mehr."--
Wir traten ins Freie. Ueber uns fing eine mächtige Glocke an mit weit-
dröhnendem Geläut die Mittagsstunde zu verkünden und von allen Seiten
strömten die Arbeiter aus den Thüren hervor und drängten in dunklen Sche¬
ren über die weiten, sonncnhcißen Räume innerhalb der Ringmauern ihrem
Mittagsmahle zu. Bruchstücke von Uniformen, welche sie unterschieden, ließen
mich den Aufseher, der uns vor die Thür begleitet hatte, fragen, ob die Ar¬
beiter aus lauter Soldaten beständen. „Größtentheils," antwortete er; „es
sind nur etwa 200 Civilisten unbeschäftigt." Er sprach das Wort mit einer
gewissen Verachtung aus. „Wie viele sind ihrer denn im Ganzen?" fragte ich
erstaunt. „Wenn alle anwesend sind 14—13,000 — kommt halt fast nimmer
vor — lüss' d' Hand Euer Gnaden."
„Glauben Sie wirklich, daß darum die Geschichte Stillstände?" — fragte
mein Begleiter nachdenklich, als wir wieder in unserm Wagen saßen. Ich
nickte zustimmend mit dem Kopfe; hinter uns war schon fern die dunkle
Zwingburg verschwunden und wir rollten blitzgeschwind durch die Straßen der
schönsten Stadt, die wie ein tändelnder Knabe über den Schlünden eines Kra¬
Die neue Ausgabe von Ruges Uebersetzung des viel berühmten Werkes, das
seiner Zeit in die historische Literatur als ein Hecht in den Karpfenteich geworfen
wurde, bringt natürlich keine materiellen Erweiterungen, sondernist im Wesentlichen
»ur stilistische Ueberarbeitung. Dank verdient es, daß Rüge derselben einen
kurzen Abriß vom Lebens- und Studicngangc des merkwürdigen und ungewöhnlichen
Forschers vorausschickt, der sich durch sein erstes großes Buch auch sein Todtenmal
setzte. Da derselbe für die deutschen Verehrer Bucklcs manches Neue enthält, so
glauben wir einen kurzen Auszug davon mittheilen zu sollen. — Henry Thomas
Buckle ist am 24, Nov. 1822 geboren und in seinen, 40sten Jahre als Junggesell ge¬
storben. Seiner zarte» Natur wegen wurde er früh aus der Schule genommen
und hat weder eine Gelehrtenschule noch eine Universität besucht. Was er wurde, ist
er vollständig als Autodidakt geworden , d. h. lediglich durch den edlen Wahrheits- und
Wissenstrieb, mit dem er sich der Gelehrsamkeit aus Büchern bemächtigte. Er war
vou mittler, zarter Statur, von gefülligem Aeußern und echt englischem Typus. Als
er 18 Jahr war, starb sein Vater, Schiffseigner in London, und hinterließ ihm ein
ansehnliches Vermögen. Die Mittel verführten ihn nicht, wie es in England so leicht
geschieht, äußeren Zielen nachzujagen; sondern sie dienten ihm nur dazu, sich große
wissenschaftliche Sammlungen anzuschaffen und seine Muße ganz der Gelehrsamkeit
zu widmen. Durch sein unermüdliches Lesen und Nvtizausschreibcn erhöhte er seine
Gedüchtnißkraft in wahrhaft staunenswürdiger Weise. Das so aufgenommene Material
soll keineswegs eine unorganische Masse in seinem Gehirn gebildet haben, sondern wurde
mit überlegenem Geist geordnet; aber dennoch, sagt Ruge selbst, übernahm er sich
dergestalt, daß er sich eben doch buchstäblich ,,todtgclcsen" hat. Die Meinung,
Buckle habe ungerecht und gering über die Deutschen geurtheilt, wird allerdings
glänzend widerlegt durch Mittheilungen von Aussprüchen, aus denen hervorgeht, wie
außerordentlich hoch er dan, Verdienst der deutschen Wissenschaft gestellt hat. Beim
Anblick der Lssazw und Koviovs der oxfordcr Theologen, die er als einen merk¬
würdigen Schritt der Engländer zur Geistesfreiheit achtete, fügte er unaufgefordert
hinzu! „freilich haben wir Engländer noch weit hin, um es den Deutschen in der
Freiheit und Kunden des Denkens gleichzuthun." Seine Hochachtung vor Hegel
drückte er lebhaft ans; so wenig er sich auch im Stande erklärte, ihm in seinen
systematischen und dialektischen Werken zu folgen, so habe er doch viel von ihm
gelernt. — Seine Vorbereitungen auf das umfassende Geschichtswerk, dessen An¬
fänge wir von ihm besitzen, beschränkten sich nicht auf literarische Quellenstudien,
sondern dehnten sich aus Reisen aus, die er nach Spanien, Frankreich, Italien und
Deutschland machte. Der erforderlichen neuen Sprachen war er hinreichend mäch¬
tig, ebenso der alten. Seine nachgelassenen Collectaneen zur Geschichte der Civili¬
sation in England solle» einen trefflichen Begriff von der Art seiner Arbeit geben.
I. S. Stuart Glennie rühmt sie in seinen Berichten an die Times als Muster von
Mannigfaltigkeit und methodischer Anlage. Von Entwürfen sind außerdem vor¬
handen Abhandlungen über den Geldzins, ferner über Bako, Shakespeare und über
den Einfluß des nördlichen Palästina auf den Ursprung des Christenthums. Im
Frühling 1861, nach dem Abschlüsse des 2. Theiles seiner Geschichte, stellte sich eine
bedenkliche Veränderung in seinem Befinden heraus- sein sonst so getreues Gedächt¬
niß ließ nach. Die Aerzte schickten ihn in den Süden, damit er sich erholen sollte.
Im Herbst ging er in Begleitung der beiden Söhne eines Freundes »ach dem Nil.
Sei» Zustand besserte sich sehr schnell; der Aufenthalt in der Wüste schien ihn völlig
curirt zu haben, so daß er sich nicht scheute, eine beschwerliche Reise zu Pferd durch
Palästina zu machen. Sie bekam ihm anfangs gut; aber in Nazareth und in Sidon
wurde er durch Krankheit aufgehalten. Dennoch befchloß er, bis Damaskus vor¬
zudringen, dessen Anblick ihn ungemein entzückte. Aber die unvermeidlichen Strapazen
brachten die Krankheit von neuem zum Ausbruch und diesmal mit unerbittlichem
Ernste. Zur Unterleibsentzündung, bei welcher ihm Opium gegeben wurde, das
häufiges Irrereden verursachte, trat noch das Nervenfieber. dem er am neunten Tage,
am 29. Mai 1862 erlag. Er wurde ans dem protestantischen Friedhofe beerdigt,
über dessen schöne Lage er sich noch kurz vorher sehr gefreut hatte. Unter seinen
letzten Sorgen nahm sein Buch den ersten Platz ein. Im Fieber klagte er oft, daß
er es nicht zu Ende bringen werde. — Der Nachlaß siel an die Schwester des Ver¬
storbenen, seine Manuscripte an einen Vetter, welcher Advocat ist und von dessen
mehr als spärlicher Muße das Schicksal dieser Schütze abhängt.
Aus einem gewissen Pflichtgefühl gegen sich selbst und gegen den gefeierten
Todten läßt Rüge den biographischen Notizen ein oraw xro äomo folgen. Er
beabsichtigt, den Vorwurf, „daß er mit der Uebersetzung des buckleschen Werkes ins
Lager der Materialisten übergelaufen sei", zurückzuweisen, indem er es einestheils
für Willkür erklärt, daß man seine Anschauungen mit denjenigen des Engländers
idendificire, blos weil er sein Buch übersetzt habe, anderntheils indem er läugnet,
daß Buckle selbst Materialist gewesen sei. Vielleicht hat man bei uns in Deutschland,
Wo das englische Buch von mancher Seite als eine zweite Phüuomcnolvgie begrüßt
wurde, zu schnell zurückgeschlossen auf das innere Verhältniß des Uebersetzers zum
Urheber, der ja dasselbe mit sehr principiellen Nachdruck in die Hände seiner Lnnds-
leutc legte; vielleicht, — die neuen Bemerkungen Ruges überzeugen uns nicht da¬
von. Stunde er der Sache objectiv gegenüber, wozu dann diese gesuchte Phraseo¬
logie, dieses unerfreuliche Echauffement, diese leeren Tiraden der zweiten Vorrede?
Zwei Beobachtungen drängen sich uns auf! R. scheint den loxsus nüirmi zu empfin¬
den, der ihm durch die übertriebene Empfehlung von Buckles Werk passtet ist, er
kann es aber nicht über sich gewinnen, dies einzngcstehn oder auch nur zu schwei¬
gen. Da er nun aber in Verlegenheit ist, welchen principiellen Gegner er anreden
soll, so macht er sich selber einen zurecht und führt mit Behagen Lufthiebc gegen
das Phantom, unter dem seine Vertrauten so etwas wie die deutsche Geschichts¬
wissenschaft verstehen zu sollen scheinen. Oder wer in aller Welt sind die Leute, die
er im Sinne hat bei der Parabase über den wissenschaftlichen Götzendienst gegen die
Dreieinigkeit der Herren, Haudegen und Pfaffe», oder diejenigen, welche „auf der
Kommandantenstraße oder dem Geusd'armcnmarkt den Finger an die Nase heben
und einsehn, daß der Krig, das Stigma der Barbarei, weil er Sklaven macht, nicht
abgenommen hat, sondern in voller Blüthe steht, obgleich jeder Krieg wesentlich
Krieg gegen den Krieg, Krieg gegen das Princip des Krieges sei; — welche erken¬
nen, daß das Denken ab- und der Glaube zugenommen hat und daß alle Revolu¬
tionen des Volkes nur den Despotismus stärker gemacht haben?" Das sind Ausfälle,
die wenig Aussicht haben, für etwas anderes als für Phrasen genommen zu wer¬
den. Sie zeigen leider, wie leicht der Deutsche trotz uoch so lebhaften literarischen
Verkehrs mit dem Vaterlande in der Fremde die Fühlung des Geistes der Heimath
verliert, wenn er auch noch so sehr zeigt, wie er mit der Schwäche behaftet ge¬
blieben ist, sich von fremden Producten, namentlich von englischen, imponiren zu
lassen. Die Art, wie das nicht blos naive, sondern in seiner negativen Meinung
äußerst bedenkliche Axiom Buckles von der Souveränetät des Wissens und der Aus¬
schließlichkeit des Werthes der blos intellectuellen Fortschritte der Menschheit hier
wiederholt als ein neues Evangelium gepredigt wird, ist in Wahrheit sehr bedauer-
lich, weil es wiederum die Kluft befestigt, die zwischen den Anschauungen dieses Pre¬
digers und seiner Nation besteht. Denn wer allen Ernstes einen Wcltzustand träumt,
in welchem die Späne der Völker statt mit Karthaunen blos mit der Dialektik aus¬
geglichen würden und aller mittelalterliche und asiatische Plunder, worunter Herr
N. das meiste real Gewordene zu begreifen Miene macht, dessen Natur es ist, den
idealen Entwicklungsgang der Menschheit aufzuhalten, der hat in Utopien das Ehren-
bürgerrecht zu beanspruchen, aber vermuthlich selbst in Deutschland, der Heimath
der Ideologen, keine Gemeinde mehr. Denn bei uns ist, Gott sei Dank, praktisch
und theoretisch die Einsicht lebendig, welch eingefleischte Unart der Realitäten es sei,
daß sie nicht verschwinden, wenn man die Augen zumacht oder sie läugnet.
Mit solchem Aberglauben wird trotz aller Courtoisie, die ihm N. zu erweisen fort¬
fährt, Hegel übersegelt und, wie wir glauben, auch Buckle überbuckelt.
Mit den Theorien des Engländers haben sich die Grenzboten gleich beim Er¬
scheinen der ersten deutschen Auflage seines Buches gründlich auseinandergesetzt. Es
ist nicht nöthig, den Nachdruck zu wiederholen, mit welchem es geschehen mußte.
Schlimm für ein Werk, wenn es gerade in dem Punkte, den es als seine prin¬
cipielle Rechtfertigung und gar als Titel einer neuen Wissenschaft zur Schau trägt,
für uns nicht nur ohne Werth, sondern sehr ernstlich vom Uebel erscheint. Als er
glaubte, der Geschichte durch die naturwissenschaftliche Methode — wie er sie be¬
greift — zum Range einer Wissenschaft zu verhelfen, that er einen Schritt, der
nicht ohne Interesse war, der aber seiner eigentlichen Meinung nach in die Reihe
anderer sehr alter Phänomene gehört, über deren Werth sich heute nur Wenige noch
täuschen. —
Auf Grund einer umfassenden Belesenheit, mit Geschmack und Fleiß hat der
Verf. den Citatenschatz unseres Volkes in reicher Auswahl zusammengestellt. Daß
die Mühe dankbar gewesen ist, bezeugt er selbst und beweist die zweite Auflage des
Buches. Gern fügen auch wir unsere aufrichtige Anerkennung hinzu. Der Sammler
verwahrt sich im Vorwort gegen eine falsche Auffassung seines Zweckes. Seine
Sammlung von osxrit ass g-nerfs — wie das der Franzose bezeichnet — soll
kein Salbeukäslchen der Scheinbildung sein, die sich gern auf billige Weise mit den
Quintessenzen fremder Anschauungen und Redeblumen schmückt, sondern ein Promp-
tuarinm für den Kenner und ernsthaften Liebhaber unseres Volksgeistes und seiner
Art, sich prägnant zu äußern. Indem es uns eine lange Reihe bekannter Citate aus
Dichtungen vorführt, welche zur täglichen Scheidemünze im Umgang der Gebildeten
geworden sind, und manchen überraschenden Aufschluß über ihre Entstehung giebt,
erhalten wie Belehrung darüber, wie Dichterwort und Volksweisheit, bewußte Sen¬
tenz und naives Sprichwort gegenseitig auf einander wirken, wie sich der Geist der
Nation und ihrer Lehrer und Lieblinge begegnen und befruchten. Auch fremde
Literaturen sind herangezogen und man erkennt mit Genugthuung, daß unser Volk
mit seinem allseitigen Ancignungsvermögen auch auf diesem Gebiete das Recht hat,
von sich zu sagen, daß alles Beste ihm national sei. Ebenso schätzenswerth sind die
Nachweise über den Ursprung der historischen Wörter und Redensarten, welche der
Anhang giebt. Wir wünschen dem kleinen anspruchslosen Buche fernere Verbreitung
und dem Sammler fortdauernde Erfolge auf diesem nicht minder wichtigen wie an¬
ziehenden Gebiete.
Geschichte des Wuchers in Deutschland bis zur Gründung der heutigen
Zinsengesche, aus handschriftlichen und gedruckten Quellen dargestellt von
Max.Neumann, Dr. und Docenten der Rechte an der Universität Bses-
lau. Halle 1865.
Das Recht der römisch-katholischen Kirche untersagte in weitester Aus¬
dehnung, die Nutzung fremden Capitales zu vergüten. Als dieses Zinsenver¬
bot, ausgerüstet mit der ganzen geistlichen und weltlichen Macht der Kirche,
vornehmlich seit der Zeit der Karolinger in Deutschland Eingang gewann, fand
es in den weltlichen Gesetzen der Kaiser, Landesfürsten, Städte, in den Nechts-
büchern u. s. w. fast bedingungslose Anerkennung; in dem Betriebe des täg¬
lichen Verkehrs dagegen wurde es, sobald dieser sich weiter ausbildete und be¬
sonders den persönlichen Credit entwickelte, als naturwidrig auf das heftigste
bekämpft. Am Ende dieses großartigen und in der Geschichte des Rechtes
und der Volkswirthschaft einzigen Kampfes, dessen Detail obige Schrift mit
vielen neuen Resultaten für die deutsche Jurisprudenz und Nationalökonomie
streng quellenmäßig darlegt, zwang der Verkehr im sechzehnten Jahrhundert die
Gesetzgeber, wenigstens die 5 und 6 Procent Zinsen anzuerkennen, an deren
Schranke wir eben jetzt zur völligen Beseitigung jenes kirchlichen Zincverbvtes
n,it aller Macht rütteln. Aber bereits im Mittelalter vermochte das Wucher¬
gesetz unsere Gesetzgeber doch nicht so weit von dem natürlichen Boden des
Capitalvcrkehrs zu entfernen, daß sie nicht, entsprechend der Natur des deut¬
schen Rechtes. in einigen wichtigen Ausnahmen die Forderung von vereinbarten
Zinsen für die vertragsmäßige Nutzung fremden Capitales gestatteten. Eine
dieser Ausnahmen bilden die zinsbaren Darlehne der Wechsler.
Seit früher Zeit erforderten die deutschen Münzzustände den Ge¬
schäftsbetrieb von Wechslern. Da nämlich die Kaiser das Münzregal als Kauf-
Waare. Geschenk oder sonst an geistliche und weltliche Fürsten übertrugen, ent¬
stand im Reiche durch die verschiedenen Münzfüße, durch die absichtliche
oder unabsichtliche Veränderung des Münzgchaltes eine unglaubliche Ver¬
wirrung; diese steigerte sich dadurch, daß die Fürsten das Münzregal als er-
gicbige Finanzquelle nutzten und ausbeuteten. In Schlesien u, a. legten gar
seit 1226 die Bischöfe und Herzöge statt der neuen Umprägungen eine jährlich
fällige Grundsteuer, „Münzgeld" oder „Abeganc" genannt, den Einwohnern auf.
Die fremden Münzherren verschlimmerten das Uebel, indem sie die inländischen
besseren Münzen «umtauften und einschmolzen. So fiel der Münzwerth stetig
und bedenklich schnell; weder die in sich schwankenden Cursnvrmirungen der
Kaiser, noch die oft von den Paciscenten selbst übertretenen Münzvereinigungen
benachbarter Münzherrcn hälfe» dagegen. Ueberall im Reiche traf man die¬
selben Mißstände; in Pommern u. a. nutzten selbst die Städte als Aus¬
über des Münzregals letzteres ebenso zum größten Nachtheile des Verkehrs.
Indeß gerade die Städte als Sitze des Hauptverkehrs, mußten am meisten
unter dieser Plage leiden, daher suchten viele derselben, und schon seit dem
zwölften Jahrhundert, bei der Münzprägung durch Stimme und That mit¬
zuwirken; das Münzrecht selbst erwarben sie nicht. Wo die Kaiser oder Fürsten
es hier nicht selbst behielten und übten, übertrugen sie es als Lehn vielfach
dienstmännischen oder patrizischen Geschlechtern, welche eine eigene Zunft, „die
Hausgenossen", unter dem Münzmeister bildeten und Abgaben an den Lehns¬
herrn entrichteten.
Eines der Hauptprivilegien dieser Hausgenossen war, daß sie allein in den
Städten Geld wechseln durften; das Privileg des ^shok oder vessel erschien
so bedeutend, daß nach ihm alle Münzer „Wechsler", (oamdiatorös, camp-
sores) genannt wurden. Enge hing es mit den sonstigen Geschäften der
Münzer, besonders mit ihrer Controle der umlaufenden Münzen und Zah¬
lungen zusammen. Bei der oben erwähnten Münzwirrniß mußte es den Wechs¬
lern (Münzern) einen namhaften Gewinn abwerfen, zugleich aber sie in stete
Berührung mit dem Volke, vmnehmlich den Kaufleuten bringen.
Im Nordosten Deutschlands wie in Polen und Litthauen vollzogen seit
dem zwölften Jahrhundert die Thätigkeit der Wechsler nicht die Münzer, die
Hausgenossen, sondern angesehene Kaufleute, welche im Uevrigen nur
ihren kaufmännischen Geschäften oblagen. Hier handelte es sich vornehmlich
um den Wechsel der für den päpstlichen Hof in diesen Gegenden als Abgaben,
Geschenke u. s. w. eingegangenen und durch besonders bevollmächtigte päpstliche
Sammler an einzelnen Hauptorten zusammengebrachten Geldbeträge. Während
nämlich in den übrigen Ländern des europäischen Nordens die Curie durch
ihre eigenen Wechsler oder wenigstens durch die Commanditen italienischer Bank¬
häuser diese Beträge einziehen ließ, mußte sie hier darauf verzichten, weil
weder die — wenn auch an sich sehr respectable — Höhe der Beträge, noch
der sonstige Zustand des Verkehrs, besonders des Zwischenhandels genügten, um
solche Wechsler zur Niederlassung anzulocken. Erst seit dem fünfzehnten Jahr¬
hundert wurden hier die Gelder der Curie, welche bisher (nach der Umwechs.
lung) baar und direct an den päpstlichen Hof gingen oder baar nach Flandern
und von Brügge dann durch die dortigen italienischen Zweigbanken in Form
Von Wechsclbriefcn nach Avignon wanderten, von deutschen und italienischen
Wechslern aus Krakau und Breslau baar oder in Wechselbnefen nach Italien
gesendet.
Neben diesen Kaufleuten endlich und jenen Münzern, zuweilen vielleicht
aus letzteren hervorgegangen, besorgten den Geldwechsel schon seit dem drei¬
zehnten Jahrhundert eine Reihe von Nebenwechslern, Von den Münzern
beaufsichtigt oder unabhängig von ihnen, durch die städtische Obrigkeit gegen
Cautien und jährliche Abgaben concessionirt, wechselten dieselben ebenfalls
Geldbetlägc und besorgten den Baartransport; sie liehen aber auch zinsbare
Darlehne gegen Pfänder, Bürgen und andere Sicherheit, nahmen Depositen und
schafften Wechselbriefe auf Bestellung, nur nicht nach entfernten Zahlungsorten.
An der Münzprägung indeß waren sie nicht betheiligt. Derartige Wechsler
wohnten in Lübeck z. B. 1290 zwei. Gherardus und Hinrikus. welche u. a.
dem indischen Gesandten in Flandern, Reinekinus Morncwech für die Stadt
Darlehn gaben; außerdem werden dort in demselben Jahre vier andere
Nebenwechsler genannt, welche für ihre Wechselbuden auf dem Markte dem
Rathe je fünf Mark jährlichen Miethzins zahlten. 1316 befanden sich in Luden?
bereits zwölf solcher Wechsler, welche, obgleich ihre Buden ihnen eigenthümlich
gehörten, dem Rathe jährlich je 12 Mark Abgaben zahlten; der Minimalsatz
der Abgaben war indeß 60 Mark, sodaß. wenn weniger als fünf Wechsler
dort wohnten, diese doch jedesmal 60 Mark, also jeder mehr als 12 Mark
steuern mußten; außerdem hinterlegten sie beim Rathe je 200 Mark Caution.
In gleicher Weise schieden sich in Hamburg Münzer und Wechsler seit dem
dreizehnten Jahrhundert. Viele der letzteren besaßen erbliche Wechsclbänte
(Buden) nahe dem Rathhause und der Börse, welche sie nach Belieben
wie andere Realrechte übertrugen. Eine Brüderschaft bildeten sie nicht, nur
ein Amt mit Amtsmeistern, ihre Abgaben vom Gewerbe oder den Buden
zahlten sie hier vielleicht an die Münzer; frühe schon wurden sie hier von dem
städtischen Münzmeister und Wardein verdrängt, denen der Rath auch den
Geldwechsel gestaltete.
Nebenwechsler in ganz ähnlicher Stellung und Thätigkeit wie jene findet
man dann auch in den preußischen und polnischen Städten, so in Danzig
Königsberg, Thorn, Krakau, Breslau, Brieg schon seit dem vierzehnten Jahr¬
hundert. Sie beschränken sich entweder darauf, für einen einzelnen Fürsten, für
den Rath einer Stadt, für jedermann Geld gegen Geld zu wechseln und Dar¬
lehn gegen Sicherheit zu geben, oder sie dehnten ihren Geschäftsbetrieb auf
Geldtransporte und Besorgung von Wechselbriefen selbst bis Süddeutschland
und Flandern hin aus. Italienische und niederländische Wechsler, die sich seit
dem fünfzehnten Jahrhundert in diesen Gegenden ansiedelten, mochten letztere
Erweiterung ihres Geschäftes gefördert haben. Eben der Erweiterung wegen
mußten diese Wechsler jährlich mehrmals Geschäftsreisen zwischen den einzelnen
Orten ihrer Geschäftsdistncte selbst und mit den die Nebenorte besuchenden
Dienern unternehmen. Hier erleichterten ihnen die regelmäßigen Waarenmärkte,
vornehmlich die von Danzig, Thorn, Posen, Breslau, Naumburg, Leipzig.
Frankfurt, Augsburg, Nürnberg die Abwicklung der Verbindlichkeiten. Denn
wie in den großen Wechselmessen der Champagne erwiesen sich auch hier die
Märkte dazu besonders geeignet, wenn sie auch nicht, wie jene, Mittelpunkte
des Waaren- und Geldverkehres bildeten. Sie vereinfachten die Handhabung
der Wcchselgeschäfte indem z. B. die Wechsler Deckung für die auf die Messe
gezogenen Wechsel mitbrachten und dort gegenseitige Forderungen regulirten,
nicht selten auch den Wechselcurs vereinbarten. In der Mitte des siebzehnten
Jahrhunderts, als in den Wechselordnungen so eingehende Rücksicht auf die
Mehwechsel genommen wurde, beeinträchtigte das damals gerade erstarkende
Indossament deren Bedeutung. — Erst im sechzehnten und siebzehnten Jahr¬
hundert wurden solche Geschäftsreisen der Wechsler weniger nöthig, da ab¬
gesehen von der wachsenden Bedeutung der Märkte die einzelnen Wechsler selbst
von ihren Wohnsitzen aus sich mit einander in regelmäßige Geschäftsverbindung
setzten und so bis zu den nächsten Märkten auf einander ziehen konnten, wie
in Süd- und Westeuropa die italienischen und französischen Wechsler.
Neben diesem deutschen Ursprünge der Wechsler läßt sich ein italienisch¬
niederländischer nachweisen. Bekanntlich errichteten schon seit dem achten
Jahrhundert die Hauptplätze des italienischen Handels. Amalfi, Ankona, Venedig,
dann auch französische Handelsorte Niederlassungen im Orient. Noch über die
dem Handel besonders förderlichen Kreuzzüge hinaus blühten diese Niederlassungen.
Von solcher Grundlage aus verbreitete sich der verzweigte Waaren- und Geld¬
handel der italienischen Kaufleute und Bankiers trotz der mannigfachsten Verfol¬
gungen über Frankreich, die Niederlande und England. Die Commanditen der
großen italienischen Bankhäuser folgten den Kaufleuten in die Fremde, um ihnen
bei Regulirung des von ihnen im Eigenhandel eingenommenen Geldes zur Er¬
möglichung ihrer Geldgeschäfte Geldsendungen nach und von der Heimath und
sonst erwünschte Dienste zu leisten. So betraten sie auch das Gebiet des deut¬
schen Handels als Kaufleute und Wechsler.
In Süddeutschland war dies bei den steten, unmittelbaren alten Handels¬
verbindungen mit Italien und Frankreich (besonders mit den Wechselmessen der
Champagne) vornehmlich der Fall. Zahlreiche Nachrichten hierüber bezeugen dies
bereits seit dem Anfange des dreizehnten Jahrhundert für den größeren Theil
der bedeutenden und unbedeutenden Städte in Süddeutschland und selbst am
Niederrhein. Hier wie in Norddeutschland hießen sie Lombarden (I^ompar-
ter, liummert), ^Vater (d. h. ^VüIIonon), euoroini (e^r- vo-wsrtselriv), und
gerade in Süddeutschland befand sich unter den Geschlcchtcrnamen nach dem
Orte der Abstammung auch der „unter asu ^Valeu" (inter I^tinos).
In Norddeutschland concurrirten schon vor den Bankniederlassungen in
Flandern italienische Kaufleute als Zwischenhändler südländischer Producte mit den
Hanseaten. Wie letztere traf man auch sie in den Haupthandelsorten Englands,
Schwedens und tief in Rußland; in den Mittelpunkten des nordischen Handels
zu Flandern nahmen sie dann ihren Hauptsitz und erwarben sich durch ihre
Handelskenntniß, ihre Geldmacht und ihren mittelst dieser errungenen Einfluß
bei den weltlichen und geistlichen Machthabern bis zu Papst und Kaiser hinauf
ein ausgedehntes und gefürchtetes Ansehn. In den deutschen Küsten- und
Binnenstädten suchten sie auf denselben Wegen als Kaufleute, Schiffsbaumeister,
Pächter von Zöllen, Bergwerken u. s. w. ihre Bedeutung zu sichern. — Die
italienischen Wechsler aber übten auf diese Gegenden die erste Einwirkung von
Flandern aus, indem nämlich deutsche Kaufleute und Boten die für die Curie,
wie oben erwähnt, im Norden und Nordosten Deutschlands gesammelten und in
Gold umgewechselten Gaben seit Uebersiedlung der Päpste nach Avignon (1305) nicht
mehr direct an den päpstlichen Hof brachten, sondern zu den italienischen Bank-
commcmditen, den Mandataren des Papstes, nach Flandern; letztere sandten die
Beträge dann in Wechselbriefen, auf ihre Bankgenossen ausgestellt, nach Avig-
non. Aber die wechselnden Kaufleute in Nordostdeutschland nutzten bald ihr
concurrenzloses Geschäft zu sehr aus. Die Boten ferner, welche die Goldbe¬
träge nach Flandern transportirten, kehrten mit den unabgclicferten Beträgen
wiederholt nach Schlesien und Polen zurück; denn 1329 waren die Bankiers
Peruzzi in Italien und Flandern fallirt, 1339 stürzte ebenso in Brügge das
große Bankhaus der Bardi, das bis dahin als Bevollmächtigter der Curie jene
päpstlichen Gelder übernommen und nach Avianon gesandt hatte. Gerade im
Anschlusse hieran suchte einer der schon oben genannten päpstlichen Sammler
1336 durch den Einfluß des Papstes italienische Wechsler zur Ansiedlung in Schle¬
sien und Polen zu bewegen. Kurze Zeit darauf erfüllte sich sein folgenreicher
Plan; seit dem Ende des vierzehnten Jahrhunderts ließen sich wirklich italienische
Wechsler, wenn auch immer in geringer Zahl, in diesen Gegenden nieder.
Zuvor beschränkte sich der Einfluß der Italiener hier fast nur auf die
Verbindung einzelner nord- und nordwestdeutscher Kaufleute oder sonstiger
Ansässiger mit den großen Wechselmessen der Champagne. Seit dem Anfange
des dreizehnten Jahrhunderts läßt sich diese Verbindung nachweisen, wo unter
andern der Erzbischof von Köln durch einen in Rom ausgestellten Solawechsel
verpflichtet wird, die Schuldsumme auf der nächsten Wcchselmesse der Cham-
Pagne den dortigen Vertretern der römischen Gläubiger zu zahlen. Die Zäh-
lung geschah meistens durch die auf den Messen regelmäßig erscheinenden Ver¬
treter der Bürger einzelner deutscher Städte.
Seit dem Ende des dreizehnten Jahrhunderts traten dann die norddeutschen
Kaufleute, die Gesandten, die Obrigkeiten der hanseatischen Städte besonders
mit den italienischen Bankiers in Flandern in Geschäftsverkehr. Sie ließen durch sie
Geldbeträge nach entfernteren Orten, vornehmlich nach Frankreich und Italien,
mittelst Wechselbriefen übersenden oder verschafften sich durch sie Geld, indem sie
ihnen Wechselbriefe, gezogen auf ihre heimischen Geschäftsfreunde und Auftrag¬
geber, verkauften. Hiervon nannte man den im Hansagebicte ursprünglich aus¬
gebildete» Wechselbrief „Ueberkauf".
Alles dieses mußte bei dem steigenden Verkehr im Hansagebiete schließlich
die italienischen Wechsler der Niederlande reizen, an einzelnen Hauptorten des
deutschen Handels wenigstens Cvmmcmditen zu errichten, wenn nicht selbst sich
niederzulassen. Dies geschah seit dem Anfange des fünfzehnten Jahrhunderts,
wie angedeutet wurde, in Schlesien und Polen; zu derselben Zeit etwa durch
„Gerardo den Walen" in Lübeck. Bald zog dieser den hanseatischen Geld- und
Wechselverkehr mit Italien und Flandern an sich, die Behörden und Kaufleute von
Neval und Riga bis Stralsund kauften von ihm Wechselbriefe, und als durch
Schuld eines brügger Bankhauses ein Wechselbrief über 200 Dukaten, welche
Danzig seinem Vertreter am päpstlichen Hofe in dem Processe gegen den Bi¬
schof von Breslau am 28. September 1431 gesandt hatte, erst im August 1432
dem Remittenten in Rom ausgezahlt wurde, wandte auch Danzig dem Walen
Gerardo in Lübeck seine ergiebige Kundschaft zu. Diese Kundschaft steigerte sich,
als der danziger Vertreter zur Fortführung jenes Processes zum Concil nach
Basel übersiedelte und Gerardo seine Bankcommandite neben der einer bsneo
Kor8illie>r aus Brügge in Basel errichtete, so daß Danzig seinem Vertreter
offenen Credit bei Gerardo auswirken konnte. Uebrigens scheint diese Zweig¬
niederlassung des lübecker Lombarden in Basel zu verrathen, daß das Bank¬
geschäft in Süddeutschland nickt besonders blühte. Auch nach des Summisten
Chr. Kuppeners Berickten vermittelte am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts
ein lübecker Wechsler den Geld- und Wechselverkehr zwischen Leipzig, Nürnberg.
Frankfurt a. M. und Venedig. Padua und Rom.
Endlich müssen bei der Frage vom Ursprünge der Wechsler in Deutschland
die Judenw echsl er genannt werden. Die Juden erwiesen sich überall, wo
der Geldverkehr durch äußere Hemmnisse unterbrochen wurde, als unersetzbares
Bindeglied zur Förderung des persönlichen Credites. Ihre Zinsgeschäfte mit
allen Schichten der Gesellschaft, besonders auch mit den kleinen Handwerkern,
traten eine lange Zeit hindurch fast allein dem kirchlichen Zinsverbote direct
entgegen und bahnten vornehmlich dessen endliche Beseitigung an.
Bekanntlich schon in der ersten Zeit des erwachenden Verkehrs wohnten
in Deutschland Juden, vereinzelt, in Worms z. B. hat man ihr Alter selbst
auf den Anfang der christlichen Zeitrechnung zurückführen wollen. (Daher fromme
Juden, die Christum nicht kreuzigten.) Neben den Klerikern waren sie seit jeher
die allbereiten Geldquellen an den Sitzen der geistlichen und weltlichen Macht¬
haber. Bei dem Entstehen vieler Städte bildeten sie den unentbehrlichen Eck¬
stein ihrer Gründung. Als Nichtchnste» und Bürger eines fremden Staates
wohnten sie in besondern Stadttheilen und Gemeinden, blieben ausgeschlossen
vom Rechte der christlichen Einwohner und zahlten an die Kaiser oder an die
von diesen ernannten Inhaber des Judcnregales als ihre Leibeigenen oder „Kammer¬
knechte" für Duldung und Schutz eine hohe Geldabgabe; außerdem entrichteten
sie kleinere Steuern an die ihnen zunächst übergeordneten Machthaber, wogegen
sie sich zur Ermöglichung ihres Unterhaltes besonderer Privilegien erfreuten.
Diese Privilegien bezogen sich auf ihre Gemeindeverfassung, ihren Frieden,
ihr Gericht, ihr Bewcisrecht und speciell auch auf ihre Geldgeschäfte. Unter
letzteren waren, was hier sogleich erwähnt werden mag, zwei die bedeutendsten:
die Juden durften straflos Zinsen und Darlehn fordern und öffentliche Pfand¬
häuser. Banken, kurz Institute halten, welche die regelmäßige Ausleihung von
Capitalien gegen Zinsen und Sicherheit zum Zwecke hatten.
Die Wechsler in Deutschland nun, deren dreifache Entstehung bisher dar¬
gelegt worden, besorgten von den Gesch äst en der großen italienischen Bankhäuser
vornehmlich nur drei, entsprechend den hiesigen Verhältnissen: den Hand Wechsel,
das Dar lehr und den Betrieb der Wechselbriefe. Erstere zwei Ge¬
schäfte vollzogen indeß besonders nur die Judenwechsler und die Wechsler deut¬
schen Ursprungs, den Wechselbetrieb besorgten diese höchstens innerhalb kleinerer
Entfernungen, kaum über Deutschlands Grenzen hinaus nach Flandern und
Italien. So fiel der Wechselbetrieb innerhalb Deutschlands wesentlich den deut¬
schen Kaufleuten selbst anheim, für die Wechsel nach Italien, Frankreich. Nieder¬
lande aber pflegten ihn die italienischen Wechsler in Deutschland. Mannigfach
aber, je nach Zeit- und Ortsverhältnissen, griffen die Eine» in de» Geschäfts¬
kreis der Andern hinüber und regten gerade durch ihren gewinnreichen Betrieb
nach einer Seite auch die Vertreter der andern Geschäfte an. sich hierin zu ver¬
suchen. Da der Wechselbetrieb somit nicht den Wechslern in jener Zeit eigen¬
thümlich, vielfach ferner bereits in dem bisher Besprochenen berührt wurde,
bleibt hier von den Geschäften der Wechsler besonders der Handwechsel und
das Darlehn zu betrachten.
Vermöge ihrer Kenntniß der Münzsorten und der Curse derselben, vermöge
ihrer mannigfachen Verbindung mit den Münzmeistern und den Prägeanstalten,
endlich wegen ihrer vielen Rundreisen in den hauptsächlichen Marktplätzen
Nachbargebiete eigneten sich für den Betrieb des Handwechselns vornehm¬
lich die deutschen und Judenwechsler. Der Gewinn bei demselben mußte nach
den oben dargelegte» Münzverhältnissen bedeutend sein; als Ersatz der Arbeit
und der Vor- und Auslagen der Wechsler fiel er nicht unter das kirchliche, noch
weniger unter das weltliche Wucherverbot.
Viele Wechsler begnügten sich hiermit zweifellos neben ihren kaufmännischen
Privatgeschäften. Andere hielten, was sich damit trefflich verbinden ließ, außer¬
dem Darlehn gegen Zinsen und Sicherheit jederzeit bereit. Wie ver¬
einte sich dies mit dem im Mittelalter so mächtigen Zinscnverbote der Gesetze?
Die Juden zunächst standen außerhalb der Christenheit und ihrer specifisch
christlichen Gesetze, deren eines das Wuchergesctz war. Das alte Testament ge¬
startete ihnen sogar, Zinsen für Capitalsnutzung von Nichtjuden zu fordern.
Und wenn einzelne Päpste wie Innocenz der Dritte in besonders heiligem Eifer
die weltlichen Behörden aufforderten, die Zinsen der Juden zu behindern, widri¬
genfalls aller Verkehr zwischen Juden und Christen aufhören müsse, so fand
dieses Vorgehen mit geringen Ausnahmen bei Klerus und Laien in Deutsch¬
land wenig Folge. Man gestattete ihnen hier ganz allgemein, Zinsen und Dar¬
lehn straflos zu fordern, damit sie, sonst vielfach beschränkt, hierin eine Erwerbs¬
quelle hätten und umso ununterbrochener und ergiebiger ihre Judenabgaben
an große und kleine Obrigkeiten entrichteten. Einzelne und selbst geistliche
Machthaber sprachen sogar unverhohlen dem kirchlichen Zinsverbote gegenüber
aus. der Judenwucher sei nöthig, da den Christen Zinsen verboten würden;
auch thäten jene damit nichts sündliches; denn Juden hätten in diesem Punkte
kein Gewissen. Selbst in den Gesetzen des Kaisers Friedrich des Zweiten, des
Freigeists, für Sicilien liest man diese Begründung.
Hiermit hatten die Kirche, der Kaiser und die ihnen untergebenen Ge¬
walthaber zuvörderst mittelbar die Wechsler und deren zinsbare Darlehen
bereits anerkannt. Sie sahen ihre Stellung und ihre Geschäfte ganz wie die¬
jenigen der Juden an. Am klarsten drückt dies der eiscnacher Stadtschreiber Pur-
goldt, der ganz auf Seiten des Zinsverbvtes steht, am Anfange des sechzehnten
Jahrhunderts aus: „Es sind auch etzlichc Christenleute offenbare Wuchrer, die
heißen Kawcrzancr (italienische Wechsler und Wechsler allgemein, s. oben) und
haben Schutz und Steuer von den Fürsten, unter denen sie gesessen sind,
umb ir gelt.. Diese Kawerzaner nehmen tägliche Zinsen auf Pfänder, Bürgen
oder Briefe, wie die Juden und darum sind sie offenbar Sünder und sind be¬
raubt der heiligen Sacramente, sie haben denn Reue darum und ihre Buße muß
offenbar sein; und darum so sind sie auch rechtlos und ehrlos vor geistlichen
und weltlichem Gerichten. Sie sind der Fürsten Kammerknechte gleich also die
Juden, dieweil sie das Wucher antreiben, an (ohne) das sie mit dem Leibe nicht
Eigne sind." So war die rechtliche, kirchliche und gesellschaftliche Stellung der
Wechsler allgemein diejenige der Juden: ihre zinsbaren Darlehen billigte man
aus denselben Gründen wie die jener. Als sie immer mehr sich nothwendig
erwiesen für die großen und kleinen Geldbedürftigen, erkannte man ihre
Zinsforderungen erst thatsächlich, dann in besonderen Privilegien an, endlich
gar in allgemeinen Gesetzen.
Solche Billigung konnte um so weniger ausbleiben, als die Kunde von
den selbst für unsere Zeit große» Zinsgeschäften der italienischen Bankhäuser und
ihrer Zweigbanken sich immer wieder auf den angegebenen Wegen von Italien
durch Deutschland verbreitete. Das geschah vor den Augen der Päpste, der
Hauptwächter des Zmsenverboles. Die Salimbeui in Florenz liebe» dein
Rathe von Siena im I. 1260 allein 20,000 Gulden auf Zinsen , noch größere
zinsbare Capitale liebe» andere florentiner Bankiers dem Könige von England
1307. der ihnen dafür den Marktpreis der englischen Wolle als Zinse» zahlte;
als die Zinsen, dann die Capitalien nicht gezahlt wurden, fallirten 1329 die
Brusini, später die Bardi in Florenz mit einem Ausfall von 16 Millionen
Gulden. Ja um 1220 schon deponirte die heilige Jvetta von Huy in Belgien
Beträge bei den dortigen Wechslern, um an deren Zinsgewin» theilzunehmen;
solcher zinsbarer Depositen von Geistliche» waren bei den Bardi 5S0.000 Gul¬
den eingelegt; und i» England errichtete Richard v. Cormvales, der reiche
Bruder Heinrichs des Dritten, mit Hintansetzung seiner Stellung zum Throne
eine Generalwechselbank, indem er durch ein königliches Privileg sich die alleinige
Bankconcession ertheilen, jeden andern Bankhalter durch harte Strafen von der
Concurrenz ausschließen ließ. Gestatteten doch selbst die Päpste — welche bis
auf diesen Tag in der Person von Pius dem Neunte» jede Zinsfolderung im
Kirchenstaate verbieten — nicht blos Laien unter verschiedensten Ausnahmen
Zinsgeschäfte, sondern mußten auch selbst der unerbittlichen Noth des Verkehrs
weichen. Papst Clemens der Vierte nahm gerade die Wechsler und deren
Zinspraxis aus. als er den Einwohnern von Siena die Excommunicanon auf¬
legte, und eben er klagte bitter über die Zinsengier der Wechsler, die ihm
einst 60 Procent von 100,000 Pf. Darlehnscapital als Zinse» vorweg abzogen.
Paul der Vierte aber machte unter dem Deckmantel einer nur gedachte» Bank¬
anlage eine Anleihe von 100,00^0 Scudi auf neun Jahre für „unerträglich hohe
Zinsen" zur Tilgung der Schulden aus den feierlichen Bestallungen Julius
des Dritten und Marcells des Dritten.
So liehen denn auch in Deutschland von den Wechslern und Juden welt¬
liche und geistliche Machthaber bis zum Kaiser und den Erzbischöfen hinauf.
Gemeinden und Privatleute jedes Standes entnahmen bei ihnen Befriedigung
ihres stets neuen Geldbedürfnisscs; jene wurde» die eigentliche» Inhaber der
flüssigen Geldcapitalien, die Träger und rastlosen Förderer des persönlichen
Credites. So standen 1358, 136S der Jude Mvscho und der Christ Pezko
Cyndal zum Herzog Ludwig v. Brieg, ebenso die Herzogin v. Schweidnitz 1384.
In Erfurt verpfändete für zinsbare Darlehn 1291 selbst der Erzbischof jüdischen
Wechslern die GcrichlSgcfälle. Das sind Einzelheiten aus einer zahllosen Reihe
von Schuldurkunden und andern Nachrichten, In gleicher Weise finden wir
seit dem dreizehnten Jahrhundert das Verhältniß in Norddeutschland, obgleich
hier den Juden insbesondere wiederholt der Eintritt oder wenigstens der Han¬
del ur den Ländern oder Städten untersagt wurde. Noch im sechzehnten Jahr¬
hundert seufzte Bogislav der Zehnte in Pommern, wie die lakonischer Worte
in seinem Notizbuchs zeigen, unter'der Wucherlast dieser Gläubiger. Nicht
anders war es in Litthauen und Polen.
Auch die Depositen der Behörden (selbst mit'.Geldern, welche pupillarische
Sicherheit verlangten), so wie der Privatleute bei den Wechslern, um sich An¬
theile am ZinSgewinn zu schaffen, waren in Deutschland üblich. Eine Einzel¬
heit hiervon soll sogleich unten bei den frankfurter Bänken 1403 erwähnt wer¬
den. Im sechzehnten Jahrhundert deponirten u. a. die städtischen Behörden
zu Amsterdam, dann auch zu Hamburg überschüssige Summen in die Banken,
damit durch den von den Wechslern daraus gezogenen Gewinn ein Fonds zur
Unterstützung schuldlos fallirter Kaufleute gebildet werde, lind selbst die Geist¬
lichen scheuten sich nicht, auf diesem Wege ihr oder der Kirchen und Klöster
Vermögen zu häufe». Eben deshalb und wegen der von ihnen gegebenen zins¬
baren Darlehen setzte manches Stadtrecht geradezu sie auf eine Stufe mit den
wuchernden Juden, und die Concilien und Synoden beschworen sie mit welt¬
lichen und himmlischen Drohungen und Strafen, von solcher zwiefachen Ueber-
tretung des Zinsverbotes abzulassen, — vergebens! die Macht des Verkehrs
und der Netz des Geldes waren stärker.
Weniger aber mit den großen, in Italien üblichen Geldgeschäfte» konnten
wegen ihrer geringere Capitälen, schwankenden Verbindung unter einander
wegen der allgemeinen factischen und rechtlichen Unsicherheit und des durch alles
dies gelähmten Unlernehmungsmuthes die Wechsler in Deutschland sich versuchen,
als mit kleinen Darlehn, welche sie gegen Empfang von Faustpfändern
oder Erzielung anderer Sicherheit und gegen Entrichtung hoher, nur aus kurze
Zeiten gemessener Zinsbeträge an die unbemittelteren Handwerks- und Handels¬
leute in großer Zahl verabreichten. So bildeten sie die Vermittler des Geld¬
umlaufes nach den unteren Schichten der Gesellschaft hin, von Woche zu Woche
liehen sie diesen die Beträge für die Geschäfts- und Haushaltskvsten, ein weniger
nöthiges Hausgeräth oder Kleidungsstück nahmen sie zum Pfande und erhielten
ihr Capital und reiche Zinsen jedesmal wieder, sobald die Kunden deS Schuld¬
ners ihre natürlich hierdurch gesteigerten Kaufschulden engten. So glichen jene
Wechsler den Marklfrauen unserer Zeit in Paris, welche sich wöchentlich
für ein Darlehn Von 3 Livres 2 Sous (173°/<> jährlich) zahlen ließen und
doch damit ein so brennendes Bedürfniß der unteren Volksschichten erfüllten,
daß die Schuldner für sie baten, wenn sie wegen Wuchers bestraft werden
sollten.
Eben weil diese Wechsler auch im Mittelalter — ja bier wegen des allem
Geldumlauf entgegentretenden Wucberverbotes und der geringen wirthschaft¬
lichen Entwicklung noch viel mehr — die so überaus zahlreichen unbemittelteren,
doch sicheren Glieder der Gesellschaft von einem Hauptübel, dein Geldmangel,
zu befreien vermochten, festigte sich allmälig die Stellung der Wechsler zunähst
thatsächlich der Art, daß die Inhaber der Wechselbänke und Darlehntisch?
jederzeit unter bestimmten Bedingungen der Sicherheit und Zinsen Darlehen
verabreichten. Seitdem wußten die Geldsuchenden, daß sie, sobald sie nur
jene Bedingungen erfüllten, stets baare Darlehn hier vorfinden mußten.
So erstand die Darlehnsbank neben der Wechselbank für Schuldner
und Gläubiger. Ein besonderer Hinweis auf dieselbe liegt in dem sogenannten
„Schadennchmen". Wenn nämlich bei Darlehen der Gläubiger zur Zablungs-
zeit vergebens die Zahlung Seitens des Schuldners erwartete und des Geldes
so dringend bedürfte, daß er die endliche Zahlung des Darlehns und des Ver¬
zugsschadens nicht abwarten konnte, so gestatteten ihm die weltlichen Gesetze
im Anschlusse an das kirchliche Recht, sich das Darlehnscapital von den nach
obiger Ausführung eben stets geld- und leihfcrtigen Wechslern gegen Zinsen
und Sicherheit zu leihen, und der Schuldner war verpflichtet, diese Beträge,
welche der Gläubiger „auf des Schuldners Schaden" vom Wechsler geliehen
hatte, nebst Zinsen und allen Unkosten dem Gläubiger zu erstatten. Es mag
hier sogleich darauf verwiesen werden, daß dieses Institut des „Sckadennehmcns"
ganz besonders das Zinsverbvt illusorisch machte, da der Gläubiger, gesetzlich
befugt, die ihm sonst untersagten Zinsen (der darin privilegirten Juden und
Wechsler) gegen den Schuldner einklagen durfte. Daß das Rechtsgeschäft nicht
blos in Süddeutschland, wo die Stadtrechte genaue Vorschriften darüber ent¬
hielten , sondern seit dem dreizehnten Jahrhundert auch in Norddeutschland und
gerade von den oben genannten unbemitteltern Handwerkern und Kleinhändlern
üblich war, läßt sich vielfach nachweisen. In allen hierher gehörigen Fällen
gestatteten die weltlichen Gesetze also den Wechslern wenigstens stillschweigend,
für die Darlehen ihrer offnen Darlehnsbänke Zinsen zu fordern.
Aber in weiterem Verlauf des Verkehrs erwies die Darlehnsbank sich trotz
des kirchlichen Zinsenverbots oder auch durch dessen Ausschluß gesunder Dar-
lehnsconcurrenz so nöthig und nickt selten heilsam für das Geldbedürfniß zu¬
nächst der niederen Stände, daß die Gesetze nickt blos die zinsbaren Darlehn
der Wechsler wie ein nothwendiges Uebel anerkannten, sondern sogar die bis¬
her nur freiwilligen Darlehnsgeber nöthigten, unter bestimmten Bedingungen
"
offene Darlehnsbänke. diese Anfänge unsrer Banken und Pfandhäuser
zu halten. Eine Zahl von Stadtrechten, welche eben dies Institut für die
Städte als wesentlich kennzeichnen, schrieben ihnen dabei nur ein hohes, doch
bestimmtes Zinsmaximum. verschieden für leidende Bürger oder Gäste, meist
nur auf Wochenfrist und kleine Capitalien berechnet, das in Frankfurt a. M.
seit 1338 nicht einmal von den Parteien herabgesetzt werden durfte, und etwa
Einzelnes über die Sicherheit vor. Damit hing zusammen, daß nach dem frei-
burger Stadtrecht (im Breisgau), der Priester es von der Kanzel herab den
Gläubigen anzeigen mußte, wenn ein Wechsler oder Jude aus der Stadt fort¬
ziehen wollte, damit jeder gegen Rückzahlung der Darlehen und Zinsen seine
Pfänder auflöste.
Der Negierungssäckel bereicherte sich durch diese Darlehnsbänke zwiefach.
Einmal hob sich in ihren Darlehn, Depositen, Kassirungen und Geschäften mit
Wechselbriefen der Verkehr; der Wohlstand der kleinen Gewerbtreibenden stieg
nicht selten; sodann reizte der Verdienst die Wechsler, sich zahlreicher in den
Städten anzusiedeln, und so boten sie ihre Fonds den Fürsten selbst zu schwer
getilgten Darlehen und nie endenden Erpressungen dar. Hierüber folgt unten
Näheres. Für solche Vortheile billigten die Fürsten und sonstigen Obrigkeiten
natürlich wieder die hohen Zinsforderungcn der Wechsler und zeigten ihnen,
wie sie durch das kirchliche und weltliche Zinsverbot fast von jeder Con-
currenz frei, um so schonungsloser ihr Vorrecht auf Kosten der zwiefach ein¬
geengten Schuldner ausbeuten konnten. In Zeit und Ort wechselten diese zwei
Bereicherungen der Fürsten mit einander.
Letzteres veranlaßte die Inhaber des Münzregals (f. oben), selbst oder durch
den Rath der Städte eigene, besonders städtische Wechselbänke, städtische'
Leib- oder Pfandhäuser, und zwar zuweilen mehre in derselben Stadt zu
errichten, wofür dann oft der Rath der betreffenden Stadt wiederum hohe Ab¬
gaben an die fürstliche Kasse zahlen mußte. Dieses Institut mußte sich um so
leichter Eingang verschaffen, als bereits seit dein Anfange des vierzehnten
Jahrhunderts städtische Leibrentenbänte in Uebung waren, welche gegen
Empfang eines angemessenen Capitals von diesem etwa 12^ oder 10°/<> Ren¬
ten (Zinsen) während ihrer Lebensdauer den Einzahlern entrichteten, beim Tode
derselben aber das Capital als Eigenthum zurückbehielten. Da bei privaten Leib¬
rentenverträgen ebenso wie noch heute bei den im Bauernstande häusigen Altentheils'
Verträgen sich über die schlechte Behandlung, die unregelmäßige Rentenzahlung
für die Rentengläubiger, deren schneller Tod eben den Rentenschuldnern erwünscht
ist, ewige Klage erhob, machten die regelmäßig und streng verwalteten städtischen
Leibrentenbänke ein vortreffliches Geschäft und warfen der öffentlichen Kasse
namhaften Gewinn, ab; das Zinsenverbot aber verletzten sie nicht, weil Aus-
gang und Gewinn dieser Geschäfte stets zweifelhaft waren wegen der ungewissen
Lebensdauer der Versicherten.
An die Leibrentenbänke schlössen sich nun die städtischen Wechsel-, Darichns-
bänke und Pfandhäuser, indem die Behörden sich entweder vornehmlich Antheil
an dem Gewinne der privaten Banken gleicher Art sichern, oder gleichzeitig da¬
mit den zu hohen Wucher der privaten Banken unmöglich machen wollten.
Für die Banken ersteren Zweckes giebt Frankfurt a. M. einen höchst
interessanten Beleg. Der dortige Rath, welcher seit 1346 das Regal des Hcmd-
wechselns erwarb und es den oben erwähnten Nebenwechslern zur Ausübung
übertrug, welcher ferner seit 1346 das Recht, kleine, seit 1429 das, große Münzen
zu prägen, von den Kaisern erhielt, „bestellte 1402 den Wessil". Er errichtete
nämlich eine Handelsbank, deren kaufmännische Geschäfte er mit seinem ein¬
geschossenen Capitale durch vierzehn gemiethete Geschäftsleute besorgen ließ.
900 si. gab er der Bank als Stammcapital und ließ außerdem 1500 si, für
die Stadtkasse durch die Bank einziehn. Privatleute durften von vornherein
ihre Gelder bei derselben anlegen und deponiren. Die Geschäfte der Bank be¬
standen wesentlich in Handwechsel, Depositen und Geldgeschäften, besonders
Darlehn. Die darin angelegten Privatgelder schützte der Rath zu seinem eige¬
nen Vortheile durch das Gesetz vom October 1402 dahin, daß diese Gelder
niemand (also auch nicht ein Gericht) sollte „verkümmern oder aufhalten" dürfen.
Schon 1403 erwies diese Bank sich so vortheilhaft, daß der Rath statt ihrer
vier neue, von einander unabhängige Banken errichtete, deren eine er selbst,
wie jene erste, verwaltete, während er die drei andern durch Concessionen an
Privatleute vermiethete. Die Hauptconcessivn enthielt folgende Hauptsätze: Joh.
Palmstorf und Druden seine eheliche Hausfrau sollen den Wechsel in ihrem
Hause zum Quydcnbaum treiben, der Rath kerbt und bestellt „an den Wechsel"
2000 si. Stammcapital, ebensoviel die Miether. Was diese mit den 4000 si.
ferner mit den Geld- und andern Depositen anderer Leute, endlich mit dem
Handwechseln und Wiegegeld (der Gelder und Kostbarkeiten) verdienen, sollte
zur Hälfte der Stadtkasse, zur Hälfte den Miethern (Bankhaltern) gehören und
jährlich zweimal, nach jeder der zwei frankfurter Messen, berechnet und getheilt
werden. Der Rath und die Bankhalter sollten sich gegenseitig, nach freiem
Willen bei ihren Ausgaben mit Darlehn unterstützen, 3 Jahre mit halbjäh¬
riger, und für die Wechsler wegen mangelnden Lebensunterhaltes oder Krank¬
heit selbst innerhalb dieser Miethszeit mit vierteljähriger Kündigung sollte der
Vertrag dauern, danach beliebig verlängert werden. Der Geschäftskreis der
Bank erhellt hieraus. Die Geldgeschäfte waren unbegrenzt, sie erstreckten sich
auf zinsbare Darlehn, Anweisungen, Wechselbriefe; letztere stellte sie auf Ver¬
langen aus. die auf sie — meist in den Messen fälligen — gezogenen Wechsel,
zum Theil von weiten Orten her, löste sie ein; das Discontiren war bekannt.
Der Gewinn des Rathes aus diesen vier Banken schwankte in den ersten neun Jah¬
ren zwischen 100 und 991 Gulden. Letztere Summe aber bildete im Jahre 1409
Vs8 der Staatseinnahmen; daß die Banken auf die städtischen Finanzen höchst
günstig einwirkten, läßt sich erweisen.
Anderer Art waren die städtischen Banken, welche sich den Privatbanken
der Juden und Wechsler gerade gegenüberstellten, um deren übermäßige Zinsen
zu hindern. Hier forderten die an sich zur Zinsforderung nicht privilegirten
Bankhalter nur Namens der städtischen, fürstlichen, kaiserlichen Macht von dem
Bankdarlehn regelmäßige, doch nicht zu hohe Zinsen. Ein Privileg für solche
Bank gab unter andern Kaiser Maximilian der Erste 1498 an den Rath von
Nürnberg; in diesem wird ausdrücklich auf den Wucher der Juden gewiesen
und an die Hilfe für die kleinen Geschäftsleute gedacht, die „Wexelbank" sollte
nicht nacb Gewinn streben, und den Zinsertrag auf ihren Unterhalt, dann zum
„gemeinen Nutzen und Gut der Stadt" anwenden. Das kirchliche und welt¬
liche Zinsenverbot wurde hier im Drängen des Verkehrs von den Behörden
offen verletzt. —
In den Niederlanden hatte der entwickeltere Verkehr schon weit früher
(seit 1297) solche Banken hervorgerufen. Der Generalstatthalter, welcher sein
Recht zur „Tafel van leeninge" vom Kaiser herleitete und es ganz ähnlich wie
in obigen deutsch-städtischen Banken, an Private gegen Caution. Abgaben, Ge¬
winnraten zur Ausübung in öffentlichen Licitationsterminen übertrug, wendete
es ebenso zu städtischen Banketablissements an, indem er oft die ganz unab¬
hängigen Privatbanken daneben verbot. Eben hieraus entspann sich 1640 der
große Streit zwischen den Juristen, Theologen und Volkswirthschafilern über
Privileg und Zahl der Banken, in welchem sich Salmasius in überraschend
klarer volkswirthschaftlicher Einsicht für die freie Concurrenz und für die mehren
Privatbanken der Lombarden entschied.
Gerade bei den Nachrichten der niederländischen Banken lassen sich Ein¬
blicke in die gleichgestalteten deutschen Banken und deren Stellung zu den Be¬
hörden, den Inhabern des Münz-, Wechsel-, Bankregals in trefflichster
Weise thun.
Außer dem Inhalte der obenerwähnten frankfurter Bankconcession wurde
den Bankhaltern (Wechslern) vorgeschrieben, unter welchen Bedingungen der
Zinsen und der Sicherheit sie jederzeit darleihen müßten, welche Abgaben sie
zu zahlen hätten. Für diese Leistungen verpfändeten die Wechsler ihr Vermögen,
die Stadt für ihre Pflichten gegen jene ihre sämmtlichen Einkünfte, außerdem
sicherte sie ihnen besondere Vorrechte zu.
Insbesondere zahlten die Privatwechsler und -Bankiers eine namhafte
Caution, ähnlich den Münzern, an die städtischen Behörden; in Amsterdam
u. a. verzinste man ihnen dieselbe nur mit 4^, während die Stadt selbst diese
Caution in dem Betriebe ihrer concurrirenden Bank anlegte und daraus min¬
destens 8«/o zog-
Natürlich konnten da die Zinsen der Bankdarlehn nicht niedriger sein.
Insbesondere steigerte sich ja bei den Schranken des Wucherverbotes im Verkehre
die Zahl der Nachfragenden, während die Anbieter an einzelnen Orten, wie ge¬
zeigt, vermindert wurden. Abgaben und Caution wurden dem Betriebscapitale vor¬
weg entzogen, um dem Gegner zu dienen, dazu kamen die unausbleiblichen Ge¬
schäftsverluste und Geschäftsunkosten für das stete Bereithalten der Capitalien, für
die großen Pfandlocale, für deren Sicherheit, für die Schaar der Diener, für
das Unterbringen vieler kleiner Geldpostcn. Und wie nutzten die Obrigkeiten,
die Gewalthaber auf das rücksichtsloseste ihre öffentlich-rechtliche Stellung gegen
die Wechsler, zumal gegen die Juden darunter, in vielen Orten aus! Betrach¬
teten sie sich doch zum Therl als Eigenthümer des baaren Vermögens dieser
Leute und ihrer ausstehenden Forderungen. Bon den einzelnen Darlehn ließen
sie sich zuweilen Abgaben entrichten, sie stellten auf sie, unbeschadet ihrer son¬
stigen Leistungen, erhebliche und nicht fällige Anweisungen aus, diese Anwei¬
sungen veräußerten sie wieder und gaben den Käufern derselben noch größere
Erpressungen der Angewiesenen ardeur. Oder der Papst für die Kreuzfahrer,
der Kaiser für seine Unterthanen erließen — wohl gar noch gegen bestimmte
Abgaben der Schuldner an ihre Kasse — den Schuldnern wiederholt und oft
in ganzen Territorien ihre ungezählten Zinsen, oder gar zum Theil oder ganz
ihre Schulocapitaiien an Judenwechsler. Eine große Zahl von Urkunden be¬
zeugt diese schmachvolle Behandlung der Juden und Wechsler Seitens der Be¬
hörden, die doch mit immensen und vielnamigen Abgaben sich ihren besondern
Schutz für jene Armen bezahlen ließen.
Natürlich mußten die Schuldner alle diese Mißstände durch um so größere
Zinsen büßen, und nur um letzteren Gewinns willen ertrugen die bedrückten
Judenwechsler besonders jene Uebel. Daß sie da nicht selten über die Grenze
des billigen Maßes hinausgingen, soll nicht geläugnet werden; aber die elfte
und Hauptursache lag nicht in ihnen, sondern in dem Gebahren der Obrigkeiten
gegen sie und in den Fesseln des Zmsenverbotcs der Christen.
In Deutschland schwankte gegenüber dem gewöhnlichen Zinsfuße (der
Renten), der von 12 und 10"/» im dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert
sich durchschnittlich im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert allgemach auf
K—S"/«, niederzog, der Zinsfuß der Wechsler zwischen 40—20°/<, (jährlich)
für Wochenzahlungen. Eben deshalb zogen die Gesetze oder die einzelnen
Bankconcessivnen diese» Zinsen, wie erwähnt, bestimmte Grenzen, und die öffent¬
lichen Banken (der Behörden) suchten durch ihre Concurrenz. was sie bei ihren
oben gezeichneten vielen Lortheilen natürlich sehr gut konnten, den Zinsfuß
herabzudrücken. Doch selbst jene gesetzlichen Zinsmaxima mußten sich dem Ver¬
kehre fügen und so schwankten auch sie vom dreizehnten bis fünfzehnten Jahr¬
hundert für Mittel-, Süd- und Westdeutschland etwa von 40—20"/».
In Brandenburg gestattete man ihnen bis zum achtzehnten Jahrhundert
24°/». in Breslau im vierzehnten Jahrhundert 25"/». dagegen schon in
Brieg 54"/» in derselben Zeit. (In Spanien schon 1228 nur 20"/». in
Sicilien eben dann um 10"/» in Frankreich aber 1360 86V,"/o). In
Oestreich blühte wegen Verschuldung der Fürsten der Wucher der Judenwechs-
ler, denen nicht selten wichtige Finanzquellen des Staates dafür verpfändet
wurden ; 1246 unter Friedrich dem Zweiten, dem letzten der Babenberger. war
er 174"/», unter dessen Vater Leopold „dem Ruhmreichen" gar 304«/». Otto-
kar der Zweite von Böhmen, der vom Kaiser Richard (im Interregnum)
Steiermark und Oestreich zu Lehn erhielt, verwarf jede gesetzliche Grenze dieser
Zinsen 1254, Rudolf V. Habsburg stellte die der 174-/» wieder her. Im sech¬
zehnten Jahrhundert sanken allmälig auch die Zinsen der Wechsler auf 12—10"/»,
doch gestattete man selbst in Belgien noch 1606 ihnen gesetzlich 50"/» per
Woche. 1640 etwa nahmen die Privatbanken dort 16"/», die öffentlichen 8°/».
Aber schon Salmasius wies 1640 darauf hin, daß man diese nur für ganz
kurze Zcitfnsten, Woche oder Monat, entrichteten Zinssätze nicht mit dem Jahres¬
maße messen dürste, ohne ungerecht zu sein. —
Schon früher erhoben sich, durch immer neue Schulden, immer höhere
Zinsen unrettbar bedrückt, in England, Frankreich, Italien die Massen der
Schuldner gegen ihre durch die Verhältnisse gezwungenen Peiniger und ruhten
nicht eher, als bis die Herrscher deren Güter eingezogen, sie selbst aus dem Lande
getrieben hatten.
In Deutschland fühlten die Volksmassen, daß ihre Wechslergläubiger nicht
selten ihnen übermäßige Zinsen abforderten. Das Zinsenverbot fesselte nach
allen Seiten ihren ersehnten Capitalverkehr; immer von neuem wurden sie in
die harten Hände derselben Gläubiger zurückgestoßen. Sie sahen, wie auch
Kirche und Kaiser und Fürst und Rath den nämlichen Gläubigern sich beugten.
Als diese aber — den Quell des Uebels verwechselnd — immer rücksichtsloser
gegen die Judenwechsler vorgingen, als sie so zu immer stärkerem Zinsdrucke
diese Gläubiger zwangen, als gar Hungersnoth und Pest hereinbrachen, da
siel das fanatische Wort der eifernden Priester zündend in die heiß erregte
Masse, an vielen Orten, wieder und wieder loderte der Haß der schuldenden
Christen gegen die wuchernden Judengläubiger empor. „Die Kirche weiht die
Klagen des Volkes, sie verdammt die Söhne Israels und schleudert das kirch¬
liche Zinsverbot auch ihnen entgegen; gemieden von allen, ein Auswurf des
Menschengeschlechtes, auch äußerlich gebrandmarkt, sollen die Juden, sich selbst
überlassen, in eigener Sünde vergehen."
„Und dem Volke gilt es, auf ein Mal die Qual der Schulden zu tilgen,
und ein für alle Mal; das Volk steht auf gegen die Juden. Am Ende des
dreizehnten Jahrhunderts, dann in der Mitte des vierzehnten, dann in immer
neuen Wallungen dieses und das folgende Jahrhundert hindurch fällt die
Volksmasse rasend über die Judenvicrtcl der Städte her, vornehmlich in Süd-
und Westdeutschland, dann auch in Mitteldeutschland, zuerst die Schaar der
gequälten Schuldner, dann die von Pest und Glaubenshaß zugleich getriebene
Masse des fieberhaft erregten Volkes. Mit Wollust wüthen sie gegen ihre
schirmberaubten, halb schuldlosen Opfer, Die Verfolger selbst machten die
Gläubiger sich zur erdrückenden Last, nun sollen diese es büßen. Welch ein
Hohn christlicher Gerechtigkeit, christlicher Liebe! Sie plündern, rauben er¬
barmungslos, den Wucher auszugleichen, sie stoßen ihre Feinde in die Ver¬
bannung hinaus, sie martern, sie morden die Uebelthäter und ihr ganzes Ge¬
schlecht. Sie zerreißen ihre Schuldurkunden, sie löschen die Summen mit des
Gläubigers Blute, mit seinem Leben zahlen sie die Zinsen. Die großen, die
grenzenlosen Summen, ruft der Chronist, welche Adel und Herr, Bürger und
Bauern ihnen schuldeten, das war der Juden Verderben!
„Die Machthaber gedachten der Hilfe, welche sie von den Juden bedurften,
mit harten Strafen züchtigten sie den Aufstand. Vergebens! Je mehr die Juden
verloren, desto mehr mußten sie in Zinsen wiedergewinnen. Bon Neuem stürzte
das Volk sich auf die Verhaßten. Die Behörden setzten die Zinsen, die Capi¬
talien, den Zinsfuß herab, sie verkürzten die Schuldposten. Aber für alle Zeit
wollen die Schuldner der Bedrängniß los sein. Die Gesetzgeber verboten den
Juden jeden Wucher, verboten, Recht zu sprechen über Zinsen, untersagten, die
gesprochenen Urtheile auszuführen; jeder Richter, jeder Bürger sollte verpflichtet
sein und berechtigt, den Wucher der Juden vor Gericht zu ziehn; jeden Verkehr
zwischen Juden und Christen verboten sie, der nicht vor dem Richter stattfand
oder für die nöthigsten Bedürfnisse, oder auf offnen Märkten. Ja. aus ihren
Gebieten Vertrieben sie die Unseligen.
„Aber wieder und wieder kehrten diese zurück und wucherten von Neuem.
Die Christen selbst, durch ihre Lage genöthigt, durch die Gesetze nicht genügend
zurückgehalten, begannen mit ihnen jenseits der Landesgrcnzen die alten Ge¬
schäfte. Wo sollten sie sonst darleihen? Die schmählich Vertriebenen riefen sie
zurück und ihre Wucherklagen begannen wieder. Wo die Particulargerichte den
armen Gläubigern das Urtheil verweigerten, verklagten sie ihre Schuldner bei
dem nächsten kaiserlichen Gerichtshofe. Die Schuldner wurden verurtheilt;
da sie ihr heimisches Gebiet überschritten, strafte man sie mit der Acht. Und
wieder reformirte man die Gesetze, im nächsten Augenblicke schon waren sie
den reißend fluthenden Ereignissen nicht mehr gewachsen. Mit härtesten Stra¬
fen bedrohte man wuchernde Juden und ungehorsame Christen. Es fruchtete
nichts! Der Verkehr ließ sich in seiner einzig möglichen Bahn nicht fesseln, nicht
hemmen, nicht zertreten. Die Gesetzgeber wußten nicht mehr, wie zu helfen.
„Dos Mittel freilich, welches zweifellos half und von Grund aus. wußte
man nicht anzuwenden, weil es unmöglich schien; die Verträge zwischen Juden
und Christen mußte man für ungiltig erklären, die Wucherer durch Ueberredung
und Hilfe zum Ackerbau und anderen Beschäftigungen^ gewöhnen oder — das
kirchliche Zinsverbot beseitigen. That man das nicht, so mochte man die Fol¬
gen tragen aus den selbst verschuldeten Mißständen, man mußte dann die Ver¬
folger mit ganzem Nachdrucke niederwerfen und den Juden endlich die Hilfe
vergelten, die man so oft von ihnen empfing. Der Zorn der Verfolger und
das Blut der Verfolgten schrien auf gegen das Gesetz der Kirche."
Diese Judenverfolgungen aber, von denen jeder der obigen Sätze mit
Quellen belegt werden kann, sprechen eben, weil sie neben dem Wucher der
Judenwechsler noch den religiösen Haß und dessen Steigerung durch die Post
zur Ursache hatten, nicht gegen die frühere Behauptung, daß die hohen Zins¬
forderungen der Wechsler beim Volke Nutzen brachten. Daher zeigten sich auch
nirgend in Deutschland allgemeine Verfolgungen der Wechsler, außer der Juden¬
wechsler, wie in den oben genannten Ländern. Die deutschen Fürsten aber
suchten, wenn sie auch nicht selten die Zinsen der Wechsler beschränken mußten,
und von den Rücksichten der eigenen Kasse zu leicht zu Bedrückungen derselben
sich bewegen ließen, doch vornehmlich die Wechsler zu Gunsten des Verkehres
in ihrem Lande und eben auch zu Nutzen ihrer Privatkassen heranzuziehen. In
Frankreich genossen bekanntlich gerade die Wechsler trotz ihrer häufigen Ver¬
folgungen bereits seit dem dreizehnten Jahrhundert eine Reibe erheblicher Vor¬
rechte; ihre Erbschaften sollten ihnen hier unbeschränkt durch die todte Hand
bleiben, von Militärdienst Einquartierung waren sie frei, behielten ihre eigenen
Vorsteher und Consul», entrichteten nicht den Zins des Königs von Schiffbrü¬
chigen u. s. f.
Daher zürnten auch auf das heftigste gegen diese Schirmherren der Wechsler,
wie gegen die Wechsler selbst, die kirchcn, ecbtlichen Schriftsteller jener Zeit. Sogar
gegen den Wucher der Juden, der doch, wie gezeigt, das Volk zu Aufständen reizte,
wandten die Gesetzgeber selten die härteste» der ihnen zu Gebote stehenden Mittel
an; und gerade die Reichsgesetze zeigten sich hier auffallend milde, da sie wohl
seit Anfang des sechzehnten Jahrhunderts die Zinc-cvntracte der Juden für nich¬
tig erklärten, doch den Territorialfürstcn aufgaben, ihre Juden zum ehrenhafte»
Gewerbe überzuleiten. Und schon im.Reichs.ibschiede von 1548 gestatteten sie
den Juden ausdrücklich, wieder fünf Procent bei ihren Darlehn zu fordern und
suchten nur weiteren betrügerischen Umgehungen dieser Zinsgrenze durch Ju¬
den und Judenwechsler vorzubeugen.
Und eben Kaiser Karl der Fünfte, welcher in den Niederlanden durch eine
Reihe von Edicten den Wechslern und Privatbanken die Zinsen ganz unter¬
sagte, dann die Wechsler wenigstens mit sittlichem Makel behaftete und ihnen
den Zutritt zu Kirche und Altar verweigerte, ließ sich in Deutschland ebenso
wenig wie seine Vorgänger von jenen Schriftstellern und den Grundsätzen des
Zinsverbotes betreffs der Wechsler und Banken leiten, sondern gestattete ihnen
auf den oben gezeichneten Wegen ihre Entwicklung in richtiger Erkenntniß, wie
wichtig für die Gestaltung des Capitalverkehres die Wechsler, ihre Banken und
Pfandhäuser waren.
Nöinoirgg an l?Al'Alma.I Oonsalvi sLei'ötÄii'v ni'stat. Zu pkpe ?le VII. ?aris,
Rom-i ?1on, 1864.
Jetzt, wo die römische Frage wieder in den Vordergrund tritt, dürfte es
nicht unpassend sein, an das Verhältniß Napoleons des Ersten zum Keiligen
Stuhle zu erinnern. Ein Augenzeuge und Mitagirender, Cardinal Consalvi, der
zuerst nach Paris gekommen war, um die Verhandlungen wegen Abschlusses
des Concvrdats zu leiten, entwirft in seinen Memoiren ein lebhaftes Bild
der damaligen Zustände, und die Aufzeichnungen dieses Kirchenfürsten verdienen
um so größere Beachtung, als seine Aussagen den unverkennbaren Stempel
der Wahrhaftigkeit tragen. Der Cardinal, der diese Memoiren im Exile schrieb,
strebt sichtlich nach Mäßigung-, er bemüht sich, so objectiv als möglich zu
bleiben und man merkt.seiner Darstellung an. daß er fürchtet, schon die schlichte
Wahrheit könnte unwahrscheinlich dünken. ,
Noch unterwegs erfuhr Consalvi, der in Gesellschaft des Cardinal Pietro
reiste, daß Napoleon durch eine dem Senate mitgetheilte Civilacte seine Heirath
mit Josephine Beauharnais als nichtig erklärt habe und daß die geistliche Be¬
hörde von Paris ebenso wie die erzbischöfliche sich für die Nichtigkeit auch
des religiösen Bandes erklärt hätten.
Einige Tage nach der Ankunft Consalvis in Paris (Januar 1810) wurde
das Ehebündniß des Kaisers mit der östreichischen Erzherzogin bekannt gemacht und
die Hochzeit sollte im Monat April in der französischen Haupistadi gefeiert
werden, nachdem sie, der Sitte des französischen Hofes gemäß, zuerst in Wien
vermittelst Procuration vollzogen worden war. Cardinal Fesch, welcher die
erste Ehe Napoleons eingesegnet, übernahm auch diesmal, das hohe Priester¬
amt zu bekleiden.
Zu jener Zeit befanden sich im Ganzen neunundzwnnzig Cardinäle in
Paris, und je näher der Tag der Hochzeit kam, um so lebhafter wurde unter
ihnen das Verhalten besprochen, das sie diesem wichtigen Ereignisse gegenüber
zu beobachten haben würden. Einige der Cardinäle beschäftigten sich mit den
theoretischen Nachforschungen, welche der Fall erheischte, und sie behaupteten,
daß die Heirathsangelegenheiten gekrönter Häupter ausschließlich vor den Richter-
stuhl des Papstes gehörten, es sei nun, daß der heilige Vater das Urtheil in
Rom spreche oder durch Vermittlung besonderer Legaten fällen ließe.
In jedem Jahrhundert finden sich Beispiele solcher Entscheidungen, und
Consalvi sagt, es ließe sich auch nicht ein einziges gegen die Regel an¬
führen. Ja dieses Recht des heiligen Stuhles sei selbst vom französischen Kaiser
anerkannt, wie dies unter andern aus den „Pariser Konferenzen" erhelle, einem
Werke, das unter dem Cardinal von Noailles. einem Gegner der römischen
Hierarchie, gedruckt worden ist. Die Officialität in Paris bekannte sich selbst
in ihrem Nichtigkeitsspruche zu dieser Ansicht. Sie hatte nämlich zuerst ihre
Dazwischenkunft in dieser Angelegenheit als nicht in ihren Bereich gehörig ver¬
weigert. Hierauf setzte der Kaiser einen aus mehren in Paris anwesenden
Bischöfen gebildeten Ausschuß zusammen, in welchem Cardinal Fesch den Vor¬
sitz führte. Diesem Ausschuß gelang es nach langen Zureden die Officialität
von Paris zu bestimmen, ihre Kompetenz anzuerkennen. In dem betreffenden
Urtheilsspruche hieß es, daß die Officialität von Paris unbeschadet der sRcchte
des augenblicklich nicht zugänglichen Papstes, competent befunden sei, die Heirath
mit der Kaiserin Josephine aus den in den Ackerstücken angeführten Grün¬
den für nichtig zu erklären. Später ließ die kaiserliche Negierung dieses Docu-
ment vernichten, wohl fühlend, daß es ihrer Sache mehr nachtheilig sei als
dienlich war.
Dreizehn Cardinäle, Mattei, Pignatelli, della Tvmaglia, ti Pietro, Litla,
Saluzzo, Nuffo Leilla, Brancadoro, Galeffi, Scotti, Gabnelli. Oppizzoni und
Consalvi, waren entschlossen, die Rechte des heiligen Stuhles zu vertheidigen,
und dem Nichtigkeitsspruchc, so weit es in ihren Kräften stand, ihre Beistimmung
zu verweigern. Fünfzehn dagegen ließen sich für die Wünsche des Kaisers ge¬
winnen, darunter Joseph und Anton Dona, Rovcrellc^ Dugnani, Vincenti,
Fesch, Albani, Erskine und Bagcme. Cardinal Capra lag am Tode.
Einige der Erstgenannten waren schwankend wie Dugnani und die beiden
Doria. andere erklärten, sie wollten sich keinen Quälereien aussetzen, und ver¬
weigerten es, sich auszusprechen. Am energischsten zu Gunsten der Nichtigkeit
des Ehebündnisses mit Josephine traten auf Roverella. Spina. Carelli, Maury.
Erskine, Bagane und Vincenti.
Nach Beendigung der Hochzeitsfeierlichkeiten gaben die Fünfzehn vor, die
Dreizehn hätten ihren Entschluß, sich nicht an denselben zu !betheiligen, ge¬
heim gehalten. Dies ist falsch. Die Dreizehn machten aus ihrem Entschlüsse
keineswegs ein Geheimniß; sie wollten aber vermeiden, daß man ihnen den
Vorwurf mache, sie hätten einen Druck auf ihre Collegen auszuüben gesucht,
was die Regierung noch unwilliger gemacht haben würde. Von einem Geheim¬
nisse könne um so weniger die Rede sein, als Manei, der älteste der Dreizehn,
die sämmtlichen Kollegen von dem Entschlüsse der Opponenten persönlich in
Kenntniß gesetzt hatte.
Zugleich waren die Letzteren bemüht, ihren Widerstand in so gelinde Form
als möglich zu kleiden. Der genannte Cardinal Mattei begab sich in dieser
Absicht zu Fesch und theilte ihm mit, daß er und zwölf seiner Collegen dem
Urtheilsspruch der geistlichen Behörde von Paris nicht beitreten könnten und
beschlossen hätten, den Hochzeitsfeierlicht'eilen nicht beizuwohnen. Mattei ließ
zugleich die Bemerkung fallen, es wäre leicht, jeden öffentlichen Skandal zu
vermeiden, wenn blos ein Theil der Cardinäle Einladungen bekäme, wie dies
bei dem Senate und bei dem gesetzgebenden Körper auch der Fall sei. Man dürfe
nur die Beschränktheit des Raumes vorschützen, und aus diese Weise würden
diejenigen Cardinäle, die sich nicht beteiligen wollten, ohne Aufsehen zu er¬
regen wegbleiben können. Nachdem Cardinal Fesch sich vergeblich bemüht hatte,
die Opponenten von ihrem Vorhaben abzubringen, versprach er endlich, mit dem
Kaiser, der sich damals in Compiögne befand, über den Gegenstand zu sprechen.
Napoleon gerieth in heftigen Zorn, wollte aber von dem Vorschlage Mattcis
nichts hören, indem er die Ueberzeugung aussprach, die Dreizehn „würden es
nicht wagen, ihr Complot auszuführen".
Der Hochzeitstag näherte sich. Die neue Kaiserin traf in Eompiögne ein
und begab sich hierauf mit dem Kaiser nach Se. Cloud. Daselbst sollten am
Samstage oder am Freitage die vorzüglichsten Staatskörper dem Fürstenpaare
ihre Aufwartung machen. Am Sonntag fand die bürgerliche Heirath in
Se. Cloud statt, am Montag die kirchliche Antrauung in den Tuilerien und
auf Dienstag Vormittag endlich war die allgemeine Cour im Thronsaale
angesagt.
Die widerspenstigen Cardinäle hielten es unter ihrer Würde und auch
nicht mit ihrer Pflicht vereinbar, Krankheit vorzuschützen und sie waren ent¬
schlossen, dem Zorn des Gebieters zu trotzen. Sie kamen überein. dem zweiten
und dritten Acte fern bleiben und blos am ersten und vierten Acte, das heißt
an den beiden Aufwartungen sich betheiligen zu wollen.
Also am Samstag oder Freitag Abend begaben sich sämmtliche Cardinäle
nach Se. Cloud. wo sie in Gesellschaft der Würdenträger des Staates, den
Ministern, den Prinzen von Geblüt u. s, w. die Ankunft der Majestäten er¬
warteten.
Fouchö, zu dem Consalvi während seines ersten Aufenthaltes in Paris in
freundschaftlichen Beziehungen gestanden hatte, kam auf diesen zu, begrüßte
ihn mit Herzlichkeit und fragte, ob es wahr sei, daß einige Cardinäle sich
weigeiten, der Heirath des Kaisers beizuwohnen, AIs Consalvi schwieg, be¬
merkte der Polizeiminister, daß er aus purer Höflichkeit die fragende Form ge¬
wählt habe, da er in seiner Stellung mit Bestimmtheit wissen müsse, wovon er
spreche. Consalvi erwiederte dem Minister, daß er mit einer der Eminenzen
spreche, die sich fern halten wollten. „Ach, was Sie mir sagen,rief Fouche
aus, ,,der Kaiser hat mir heute Morgen davon gesagt und in seinem Zorne
auch Sie genannt, aber ich habe ihm mit Bestimmtheit erklärt, daß, was Sie be¬
treffe, diese Behauptung gegen alle Wahrscheinlichkeit sei." Der Minister führte
nun Consalvi die gefährlichen Folgen einer solchen Handlung vor die Augen,
Folge», welche den Staat, die Person des Kaisers und sogar die Thronfolge
berührten. Diese Handlung würde den Feinden des Kaiserthums neue Kühn¬
heit einflößen u. s. w. Der Polizeiminister schloß mit der Bemerkung, daß
man sich zur Noth darüber hinwegsehen würde, falls die Cardinäle sich damit
begnügten, blos bei der Civiltrauung nicht zu erscheinen, dagegen müßten sie
bei der kirchlichen anwesend sein, wollten sie die Dinge nicht bis zum Aeußer-
sten treiben l^ukqu'u, 1s, ävrMi'v ruinö).
Mittlerweile war der Kaiser eingetreten und jedermann beeilte sich, den
ihm zugewiesenen Platz einzunehmen. Napoleon hielt die östreichische Prinzessin
an der Hand und nannte ihr jede Person beim Name», so wie er an ihr ^vor¬
beikam. Als das Paar an dem Platze anlangte, wo die Cardinäle sich auf¬
hielten, rief der Kaiser aus: Ach, die' Cardinäle! Hierauf stellte er mit großer
Liebenswürdigkeit und Höflichkeit einen nach dem andern vor, indem er bei
Nennung einiger derselben gewisse Einzelheiten hinzufügte, so bei der Vorstellung
Consalvis die Worte: „der das Concordat gemacht hat."
Die Eminenzen verneigten sich stumm; Napoleon setzte die Vorstellung fort
und verließ den Saal, um sich ins Theater zu begeben. Nach Paris zurück¬
gekehrt versammelten sich die Dreizehn bei ihrem College» Mattei. und Con¬
salvi berichtete sein Gespräch mit Fouchö, ohne daß diese Mittheilung irgend
etwas an dem Entschlüsse der Anwesenden geändert hätte. Am folgenden Sonn¬
tag fand die Civiltrauung statt, bei welcher von den fünfzehn Cardinälen jedoch
nur zwölf erschienen waren. Cardinal Bagane lag krank im Bette; zwei an¬
dere schützten Krankheit vor. Alle drei hatten Cardinal Fesch geschrieben, um
sich zu entschuldigen, daß sie nicht nach Se. Cloud kämen.
Auf den Montag, 2. April, war der feierliche Einzug des Kaisers und
der Kaisern in Paris sowie die kirchliche Trauung in der Tuilcrienkapelle an¬
beraumt.
Man hatte gehofft, die Vorstellungen Fouah6s würden nicht ohne Wirkung
bleiben, und darum Sitze für das gesammte heilige Kollegium bereit gestellt,
obgleich die Dreizehn bei der bürgerlichen Trauung nicht zugegen gewesen. Als
die entscheidende Stunde geschlagen hatte und man sich überzeugte, daß die
opponirenden Cardinäle nicht erscheinen würden, ließ man rasch die leeren
Sitze wegschaffen, damit wenigstens den Uneingeweihten die Lücke nicht auffalle.
Auch in den Tuilerien waren blos zwölf Cardinäle erschienen. Der
kranke Bagane raffte sich auf, um nicht abwesend zu bleiben; dagegen wurde
Erskine, schon angekleidet, durch zwei Ohnmachten verhindert, an der Feier¬
lichkeit theilzunehmen. Die Cardinäle Dngnani und Despnig entschuldigten ihr
Wegbleiben abermals durch Unpäßlichkeit.
Während der Feier der bürgerlichen wie der kirchlichen Trauung blieben
die dreizehn Cardinäle in ihren Wohnungen eingeschlossen uno verließen diesel¬
ben nicht einmal am Abend. Sie wußten durchaus nicht, welchen Eindruck
ihr Verhalten auf den Kaiser hervorgebracht hatte, da niemand gewagt hätte,
durch einen Besuch bei ihnen sich zu compromittiren. Beim Eintritt in die
Kapelle fiel Napoleons erster Blick auf die den Cardinälen angewiesenen Stühle
und als er nur elf bemerkte (Cardinal Fesch befand sich vor dem Altare), „fun¬
kelten seine Augen dermaßen und nahm sein Gesicht einen solchen Ausdruck
von Zorn und Wildheit an, daß alle, die ihn beobachteten, den Ruin derer
prophezeiten, welche sich geweigert hatten, der Heirath beizuwohnen."
Die Dreizehn begaben sich einem mit Stimmenmehrheit gefaßten Ent¬
schlüsse gemäß zu der auf den folgenden Tag angesetzten Vorstellung, trotz¬
dem daß Cardinal Consalvi und andere sich lebhaft dagegen ausgesprochen hatten.
Sie mußten mit den Senatoren, Deputirten, Bischöfen, Ministern, Palastdamen.
Kammerherren zwei Stunden in den an den Thronsaal stoßenden Gemächern
warten. Endlich öffnet sich die Thüre zu dem Saal, in welchem der Kaiser und die
Kaiserin, die Könige und Prinzen von Geblüt sich befanden. Zuerst wurden
die Senatoren eingeführt, nach ihnen die Mitglieder des Staatsrathes, sogar
den Deputirten wurde der Vortritt vor den Cardinälen gewährt. Als die
Reihe an die so sehr gedemüthigten Eminenzen kam, sah man plötzlich einen Or¬
donnanzoffizier des Kaisers aus dem Thronsaal hereinstürzen. Napoleon hatte
ihn zu sich herangerufen und ihm befohlen, ins Vorgemach zu eilen und sämmt¬
liche Cardinäle, welche nicht bei der Heirath zugegen waren, fortzuschicken, da
S. M. nicht geruhten, sie zu empfangen. Als der Offizier schon an der Thür
war, rief der Kaiser ihn zurück und befahl ihm. blos die Cardinäle Oppizzoni
und Consalvi hinauszuweisen. Aber der Ordonnanzoffizier mißverstand diesen
zweiten Befehl und glaubte, daß nach Abweisung der unliebsamen Cardinäle
die beiden erwähnten besonders genannt werden sollten. So geschah es denn
auch. Alle Augen waren auf die Verjagten geheftet und diese eilten beschämt
und verwirrt durch die Vorzimmer. Ihre Wagen waren im Wirrwarr verschwun¬
den und so mußten sie denn i» Purpur gekleidet zu Fuße nach Hause gehen,
erfüllt von trüben Gedanken und Ahnungen. Im Augenblick, wo die zurück¬
gebliebenen Cardinäle an Napoleon vorüberzogen, überließ dieser sich den hef¬
tigsten Aeußerungen und Drohungen gegen die nicht Vorgelassenen, namentlich
gegen Oppizzoni und Consalvi, indem er hinzufügte, den andern könne er noch
verzeihen, da sie nur von Vorurtheilen aufgeblasene Theologen wären, für die
zwei Genannten aber habe er keine Gnade. Der erstere sei voll Undank, da er
ihm, Napoleon, das Erzbisthum von Boulogne und den Cardinalshut ver¬
danke, aber der schuldigste von allen wäre Consalvi. Dieser habe nämlich nicht
aus Vorurtheil gehandelt, sondern aus Haß, Feindschaft und Rache, weil der
Kaiser sein Ministerium gestürzt habe. Der Cardinal sei ein tiefer Diplomat,
daß er seinen Nachkommen die ernsteste aller Erbfvlgeschwierigkeiten, die der Un-
ehelichkcit bereitete. Die Wuth des Kaisers gegen Consalvi war aufs Aeußerste
gestiegen, so daß dessen Freunde das Schlimmste befürchteten.
Schon am Tage der kirchlichen Trauung war Napoleon in argen Zorn
gegen diese Cardinäle verfallen und beim Austritt aus der Kapelle befahl er,
drei der abwesenden Cardinäle, Consalvi, Oppizzoni und einen dritten (der Ver¬
fasser vermuthet, es sei Pietro gewesen) erschießen zu lassen; aber schließlich sollte
sich die Sentenz auf Consalvi beschränken. Dieser glaubt die Nrchtvollstreckung
dieser Sentenz den Bemühungen seines Freundes Fouchü zu verdanken, es ist
aber wahrscheinlich, daß Napoleon keiner Ermahnung bedürfte, um das Ge¬
fährliche der ihm von der ersten Aufwallung zugeflüsterten Eingebung zu erkennen.
Am folgenden Tage wurde Oppizzoni und den anderen zum Episkopate
beförderten Cardinälen, welche an die Dreizehn sich angeschlossen hallen, unter
Androhung von Gefängnißstrafe befohlen, ihre Entlassung zu geben, was sie
denn auch mit Vorbehalt der päpstlichen Genehmigung thaten. Am Abend
desselben Tages wurden sämmtliche der Ungnade verfallene Kirchenfürsjen zum
Cultus minister beschieden.
Im Cabinet dieses Ministers fanden sie Fvuchs, der vorgab, er wäre zu¬
fällig zum Besuche bei seinem Collegen. Der Minister hieß die Cardinäle
Platz nehmen und hielt eine lange Ansprache, welche die wenigsten verstanden,
da eben nur wenige der französischen Sprache kundig waren. Er führte darin
aus, daß sie ein Staatsverbrechen begangen hätten, das Verbrechen der Maje¬
stätsverletzung! daß sie gegen den Kaiser complottirt hätten, wie aus dem
Umstand erhelle, daß sie ihren Entschluß in tiefes Geheimniß zu hüllen suchten,
auch hätten sie die öffentliche Ruhe gefährdet, indem sie sich bemühten, die
Legitimität der Thronfolge in Zweifel zu ziehen. Der Kaiser und König be-
trachte sie als Rebellen, als Verschworene und habe ihm befohlen, ihnen zu
bedeuten: 1) daß sie aller ihrer Güter verlustig seien, zu deren Beschlagnahme
die Befehle schon ertheilt seien; 2) daß Se. Majestät l die dreizehn nicht
mehr als Cardinäle ansehe und ihnen verbiete, irgend ein Abzeichen dieser
Würde zu tragen; 3) daß Se. Majestät sick das Recht vorbehalte, weitere die
Widerspenstige» betreffende Verfügungen bekannt zu machen. Der Minister
schloß mit der Andeutung, daß gegen die schuldigster ein Criminalproceß an¬
hängig gemacht werden solle.
„Als er geendigt hatte," schreibt Consalvi, „nahm ich das Wort und er¬
wiederte, daß man uns mit Unrecht eines Complottes und der Rebellion an¬
klage, Verbrechen, die des Purpurs wie unserer persönlichen Charaktere un¬
würdig seien; daß unser Betragen sehr einfach und freimüthig gewesen; daß
es falsch sei, wir hätten unseren College» ein Geheimniß aus unserer Mei¬
nung gemacht, wir hätten mit ihnen über den Gegenstand vielmehr > ge¬
sprochen, daß wir es aber mit jener Mäßigung gethan hätten, die nothwendig
schien, um uns gegen die Anklage zu sichern, als suchten wir Proselyten zu
machen und die Zahl der Fernbleibenden zu vergrößern; daß. wenn man uns
jetzt ob dieser Zurückhaltung ladete, man uns noch mehr getadelt haben würde,
wenn wir auch diejenigen unserer Kollegen überführt hätten, welche unsere
Meinung nicht theilten; daß wir allerdings dem Kultusminister keine Eröffnung
gemacht hätten, wohl aber dem Cardinal Fesch, dem wir in seiner Eigenschaft
eines Cardinals und als Onkel des Kaisers offen unsere Meinung bekannt
hätten, gerade um alle Oeffentlichkeit zu vermeiden; daß der Aelteste von uns
ihm ein Mittel angegeben habe, alles Aussehen zu verhüten, indem er den
Kaiser gebeten, blos diejenigen Cardinäle einzuladen, die nicht unserer Ansicht
gewesen wären. Ich fügte hinzu, daß die Mittheilung eines Complottes an
den Onkel mit der Bitte, es dem Neffen bekannt zu machen, eine ganz neue
Art von Verschwörung sei."
Die Cardinäle Litla und Tomaglia sprachen sich ungefähr in demselben
Sinne aus, die anderen schwiegen, weil sie der Sprache nicht mächtig waren.
Die Minister schienen erschüttert und gestanden, daß sie glaubten, der Kaiser
Würde sich langmüthig bezeigen, wenn er diese Entschuldigung mit angehört
hätte. Die Cardinäle ermächtigten die Minister, Sr. Majestät die Worte mit¬
zutheilen, worauf letztere meinten, Napoleon würde ihnen keinen Glauben
schenken; wir thäten besser daran, ihm zu schreiben.
Als die Cardinäle einwilligten, gaben die Minister den Rath, im Briefe
a» den Kaiser zu erklären, sie halten kein Komplott gemacht, doch sollten sie
durchaus vermeiden, von der Uebergehung des Papstes zu sprechen und irgend¬
einen gleichgültigen Grund angeben wie z. B. Krankheit, oder daß man zu
spät gekommen sei oder sonst eine unbedeutende Entschuldigung. Die Cardinäle
erwiederten, sie wollten um keinen Preis die Wahrheit verheimlichen, ebenso
wenig als ihren dem Papste geleisteten Eid der Treue verletzen.
Hierauf wurden verschiedene Vorschläge von den Ministern gemacht, und
einer derselben erbot sich sogar einen Brief zu entwerfen, der allen Anforde¬
rungen entsprechen würde. Er setzte sich auch wirklich an den Schreibtisch und
warf verschiedene Phrasen aufs Papier, die im Briefe an den Kaiser aufgenommen
werden könnten.
Consalvi sah, daß einige seiner College» ansingen schwankend zu werden
und daß die wenigsten die Wichtigkeit des Schrittes, zu dem man sie bestimmen
wollte, erkannten. Deshalb bestand er darauf, daß man ihnen gestatte, sich im
Hause des in der Nähe wohnenden Cardinals Mattei zu versammeln, um un¬
gestört und unbeeinflußt verhandeln zu können. Jedenfalls solle der an den
Kaiser zu richtende Brief noch in der Nacht fertig werden. Er machte gel¬
tend, daß die Mehrzahl der Anwesenden des Französischen unkundig wäre und
daß sie daher gar nicht verständen, was von ihnen verlangt würde.
In der Wohnung Matteis angekommen setzte Consalvi seinen Kollegen die
Lage auseinander und es wurde sofort beschlossen , nichts zu unterschreiben, was
wie eine Pflichtwidrigkeit gedeutet werden könnte. Man wolle nur die Wahr¬
heit sagen, wenn auch nicht die ganze Wahrheit. Die Schwierigkeit wurde
dadurch vermehrt, daß man sich möglichst wenig von dem Entwürfe des Mini¬
sters entfernen durfte und die Arbeit erforderte fünf Stunden. Endlich kam
ein Actenstück zu Stande, dessen Inhalt den eben erwähnten Worten Consalvis
entsprach.
Man trennte sich um vier Uhr, und Cardinal Litla, der bei Mattei wohnte,
wurde beauftragt, das Schreiben dem Minister zu überreichen. Dieser las den
Brief, schien davon befriedigt und versprach, denselben dem Kaiser in Se.
Cloud zu übergeben. „Am Abende desselben Tages erhielten wir aber ein
Zettelchen vom Minister, worin er uns anzeigte, der Kaiser hätte seine Abreise
von Se. Cloud beschleunigt, er habe daher nicht mit S. M. sprechen können
und so müßte er denn die frühern Befehle seines Herrn vollziehen."
Die Cardinäle blieben also ihrer Würden entsetzt und wurden mit dem
Namen „schwarze" Cardinäle bezeichnet, im Gegensatz zu den nachgiebigen,
welche die rothen hießen. Auch die Güter der Dreizehn wurden mit Beschlag
belegt und ihre Einkünfte flössen in den öffentlichen Schatz.
Als der Kaiser, der sich nach Holland begeben hatte, nach Compiögne
zurückgekehrt war, wurde versucht, ihn milder zu stimmen, aber alle Fürsprache
zu Gunsten der Widerspenstigen blieb ohne Erfolg. Am 10. Juni wurden die
Cardinäle zu zwei zum Cultusminister beschieden und ihnen die Mittheilung
gemacht, daß sie sämmtlich ins Innere von Frankreich gebracht werden sollten.
Consalvi und der ihm als Gefährte beigesellte Cardinal Brcmcadoro wurden
nach Reims geschickt. Man hatte sich nämlich darin gefallen, diejenigen Car¬
dinäle zu trennen, die auf vertraulichem Fuße miteinander gelebt hatten und
Paarte solche zusammen, die sich weniger kannten.
Consalvi schließt seine Erzählung damit, uns zu versichern, er habe von den
ihm als Reisegeld angewiesenen fünfzig Louis ebenso wenig Gebrauch gemacht,
wie von den zweihundert Franken, die man ihnen als monatliche Pension aus¬
gesetzt hatte.
Wenn ein Papst des neunzehnten Jahrhunderts — die Annalen des Papst¬
thums erzählen diese Geschichte von Leo dem Zwölften — einen Mönch heilig
spricht, dessen Hauptverdienst in dem Wunder bestand, daß er Vögel, die schon
halb gebraten waren, vom Bratspieß abstreifte und lebendig wieder fortfliegen
ließ, so ist dies eine häusliche Angelegenheit, die in ihrer Harmlosigkeit nie¬
mandem zu nahe tritt, Viele erheitert. Wenn aber ein Papst in die Mitte der
modernen Gesellschaft hinein ein Manifest schleudert, daß der Autonomie der
Wissenschaft wie den Grundlagen des Staats den Krieg erklärt und seine sämmt¬
lichen Organe, die ihm zu unbedingtem Gehorsam verpflichtet sind, anweist, diesen
Krieg mit den ihnen zu Gebote stehenden Mitteln zu führen, so ist dies un-
läugbar ein Ereigniß, eine kühne Herausforderung, die verhängnißvoll sein muß
für den einen oder den andern Theil, denn sie constatirt die Macht oder die
Unmacht des Herausfordernden. In seiner Encyklika vom 8. December hat
Pius der Neunte das Gebäude des Katholicismus und die moderne Weltan¬
schauung als unversöhnliche Gegensätze hingestellt, er selbst ist es, der diesen
Gegensatz principiell formulirt hat, er selbst berechtigt dazu, in dem Erfolg seiner
Bulle die Antwort auf die Frage zu lesen, wem Gegenwart und Zukunft ge-
hören: der päpstlichen Hierarchie oder dem modernen Staate.
Bestünde' die neueste That des Vatikan nur in der Ankündigung des Ju¬
biläums, so wäre auch dies eine häusliche Angelegenheit, sie ginge nur die¬
jenigen an, welche Lust tragen, von der Ablaßgelegenheit Gebrauch zu machen,
und die übrige Welt könnte sich damit begnügen, es seltsam zu finden, daß der
Papst in einer Zeit, die er in den schwärzesten Farben malt, Anlaß zu einem
Jubelfeste findet. Bestünde sie nur in der Ansprache an die Bischöfe und Prä¬
laten der Christenheit, so wäre es eine der gewöhnlichen Jeremiaden. welche
sei'on zu häufig wiederholt worden und in ihrem schwülstigen, vergangenen Jahr¬
hunderten entlehnten Stile der Gegenwart zu fremd sind, als daß diese sich viel
um sie bekümmern könnte. Allein diesmal ist es eine außerordentliche Kund¬
gebung. Es ist nicht zufällig, daß der Papst aus den Allocutionen seiner gan¬
zen Amtsthätigkeit Excerpte hat zusammenstellen lassen zu einem Syllabus oder
Verzeichnis? aller Hauptirrthümer der Zeit, deren es genau achtzig an der Zahl
sind. Unserer Zeit sollte von derjenigen Macht, welche die Judenknaben Mor-
tara und Cvön der sündigen Welt entzogen hat, ein Spiegel entgegengehalten
werden, darin sie sich mit allen ihren Lastern,mit ihren grundverderbten Ten¬
denzen und fluchwürdigen Grundsätzen spiegeln soll, in systematischer Zusammen¬
stellung wird ihr die Summe ihrer Nichtswürdigkeit vorgerechnet, und um die¬
sem Katalog die höchste Autorität zu geben, läßt Pius der Neunte die Acten¬
stücke seiner ganzen Regierungszeit wider die Welt zeugen. So ist es zugleich
ein Rechenschaftsbericht des Papstthums Pius des Neunten, die Summe seiner
Weisheit und Thätigkeit, es ist das Vermächtniß des letzten Papst-Königs.
Freilich, was die systematische Zusammenfassung betrifft, so bedarf dies
der Einschränkung. Es würde dem Vatican übel anstehen, der gewöhnlichen
Logik dieser Welt sich zu bedienen, und der belesene Jesuit Perrone, welcher
die Excerpte zusammentrug, hat sich nicht blos von dem Gifte der modernen
Wissenschaft intact erhalten, sondern er trägt auch dadurch seinen 'gründlichen
Abscheu und die Verachtung unserer 80 Irrthümer zur Schau, daß er sie —
zur Verschärfung der Strafe — in die Kategorien seiner Jesuitenlogik gebracht
bat. Es macht einen erheiternden Eindruck, im ersten Paragraphen den Pan¬
theismus, den Naturalismus und den absoluten Rationalismus, im zweiten
den gemäßigten Rationalismus, im dritten den Jndifferentismus und Latitu-
dinansmus abgehandelt, und im vierten vollends in bunter Reihe den Socia¬
lismus, den Communismus. die heimlichen Gesellschaften, die Bibelgesellschaften
und die liberalen Klenkervereine zusammen gewürfelt zu finden. Proudhon wird
sich noch im Grabe wundern, mit dem Domprediger Hofmann, mit Guizot und
Passaglia sich in einer Verdammniß zu wissen. Auch erscheint es doch ziemlich
bequem, dem Gegner Sätze in die Schuhe zu schieben, wie den. daß Gott und
die Welt, Geist und Nkatene. Nothwendigkeit und Freiheit, Wahres und Fal¬
sches, Gutes und Böses. Gerechtes und Ungerechtes identisch seien, und
dann solchen Irrthum zu verdammen. Allein was auch wir Pedanten diesseits
der Berge auszusetzen haben, der Inhalt läßt wenigstens an Deutlichkeit nichts
zu wünschen übrig. Es sind die alten Forderungen des Papstthums, wie sie
weder durch Copernikus und Galilei, noch durch die Reformation und das
Jahr 1789 erschüttert worden sind. Die freie Forschung ist verdammt, die
Wissenschaft unter die Autorität der Kirche gesprochen. Der Katholicismus für
die einzige legitime Kirche erklärt, für ihn allein der Schutz des Staates, für
ihn die Disposition über die weltlichen Machtmittel in Anspruch genommen.
Verdammt ist der Grundsatz, daß der Staat auf eigenen Füßen stehen und die
bürgerliche Gesellschaft sich von der Kirche emancipiren solle; verdammt ist die
Lehre, daß das Papstthum auf weltlichen Besitz verzichten und sich mit den
modernen Ideen verständigen solle. Dies ist deutlich geredet. Niemand hat
das Recht, über mißverständliche Dunkelheit zu klagen.
Wenn nun das Papstthum sich daraus beschränkte, an seinen historischen
Reckten festzuhalten, oder die Grundsätze zu proclamiren. von welchen es jetzt
und in Zukunft sich leiten zu lassen gedenkt, so wäre auch hiergegen nichts
einzuwenden. Allein es sind zum Theil anerkannte, zu Recht bestehende Ver¬
hältnisse, es sind Verträge, zu welchen sich das Papstthum selbst im Laufe der
schlimmen Zeit hat bequemen müssen, für nichtig erklärt, freilich unter der
schützenden indirecten Form einer Verdammung der Grundsätze, auf welchen sie
beruhen. Daß der Vatican dem Protestantismus die Legitimität abspricht,
dies versteht sich ohnedies von selbst, und wir verdienen es auch nicht besser.
Aber dazu gehörte doch angesichts so zahlreicher Concordate einige Kühnheit,
gegen das Recht der Staatsgewalt zur Ertheilung des Exeqnatur zu Protestiren,
und Sätze wie den, daß die bürgerliche Gewalt den freien wechselseitigen Ver¬
kehr der Bischöfe und Gläubigen mit dem Papste hindern dürfe, als Irrthümer
zu verdammen. Der reichhaltige Paragraph, welcher die Irrthümer im Bezug
auf die Kirche und ihre Rechte enthält, stellt das bestehende Verhältniß des
modernen Staats zur Kirche geradezu auf den Kopf. Es sind recht eigentlich
destructive Tendenzen, welche der Vatican proclamirt hat. Den Vorwurf der
Untergrabung der menschlichen Gesellschaft wird derjenige gegen niemand mehr
schleudern können, der selbst die Grundlagen der Gesellschaft angreift, wie sie
thatsächlich bestehen und in Geltung sind. Und die Sache wird nur um so
schlimmer, wenn es eine officielle Autorität ist, ausgestattet mit einem wohl-
disciplinirten Apparat einflußreicher Werkzeuge, welche ein solches Manifest er¬
gehen läßt. Der einzelne Jdcolvge, der mit keinen andern Waffen als mit
denen des Wortes das Bestehende angreift, wird als Friedensstörer von den
Gewalten unschädlich gemacht. Welcher Sturm, so sollte man denken, müßte
eine Kriegserklärung, von solcher Stelle ausgesprochen, überall hervorrufen!
Welcher Aufruhr in protestantischen und katholischen Ländern, welche Bestürzung
in der Familie, in den Kreisen der Wissenschaft, in den Spitzen des Staats!
Wie wird sich alles rüsten, mit Aufgebot aller Kräfte den Angriff des gefähr¬
lichen Gegners abzuschlagen!'— Nichts von alledem. Mit Staunen vernahm
die Welt die Stimme eines vergangenen Zeitalters und ging ruhig wieder ihren
Geschäften nach. Seit vier Wochen macht die päpstliche Bulle die Runde durch
die Presse aller Völker, und -noch ruht die Gesellschaft unerschüttert auf ihren
Grundlagen. Bewegung nur im eigenen Lager des Katholicismus, Betrübniß
oder affectirter Trotz bei den Freunden des Papstes, sonst die gelassenste Stim¬
mung von der Welt, hier Kopfschütteln, dort Heiterkeit, nirgends Bestürzung;
in Neapel ein Freudenfeuer der Studenten, welches die Asche des verbrannten
Actenstückes zu der Statue Giordano Brunos emporträgt — dies der Eindruck
einer päpstlichen Bulle in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts.
Doch es hat dem Papstthum nicht an Bundesgenossen gefehlt, und sie
kamen zum Theil von unerwarteter Seite. Von der Mitte des norddeutschen
protestantischen Staats erhob sich die Stimme eines Predigers in der Wüste
und vereinigte sich mit dem Weherufe über den Alpen. Die Kreuzzeitung bewun¬
derte „die geschickte Abfassung", wie „den Muth des Auftretens", der in dieser
Kundgebung liege, und sprach die Hoffnung aus, daß „der Mahnruf des Pap¬
stes auch in anderen (!) Herzen wiederklinge". Sie bedauerte nur, daß der
heilige Vater „die evangelische Kirche und was zu ihr gehört, mit den sonsti¬
gen (!) Irrthümern der Zeit in Einem Verdammungsurtheile zusammenfasse".
Die Sympathie der Kreuzzeitung ist begreiflich. Wir erinnern uns eines noch
nicht ein Jahr alten Hirtenbriefs eines pommerschen Generalsuperintendenten,
der eine nicht zu verkennende Familienähnlichkeit mit der päpstlichen Bulle hat.
Waren gleich die Irrthümer unsrer Zeit nich so schön classificirt, so wurde doch auch
hier Wehe gerufen über „die entsetzlichen Verderbnisse unsrer entfesselten Zeit",
über „den kecken und alle Rücksichten verläugnenden Gegensatz gegen Aufsicht
und Zucht der Kirche, namentlich in den Stadtgemeinden" („Landcslloaken", wie
neuerdings die reinliche Kreuzzeitung sich ausdrückt), und Angesichts dieser Ent¬
setzen erregenden Erscheinungen wollte der Oberhirt den Geistlichen seiner Diöcese
„zum lebendigen Bewußtsein bringen", wie sie dagegen anzukämpfen und „den
wohlgemeinten Intentionen unsres Kirchenregiments zu entsprechen haben".
Gegen solche Copien unsrer evangelischen Oberhirten hat freilich eine päpstliche
Bulle immer noch eine gewisse Großartigkeit, einen Reiz alterthümlicher Origi¬
nalität, welcher der Kreuzzeitung und ihren Helden besonders imponiren und
ihnen neidische Bewunderung entlocke» muß. Auch die Ruine zeugt noch von
der Größe der einstigen Anlage, unwillkürlich erwachen die Reminiscenzen an
die große Vergangenheit, die Worte haben noch denselben Klang wie damals,
als sie nicht blos klangen, sondern trafen und erschütterten, Allein für eine
Kundgebung, welche in der Gegenwart wirken soll, vermag ein von der Ver¬
gangenheit erborgter Schimmer doch kaum einen sueeös ä'sstimö zu verbürgen.
Sie ist ja recht dazu gemacht, den Gegensatz von Einst und Jetzt, — um mit
dem Generalsuperintendenten Dr. Jaspis zu reden, „zum lebendigen Bewußt¬
sein zu bringen". Eben weil man diesen Gegensatz sofort empfand, konnte man
mit dem Gefühl behaglicher Sicherheit du- aufregende Encyklika sammt Syllabus
von Anfang bis zu Ende lesen. An einer Perlenschnur von achtzig wohlgc-
zählten Sätzen vergewisserte man sich des Fortschritts der Jahrhunderte und gab
sich dem erfreuenden Gefühle hin, wie weit die Zeiten der Gregore und der
Jnnoccnze hinter uns liegen.
Aber selbst dieser Eindruck hätte in unsrer abgestumpften Zeit, in welcher
auch das Ueberraschende und Seltene rasch sich vvrübcrdrängt, die Bulle nicht
vor dem gewöhnlichen Schicksal ihrer Schwestern bewahrt, in acht Tagen wieder
vergessen zu sein, wenn sie nicht außer der Kreuzzeitung noch einen andern
wirksameren, obwohl gleichfalls unerwarteten Bundesgenossen gefunden hätte:
die Verlegenheit und das Ungeschick der französischen Regierung.
Frankreich war die eigentliche Adresse der Encyklika, denn sie war die Ant¬
wort des päpstlichen Stuhls auf die Convention vom 15. Sept. Ist es wahr,
daß das Actenstück seit zwei Jahren auf Lager war und der Papst bisher nur
keine schickliche Gelegenheit zur Veröffentlichung fand, vielleicht auch von be¬
sonneneren Rathgebern bisher zur Zurückhaltung bewogen worden war, so ist der
Umstand, daß gerade jetzt der Veröffentlichung alle Rücksichten weichen mußten,
entscheidend für den eigentlichen Sinn der Kundgebung. Die Anklage des fran¬
zösischen Ministers, daß die Regierungsweise des Kirchenstaates zu wünschen
übrig lasse und zuweilen im Widerspruch mit den Grundsätzen der französischen
Negierung stehe, erwiedert der Papst mit einer Anklageacte gegen den gesamm-
ten modernen-Staat, den Vertrag über die Räumung Roms mit einer feier¬
lichen Verdammung des Grundsatzes, daß weltliche und geistliche Gewalt zu
trennen seien, die Hoffnungen der liberalen Katholiken mit einer kategorischen
Weigerung, jemals „mit dem Fortschritt, mit dem Liberalismus und der mo¬
dernen Civilisation sich zu versöhnen und zu vertragen."
Die Convention selbst hatte den französischen Klerus nur mäßig aufgeregt.
So lange die französische» Truppen vor der Engelsburg Wache halten, stünde
es auch dem Klerus übel an, diejenige Regierung anzugreifen, welche die ein¬
zige Stütze für das weltliche Papstthum ist. Auch für die Zukunft war ja noch
nicht alle Hoffnung verloren, und an wen konnte sich diese knüpfen als an den
gute» Willen des französischen Kaisers? In der That hatte Drouyn de Lhuys
die Convention im Licht einer unschädlichen, für das Papstthum sogar vortheil¬
haften Maßregel darzustellen gewußt, der Klerus war beruhigt, er schien es
wenigstens. Mit dieser Harmlosigkeit der Convention wollte es freilich nicht
ganz stimmen, daß gleichzeitig mit ihr die gallikanischen Tendenzen da und dort
wieder auftauchten und von der Regierung offenbar begünstigt wurden. Aber
sie schienen doch wenig mehr zu bedeuten, als ein unschuldiges Geplänkel;
denn an eine Rückkehr zu der Kirche Ludwigs des Vierzehnten konnte doch im
Ernste niemand denken. Es verrieth sich darin wohl eine gewisse Unruhe, ein
unsicheres Tasten nach einem Programm für die Auseinandersetzung zwischen
Kirche und Staat, wie es durch den Gedanken an etwaige Eventualitäten in
Rom natürlich hervorgerufen wurde; aber an einen ernsten Conflict dachte
offenbar weder Regierung noch Klerus. Beiden schien die zweijährige Frist,
durch welche die römische Frage glücklich vertagt war, ein erwünschtes Aus-
kunftsmittel um jeder principiellen Entscheidung aus dem Weg zu gehen.
Eben dieser Waffenstillstand war nun durch das Erscheinen der päpstlichen
Bulle plötzlich bedroht. Hatten die Organe des Herrn Drvuyn de Lhuys be¬
theuert, daß dem weltlichen Papstthum dem Leids geschehen solle, so nahm der
Papst sie beim Wort, indem er von Neuem für seine weltliche Herschast seine
geistliche Autorität einsetzte. Hatte die Negierung' mit den gallikanischen Ten¬
denzen gespielt, so trat jetzt von der andern Seite das Verlangen an sie, mit
der Lossagung von Rom Ernst zu machen. Die Bulle schien an den Klerus
die Aufforderung zu richten, sich definitiv für oder wider Rom zu erklären, ein
erbitterter Kampf stand in Aussicht.
Es ist erklärlich, daß die französische Regierung bestrebt war, diesen Kampf
im Keime zu ersticken. Nichts konnte ihr unerwünschter sein als eine Verwick¬
lung Plötzlich zur brennenden Frage werden zu sehen, die sie glücklich vertagt
glaubte. Sie machte von ihrem Rechte Gebrauch, nur für einen Theil der
Encyllika die Erlaubniß zur amtlichen Veröffentlichung zu ertheilen. Aber der
Erfolg bewies, daß sie damit das ungeschickteste Mittel ergriffen hatte. Das
Verbot des Justizministers schürte de» Brand, anstatt ihn zu ersticken. Es gab
der Bulle eine Wichtigkeit, die sie außerdem nicht gehabt hätte. Die ungehin¬
derte Oeffentlichkeit wäre ohne Zweifel das beste Mittel gewesen, die Ursache
des Vatican sich selbst constatiren zu lassen. Die Einmischung der Staats¬
gewalt reizte die ultramontane Partei, sich im Glänze eines wohlfeilen Mar¬
tyriums zu sonnen.
Was mit Erlaubniß des Staats nicht geschehen durfte, geschah, wenig¬
stens, von Einzelnen, dem Verbot zum Trotz. Eine Reihe von Bischöfen ver¬
öffentlichten proteslirende Antwortschreiben an den Minister. Ein Prälat nach dem
andern erhob seine Stimme, der Conflict schien immer größere Dimensionen an¬
zunehmen. Die Regierung war von dieser Haltung des Klerus sichtlich betroffen.
Aber sie hatte nicht nur im jetzigen Moment Oel ins Feuer gegossen, sie büßte zu¬
gleich für alte Sünden. Als nach dem Staatsstreich Louis Napoleon die willige
Unterstützung des Klerus gefunden hatte, war seine Regierung nicht unerkenntlich
geblieben. Bis zum Jahre 18L9 hatte sich das Cultusministerium in einer ultra¬
montanen Strömung bewegt. Die Bischofscrnennungen waren alle in diesem
Sinne erfolgt. Jetzt zeigten sich die Früchte einer Nachgiebigkeit, von welcher man
erst in den lepten Jahren angefangen hatte zurückzukommen. Indem man die
Stimmen des Episkopats abzählte, ergab die Rechnung, daß weitaus der größte
Theil sich zu den ultramontanen Grundsätzen bekenne. Die Negierung sah sich
unter diesen Umständen in der That machtlos, wenn sie nicht geradezu den
offenen Bruch provociren wollte; sie konnte wohl einzelne Bischöfe, die sich zu
weit vorgewagt, wegen Mißbrauchs der Amtsgewalt vor den Staatsrath belangen,
aber es war dies eine bloße Formalität, durch welche das Ansehen der Re¬
gierung nichts gewann, das der Bischöfe nichts verlor. S.tritt sie zu wirk¬
lichen Strafen fort, die ihr das Gesetz allerdings an die Hand gab, so ver¬
wickelte sie sich immer mehr in eine Sache, aus der es für sie schwieriger
herauszukommen war, als für die Bischöfe, die stets im Vortheil einer klaren
Position blieben und noch unterliegend das Prestige unterdrückter Dulder für
sich hatten.
Der Episkopat selbst rettete die Regierung aus dieser Verlegenheit. Er
bewies ebenso wenig Lust, den Conflict auf die Spitze zu treiben. Es zeigte
sich, daß doch nur eine Minderzahl mit öffentlichen Protesten hervortrat, und
daß auch diese nur eine Demonstration, nicht einen entschiedenen Bruch beab¬
sichtigten. Gingen auch Einzelne bis zu offner Renitenz fort, so begnügten sie
sich doch damit, ihr geistliches Gewissen salvirt zu haben. Das Bezeichnendste
war, daß wohl einige Bischöfe die ganze Encyklika verlasen, daß aber keiner
der niederen Geistlichkeit aufgab, ein Gleiches zu thun. Diese blieb somit gänz¬
lich aus dem Spiel, der Conflict beschränkte sich auf die Spitzen der Hierarchie.
Möglich daß der Episkopat des niederen Klerus nicht sicher war. aber gewiß
ist, daß seine diplomatische Handlungsweise zugleich von dem Wunsche dictirt
wurde, es jetzt nicht aufs Aeußerste zu treiben. Wirklich konnte es auch nicht im
Interesse des Klerus liegen, einen Kampf voreilig herauszufordern, der doch ein¬
mal unausbleiblich ist, und in welchen er schwerlich mit Siegeszuversicht ein¬
treten wird. So haben sich denn die aufgeregten Wogen bald wieder beruhigt.
Die Episode darf als beendigt angesehen werden, sie verlief in einen Federstrcit
ohne Resultat; der Vatikan hat wenigstens die Genugthuung, mit seiner Bulle
ein paar Wochen lang die Federn der Bischöfe und der gestimmten französischen
Presse in Bewegung gesetzt zu haben.
Daß jede principielle Lösung im jetzigen Augenblick verfrüht und künstlich
gewesen wäre, zeigten übrigens auch die Aeußerungen der öffentlichen Meinung
in Frankreich. Auch diese war sichtlich unvorbereitet für die Entscheidung eines
großen Problems, und die Schlagwörter, welche als Mittel zur Lösung auftauch¬
ten, bewiesen nur, wie unklar noch immer die letzten Ziele sind. Das Interesse
war aufs Lebhafteste erregt, wie es sich in einer Gesellschaft nicht anders denken
läßt, welche eben durch Renans Leben Jesu für die religiösen Fragen wieder
empfänglich geworden war und durch die Convention zum Nachdenken über das
Verhältniß des Staats zur katholischen Kirche sich aufgefordert sah. Aber die
Vorschläge liefen bunt durcheinander und fast wurde der Streit innerhalb der
liberalen Parteien so heftig wie der Kampf gegen den gemeinsamen Gegner.
Forderten die Einen strenge Anwendung der organischen Artikel vom Jahr 1801,
so sahen die Andern die beste Antwort in der sofortigen Räumung Roms. „Rück¬
kehr zur gallikanischen Staatskirche" war von der einen Seite, „freie Kirche im
freien Staat" das Losungswort von der andern Seite. Aber es war der Re¬
gierung weder zuzumuthen, daß sie zu jenen drastischen Maßregeln griff, noch
daß sie Principien proclamirte, von welchen das eine nur noch historischen Werth
hat und zwar noch als Waffe gegen den Ultramontanismus, aber nicht als
Basis für eine Neuschöpfung zu gebrauchen ist, das andere aber wohl die ideale
Formel der Zukunft, aber, wie sich in Italien gezeigt hat, noch keineswegs
das Zauberwort ist, um die verwickelten kirchenrechtlichen Verhältnisse der alten
Welt mit einem Mal zu lösen.
Dennoch ist die Discussion, die sich bei diesem Anlaß so lebhaft entspann,
von hoher Wichtigkeit. Die Bulle und die Renitenz der Geistlichkeit haben
ein großes Verdienst. Sie haben die öffentliche Meinung angeregt, sich das
Verhältniß von Staat und Kirche klarer zu machen und sich auf die in Rom
bevorstehenden Eventualitäten vorzubereiten. Sie haben schon jetzt manche
Illusion zerstört. Zum Schweigen gebracht ist jener katholische Halbliberalismus,
dessen Traum die Versöhnung der Kirche mit dem modernen Fortschritt war.
Eben dieser Fraction hat der Papst den Boden unter den Füßen weggezogen,
für sie ist die Bulle im Grund der härteste Schlag. Montalembert findet alle
Punkte seines Programms von 1852, alle Freiheiten, zu deren beredtem Apostel
er sich gemacht, ausdrücklich verdammt: Gewissensfreiheit, Cultusfreiheit, Pre߬
freiheit; wird er sie auch in Zukunft noch verlangen können? Aber auch über
die wahre Bedeutung des Gallikanismus beginnt man nüchterner zu denken.
Man findet es doch wenig verlockend, zu theokratischen Idealen des Alterthums
zurückzukehren und, nachdem der Staat die Gemeinden und die Universitäten,
das politische und das wissenschaftliche Leben zu seiner Domäne gemacht hat,
auch noch die Kirche in seine allmächtige Hand zu liefern. Wer dem Gange der
Discussion in Frankreich gefolgt ist, hat sich überzeugen müssen, daß die Zu¬
kunft nicht dem Gallikanismus, nickt der Vermischung von Staat und Kirche,
sondern im Gegentheil der Trennung von Staat und Kirche gehört.
Diese Richtung zeigt sich jetzt schon als überlegen und vorwiegend. Daß die
öffentliche Meinung sich in dieser Richtung befestige, daß die Geister sich daran
gewöhnen. Gleichstellung aller Culte. Autonomie des religiösen Lebens, aber
auch vollständige Autonomie des Staats und der bürgerlichen Gesellschaft unter ihre
Forderungen aufzunehmen, dies ist die Hauptsache. Nicht auf einmal lassen sich diese
Principien verwirklichen. Aber wenn nur aus Projecten eine feste überwältigende
Meinung sich gebildet hat, vermag leicht die nächste Papstwahl einen Proceß zu be¬
schleunigen und abzukürzen, der sonst erst in vielen Stufen und Etappen sich vollzöge,
Bis dahin liegt allen Parteien gleichviel daran, leidlichen Frieden zu hal¬
ten. Aber das nächste Conclave wird keinen längeren Aufschub gestatten, die
Politische Entscheidung wird auch die kirchliche mit sich fortreißen. Ob dann
die Umwandlung sanft oder unter schweren Kämpfen sich vollziehe, liegt in der
Hand des nächsten Papstes. Pius der Neunte hat mit seiner Bulle vom 8. Dec.
abgeschlossen. Aber er hat vergessen, in seinen Katalog der Irrthümer einen
Satz aufzunehmen, der wohl verdient hätte, als einundachtzigster verdammt zu
werden, denn er ist so wahr wie mancher in der Reihe, und lautet: „Mit¬
unter irrt a und d er P apst. als ein in der Gnade noch nicht völlig gefestigter
irdischer Mensch." Freilich ist es kein moderner Satz, auch ist er durch eine
gute Autorität gedeckt; einer seiner Vorgänger hat ihn ausgesprochen, Hadrian
der Sechste.
Die preußische Thronrede, ein sorgfältig gearbeitetes Schriftstück mit mehren
glänzenden Stellen, hat doch in den beiden großen Streitfragen, der schleswig¬
holsteinischen und der innern, nichts enthalten, was eine schnelle und befriedigende
Beendigung der Conflicte wahrscheinlich nackt. Wenn wahr ist. was preußische
Correspondenzen verrathen, daß der Ministerpräsident im Conseil einen andern
Entwurf vorgelegt habe, welcher das Budgetbewilligungsrecht der Häuser zu
Gunsten der Opposition interpretirte. und zweijährige Dienstzeit empfahl, so
wäre'tief zu beklagen, daß solche Concessionen an dem Widerspruch der übrigen
Minister gescheitert sind. Denn nach den Erfolgen des letzten Feldzuges war
ein hochsinniger Entschluß der Krone das beste Mittel, einen guten Frieden
zwischen Regierung und Volk herzustellen. Gerade jetzt konnte die Negierung.
ohne ihrer Würde zu vergeben, der Majorität Zugeständnisse machen, sie wäre
doch als Sieger, das heißt mit verstärktem Ansehn aus dem Kampfe hervor¬
gegangen. Und es war jedermann deutlich, daß das Abgeordnetenhaus gern
zur Versöhnung die Hand geboten und jedem Vorschlage, der seine Rechte an¬
erkannte, bereitwillig entgegengekommen wäre. Nun ist der alte Hader wieder
aufgebrannt; die Opposition vermag nicht mehr, was im Jahre 1863 noch
möglich war. das herrschende System siegreich zu bekämpfen, aber sie lähmt
doch die Thätigkeit der Regierung in allen Ecken und beeinträchtigt ihr Ansehn
im Auslande.
Immer noch werden in der Presse leidenschaftliche Stimmen für und gegen
die Annexion der Herzogtümer laut. Der Streit ist müßig geworden, er ist
durch die preußische Regierung selbst gegen die Einverleibung entschieden. Aller¬
dings vielleicht gegen ihren eigenen Willen. Aber der Weg, welchen Preußen zur
Erledigung der Sache eingeschlagen hat, ist zuverlässig der bedenklichste von
allen, falls nämlich in der That Absicht war. die Herzogthümer zu erwerben.
Es gab einen kurzen Zeitpunkt, welcher dafür nicht ungünstig war. Als
Oestreich noch ängstlich die Folgen des Septembervertrages erwog, als dort
die Ministerkrisis das innere Schwanken verrieth, als die Ohnmacht der Mittel¬
staaten Allen auffällig, der Eindruck preußischer Waffenerfolge noch frisch war,
damals unmittelbar nach geschlossenem Frieden hätte eine große Forderung und
kühner Entschluß Manches durchsetzen können, man hätte wenigstens einen Äruch
mit Oestreich nicht zu scheuen gehabt.
Das Verfahren dagegen, welches die preußische Regierung eingeschlagen hat,
ist in der Form so ausgezeichnet correct, daß in der Sache auf große Erfolge
verzichtet werden muß. Denn als man sich entschloß, mit Oestreich über die
Rechte zu verhandeln, welche Preußen zur Sicherung seiner und der deutschen
Interessen zusiehn sollten, bevor man die Successionsfrage* ordnete, da gab man
den besten Theil des gewonnenen Erfolges wieder preis, man machte von dem
guten Willen Oestreichs abhängig, was man niemals seiner Zustimmung hätte
unterwerfen dürfen. Man opferte das alte Princip der Preußen, durch Separat¬
verträge mit den betreffenden einzelnen Regierungen Fortschritte zu machen, und
verlieh einem alten und argwöhnischen Gegner das Recht, überall zu hindern,
auch den kleinsten Fortschritt Preußens als einen Gunstbeweis Oestreichs geltend
zumachen, für welchen Gegendienste zu leisten seien. Die indiscrete Veröffent¬
lichung des Inhaltes jener letzten östreichischen Note kann jedermann die Augen
öffnen. Die östreichische Politik tritt nicht, wie England oder Frankreich, schnell
in schroffem Gegensatz hervor, sie wirft den Verhandlungen einen Stein nach
dem andern in den Weg, bis zuletzt die betretene Straße vervarrikadirt ist.
Das ist zu Wien nicht System, es ist die Folge der Methode, in welcher dort
politische Entschlüsse gefaßt werden. Daß der Ministerpräsident Preußens vor¬
zog, lieber mit Oestreich über die Rechte Preußens an den Herzogtümern zu
vereinbaren, als schnell die Successionsfrage zu erledigen und mit dem neuen
Fürsten zu verhandeln, das wird, so fürchten wir, zu langwierigen Verwick¬
lungen führen, aus denen weder schneller Entschluß noch späte Resignation be¬
freien mag. Auch was man für diesen Weg sonst sagen könnte, daß hier ein
Präcedenzfall geschaffen wird, und daß Oestreich, was es in einem deutschen
Lande Preußen eingeräumt hätte, in einem andern doch schwer hindern könnte,
hat gegenüber den Gefahren dieses Weges kein großes Gewicht. Wann hat
die östreichische Politik sich um Präcedenzfälle gekümmert? sie arbeitet in grö-
ßrer Unbefangenheit als die eines anderen Staates mit Inconsequenzen. welche
ihr gerade nützlich scheinen, heute für das Recht der Nationalitäten, morgen
dagegen, hier in sorgfältiger Beobachtung der Verfassung, dort in rücksichts¬
loser Nichtachtung. Diese Politik hatte sich im Herbst vorigen Jahres resignirt.
den Preußen in den Herzogthümern Viel einzuräumen, aber jede Woche, die
seitdem vergangen, hat wieder Sicherheit und Selbstvertrauen verstärkt, die
Mahnungen der eigenen Presse, die stille Arbeit der Parteigänger für die Mmel-
staaten haben den guten Willen vermindert, es ist vorauszusetzen, daß man
von Wien aus, je länger die Einmischung verstattet ist, um so entschiedener
hindern wird. Was der preußischen Regierung von Kiel aus schüchtern, zuletzt etwa
durch Herrn von Alefeld, entgegengetragen wurde, das wird mit Oestreichs
Einwilligung, wie zu befürchten steht, nicht erreicht werden.
Auch in den Herzogthümern selbst hat die Furcht vor unsicheren Ansprüchen
Preußens die nachtheilige Folge gehabt, einen zähen Particularismus wachzu¬
rufen, gegen den Eifer einzelner Annexionsmänner erhebt sich der Widerstand
im Volke. Bereits wird die Weise, in welcher die Abneigung gegen Preußen
sich äußert, sehr unerfreulich. Auch das ist eine nachtheilige Folge der Ver¬
zögerung und der zweideutigen Haltung des Siegers. Ob man die Gesinnung
eines Volksstammes hoch oder gering achte, man kann sie in unserer Zeit nicht
mehr unberücksichtigt lassen. Wäre es auch nur deshalb, weil die Nichtbeach¬
tung dem Ausland erwünschte Gelegenheit gäbe, sich einzumischen.
So sehr haben sich die Gesichtspunkte verschoben, daß Preußen, dessen
Interesse gebietet, die Erbfolgefrage schnell zu erledigen, dieselbe hinausschiebt,
und daß Oestreich, welches bei anderer Handlungsweise Preußens durchaus kein
Interesse hätte, dem Herzoge Friedrich geneigt zu sein, die schnelle Entscheidung
über dessen Ansprüche begünstigt. Allerdings nur aus Opposition gegen Preu¬
ßen, denn von dem Tage, wo man sich in Berlin herabläßt, mit dem Herzog
selbst zu verhandeln, wird Oestreich sofort das Interesse für ihn verlieren.
Es ist hier nicht der Ort zu untersuchen, was Herrn von Bismarck ge¬
hindert hat. zu seiner Zeit den kürzesten Weg einer directen Verbindung mit
Kiel einzuschlagen. Durch Mißtrauen und vorgefaßte Meinung ist in der besten
Stunde auf beiden Seiten versäumt worden, die Annäherung durchzusetzen. Das
droht auch für Preußen nachtheilig zu werden, denn es hat auf weite und pfad-
lose Umwege geführt. Und um kurz das Sachverhältniß zu wiederholen, man
hat die Zeit der Annexion vorübergehn lassen, ohne einen Gewaltstreich zu
Wagen, man ist jetzt in Gefahr, auch den Anschluß der Herzogthümer nicht in
der für Preußen wünschenswerthen Weise durchzusetzen.
In Einem aber, vertrauen wir, wird der Leiter der auswärtigen Angelegen-
selten in Preußen höheres Urtheil erweisen, als einzelne Stimmen der preu¬
ßischen Presse, welche vorschnell die Knöchlein des Vogels vertheilen, den man
leider noch gar nicht in der Hand hat. Wenn der Ministerpräsident auf dem
eingeschlagenen Wege die Einverleibung nicht durchzusetzen vermag, so wird er
das künftige Bundesverhältniß der Herzogthümer zu Preußen doch so fassen,
daß Land und Volk sich nicht in neue Bande eingeschnürt und nicht als Va-
salienprovinz empfinden. Kanal, Marine und Vertretung der realen Interessen
im Auslande, das ist für Preußen und die Herzogthümer bei weitem die Haupt¬
sache, Sogar auf die Bundesfestung Rendsburg ist kein großer Werth zu legen,
denn in der neuen Kriegführung haben Festungen überhaupt ihre alte Bedeu¬
tung verloren, auch für das Heer der Herzogthümer wird Anlehnung an die
preußischen Heereseinrichtungen genügen. In den inneren Angelegenheiten soll
man die Herzogthümer vorläufig sich selbst überlassen, die Kämpfe der Parteien,
welche dort bevorstehen, und die Schwierigkeiten einer neuen Organisation, die
dem Lande höchst nöthig ist. mögen sich zunächst ohne preußische Einwirkung
herausarbeiten. Die Schleswig-Holsteiner sollen Preußen als ihren Bundesge¬
nossen und Beschützer ehren, nicht als Tyrannen fürchten.
Freilich wenn Herrn von Bismarck gelungen wäre, mit Unterstützung der
liberalen Partei die Schleswig-holsteinische Sache zu Ende zu führen, könnte das
Ziel ein höheres, das Resultat für Preußen und Deutschland förderlicher ge¬
wesen sein. Der Geist dieses Staatsmannes ist elastisch und fruchtbar an Plä¬
nen, aber auch ihm wird Schicksal das System, mit dem er herausgekommen
und die Bundesgenossenschaft, welche er nicht entbehren kann. Man frohlockt
in Preußen noch über die Erfolge, welche das gegenwärtige Ministerium er¬
rungen hat, wir wünschen sie dem Staate, aber wir sehen sie nicht.
Auch in den innern Kämpfen ist kein Fortschritt sichtbar noch nahe Be¬
endigung zu hoffen. Wir sind als Liberale verpflichtet zu der Opposition zu
halten, welche jetzt allein die großen Grundsätze unserer Partei in den preu¬
ßischen Kammern vertritt, und wir halten ein abfälliges Beurtheilen ihrer
Taktik nach jeder Hinsicht für schädlich. Aber es ist unmöglich die Betrachtung
fern zu halten, daß auch der Opposition die Aussichten auf einen Sieg ver¬
ringert sind. Nicht vorzugsweise durch die Thatkraft der Gegner. Der Ver¬
fassungskampf, welcher in Preußen seit Auflösung der altliberalen Partei ent¬
brannte, bedürfte nach der Art und Weise, wie er einmal begonnen wurde, schneller
Erfolge, vielleicht ein großes Wagen. Bis zu den Juniordonnanzen des Jahres
1863 war die Opposition in der That, was sie nach ihrem Ursprung sein
mußte, der angreifende Theil; seitdem ist sie in die Defensive herabgedrückt.
Damals war der Conflict zu einer Höhe getrieben, welcher nicht mehr in den
Wänden des Abgeordnetenhauses ausgefochten werden konnte und die höchsten
Anforderungen an den politischen Charakter der einzelnen Abgeordneten machte.
Es war die Zeit gekommen, wie sie bei jedem erbitterten politischen Kampfe
eintritt, wo die Mitglieder der Opposition im Nothfall sich opfern mußten.
Sie haben das nicht gethan, d.as Ministerium hat sich befestigt, sie selbst
ringen seitdem mit dem Uebelstand, welcher für jede Partei schädlich ist. daß sie
ohne Erfolg streiten. Dieser Uebelstand würde ihnen den Wählern gegen¬
über noch empfindlicher gewesen sein, wenn nicht das herrschende System in
seinem Parteieifer vieles thäte, die Unzufriedenheit in den kleinen Kreisen des
Volkes zu nähren. Jede Nichtbestätigung eines Stadtraths, jede Strafversetzung
eines Kreisrichters, die Preßprocesse, tedenziöse Erlasse der Landräthe, arbeiten
für die Opposition und hindern die Regierung unter den Wählern populär zu
werden. So darf man sagen, daß die Regierung seit dem Sommer des
Jahres 1863 der beste Helfer der Opposition geworden ist.
Demungeachtet war auch im Volke das Bedürfniß nach Versöhnung sehr
lebendig geworden; wie verlautet haben viele Abgeordnete den Wunsch der
Wähler zur Hauptstadt genommen, daß sie zu einem erträglichen Frieden die
Hand bieten möchten. Nirgend aber kann dieser Wunsch lebhafter sein, als
bei der preußischen Partei außerhalb des Landes. Denn wir empfinden weniger
die Bitterkeit der innern Zustände und vorzugsweise die Einbuße, welche das
Ansehn des Staates durch den ungesühnten Zwiespalt erfährt. Aber man hat
den Abgeordneten keine Wahl gelassen als Unterwerfung unter die Gcsetzinter-
Pretationen der Regierung oder Fortsetzung des Streites. Die erste Woche des
Landtages läßt bereits erkennen, daß er in der» alten Weise fortgeführt werden
wird. Beide Theile haben verzichtet, ihn in dieser Session zu beenden. Die
Opposition hat demnach keine nähere Aufgabe als die Sympathien der Wähler
für eine neue Wahl sich zu erhalten, die Regierung muß dagegen den Wunsch
hegen, das Ansehn der Opposition herabzudrücken.
Von diesem Standpunkte ist das Thun der Kämpfenden zu beurtheilen.
Ob die Rede des Präsidenten Grabow. ob die Ablehnung der Adresse zu loben
war oder nicht, das hängt ganz von dem Erfolg ab, den diese Maßnahmen
zunächst auf die Wähler in Preußen haben. Darüber steht den Abgeordneten
besseres Urtheil zu als uns.
Das Haus war in seinem Rechte, als es die Wahl des Abgeordneten
H. V. Tettau für ungiltig erklärte und den nach der Wahlvcrhandlung unzweifel¬
haft durch die Majorität der Wähler ernannten Herrn v. Säulen-Julicnfelde
durch den Präsidenten des Hauses auffordern ließ, seinen Sitz einzunehmen.
Das Haus hat nicht nur das Recht zu entscheiden, ob eine Wahl ungiltig sei,
sondern auch ob die durch den Wahlcommisssar einem Candidaten abgesprochene
Mehrheit der Stimmen diesem zukomme. Wenn die königliche Staatsregierung
gegen das Recht des Hauses, Herrn von Säulen einzuberufen, zunächst deshalb
protestirte, weil nur der Wahlcommissar das Recht habe, den Gewählten, von der
auf ihn gefallenen Wahl in Kenntniß zu setzen, so liegt diesem formellen Einwand
eine nicht haltbare Auffassung von der Stellung des Wahlcommissars zu dem
hohen Hause zu Grunde. Daß Herr von Säulen selbst abgelehnt hat. durch
sein Erscheinen in der Kammer dem Conflict ein neues Intermezzo zu geben,
bei welchem nichts Gutes herauskommen konnte, war in der Ordnung. In
den kleinen Gefechten, welche bis jetzt stattfanden, war die Rede, welche der
Minister des Innern. Graf Eulenburg, hielt, deshalb sehr merkwürdig, weil
sie bewies, wie lebhaft das Ministerium selbst die Sorgen eines Kampfes
empfindet, welchen es für Forderungen der Krone durchzufechten hat. Selten
bat ein Minister auf der Rednerbühne mit größerer Offenheit bekannt, daß
er an dem Zwist keine Schuld habe, sondern daß hier ein höherer Wille Nach¬
giebigkeit wünschenswerth mache. Dieser Worte wird die Opposition gedenken, aber
sie werden auf den Verlauf des Streites keinen besänftigender Einfluß ausüben. —
Ob die Negierung ihr Interesse darin finden wird, diese Kammer in fort¬
gesetztem reibendem Gegensatze sich ausleben zu lassen, ob sie ihr nach kurzer
Thätigkeit eine Auflösung bereiten will, das steht zuverlässig noch nicht fest
und ein etwaiger Plan kann jeden Tag durch ein unvorhergesehenes Ereignis;
gelrruzt werden. Darauf aber muß sich die Opposition gefaßt machen, wenn
nickt Fehler der Negierung ihr zu Hilfe kommen, bei einer Neuwahl eine be¬
trächtliche Zahl von Stimmen zu verlieren.
Eine solche Fortführung des Zwiespaltes ist aber auch für die Negierung
verhängnißvoll. Sie fühlt sich" jetzt sicher, aber die Mißerfolge in Schles¬
wig-Holstein werden ihren Rückschlag ausüben und die Stellung des Ministe¬
riums gegenüber der Krone nickt befestigen. Nach einer zu frühen Siegesfreude
wird der Aerger über getäuschte Aussichten um so empfindlicher werden. Trau¬
riger ist, daß der kurze Aufschwung, den Preußen durch die militärischen Er¬
folge erhalten, nicht den Segen bringen soll, welchen wir ersehnen, kräftige
Durchführung der Marinepläne, schnelle Ausführung des Kanalbaues zwischen
Nord- und Ostsee. Könnten wenigstens diese großen Interessen des Staates
nach der Erfahrung der letzten Jahre die Regierung und die Opposition zu ge¬
meinsamem Handeln vereinigen!
Die Thatsache, daß der preußische Richterstand, wenige Männer bei den
Gerichten erster, ja selbst zweiter und dritter Instanz ausgenommen, in rechts-
wissenschaftlicher Durchbildung hinter den Richtern der deutschen Länder des ge-
meinen Rechtes ein gutes Stück zurückstand und zurücksteht, kann bis diesen
Augenblick jedem erwiesen scheinen, welcher die von preußischen Gerichten bis
zum königlichen geheimen Obertribunal hinauf gefällten Erkenntnisse mit Grün¬
den unter Aufmerksamkeit auf die darin verarbeitete oder angezogene Literatur
der Rechtswissenschaft durchgeht und mit denen der Gerichte gemeinen Rechtes,
besonders der Obergerichte vergleicht, oder der die Bibliotheken der preußischen
Gerichte (zumal erster Instanz) und der preußischen Richter mustert; oder welcher
die wenigen, neuerdings um ein Minimum vermehrten, stets wiederkehrenden
Namen preußischer Rcchtspraktiker unter den Verfassern rechtswissenschaftlicher
Arbeiten in den Verzeichnissen der juristischen Verleger oder Zeitschriften ver¬
folgt. Nur theilweise erklärt diese bedenkliche Thatsache der Geist des preußischen
allgemeinen Landrechts, welcder seit der Publication des leßtercn, den S. Februar
1794 den Zusammenhang desselben mit den großen Grundlagen aller neueren
Rechtssysteme, mit dem römischen und deutschen Rechte, möglichst zu zerschneiden
trachtete (vergl. §. 1—8 und §. 18. des Publicationspatentes). Dieser Um¬
stand hätte nachhaltig die Entwicklung des preußischen Rechtes von jenen zwei
Hauptquellen alles Rechtes, der Rechtswissenschaft und der Rechtsgewohnheit,
kaum zu trennen vermocht, wenn nicht 1) das Rechtsstudium der angehenden
Preußischen Juristen auf ihren einheimischen und den übrigen deutschen Univer¬
sitäten , so wie 2) die weitere Aus b lib ung derselben in der Nechtspraxis
an den preußischen Gerichten, endlich wenn nicht 3) die Art der drei juri-
heischen Staatsexamina in Preuße» den wissenschaftlichen Geist der Rechts¬
praktiker zu wenig angeregt, und gereift hätten.
In das erste und dritte dieser maßgebenden Verhältnisse hat die Hand der
Negierung kürzlich theilweise reformirend und tief eingegriffen.
Bisher galt es unter den Studirenden aller Facultciten als zuerst beneidens-,
doch bald mehr bcdauernswcrthes Privileg der preußischen Juristen, in folgen¬
der Weise das Triennium zu absolviren. Bei der Immatriculation empfing der
Jurist mit den Gesetzen der Hochschule ein Verzeichniß der nach Semestern ver¬
theilten siebzehn juristischen Zwangsvorlcsungcn, welche er angenommen und nach
dem schriftlichen Zeugniß des Docirenden wenigstens „fleißig" besucht haben mußte,
wenn er zum ersten, dem Auscultatorexamen zugelassen werden wollte. Er nahm die
vorgezeichneten Collegia an. ging hin und wieder oder gar nicht hinein, sammelte
seine Testate bei den die Nutzlosigkeit, ja Ungehörigkeit solcher Schülerzeugnisse meist
erkennenden, auch an sich gutmüthigen Professoren, woraus er sich und Andere
mit Befriedigung überzeugte, daß er die Vorlesungen „fleißig" besucht, und jlebte
im Uebrigen als „flotter Bursche" in der „Kneipe", auf „Fechtboden und Men¬
sur" oder, falls er bemittelt, auf „Spritzen" (Reisen) bis zum Ende des fünften
Semesters. Zwei und ein halbes Jahr hatte er sich „Studirens halber" auf
deutschen Hochschulen aufgehalten und wußte häufig vom Rechte nichts, gar nichts,
höchstens verzweifelt weniges, was durch sein abgerissenes Detail nur verwirrte.
„Nun muß ich anfangen zu arbeiten". Das heißt, er ging im sechsten oder
siebenten oder achten Semester ins Nepelitvrium. Hier wurde ihm mit vielen
College» für schweres Geld das Nothwendigste der verschiedenen Nechtsdiscipli-
nen völlig schülerhaft und unwissenschaftlich „eingepaukt". Mit dem eingelern¬
ten, ganz unverdauten Wissen schritt er voll Angst ins erste Examen, brachte
mit Glück und Geschick seine auf die meist sehr lange Zeit fungirenden Exami¬
natoren berechneten Antworten, welche er eingelernt hatte, an, schrieb Einiges,
das »othtürflig genügte, über die aufgegebenen kleinen Themata und auszu¬
legenden Stellen des eorxus iuris civilis oder canoiriei unter nicht allzustrenger
Clausur zus.numen und „war durch". Examinatoren waren unter dem Pra»
sidtum eines der Präsidenten desselben Gerichts zwei meist ältere Räthe der
sämmtlich als Examincttionsorte bestimmten Appcllationsgerichte, welche durch ihr
Alter oder ih»e praktische Berufsthätigkeit meist verhindert wurden, den selbst
mehijäbrig zurückliegenden Resultaten der nicht speciell preußischrechtlichen Wissen¬
schaft, besonders der des deutschen Rechtes, zu folgen, weshalb es vorkam, daß
die wirklich einmal fleißigen Examinanden mit ihren auf der Hochschule gelern¬
ten neuen Resultaten der Wissenschaft von den Examinatoren Unrecht erhielten,
oder sich unrichtige, nur von den Examinatoren festgehaltene Rechtssätze gegen
besseres Wissen einprägten, um des Erfolges der Prüfung sicher zu sein. Rechts-
candidaten obiger,Art sollten nach l'^jähnger, nicht selten rein mechanischer
Arbeit der Auscultatur fähig sein, dann als Referendarien nach dem bestandenen
zweiten juristischen Examen die Stelle eines Richters vertreten, und nach fer¬
nerer 2'/2jähriger rein praktischer Ausbildung bei Gerichten erster und zweiter
Instanz das theoretische und praktische, verhältnißmäßig schwere Assessorcxamen
absolviren, um dann als selbständige Richter über die Streitfragen des
Rechtsverkehrs zu entscheiden. Oft scheiterte das fundamentlose Vorbestreben,
welches fast ausnahmlos in einem ganz unwissenschaftlichen, sehr viel „Urlaub",
Zeit und Geld raubenden Repetitorium in Berlin gipfelte, an der größeren Strenge
der nur zweimal zu wiederholenden dritten Prüfung; günstigen Falles aber
resultirte häufig daraus ein unwissenschaftlicher Richter. Beide Male war der
Kandidat 30 Jahre oder älter geworden, Umkehr in ein seinen Anlagen ent¬
sprechenderes Fach war verspätet; so sah der Staat sich genöthigt, selbst die im
Assessorexamen wiederholt durchgefallenen Candidaten in seine subalternen Ge¬
richtsstellen einzureihen und damit sich schlechte Subalternbeamte zu schaffen, den
alten, verdienten Subalternen aber durch die gesetzlich vorgezogenen Eindring¬
linge ihre kümmerliche Carriöre noch ungünstiger zu gestalten.
Mannigfach wurde gestrebt, dieser vielseitigen Misere, welcher nur das
spät beginnende und karge, auf die Preise von 1815—20 berechnete Nichtergc-
halt verglichen werden kann, gründlich ein Ende zu setzen. Eingehende Vor¬
schläge dazu machten vor einigen Jahren u. a. die Professoren Hals.hner in
Bonn und Goldschmidt in Heidelberg.
Den jetzigen Cultus- und Justizministerien gereicht es, entschieden zum
Lobe, die Reform ernstlich begonnen zu haben. Vor längerer Zeit richteten
sie an die juristischen Facultäten der preußischen Universitäten Anfragen über
die Reform des juristischen Studiums und ersten juristischen Examens. Aus een
eingegangenen Antworten, welche bei sonstiger großer Verschiedenheit doch we¬
sentlich darin übereinkämen, daß eine Aenderung des Studiums auch die Re-
form des ersten Examens nothwendig bedinge, haben die genannten Ministerien
eine neue Ordnung für das juristische Studium und erste Examen festgestellt,
welche im preußischen Justizministeiialblatte vom 9. December 1864, so wie
durch Schreiben an die juristischen Facultäten der Universitäten und an die
Chefpräsidien der in Betracht kommenden sechs Appellationsgerichte veröffent¬
licht ist und mit dem 1. März 186S in Kraft treten soll. Diese Reform scheint
uns dem dargelegten Zwecke wesentlich zu entsprechen.
Sie enthält folgende, für den preußischen Richterstand, wie für die sammt,
lichen deutschen Hochschulen wichtige Neuerungen.*
1) Die Zwangscollegia sind für preußische Juristen aufgehoben, d.h.
„es bedarf nicht ferner des Nachweises des Besuchs bestimmter Vorlesungen auf
der Universität," vielmehr genügt „der Ausweis über den vorschriftsmäßigen
Universitätsbcsuch" d. h. der Nachweis, daß der Candidat sechs Semester hin¬
durch in jedem Semester wenigstens ein Privatcolleg annahm.
2) Die Gegenstände der ersten juristischen Prüfung sollen sein: Rechts¬
philosophie, Geschichte und Institutionen des römischen Rechts, Pandekten,
deutsche Rechtsgeschichte, deutsches Privatrecht, Kirchenrecht, Lehnrecht. Völker-
recht, Staatsrecht. Kriminalrecht, preußisches Privatrecht. Civilprozeß, Criminal-
prozeß, Grundbegriffe der Staatswissenschaft; für die Prüfung in Cöln auch
das rheinische Recht und Prozeßverfahren. Außerdem muß jeder der höchstens
in einer Anzahl von sechs zulässigen Kandidaten über ein von ihm selbst ge¬
wähltes rechtswissenschaftliches Thema eine ihren Gegenstand in eingehender
Weise behandelnde Ausarbeitung unter eidesstattlicher Versicherung eigener An¬
fertigung und genauer Angabe der benutzten Quellen vor der mündlichen Prü¬
fung dem Vorsitzenden der Prüfungscommission (vergl. unten 4) einreichen. Die
Arbeit cursirt bei den vier Examinatoren, von denen zwei sie schriftlich censiren.
3) Ort der ersten juristischen Prüfung sind nnr die sechs preußischen
Gerichte zweiter Instanz zu Berlin, Breslau, Cöln, Greifswald, Königsberg
und Naumburg.
4) Examinatoren sind unter dem Vorsitze eines der Präsidenten obiger
Gerichte zwei richterliche Beamte — in Cöln ein Richter und ein Beamter des
öffentlichen Ministern — und zwei Universitätslehrer. Der Justizminister be¬
zeichnet aus den Räthen jedes der sechs obigen Obergerichte und aus den Mit¬
gliedern der Gerichte erster Instanz desselben Ortes bis zum Stadt - und zum
Kreisrichter hinunter, ebenso der Kultusminister aus den Universitätslehrern
der sechs preußischen Universitäten bis zum Privatdocenten hinunter die Exa¬
minatoren für jedesmal zwei Jahre; aus den Destgnirtcn wählt der jedesma¬
lige Vorsitzende der Prüfungscommission die zwei richterlichen und die zwei
Universitätsmitglieder für jede einzelne Prüfung.
Neuerdings sind bereits die nöthigen Ausführungsschreiben obiger Ver¬
ordnung an die Chefpräsidien der Appellationsgerichte und an die Decane
der juristischen Facultäten ergangen. Darin wurden principiell — mit nur
durch die augenblicklichen Verhältnisse gebotenen vereinzelten Ausnahmen —
Kinsichts der Richter nur Mitglieder der genannten Obergerichte, hinsichts der
Universitätslehrer nur ordentliche Professoren für die Zeit vom 1. März 1865
bis 1. März 1867 als Examinatoren designirt.
Daß die Zwangscolleg,'la abgeschafft würden, war längst der Wunsch
der objectiv urtheilenden juristischen Universitätslehrer, welche nicht in dem ge¬
setzlichen Zwange und ihrem Privileg bestimmter Vorlesungen die alleinige
Sicherung ihres akademischen Ansehens und Geldgewinnes sahen. Die Pro¬
fessur ist keine Sinekure, kein Ruheposten, sondern der Posten höchster und
schönster menschlicher Arbeit. Daß im ersten Augenblick dieser entschiedene
Durchgriff durch die Schranken alter und bequem gewordener Verhältnisse im
Kreise der Lehrenden große Erregung, oder gar Bangen um die Zukunft hervorrief,
war natürlich; wo das Bangen blieb, zeigt es von Mißtrauen in die eigeneKraft. das
Gemeinwesen darf darunter nickt leiden. Es leidet aber unzweifelhaft, wenn es den
wissenschaftlichen Trieb der Einzelnen zwingt, bestimmt vorgezeichnete Wege zu gehen.
Das Was. das Resultat geistiger Arbeit, kann der Staat als Bedingung spä¬
terer Anstellung vorschreiben, dazu berannte er hier drei Prüfungen an; das
Wie kann ihm gleichgiltig sein, mit anbefohlenen Wegen und Stationen schafft
er nur eine leidige und verleitende Schablone für die doch ungleichen Geistes¬
kräfte — (wir dürften dahin kommen, selbst das Erfordernis, des Trienniums
der Universitätsstudien zu beseitigen; dann erst ließen wir das vielgestaltete
Geistesleben sich naturgemäß entwickeln). Man entgegnet. die Studenten seien
für die Aufhebung der Zwangscollegia nicht reif. Die juristischen Studenten
sind ebenso reif hierzu, wie die Studirenden anderer Facultäten in denen
längst die Zwangscollegia sielen. Wenn sie ohne das Besuchen der Hörsäle
so schnell und gut oder gar schneller und besser, als beim Besuche, sich die für
die akademisch-juristische Ausbildung nöthigen Kenntnisse, wenigstens die für das
erste Examen erforderlichen anzueignen vermögen, wäre es ungerecht und natur¬
widrig, von ihnen den Besuch auch nur eines Collegs in jedem Semester zu
verlangen; das akademische Triennium würde hier doch zum leeren Scheine.
Bedürfen sie aber, wie es in den weitaus meisten Fällen geschehen wird, der
allseitigen und sichern Unterweisung der Hochschule, so werden sie jetzt
noch eifriger die Vorträge hören, weil sie ein viel schwereres, vornehmlich
theoretisches Examen vor sich sehn. Man darf nicht pessimistisch allen wissen¬
schaftlichen Trieb den juristischen Studenten absprechen, äußerlich ergänzt ihn
die Furcht vor dem Examen. Ebenso wenig darf man sie so unbillig und un-
ehrenmäßig vermuthen, daß sie die Auditorien füllen werden, ohne die Vor¬
lesungen „belegt" und bezahlt zu haben. Der Universitätslehrer kann ja so leicht
die Zahl der blinden Zuhörerschaft controliren und nach billigem Ermessen
beschränken oder ganz ausschließe». Aber selbst in diesem Punkte wird die
Rücksicht auf das Examen die Studenten zum wirklichen Annehmen der Vor¬
lesungen treiben, wie die Erfahrung der andern Facultäten zeigt; denn be¬
fremdend muß es den Examinator immer erregen, wenn der Candidat sich
nur über die Annahme der gesetzlich geringsten oder einer geringen Zahl von
Vortragen ausweisen kann. Selbst Testate über ihren Fleiß werden die Zu¬
hörer aus diesem Grunde sich noch ferner erbitten. Die Gefahr andrerseits,
daß die Studenten vorzugsweise oder ausschließlich zu den Vorlesungen der
Examinatoren gehen werden, dürfte, selbst wenn die Studenten sich wirklich
nur hierdurch leiten ließen, nahezu dadurch ausgeglichen werden, daß ja alle
Grade der Universitätslehrer zum Prüfen berechtigt sein sollen, und daß in je
zwei Jahren der übrigens vorher nicht veröffentlichte ganze Kreis der Examina¬
toren wechseln kann, die Examinatoren der einzelnen Prüfung aber erst un¬
mittelbar vor letzterer ernannt werden. Daß ein Professor seine Stellung
zur Universität oder zum Examen dazu mißbrauchen sollte, die Zuhörer
darauf "hin zu sich allein absichtlich heranzuziehen, erscheint schon sittlich undenk¬
bar. Geschähe es, so wäre allerdings die durch die neue Verordnung un¬
zweifelhaft angebahnte Verbesserung von Grund aus in die größte Gefahr
für das wissenschaftliche juristische Studium umgewandelt. Da die Studenten
ferner aus bester Einsicht oder urtheilsloser Gewohnheit eine bestimmte Reihen¬
folge der Kollegia auch künftig einhalten müssen, an fast allen Universitäten
aber die einzelnen Collegia in jedem Semester nur von je Einem der hierin
unter sich wechselnden Universitätslehrer, also ohne Concurrenz, gelesen werden,
läßt sich ein Monopol der jedesmaligen Examinatoren auf die Zuhörerschaft um
so weniger besorgen. Daß alle diese für Aufhebung der Zwangscollegia und
zu Gunsten der neuen Verordnung sprechenden Gründe nicht rein theo¬
retische sind, zeigt sich bereits in der akademischen Praxis, wo selbst nach Pu¬
blication der Examenordnung Studenten, welche schon den Vorzug der ver¬
schärften Prüfung kosten werden, zahlreicher, als bisher, solche Collegia belegen
und besuchen, die ihrer Natur nach mehr zur allseitigen juristischen Ausbildung
als zur Entscheidung im Examen beitragen. Deshalb erscheint es auch nicht
nothwendig, ja an sich nicht im Sinne der neuen Verordnung, daß etwa juri¬
stische Decane auf der Abgangsurkunde der Studenten von der Universität ver¬
merken, welche wesentlichen juristischen Vorlesungen von ihnen nicht gehört
seien. Sollten trotzdem die finanziellen Resultate für einzelne der Professoren
und Docenten durch die Reform sich ungünstiger erweisen als bisher, so bie¬
tet sich für die Docenten, denen man dies billigerweise allein überweist, das
jetzt um so nöthigere wahrhaft wissenschaftliche Repetitorium als Ersatz; weder
Professoren noch Docenten aber dürften die Examinationsordnung wegen
der eigenen finanziellen Nachtheile aufzuheben.trachten, welche den Docenten
niemand, den Professoren der Staat allein auszugleichen verpflichtet wäre.
Der Nutzen der Verordnung für das ganze Gemeinwesen ist wichtiger und
größer, als für den Einzelnen der den- gleichmäßigen oder gesteigerten Gehaltes.
Aber ist letzterer nicht bei Vielen der Kernpunkt des ganzen Eiferns gegen die
Reform der Zwangscollegia? schützte denn das Zwangscolleg irgendwie gegen
Unwissenschaftlichkeit, Trägheit oder Unbilligkeit der Studenten, gegen Con-
currenz der Lehrenden?
Bei Aufzählung der Gegenstände des Examens ist leider nicht die aus¬
führlichere Reihenfolge des alten Studienplanes, sondern das kurze Verzeich¬
nis) aus der Verfügung vom 16. November 1844 zu Grunde gelegt. So
nimmt das rechtshistorisch sehr wichtige, rechtspraktisch aber fast unwichtige
Lehnrecht einen eigenen Platz ein, während es kaum irgendwo als Separat-
colleg, meist in der deutschen Rechtsgeschichte und im deutschen Privatrechte
behandelt wird; dagegen ist das Wechsel-, See-und Handelsrecht, rechtsgeschicht¬
lich und rechtspraktisch von gleichgroßer Bedeutung, nur als selbstverständlich
in dem deutschen Privatrecht einbegriffen angesehn, daher selbständig gar nicht
genannt, während es fast überall als gesonderte Vorlesung behandelt wird und
werden muß. Ganz fortgelassen, sind aus der frühern Zahl 1) die Logik; wir
hätten statt dessen die Zufügung der Psychologie zur Logik gewünscht, damit
die Studenten durch das Examen gezwungen auf eine gründlichere philo¬
sophische Vorbildung hingewiesen wären und nicht in ihrem jetzt naheliegenden
unphilosophischen Betriebe der Wissenschaft noch bestärkt würden, ferner 2) die
juristische Encyklopädie und Methodologie; ein Examinationsgegenstand konnte
diese Disciplin selbstverständlich nicht sein, hoffentlich werden die Studenten
bei den jetzt gesteigerten Anforderungen um so mehr veranlaßt sein, sich in
diesem Colleg den dringend nöthigen allgemeinen Ueber- und Einblick in ihre
Wissenschaft zu gewinnen und zu erhalten, endlich 3) die gerichtliche Medicin;
ihr Platz im Studienplane war sehr begründet, sie gab den Criminalisten treff¬
liche Anleitung, das für sie besonders wichtige und interessante Gebiet in der
Praxis sich theoretisch und praktisch zugleich anzueignen. Leider scheint die Re¬
gierung das Aussterben der allseitig durchgebildeten namhaften Crimina¬
listen begünstigen zu wollen. Im Uebrigen verblieben die alten Prüfungs¬
gegenstände, sie tragen ihre Nothwendigkeit in sich, das staatswissenschaftliche
(volkswirthschaftliche) nicht ausgenommen. — Die schriftliche, selbständige Ar¬
beit ist gewiß ein ganz besonderer Vorzug der neuen Ordnung; bei richtiger,
angemessen strenger Handhabung derselben werden gerade in ihr die Candidaten
eine Probe des Eindringens in ein specielles Rechtsinstitut und der juristischen
Urtheilskraft geben.
Die Bestimmungen über den Ort des Examens sind geboten durch die
Zusammensetzung der Prüfenden. Nur Bonn und Halle senden ihre Universitäts-
lehrer an die Obergerichte zu Cöln u»d Naumburg. So erhalten fast alle
einzelnen größeren Theile des preußischen Staates ihre Examinativnsmittelpunkte,
an denen voraussichtlich — nicht obligatorisch — jedesmal diejenigen Candidaten
sich werden prüfen lassen, welche in dem betreffenden Landestheile zunächst ihre
praktische Rechtsausbildung gewinnen wollen. Hieraus erwachst ein zweifacher
Vortheil. Die Prüfung wird bald eine feste, bleibende, gleichmäßige Höhe
ihrer Anforderungen gewinnen, ohne daß bei dem steten Wechsel der Examina¬
toren ein Mißbrauch der auf die constanten Fragen berechneten, unwissenschaft¬
lichen Repetitorien Platz greifen kann, statt deren können die in wissenschaft¬
lichem Geiste gehaltenen Repetitorien der Docenten, wo es erforderlich, die
Studenten ersprießlich den gesteigerten Forderungen des Examens entsprechend,
ausbilden. Ferner wird voraussichtlich das juristische Contingent der Studenten
höherer Semester sich etwas gleichmäßiger auf die einzelnen preußischen Hoch¬
schulen vertheilen, so daß nicht mehr, wie jetzt in Greifswald, auf einen ein¬
zigen Studiosus juris die ganze juristische Facultät von sieben ordentlichen
Professoren angewiesen sein wird.
Die Zusammensetzung der Examina tionscommission erscheint insofern
wirkungsvoll, als Praktiker und Theoretiker darin vereint sind; hierdurch werden
beide Theile stetig bewogen, die Prüfung als theoretisch-praktische zu gestalten.
Selbstverständlich wird von jeder Seite mehr das juristische Urtheil und das in
sich verarbeitete juristische Wissen, als das unverarbeitete, angelernte der Can¬
didaten erprobt werden. Die Prüfung ist jetzt äußerlich zu einer vorwiegend
praktischen geformt; denn die Leitung vor und in dem Examen, so wie die
eine Hälfte des Examens ruht in der Hand der Praktiker, ihre Majorität ent¬
scheidet. Aber die Candidaten sind ja nur noch Rechtstheoretiker, daher behielt
die Prüfung selbst bei den bisher nur praktischen Examinatoren ihren vorwiegend
theoretischen Charakter; dieses wird jetzt durch die zwei Vertreter der rei¬
nen Wissenschaft noch vielmehr der Fall sein, ja eben wegen der vorwiegend
wissenschaftlichen Natur des Examens muß natürlich die Entscheidung von
den Praktikern vornehmlich den rein wissenschaftlichen Examinatoren anheim¬
gestellt werden, thatsächlich werden diese zwei Stimmen auf drei Stimmen der
ersteren maßgebend einwirken. Sobald erst die glücklich begonnene Reform
weiter dahin geführt haben wird, unter Erschwerung der Examina einem ersten
die wissenschaftliche, einem zweiten und letzten nur die praktische Prüfung zuzu¬
weisen, wird von selbst die ganze Entscheidung des ersten Examens in die Hand
der wissenschaftlichen Examinatoren gelegt sein. — Um jedes etwaige Monopol
der Examinatoren auf die Zuhörer der Vorlesungen zu vermeiden, wäre viel¬
leicht eine ausdrückliche Bestimmung über die NichtVeröffentlichung der für zwei
Jahre designirter Commissionsmitglieder, sowie ein häufigerer als zweijähriger
Wechsel der letzteren rathsam. Der Wechsel empfiehlt sich um so mehr, da trotz der
höchst anerkennenswerther Berechtigung der außerordentlichen Professoren und
Docenten, ferner der Gerichtsmitglieder erster Instanz zur Function der Exami¬
natoren, doch für die nächsten zwei Jahre — mit nur durch äußere Umstände
gebotenen, ganz vereinzelten Ausnahmen — lediglich ordentliche Professoren und
Appellationsgerichtsräthe dazu designirt worden sind.
So wird von der neuen preußischen Prüfungsordnung zuversichtlich eine
unmittelbare Besserung des juristischen Studiums und ersten Examens herbei¬
geführt, eine mittelbare der Wissenschaftlichkeit nicht weniger preußischer Rechts¬
praktiker angebahnt. Bei den Examinatoren steht es, das richtige Miß der
Strenge in Anforderung und Entscheidung zwischen den Grenzen des bis¬
herigen Auskultator-unddes rein wissenschaftlichen Doctorcxamens walten zu lassen.
Einer der wichtigsten Vorzüge der Reform hängt hiervon ab: so frühe schon
können jetzt die Candid^ten über ihre juristische Befähigung sich Klarheit ver¬
schaffen, daß sie bei deren Mangel noch in geeignetem Alter sich einem ihren
Anlagen angemesseneren Lebensberufe zuwenden werden. Dieser große Nutzen
für die Candidaten, wie für die Nechtspraltikcr und den Rechtsverkehr im Staate
rechtfertigt ganz besonders die hohe Zahl der Examinatoren gegen den ihr ent¬
gegengehaltenen Zweifel. Gerade diese Rücksicht andererseits, sowie der ent¬
schiedene Durchgriff der Reform durch alte Mißzustände lassen um so dringen¬
der hoffen und wünschen. daß das Ministerium die so glücklich begonnenen
Besserungen durch eine weitere Reform der praktisch-juristischen Ausbildung, ins¬
besondere durch eine Verkürzung der Ausbildungszeit und durch die Bereinigung
des jetzigen Referendar- und Assessorexamens in eine einzige und letzte erschwerte
praktische Prüfung gegenüber der dann noch zu verschärfenden ersten wissen¬
schaftlichen Prüfung ausbaue und vollende.
Die Glyptothek, das Rationalmuseum und das Kunsthandwerk. Die alte Pinako¬
thek und die Kunstpflege.
Ohne Zweifel stehen die Münchner Kunstsammlungen unter den deutschen
in erster Linie, In den einzelnen Fächern mögen einige Städte, z. B. Wien,
Berlin und Dresden mehr Vorzügliches enthalten: alles aber zusammen¬
genommen, in der Vereinigung so mannigfaltiger und fast alle Epochen ver¬
tretender Kunstwerke wird es wohl keiner dieser Orte München zuvorthun. Zu¬
gleich möchte nirgends in unserm Jahrhundert sowohl für neuen Erwerb als
für würdige Aufstellung der erhaltenen Denkmäler so viel geschehen sein, wie
gerade hier. Durch diese Seite ihrer Kunstthätigkeit haben sich die bayrischen
Könige ein unzweifelhaftes Verdienst erworben, das ihnen ein dankbares
Andenken bei der Nachwelt sichert. So haben in der Glyptothek, der
Schöpfung Ludwigs des Ersten, nicht blos fast alle Perioden der antiken Pla¬
stik — was viel sagen will — durch gute Werke ihre Vertretung, sondern auch
die alten Götter gleichsam eine zweite Heimath gefunden, die ihrer werth ist
und sie zu einem neuen menschlichen Cultus als ein der Kunst gewidmeter Tem¬
pel umschließt. In der That ist die Glyptothek in ihrer eigenthümlichen Ver¬
mählung der antiken und modernen Kunst vielleicht das Schönste, was die Ge¬
genwart hervorgebracht hat, während sie zugleich ein ebenbürtiges Denkmal ist
für die von dieser zum zweiten Mai entdeckte und wiederbelebte Gestaltenwelt
der Alten. Je unsicherer und zweifelhafter der künstlerische Werth von so man¬
chen Erzeugnissen ist, die später und noch neuerdings in München anspruchsvoll
und mit prunkenden Scheine an den Tag getreten sind, mit um so größerer
Freude verweilt das Auge bei jenen großen und von echter Begeisterung ein¬
gegebenen Werken, welche die neu anbrechende, vom Hauche der Antike beseelte
Zeit gleich bei ihrem Eintritt mit schöpferischen Zuge zu Stande brachte. Alles
vereinigte sich damals, alle guten Feen schienen an der Wiege der jungen Kunst
zu stehen und in ihre noch unbeschriebene Phantasie die schönsten Bilder nieder¬
zulegen, daß sie in ihrem Gang durchs Leben wie mit Zauberhand nur alles
zu berühren brauchte, um es in schöne Form und beseelte Gestalt umzuwandeln.
Und als sie nun frisch und voll drängender Hoffnungen ihre ersten Schritte
in die Welt gethan, da traf sie, wie im Märchen, auf den jungen Königssohn,
der, von ihrem jugendlichen und großen Reiz gefangen, sie in sein Reich
führte und dort mit ihr ein herrliches Fest der Vermählung feierte. Der Leser
lächelt über diese wundersame Einkleidung des mit dem Jahrhundert neu er¬
wachenden Kunstlebens, aber er wird, wenn er näher zusieht, das Märchen
vollständig finden. Denn an der Wiege fehlte, zwar verhüllt und versteckt noch
hinter den guten Geistern, auch die böse Fee nicht, die dem Kind das verhäng-
nißvolle Geschenk der romantischen Gelüste mitgab und die Einbildung einpflanzte,
daß es auch ohne jene spielend und tändelnd das Größte vollbringen könne.
Wie es später seine Beschützer mit diesen unheimlichen Reizen berückte, dessen
wollen wir nicht wieder und dafür lieber noch einmal seiner Jugend gedenken,
da noch alle guten Geister mit ihm waren.
Es war ein wunderbares Zusammenwirken der bildenden Künste, als Klenze
den Bau herstellte. Cornelius seine Wände schmückte, um zur Aufnahme der
alten Bildwerke den passenden Raum zu bereiten. Und wahrlich, seit ihr
Reich zu Ende gegangen, ist es diesen, selbst in der Zeit der Renaissance, kaum
je so gut geworden. Was man auch in Nebendingen an dem Bau von Klenze
rügen mag, sein Haften am Boden, von dem es sich nicht energisch genug los»
ringt, die unkannelirten Säulen, die Nüchternheit der inneren ornamentalen
Ausschmückung: es ist ein Bau, der für seinen Zweck ausdrucksvoller kaum
hätte ersonnen und durchgeführt werden tonnen, und zu einer Zeit, da sonst
die Antike noch in den schweren Fesseln der kaiserlichen Auffassung lag, von
ihrem echten Geiste umweht, von ihrer Phantasie getragen und gehoben. So¬
weit Klenze in ihm nachbildend zu Werke ging, war das hier ganz am Platze,
wo es galt, der classischen Kunst ihren Palast zu errichten. Zugleich aber zeigte
sich schon hier sein lebendiges Verständniß der Antike, indem er den vollen Ein¬
klang und Rhythmus der Verhältnisse traf, die sich ja schon deshalb nicht nachahmen
lassen, weil sie in allen Werken der griechischen Architektur unberechenbar, in
ihrem steten lebendigen Wechsel unfaßbar, nur auf der feinen Eigenthümlichkeit
ästhetischer Empfindung und architektonischen Sinnes beruhen. Doch auch da,
Wo er für den modernen Zweck eine Fortbildung der Antike versuchte, zeigte
sich die Freiheit seiner von den Alten durchdrungenen Phantasie, indem er in
organischer Gliederung an den beherrschenden Mittelkörper die einfachen, aber
in demselben Charakter gehaltenen Seitenflügel anschloß und in der Belebung
ihrer Flächen die Bestimmung des Baues architektonisch Versinnlichte. Dasselbe
lebendige Gepräge des Zweckes trägt die innere Eintheilung. Durch die hellen,
großen, im Kreislauf sich aneinander reisenden Säle, die von innen ein ge-
schlossenes Licht empfangen, von der Außenwelt aber keinen Strahl und keinen
Laut des Tages aufnehmen, ergießt sich gleichsam die stille, gesammelte, in sich
'
befriedigte und vom Geräusch der Welt abgewendete Stimmung des plastischen
Lebens.
Allein nicht blos den Raum sollte die moderne Kunst zum gastlichen Empfang
der Allen bereiten, sondern sie sollte zugleich den Gedankenkreis der Alten, verjüngt
durch die belebende Anschauung der neuen Zeit, auf die Erde zurückführen und so
die Vergangenheit mit der Gegenwart zusammenschließen. Hier that die eigenthüm¬
liche Kraft von Cornelius ihren großen, einen wahrhaft einzigen Wurf. In
die griechische Götter- und Heldensage wußte er den tieferen Zug des modernen
Geistes zu bringen, ohne ihr von ihrem eigenen Leben zu nehmen. Er legte
in die räumliche Anordnung das geistige Band, welches die einzelnen Momente
mit den feinen Fäden innerer Beziehungen umschlingt und unsichtbar sichtbar
zwischen den Bildern spielt, während diese selber die Hauptmotive, in denen
das Vorher aueklingt, das Nachher sich ankündet, zu voller greifbarer Erschei¬
nung ausprägen. So hängt das Auge bald an den einzelnen Gestalten
und Suualionen, die in sich ihr erfülltes Leben haben, bald wird es herüber
und hinüber geleitet von Gruppen zu Gruppen und findet so den seelenvollen
Zusammenhang, den ganzen, eine Welt umfassenden Verlauf in seinem geistigen
Fluß gleichsam erhalten und doch wieder zu Form und Farbe verkörpert. Nichts
ist hier bedeutungslos und doch ist alles deutlich; alles ist Gestalt, und doch
wieder in der Gliederung des Stoffes zur cyklischen Bilderfolge, in der Ein-
theilung des Raumes, im verbindenden Orncuncntenspiel. überall die stille
geistige Bewegung des das Ganze ausbreitenden und wieder umspannenden
Gedankens. Wie in Goethes Iphigenie der classische Zug der griechischen
Phantasie bewahrt und doch, was der Grieche als blinde Schicksalsgewalt über
sich oder als sittliche Macht sich gegenüber stellte, nach der tieferen deutschen
Auffassung in die menschliche Brust zurückverlegt ist: so ist ähnlich die griechische
Sage in den Darstellungen von Cornelius ganz Versinnlicht und doch auch ihr
innerer, vom modernen Bewußtsein entbundener Sinn zum Ausdruck gekommen.
In dieser Vermählung des antiken Körpers mit dem modernen Geiste hat die
neue deutsche Kunst ein ganz eigenthümliches Werk geschaffen, dem ich der Auf¬
fassung und Anordnung des Stoffes nach selbst aus der Zeit der Renaissance,
die einzige Sistinadecke ausgenommen, nichts an die Seite zu stellen wüßte.
Kreuch, wie wir oben bei dem Bau der Glyptothek die Mängel hintangestellt
haben, so müssen wir hier bei den Malereien von Cornelius von der ungenü¬
genden Ausführung absehen. Wären die Gestalten zum vollen Schein des Lebens
und zur Freiheit der Bewegung herausgeführt, hinge ihnen die Farbe nicht so
äußerlich und fremdartig an. künstlerisch unverarbeitet und fast wie eine reizlose,
den Linien umgelegte Hülle: so wäre hier ein der Kunst des Cinquecento eben¬
bürtiges Werk. Doch daß die Gegenwart nicht dazu kommen konnte, ein solches
hervorzubringen, haben wir schon früher gesehen. So, wie die Fresken sind,
muß sich der Beschauer an den geistvollen Zug der Phantasie, an die Anord¬
nung und Komposition hallen; und da im Grunde hierauf die Hauptwirkung
des Ganzen beruht, so wird ihm trotz ihrer Mangel diese ideale Welt bei ern¬
ster und eingehender Betrachtung einen großen Eindruck zurücklassen.
Indem auf diese Weise durch das Gebäude und seine Ausschmückung eine
Passende und vom Geist der Antike belebte Umgebung für die alten Bildwerke
hergestellt ist, hat die Glyptothek das Museenhafte glücklich vermieden. Sie
führt den Besucher gleichsam in die Stimmung des plastischen Lebens der Alten
zurück und bringt ihre Götter und Helden seinem Verständniß entgegen. Hierzu
trägt auch die Aufstellung der Statuen bei. welche nicht wie gewöhnlich in ver¬
wirrender Menge und zu einem bunten Durcheinander die Kunstwerke zusammen¬
drängt, sondern soviel wie möglich der geschichtlichen Entwicklung folgt, den
Beschauer in den inneren Zusammenhang einführt und zugleich jedes Bald wie
ein Individuum für sich hinstellt, das für sich betrachtet und verstanden sein will.
Hat sich König Ludwig durch diese Sammlung classischer Kunstwerke und
die ideale Wohnstätte, welche er ihnen angewiesen hat, ein unvergängliches
Denkmal gesetzt, so hat sich seinerseits König Max um die deutsche Kunst der
Vergangenheit ein ähnliches, nicht minder großes Verdienst erworben. Die
Errichtung des Na ti on a l in uscums beruhte auf dem glücklichen Gedanken,
von den ältesten Zeiten bis auf unsere Tage alle Ueberreste des deutschen Cul¬
turlebens zu sammeln, in denen eine künstlerische Hand mit thätig war oder
doch der künstlerische Sinn der verschiedenen Zeiten sich ausspuckt. Man ging
hierbei von dem engeren vaterländischen Kreise, den bayrischen Denkmälern aus,
nahm aber mit richtigem Verständniß für das Ineinandergreifen der ganzen
deutschen Kunstthätigkeit die Producte anderer Länder mit auf. Zum Leiter
des ganzen Unternehmens hatte Maximilian einen Mann — Baron Arelim —
berufen. wie er sich zu diesem Zweck nicht besser hätte finden können; der voll
Lust und Liebe zur Sache, mit gründlicher Kenntniß, freiem künstlerischen Blick
und unermüdlichem Eifer in wenigen Jahren eine in ihrer Art einzige Sammlung
Zu Stande brachte. Vom Altarwerk, das sich über das niedere Gebiet des
bloßen Nutzens in das höhere der reinen Kunst erhebt, bis zum geringsten
Werkzeuge des täglichen Daseins herab, sind alle Geräthe vertreten. deren der
Mensch sowohl zu den höheren als zu den gewöhnlichen Zwecken in den ver¬
schiedenen Zweigen seines äußeren Lebens bedarf und denen er das Gepräge
seiner freien spielenden Phantasie aufgedrückt hat, um ihnen den prosaischen
Schein der zwingenden Nothdurft zu nehmen. Ein vollständiges Bild der
deutschen Gesittung in allen früheren Perioden und zugleich des deutschen
Kunstlebens, das auch das Product des Bedürfnisses durch die künstlerische
Form und Zierde zu veredeln und wie ein selbständiges Merkmal des innern Lebens
Zu behandeln wußte. Als mit der Sammlung begonnen wurde, war es just
noch Zeit, die noch erhaltenen Denkmäler zu retten, um sie als öffentliches
Gut dem Volke zu übergeben. Was durch die verheerenden Kriegszüge der
vergangenen Jahrhunderte oder durch die Unkenntniß der zufälligen Besitzer
nicht zu Grunde gegangen war, davon hatten Alterthümer und kunstsinnige
Private schon ein gut Theil für sich gesammelt; es stand zu fürchten, daß auch
der Rest entweder in staubigen Winkeln unbeachtet zerfallen oder von diesen
noch aufgespürt würde. Glücklicherweise fand sich, da die Sammlung mit
Eifer und Verständniß betrieben wurde, namentlich in Bayern noch ein reicher
Schatz von Erzeugnissen des vergangenen Kunsthandwerks. Diese, nach den ver¬
schiedenen Epochen übersichtlich geordnet, führen uns von Stufe zu Stufe durch
das ganze deutsche Culturleben, anhebend von seiner ersten Kindheit, da sich
der Gestaltungstrieb an überlieferten und schon ausgelebten Formen, namentlich
den byzantischen. unbeholfen abarbeitete, dann durch die phantastisch spielende,
im Schmuck des Kirchengeräthes unerschöpfliche Gothik, die lebendige, schwung¬
volle Pracht der Renaissance hindurch in die wildbewegte ausgelassene Ueppig¬
keit des Zopfes auslaufend, endlich wie versiegend in dem nüchternen und
schwerfälligen, die Antike äußerlich nachäffenden Spiel der Kaiserzeit. Da sich für
alle Epochen fast alle Arten des Kunsthandwerks von dem niedrigsten bis zum
höchsten, das sich dem selbständigen Kunstwerk ebenbürtig an die Seite stellt,
in vortrefflichen Beispielen finden, so sehen wir zugleich, wie der Charakter
jeder Periode das ganze menschliche Leben durchdringt, und erhalten ein leben¬
diges Bild von der Arbeit der vergangenen Geschlechter, in der sich ihre Be¬
dürfnisse und ihre Empfindungen, ja ihre Triebe und ihre Schicksale wieder
spiegeln. Denn das ist den Zeiten, die hinter uns liegen, eigenthümlich, daß
sie sowohl im geschnitzten Heiligcnbilde als in dem Teppich, in dessen bunte
Fäden ein Stück Geschichte gewirkt ist, sowohl in dem verzierten Stahl der
blanken Waffen als im heimlichen Hausgeräth mit bestimmten Zügen einen
Theil ihres inneren Wesens ausprägen.
Wie abgeschnitten erscheint auf einmal mit dem Eintritt des neunzehnten
Jahrhunderts diese fortlaufende Verkörperung des Zeitcharakters durch die kunst¬
reiche Arbeit des Handwerkers. Wenn später unsere Nachkommen einer solchen
Sammlung von Geräthschaften die Erzeugnisse unserer Industrie hinzufügen
wollen, so wird es ihnen zur Auswahl an einer mannigfaltigen Menge nicht
fehlen, aber sie werden in Verlegenheit sein, das Bezeichnende und mit künst¬
lerischem Sinne Gestaltete herauszufinden. Die Armuth unseres Zeitalters an
eigenthümlichen Formen im Geräthe des täglichen Lebens ist ja so offenbar zu
Tage getreten, daß sie auch der nicht bestreitet, der von unserer Kunst noch
eine große und selbständige Entwicklung hofft. Auf der einen Seite der kahle
und maschinenartige Ausdruck des bloßen Bedürfnisses, so einfach und so reiz¬
los als möglich, wo dann wie bei den englischen Arbeiten eine nüchterne
Sauberkeit der Ausführung und die plumpe, schmucklose Gediegenheit der blos
den prosaischen Zweck aussprechenden Gestalt das einzige Verdienst ist; auf der
anderen Seite eine mechanische und schablonenmäßige, dabei liederliche Nach¬
ahmung bestimmter überlieferter Formen, die wie geborgte abgetragene Faschings.
Neider den Producten umgehängt werden. Alles was uns als Werkzeug unseres
Lebens umgiebt, betrachten und gebrauchen wir mit derselben Gleichgültigkeit,
mit der wir uns in der Einrichtung des Gasthofzimmers umsehen, das wir
für einen einzigen Tag bewohnen wollen; und wie wir an dieses alle An¬
sprüche der häuslichen Bequemlichkeit stellen, so haben wir zu jenem nur das
äußerliche und prosaische Verhältniß der Gewohnheit. Wir haben kein Be¬
dürfniß, in ihm den verschönernden Zug der Phantasie wiederzufinden, weil
wir selber keine von Formen erfüllte Phantasie haben, die sich getrieben fühlte,
auch im umgebenden Geräthe sich kund zu thun. Wir suchen in diesem weder
ein vertrautes heimliches Gesicht, noch das Gepräge einer individuellen, mit
Liebe arbeitenden Hand; morgen schon verbraucht, mit einem anderen vertauscht,
soll es nur durch einen oberflächlich aufgeklebten Zierrath das Auge über seine
nackte, der bloßen Nothdurft dienende Form hinwegtäuschen. Daher genügt
uns der erste beste Rococoschnörkel. ein Stück gothisches Maßwerk, ein schwer-
fälliges und ausdrucksloses Arabeskcnspiel, ein kaum noch erkennbarer Rest an-
tiker Ornamente. Oder wir haben andererseits unsere Freude an der Geschick-
t'edlen sklavischer Nachahmung, mit der an Prunkgeräthcn dies oder jenes Detail
der kleinen Naturwelt wiederholt wird, wie denn derartig ausgestattete höchst
kostbare Möbel auf der großen pariser Ausstellung Glück machten; wenn wir
nicht gar einen Reiz darin finden, daß das Material sich verläugnet und mit
trügerischem Scheinen ganz anderes vorzustellen sucht. Papier sich für Gewebe.
Holz für Leder und umgekehrt ausgiebt. Und bei alledem haben wir nur die
äußere decorative Erscheinung im Auge. Für die Form selber, die Gestalt, in
welcher ein edles Handwerk die Dinge des Gebrauchs ihren Zweck aussprechen
läßt und doch zugleich in den freien Schwung schöner Linien zu fassen vermag,
fehlt uns alles Gefühl; hierin begnügen wir uns. wie schon unsere Gläser und
Kruge zeigen, mit den plumpen und rohen Verhältnissen, die der bloße Bedarf
die Hand giebt.
Es ist eben mit dem Kunsthandwerk unserer Tage etwas Aehnliches wie
mit der Kunst selber: es fehlt sowohl die lebendige Ueberlieferung von Werk-
Atte zu Werkstäte, die Tradition der Uebung und der künstlerischen Anschauung,
als das gründliche Studium nach den Vorbildern vergangener, mustergiltiger
Epochen/ Es fehlt allerdings auch die allgemeine ästhetische Stimmung, welche
«leichsam die Phantasie aller dunkel bewegend den Sinn und die Hand des
Meisters zu schönen Formen hinlenkte. Aber daß wir es doch nicht lassen, uns
»ut allerlei Ziergeräthe zu umgeben und auch den Dingen des gewöhnlichen
Nutzens einen gefälligen Fetzen umzuhängen, das beweist doch, wie wenig wir
des Schmuckes entbehren können, und wie wir auch jetzt noch den Trieb haben,
dem äußeren Leben und seinen Werkzeugen durch den selbständigen spielenden
Schein der Kunst die Schwere der Prosa zu benehmen.
So hat auch das heutige Handwerk noch die Aufgabe, diesen Trieb — in¬
dem es ihn zugleich veredelt — in tieferer und ausdrucksvoller Weise zu be¬
friedigen. Da es aber der Phantasie des Zeitalters wie im Großen so im
Kleinen an eigenthümlichen Formen noch gebricht, so ist den Gewerken derselbe
natürliche Weg wie der Kunst vorgezeichnet: die Bildung nach den vollendeten
Arbeiten der Vergangenheit. I» dieser Beziehung nun, als „Vorbild", hat
die Sammlung des Nationalmuseums für die Gegenwart einen unmittelbar
praktischen, das Leben nahe berührenden Werth. So viele Klagen über den
kümmerlichen Zustand der heutigen Kunstindustrie sind schon laut geworden, so
Mancherlei hat man versucht, um ihr zu einer neuen Blüthe zu verhelfen: das
richtige und naturgemäße Mittel besteht sicherlich in einem einsichtigen Anknüpfen
an die Tradition, in einem freien Aufnehmen der vorhandenen Formen. Ist
erst die Liebe zu künstlerischer Durchbildung des Handwerks an dem schönen
Geräthe, das uns frühere Jahrhunderte überliefern, wieder groß geworden,
dann wird sich auch um so leichter und sicherer der Trieb regen, die überkomme¬
nen Formen mit selbständigem Sinne und zum vollen Ausdruck unserer Be¬
dürfnisse weiter zu entwickeln. Auch hier werden unter den Mustern die Ar¬
beiten der Renaissancezeit allen voranstehen. Ihr Formenspiel hat nichts mehr
von dem Dunkeln und Abenteuerlichen einer noch gährenden Phantasie, sondern
indem es in seiner freien Bewegung die Bestimmung des Objectes klar und
lebendig ausklingen läßt, verschlingt es in seinen Ornamenten mit dem Reiz or¬
ganischer Gestalten den Zug der bald sich fliehenden, bald sich sindenden Linien
zu einem wohlgemessenen und doch wie mit innerer Triebkraft aus sich herauf¬
wachsenden Ganzen. Es vereinigt so mit der festen, das Bedürfniß anzeigen¬
den Form die schwungvollen Bildungen der beseelten Natur; und während es
sich in den höchsten Bereich der künstlerischen Zierde erhebt, der auch der mo¬
dernen Phantasie den weitesten Spielraum läßt, fügt sich zugleich das Geräthe.
dessen passender Schmuck es ist. mehr wie das jeder andern Zeit den Anforde¬
rungen des heutigen Lebens.
Aber freilich, hier macht sich das Studium nach den Vorbildern so leicht
nicht, wie in der Kunst. Auf die Tagesarbeit angewiesen hat der Handwerker
weder die Muße, noch die nöthige Kenntniß und Vorbildung, um von der Ver¬
gangenheit zu lernen. Daher haben denn hier, wie überhaupt in der modernen
Industrie, die Künstler vermittelnd und verknüpfend einzutreten; sie haben
die Ornamentik nach den überkommenen Mustern auszubilden, um ihre For¬
men zu lebendigem Verständniß der ausführenden Hand zu überliefern. Ein
Verhältniß, das sich in den schöpferischen Kunstepochen ganz von selbst ergab,
da nicht blos der Handwerker vom Künstler die Zeichnung empfing, sondern
nicht selten jener schon in sich die Fähigkeit künstlerischer Gestaltung trug und
letzterer mit Lust und Liebe, was er ersonnen, auch selber ausführte. Das
Eisenwerk des florentiner Schmieds Caparra am Palazzo Strozzi zeigt von einer
decorativer Phantasie und einer Feinheit der Zeichnung, deren sich nicht viele
Ornamentzeichncr von heute rühmen können, und andrerseits verschmähen es
Architekten wie Baccio d'Agnolo und die San Galli in ihrer Jugend, Bild¬
hauer wie Benedetto da-Majano auch noch später nicht, eingelegte oder ge¬
schnitzte Holzarbeiten mit eigener Hand zu verfertigen. Seitdem jedoch die Thei¬
lung der Geschäfte durch alle Fächer geht und auf die Ausbildung jedes Neben -
Zweiges immer ein ganzes Menschenleben geworfen wird, hat natürlich diese
innere Verbindung von Kunst und Handwerk fast gänzlich aufgehört. Neuer¬
dings stehen sich diese vollends wenn nicht feindselig, doch ganz fremd gegen¬
über. Meistens flüchtet sich die Kunst aus dem gegenwärtigen Leben in eine
Vergangene Welt und wenn sie mit der Wirklichkeit des Tages sich abgiebt, so
sucht sie diese weniger zu veredeln, als mit überraschender äußerlicher Wahrheit
ihren realen Schein festzuhalten; die meisten Künstler haben wenig Sinn und
Neigung, ihre Phantasie auf das Alltägliche zu richten und für ein Formenspiel
das blos dieses verschönern soll, scheinen sie fast ihr Fach für zu vornehm zu
halten. Andrerseits schleppt sich, wie nie geschehen, das Handwerk am Boden
des bloßen Bedürfnisses hin und vermag sich um so weniger zu erheben, weil
ihm die Kunst nicht beispringt. Man hat in den letzten Jahrzehnten einen Mittel¬
weg eingeschlagen indem man Zeichnen- und Modellirschulen für Decoration
und Ornamentik errichtete, um so dem Gewcrbmanne eine gewisse künstlerische
Ausbildung mit auf den Weg zu geben; auch haben manche dieser Anstalten,
wie z. B. die nürnberger, unbestreitbare Verdienste. Einestheils jedoch genügen
diese Anstalten insofern nicht, als sie nur über sehr beschränkte Mittel zu ver¬
fügen haben und sie sich, was den Unterricht nach der überlieferten Ornamentik
anlangt, mehr an die gothischen Formen als an die classischen der Antike und
der Renaissance halten; anderntheils wird immer auch die freie lebendige Ein-
Wirkung der Kunst und der künstlerischen Phantasie selber auf das Handwerk
erforderlich sein, um dieses zu einer charaktervoller Formenschönheit zu erheben.
Soll dieses Ziel erreicht werden, so muß sich beides vereinigen: der Handwerker
die decorativer Formen und das Ornament selbständig und mit Verständniß
gebrauchen lernen, der Künstler zur mannigfaltigen Ausbildung desselben nach
der Natur sowohl als nach den überlieferten Vorbildern sein Talent nicht für
^ gut erachten. In München geschieht zu dem Ende bis jetzt von beiden Sei-
ten lange nicht genug, und wir haben bereits in einem früheren Artikel von dem
geringen Erfolge des Vereins zur Ausbildung der Gewerke geredet. Zwar hat
die Vereinsschule, welche junge Handwerker zur künstlerischen Behandlung ihres
Fachs anzuleiten sucht, schon recht Anerkennenswerthes geleistet, sie scheint sogar
das Vorbild für die größere nürnberger Schule abgegeben zu haben; aber ihr
stehen noch geringere Mittel zu Gebote und es fehlt bis jetzt von Seiten der
Fachmänner role der Künstler die fördernde Theilnahme. Fände das Unter¬
nehmen von Seite des Staates oder auf irgendwelche Weise eine ausreichende
Unterstützung, so würde es sicher Erfolg haben und auch weitere Kreise zur
Thätigkeit anregen. An manchen tüchtigen Kräften fehlt es nicht, die, wenn
sie nur Beschäftigung und öffentliche Aufmunterung fänden, in fruchtbarem Zu¬
sammenwirken das Handwerk heben und, indem sie das uns umgebende Geräthe
verschönerten, auch die Kunst wieder fördern könnten. So verbindet z. B. der
begabte E. Neureuther mit einem feinen phantasiereichen Sinn für orna¬
mentales Formenspiel und mit der Kenntniß der überlieferten Stile die schöpfe¬
rische Empfindung, welche das eigenthümliche Leben der Zeit künstlerisch zu
fassen vermag, in einem seltenen Grade. Aber die Regierung hat es bisher
versäumt, diese Kräfte anzuregen und zu verwenden, und König Max. dem, wie
das Nationalmuseum beweist, die Sache wohl am Herzen lag. ging dahin, ehe
er die Pläne, mit denen er sich für ihre Förderung zu tragen schien, zur Aus¬
führung bringen konnte. Er hat diese schöne Ausgabe seinem Nachfolger über¬
lassen und es steht nun zu hoffen, daß sich dieser mit Lust und Liebe ihrer Lösung
unterziehen werde.
Ohne Zweifel wird auch jene Sammlung, wenn sie erst in dem ihr be¬
stimmten Gebäude für den öffentlichen Gebrauch übersichtlich aufgestellt ist, das
Ihrige dazu beitragen, um das Interesse für das Kunsthandwerk neu zu beleben
Der glückliche Einklang freilich, der in der Glyptothek durch den Bau und seine
Ausschmückung zwischen Umgebung und Inhalt erreicht ist, wird sich im Natio¬
nalmuseum nicht finden. Schon früher war in diesen Blättern von dem Ge¬
bäude die Rede, das. im „modernen Baustil" errichtet, ein buntes Durcheinan¬
der verkehrt angewendeter und sich widersprechender Formen ist, seine Bestimmung
nicht ausdrückt, sondern durch einiges angeflickte und ganz mittelmäßige Bild¬
werk höchstens andeutet. Auch die innere Einteilung sollte, wie man vernimmt,
passender und.zweckentsprechender sein, und es scheint, daß die Geschichtsmale¬
reien, welche die Wände künstlerisch zu schmücken bestimmt sind, den für eine
einsichtige Aufstellung der Alterthümer unentbehrlichen Raum zu beeinträchtigen
drohen. Doch wie dem auch werden mag. diese selber, die ganze Einrichtung,
befindet sich glücklicherweise in den besten Händen, unter der Aufsicht desselben
Mannes, der, wie wir oben gesehen, sich um die ganze Sammlung schon so
große Verdienste erworben.
Die Aufstellung aber der Kunstschätze, nebst ihrer Erhaltung und Pflege,
ist bei allen Museen die Hauptsache. Die neueren Zeitalter sind nun einmal
darauf angewiesen, die Schöpfungen der Vergangenheit aus ihrem orga¬
nischen Zusammenhange, dem lebendigen Rahmen der Wirklichkeit, in dem sie
allein ihre volle Wirkung, ihre naturgemäße Stelle haben, herauszunehmen
und in todter abstracter Häufung, in einem verwirrenden, den Eindruck ab¬
schwächenden und den Beschauer betäubenden Nebeneinander zu vereinigen. Wie
im Staate die gesetzliche und polizeiliche Ordnung jede Individualität abstumpft,
ihrem thatkräftigen Heraustreten Schranke auf Schranke entgegensetzt und sie
mit allen übrigen in eine gleiche verwaschene Linie stellt: ganz so ist im Mu¬
seum das Kunstwerk behandelt und ihm sein Platz gegeben, wie wenn es über¬
haupt keine Geltung für sich, kein eigenes Leben hätte. So ist es dem Be¬
schauer überlassen, in der ermüdenden zerstreuenden Menge sich zurechtzufinden,
sich das Einzelne mit angestrengter Aufmerksamkeit herauszuholen und Auge,
Phantasie und Seele in seinen Anblick zusammenschließend, es zum Leben, zur
unverkümmerten Wirkung wieder zu erwärmen. Ihrerseits muß die Sammlung
wenigstens so viel als möglich dieser Arbeit entgegenkommen, die betrachtende,
genießende Stimmung anregen und steigern. Sie hat einmal die Kunstwerke
nach Schulen und Perioden zu ordnen, um den leitenden geschichtlichen Faden
an die Hand zu geben; dann aber vor allem — und dies muß der vor¬
nehmste Gesichtspunkt der Aufstellung sein — die Meisterwerke in das gün¬
stigste Licht, an die besten Plätze zu bringen, ihnen die Producte von geringe¬
rer Vollendung nachzusetzen und so dem Blick die Unterscheidung zu erleichtern
Zwischen dem, was ihn mit ewiger Schönheit zu fesseln vermag und dem. was
ihn mehr durch seinen historischen Werth anzieht, als durch seinen rein künst¬
lerischen. Das Zweite, was jeder Sammlung vorab anliegen muß, versteht
sich eigentlich von selber: es ist die sorgfältige Erhaltung und Pflege der in
ihre stillen Räume geretteten Kunstdenkmäler. Die Vortheile der Museen
bestehen darin, daß sie, was sonst zerstreut und weit auseinanderliegt, für
die geschichtliche Betrachtung zusammenfassen, und das erhalten, was sonst
vielleicht unter der Gewalt der Umstände und dem zerstörenden Spiel des
Zufalls zu Grunde gegangen wäre. Natürlich also, daß ihre Schätze mit
der größten Sorgfalt so viel als möglich auch vor dem allmählichen Ver¬
gehen, dem vernichtenden Einflüsse der Zeit geschützt und, wenn sie schon ge¬
litten, so weit wieder hergestellt werden, als sich das thun läßt, ohne das
Erhaltene und den Charakter des Kunstwerks auch nur im Geringsten zu beein¬
trächtigen.
So selbstverständlich sind diese einfachen Grundsätze, daß es ganz überflüssig
scheint, sie zu wiederholen. Und dennoch müssen wir hier, wo auf die Samm¬
lungen die Rede kam. derselben wohl gedenken, da sie in München eine Zeit lang
fast vergessen schienen. Es handelt sich — wie der Leser vielleicht schon weiß,
ha die Sache zum Streitobject in öffentlichen Blättern geworden — um die
*
Pflege der alten Pinakothek. Die Malerei ist die eigentliche Kunst des
Zeitalters und gerade nach ihren Meisterwerken muß vorzugsweise die kunst¬
treibende Gegenwart sich bilden. Von allen Schöpfungen der früheren Jahr¬
hunderte sprechen sie am ergreifendsten und vernehmlichsten zur Phantasie
des Laien wie des Künstlers ; sie geben ihr die mächtigste Anregung, die
Welt im Bilde zu sehen und sich selber zur künstlerischen Anschauung -ihres
Inhaltes zu erheben. Aber zugleich sind von allen Kunstwerken die Gemälde
die vergänglichsten: die elementare Hülle von Licht und Luft, in der die Dinge
schweben und die innere Stimmung in Farbentönen sich ausspricht, können sie
nur auf leicht zerstörbarer Fläche mit unkörperlichen, unfaßbarer Mitteln wie¬
dergeben. Kein Kunsterzeugniß bedarf so sehr der Schonung und der einsich¬
tigsten Pflege, wenn es nicht beinahe ebenso rasch vergehen soll, als es ent¬
standen ist.
Ohne Zweifel zählt die alte Pinakothek zu den ersten Galerien des Con-
tinents, sowohl durch ihre reichhaltige Vertretung aller Schulen, als durch ihre
bedeutende Anzahl von Meisterwerken aus den besten Zeiten. Das Gebäude,
eines der schönsten Klenzcs, spricht seine Bestimmung in der großen, künstlerisch
durchgeführten Anlage vortrefflich aus, die innere Raumeintheilung, breit und
mächtig gegriffen, ist zur festlichen Aufnahme der Gemälde wohl geeignet.
Neuerdings, da in München ganz andere Architektur getrieben wird, hat man
an dem Bau und seiner Eintheilung allerlei mäkeln wollen; doch was sich
allenfalls daran aussetzen läßt, die Höhe und Belcuchtungsart der Säle, durch
welche auf die zu unterst gehängten Bilder nur ein gedämpftes, geschwächtes
Licht fällt, das ist wohl kaum dem Architekten zur Last zu legen, da ihm durch
einige enorme Bildertafeln, die nicht einmal ersten Ranges sind, der Höhema߬
stab gegeben schien. Dieser Uebelstand hätte sich übrigens wohl ausgleichen
lassen durch eine mit Kenntniß und richtiger Einsicht angeordnete Aufstellung
der Gemälde. Allein — und dies ist weit schlimmer — an dieser hat es ge¬
fehlt*). Als die Galerie in den dreißiger Jahren eingerichtet wurde, hatte
man zum Theil noch ein befangenes, halb romantisches Verhältniß zur ver¬
gangenen Kunst: man stand ihr nicht mit dem sachlichen Sinn und Verständniß
gegenüber, das jedes Werk als eine in sich berechtigte Welt betrachtet, sondern
suchte noch allerlei besondere Empfindungen, besondere Gesichtspunkte, mit denen
man an die alten Gemälde herantrat. Nur so läßt sich erklären, wie der
frühere Galeriedirector Dillis auf das sonderbare Princip kommen konnte, in
der Zusammenstellung der Gemälde nach einer gewissen Farbenharmonie zu
streben. Hat dieses dann auch in der Anwendung, wie natürlich, mancherlei
Beschränkung erfahren, so scheint es doch die jetzt ungenügende Anordnung
mit verschuldet zu haben. Doch was auch hierzu sonst noch mitgewirkt haben
Mag, wie etwa die allzu patriotische Gesinnung, mit der man der untergeord¬
neten späteren deutschen Schule auf Kosten besserer Gemälde einen allzubreiten
und trefflichen Raum überließ, oder die noch lückenhafte Kunstforschung und
Kennerschaft jener Tage: genug, es finden sich nicht wenige Meisterwerke in
ungünstigem Lichte, an dem Auge weniger zugänglichen Plätzen, während
manches Mittelmäßige sich vordrängt und den Blick in Anspruch nimmt. Das
Nähere hierüber, wie die Angabe der bezüglichen Bilder kann der Leser in den
unten angeführten Aufsätzen finden: hier sei nur das Eine erwähnt, daß eine
nicht unbeträchtliche Anzahl unechter Bilder, welche im Katalog die stolzesten
Namen der ansteigenden italienischen Malerei tragen (Cimabue, mehre Giotto
— zwei echte — Simone Memmi, P. Uccello, Masaccio. M. Basaiti, Polla-
juolo, Verocchio; dazu kommen noch einige Namen aus der Blüthezeit, einige
sogenannte Lionardo da Vinci. Raphael und Correggio). sich aber dem un¬
befangenen Blick sofort zum geringeren Theil als unbedeutende Schulbilder, zum
größeren als Machwerke einer späteren fabrikmäßigen Nachahmung zu erkennen
geben, daß gerade diese günstige Plätze einnehmen, dagegen nicht wenige mei¬
sterliche und höchst anziehende Holländer in eine Höhe zurückgedrängt sind, in
der sie nur das bewaffnete Auge zu erreichen vermag. Jene willkürliche Taufe
der Bilder läßt uns im Vorbeigehen eines andern Uebelstandes gedenken, der
w seiner Art einzig ist: des Katalogs, welcher mit einer unerhörten Naivetät
in der weit zurückliegenden traumhaften Kindheit der modernen Kunstforschung
stecken geblieben ist. Die neue Ausgabe hat zwar dem Schlimmsten einiger¬
maßen abzuhelfen versucht, indem sie stellenweise das neue Handbuch der Ge¬
schichte der Malerei von Waagen zu Rathe zog! aber dabei ist sie über die
ersten Bogen, die flandrische Schule — bei der zudem noch die neuesten bel¬
gischen Untersuchungen hätten beachtet werden müssen — nicht hinausgekommen
und bietet so den bejammernswürdigen Anblick eines Menschen, bei dem es eben
gereicht hat, um ein nothdürftiges neues Schuhwerk anzuschaffen, sonst aber die zer¬
setzten Kleider nach wie vor die traurigen Blößen seines Leibes durchblicken lassen.
Die Zeiten, da es noch Brauch der Galerien war, sich in ihren Katalogen mit
seltenen Namen aus den dunklen Anfängen der großen Kunstepochen zu brüsten,
sind vorüber. Wie in der Kunstbetrachtung an die Stelle einer unterschiedslosen
Bewunderung ein ernst eingehendes Verständniß getreten ist, so haben jetzt die
Kataloge die Aufgabe, dieses zu unterstützen, das Studium zu erleichtern und
die Ergebnisse der vorgeschrittenen Kunstforschung aufzunehmen, um sie in den
weiteren Kreis aller Gebildeten überzuleiten.
Ebenso schlimm wie mit der Aufstellung der Gemälde stand es bis vor
Kurzem mit ihrer Pflege und Erhaltung, ja steht es trotz der eingeleiteten Ver¬
besserungen im Grunde noch. Bekanntlich ist ein Uebel aller Galerien das
Restaurationswesen. Aerger noch als die allmälige Zerstörung durch die atmo¬
sphärischen Einflüsse ist die Verwüstung durch die handwerksmäßige Faust der
meisten Restauratoren, welche nur darauf bedacht, eine glänzende Oberfläche
herzustellen, ohne Sinn sowohl für den eigentlichen Reiz des Kunstwerkes als
die Eigenthümlichkeit des Meisters, fast jedesmal den Schimmer der farbigen
Erscheinung, das harmonische Spiel der Töne, die zarten Abstufungen von
Licht und Schatten geradezu vernichten: wenn sie nicht gar durch eigene Pfuscher¬
zuthat das ganze Bild bis zur Unkenntlichkeit entstellen. Dieses „Herrichten"
der Gemälde, so weit es auch in der Pinakothek Brauch war/ hat Fr. Pecht
mit echter Kennerschaft — deren sich heutzutage so Viele rühmen und die doch
so Wenige besitzen — so gründlich beleuchtet, daß es überflüssig ist, daraus
zurückzukommen. Auch legte er das Uebel so offen zu Tage, daß sich nicht
länger darüber wegsehen ließ: es wurde eine Commission ernannt, welche alle
Restaurationen sowie die Erhaltung der Bilder überwachen sollte. Aber diese
Commission hat bis jetzt nicht leisten können, was sie sollte, denn ihre Zu¬
sammensetzung war — ein Irrthum. Man bildete sie größtentheils aus an¬
erkannten ausübenden Künstlern, ohne zu bedenken, daß moderne Kunstübung
und Kennerschaft der alten Kunst zwei ganz verschiedene Dinge sind. So wenig
war diese Aufsichtsbehörde ihrer Aufgabe gewachsen, daß sie eine — vor ihrer
Ernennung begonnene — Restauration guthieß, welche durch stellenweises Ab¬
putzen der Lasuren die harmonische Gesammtwirkung des Bildes und seinen
Farbenreiz beeinträchtigt hat*). Doch dies war das Wenigste; da sie darin
wenigstens Einsicht zeigte, daß sie das Nestauriren ganz einstellen ließ. Ein
weiterer und schlimmerer Uebelstand der Pinakothek, der sich schon auf eine
große Anzahl Gemälde erstreckt und mit jedem Jahre zunimmt, ist das Trüb-
Werden der Oberfläche des Bildes (der sogenannte „Schimmel"), das — öfters
nicht blos eine Veränderung des Firnisses, sondern auch der unter ihm liegen-
') Die schon erwähnten Pinakothekartikel der S. Z. hatten der Commission aus den
"bei, weiter angeführten Gründen ihre Unfähigkeit vorgehalten und deshalb von jener in Form
e>ner „nothgedrungcnen Erklärung" einen so maßlosen Angriff erfahren, daß es die Redaction
Zeitung für angemessen hielt, ihn seiner „ungebührlichen" Haltung wegen an das Ende
des Blattes in den Jnseratentheil zu verweisen. (S. Z. von 1864 Ur. 87.) Wer Münchener
Ding« und Verhältnisse näher kennt, den wird eine solche officielle Grobheit nicht befremden.
Dort zu Lande vertragen es gewisse Kreise nicht, daß Privatleute aus reinem Interesse an der
^ache sich um öffentliche Zustände kümmern und ihre Schäden aufdecken, um womöglich Ab¬
rufe herbeizuführen; man schiebt ihnen entweder unlautere Beweggründe unter oder bewirft sie
w>t einigen auf der Straße aufgelesenen Redensarten und meint mit derartigen Mitteln ihre
Ausstellungen beseitigt zu haben. Dem, der unwürdiges Gezänke haßt und mit gleicher Münze
">ehe heimzahlen mag, bleibt dann nichts übrig, als achselzuckend vorüberzugehen und einfach
auf seiner begründeten Aussage beharrend, der öffentlichen Meinung die Entscheidung anheim¬
zugeben. Das Einzige, was die Commission in ihrer Erklärung berichtigt hat, ist, daß die
Restauration des bezüglichen Nubensbildcs nicht auf ihre Anordnung hin vorgenommen
wurde: doch bleibt der ihr gemachte Vorwurf ganz derselbe, da sie die geschehene Restauration
gutgeheißen hat. Aber wäre dem auch nicht so: so find ja außerdem, wie oben weiter
bemerkt. Beweise genug vorhanden, daß sie — damals sicherlich — ihrer Aufgabe nachzukommen
nicht im Stande war.
Was endlich die verschiedenen Repliken des Herrn Prof. Pettenkofer anlangt, der keine
Gelegenheit versäumte, sich in seiner Sache (s. folgende Seite) vernehmen zu lassen, so müssen
wir es dem unbefangenen Urtheil des Lesers überlassen, ob die Art und Weise, wie er sein
Verfahren zur Geltung zu bringen suchte und verfocht, so uneigennützig, ernst und sachlich ist,
Wie wir sie sonst von den deutschen Vertretern der Wissenschaft in ihren Bestrebungen gewohnt
find. Wenn seine Sache eine gute ist, wozu der viele Lärm, die Verhöhnung derer, die noch
"u >hr zweifeln, und statt sachlicher Erörterungen persönliche Angriffe? Die Zeit ist vorüber,
wo man stolz auf die allgemeine Aufklärung den für einen beschränkten Kopf hielt, der nicht
gleich ohne Weiteres jeder neuen Erfindung zujubelte. Eher möchte jetzt eben dies für ein
^°br zweifelhaftes Zeichen geistiger Umsicht gelten. Ist etwas an dem Verfahren des Prof.
pettenkofer — und möglicherweise ist etwas daran — so wird es, so viel an ihm ist, seinen
??eg schon selber machen. Die heftigen Vertheidigungen und Ausfälle seines Urhebers können
seinem Fortkommen eher hinderlich als förderlich sein; wie denn durch sie der Erfinder von
dem Gebiete der Wissenschaft, i» dem er zu Hause ist, auf das ihm fremde der Kunst zu aller-
!^ Behauptungen hinübergctriebcn wurde, die ihm von Seite des Galeriedircctors Engert
Wien eine gründliche Abfertigung eingetragen haben. (Wiener Recensionen über bildende
^unse Ur, 27.) Dagegen läßt sich nun freilich in einigen Blättern die zuversichtliche
Stimme vernehmen, daß alle gegen das Verfahre» gerichtete» Einwände und Anstünde siegreich
Widerlegt seien: der längst verbrauchte Operationsplan, den glücklichen Ausgang einer Sache
dadurch herbeizuführen, daß man die Welt beredet, er sei eigentlich schon da. Wie in Wahr-
'-'"t die Dinge jetzt stehen, läßt sich daraus ermessen, daß einige deutsche Regierungen, die
darum angegangen worden, sich an dem Ankauf des Verfahrens zu betheiligen, dies abge-
hab^.
den Farbenschichte — die koloristische Wirkung desselben theilweise oder ganz
vernichtet. Aber nicht von der Commission, sondern von anderer Seite wurde
das Ministerium auf dieses Uebel aufmerksam gemacht. Als dann das wissen¬
schaftliche Mitglied, das daraufhin als sachverständig zur Untersuchung berufen
worden, sowohl die Natur des Uebels erkannt als ein Verfahren zu seiner Be¬
seitigung gefunden zu haben glaubte, da ließ es die Commission geschehen,
daß diesem ohne vorhergehende gründliche Prüfung einige Meisterwerke zur
„Regeneration", wie man den Herstellungsproceß nannte, anvertraut wurden.
Als sich weiter über die Brauchbarkeit und den Erfolg dieses Verfahrens eine
Debatte entspann, schlug sie sich ohne Weiteres auf die Seite des Letzteren,
statt Vorurtheilslos über den Dingen und Parteien zu stehen. Die bedenklichste
Verwahrlosung endlich, die sich an den Bildern der Pinakothek zeigt, besteht in
dem Aufstehen und allmäligen Sichablösen der Farbe: ein Uebel, das, wie
ebenfalls jene Artikel der Süddeutschen Zeitung nachweisen, auch einen Theil
der Meisterwerke mit ergriffen hat. Ob und wie weit die Commilsion hierfür
ein Auge gehabt und Abhilfe getroffen hat, ist bis jetzt nicht ersichtlich; es
müßte denn sein, daß sie ganz neuerdings, nachdem die Sache öffentlich be¬
sprochen ist, sich damit beschäftigt.
Was das — kürzlich von England aus bekannt gewordene — pettenkofer-
sche Regenerationsverfahren anlangt, so wird über dessen endgiltigen Werth
nur die Erfahrung eines längeren Zeitraums entscheiden können. Möglich, daß
die Natur des Uebels richtig erkannt und da schon damit manches gewonnen,
die Untersuchung dankenswerth ist. Die Regeneration selber, welche, so hieß
es anfänglich, das Bild durchaus nicht berührt, doch öfters, wie sich nun zeigt,
nach der eigentlichen Procedur wieder Firniß oder Kopaivabalsam aufträgt, soll
lediglich auf den (durch „den Verlust des molekularen Zusammenhangs") schad¬
haft gewordenen Firniß wirken, läßt sich also nur da anwenden, wo es sich,
um das Bild wieder zu klären, um eine Wiederherstellung des Firnisses
handelt. In diesen Fällen entfernt sie allerdings, wie die bezüglichen Bilder
zeigen, die Trübung und stellt die Klarheit der farbigen Erscheinung zum gro¬
ßen Theil wieder her. Dagegen giebt sie dieser — wie oft auch die Commission
und Professor Pettcnkvfer es läugnen mögen — sehr oft ein gläsernes, por¬
zellanhaftes Aussehen, benimmt ihr zugleich die Fülle und Feinheit des Tons,
verwischt dadurch dessen Charakter und macht nicht blos die vorhandenen Risse
und Sprünge noch sichtbarer, sondern bringt nicht selten, nach der sorgfältigen
Beobachtung von Kennern, noch neue hinzu: was man freilich von der anderen
Seite für eine „optische Täuschung" hat ausgeben wollen (das Nähere hierüber
in den Aufsätzen: das „pettenkofersche Verfahren und die Münchener Pinakothek
von Fr. Pecht in Ur. 210, 212, 214 der Südd. Zeitung von 1864; ferner
in dem Gutachten und der Replik des Directors Engert in Ur. 23 und 25 der
wiener Ren. über bildende Kunst von 1864)*), Hier haben wir es nur mit den
Erscheinungen zu thun, welche die regcnerirten Bilder zeigen; da das Verfahren
nun bekannt ist, werden sich auch die Ursachen jener Wirkungen wohl finden
lassen. Ob daher diese nachtheiligen Folgen des Regenerirens von einer zu
lange fortgesetzten Anwendung des Verfahrens — eine solche scheint nämlich
die Farben, sofern ihr Bindemittel aus Harz besteht, anzugreifen, wie auch das
Harz des Firnisses leicht spröde zu machen — zum Theil vielleicht auch vom
Auftrag des Kopaivabalsams herrühren und sonst vermieden werden können,
ob ferner in den Fällen, wo der alte Firniß dem Verfahren lange ausgesetzt
bleiben muß, dieser nicht auch auf die ganze Farbenschichte wirkt und dieselbe
erweichend, die verschiedenen übereinander liegenden Töne in einander verwischt:
dies zu entscheiden muß der näheren Untersuchung überlassen werden. Daß es
Uebermalungen, Retvuchen und fleckige Neste von älteren Firnißschichten, die
sich öfters unter den jüngeren finde», nicht entfernen kann, versteht sich von
selbst; ebenso wenig vermag es auf die veränderte Farbe wiederherstellend ein¬
zuwirken. Doch ist immerhin möglich, daß es in den Fällen, die sich für seinen
Gebrauch eignen, bei richtiger und sorgfältiger Anwendung durch technisch ge¬
übte Kunstverständige von Erfolg ist. Also nur unter gewissen Bedingungen
und Umständen: denn daß nun ein Universalmittel gefunden sei, welches wie
mit dem Wink eines Zauberstabes jedes Bild, wie beschädigt es auch sei, in
seinen ursprünglichen unversehrten Zustand zurückversetze, für diese Ueberschwenglich-
keit, mit welcher das neue Verfahren wie eine epochemachende Entdeckung gepriesen
wurde, wird jeder, der von dem technischen wie dem künstlerischen Wesen der
Malerei eine Ahnung erhalten, blos ein Lächeln haben. Ebenso verkehrt
muß die Behauptung erscheinen; daß die Anwendung auch dem, der in Kunst¬
dingen Laie ist, überlassen werden könne. Nichts ist schwerer, als das durch
die Zeit und allerlei Zufälle veränderte Gesicht eines alten Bildes richtig zu
beurtheilen: genau zu unterscheiden, wie viel zu dieser Veränderung der Staub
der Jahrhunderte, die atmosphärischen Einflüsse, spätere Uebermalungen, Ne-
toucher und Verputzungen beigetragen, wie weit der Firniß, wie weit die Farbe
gelitten habe. Nur wer hierüber sowohl durch gründliche technische Kenntnisse
als durch ein feines Kunstverständniß ins Klare zu kommen vermag, wird eine
Herstellung des Bildes, welche es auch sei. ohne Schaden desselben und mit
Erfolg vornehmen können. Ob jenes Verfahren angewendet werden dürfe,
wird man nur dem anheimgeben können, der aus der praktischen Erforschung
der alten Kunst nach allen Seiten sein Fach gemacht und in diesem sich be¬
währt hat. Wenn in irgendeinem Zweige des Lebens, so gilt in der Kunst
der naturgemäße Grundsatz: was die Wissenschaft entdeckt hat, kann sie nicht
selber ohne Weiteres auf den gegebenen Fall anwenden, sondern sie muß den
Gebrauch der von ihr gegebenen Mittel dem Sachverständigen, hier also dem
praktisch erfahrenen Kunstkenner, überlassen.
Die Regierung hat den bedenklichen Zustand, in dem sich ein Theil der
Galerie befindet, anerkannt und wenigstens die einleitenden Schritte ge¬
than, ihm abzuhelfen. Kann man sich dazu entschließen, die Beseitigung
der verschiedenen Schäden mit Umsicht und Energie zu betreiben und zu¬
gleich eine passende Umstellung der ungünstig hängenden Meisterbilder, so wett
sie ohne bauliche Veränderungen möglich ist, vorzunehmen: so wird sich der
Werth der Sammlung sowohl für den studirenden Künstler, wie den genießenden
Laien verdoppeln, ja sie wird erst dann ihren eigentlichen Werth, ihre volle
Wirkung erlangen. Für den Künstler frettich wie für den Beschauer wird
dann auch erforderlich sein, daß man nicht wie bisher die zum Copiren be¬
gehrten Gemälde aus den Galcrierciumen in einen eigenen Copirsaal schaffe,
sondern sie an Ort und Stelle lasse und so dem Einen das Studium erleich¬
tere, dem Andern den Anblick des Bildes nicht für eine oft ziemlich lange
Zeit entziehe. — Will man aber um die Pflege der alten Kunstschätze besorg¬
ter sein als bisher, so wird man hoffentlich auch die Schleißheimer Ga¬
lerie nicht vergessen. Diese enthält noch immer, nachdem sie schon manches
an die Pinakothek abgegeben hat, nicht blos kunstgeschichtlich werthvolle Werke,
sondern auch eine gute Anzahl von Meistergemälden, die in sich selber absolu¬
ten Werth und Bedeutung haben (mehre sehr schöne Rubens; einige gute
Italiener, wie Paolo Veronese, Tintoretto, Pinturicchio, Caldara; Altdeutsche
wie L. Cranach und Schäuffelin; Franzosen, wie Dughet. Millet, von den
Späteren Greuze, I. B. Vanlov; vor allem aber eine gute Anzahl vortreff¬
licher Holländer — worunter manche, die in München nicht oder schwach ver¬
treten sind wie Molenaer, A. Cuyp, Landschaften von E. van der Neer —
mehre Teniers und I. Breughel, dann Eckhout, A. van der Velde, Mirevelt,
Gvyen, S. Ruysdael, C. Sachtleven, Poelenburg, Vlieger, Backhuysen, D. de
Heem, Huysum u. s. f. Alles indessen in einem bejammernswerthen Zustande,
auch die besten Werke von einem trüben, grauen, tauben Aussehen, manche kaum
noch erkenntlich, die wenigsten so erhalten, daß sich das Auge ungestört ihrer
freuen mag. Bei vielen ist wohl mit Wenigem nachzuhelfen; bei manchen
wird die Wiederherstellung schwierig sein und ist diesen vor allem zu wünschen,
daß sie nicht schließlich in Restauratorhände kommen, welche ihnen durch
eigene Zuthat ein neues Gesicht aufkleben. Man hat angefangen, eine kleine
Anzahl Bilder dem pettenkofer'schen Verfahren zu unterziehen, doch da dieses
seine Probe erst noch zu bestehen hat und. auch erprobt, nur für gewisse Fälle
von Wirkung sein kann, so ist damit wenig gethan. Bleibt die Galerie noch
länger in ihrem jetzigen Zustande, so werden die meisten der in ihr enthaltenen
Kunstdenkmäler allmälig so gut wie verloren gehen. Werden erst die Meister¬
werke der großen Kunstepochen in ihrem unvergänglichen Werth vom Staate
dadurch anerkannt, daß er auf ihre Erhaltung und Pflege alle Sorgfalt ver.
wendet, so wird das Interesse für dieselben auch im Volke, unter den Künstlern
wie den Laien, allmälig wärmer und lebendiger werden und sich das gegen¬
wärtige Kunstleben an den vollendeten Werken des vergangenen um so sicherer
erh
Die Frage, wie die durch den Krieg von ihren Herren getrennten Sklaven
zu behandeln sind, wie überhaupt die Union sich der Sklaverei gegenüber zu
Verhalten habe, war bis zum Jahre 1863 von dem Präsidenten Lincoln mög¬
lichst überhört worden, so sehr auch alle Generale auf ihre Beantwortung
drängten, um dies dem Gegner feindliche Element möglichst vollständig aus¬
nutzen zu können. — Lincoln hatte die Antwort vermieden, um für eventuelle
Friedensverhandlungen mit den Sklavenhaltern in dieser Richtung frei zu sein.
Einerseits aber lehrte die Bitterkeit des Kampfes, daß der Frieden nur durch
volle Unterwerfung des Gegners zu gewinnen war, und andrerseits mehrte sich
die Zahl der flüchtigen und vom Staat zu ernährenden Sklaven zu solcher
Höhe, daß man ihnen gegenüber eine bestimmte Stellung einnehmen mußte.
Im Lauf des JahreS 1862 hatte man den Staat zum Herren der flüchtigen
Sklaven erklärt und diese in Arbcitercolonnen formirt; am 1, Januar 1863
aber gab Lincoln den Sklaven der Rebellen die Freiheit; er hob nicht die Skla¬
verei auf, er gab auch den befreiten Sklaven nicht das Bürgerrecht, er warf
die Freiheit nur als Lockspeise in die schwarze Bevölkerung des Südens und ge¬
stattete, um diesen Bundesgenossen gegen den Süden ausnutzen zu können, daß
die Sklaven in abgesonderten Regimentern als Soldaten mit weißen Offizieren
verwendet würden. Im Laufe des Jahres genehmigte die Regierung, daß aus¬
gehobene Weiße einen Neger als Stellvertreter stellten. Der Neger war als
Freier nicht dienstpflichtig, konnte sich aber zum Soldaten verkaufen und dann
nur bei Negcrregimentern dienen. Der flüchtige Sklave war frei erklärt, mußte
sich aber die Einstellung in Arbeitercolvnnen und in Negerregimentcr, je nach
Bedarf gefallen lassen. — Dieser Art Freiheit hat der Süden in diesem Jahre
die Spitze abgebrochen, indem er ebenfalls Negerregimenter formirte und den
schwarzen Soldaten nach dem Kriege die Freiheit versprach. Der Norden ist
denn auch weiter gegangen und hat in der Neuzeit gestattet, daß die Farbigen
Offiziere werden können; aber von der Gleichstellung mit den Weißen ist man
noch weit entfernt.
Farbige Regimenter sind also formirt nicht nur von den Generalen, welche
mitten in der Sklavenbcvölkcrung Eroberungen gemacht haben, wie in Nord-
carolina. Louisiana und Mississippi, sondern auch durch die Stellvertreter von
allen Neuenglandstaaten. Daß diese Negerregimentcr die Leistungsfähigkeit der
Unionsarmee wesentlich erhöht hätten, erhellt nicht aus den Ereignissen, ist auch
unwahrscheinlich, dn mir der freigeborene und dabei disciplinirte Soldat die ganze
Fülle der Pflichten des Vaterlandsvertheidigers zu erfüllen im Stande ist. Aber
es ist überhaupt das Eigenthümliche des Nordens, daß er auf die Güte der
Truppen viel weniger Werth legt, als auf ihre Zahl. — Diese Richtung tritt
nirgends mehr hervor als in der Art der Ergänzung der Armee. Man com-
pletirt die Truppen nicht, indem man in der Heimat!) Depots bildet und aus
diesen die Zahl der im Feuer gestählten, aber natürlich reducirten Bataillone:c.
wieder vollzählig macht, bei welchem Verfahren der Rekrut durch den festen
Nahmen, in welchen er gefügt, gleich zum alten Soldaten wird; nein, man er¬
gänzt die Armee, indem man immer neue Truppenkörper formirt und die alten
absterbe» läßt, diese höchstens durch Verschmelzung wieder zu berechenbaren
Größen macht. Dies Verfahren hat nicht nur den Uebelstand, daß man
immer junge unerfahrene Truppen hat, trotz des langwährenden Krieges, son¬
dern auch das Schlimme, daß die politischen Parteien der Einzelstaaten immer
neue Regimentscommandeure und Offiziere mit hohem Rang, aber ohne Kennt¬
nisse auf den Kriegsschauplatz schicken. Man vermehrt die Zahl der Offiziere
Über Gebühr und läßt die Kraft der Mannschaft nicht zur Entwickelung kommen,
Nur bei der regulären Armee folgt man der bessern Ansicht; am 1. Januar
1863 zählte diese:
Die Vvlunteersarmee aber zählte an diesem Tage 893 Bataillone Infanterie,
33 Compagnien Scharfschützen, 116 Regimenter Cavallerie, 736 Batterien und
1 Regiment Pioniere, welche als vollzählig berechnet über eine Million Soldaten
ergäben, zum Theil aber das Regiment oder Bataillon Infanterie aus höchstens
100, zum andern Theil aus 900 Mann bestanden. 106 dieser Bataillone waren
bei dem Einfall der Conföderirten in Maryland im September und auf neun
Monate einberufen, ihre Dienstzeit ging also Mitte 1863 zu Ende. Im Mo¬
nat October dieses Jahres wurden wieder 300,000 Mann auf drei Jahre be¬
ordert. Sehr bedeutend vermehrt hatte sich im Laufe des Jahres die Cavallerie.
'— Die Conföderirten hatten dieser Waffe viele Erfolge des letzten Jahres zu
danken gehabt und so war es natürlich, daß auch die Union nach dieser Rich¬
tung eine Machtcntwickelung erstrebte und in den pferdereichen Gegenden, also
mehr in den West- als in den Oststaaten, derartige Volunteerstruppen einberief.
In Kentucky und Tennessee hat diese Unionscavallerie im Laufe des Jahres
1863 einige echte Reiterthaten ausgeübt. — Wenn man alle Verhältnisse in
Anschlag bringt, kann man hiernach die Unionsarmee für 1863 auf höchstens
600,000 'Mum annehmen. Von diesen standen 200,000 Mann in Virginien.
130,000 am Mississippi. 100,000 in Tennessee und Kentucky, 100.000 in Loui-
siana, Missouri, in Minnesota gegen die Indianer, in Texas, Nord- und Süd-
carolina, Florida und den Seeforts, der Nest aber im Immer», zumal i» Kali¬
fornien. Maryland und Neuyork. Außerdem gebot der Norden über 427 Schiffe
mit 3268 Geschützen, darunter 363 Dampfer und 54 Panzerschiffe.
Ueber die Stärkeverhältnisse der Conföderirten fehlen bestimmte Angaben,
mehr wie fünf Procent ihrer weißen Bevölkerung, also in Summa 300,000
Mann, könne» sie nicht aufgestellt haben. Ihre bessere Führung und festere
Organisation gegenüber dem Norden glich aber auch in diesem Jahre den Nach¬
theil der Minderzahl aus und machte sie mehrfach zu Siegern.
Was die Regierungsgewalt im Innern betrifft, so war dieselbe im Süden,
nach wie vor ziemlich unumschränkt in den Hände» von Jefferson Davis, wäh¬
rend im Norte» Lincol-n unausgesetzt im Conflict mit der Gewalt der Einzel¬
staaten blieb und nur langsam eine immer größere Autorität der Bundesgewalt
entwickelte. Als Fortschritt in dieser Beziehung sei erwähnt, daß Lincoln die
Ernennung der Offiziere der regulären Armee sowie der gesammten Generalität
durch den Präsidenten im Kongreß errang; daß er die Conscnption zum Gesetz
erhob und die Aushebung der Rekruten, aber mit Stellvertretung in Neuengland
durch militärische Gewalt durchsetzte, daß er endlich im September die Habeas-
Cvrpus-Acte suspendirte und die Bundespolizei als seine, durch Truppen ge¬
schützte, Autorität einsetzte, — Alle diese Schritte wurden naturgemäß in dem
bewohnteren und an großen Städten reicheren, überhaupt entwickelteren Neu¬
england widerwilliger empfunden, als in den für den Krieg mehr begeisterten
Weststaaten.
Die größere Kraft, welche die Regierung im Laufe des Jahres 1863 ge¬
wann, findet auch ihren Widerschein in den kriegerischen Ereignissen des Jahres.
Es bedarf nur noch mehr Kenntniß der militärischen Elemente und mehr Sicher¬
heit in der Handhabung der Autorität, um den Sieg an die Fahnen des Nor¬
dens zu fesseln. — Dazu gehört, daß die Regierung sich so sicher fühle, daß sie
nicht mehr nothwendig hat. einflußreiche Männer an der Spitze der Armeen
zu fürchten. Vielleicht daß nach vollendeter Wiederwahl Lincolns dieser Augen¬
blick gekommen ist.
Gehen wir nun zu einer kurzen Beleuchtung der kriegerischen Ereignisse
zunächst des Jahres 1863 über, so ergiebt sich ein ähnliches Bild wie im vo¬
rigen Jahre, Erfolge im Westen, große aber resultatlose Schlachten im Osten
und dazwischen ein stetes Hin- und Herwogen des Bürgerkrieges; aber doch
überall am Schluß des Jahres Beweise für das Vorschreiten des Nordens. —
Auf dem östlichen Kriegsschauplatz hatte die Schlacht bei Fredericksburg
am 13. December 1862 den Obergeneral des Nordens, Burnside, über den
Rappahannock zurückgewiesen und ihm selbst alle Thatkraft genommen, im Laufe
des Januars schien er einige Mal anzusetzen, um wieder gegen den Feind vor¬
zugehen, aber er fand überall Hindernisse. Unter dem 25. Januar verlor Burn¬
side sowohl als seine Unterführer Franklin und Summer das Commando und
einer seiner Corpsgenerale, Hooker, trat an die Spitze der Potomacarmee. Er
ließ die Armee zunächst Winterquartiere beziehen. Der Cons. G. Lee folgte
diesem Beispiel und so vergehen die ersten vier Monate dieses Jahres hier in
voller Ruhe des Krieges. Im Westen aber bleibt der Kampf rege und schreiten
die Truppen unausgesetzt vor. um die große Handelsstraße und Verkehrsader
des Westens in die Hände der Union zu bringen.
Wir haben Grant am Schluß des Jahres 1862 im Besitz der Linie Corinth-
Memphis, zwischen Tennessee und Mississippi basirt gelassen und Nosekrans bei
Mursreesboro gegen Bragg im Gefecht gesehen, um die Verbindung mit Grant
sicher zu stellen. Diese Schlacht, auch nach dem Fluß Stoneriver genannt,
dauerte vom 30. December bis 2. Januar, endete mit dem vollen Rückzug der
Conföderirten und gab Grant alle Freiheit der Bewegung. — Es waren die
Befestigungen von Vicksburg und Port Hudson, von der Armee Johnstons
unterstützt, welche den Mississippi in der Gewalt der Conföderirten erhielten
und gegen welche sich nun die Operationen der Mississippiarmee richteten. Die
Bedeutung von Vicksburg liegt weniger in seiner Einwohnerzahl von nur 4500
Seelen, als vielmehr darin, daß die Eisenbahn von Monroe nach Jackson
hier den Mississippi Passirt und den Ort zu einem Centralhandelsplatz macht.
Der Ort liegt hoch am Uferrand am aufspringenden Winkel einer starken
Strombiegung und beherrscht den Fluß ober- und unterhalb auf einer bedeu¬
tenden Strecke. Die Conföderirten hatten den Ort gleich nach Beginn des
Krieges mit Batterien versehen und nach und nach zu einer Festung mit einem
verschanzten Lager gemacht, dessen Annäherung durch Sumpf und Wasserstrecken
sehr erschwert war. Schon im Juni 1862 hatte Farragut von Neuorleans aus
mit seinen Kanonenbooten einen Versuch gemacht, Vicksburg durch Bombarde¬
ment zu nehmen, war aber zurückgewiesen worden. Im December des vorigen
Jahres war General Sherman mit seinem Corps und einer kleinen Flotte von Kano¬
nenbooten von Norte» her am linken Ufer gegen die Stadt vorgegangen, hatte
die Position aber so stark gesunden, daß er umkehrte und dafür von Lincoln
im selbständigen Commando durch General Mac Clernand ersetzt wurde. Dieser
erhielt nunmehr den Auftrag, sich mit Commodore Porter in Memphis ein¬
zuschiffen, den Fluß hinunterzufahren, dabei das rechte Ufer von den Con¬
föderirten zu säubern, hier oberhalb der Festung zu landen und endlich Vicks¬
burg von diesem Ufer aus einzuschließen. Nach einzelnen erfolgreichen Gefechten
gegen die Conföderirten in Arkansas, wobei 4700 Gefangene gemacht wurden,
landete Mac Clernand am 18. Januar auf dem rechten Ufer von Louisiana
und traf am 25. Januar gegenüber von Vicksburg ein. — Grant folgte mit
seiner Armee zu Wasser und zu Lande und stand am 4. Februar mit Mac
Clernand vereint. Grant hatte vier Armeecorps, das 13. unter Mac Clernand,
das 15. Sherman, das 16. Hurlbut und das 17. Mac Pherson. Ein Bom¬
bardement durch die Kanonenboote hatte keine Wirkung. Grant versuchte es
also. den Mississippi durch einen Kanal von Vicksburg abzulenken und dadurch
ein freies Annähcrungsvcrhältniß zu gewinnen, gab dies aber wieder auf und
beschloß, den Fluß südlich der Festung zu überschreiten und von dort aus zur
Belagerung vorzugehen. Solche Operation wurde nur möglich durch die Auf¬
stellung einer Flotte auch südlich des Orts. Dies bewerkstelligten die Commo¬
dore Farragut und Porter, indem ersterer von Neuorleans her die Batterien
bei Port Hudson, letzterer von Norden her die Batterien von Vicksburg bei
Nacht passirte und bei Grand Golf, sechs Meilen unterhalb, eine Aufstellung
nahm. Grant bahnte sich Wege dorthin und ging am 30. April mit drei
Armeecorps über den Fluß auf das linke Ufer, nahm am folgenden Tage Por-
Gibson und drang gegen die Vicksbmg-Jacksoneisenbahn vor, welche die Ver¬
bindung mit der Armee der Conföderirten sicherte; diese eilte herbei und es kam
am 12., 14.,, 16. und 17. zu einer Reihe von hartnäckigen und blutigen Einzel«
gefechten, in welchen Grant mit großer Uebermacht siegte, Johnston überall
zurückwarf und gänzlich von der Festung abschnitt. Er schloß nunmehr die
Stadt auch auf dem linken Ufer ganz ein und entschied sich, dieselbe zu stürmen,
ehe C. G. Johnston mit der aus Tennessee rasch verstärkten Entsatzarmee heran¬
rücken könnte. Am 19. und 20. Mai wurde gestürmt, aber vergeblich, am
23. begann deshalb eine reguläre Belagerung des Ortes und der Feind ge¬
stattete ihm dieselbe ohne Störung fortzuführen, bis am 3. Juli der Com¬
mandant, C. G. Pemberton sich mit Is Generalen und 31,000 Mann zur
Uebergabe beredt erklärte. Die Gefangenen wurden auf Ehrenwort ent¬
lassen, die Stadt besetzt, und ungesäumt gegen Jackson vorgegangen, um
diesen Centralpunkt der Eisenbahn zu nehmen und dadurch die Annäherung
der Consöderirten zu erschweren. Am 8. Juli capitulirte auch das von
G. Banks von Neuorleans her angegriffene Port Hudson und damit waren
alle festen Punkte am Mississippi in den Händen der Union. Am 17. Juli
langte der erste Dampfer von Se. Louis wieder in Neuorleans an. Grant
ließ den General Mac Pherson in Vicksburg zurück und zog seine Armee meist
zu Wasser wieder in die Linie Memphis-Corinth zurück. — So war der Besitz
der Union auf die Flußlime mit einzelnen festen Punkten beschränkt und die
Benutzung der großen Cvmmunicationslinie blieb an allen nicht besetzten
Punkten den Angriffen der Uferbewohner und Guerilla-Landen ausgesetzt. Die
Handelsstraße ist deshalb auch heute noch nicht als vollständig geöffnet an¬
zusehen.
Es muß zunächst auffallen, daß die Conföderirten, nachdem Grant die
Festung eingeschlossen, gar keinen Versuch gemacht haben die Festung zu ent¬
setzen und die Truppen der Union in ihrer sehr gewagten Lage anzugreifen.
Gewagt muß dieselbe genannt werben, da Grant nur den Fluß mit seiner
Flotte als Basis hatte, durch den Fluß die Kräfte getheilt waren und die
klimatischen Verhältnisse an der Gesundheit der Mannschaften ganz ungemein
zehrten. Andrerseits muß es unerklärlich erscheinen, daß man die Eroberung
von Vicksburg von Seiten der Union nicht derart ausnutzte, daß man Jackson
als Festung organisirte, die Eisenbahn von hier nach Corinth militärisch be¬
setzte und die Eroberung des Staates Mississippi vollendete.
In der erstem Beziehung wird der Verlauf der kriegerischen Ereignisse dar¬
thun, daß die Conföderirten auf dem nächsten Kriegsschauplatz in Tennessee
selbst so bedrängt waren, daß sie keine Truppen entbehren konnten und daß sie
überhaupt nicht den Werth auf das Kriegstheater am Mississippi legten, welchen
es an sich hat, sondern von der Ansicht ausgingen, daß ein Erfolg bei Wa¬
shington die höchste Bedeutung habe und ihnen allein den Sieg verschaffen
könne. Sie concentrirten deshalb dorthin alle Kräfte. Hier aber liegt ein
Irrthum, denn da die Weststaaten augenblicklich das Uebergewicht, die leitend
Stimme im Congreß haben, auch die thatkräftigern sind, so steht nicht zu er¬
warten, daß dieselben »achgeben, so lange ihre Truppen die Sieger sind. —
Es ist ein ähnlicher Fehler, wie ihn Napoleon 1814 beging, indem er Blücher
freiließ und sich gegen die große Armee unter Schwarzenberg wandte. Dort,
nicht hier war das Element, welches nach Paris drängte und Napoleon vom
Throne stürzte.
Daß Grant nicht zur vollen Eroberung des Staates Mississippi schritt,
dürfte kaum ihm zuzuschreiben sein, sondern allein der obern Leitung in Wa¬
shington, die den siegreichen Truppen in Tennessee nicht den Befehl gab zur
Unterstützung Granes gegen Corinth vorzugehen und diesem die Hand zu geben,
sondern es gestattete, daß die Lvnföderirten wieder von Corinth und Gegend
Besitz nahmen. Auch war das wirkliche.Erobern, das Herrschen und Organi-
siren der Generale in den Provinzen nicht im Geschmack der Regierung. Das
bewies sie schlagend durch die Entfernung Butters aus Neuorleans, der es
verstand Louisiana wirklich zu unterwerfen, die alten rebellischen Besitzer zu
entfernen und die Union zum Eigenthümer der gesammten Production zu machen.
Solche kleine Könige konnte man nicht vertragen. Lincoln geht wohl heute
noch von der Ansicht aus, daß er nur Schlachten zu gewinnen braucht, um den
Gegner zu überwinden und die herrschende Kraft eines Eroberers entbehren
könne. Aber die Sachen scheinen so zu liegen, daß man entweder Frieden
machen oder eine Herrschaft über den Süden mit den entsprechenden Kraft-
elementen orgcuiisiren muß. Alles Andere ist eine Verschwendung der edelsten
Kräfte des Landes.
Grant also zog sich in seine alte Stellung zurück und verlegte seine Trup¬
pen zur Erholung in rückwärtige Qncuticre, bis im Monat October die Ereig¬
nisse in Osttenncssee ihn dorthin riefen, und er, wie wir sehen werden, von
Neuem Gelegenheit erhielt, die ihm eigne Festigkeit in der Durchführung der
gestellten Aufgaben zu beweisen. Banks, der von Neuorleans aus, wie schon
gesagt, Port Hudson, genommen hatte, gab alle organisirenden Maßregeln
Butters auf und begnügte sich, seine Herrschaft durch Streifzüge nach allen
Richtungen, zumal nach Texas hin geltend zu machen. Statt zu erhalten und
zu schaffen zerstörte er und vermehrte dadurch die Feinde der Union. Er machte
Razzias wie die Franzosen in Afrika und Verwüstung bezeichnete die Bahnen
seiner Thaten.
Im Osten waren unterdeß wieder große Schlachten geschlagen worden.
Die Consöderirten hatten Fredericksburg in den ersten Monaten des Jahres
immer mehr befestigt und sich überhaupt hinter dem Nappahannock etablirt.
Hooker, den wir seit Anfang des Jahres an der Spitze der Potvmacarmce
wissen, entschloß sich endlich Ende April von seiner Uebermacht Gebrauch zu
machen und mit sieben Armeecorps gegen Lee vorzugehen. Die Schwierigkeiten
eines Uebergangs bei Fredtricksburg für bedeutend erachtend, schob er Sedgwick
mit vier Divisionen gegen den Ort, entsandte Gen. Stvneman mit seiner Ka¬
vallerie in den Rücken des Gegners bis Richmond hin und ging mit dem Rest
einen Tagemarsch oberhalb am 28. April an der Mündung des Rapidann
über den Fiuh, schwenkte links und stellte sich bei Chancellvrsville auf. Hier
ging ihm Lee entgegen und es kam am 2. und 3. Mai zu einer Schlacht, in
welcher C. G., Jackson am ersten Tage mit seiner Stvncwallbrigade den rechten
Flügel Hvvkers, das Corps Howard schlug und dadurch die Armee zum Rückzug
nöthigte; in der Nacht vom 2. zum 3. suchte Hooker durch einen Uebelfall den
Gegner zurückzutreiben. In der dadurch entstehenden Verwirrung wurde Jackson
von seinen eigenen Leute» zu Tode verwundet. Der Ueberfall hatte aber keinen
Erfolg und die Schlacht wurde am 3. fortgesetzt, ohne daß Hooker das Ver¬
lorene wiedergewinnen konnte. Sedgwick war unterdeß siegreich gegen Fredcricks¬
burg vorgedrungen und hatte die dortigen befestigten Höhen am 2. und 3. ge¬
nommen. Am 4. aber wandte sich Lee gegen ihn und zwang ihn, die er¬
rungenen Vortheile aufzugeben. Hooker hatte die dadurch gewonnene Ruhe
benutzt, seinen Rückzug anzutreten und Sedgwick folgte ihm. Lee war durch
die doppelte Schlacht ebenfalls sehr aufgelöst und verhindert, von seinen Siegen
sofort Gebrauch zu mache». Er blieb hinter dem Nappahannock stehen. Stv¬
neman, der bereits verloren gegeben war, traf auf großen Umwegen ohne zu große
Verluste am 8. Mai glücklich von seinem verwüstenden Abenteuerzuge wie¬
der ein.
Die beiderseitigen Verluste werden auf je 16.000 Mann berechnet, der
herbste Verlust aber traf die Cvnfvdcrirten durch den Tod des talentvollsten
Generals, den dieser Krieg bis jetzt erzeugt, des Generals Jackson. Der Sieg
war ihm bisher immer treu geblieben und die Truppen hingen mit aller Kraft
an ihm. Nächst Jackson verdankte Lee seinen Sieg der Trennung der Armee
Hookers, welche ihm gestattete, einen Theil nach dem andern zu schlagen. —
Am ö. Juni erst begann Lee seinem Siege Folge zu geben, indem er wieder,
statt dem Feinde einfach entgegenzugehen, mit einer weiten Umgehung durch
das Shenandoahthal in Maryland eindrang und dort dem verstärkten Gegner
in einer Schlacht entgegentrat. Die Kavallerie der Eonföderirten unter ihrem
bewährten Neitergeneral Stuart griff am genannten Tage den rechten Flügel
der feindlichen Vorposten an, schlug ihn zurück, begegnete am 9. Juni bei Be¬
verly Forts 8000 Pferden unter dem U. G. Buford und Gregg und warf sie.
Stuart ließ nun ein Corps von circa 2000 Reitern gegen Washington stehen,
während er mit dem Rest von circa 6000 Pferden seinen Marsch fortsetzte und
am 11. Juni zwischen Harpersferry und Washington den Potomac passirte und
durch Maryland in Pennsylvanien einfallend den Schrecken in die Neuengland-
staaten trug. Die Städte warfen in aller Eile Befestigungen auf. 120 000
Mann Milizen wurden eingerufen und alle nur irgend disponibel» Truppen
zur Hilfe beordert.
C. G. Ewell mit dem Corps Jacksons war Stuart zunächst gefolgt. Er
nahm rasch hintereinander die feindlichen Besatzungen der kleinen Städte im
SKenandoahthal gefangen und besetzte am 16. Juni Harpersferry; am 21.
erreichte ihn Lee und am 22. ging die Armee der Confödenrten wieder über
den Potomac. Hooker, statt den marschirenden Feind anzugreifen,, blieb unent¬
schlossen stehen und eilte erst auf den Hilfeschrei der pennsylvanischen Städte mit
seiner Armee durch Washington den Confödenrten nach. Lee hatte bei Gettys-
burg in Pennsylvanien seine Hauptmacht stehen, hierhin dirigirte sich auch Hooker,
mühte aber vor dem Tage der Entscheidung, am 27., das Commando an einen
seiner Untergencrale, Meade abtreten. Am 30. Juni standen das 1. Reynolds,
3. sinlich und 11. Corps Howard unter Oberbefehl des ersteren einen Tage¬
marsch südlich Gettysburg; er ging am 1. mit dem 1. und 11. Corps gegen
den letzteren Ort vor, traf auf das Corps von Ewell. wurde zurückgeschlagen
und siel; G. Howard sammelte die Truppen und wurde im Rückzug von den
heraneiiendcn 3. und 12. Corps Slocum gegen Abend aufgenommen. In der
Nacht traf mit Meade das 2. Hancock und 5. Corps sylich ein, denen im
Lauf des nächsten Morgens auch das 6. Corps Scdgwick, sowie Abtheilungen
Pennsylvanischer und maryländischcr Miliz folgten.
Am 2. Juli hatte auch Lee seine Kräfte, die Corps von Ewell, Longstreet
und Hill bei Gettysburg concentrirt und es kam zur Schlacht mit verkehrter
Front, die Armee des Südens stand im Norden der Unionsarmee, und eine
wirklich Verlorne und durchgeführte Schlacht mußte für den Sieger die reichsten
Früchte, für den Geschlagenen die schlimmsten Folgen bringen. Alle Truppen
kamen zum Gefecht und Gi. Lee hatte am Abend des Tages mit seinem
linken Flügel entschiedene Fortschritte gemacht, aber noch keinen Sieg errungen.
Am 3. wurde die Schlacht erneuert und alle Angriffe Lech zurückgeschlagen,
ohne daß jedoch Mcade sonstige Vortheile gewann. Unter diesen Umständen
mußte Lee an die Sicherung seines Rückzugs denken. Er marschirte am 4. und
5. um den linken Flügel Mcadcs herum, ohne daß dieser es wagte ihn an¬
zugreifen und zog sich nach dem Potomac zurück. Harpersferry war durch die
Unionstruppen genommen und die dortige Brücke zerstört worden. Lee ging
deshalb nach Williamsport, fünf Meilen oberhalb, nahm am 12. daselbst eine
Aufstellung, in der Meade nicht wagte ihn anzugreifen und passirte auf einer
inzwischen gebauten Brücke am 14. Juli wieder den Potomac. — Der Union
kostete dieser Feldzug in Maryland und Pennsylvanien 23,000 Mann, die Con-
föderirten werden kaum weniger verloren haben. Lee ging unangefochten hinter
den Rappahannock zurück, Meade nahm ihm gegenüber wieder seine Stellung
und beide Armeen widmeten die nächste Zeit der Erholung. Diese Ruhe wurde
unterbrochen durch die Nachrichten Vom Kriegsschauplatz in Tennessee, welche
sowohl die Süd- als auch die Nordarmee veranlaßten, Verstärkungen dorthin
zu senden; von der letztern rückten die Corps von Howard und Slocum unter
dem Befehl des kürzlich erst entfernten Hooker, von der Südarmee aber die
Corps von Longstreet dorthin ab. Zur Deckung dieses Abmarsches unternahm
Lee einen Angriff von seinem linken Flügel aus, welchem Meade auswich. Es
folgten einige kleine, zumal Neitergefechte, dann trat Lee wieder den Rückzug
an und Anfang December bezogen hier beide Armeen Winterquartiere, der Rapi-
dann und Rappahannock bildeten wieder die Grenze der beiderseitigen Vorposten.
In Tennessee hatten wir den dortigen Oberbefehlshaber der Union,
den General Rosecrans Ende December 1862 und Anfang Januar 1863 in
den Gefechten bei Murfreesboro oder am Stone River verlasse» und gesehen,
daß er durch seine dort errungenen Erfolge die Verbindung mit Grant am
Tennessee gewann. Diese Erfolge waren aber mit dem bedeutenden Verlust
von 12,000 Mann verbunden, führten eben nur zur Behauptung der inne¬
habenden Stellung und geboten Ruhe. So wurden die nächsten Monate nur
mit einzelnen kleinen Gefechten und Neiterunternehmungen ausgefüllt, so sehr
auch die Thaten Granes zu unterstützenden Unternehmungen aufforderten. Erst
im Moral Juni entschloß sich Rosecrans, gegen Mitteltennessee und den dort
stehenden GI. Bragg vorzugehen. — Die Unionsarmee bestand aus drei Armee¬
corps, Mac Cook, Crittenden und Thomas und war den Cvnföderirten be¬
deutend überlegen. Die letztern wichen deshalb dem Angriff aus und zogen
sich hinter den Tennessee in die Stellung von Chattanovga an der Grenze der
Staaten Tennessee, Alabama und Georgia gelegen. Rosecrans folgte sehr vor¬
sichtig nach und stand am 21. August der feindlichen Stellung gegenüber. Einem
weit umfassenden Angriff wich Bragg auch hier aus und wählte eine neue Po¬
sition hinter den Chickamauga, wo Longstreet, von Lee gesandt, zu ihm stieß und
wo er am 19. September die Schlacht einnahm. Bragg hatte vor seinem weit
übeUegencn Gegner sich von Shelbyville längs der Eisenbahn bis gegen Dal-
ton in Georgia, 20 Meilen Wegs zurückgezogen und dabei den Gegner mit
dem unbedeutenden Verlust von höchstens 3000 Mann, wie die nordstaatlichen
Nachrichten selbst angeben, fast zwei Monate aufgehalten. Die Schlacht am
Chickamauga dauerte vom 19. bis 21. September und endete mit dem Rückzug
der Nordarmee; nur der Ausdauer des Corps Thomas verdankte es Rosecrans,
daß er nicht in volle Flucht geschlagen wurde. Die Schlacht kostete dem General
16,000 Mann und seine Stellung. Thomas wurde sein Nachfolger, während
Sherman das Commando der Armee Granes erhielt und letzterer das Ober-
commando sowohl über diese beiden als auch über Burnside in Kentucky bekam
und also über die gesammten Streitkräfte in Tennessee und Kentucky verfügte,
während bisher diese drei Heere und drei Departements unter den Namen
Mississippi, Cumberland und Ohio von einander unabhängig waren. Er dis-
Ponirte damit über acht Corps und erhielt die beiden schon genannten Corps
unter Hooker von der Potomacarmee noch als Verstärkung. Wir müssen den
Fortschritt in der Leitung der militärischen Angelegenheiten des Nordens in
dieser Vereinigung einer so bedeutenden Macht in einer Hand anerkennen und
werden sehen, daß sie die besten Folgen hatte.
Granes Aufgabe war. Bragg aus seiner Siegeslaufbahn nach Georgia zu¬
rückzuwerfen und Burnside wieder Luft zu machen, der in Knoxville hart be¬
drängt war. Bragg hatte im Verein mit Longstreet die rosecransschc Armee
an den Tennessee gedrängt und ihm durch starke Streifcorps um beide Flügel
herum und bis Shelbyville hin die Zufuhren auf den Eisenbahnen und dem
Tennessee abgeschnitten. Zunächst wurden diese Streifcorps zurückgeworfen und
dann eilte Grant mit der Armee Sherman und Hooker den Truppen jetzt
unter Thomas über den Tennessee zu Hilfe. Am 23, und 24. Nov. ging er
über den Fluß, während Thomas von seinem Gegner hart bedrängt wurde.
Am 24. griffen die vereinten Kräfte Bragg und Longstreet in ihrer verschanzten
Stellung bei Chattanooga an, schlugen und trennten sie. Thomas folgte Bragg
nach Georgia gegen Dalton, während Sherman nach einiger Zeit Longstreet
folgte, der gegen Burnside in Knoxville gezogen war.
Burnside nämlich hatte mit schwachen Kräften sich den Sommer über
in Osttennessee und Kentucky in einer Menge Einzelgefechten gehalten, war
dann im Monat August verstärkt worden, hatte Cumberland Gay, eine Paßbe¬
festigung und Knoxville genommen, hatte sich dann aber zersplittert, war ge¬
schlagen und nach Knoxville hineingeworfen worden, wo auch Longstreet am
29. Nov. anlangte und ihn bedrängte. Die heranrückenden Truppen Shermans
befreiien ihn, es kam zu mehren Gefechten am 3. und 6. Dec.. welche Long¬
street zwangen sich zurückzuziehen. G. Foster folgte ihm, erhielt von Longstreet
einige kräftige Rückschläge, nöthigte ihn aber trotzdem sich nach Virginia zurück¬
zuziehen. Foster hatte sich vorher schon sehr ausgezeichnet und wurde dafür jetzt
Burnsibes Nachfolger im Departement von Ohio,
Mit dem Schluß des Jahres war so die Union zum ersten Male seit Be¬
ginn des Krieges im unbestrittene» Besitz von Kentucky und Tennessee.
Von den übrigen Schauplätzen des Krieges ist nur zu berichten, daß hier
die kleinen Kämpfe durch lokale Interessen genährt und immer verwüstender
gemacht wurden, aber wie bisher nicht bestimmend auf den Gang des Krieges
wirkten. Nur in Missouri und Arkansas veranlaßte Lincoln, daß die Kräfte
möglichst concentrirt und längst des Flusses Arkansas zur Verstärkung der Un¬
ternehmung Granes gegen Vicksburg geleitet wurden. Der Kampf gegen die
Indianer wurde von Pope mit verhältnißmäßig starken Truppentheilen ohne
hervortretende Erfolge geführt, bewirkte aber doch eine gewisse Ermattung der
Gegner. An den Küsten Nord- und Südcarolinas fanden unausgesetzt kleinere
Raub- und Verwüstungszüge der nordstaatlichen Truppen statt. Größere Kräfte
concentrirte allein G. Grillmore gegen Charleston, er landete am 10. Juli am
Hasen, nahm die nächstliegenden Forts und schritt bis zum Schluß des JaKres
in unausgesetzten Arbeiten belagernd gegen die Stadt vor. ohne sie in Besitz
zu nehmen.
Wenn wir nun die Gesammtresultate der kriegerischen Ereignisse des Jahres
zusammenfassen, so ergiebt sich, daß zwischen Washington und Richmond die
Vortheile eher dem Süden als dem Norden gehören, denn der erstere hat hier
mit Glück die bedeutende Uebermacht des Gegners zurückgeschlagen. Im We¬
sten aber hat der Norden unter Grant erst die Herrschaft über den Mississippi¬
fluß und dann über die beiden Staaten Kentucky und Tennessee gewonnen.
Die Conföderirten haben hier mindestens den vierten Theil ihrer gesammten
Einwohnerzahl der Herrschaft ihrer Gegner abgetreten und die Gestellung der
zum ferneren Kampf nothwendigen Truppenzahl muß ihnen ungemein er¬
schwert sein. Nur der Umstand läßt die Fortschritte des Gegners nicht zu sehr
ins Gewicht fallen, daß es ihm nicht gelingt seine Eroberungen zu organisiren.
Der innere Kampf, das blutige Ringen dauert auch auf den eroberten Gebie¬
ten fort. Grant hat sich als thatkräftiger General, aber nicht als erobernder
Organisator bewährt. (Schluß in der nächsten Nummer.)
Das Dresdner Journal enthält in Ur. 20 vom 25. Januar einen langen
Artikel gegen die gvthaische Partei, zunächst gegen Herrn Professor Hauffer und seine
Publicistischen Parteigenossen, in welchem maßvoll aber unwillig gegen die Idee
eines preußischen deutschen Bundesstaats polemisirt wird. Der Streit darüber ist in
diesem Augenblick für die Tagespresse müßig. Preußen hat gegenwärtig zu viel mit
sich selbst zu thun, als daß es die Bundesverfassung Deutschlands wesentlich alteriren
könnte und das Dresdner Journal sollte dem in Preußen herrschenden System dank¬
bar sein, denn dies ist in der That sein bester Bundesgenosse. Unterdeß wird selbst
während der innern Krisis Preußens das Uebergewicht eines Staates von 19 Millio¬
nen in jeder Richtung des politischen und Verkehrslebens fühlbarer, nicht am wenig¬
sten in Sachsen, gerade hier kann man ruhig der Zeit und gegebenen Verhältnissen
überlassen, die große Frage zur Entscheidung zu bringen. Wenn aber das Dres¬
dener Journal zuletzt auch eine» Artikel der Grenzboten — die Besprechung des Werkes
Von Treitschke — heranzieht und ein aufrichtiges Bekenntniß von argen Hintergedanken
der preußischen Partei in den Worten findet, daß jeder Bundesstaat zuletzt
zum Einheitstaat führe, und wenn das Dresdner Journal dies „aufrichtige Be¬
kenntniß" als eine Warnung für seine Leser hinstellt, so wollen wir ihm nachbarNch
bemerken, daß wir mit diesem Bekenntniß durchaus nicht die Absicht verbinden, Re¬
gierungen und Völker durch Empfehlung des Bundesstaates — wie das Journal
sich ausdrückt — zu übertölpele. Dieser Ausdruck war am Ende einer schönen
stilistischen Arbeit nicht wohl gewählt. Wir trauen Regierungen und Völkern zuviel
Einsicht zu, als daß sie je in solche ungemüthliche Lage kommen könnten. Wir
meine» die Regierungen werden sich sträuben, so lange sie können, sie werden wie
bisher jedes ihnen mögliche Mittel anwenden, sich der verhaßten Genossenschaft zu
entzieh», im Volke aber wird, wer Urtheilskraft und ein Interesse hat, sich allmälig
Mit und ohne Journalartikel immer mehr von der Nothwendigkeit solcher innern
engern Verbindung überzeugen. Und die Regierungen werden zuletzt durch die In¬
telligenz ihres eigenen Landes, wie durch die unerträglichen Schwierigkeiten ihrer
Lage zur Nachgiebigkeit veranlaßt werden. In der That ist das Dresdner Journal
selbst bereits ein preußisches Opposition«»!««. Daß es schreiben kann wie es schreibt,
einem wohlwollenden, grilligen, alten Herrn ähnlich, dem einiger Zank mit seinen
Nachbarn gemüthliches Bedürfniß ist, das verdankt es dem ärgerlichen Preußen allein.
Ohne diese widerwärtige Erfindung der letzten Jahrhunderte würde entweder ein
russischer General oder ein französischer Prüftet seinen Leitartikeln größere Kürze be¬
fehlen; ohne dies lästige Preußen würde es vor ungefähr fünfzehn Jahren die Ver¬
anlassung verloren haben, sich über Bundes- und Einheitsstaat zu betrüben. Ja
noch in den Tagen des Fürstcucongresfts zu Frankfurt wurde es durch das Aus-
bleiben des unzuverlässigen Preußens in die zwar unbequeme, aber doch zuletzt tröst¬
liche Lage gebracht, von dem Bundesstaatsproject Oestreichs befreit zu werden. Daß
es in der Lage ist, überhaupt eine Ansicht auszusprechen, wie sie auch sei, und
gegen einen Bundesstaat zu pownisircn, verdankt es allerdings nnr dem Umstände,
daß es in der Stille unter preußischem Schutz steht. Wir haben so viel Mitgefühl
mit seiner schmierigen Lage, daß wir uns in diesem Artikel enthalten auszuführen,
wie auch das sächsische Volk den kräftigen Aufschwung seines Verkehrslebens, wie
selbst die sächsischen Particularistcn ihren Saxonismus nur dem Gegensatz zu dem
ungefälligen preußischen Staat verdanken.
Ob Bundesstaat, ob Einheitsstaat, ist in diesem Augenblick keine Frage, bei
welcher die Tagespresse mit Fug verweilt, Verhältnisse, welche größer und dauernder
sind als die Parteistellung des Dresdner Journals und der Grenzboten, bestimmen
unabänderlich unsere Zukunft. Die Bedeutung des Mannes aber, welcher jetzt für
eine Ueberzeugung kämpft, wird von der Nachwelt unfehlbar darnach geschätzt
werden, ob er das Unvermeidliche rechtzeitig erkannt und für das gerungen hat,
was der späteren Zeit eine Thatsache geworden ist, oder ob er schöne und der Theil¬
nahme würdige Kraft im vergeblichen Streite gegen die Logik der Thatsachen und
den Zwang der Verhältnisse verschwendet hat.
Von Gustav Freytag wird der Redaction der Wunsch ausgedrückt, den
Barmer Anzeiger, das dortige Kreisblatt, auf eine literarische Jnconvenienz aufmerk¬
sam zu machen. Die Ur. 18. dieses Blattes enthält die Fortsetzung einer Novelle
unter dem Titel: „Aus einem Frauenleben von G. Freitag." Wenn der
Verfasser jener Novelle in der That den vorgesetzten Namen führt, so verlangt die
Rücksicht auf seinen Namcnsgenossen, seinen Verleger und die eigene Ehre, daß er
dem Namen ein jedem deutliches und unzweifelhaftes Unterscheidungszeichen zusetze.
Es scheint aber, daß hier noch etwas Anderes vorliegt, als eine zufällige Namens¬
gleichheit. Schon vor Jahren erschienen in den Stuttgarter „Erheiterungen" No¬
vellen unter gleichem Namen, welche zum Theil nichts als Übersetzungen franzö¬
sischer Geschichten waren. Bei der vorliegenden Erzählung scheint dasselbe der Fall
zu sein. Dann würde eine doppelte literarische Täuschung vorliegen, indem der
Unbekannte zuerst fremde Habe mit einem ungehörigen Name» versehn und zweitens
dazu den Namen eines Anderen gemißbraucht hat. In jedem Falle fordern wir
Herrn Julius Taddel, Redacteur des Barmer Anzeigers auf, in der nächsten Num¬
mer, welche nach Zusendung dieses Heftes, von ihm ausgegeben wird, seine Leser
davon in Kenntniß zu setzen, daß der Einsender der Novelle! „Aus einem Frauen¬
leben" nicht der uns bekannte Schriftsteller Gustav Freytag ist. Wir erlauben uns
dazu die Bemerkung, wie es in seinem eigenen Interesse liegt, daß sein Blatt nicht
in den Verdacht einer absichtlichen Täuschung des Publikums komme.
Im vorigen Jahre haben die meisten größern Bühnen Deutschlands sich
daran erinnert, daß es 300 Jahre her ist, seit Shakespeare gehören wurde,
mehre haben in dieser Zeit eine Reihenfolge seiner Stücke, die in dem Gesichts¬
kreis des Repertoirs waren, neu ausgestattet und einstudirt. Das Publikum
ließ sich das Dargebotene gern gefallen, selbst wo ihm durch die Zahl der
aufgeführten Stücke und die Auswahl viel zugemuthet wurde, denn es liebt
bei solcher Gelegenheit sich ein Großes zugetraut zu sehn. Das karlsruher
Theater hat unter Eduard Devrient seit zwölf Jahren so viele Dramen des
großen Dichters zu stehenden Repertoirstücken gemacht, daß es die Erinnerungs¬
feier wie ein Familien- und Freundessest begehn durfte. In diesem Winter
wird dort ein Drama nach dem andern zwischen Oper und den Tagesneuigkeiten
aufgeführt, die meisten sind alte Habe des Repertoirs; dadurch, daß ein und das
andere, an dem sich die Kräfte der Bühne noch nicht versucht hatten, zu dem
vorhandenem Schatz gefügt wird, hofft man die Zahl zwanzig zu erreichen.
Unter den neueinstudirten Stücken war auch das Lustspiel: „Wie es euch
gefällt", der deutschen Bühne fast fremd, dem Leser ein wunderliches, ver-
kraustes Spiel, das er gern überschlägt. Und doch war die Aufführung in
Karlsruhe reich an schönen Wirkungen auch dem großen Publikum willkommen,
sie stellte den Schauspielern, noch mehr dem Leiter der Bühne interessante
Aufgaben. Gerade dies Stück gewährt einen fesselnden Einblick in den höfischen
Geschmack jener Zeit und in des Dichters Methode zu schaffen.
Wie Viel auch in unserer schreiblustigen Zeit über Shakespeare geschrieben
ist. noch wird als empfindlicher Mangel fühlbar, daß keine Arbeit die Geschichte
der einzelnen Stücke nach den etwa erhaltenen abweichenden Recensionen, nach
den allerdings spärlichen Notizen über Zeit und Veranlassung ihrer Entstehung
und nach ihrer innern technischen Verschiedenheit, mit genauer Kenntniß des
alten und neuen Theaters auseinanderlegt. Was uns jetzt unter Shakespeares
Namen erhalten ist, Echtes und Angezweifeltes, zeigt eine so große Verschieden¬
heit in Bau, Ton und innerem Werth, wie bei keinem neueren Kunstdichter
möglich wäre. Auf dem weißen Papier unserer modernen Prachtausgaben stehn
die großen sorgfältig gearbeiteten Tragödien, welche nicht nur die Gewalt seines
Genies, auch die volle Sorgfalt des gereiften Künstlers zeigen, neben rohen
Jugendwerken, flüchtigen Gelegenheitsstücken, neben Tagesarbeiten, zu denen
ihn der Bedarf seiner hungrigen Bühne zwang, ja wohl auch neben fremdem
Gut, das er nur eilig zurichtete und durch eingesetzte Scenen besserte. Polter¬
abendscherze, wie der Sommernachtstraum. Staatsactionen wie Heinrich der
Fünfte, leichte Waare des Sommertheaters, welche auf offenem Brettergerüst
ohne jede Decoration unter freiem Himmel aufgeführt wurde, und Stücke der
Winterhäuser, bei denen auf die Architektur der Scene und die dadurch mög¬
lichen Effecte sorgfältig Rücksicht genommen ist. Äus den Bänden det Shake¬
speareausgaben und ihrer Uebersetzung sind die Dramen auf unsere Potier
übergegangen und einige derselben sehn bei den vergoldeten Schnörkeln und
Gasflammen der modernen Salvnlheater sehr seltsam aus.
William Shakespeare war Schauspieler und Regisseur und zugleich Theater¬
dichter, eine Thätigkeit, die in seiner Zeit mit den beiden ersten häufig in Ver¬
bindung stand. Für den täglichen Bedarf seiner Truppe mußte er sich in
seinen Dichtungen den localen und persönlichen Verhältnissen seines Publikums
und seiner Gönner anschmiegen. Nur die Rücksicht und geübte Beachtung
des momentanen schauspielerischen Erfolges konnte ihn leiten, selten die Absicht,
kaum wohl die Hoffnung: seine Werke würden seine Zeit überleben.
Für seine Zwecke griff er nach Novellen, nach Lalladen, nach schon vor-
handenen Dramen, die er mit der sichern Hand des Regisseurs seinen Kollegen
und seinem Publikum anpaßte. '
Dies der Grund, warum wir in mehren seiner Stücke nur ab und zu,
wie Körner in der Spreu, eine Scene finden, aus welcher der volle, warme
Hauch seines schöpferischen Odems uns anhaucht. Wenn sich die großen Werke
seiner Kunst in der Form, der poetischen Ausarbeitung, der großartigen Ent¬
wicklung der Charaktere so weit von den Eintagsfliege» seiner Theaterzeit unter¬
scheide», so dürfen wir schließen, daß dies Vorwürfe waren, die er besonders
lieb gewonnen hatte. Sie unterwarf er einer mehrfachen Umarbeitung, ihnen
lies; er, wie echten unter Pflegekindern, auch volle Liebe und volle Zucht an-
gedeihen, ehe er sie in die Welt hinaussandte.
Das vorliegende Stück gehört, wenn irgendeines, in die Zahl der Gelegen-
lmtsstücke und darf nur als solches beurtheilt werden.
Es ist einer Novelle von Thomas Lodge entnommen, RosalMä, or Lu-
xkue's (Zolävii I^ML^o, 4. 1590. Die Novelle führt in der zweiten Aus¬
gabe von 1592 den langen wunderlichen Titel: „Rvsalynde. Euphues goldenes
Vermächtnis!, nach seinem Tode in seiner Zelle in Silexedra aufgefunden. Den
Söhnen des Philautus vermacht, die mit ihrem Vater in England erzogen
worden. Von den Canarischen Inseln hergebracht von T. L. Edelmann."
In seiner Widmung an Lord Hunsdon sagt Lodge. er habe mit dem
Capitän Clarke eine Reise nach den Terceras- und canarischen Inseln gemacht,
und , um sich die Zeit mit Arbeiten zu vertreiben, dies Buel geschrieben.
Etwa hundert Jahre spater erschien ein englisches Gedicht unter dem Namen:
„lire volo's kalt; ut LlÄinölM", das man fälschlich den (^anterliur^ la-Ich
von Chaucer einverleibte. Es benutzt ebenfalls Lodges Erzählung und hat
irrthümlich für Shakespeares Quelle gegolten.
Ein Verzeichniß der londoner Buchhändlergilde, etwa von 1600, erwähnt
schon das Theaterstück ^on like it.". Erhalten ist es jedoch erst in der
Foliogesammtausgabe Shakespeares von 1623. Der Inhalt der lodgeschcn
Novelle ist in Kurzem folgender:
König Gerismonb von Frankreich (bei Sh. der Herzog) ist von seinem
Bruder Torismond (Friedrich) um sein Reich gebracht worden und irrt mit
wenigen Getreuen im ardenner Walde umher. Seine Tochter Alinda (Cella)
folgt endlich aus Zärtlichkeit ihrer Muhme Rosalinde in die Verbannung, als
Friedrich diese in jähzorniger Laune ihrem Vater nachjagt. Die arme Rosalinde
bat zuvor eine glühende Neigung für den kecken jungen Nosader (Orlando) ge¬
gefaßt, den jüngsten Sohn des Sir John von Bourdeaux (Rowland de Bois),
den sein ältester Bruder Saladynn (Olivier) aus Mißgunst um das Seinige
betrogen und wie einen „Bauerntölpel" gehalten hatte.
Der jugendkräftige Rosader empfindet plötzlich, gemahnt durch seines Vaters
treuen Diener Adam Spencer, die UnWürdigkeit dieser Behandlung. Er tritt
seinem Bruder entgegen und fordert mit handgreiflichen Drohungen sein Recht.
Saladinn macht in der Angst Zugeständnisse und weiß den thatendurstiger Ro-
sader zu bewegen, sich im Zweikampf gegen des Königs Ringer zu versuchen.
Im Stillen hatte er den riesigen Charles geworben, der dem Nosader den Tod
geschworen. Der Kampf beginnt und Charles unterliegt.
Für so gefährliche Tugenden von Bruder und König gehaßt, flieht Rosa¬
der ebenfalls in die Ardennen, begleitet vom alten Adam. Beide sind verirrt
und dem Hungertode nah, da führt sie der Zufall dem verbannten Könige zu.
der just zur Feier seines Geburtstages unter schattigen Bäumen mit seinem
Gefolge eine reiche Mahlzeit hält. Freundlich werden die Beiden aufgenommen
und schließen sich dem Hofstaat an.
Rosalinde in Knabentracht unter dem Ramen Ganymed und Alinda als
Schäferin Aliena trafen indessen die Schäfer Corydon (bei Shakespeare Corin-
nus) und Montanus (Silvius). Corydon kauft für sie die Meierei seines Herrn,
in welcher die Mädchen verborgen leben wollen. Schäfer Montanus klagt
ihnen seine Liebe zur schelmischen Phoebe. die ihn verschmäht, bis ihre eigne
heftige Liebe zum Ganymed sie bekehrt und dem immer getreuen Montanus
zuführt.
Bald trifft Rosader den scheinbaren Knaben Ganymed im Walde, der
ihm vorschlägt, um seinen Liebesseufzern Nahrung zu geben, seine Rosalinde
vorzustellen.
Indeß hat den bösen Bruder Saladynn die gerechte Strafe ereilt. Denn
der Usurpator Torismond legt ihm die Flucht Nosaders zur Last und jagt auch
ihn in die Ardennen. Dort rettet ihm der schwergekränkte Bruder das Leben,
indem er den Löwen erlegt, der sich den Saladynn zum Fraße ausersehen. Da
erwacht des Bösewichts Reue) und mit ihr sanftere Gefühle. Er verliebt sich beim
ersten Begegnen in Alinda (Cella). Jetzt kommen die zwölf Pairs von Frankreich,
um Gerismond wieder in seine Rechte einzusetzen. Torismond fällt in der
Schlacht und mit allgemeiner Heirath und allgemeiner Versorgung der Bethei¬
ligten schließt die Novelle.
Es ist ersichtlich, daß Shakespeare hier mit noch größerer Genauig¬
keit als irgend sonst, oft bis in den Wortlaut getreu, seinem Originale ge¬
folgt ist.
Seiner Erfindung verdanken wir nur den melancholischen Jacques, der
dem Herzog in die Verbannung folgte, einen rabenschwarzen, gallsüchtigem
Spötter, dessen Geist von Welt- und Hofleben übersättigt, sich in giftigen
Scherzen gegen das Menschenvolk ergeht; dann den munteren Gegensatz desselben,
den scheckigen, geschickten, behäbig satten Narren Probstein, bei dem die Nahrung
des Hofes zu fröhlicher Laune anschlägt, und den Cella sich vom Hofe in die
Wildniß mitnimmt: serner den plumpen Schatz des Narren, den dieser sich im
Walde gesucht, die einfältige Käthe sammt ihrem Anhang; zuletzt als Aenderung
in der Fabel die freiwillige Entsagung des Usurpators und des Herzogs fried¬
liche Wiedereinsetzung.
Der seltsame Titel: 70U lites it" gab Anlaß zu mannigfachen Aus¬
legungen. Man wollte ihn ironisch nehmen und Shakespeare zumuthen, ein ganzes
Lustspiel gewissermaßen als Persiflage aus den Geschmack seiner Zeit geschrieben
zu haben. Eine flüchtige Prüfung des Stückes widerlegt diese Anschauung. Der
Dichter geißelt in jeder Scene den Unfug und die üblen Gebräuche seiner Zeit,
wie war denkbar, daß er für solche Wirkungen ein mit Absicht caricirtes Stück
benutzt habe? Auch liegt diese Art. Talent und Bühnenkraft zu vergeuden,
gar nicht in Shakespeares gesundem Wesen. Das Stück ist durchaus für
die Aufführung geschrieben. Eine parodirende Caricatur mögen blasirte Leser
gähnend bewundern, auf die Bretter dürste man sie nicht bringen, vollends nicht
in einer Zeit, welche mit faulen Orangen freigebig war und in der die
Schauspieler selbst ein pecuniäres Interesse an dem guten Erfolge hatten. Die
Vermuthung liegt nahe, er habe es auf Wunsch oder „zu Gefallen" eines seiner
Gönner, vielleicht jenes Lord Hunsdon selbst bearbeitet, dem Lodge seine Novelle
gewidmet. Es sieht ganz so aus, als ob es zu irgendeiner Festfeier aus dem
Lande geschrieben und unter den Bäumen eines Parkes auf dem Besitzthum
eines vornehmen Gönners zuerst aufgeführt worden sei. Als ein leichter über¬
müthiger Scherz mit den damals bereits modischen Schäfermasken, mit lustiger
Parodie einzelnerlebender Personen, z. B. in Probstein und Jaques, zwischen
Hörnerklang und den Bechern einer höfischen Jagdgesellschaft.
Vielleicht gab der Prolog hierüber nähere Auskunft. Daß ein solcher existirte,
geht aus Rosalyndens Worten des Epiloges hervor: „Es ist nicht Gebrauch,
eine Dame als Epilog zu sehen, aber es ist nicht unziemlicher, als den Herren
(tds tora) als Prolog zu sehen." Man kann hieraus entnehmen, daß der ver¬
bannte Herzog (ete tora) den Prolog gesprochen hat. Im Allgemeinen war
es Brauch, den Prolog von einer Nebenfigur reden zu lassen, die womöglich
die Sympathie des Publikums genoß oder vertrat. Der Usurpator konnte des¬
halb nicht gemeint sein. Auch spricht des Verbannten Herzogs spätes Auftreten
dafür, es ließ ihm Zeit, die Kleidung zu wechseln. Am meisten würde sich
sonst Adam dafür geeignet haben, den, wie man mit Grund annimmt, Shakespeare
selbst gespielt haben mag. Allein sein Auftreten beim Beginn des Stückes machte
dies unbequem. Daß Adam am Schlüsse des Stückes seltsamerweise fehlt,
während ihn Lodge noch zum Capitän der Garden ernennen läßt, deutet aller¬
dings darauf hin. daß Shakespeare die kleine, sorgfältig gearbeitete Rolle übernommen
hatte, die ihm in der ersten Hälfte des Stückes Raum gönnte, seinen Regie¬
pflichten nachzukommen. Am Schlüsse häufen sich die Auftritte, das Melodram
erfordert die ganze Aufmerksamkeit des Bühnenleiters und darum mußte wohl
das Publicum den wackern Adam im Schlußesfect entbehren.
Die Aufführung des Stückes war keine leichte Aufgabe. Das Publicum
mußte die vielen hier und da hingestreutem, lose angereihten, oft innerlich zu¬
sammenhanglosen bunten Bilder und Neckereien einer originellen Laune sich
selbst zusammennaschen und zu einem Totalgenuß gestalten. Das war eine
Aufgabe, welche die eines Theaterpublikums im Allgemeinen übersteigt. Ist doch
der Zuschauer gewöhnt, in ruhiger Aufnahme lebenswarmer dramatischer Handlung
den Geist und die Moral sich unmerklich zutragen zu lassen, er verlangt vor allem
festen Zusammenhang, steigende Spannung, wohlgewogenes Verhältniß der Theile.
Der Bearbeiter mußte das Stück dem modernen Geschmacke näher führen,
wollte er es seinen Schauspielern zu eigen machen und dem Publicum die
Freude gewähren, die Wirkungen des alten Theaterstückes lebhaft zu empfinden.
Daher wurde entfernt, was allzu sehr verletzte, unwahrscheinlich war und
aufhielt, anderes, das nur leicht angedeutet war. für das moderne Verständniß
verstärkt. Der häufige Scenenwechsel war zwanglos umgangen; die Handlung
auf drei Acte vertheilt. Der Schauplatz war zuerst vor Olivicrs Hause zunächst
dem herzoglichen Palaste; dann im Schlosse selbst; bald in Busch und Wald — ohne
Scenenwechsel im Act — wo abwechselnd der vertriebene Herzog mit seinem
Hofstaate auf Steinen und Moosbetten sich lagerte, bald der ausgelassene Prob¬
stein in Hecken und auf Baumstämmen sitzend seine neue Schäfercompagnie
verspottete. Zur Kleidung war die malerische Tracht des dreizehnten und des
vierzehnten Jahrhunderts gewählt, die wie keine andere geeignet ist , die Charak¬
tere zu sondern und Alter und Stand zu bezeichnen: der Hofstaat im langen
Mantelgewande, die jugendlichen Rittergestalten im knappen anliegenden Kleid
die Jäger in der geschürzten Kutte, mit dem Kragen und der verbrämten Mütze,
die Frauen im angeschmiegten Schlepprock mit dem Schooßmieder. der Narr im
getheilten Kleide, das mit seinen Festons und Schellen die Falkoniere und Valets
jener Zeit lächerlich macht, die Diener und Schäfer in der schlichten Kutte.
Der bedenkliche Ringkampf im Anfange war dem Auge entzogen und
ging scheinbar hinter einer Veranda vor sich, von der in malerischer Grup-
pirung der Usurpator mit seinem Hofstaat, die Prinzessinnen und der Narr
hinabsahen, indeß das Volk sich zur Seite drängte und durch seine Rufe den
Fortgang des Kampfes kundgab.
Das Erscheinen des zweiten Bruders Oliviers. Jakob, war vermieden und
seine Meldung von Olivier gebracht. Es wäre für die Bühnenwirkung von
Nachtheil noch am Schluß eine Figur erscheinen zu lassen, die Interesse wecken
müßte, ohne es befriedigen zu können. Auch Oliviers und Celias Liebe blieb
aus; genug, daß man an seine Besserung glauben soll.
Rosalindens Kerzloses Begegnen mit ihrem Vater im Walde war uns er¬
spart und dem neckischen, heißblütigen Mädchen, dem Musterbilde aller reizenden
Koketten, dadurch die Sympathien gewahrt. Ohne Mißstimmung sah man sie
die Gluth ihrer Leidenschaft in neckendem Spiele mit ihrer und ihres Liebsten
Neigung verbergen und verrathen; man wußte, was sie übermüthig that, ent¬
sprang heißem Gefühle und die Qual, welche sie dem Geliebten bereitete, würde
durch Kuß und Umarmung in der Erkennungsscene gesühnt werden. Eine
Tochter, die den Vater in Elend wiedersieht und mit derbem Spaß davon läuft,
hätte eine moderne Empfindung schwerer vergeben.
Auch ihren schnellen Entschluß, den Knaben zu spiele», nahm man bei
der Darstellung willig hin. Zu Shakespeares Zeiten war es so sehr Brauch
der Damen, wenn sie incognno reisen wollten, sich als Pagen in Männer¬
kleidung zu hüllen, daß ihm leicht erlaubt war, was uns mißlicher erscheint.
Auch Viola reist als Mann, selbst die feinfühlende Julia in den „beiden
Edelleuten von Verona" ist nur um das Wie bange, das Ob macht ihr keine
Sorgen. Ein Publikum, das viele shakesvearesche Stücke gesehn hat. ist in
diesen Gebrauch so eingeweiht, daß es nichts mehr darin findet.
Aber die Bühne jener Zeit benutzte besonders gern die Verkleidung der
Heldinnen in Männertracht, um die armen Knaben, welche in den Weiberrollen
ihr Geschlecht verläugnen mußten, für den größten Theil der Aufführung in
ihre Rechte wieder einzusetzen. Allerdings beweist diese Neigung, wie weit zu
jener Zeit auf die Einbildungskraft der Zuschauer zu rechnen war, da man
ihnen zumuthete. die doppelte Illusion festzuhalten: in Männertracht ein zum
Knaben verkleidetes Madchen zu sehen, das denn doch nach Fleisch und Blut ein
Knabe war.
Rosalindens etwas zudringliche Art, dem Orlando ihre Neigung an¬
zuzeigen, schiebt man wohl auch dem Costüm zu, in dem das Stück sie uns
darstellt.
Weit wichtiger war es. des Helden Orlando Zärtlichkeit gegen den Knaben
Ganymed von bedenklichen Nebenvorstellungen zu befreien, welche der damalige
modische Ton und die Hofsitte nicht scheute. Es erscheint unserer heutigen An¬
schauung fremdartig und unbehaglich, wenn wir Jünglinge in warmer Be¬
geisterung von schönen Knaben reden hören, wie z. B. die beiden Königskuider
in CimbelrM. wie den Prinzen in „Was Ihr wollt", wie den jungen Orlando
in „Wie es Euch gefällt" u. a. in.
Devrient hat diese tändelnden Liebesscenen vortrefflich eingerichtet. Er
fand in dem halben Erkennen, in dem Staunen und Fragen bei des vermeint¬
lichen Knaben Anblick, in dem unerklärvarcn Zuge des Herzens, der den Or¬
lando fesselt und zwingt, auf den Scherz der Verstellung einzugehen und seine
Liebe der verkleideten Rosalinde zu gestehen, ein sehr glückliches Motiv, jeden
Anstoß zu vermeiden. Durch feines, bescheidenes Hervorheben dieser Slun-
mungen, durch Zusatz und Wegnahme weniger Worte wurde das Spiel des
Orlando unserem Bedürfniß angepaßt. Man fühlte bei allen seinen treuherzigen
Betheuerungen, daß seine ganze Sehnsucht und Phantasie bei der fernen Ro¬
salinde war, die ihm durch die Aehnlichkeit des anwesenden Knaben nur theu¬
rer wurde, über der er immer wieder den Gegenwärtigen vergaß.
So war denn das Stück auf einen harmlosen Grundton gestellt, und mit
ungetrübter Freude konnte man sich den zahlreichen Schönheiten hingeben, mit
denen Shakespeares übersprudelnde Begabung selbst diese flüchtige Arbeit erfüllt
hat. Bunte Bilder, reiche Schilderungen, phantastische Schwärmerei, derbe
Schläge einer gesunden Laune, geistreiche Witzeleien und Seitenhiebe, anmuthige
Gleichnisse und heiße Leidenschaft winden sich in einander zu einem gefällig
geordneten Strauß, der die vielen farbigen Blumen in einen künstlerisch wohl¬
thuenden Totaleindruck sammelt.
Was der Aufführung selbst Werth und Reiz gab, waren außer der Kunst
einzelner Mitglieder — vor andern war die Rolle der Rosalinde Leistung eines
schönen Talentes — zumeist die alten Vorzüge der tarlsruher Bühne, das
sorgfältige Einstudiren bis auf das Kleinste herab und die bescheidene Einfüh-
rung des Stückes in die Bedingungen der modernen Bühne. Die Einrichtun¬
gen shakespearischer Stücke durch Eduard Devrient haben den Vorzug, daß sie mit
großer Pietät für den Dichter genaue Kenntniß dessen, was unser Theater von
seinen Wirkungen wiedergeben kann, verbinden. Es wäre zu wünschen, daß
diese Bearbeitungen auf andern Bühnen Verbreitung fänden und daß eine Form
ermitttelt würde, in welcher sie ohne Abdruck des ganzen Shakespearetextes auch
Die Ereignisse des Jahres 1863 hatten, wie wir gesehen, die Thaten der
Armee der Union mit bedeutenden Erfolgen gekrönt und den Besitz der Con-
föderirten fast allein auf die Staaten Carolina, Florida, Alabama, Georgia,
Ostmississippi und Virginia eingeschränkt. Der Norden hatte dies Resultat vor¬
züglich der Energie Granes und dem Umstände zu verdanken, daß in dessen
Hand die gesammten Streitkräfte des Westens gelegt waren. — Alles wies darauf
hin, daß es nur einer weitern Ausdehnung der Gewalt Granes bedürfe, um
auch auf dem entscheidenden Kriegsschauplatz gegen Richmond hin Erfolge zu
gewinnen und dadurch den markfressenden Krieg im Laufe des Jahres 1864 zu
beschließen. —
Gront wurde im März Obergeneral der gesammten Streitkräfte der Union,
erhielt alle Kräfte des Landes zu seiner Verfügung, gab die Nebenkriegstheater
Preis, concentrirte alle Kräfte in Virginien und Tennessee, versah die beiden
hier aufgestellten großen Armeen mit allen nothwendigen Mitteln und ver¬
anlaßte ihre concentrische Wirksamkeit gegen die feindlichen Hauptlande. Trotz¬
dem hat die Union im Jahre 1864 keine entscheidenden Fortschritte gemacht, scheint
vielmehr, wenn die Nachrichten sich klären, auf allen Kriegstheatern ohne großen
Erfolg geblieben zu sein. Es beweist dies noch einmal, welche Bedeutung für
den Krieg die bessere politische Organisation hat; denn nur dieser letzteren
allein, der erhöhten Kraft der Leitung, der größern Gewalt der Führer und
der Stetigkeit der gehorchenden Elemente verdankt der Süden die der Welt so
unerwarteten Erfolge. Den großen Gegensatz zwischen Lincoln und Jefferson
Davis haben wir schon früher kennen gelernt, er ist noch bedeutender geworden
in den schwankenden und abhängigen Verhältnissen, welche für Lincoln durch
den unerledigten Wahlact herbeigeführt wurden. Vielleicht daß die erfolgte
Wiederwahl seine Leitung nunmehr fester, schärfer macht. — Um die größere
Gewalt der Führer zu verstehen, bedarf es nur des Hinweises, daß der Süden
im Jahr 1864 noch dieselben Generale an der Spitze der Armee hatte, welche
beim Beginn des Krieges dazu berufen wurden und noch am Leben sind. Sie
haben sich mit dem Kriege und mit den Truppen eingelebt, sie haben durch
Glücks- und Unglücksfälle gelernt, sind zu Feldherrn gereift; ihre Autorität ist
unabhängig von dem augenblicklichen Erfolg, ihr Schicksal hängt nicht von des
Zufalls Glück ab, sondern ist mit dem des Landes, mit dem endlichen Erfolg
des Krieges verwebt. — In der Unionsarmee dagegen tauchen immerfort neue
Menschen auf, um mit der ersten, über sie fortgehenden Welle der Ereignisse
auch wieder für immer zu verschwinden. Die Kraft, welche sie in der Hand,
habung ihrer Truppe und in der Zueignung der Leute entwickeln, wird als
eine feindliche angesehen; nicht der endliche, sondern der momentane Erfolg be¬
stimmt ihre Stellung. Nicht die Solidität des erstrebten Ziels, sondern der
äußere Effect, das in die Augen springende ihrer Handlungen macht ihren
Ruf. Und was nun endlich die Stetigkeit der gehorchenden Elemente betrifft,
muß zu dem schon früher hierüber Erwähnten hinzugefügt werden, daß, während
in diesem Jahre die Noth die Conföderirten nöthigte, alle ihre weißen Ein¬
wohner vom 18. bis zum 40. Jahre unbedingt in den Dienst zu zwingen und
selbst den Milizen die Verpflichtung aufzuerlegen, außerhalb ihrer Staaten zu
dienen, im Norden vor allen Dingen der Neger und der in Europa getaufte
Söldling zum Soldaten gewählt wurde. — Während im Süden das Volk selbst
immer mehr und mehr in den Kampf hineingezogen wird, vertraut man im
Norden die Durchführung desselben immer mehr solchen Elementen an. welche
den Staatsgewalten fremd sind. — Während im Süden die Leute durch den
Krieg immer brauchbarer, zu alten Truppen werden, wirft der Norden immer
neue Formationen und neue Mannschaften in die Wagschale. — In Betreff
dieser Verhältnisse des Nordens bedarf es noch einiger Auseinandersetzungen.
Hier waren aus der für die letzten Monate 1863 ausgeschriebenen Gestellung
von 300,000 Mann factisch 11,000 Mann hervorgegangen, und zwar weil
nicht das Bedürfniß der Armee, sondern das des friedlichen Bürgers die dabei
leitenden Grundsätze aufgestellt hat. Die Aushebungen finden nämlich in fol¬
gender Art statt: Die aufgeschriebene Zahl wird nach der Einwohnerzahl auf
die einzelnen Staaten vertheilt und ausgeschrieben. Was nun an Freiwilligen
aus dem Staat eingestellt ist, kommt in Abrechnung, die zum Dienst Untaug¬
lichen werden nicht vor, sondern nach der Ziehung ausgesondert, kommen also
in Anrechnung und endlich können die wirklich Gezogenen sich mit 300 Dollars,
welche nicht die Hälfte Courswerth haben, für die Ziehung innerhalb eines
Jahres loskaufen. — Diese Summe bringen die Meisten auf und machen die
Ziehung mehr zu einer Geldoperation, als zu einer Nckrutengestellung. Im
Laufe 1864 sind noch zweimal 500.000 Mann, also eine Million Rekruten aus¬
geschrieben und haben hoch gerechnet 100,000 Mann gebracht. — Das Schlimmste
aber ist, daß jedem das Recht zusteht, einen Stellvertreter zu stellen und hierzu
auch Neger genommen werden können. Daraus ist ein Menschenhandel ent¬
standen, der einerseits sich nach Europa wendet und dort Männer zur Aus¬
wanderung verführt und bei der Ankunft zum Soldaten preßt, andrerseits aber
in den Sklavenstaaten, selbst innerhalb der conföderirten. seinen Markt auf¬
geschlagen hat und Neger zur Freiheit durch Soldatendienst verlockt. — Die
besten und zahlreichsten Elemente für Soldatendienst, die Deutschen und Jrländer,
hat man durch auffallende Bevorzugung des englischen Elements im Avance¬
ment zurückgestoßen und so mehrt sich das dem Staate fremde Element in der
Armee mit jedem Tage. Im Anfang dieses Jahres hatte die Unionsarmee
65,000 Mann Neger in eignen numerirten Regimentern activ; heute betragen
sie mindestens das Doppelte. In große Verlegenheit mit seinen Truppen kam
der Norden im Laufe des Jahres 1864 dadurch, daß die Dienstzeit der 1861
eingestellten, dreijährigen Volunteers mitten im Sommer zu Ende ging. Man
suchte diese Veteranen durch Neuanwerbung zu erhalten und in eigene Corps
zu formiren. Man gewann hierdurch eine Elitetruppe, das zweite Corps von
Hancok, aber keine Cadres für die Rekruten und beging den Fehler, das Corps
statt zur letzten Entscheidung, immer zur Einleitung aller Gefechte zu ver¬
wenden und dadurch sehr rasch abzunutzen. Den vorwiegenden Ersatz der Unions¬
armee nahm man bann in Negern, die stets in sich eine eigene Truppe bilden.
Welche Schwierigkeiten der Union und der Republik aus diesen farbigen Re¬
gimentern am Schluß des Krieges und in der Hand eines ehrgeizigen Generals
oder Präsidenten erwachsen können, wollen wir der Zukunft überlassen.
Wie wenig Werth die Regierung auf den Soldaten als Staatsmitglied
legt, geht aus.dem Umstände hervor, daß man die Kriegsgefangenen, deren
Dienstzeit inzwischen abgelaufen war, nicht austauschen wollte, sondern in den
von den Conföderirten wahrscheinlich absichtlich immer ungesunder ausgewählten
Kerkern fortsterben ließ, bis das Geschrei der Angehörigen nicht mehr überhört
werden konnte. Der Staat wollte dem Süden nicht Soldaten wiedergeben und
dagegen nur Bürger austauschen, man wollte nicht einen Gegner verstärken,
den man nur durch Erschöpfung zu überwinden weiß.
Die Conföderirten leiden vor allen Dingen Mangel an Menschen, um die
Heere auf der entsprechenden Stärke zu erhalten; nur durch die größte Strenge
und Härte in der Durchführung der Conscription gelang es ihnen, im Laufe
des Winters ihre Heere wieder widerstandsfähig zu machen und diesen eine
der Stärke des Gegners einigermaßen entsprechende Anzahl zu geben. — Sie
waren aber nicht im Stande, die Zeit der Schwäche des Gegners, das Frühjahr,
in welchem die Union ihre ausgedienter Leute entließ, resp, neu formirte, zu
benutzen. Sie empfingen in diesem Jahr zum ersten Mal vom Gegner, das
Gesetz zur eignen Bewegung.
Grant entblößte die Nebentriegstheater, welche bisher so viel Mann¬
schaften verbraucht und zum Verlaufe des Krieges nicht beigetragen hatten,
mehr oder minder von Truppen und stellte zwei Hauptheere auf, das eine am
Tennessee, 7 Armeecorps start, das 4., 14., 15., 16., 17. , 20, und 23. unter
Sherman, das andere gegen Richmond, 6 Armeecorps start, das 2., 5., 6.,
9., 10. und 18. unter Meade, jedoch dem directen Oberbefehl von Grant unter¬
geben. Das 7. Corps stand in Arkansas, das 8. hatte das Hauptquartier in
Baltimore, das 19. in Neuorleans und das 22. in Washington. Die in der
Reihenfolge dieser Zahlen fehlenden Corps waren aufgelöst. Die Corps Kalten
eine sehr verschiedene Größe. Das 2., wie schon gesagt, meist aus Veteranen
bestehende Corps zählte beim Beginn des Feldzuges S0,000 Mann, das 9.
nahe ebensoviel; die anderen Corps aber variirten bis zu 10,000 Mann her¬
unter. — Nach den wenigen über die Starke der Truppen gegebenen Details
zählte die Armee von Sherman 1S0.000 Mann, die von Grant 200,000 Mann.
Die Cvnföderirten hatten diesen Masse» entgegen 90,000 Mann unter Lee am
Rapidann; 40,000 Mann uuter Johnston in Nordgcorgia und endlich 40,000
Mann unter Lvngstreet zwischen beiden aufgestellt, um nach Bedürfniß die eine
oder die andere Seite zu unterstützen; während Beauregard mit den virginischen
Milizen in Richmond stand. —
Die kriegerischen Ereignisse des Jahres 1864 beginnen eigentlich erst mit
dem Monat Mai, bis dahin ist nur von zahlreichen Raub- und Plünderungs¬
zügen der beiderseitigen Kavallerie und den durch die Union versuchten Bom¬
bardements von Seestädten zu berichten. In Betreff der ersteren ist zu be¬
merken, daß, was Großartigkeit der Unternehmungen und Reichthum des Er¬
folges betrifft, die Südstaaten entschieden den Vorrang behalten und daß die
von der Reiterei berichteten Wegnahmen von Städten, Zerstörung von Eisen¬
bahnen und dergl. nur dadurch zu erklären sind, daß die nordamerikanische
Cavallerie überhaupt mehr als eine berittene Infanterie anzusehen ist und ihre
Kraft auch zu Pferde mehr im Feuergefecht als in der Vehemenz und Kraft
ihres unmittelbaren Angriffs sucht. Der bereits früher geschilderte, bedeckte
Kriegsschauplatz würde eine Kavallerie, welche allein zu Pferde kämpft, mir
sehr ausnahmsweise zur Anwendung kommen lassen. In Betreff der Hafen¬
bombardements sei bemerkt, daß die Eroberung der Mündungen der in der
Regel sich sehr tief in das Land erstreckenden Häfen überall sehr rasch durch die
gut organisirte und starke Flotte der Union erfolgte, daß aber die weiteren
Vorschritte meist an den bedeutenden Landbefestigungen und anderen künstlichen
Mitteln scheiterten. So sehen wir den Angriff auf Charlestown im Anfang
des Jahres, von Mohne im Lause des Frühjahres und Sommers und den von
Wilmington Ende des Jahres trotz aller ersten Erfolge schließlich aufgegeben.
In der Nacht vom 3. zum 4. Mai begann Grant seine Operationen, in¬
dem er mit 4 Corps (2., S., 6. und 9.) in der Stärke von 150,000 Mann
gegen Lee und seine befestigte Stellung hinter dem Rappahonnock zum Angriff
vorging, während das 10. Corps, das bis dahin in Nordcarolina gefochten
hatte, und das 18., das in Norfolk unter Butler formirt war, vereint von
Fort Monroe aus zu Wasser den Jamesriver hinauffuhr und durch Landung
in der Nähe von Petersburg Richmond direct bedrohte. — Diese Trennung
seiner Macht ist der erste Fehler Granes, der wie eine Reihe folgender darin
seinen Ursprung hat, daß er die Eroberung von Richmond als Ziel seiner
Thaten setzte, während diese von selbst erfolgte, wenn es ihm gelang, die
Armee unter Lee zu schlagen. Statt also alle seine Kräfte zu vereinen und
unausgesetzt zu verwenden, um den lebendigen Gegner todt zu machen und
dadurch Herr des Landes zu werden, sehen wir, wie Grant immer den Gegner
umgehend und nur soweit kämpfend als nothwendig, der todten Masse Rich¬
mond zuzieht und hier seine Kräfte an Verschanzungen und Einzelkämpfen ver¬
geudet. Es ist das alte Lied, daß schwache Feldherrn die Eroberung von
Festungen der entscheidenden Schlacht vorziehen und dabei mehr Zeit, Menschen
und Geld verlieren, als in der blutigsten Schlacht.
Grant umging den linken Flügel des hinter Fredericksburg stehenden Lee
und entwickelte sich am 4. Mai Morgens in der südlich des Rapidann gelegenen,
mit Wald ganz bedeckten Landschaft. Lee griff ihn an, um ihn hinter den Fluß
zurückzuwerfen, an den beiden folgenden Tagen wiederholte er seine Versuche,
Grant aber, der entschieden stärker war, behauptete sich und Lee zog sich nun¬
mehr in eine rückwärtige befestigte Stellung bei Spottsylvania zurück. —
Grant griff nunmehr seinerseits an und es kam wieder zu einem dreitägigen
Ringen, aber zu keinem directen Erfolge. Die wenige Uebersicht, die schmalen
Fronten, in welchen das Terrain gestattete an den Feind zu kommen, die
geringe Anwendung von Artillerie, welche bei den kurzen Gefechtsfeldern
möglich war, gaben Lee trotz der Minderzahl die Mittel, seinem übermächtigen
Gegner zu widerstehen. — Diese sechstägigen Kampfe kosteten der Union 35,000
Mann und viele Generale, und gewannen nur eine» Vormarsch von zwei Meilen.
Unterdeß war Butler mit seinem meist aus Schwarzen bestehenden Corps im
Herzen des Feindes bei City P. und Bermuda Hundred gelandet und hatte
auf der Eisenbahnverbindung zwischen Petersburg und Richmond gewirkt, war
aber im Uebrigen durch die dort aufgestellten Milizen von wirklichen Erfolgen
abgehalten worden. Lee hatte Lvngstreet herangezogen und blieb Grant gegen¬
über kampfbereit stehen. Am 11. Mai ruhten die beiderseitigen Armeen, aber
in der Nacht zum 12. überfiel das 2. Corps die südliche Armee, nahm 40-^-50
Kanonen und 3000 Gefangene, darunter 2 Generale, die darauf sich ent¬
wickelnde allgemeine Schlacht aber raubte die gewonnenen Vortheile zum großen
Theil wieder und kostete der Union 10,000 Todte und Verwundete.
Mit diesem Tage gab Grant die unmittelbare Besiegung Lech auf, hätte
er die Truppen Butters zur Stelle gehabt, war dies nicht nöthig. So that¬
kräftig, schlachtenbegierig und Erfolge versprechend er in diesen ersten zehn Tagen
verfahren hatte, ebenso unentschlossen, in Demonstrationen, Flankenbewegungen,
Bedrohungen des Rückzuges den Erfolg suchend, verfuhr er fortan. Von jetzt
ab hatten die Conföderirten wieder die Gewißheit, dies Kriegsjahr zu über¬
stehen. Granes Bestreben war nunmehr die Vereinigung mit Butter vor Rich-
mond. Er leitete diese Bewegung ein, indem er die Kavallerie seiner Armee
unter Sheridan am 11. Mai um den rechten Flügel des Gegners in dessen
Rücken entsandte und ihn die Verbindungen des Gegners zerstören und ver¬
wüsten ließ. Lee aber blieb ruhig stehen und sandte seinerseits nur Stuart
mit seiner Cavallerie Sheridan entgegen. — Es gelang Stuart, seinem Gegner
bedeutende Verluste beizubringen und ihn zu nöthigen, nach dem Jamesriver
zu Butler auszuweichen; aber er siel dabei und die Conföderirten verloren in
ihm ihren besten und kühnsten Reitergeneral. — Grant, nunmehr um sein
Cavalleriecorps schwächer, versuchte am 13. durch eine Bewegung nach dem
linken Flügel sich zu concentriren. um in die rechte Flanke des Gegners zu
kommen. Lee folgte der Bewegung, anhaltender Regen aber machte die Wege
unbrauchbar und gebot Ruhe. Beide Corps befestigten ihre Stellung. Am
17. trafen sehr bedeutende Verstärkungen bei Grant ein und erst am 18. ver¬
suchte er die Widerstandskraft des Gegners, fand ihn aber fest in seiner Stellung
Am 19. griff Lee an, wurde aber zurückgeschlagen. In der Nacht vom 20.
zum 21. Mai begann Grant seine erste Umgebung des Gegners; er schob
seine Armee in weitem Bogen um den feindlichen rechten Flügel. Lee. statt
ihn im Marsch anzugreifen, schob sich ihm. sobald er den Abmarsch bemerkte,
am Nordanna entgegen, wo die Heere am 23. wieder aufeinandertrafen, der
Uebergang des Flusses aber nach einigen von der Nordarmee geführten kräftigen
Schlägen nicht gehindert wurde. Am Südanna dagegen gewannen die Con¬
föderirten wieder eine feste Stellung, verstärkt von Becmregaro aus Richmond,
der unterdeß Butler geschlagen und ihm 5000 Mann Verlust beigebracht hatte.
Grant versuchte deshalb in weiterem Bogen um den feindlichen rechten Flügel
herumzukommen, indem er wieder über de'n Nordanna zurückging und den
27. Mai den Pamunkey, die Vereinigung der beiden Anna passirte. Er ge¬
wann auf diesem Wege den Uorkriver, die Operationsbasis, welche Mac Clellan
vor zwei Jahren zu seinem ersten Angriff auf Richmond gewählt hatte. Die
bisherige Operationsbasis wurde ganz aufgegeben und verwüstet. Nicht durch
Eroberung, durch Zerstörung und Erschöpfung soll der Süden unterworfen
werden, wie der ganze Krieg des Jahres, zumal der sonst unverständliche Zug
Sbermans darthut. — Lee. statt sich zwischen Grant und Richmond zu schieben,
und sich dadurch dem auszusetzen, daß er in die Stadt hineingeworfen und
gleich Pemberton im vergangenen Jahr in Vicksburg jetzt in Richmond belagert
und ausgehungert würde, nahm Richmond auf seinen rechten Flügel und stellte
sich Grant auf die rechte Flanke. — Dieser, der das 18. Corps von Butler
zu Wasser an sich gezogen und sich mit der Cavallerie Sheridans wieder ver¬
einigt hatte, mußte also die Südarmee aus dieser Stellung vertreiben, ehe er
gegen Richmond vorgeben konnte. Das freiere Terrain der hiesigen Gegend
versprach in einer Schlacht seinem numerischen Uebergewicht eine günstigere Ge¬
legenheit sich zu entwickeln, als ihm bisher geworden. Am 31. Mai. 1. und
2. Juni suchte er durch kleinere allseitige Gefechte die Stellung des Gegners,
die inzwischen befestigt worden war, zu erkennen. Am 3. Juni aber unternahm
er mit seiner ganzen Macht, 5 Corps, den Angriff des Gegners. Dieser schlug
ihn mit einem Verlust von 7000 Mann Todten und Verwundeten zurück.
Grant hatte unterdessen gegen Lee Front machend sich auf dem James-
flnß basirt und war so in die Stellung gekommen, aus welcher Mac Clellan
vor zwei Jahren seinen Rückzug angetreten hatte und welche für den bevor¬
stehenden Sommer mit ihrem feuchten Boden furchtbare Krankheiten versprach.
Aus diesem Grunde und weil er nicht noch einmal hier eine Schlacht wagen
wollte, beschloß Grant wieder seine Basis zu wechseln, also sich in die vierte
zu versetzen; er ging am 14. Juni über den Jamesriver und griff schon
am Is. das wohl befestigte Petersburg im Verein mit dem 10. Corps But-
ters an. Die Milizgarnison vertheidigte den Ort aber wacker, trotzdem ein¬
zelne Trupps in denselben eindrangen. Am 16. traf Beauregard mit den ersten
Verstärkungen ein und es gelang ihm, die nun folgenden Angriffe, von welchen
die des 18. und 19. Juni die bedeutendsten waren, glücklich zu vereiteln. Die
Union verlor in diesen Stürmen 10,000 Mann an Todten und Verwundeten.
— Am 22. und 23. Juni schob Grant seine Truppen weiter links und hier
die Weldoneisenbahn hinter sich zerstörend, brachte er es wieder zu lebhaften aber
nicht glücklichen Gefechten. Grant zog sich zurück, nahm eine Aufstellung, die
er in der nächsten Zeit befestigte und ging nun zu einem geregelterer Angriff
von Petersburg über, in welchem er heute noch begriffen ist. Von seinem ersten
Eintreffen an bis heute haben Reiterschaaren Züge nach West und Süd ge¬
macht, um die, die Conföderirten nährenden Eisenbahnen und Landschaften zu
zerstören und zu verwüsten.
Die wiederholten Wechsel der Operationsbasen beweisen, wie vorteilhaft
für die Union die Herrschaft des Meeres war, sie zeigen aber auch den Mangel
einfacher Anschauungen.in der Führung. — Jeder Wechsel der Basis ist ein
Abschneiden der alten Verbindungslinien und ein Anknüpfen neuer, führt also
nothwendig Stockungen der Verpflegung, der Ergänzung und der Sorge für
Kranke und Verwundete herbei, entfernt die Leichlkranken Plötzlich für lauge
Zeit von der Armee und ist ein Aufgeben des bisher mühselig Eroberten, —
Der von Grant unternommene Wechsel gab ganz Nordvirginia und damit die
nächste eigene Verbindungslinie Preis. Die Folgen dieses Fehlers zeigten die
Conföderirten schlagend, indem sie ihre disponibeln Kräfte dorthin warfen und
den erfolgreichsten Einfall in Maryland und Pennsylvanien machten, den sie im
bisherigen Krieg unternommen haben.
Grant hatte, um seinen Abmarsch über den Jcunesriver zu decken, Sheridan
mit einem großen Theil seiner Kavallerie, wieder um den feindlichen linken
Flügel herum, verwüstend in dessen Rücken gesandt und ihm den Auftrag ge¬
geben, in Verein mit Hunter gegen Lynchburg vorzugehen und dadurch Lee in
der Front zu schwächen. Letzterer Ort nämlich war das bedeutendste Depot und
Lazarett) der Conföderirten und Hunter commandirte Truppen des 8. und 23.
Corps am obern Potomac und im Shenaudoahthal. Am S. Juni nahm Hu»-
ter mit Ueberfall Staunton und zerstörte es größtentheils, während Sheridan
auf gleicher Höhe bei Gordonsville, dem Kreuzpunkt der Eisenbahn nach Lynch¬
burg und nach Staunton, ankam. Beide gingen nunmehr gegen Lynchburg
vor; Sheridan aber, da er kaum einen Gegner fand, begnügte sich mit mög¬
lichster Zerstörung der Eisenbahn und führte dann seine Truppen in weitem
Bogen wieder der Hauptarmee zu, doch nicht ohne schwere Verluste, die ihm
der Gegner, der sich ihm in den Weg legte, beigebracht hatte. Aufgelöst und
abgehetzt kam er wieder bei Grant an. Hunter aber drang zerstörend weiter
gegen Lynchburg vor und griff es am 18. an, ward aber zurückgeschlagen und
floh nach Westvirginien. das Shenandvahthal dem Gegner Preis gebend.
Lynchburg war für Lee, der mit der Front nach Süden gegen Grant
stand, von der äußersten Wichtigkeit, er hatte deshalb bei den ersten Nachrichten
' einer Gefahr sofort ein ganzes Corps unter Early dorthin entsandt und dieser
war gerade rechtzeitig gekommen, um Hunter zu vernichten und nunmehr der
Hauptarmee durch einen Einfall nach Pennsylvanien hinein eine große Erleich¬
terung zu verschaffen. Early eilte im Shenandvahthal vor, schlug die kleinen
dort zurückgelassenen Besatzungen unter Sigel, der hiermit von der militärischen
Bühne verschwindet, besetzte die Uebergänge des Potomac und drang in Mary¬
land und Pennsylvanien ein, selbst Baltimore und'Washington bedrohend und
eine unermeßliche Beute heimführend.
U. G. Wallace, welcher die disponibeln Truppen des 8. und 23. Corps
und die bereits eingetroffenen Theile der eiligst einberufenen 30.000 Mann
Milizen commandirte, wurde bei Hagertown am 9. Juli geschlagen und nur
neue Truppen konnten Washington retten. Diese trafen infolge früherer An¬
ordnungen glücklich in dem von Neuorleans zur Unterstützung Granes he>M°
gezogenen 19. Corps ein, verhinderten ober nicht, daß die Conföderirten, welche
inzwischen hinter den Potomac zurückgegangen waren, mit höchstens 2000 Pfer¬
den noch einmal einen sehr einträglichen Zug bis in das Herz von Pennsyl-
vanien machten und hier eine ganze Armee hinter sich her in Bewegung setzten,
ohne selbst den geringsten Verlust zu erleiden. Es ist charakteristisch für den
Norden, daß bei diesen Raubzügen, welche durchschnittlich Von schwachen Truppen¬
theilen gegen große bevölkerte Städte unternommen wurden, es nicht ein ein¬
ziges Mal vorgekommen ist. daß die Bevölkerung sich organisirt und zur Wehr
gesetzt hätte, während im Süden dies fast alle Mal stattfindet. — Der aristo¬
kratische Süden hat stets Führer, während der Norden in lauter Individuen
sich auslöst und nicht zur Machtentwicklung kommt. Ueber einen Monat hatten
die Conföderirten jenseits des Potomac sich brandschatzend gehalten, am
9. August erst verließen sie Maryland. Theile des 8., 23., des 19. und end¬
lich auch des 6. Corps, letzteres von Grant zur Hilfe gesandt, waren gegen
sie, welche alles in allem bis 10,000 Mann stark waren, in Bewegung ge¬
setzt und das Commando über diese Truppen war Sheridan anvertraut worden.
Am 10. August ging dieser gegen Early, der sich bei Straßburg aufgestellt
und hier Verstärkungen von Lee erhalten hatte, vor, ward aber zurückgeschlagen
und gleichzeitig in beiden Flanken von feindlicher Kavallerie unter G. Moscby
immerfort harcelirt. Sheridan zieht sich, von Early verfolgt, nach Harpers-
ferry zurück und verschanzt sich hier, um verheißene Verstärkungen abzuwarten.
Grant, den wir am 23. Juiu vor Petersburg verlassen haben, hatte am Tage
vorher den G. Wilson mit 8000 Pferden und 16 Geschützen über die Weldon-
bahn und gegen Lynchburg entsandt, am 1. Juli kehrte Wilson ohne Geschütze,
ohne alle Bagage und mindestens um 2000 Mann geschwächt, vollständig auf¬
gelöst zurück. WUson hatte viele Meilen Eisenbahn zerstört, die übrigens in diesen
holzreichen Gegenden immer rasch wieder hergestellt werden, war aber auch mit
seiner Cavallerie für lange Zeit außer Thätigkeit gesetzt. —
Grant begann nun eine Art von regelmäßiger Belagerung gegen Peters¬
burg, indem er eine Stellung von fast einer Meile Länge gegen die Stadt be¬
festigte und unter dem Auswurf von Schanzen immer weiter vorzudringen suchte.
Eine große, gegen den feindlichen linken Flügel angelegte Mine sollte endlich
zum Sturm führen. Um denselben aber durch Schwächung der Besatzung zu
erleichtern, schob Grant Mitte Juli nach und nach drei Corps in seinen-rechten
Flügel über den JameSriver und ließ sie von hier einen directen Angriff gegen
Richmond unternehmen. Die daraus folgenden Gefechte wurden so energisch,
daß Lee am 26. und 27. Juli sich hier zu einer größern Entwicklung seiner
Kräfte verleiten ließ. Am 28. und 29. hatte er infolge dessen östlich Richmond
Erfolge, da er aber inzwischen auch Early entsandt, war Petersburg so sehr
entblößt worden, daß nur drei Divisionen unter Beauregard dort verblieben.
Dies hatte Grant gewollt, er zog in der Nacht zum 30. das 2. Corps über
den Jamesfluß zurück, ließ in aller Frühe des 30. die Mine fliegen und unter¬
nahm mit zwei Corps, dem 9. und 18. den Sturm. Beauregard schlug ihn
zurück und brachte dem Gegner einen Verlust von 3600 Mann bei, während
er selbst nur 1200 Mann opferte. Die Angriffe nördlich des Jamesflusses
hatten der Union ebenfalls über S000 Mann gekostet und so war die Unter¬
nehmungslust Granes für die nächste Zeit abgeschwächt, er gab willig ein Corps,
das 6., nach Washington ab, um den Einfall der Conföderirten in Maryland
zurückzuschlagen. Vor Petersburg und Richmond trat ein Stillstand ein, der
bis heute nur durch partielle Unternehmungen, entweder an der Weldonbahn
oder aber nördlich des Jamesriver unterbrochen wurde. Die Thätigkeit des
Belagerungsbeeres wurde durch Befestigungsarbeiten in Anspruch genommen,
die nur deshalb bis heute noch keine in das Gewicht fallende Fortschritte ge¬
macht haben, weil sie in zu großer Ausdehnung unternommen wurden. —
Grant, dessen Truppen durch die klimatischen Verhältnisse anhaltend decimirt
werden, hat nach den verlustreichen Schlachten des Sommers die Ueberzeugung
gewonnen, daß er ohne das Eintreffen bedeutender Verstärkungen nicht im
Stande sei. srine Aufgabe, die Eroberung von Richmond durchzusetzen. Hof¬
fend blickt er auf Sherman, aber wenn die Conföderirten nur ein wenig ihre
alte Thatkraft behalten haben, kann dieser nur mit Trümmern seiner Armee
zu Grant stoßen. Das Klügste wäre deshalb, er zöge sich zurück und begönne
den Kampf von Neuem von Washington aus. das Land erobernd und organi-
sirend, aber nicht verwüstend; doch der Stolz hält ihn fest. Die Union hatte
ihm beim Beginn des Jahres vertrauensvoll die gesammten Streitkräfte in
die Hand gegeben, sie war überzeugt, daß er den Krieg in diesem Jahre zu
Ende führe und nun soll er sich selbst besiegt bekennen, das kann er nicht.
Er wird bleiben bis er zurückgerufen wird, oder Lee ihn durch glücklichen
Angriff nöthigt, oder aber bis der Winter ihn zwingt Schutz zu suchen.
Aber nicht nur Grant, sondern auch Sherman hat das große Vertrauen,
das man in ihn gesetzt, getäuscht. An Energie hat es keiner von beiden fehlen
lassen, wohl aber an der einfachen Fundamentirung seiner Unternehmungen. —
Sherman, der Nachfolger Granes in dem Commando der Truppen im Westen,
hatte bereits vor Antritt dieses Kommandos in den ersten Tagen des Februar
von Vicksburg aus mit dem 16. und 17. Corps einen Einfall bis in den
Staat Alabama gemacht und hatte diese Bewegung mit einem Vormarsch des
U. G. Smith mit 10,000 Pferden von Corinth aus combinirt. den Conföde¬
rirten war es aber gelungen, sich zwischen beide zu werfen, sie einzeln zu schla¬
gen und gleichzeitig die beiderseitige lange Rückzugslinie zu bedrohen. Die
Folge war, daß beide Generale sich beeilten, wieder zurück zu kommen; natür¬
lich unter obligater Zerstörung der Eisenbahn und möglichster Verwüstung des
Landes. Anfang März traf Sherman wieder in Vicksburg. Smith in Mem-
phis ein. Nunmehr eilte Sherman nach Tennessee, um seine große Armee zu
formiren und seine ferneren Unternehmungen vorzubereiten. Diese Vorberei¬
tungen bestanden neben der Heranziehung und Ausbildung der Truppen in der
Anhäufung der Munition und des Proviants und endlich in der Herstellung
der Wege und Brücken über den Tennessee.
Anfang Mai begann Sherman seine Operationen. Ihm gegenüber stand
der C. G. Johnston mit ungefähr 45,000 Mann in den festen Stellungen,
welche der gebirgige Nordwesten Georgias in reicher Zahl bot. Sherman folgte
der Nashvllle-Dalton-Atlanta-Eisenbahn, zog auf dieser seinen Proviant heran,
und benutzte seine dreifache Uebermacht, um durch stete, weite Umgehungen den
Gegner zum Verlassen seiner starken Positionen zu zwingen; nur in einzelnen
Fällen gelang es Johnston. durch Angriff des getheilten Gegners einen Aufent¬
halt in das stete Vordringen desselben zu bringen; am erfolgreichsten war in
dieser Beziehung das Gefecht bei Resaca am 14. und 16. Mai. in welchem die
Union 4800 Mann verlor, dem Gegner aber 8 Geschütze und 1000 Gefangene
nahm. Die Consödcrirten wichen nach Calhoun zurück und zerstörten die dor¬
tige große Eisenbahn; Sherman bedürfte acht Tage, um zu folgen, dann aber
drang er, durch Nachschub verstärkt, dem sich unausgesetzt wehrenden Johnston
nach, der endlich bei Atlanta, dem Centralpunkt der in das fruchtbare Cenlral-
georgia rückwärts führenden drei Haupteisenbahncn. Halt machte, hier Verstär¬
kungen unter Pott und Pembenon an sich zog, 8000 Mann Milizen um sich
sammelte und sich zu einem entschiedenen Widerstände rüstete. Sherman con-
centrirte alle seine Kräfte und begann am 14. Juni den Angriff der feindlichen
Position; er hatte aber dadurch seine Verbindungen entblößt und diesen Um¬
stand benutzten die conföderirten Reitergenerale Morgan und Forrest, um ihm
seine Nachschübe abzuschneiden und plündernd und zerstörend in Tennessee und
Kentucky, ja bis in den Staat Illinois einzufallen. Sherman ließ sich hier¬
durch nicht stören, seine Aufgabe war, in Atlanta die Wegnahme von Rich-
mond abzuwarten, die Grant infolge seiner Passage des Jamesflusses und Er¬
stürmung von Petersburg in diesen Tage» erwartete. — Dann sollten beide
Armeen, in das Innere der Südstaaten vordringend, sich in Südcarolina ver¬
einigen und dem Gegner den Nest geben. Sherman also schritt zum Angriff
der Position vor Atlanta; es kam zunächst auf Erzwingung des Uebergangs
des Chatahochee an, welchen Johnston in der Stellung von Kencsan verthei¬
digte. Am 22., 23. und 27. Juni kam es zu blutigen Gefechten, welche nicht
siegreich waren und in denen die Union allein am letzten Tage über 3000 Mann
verlor, welche aber doch den Gegner nöthigten, den Fluß in den nächsten Tagen
zu räumen und sich nach Atlanta zurückzuziehen. Mitte Juli erst entwickelte
Sherman seine Kräfte vor diesem Ort; am 2. September besetzte er ihn. nach-
dem in vergeblichen Sturmversuchen und wiederholten Ausfällen beide Armeen
ungeheure Verluste erlitten hatten und reichten es Sherman gelungen war.
mit seinem rechten Flügel die Eisenbahn von Atlanta nach Macon und damit
die Rückzugslinic des Gegners zu besetzen. Hood. der für den inzwischen er^
tränkten Johnston das Kommando übernommen hatte, entzog sich glücklich durch
Abmarsch nach Osten dem drohenden, umfassenden Angriff in Atlanta. Neben
diesem Angriff um Atlanta her gehen Rciterzüge der Union unter Stoneman
und der Conföderirte» unter Wheelcr, welche beide die Verbindung des Geg¬
ners wiederholt fassen, die Eisenbahnen zerstören und die Nachschübe unterbrechen,
aber für Sherma» die Vernichtung seiner Cavallerie herbeiführen und ihm
damit die Freiheit der Bewegung nehmen. Das Corps Stvnemans nämlich,
das sich zu weit vorgewagt und getheilt hatte, wurde dabei fast ganz aufgerieben.
Sherman richtete Atlanta zur Festung ein, vertrieb alle Bewohner ans
dem Ort und folgte Hood, der bereits am 8. September sich ihm wieder ent¬
gegenstellte und ihn zur Umkehr nach Atlanta nöthigte. Die Verbindung nach
Tennessee war für Sherman inzwischen ganz unterbrochen worden und Hood
bedrohte durch eine Flankenstellung den Rückmarsch. Die Reiterei der Confvde-
rirten beherrschte die ganze Umgegend. Unter diesen Umständen war es das
Natürlichste, ,dah Sherman mit seiner Armee Kehrt ma.este, den Tennesseefluß
als sichere Communicationslinie wieder gewann, sich mit Cavallerie completiren
und dann seine Operationen von Neuem gegen Hood unternahm. Das wohl¬
befestigte Atlanta konnte er einer Garnison anvertrauen und einer Belagerung
überlassen, bis er wiederkam. — Statt dessen suchte er durch Separatverhand-
lungen mit dem Staate von Georgia seine Gegner zu sprengen; als dies schei¬
terte, ging er noch einmal gegen Hood vor, dieser wich aber und da Sherman
wegen seiner unsicheren Verbindungslinie nicht weit folgen konnte, kehrte
er wieder nach Atlanta zurück und faßte nunmehr den überraschenden Entschluß,
dieses und das nördliche Georgia dem General Thomas mit dem 4. und 23.
Corps zu überlassen und mit den andern fünf Corps nicht die rückwärtige,
naturgemäße, sondern die vorliegende Verbindung mit Grant oder mit einem
der östlichen Häfen am atlantischen Ocean zu eröffnen. Er hoffte wohl, daß
Hood ihm nachfolgen und Thomas die Behauptung der eroberten Lande ge¬
statten würde. — Der Conföderirtengeneral beschloß aber, die Uebermacht des
Gegners ziehen zu lassen, den zurückbleibenden Theil zu schlagen und das Ver¬
lorne Terrain wieder zu gewinnen. Es gelang ihm. Am 28. October trat
Sherman seinen Zug nach Süden an und Ende November belagerte Hood seinen
Gegner Thomas in der Hauptstadt von Tennessee. in Nashville. Freilich ist
es diesem gelungen, aus dem reichen Norden wieder Kraft zu schöpfen und seinen
Gegner in einer zweitägigen Schlacht zu schlagen, aber der Schluß des Jahres
sieht Hood noch im Besitz des südlichen Tennessee und das ganze Georgia mit
Ausnahme der Hafenstadt Savanncch vom Gegner befreit. Letzterer Ort wurde
am 22. December von Sherman nach achttägiger Belagerung am Ende seines
langen Zuges eingenommen.
Sherman zählte bei seinem Abmarsch von Atlanta ungefähr 60,000 Mann
und hatte bis nach Savannah oder Charleston, wohin die beiden nach Osten
gehenden Eisenbahnen führten, einen Weg von 50 deutschen Meilen zurückzu¬
legen, mußte also auf einen mindestens 2Stägigen Marsch rechnen, der dadurch
verdoppelt wurde, daß er keine Verpflegung bei sich führte, sondern immer große
Stationen zu machen hatte, um Proviant aus der, wenn auch fruchtbaren, doch
äußerst dünn bevölkerten Gegend weither heranzuführen. — Nach den bisher
gewordenen Nachrichten hat Sherman am 12. December die Umgegend von
Savannah in einer Stärke von 30,000 Mann erreicht, hat also 46 Tage zu
jenem Marsch verwandt und dabei die Hälfte seiner Leute verloren, ohne einen
andern als einen stets vor ihm weichenden, aber von allen Seiten ihn umge¬
benden Feind gegen sich zu haben. Die Milizen, welche überall gegen ihn auf¬
geboten wurden, waren nicht im Stande ihn zu schlagen, aber sie zwangen
ihn zu immerwährender Thätigkeit und schnitten ihm jeden Menschen ab, der
krank oder müde, einmal vom großen Ganzen getrennt wurde. Dies wird
keine geringe Zahl gewesen sein, da die Disciplin in der Unionsarmee an sich
nickt gros ist und eine bedeutende Einbuße dadurch erleiden mußte, daß der
ganze M.usch plündernd und verwüstend unternommen wurde.
Sberma» verließ Atlanta i» zwei Colonnen und folgte den Bahnen von
Ananta nach S.'vannah und Charleston. letzterer aber nur bis Augusta, von
wo er der Verbindungsbahn nach ersterer folgte und an dieser bei Miller sich
wieder vereinigte. Von hier aus ging der Marsch, geschützt von den dicht
in den Flanken fließenden Strömen Savannah und Ogeehee, gesicherter vor
sich als bisher. Die Eisenbahnen und alle bedeutenden, nicht verwendbaren
Vorräthe ließ Sherman zerstören und sein Marsch ist insofern für geraume
Zeit im Lande selbst und in den nur kärglich zugemessenen Mitteln der Con-
söderirten sehr fühlbar, große, den Kräften und Verlusten entsprechende Re¬
sultate hat der Zug nicht gehabt. — Der Besitz von Savannah an sich hat
keine Bedeutung, im Gegentheil, er fordert eine Besatzung, welche im offenen
Felde besser zu verwerthen ist. Savannah wird deshalb nur als Ausgangspunkt
zu weiterer Bewegung dienen; zu welcher, kann noch nicht übersehen werden.
Es scheint aber, nach dem gleichzeitigen Angriff gegen Wilmington zu schließen,
daß Sherman beabsichtigt, längs der Küste gegen Charleston vorzudringen und
direct mit Grant in Verbindung zu treten.
Wenn wir nun in Kürze noch die Bewegungen auf den andern Kriegs¬
theatern berühren, so müssen wir uns zunächst dem Shenandoahthal zuwenden,
Wo wir Sheridan Mitte August bei Harpersferry befestigt und Earlv in Straß-
bürg verlassen hatten. Sheridan, der nunmehr hinreichende Verstärkungen er¬
halten, gina, einem Vormarsch Earlys gegen Winchester entgegen, griff ihn hier
am 18. September an. schlug ihn und nahm ihm fünf Kanonen und 2500 Ge¬
fangene ab, mit einem eigenen Verluste von S000 Todten und Verwundeten.
Early floh das Shenandoahtbal hinauf, wurde noch einmal bei Straßburg
eingeholt abermals um elf Kanonen, 1100 Gefangene geschwächt, und dann
bis Woodstock verfolgt. — Sheridan. am 29. bis Staunton vordringend, trifft
hier aber auf den von Richmond herbeigeeilten Longstrcet und wird zurückge¬
wiesen, zieht sich nach Straßburg zurück, wo es am 19. October zur Schlacke
kommt, in welcher Longstreet. anfangs siegreich, endlich weichen muß und sich
bis Newmarket zurückzieht. —
Sheridan, um ein ferneres Vordringen des Gegners unmöglich zu machen,
gebt zur Verwüstung des Thals über, wird aber von Longstreet wieder ange¬
griffen und gegen Winchester zurückgewiesen; in welcher gegenseitigen Stellung
nach einzelnen kleinen Gefechten wir sie am Schlüsse des Jahres noch finden.
Tennessee und Kentucky sind im Laufe des Jahres das Kauptsäcklichste
Tummelfeld des kleinen Krieges gewesen, in welchem den besser organisirten
Conföderirten überall der Sieg gehört. Hier waren es zumal die Reitergenerale
Forrest und Morgan, welche Ruhm geerntet, ihren Namen aber durch die
furchtbaren Verwüstungen, welche sie unternommen, befleckt haben. Bei Be¬
ginn des Jahres kämpften sie nur mühselig um ihre Existenz, mit den eisten
Erfolgen aber mehrten sie ihre Leute und ihre Mittel, bildeten eine Armee,
durchzogen das ganze Land, drangen wiederholt über den OKio vor und fnlnten
unermeßliche Beute heim. Morgan ist inzwischen gefallen. Einer der kecksten
Züge von Forrest war, daß er mit höchstens 2000 Pferden das von mehren
tausend Mann der Union unter dem Corpsgeneral Washburne besetzte Mem-
phis überfiel, die Garnison zum Theil gefangen nahm, den Ort brandschatzte
und rechtzeitig wieder abzog. In Westtennessee behauptete sich Forrest bis zum
Ende des Jahres und hat schließlich dazu beigetragen, daß der bei Nashville
geschlagene Hood hinter dem Duckriver wieder Halt und Stellung gewann.
In Osttennessee hatte Sherman den General Gilten zurückgelassen, der zur
Zeit sich nach Knoxville vor dem siegreich vordringenden C. G. Breckinridge
zurückgezogen und den Kampf mit diesem dem aus Westvirginien vordringenden
U. G. Burbridge überlassen hat. Ueber das Resultat der dortigen Kämpfe
liegen bis jetzt ganz widersprechende Nachrichten vor und es darf daher behauptet
werden, daß es noch nicht gelungen ist. in Osttennessee und Westvirginien Herr
der Conföderirten zu werden.
In Louisiana hatte Banks von Neuorleans aus einen Zug den Redriver
hinauf gemacht, war aber von den Conföderirten hart mitgenommen, selbst
mehrer Kanonenboote beraubt und darauf von Canby ersetzt worden, der sich
auf die Behauptung des schon von Butler eroberten, südlichen Landestheils
beschränkte. In Arkansas hatte Steele versucht, zur Vereinigung mit Banks
gegen Süden zu operiren, war aber ebenfalls zurückgeworfen worden und hatte
Price, der die Conföderirten commandirte, Gelegenheit gegeben, wieder eine
größere Macht zu formiren und siegreich sogar in dem längst für ihn Verlornen
Missouri vorzudringen. Seinem Fortschreiten in dem nördlichen Theile dieses
Staates stellte sich Rosecrans in der Gegend von Jefferson entgegen und schlug
ihn.-aber nur soweit, um ihn vom Vormarsch gegen Se. Louis abzuhalten.
Rosecrans mußte seine Herrschaft an Dodge abtreten.
Die Conföderirten haben die Gewalt in diesen Staaten wiedergewonnen,
die Conscription hier sofort vorgenommen und ein Heer formirt, zu dessen Ueber¬
windung der Union augenblicklich die Mittel fehlen. Auch die Indianer haben
infolge dessen sich wieder erhoben und in den Monaten October und November
blutige Raubzüge unternommen.
Der Feldzug 1864 muß in Betracht der aufgewandten Mittel für den
Norte» als wenig glorreich bezeichnet werden. Die Eroberungen am Mississippi
sind bis auf einzelne feste Punkte verloren gegangen. In Tennessee und Ken-
tucky. die von den Conföderirten am Schluß des Jahres 18K3 ganz aufgegeben
waren, haben dieselben wieder festen Fuß gefaßt. In Westvirginien verliert
der Norden immer mehr Boden und in Ostvirginien fristet Grant seine Existenz
nur durch seine Verbindung mit dem Meere. An der Küste von Nordcarolina
ist der Besitz auf Newbern beschränkt, in Südcarolina behauptet man vielleicht
Savannah. Nur in einer Richtung Hai der Norden Bedeutendes geleistet! er
hat ungeheure Länderstrecken des Südens verwüstet und diesen in allen Lebens¬
adern getroffen. Beugt er dadurch den Geist seines Gegners, so hat er seinen
Zweck, die Unterwerfung erreicht, hält der Süden aber fest und kämpft den
Kampf der Verzweiflung, so haben die Generale sich selbst die Aufgabe. man>
lieh die Eroberung des Landes erschwert und am Ende werthlos gemacht. Die
Conföderirten haben bis jetzt sich selbst in dem Kampfe eingesetzt, die Union
nur ihr Geld, jenes Capital ist bei weitem größer und kräftiger als dieses.
Wird der Norden dies anerkennen und den Süden freigeben, oder wird auch
er sich selver. die eigene Volkskraft einsetzen und damit sich den Sieg sichern?
Diese Frage muß die nächste Zeit lösen. Die Wiederwahl Lincolns, eines
Mannes, dem jedes gcwaltigende Element fehlt, scheint darauf hinzuweisen,
daß der erstere Fall eintritt und Nord und Süd sich durch einen Frieden
trennen. Dem wiedergewählten Lincoln wird dieser Schritt leichter wie jedem
Andern.
Koch C. Fr., historische Grammatik der englischen Sprache I. Bd.; Die Laut- und
Flexionslehre der englischen Sprache. Weimar, Bostan.
„Verglichen unter einander und als Objecte der Naturkunde des Geistes
betrachtet, nach der Analogie ihres innern Baues in Familien gesondert, sind
die Sprachen," sagt Alexander von Humboldt im zweiten Theile seines Kosmos,
„eine reiche Quelle des historischen Wissens geworden. Eben weil sie das Pco-
duct der geistigen Kraft des Menschen sind, führen sie uns mittelst der Grund-
züge ihres Organismus in eine dunkle Ferne, in eine solche, zu welcher keine
Tradition hinaufreicht. Das vergleichende Sprachstudium zeigt, wie durch große
Länderstrecken getrennte Volksstämme mit einander verwandt und aus einem ge¬
meinsamen Ursitze ausgezogen sind, es offenbart den Weg und die Richtung
alter Wanderungen, es erkennt, be» Entwickelungsmomenten nachspürend, in der
mehr oder minder veränderten Sprachgestaltung, in der Permanenz gewisser
Formen oder in der bereits fortgeschrittenen Zertrümmerung der Auflösung des
Formensystems, welcher Volksstamm der einst im gemeinsamen Wohnsitze üblichen
gemeinsamen Sprache näher geblieben ist." Die Sprachen so in ihrer histo¬
rischen Entwicklung zu betrachten ist eine der refultatvollsten Arbeiten der neue¬
ren Zeit, der letztverflossenen siebzig bis achtzig Jahre. Vor allen waren
es Männer deutscher Wissenschaft, welche das vergleichende Sprachstudium schufen
und förderten. Immer mehr Sprachen wurden in das Bereich scharfsinniger
Forschung gezogen, nie geahnte Resultate erzielt, eine große neue Wissenschaft
ist erstanden.
Eine bislang fühlbare Lücke ist durch Kochs historische Grammatik der eng¬
lischen Sprache ausgefüllt worden für die Sprache, welche die Vermittlerin
germanischen und romanischen Elementes ist. Auf die Sprache wirkt nicht
nur die ursprüngliche Anlage, die Stammeseigenthümlichkeit ein, sondern jede
durch die Zeit herbeigeführte Abänderung der innern Richtung und jedes äußere
Ereigniß, welches die Seele und den Geistesschwung der Nation hebt oder
niederdrückt, vor allem aber der Impuls ausgezeichneter Köpfe. Dies Alles
läßt sich bei der englischen Sprache sehr gut verfolgen, man denke an die vielen
Einwanderungen, an das Ringen des germanischen und romanischen Elementes,
um die Oberhand zu gewinnen, an die große Geschichte des Volkes, an die
Mannhaftigkeit und den Adel der geistigen Arbeit, welche sich in der Sprache
Englands niedergeschlagen haben.
Das erwähnte Werk hat auch die Mundarten in den Bereich seiner
Betrachtung gezogen. Der Verfasser sagt darüber in der Vorrede: „Die mo¬
dernen Schriftsprachen sind auf gleiche Weise entstanden. Ein Dialekt liegt zu
Grunde; politische Verhältnisse oder literarische Erscheinungen oder beide heben
denselben und machen ihn zur Gesammtsprache der Nation; aber die in den
verschiedenen Landschaften forlklingenden Dialekte führen dieser Gesammtsprache
stets neue Elemente zu. So ist unsere neue hochdeutsche Sprache ein mittel¬
deutscher Dialekt, der zu officiellen Gebrauche in Sachsen gelangt, im öffent¬
lichen auswärtigen Verkehr Elemente aus anderen oberdeutschen Dialekten zuläßt,
durch die religiösen Kämpfe sich über Deutschland ausbreitet und Schriftsprache
des ganzen Volkes wird, der aber noch heute aus den Dialekten sich bereichert.
Der Dialekt Castiliens, der durch die ganze Mitte der Halbinsel von dem nörd¬
lichen bis zum südlichen Meere erklingt, ist zur Gesammtsprache Spaniens ge¬
worden. Einer der drei nordfranzösischen Dialekte — ob der pikardische, lo¬
thringische oder burgundische, ist bis jetzt nicht festgestellt — wird Schriftsprache
Frankreichs. Will man daher eine Schriftsprache historisch begründen, so muß
man mit den Dialekten beginnen. Diese müssen in ihrem historischen Verlaufe
und ihren unterscheidenden Eigenthümlichkeiten dargestellt werden. Erst dann
läßt sich mit Sicherheit bestimmen, von welchem Dialekte die Schriftsprache
ausgeht, welche Schriftsteller zuerst aus den Schranken dieses Dialektes heraus¬
treten, welche Abweichungen sie sich erlauben und wodurch diese veranlaßt sind,
wie der so theilweise umgestaltete Dialekt sich über die anderen Dialekte erhebt
und Gesammtsprache wird. Ob eine solche Darstellung möglich ist, das hängt
freilich von den nothwendigen literarischen Documenten ab. — Auch die englische
Schriftsprache hat sich so entwickelt, wahrscheinlich aus dem binnenländischen
Dialekte. Auch bei dem Versuche sie historisch zu begründen, wird man von
den Dialekten ausgehen müssen, um Haupt- und Nebencontribuenten mit Sicher¬
heit herausfinden zu können. Allein erst in späterer Zeit wird die reiche Lite¬
ratur die Durchführung eines solchen Versuches ermöglichen. Denn noch fließen
die historischen Quellen, obgleich die englischen Philologen in der Erforschung
ihrer Sprache sehr thätig sind, nicht so reichlich, um eine Geschichte der Haupt-
dialckte schreiben zu können; noch sind die gegenwärtigen Dialekte nicht aus¬
reichend wissenschaftlich bearveitet. um die Eigenthümlichkeiten derselben feststellen
zu können. Die Behandlung, die sie in den zahlreichen Glossaren erfahren, ist
mehr lexikalisch als grammatisch. So lange nicht ein reicheres Material und
eine genaue grammatische Darstellung der Dialekte vorliegt, wird eine historische
Begründung der Schriftsprache unvollständig sein und es wird kein anderer
Weg übrig bleiben, als der, den der Verfasser eingeschlagen und in der Ein¬
leitung dargelegt hat."
Das Keltische wurde bekanntlich nicht nur von den Bewohnern der bri¬
tischen Inseln gesprochen, sondern auch von den Bewohnern Belgiens, Galliens
und eines Theiles von Spanien. Schriftliche Denkmäler aus der ältesten Zeit
haben sich nicht erhalten, denn die Druiden (Priester der Eiche, vom keltischen
äern, Eiche) schrieben ihre Lehren, aus Furcht, sie verbreitet zu sehen, nicht
auf, sondern beschränkten 'sich auf mündliche Ueberlieferungen und, um in
der Einsamkeit Forschungen und Betrachtungen anzustellen, welche dem in ihre
Mythen und Lehren Nichteingeweihten fremd bleiben sollten, legten sie ihre
Schulen in den abgelegensten Orten der Wälder an. Der Lehrer hielt seinen
Vertrag in Versen, deren Zahl sich auf viele Tausend belief und die der
Schüler auswendig lernen mußte. Diese Lehrmethode war so schwierig, daß
ein ganzes Leben dazu erforderlich war, um sich mit den sämmtlichen wissen¬
schaftlichen Grundlagen derselben bekannt zu machen. Die ältesten altiri¬
schen Denkmäler stammen aus dem achten oder neunten Jahrhundert. — Gegen¬
wärtig unterscheidet man zwei Hauptzweige des Keltischen: das Gallsche, wozu
das Neu-irische, die jetzige Sprache der Jrländer, gehört, von welcher das Schotti¬
sche (Hochschottische, Erstsche) wenig, das Manische (auf der Insel Man) weiter
absteht; und das Bretonische, das aus dem Kymrischen in. Wales und dem Ar-
morischen oder Bas Breton in Bretagne besteht. Zu demselben gehört auch
das Cornische in Cornwallis, das gegen Ende des vorigen Jahrhunderts aus¬
starb. Die nahe und lange dauernde Berührung, die zwischen Kelten und
Angelsachsen stattgefunden hat, mag manches Wort eingeführt haben und zu
ganz verschiedener Zeit, obgleich dabei nicht außer Acht zu lassen ist, daß einzelne
Wörter beiden Sprachen als Gliedern desselben Stammes, des indoeuropäischen,
gemeinsam gewesen sein können. —
Auch in England zog römische Sprache und Sitte mit den römischen Le¬
gionen ein. Die lange Dauer der römischen Herrschaft, die stehenden Lager,
die Ansiedelungen der Veteranen, das Aufblühen bedeutender Städte, ihre leichte
Verbindung durch Straßen förderten eine Bildung, von der noch jetzt zahlreiche
Alterthümer zeugen. Dennoch wurden aber erst seit der Einführung des Christen.
thumS und durch die damit bedingte nähere Beziehung zwischen England und
Rom eine größere Anzahl lateinischer Worte ins Angelsächsische eingeführt.
Da kein Denkmal aus der Zeit der Einwanderung der germanischen
Vol?er in England vorhanden ist, so wissen wir auch von ihren Sprachen
nichts Sicheres. Wahrscheinlicherweise haben sich die Juden in Kent nieder¬
gelassen, da sich daselbst keine auf das Altnordische hinweisende Eigenthümlich¬
keiten erhalten haben. Die Angeln saßen im Norden der Themse und nahmen
das ganze Küstenland ein. In Anglia, das zwischen Themsemündung und
Wash halbinselartig vorspringt, zerfallen sie in ein Süd- und Nordvolk (Suf-
folk, Norfolk), breiten sich über das Innere bis zur Grenze von Wales und
füllen das Gebiet zwischen Humber und dem Römerwall. Ihre Mundart mag
dem Sächsischen und Friesischen ähnlich gewesen sein. Diejenigen Sachsen aber,
welche in Verbindung mit den Angeln den gemeinsamen Zug nach Britannien
unternahmen, waren transalbingische Sachsen, die sich schon mundartig Von
den weiter südwestlich wohnenden Stammesgenossen unterschieden.
Die auswandernden Deutschen nun ändern ihre Wohnsitze und mit
diesen ihre Sitte; die alte Heimath und mit ihr der Schauplatz ihrer Sage
und Geschichte geht ihnen verloren; die harten blutigen Kämpfe im neuen
Lande drängen die Lieder von heimischen alten Helden zurück und machen sie ver¬
gessen. Von der Meeresküste über Ebenen und Hügellandsch after breiten'sie
sich bis zum walisischen Gebirgslande aus und vermischen sich mehr oder min¬
der mit den britischen Ureinwohnern. Es entstehen kleine Staaten, welche lange
getrennt neben einander bleiben, bis endlich andere Gewalt sie vereinigt. Mußte
hier nicht der Entwicklungsgang der Sprache ein ganz anderer sein, als aus
dem Festlande? Die deutschen Mundarten aber, welche seit dem fünften Jahr¬
hundert auf der britischen Insel erklangen von der Südküste bis zu den Gebirgen
Schottlands und von der Ostküste bis zu den Bergen von Cornwallis, Wales
und Cumberland, werden mit dem gemeinsamen Namen des Angelsächsischen
belegt.
Zwei Hauptmundarten lassen sich im Angelsächsischen unterscheiden, eine
südliche, die sächsische, und eine nördliche, die anglische.
Vieles Altnordische wurde eingeführt durch die öfteren Einfälle der skan¬
dinavischen Normannen d. i. Norweger und Dänen, namentlich aber dadurch,
daß die letzteren sich wohnlich niederließen und endlich dänische Könige von
1002 bis 1041 das angelsächsische Reich beherrschten. Den nördlichen Mund¬
arten Englands ist infolge dieses altnordischen Einflusses ein einfacher, dunkler
Vocalismus, ein härterer Konsonantismus und manches andere eigenthümlich.
Bereits vor der Eroberung Englands durch die französischen Nor-
mannen begann das Französische in England einzudringen. Eduard der Be-
kenner wurde an dem Hofe des Normanncnherzogs Richard erzogen. Als er
mit zahlreichem Gefolge nach England zurückkehrte, ward französische Sprache
und Sitte am Hofe heimisch. Daß nach der Invasion mit der Macht und
dem Einflüsse der Normannen sich auch ihre Sprache stets mehr verbreitete
und befestigte, war nicht zu verwundern. Wie nun im Laufe der Zeit Heide
Sprachen, das Angelsächsische und das normannische, gegenseitig auf einander
wirkten, wie groß namentlich der Einfluß des Französischen auf die Ausbildung
der englischen Sprache gewesen, wollen wir hier nicht weiter ausführen. Wir
beschränken uns auf die Bemerkung, daß für die Sprachvcrhältnisse jener Zeit
die didactische Poesie vorzugsweise charakteristisch ist. Sie beginnt lateinisch um
die Mitte des zwölften Jahrhunderts, wird im dreizehnten Jahrhundert fran¬
zösisch und im vierzehnten Jahrhundert englisch. Während ficZzuerst Ausdruck
frommen Eifers ist und sich an die kirchlichen Gelehrten wendet, will sie im frau-
zösischen Gewände auf die höheren Stände wirken, im englischen aber auf die
Gesammtheit des Volkes
Das Charakteristische des Englischen ist eine bedeutende Abschwächung der
angelsächsischen Bildungsformen und eine starke Beimischung des französischen
Sprachstoffs. Natürlich treten beide Erscheinungen nur ganz allmälig ein, weshalb
man auch durchaus nicht ein bestimmtes Jahr als Beginn des Englischen an¬
geben kann. In der Geschichte der englischen Sprachen aber lassen sich drei
Perioden unterscheiden: Altenglisch, Mittelenglisch und Neuenglisch.
Hundert Jahre umfaßt die Periode des Altenglischen, welche man füglich
auch die des Schwankens in Laut, Schrift und Darstellung nennen könnte.
Während dieser Zeit stehen zwei Accentuationsgesetze einander gegenüber, schwä¬
chen die alten Formen sich mehr und mehr ab. In der starken Conjugation
mindert sich der Plurale Uhland und in der schwachen geht der vollere Ablci-
tungsvocal des Präteritums in das flachere e über; die Pluralendung des Prä¬
sens fehlt schon bisweilen, der Infinitiv stößt sein n oft ab und im activen
Particip fleht iuZ neben nördlichem eMö, anäe und selbst französischem aut.
Die Declination des Substantivs zeigt nur Trümmer, den Genitiv des Singu¬
lar auf — s> es, is und den des Plural auf — vus, letzteren selten, beide
aber oft vertreten durch Präpositionen. Die unverstandene Dvppelform des
Superlativs in — est wird vertauscht mit dem leichter begreiflichen most.
Auch bei den Fürwörtern schwächen sich die Formen ab, die Genitive der Per-
sonalpronomina verschwinden gänzlich, der Dativ und Accusativ fallen zusam¬
men, der Dativ wird durch Präpositionen unterschieden und der Genitiv ersetzt.
Die französische Accentuation greift allenthalben in das deutsche Gebiet über.
Bis in das sechzehnte Jahrhundert hinein reicht die Periode des Mittel¬
englischen, welche im Gegensatz zum Altenglischen die Periode der Rcconstruction
genannt werden kann. In der Conjugation mindern sich die starken Verden,
der Plurale Uhland beginnt zu schwinden und die Infinitive stoßen oft ihre
Endungen ab. Bei den Substantiven schwindet, die umlautenden Plurale aus¬
genommen, der Genitiv des Plurals. Die Beugung der Fürwörter beschränkt
sich auf Nominativ und Accusativ, nur im Interrogativ bleibt noch der Genitiv.
Waren im Altenglischen durch das Eindringen der französischen Accentuation
die deutschen Elemente ins Schwanken gerathen, so beginnt jetzt eine wohlthä¬
tige Reaction und eine Menge französischer Wörter werden bereits von Dichtern
auch mit deutscher Betonung gebraucht.
Betrachten wir nun das aus dem Wege völliger Vereinigung des germa¬
nischen und romanischen Elementes fortgeschrittene Neuenglisch, so gewahren
wir bald, daß es in technischer Beziehung im siebzehnten und achtzehnten Jahr¬
hundert eine solche Durchbildung erfahren hat, daß es die Kraft der germa¬
nischen Sprachen mit der Geschmeidigkeit der romanischen vereinigt und für
jede Darstellung, sei es in Poesie oder in Prosa, völlig durchgebildet erscheint.
Wie bereits beim Mittelenglischen im Verhältniß zum Altenglischen bemerkt
wurde, mindern sich hier die starken Verden noch mehr, ebenso der Unterschied
zwischen singulären und pluralem Ablaute im' Präteritum. so daß nur ein
Uhland bleibt, der sich aber sehr oft auch mit dem des passiven Particips mischt.
In der Conjugation erhält sich nur die zweite Person des Singular im Prä¬
sens und Präteritum des Indicativ und die dritte Person des Singular im Prä¬
sens. Imperativ und Infinitiv fallen in der Form zusammen. die Partici¬
pien des Activum werden auf — ing gebildet, die des Passionen schwacher Ver¬
den auf — ca, während die starken Verden oft en, n abgestoßen haben. Die
Declination des Substantivs ist bis auf einen im Gebrauch beschränkten Geni¬
tiv des Singulars, dessen Form auch auf die umlautenden Pluralformen über¬
tragen worden ist, ganz verschwunden, die Steigerung des Adjectivs ist be¬
schränkt. Personal- und Demonstrativpronomina fließen zusammen, der No¬
minativ z^s wird durch den Accusativ z^on verdrängt. Die größte Veränderung
jedoch zeigt sich in der Accentuation, indem eine große Anzahl romanischer Wör¬
ter deutscher Betonung unterliegt.
Schon in der angelsächsischen Periode traten .mundartliche Verschiedenheiten
auf. welche weder die lange Entwickelung der Sprache, noch auch die Ge¬
meinschaft, in der die einzelnen Grafschaften Jahrhunderte lang gewesen sind,
haben verwischen können. Nach diesen Verschiedenheiten lassen sich drei Gruppen
unterscheiden, von denen die erste den Süden und Westen, die zweite die mitt¬
leren Grafschaften und Ostangeln, und die dritte den Norden Englands und
Schottland umfaßt.
Die erste dieser drei Gruppen spaltet sich nun wieder in drei mundartliche
Gebiete, und zwar in ein südwestliches in Cornwall, Devon, Dorset und Som¬
merset bis zum Parret; ein südliches in Hamps, Sussex, Surrey und Kent;
und ein westliches in Gloucester, Monmouth und Shrops.
Die Gruppe der mittleren Grafschaften, welche namentlich in den Laut¬
verhältnissen große Verschiedenheiten ausweisen, zerfallen in die ostanglische
Mundart in Suffolk und Norfolk, Cambridge, Huntington. Leicester und Rut¬
land, sodann in die der inneren Grafschaften Hereford, Warwick, Northampton
und Nottingham.
Viel Eigenthümliches bieten die nördlichen Mundarten Englands dar.
Der Norden von Durham und Northumberland nähern sich dem Schottischen.
Das letztere, die Sprache Niederschottlands, gelangt früh zur Ausbildung und
hat auch eine selbständige Literatur hervorgebracht, beginnt aber seit der Ver¬
einigung Schottlands mit England zu einer Mundart herabzusinken. Im
Schottischen finden sich der besonderen politischen Verbindungen Schottlands
und Frankreichs wegen viele französische Wörter, die dem Englischen jsehlen.
Wenn wir die Veränderungen vergleichen, welche mit den übrigen ger¬
manischen Sprachen im Laufe der Zeiten vorgegangen sind, so wird uns
unmöglich, jene vorhin erwähnte Abstumpfung und Abschwächung der For¬
men, also das Schwinden der sinnlichen Schönheit, mit einem Einflüsse des
Französischen in Verbindung zu bringen. Unabhängig von jeder äußeren Einwir¬
kung geschehen diese Veränderungen. Die Vereinfachung der Formen ist ein
charakteristischer Zug aller neueren Sprachen: so haben die romanischen Sprachen
die Declination längst aufgegeben, ein großer Theil unserer deutschen Mundarten
kennt bereits keinen Genitiv und Dativ mehr und ersetzt sie durch Verhältni߬
wörter. Keine der deutschen Schrift- und Volkssprachen ist indessen so weit
gegangen als das Englische, alle haben den verschiedenen Artikel zum Unter¬
schied der Geschlechter, alle den Unterschied zwischen schwacher und starker De¬
clination, alle die von der ersten Form des Singular verschiedenen Pluralsormen
im Präsens und Präteritum u. a. in. bewahrt, was das Englische schon seit
beinahe fünf Jahrhunderten völlig aufgegeben hat. Und doch zeigte das Angel¬
sächsische vor dem Eindringen der Normannen keineswegs eine größere Neigung
zur Abstumpfung und Vereinfachung der Formen als die anderen germanischen
Sprachen. Zum größeren Theil war aber die Vereinfachung der englischen
Sprache schon vollendet, als die Mischung mit französischen Wörtern überHand
nahm. Wenn wir demnach einerseits dem Eindringen des französischen Ele¬
mentes auf die Gestaltung der Sprache einen Einfluß nicht absprechen kön¬
nen, stellen wir andererseits mit dem Vefasser die Behauptung auf, daß das
Englische nicht aus dem schriftmäßigen Angelsächsischen, sondern aus den wahr¬
scheinlich vor der Eroberung schon vielfach abgeschliffenen angelsächsischen Mund¬
arten hervorgegangen sei.
Ueber Künstler und Kunstwerke von Hermann Grimm. (Januarheft.)
Berlin, Ferd. Dümmler. 1865.
Hermann Grimm, Verfasser des „Leben Michel Angelos", eröffnet die
Aussicht auf eine neue Monatschrift über Künstler und Kunstwerke, die Be¬
sprechungen bringen und.neue Quellen mittheilen wird, welche sich während der
Herausgabe des Blattes erschließen. Auf alle Fälle wird die Feder des
Herausgebers Aufsätze liefern, die durch Darstellung und Stil erfreuen. Er
ist ein liebenswürdiger und enthusiastischer Kritiker, mit der wohlthuenden
Bescheidenheit, die weder ein Urtheil mit stürmischer Hast aufdrängt, noch die
Meinung Anderer mit pedantischer Intoleranz unterschätzt. Aber er wird bei
der übernommenen Arbeit finden, daß ihm selbst die Schwierigkeiten und Zwei¬
fel sich mehren. je mehr er mit den Einzelheiten eines Gebietes vertraut wird,
das er setzt beim Beginn des Werkes wohl noch zu wenig kennt.
Er beginnt ausführlich und aufrichtig die Gründe darzulegen, die ihn zu
diesem Unternehmen bestimmten. In beredten Worten schildert er die Vortheile,
die für Staaten und Städte aus einer Pflege der Kunst erwachsen; und es
setzt nur in Erstaunen, daß diese feststehenden Wahrheiten, sei die Aufzählung
auch noch so anmuthig, seinem Publikum überhaupt noch vor Augen geführt
werden müssen.
Der erste Gegenstand, den er behandelt, ist gerade geeignet, seine Be-
fähigung stark auf die Probe zu stellen. Er spricht über Leonardo da Vinci,
den großen Florentiner, der seine Geburtsstadt verließ, um sich in der Haupt¬
stadt der Sforzas niederzulassen; der'gleich allen berühmten toscanischen Künst¬
lern eine Schule gründete, die sich in der Lombardei üppig entfaltete; der wie
Andrea del Sarto die Gastfreundschaft eines französischen Königs annahm,
und der im hohen Alter weit von der Heimath entfernt starb.
Eine richtige Beurtheilung der Leonardo zugeschriebenen Werke ist eine der
schwersten Aufgaben, an die auch ein technisch tief durchbildeter Kunstkenner
nach jahrelangem Studium noch vorsichtig heranzutreten Ursache hat.
Herr Grimm zögert nicht, seine Ansicht zu geben. Was nun die für das
berliner Museum neu erworbene Madonna mit dem Kinde betrifft, so muß hier
das Urtheil suspendirt bleiben, da Schreiber dieser Zeilen .das genannte Bild
nicht gesehen hat. Aber wir halten uns zu der Erklärung verbunden, daß wir
durchaus von seiner Ansicht da abweichen, wo es sich um den Maler des be¬
sprochenen Bildes „Schweißtuch der heiligen Veronika" handelt. Grimm will
das Bild dem Leonarde vindiciren. Allein dies Bild rührt zwar nicht von der
-Hand Correggios her, aber es gehört ganz unzweifelhaft'seiner Schule an.
Die Gründe, auf welche die Autorschaft Leonardos sich stützen soll, be¬
ruhen offenbar mehr auf einer Eingebung des Gefühls als auf einem gründ¬
lichen Studium der Technik des großen florentinischen Meisters. Ja Grimm
scheint uns überhaupt unter einem Irrthum zu leiden in Bezug auf toscanische
Kunst zur Zeit des da Vinci und der unmittelbar vorhergehenden Periode; er wird,
unserer Ansicht nach, keinen Kunstkenner von der Wahrheit seiner Behauptung
überzeugen, daß florentinische Malerei bis zur Zeit Verrochios'von miniatur¬
artiger Auffassung und Färbung beeinflußt gewesen. Im Gegentheil hielt sich
gerade in Florenz die Kunst frei von jeder Spur solcher Technik. In der
frühen Schule von Umbrien ist es, wo sich diese Richtung geltend macht; dort
war es auch, wo die Kunst am längsten in ihrer Entwickelung stillstand.
Und dann wiederum zu behaupten, daß Leonardo der erste gewesen, der
sich von dieser Richtung losmachte und das Studium der Sculptur in An¬
regung brachte, heißt vergessen, daß Uccelli den Grund zum Studium der Plastik
legte, auf dem die Pollaiuoli und Berrochio weiter bauten. Das große und wohl-
bekannnte Perdienst, das diese Meister hatten, indem sie den Weg zu Leonardos
Große anbahnten, wird bei solcher Auffassung unbillig ignorirt. Auch dünkt
uns da ein großer Irrthum obzuwalten, wo der Herausgeber des neuen Blat¬
tes die verschiedenen Vorzüge Leonardos und Pcruginos vergleicht, die beide
Schüler in dem Atelier Vcrrochivs waren. In der Werkstatt dieses Malers
lernte» zweifellos beide Chiaroscnro und Luftperspective; aber die Zwei waren
Künstler von verschiedenem Charakter und Repräsentanten verschiedener Empsin-
dungsweiscn. Leonardo, der Philosoph und Mathematiker, hielt sich an Licht
und Schatten und gelangte durch langes und tiefes Studium zu einer vollen¬
deten Kenntniß ihrer Effecte. Perugino hingegen blieb mit Ausnahme einer
glanzvollen Periode, in welcher seine Composition mit der aller größten Floren¬
tiner wetteiferte, in dem conventionellen umbrischen Geleise. Dennoch glauben
wir nicht mit Grimm, daß er von Leonardo verdunkelt worden wäre, wenn dieser
in Florenz blieb. Denn Perugino besaß eine Eigenschaft, die Leonardo nicht hatte,
und die wohlgeeignet war, die größte Bewunderung der Zeitgenossen zu erregen.
Sein Talent für Luftperspective stand beinahe auf gleicher Höhe mit der Tech¬
nik seiner Mitschüler, aber sein Vortheil vor Leonardo bestand in seinem leb¬
haften Gefühl für Colorit. Diese Begabung machte ihn zum Modemaler, und
es ist sehr fraglich, ob er nicht noch Größeres geleistet hätte, wenn nicht die
Modebeliebtheit mit dem sich daran heftenden Hang zum Gewinn seine Kunst
bis zu dem Mechanismus überschneller Arbeit herabgewürdigt hätte.
Mehre Seiten der ersten Nummer geben unserem Vorrath authentischer
Documente eine willkommene Bereicherung. Wir können nie zu viel solcher
Originalbriefe von den Zeitgenossen Michelangelos erhalten, wie die vor uns
liegenden von Daniel von Volterra, — aus denen wir z. B. mit Sicherheit erfah¬
ren, wo Michelangelo in Rom wohnte. — Ebenso interessant sind auch die
Svnnetbruchstücke von Bramante, als eine Bestätigung der Angaben, die
Lomazzo und andere Geschichtschreiber über die Laufbahn des großen Architekten
machen.
Die von dem Freiherrn August von Haxthausen herausgegebenen Aufsätze
über das constitutionelle Princip sind zunächst für das gebildete russische Pu¬
blikum bestimmt. Herr von Haxthausen, der sich durch eine immerhin un¬
gewöhnliche Kenntniß der russischen Zustände auszeichnet, hielt es nämlich nicht
für unwahrscheinlich, daß auch in Rußland Versuche gemacht werden, das
Staatswesen im liberalen Sinne umzugestalten, ohne daß sich freilich voraus¬
sagen lasse, mit welchen Erfolge. Unter diesen Umständen erschien es ihm
wünschenswerth, „daß de» gebildeten Russen, den Staats- und Geschäftsmännern
(nicht den russischen Fachgelehrten) eine richtige und klare Einsicht über das
Wesen und die Principien des konstitutionellen Systems, seine Geschichte und
die Wirkungen bei dessen Einführung, Fortbildung und Ausbildung vorgelegt
und mitgetheilt werde". Diesem Zwecke ist das vorliegende Buch gewidmet.
Die Ausführung des Unternehmens, bei dem es dem Herausgeber darauf an¬
kam, das Wesen des Constitutionalismus von verschiedenen Standpunkten aus
beleuchten zu lassen, wurde den Herren Biedermann. Held, Gneist, Georg Waitz
und Kosegarten anvertraut.
Wie weit das Unternehmen den praktischen Zweck, den es zunächst verfolgt,
zu erreichen Aussicht hat. vermögen wir nicht mit Sicherheit zu beurtheilen, weil
dazu eine ganz specielle Kenntniß der russischen Zustände erforderlich ist. Wir
müssen für unser Urtheil daher einen allgemeineren Maßstab anlegen und
fragen, ob überhaupt das Werk geeignet ist. politische Bildung in einem
weiteren Leserkreise zu verbreiten. Im Allgemeinen darf man diese Frage
bejahen. Im ersten Bande giebt Herr Biedermann eine Darstellung und
geschichtliche Entwicklung der gegenwärtig bestehenden Repräsentativverfas¬
sungen, mit besonderer Berücksichtigung der Wahlsysteme; eine Arbeit, die
auch für politisch gebildete Leser wegen der Klarheit und Übersichtlichkeit, mit
der das gesammte Verfassungswesen der Gegenwart in allgemeinen Umrissen
gezeichnet wird, anziehend, wie unterrichtend ist. Mit besonderer Sorgfalt ist
überall der Wahlmodus und die Zusammensetzung der Volksvertretungen an¬
gegeben. Die geschichtlichen Entwicklungen sind genügend und zuverlässig.
Von den vier Aufsätzen des zweiten Bandes erwähnen wir zuerst den
letzten, von Herrn Professor Kosegarten in Gratz: „Die Volkswahlen und die
Volksherrschaft in ihren politischen und socialen Wirkungen. Mit besonderer
Beziehung auf die Jetztzeit." Der Verfasser ist ein entschiedener Gegner des
Constitutionalismus. ein Bewunderer der absoluten Monarchie auf der Grund¬
lage mittelalterlicher Ständeeinrichtungen. Es wäre zu wünschen gewesen, daß
der konservative Standpunkt in diesem Buche in einer wenigstens eine Discussion
ermöglichenden Weise vertreten wäre. Dies ist aber nicht der Fall. Nur um
unser Urtheil zu begründen. greifen wir aufs Gerathewohl einige Ansichten und
Behauptungen aus der Abhandlung heraus: Der Kampf der Whigs und
Torys wird als ein Kampf der Bourgeoisie und Aristokratie dargestellt; mit
Wohlgefallen wird erwähnt, daß ein gut unterrichteter englischer Geschicht¬
schreiber die Regierung der Elisabeth eine greuliche nennt; ein« der Haupt¬
ursachen zum Sturze des streng gewissenhaften Jakobs des Zweiten war, daß
die Besitzer ehemaliger Kirchengüter, weil er Katholik war, nicht ruhig schlafen
konnten; England steht vor einem Bürgerkriege der Reichen und Proletarier,
(mit Berufung auf Bucher und eine wohl mißverstandene Stelle von Gneist).
— In Frankreich trug vor der Revolution den größten Theil der Abgaben der
Adel mit den Landleuten ohne Unterschied; die großen äons gratuits der Geist¬
lichkeit hatten deren Verschuldung zur Folge. (Wir empfehlen zur Vergleichung
Sybel, Gesch. d. Revol.-Zeitalters zweite Auflage S. 119: Aus einer Jahres-
einnahme von 100 Mill. Zehnten und 60 bis 70 Mill. Güterertrag hatte er
(der Klerus) bisher nicht sehr regelmäßig dem Staate eine Steuer von 3 bis 4
Mill. gezahlt und die der Kirche anvertrauten öffentlichen Bedürfnisse des Unter-
richts und der Armenpflege sehr unzulänglich besorgt. — Begeistert ist der
Verfasser für das ständische Wesen, in welchem unter anderm jeder Bauer» von
seinem Grundherrn vertreten wird, „wie es noch jetzt in Mecklenburg, einem
der glücklichsten deutschen Länder, der Fall ist." — Auch auf die östreichische
Verfassung ist der Aussatz nicht besonders gut zu sprechen. Unter die Schatten-
seiten des östreichischen Verfassungsrechtes rechnet der Verfasser „den Mangel
einer gewissen nothwendigen Begrenzung des Mitwirtungsrechtes bei der Ge¬
setzgebung." In Bezug auf die Schleswig-holsteinische Frage will er nicht er¬
örtern, ob ein genügender Grund zum Kriege mit Dänemark vorhanden war,
ist jedoch der Meinung, daß. wenn der hauptsächliche Grund dieses Krieges in
der Nachgiebigkeit der Regierungen den Volksabgeordneten und Demagogen
gegenüber zu suchen sein sollte, dadurch ein Beispiel gegeben sein würde, welches
die traurigsten Folgen für die zunächst bevorstehende Zukunft Europas ahnen
lassen müßte. Besonders schlimme Folgen fürchtet die Phantasie des Herrn
Verfassers auch von einer etwaigen Aufhebung der Büchercensur in Rußland.
Die Spekulation oder die Propaganda würde nämlich nicht verfehlen, das be-
rüchtigte Buch Renans in Tausenden von Exemplaren unter die russischen
Bauern zu verbreiten, und allmälig könnte es ihr gelingen, auch dies gläubige
Volk zu verderben. — Einen unangenehmen Eindruck macht es, daß die vier
griechischen Wörter, die in der Abhandlung vorkommen, sämmtlich durch Druck¬
fehler entstellt sind, zweimal ö^o? statt ö^o?, /ukro-«ot ohne Accent und /soo-ep
statt /?->^.
Auf den vortrefflichen Aufsatz von Gneist: „Das Repräsentativsystem in
England" haben wir nicht nöthig näher einzugehen, da derselbe im Wesent¬
lichen eine klare und scharfe Zusammenfassung der Resultate seines größeren
Wertes ist, das wir in diesen Blättern schon besprochen haben. — Die gründ¬
lichen, mit großer Umsicht, Besonnenheit und Sachkenntniß verfaßten Aufsätze
von Held (Die politischen und socialen Wirkungen der verschiedenen politische»
Wahlsysteme) und Georg Waitz (Ueber die Bildung einer Volksvertretung) machen,
wie billig, die Beantwortung der Frage, aus welchen Elementen und nach wel¬
chem Wahlmodus eine Volksvertretung zu bilden sei, von den social-politischen
Verhältnissen abhängig, wie sie in jedem Staate bestehen. Diejenigen allge¬
meine Giltigkeit beanspruchenden Grundsätze, zu denen besonders Waitz trotz
der Bedingtheit der ganzen Frage dennoch gelangt, werden am zweckmäßigsten
bei der Besprechung des concreten Falles erörtert werden, zu der uns der zweite
Theil von
Constantin Rößler nimmt jedenfalls unter den preußischen Publicisten eine
hervorragende Stellung ein. Begabt mit einem scharfen Blicke für die Schwie¬
rigkeiten, die in Preußen der Consolidirung des Verfassungswesens entgegen¬
stehe.», ist er doch weit entfernt, von dem Ernst der Frage sich entmuthigen zu
lassen, oder die idealen Ziele der Freiheit preiszugeben; vielmehr geht sein Be¬
streben gerade dahin, die thatsächlichen Hindernisse einer Weiterentwickelung
der Verfassung, vor denen man wohl die Augen verschließen kann, die man
aber durch Jgnoriren nicht aufhebt, aus dein Wege zu räumen. Indem er
bemüht ist, die verfassungsmäßigen Institutionen dadurch zu wirksamen Organen
des Staatslebens zu machen, daß er sie mit dem vollen Inhalte der lebendig
im Volke webenden Kräfte zu erfüllen sucht, hat er. wie jede productive Kraft,
Anspruch auf die allgemeinste Beachtung seiner Arbeiten. Auf unbedingte Billi¬
gung seiner Vorschläge in allen ihren Einzelheiten wird er dagegen weniger
rechnen können, selbst bei denen nicht, die in den Zielpunkten vielfach mit ihm
übereinstimmen.
Die Gegenstände, die Herr Rößler in der zweiten Abtheilung seiner Stu¬
dien behandelt, sind 1) der Staatsrath und das Herrenhaus. 2) die Verant¬
wortlichkeit der Minister. 3) die Bildung des Abgeordnetenhauses. Wir wollen
von der Erörterung der ersten beiden hochwichtigen Punkte vorläufig absehen
und uns für dieses Mal mit den Ansichten des 'Verfassers über die' Bildung
des Abgeordnetenhauses beschäftigen.
Herr Rößler geht von der Untersuchung aus, in wie weit die gesetzgebenden
Körperschaften, oder wenigstens eine derselben, die Ansichten und den Willen
ihrer Konstituenten zu repräsentiren habe, und kommt zu dem Ergebniß, dem
wir uns vollständig anschließen, daß die Mitglieder der Körperschaft nicht einen
fremden Willen zu repräfenti^er haben, daß sie vielmehr völlig selbständig über
die ihnen vorliegenden Fragen entscheiden und durch die Discussion derselben
die politische Bildung des Volkes weiter fördern sollen. „Das Parlament ist
keine Körperschaft weder zur Vertretung noch zur Darstellung eines gegebenen
Inhalts, sondern berufen zur Schöpfung eines neuen Inhalts." Da es aber
auch zur Leitung des Volksgeistes berufen ist, so muß es in richtig abgemesse¬
nen Perioden sich der Probe unterwerfen, wie es auf den Volksgeist gewirkt
hat. Daß diese Auffassung des Wahlrechts, in so fern sie die Wechselwirkung
zwischen Parlament und Volksgeist ignorirt. schief und einseitig ist. beeinträch¬
tigt die Nichtigkeit der Gcsammtanschauung nicht, die ja auch von den meisten
Verfassungen anerkannt wird, indem dieselben dem Abgeordneten ein freies von
dem Einflüsse' seiner Konstituenten unabhängiges Mandat zusprechen. Wäre es
anders, so wäre ja auch jede Discussion überflüssig; die Entwickelung des
Staates aber wäre verfassungsmäßig aus den staatskörpcrschaftcn hinaus in
die Gesammtheit der Wähler verlegt worden. Wie weit dennoch ein Einfluß
der Wähler auf die Abgeordneten stattfindet, ist keine constitutionelle. sondern
eine thatsächliche Frage. Die Einwirkungen der modernen Verfassungen auf dies
Verhältniß sind nur indirect. indem allerdings z. B. die Dauer der Wahlperioden
thatsächlich von bedeutendem Einflüsse auf die größere oder geringere Abhängigkeit
der Abgeordneten von den Wählern ist. Wir werden übrigens auf das Ver¬
hältniß der öffentlichenMeinung zum Parlament noch weiter unten zurückkommen.
Wenn wir die Stellung der Volksvertretung in dieser Weise auffassen,
so ist damit schon die Ansicht widerlegt, nach der dieselbe eine Vertretung der
verschiedenen socialen Interessen sei» soll. Bekanntlich ist einer unserer größten
Staatsrechtslehrer, Robert v. Mohl, für diese Auffassung eingetreten, welcher
Herr Rößler mit der Achtung, die jeder Ansicht des berühmten Rechtslehrers
gebührt, entgegentritt. Ohne auf die Einzelheiten der scharfsinnigen Polemik
einzugehen, wollen wir nur das Eine bemerken, daß eine Vertretung der Inter¬
essen der Ausdruck eines unrichtigen Verhältnisses zwischen Staat und Gesell¬
schaft sein, oder ein solches begründen würde. Sehen wir nämlich die Volks¬
vertretung als eine Vertretung der sämmtlichen Berufsinteressen an, so würde
damit auch für den Staat kein anderer Begriff sich ergeben, als der einer
Zusammenfassung der sämmtlichen Interessen der Staatsangehörigen; d. h. der
Staat wäre ein Product dieser Interessen, er wäre der Gesellschaft untergeord¬
net, und in seinem Wesen ebenso veränderlich, wie die wechselnden Interessen
derselben. Nun steht aber der Staat seiner Idee nach vielmehr über der Ge¬
sellschaft, allerdings nicht absolut unabhängig von derselben. Denn wollte er
eine großartige sociale Veränderung ignoriren, würde also die Gesellschaft in
dem Staate mit Recht ein Hinderniß ihrer Entwickelung sehen, so würde
sie, um ihrer Aufgabe genügen zu können, man möchte sagen, um ihre Existenz
zu sichern, kein anderes Mittel haben, als den Staat selbst zu bekämpfen, und
die Herstellung des Gleichgewichts zwischen Staat und Gesellschaft würde dann
nur auf dem Wege der Revolution erfolgen können. Also eine dauernde un¬
unterbrochene Ausgleichung ist nothwendig; aber — und dies ist der entschei¬
dende Punkt — sie kann nicht durch die Gesellschaft, sie muß durch den
Staat erfolgen. Wir betrachten es als eins der größten Verdienste Greises. so
viel zur Aufklärung dieses Verhältnisses beigetragen zu haben.
Im Folgenden bekämpft der Verfasser das allgemeine, unbeschränkte und
directe Wahlrecht, unterwirft sodann das System John Stuart Mills einer
sehr ausführlichen und vernichtenden Kritik und erklärt sich auch gegen das un¬
mittelbare Hervorgehen der Abgeordneten aus den communalen Körperschaften.
Zur Kritik des gegenwärtig in Preußen herrschenden Wahlsystems über¬
gehend hebt der Verfasser hervor, daß dasselbe eigentlich niemanden befriedige,
weder die Demokratie, die sich, und zwar mit Recht, darüber beklage, daß das
Princip der Gleichheit darin verletzt sei; noch die Conservativen, die sich durch
dasselbe fast von jeder Theilnahme an dem Hause ausgeschlossen sehen; noch die
Regierung, die in dem Wahlsysteme die Ursache sehe,'daß das Haus sich nicht
zu einer staatsmännischen Haltung erheben könne. — Mit Fug und Recht kann
man wohl behaupten, daß ein ernstlicher Versuch, das Wahlgesetz gegen die
von allen Seiten gegen dasselbe gerichteten Angriffe zu vertheidigen, kaum ge¬
macht ist. Es bringt nicht einmal, was doch vor allem zu verlangen wäre,
eine Gleichmäßigkeit in der Abstufung zu Wege. da. wie der Verfasser hervor¬
hebt, bei der noch unvollständigen Durchführung des directen Steuersystems
nicht einmal die Staatssteuern, viel weniger noch die Communalsteucrn, die
in vielen Städten als Maßstab der Wahlclassification ergänzend eintreten, den
richtigen Maßstab für die gesellschaftliche Bedeutung des Besteuerten angeben.
Der Verfasser geht nun bei seinen Reformvorschlägen insofern von dem
Bestehenden aus. als er, um den Forderungen der Demokratie, soweit dieselben
berechtigt seien, genug zu thun, an dem allgemeinen Wahlrecht festhält, die
classificirte Abstufung desselben dagegen verwirft. Entzogen weiden soll das
Recht zur Theilnahme an den Wahlen den Mitgliedern des stehenden Heeres
und des Beamtenstandes. Jeder UrWahlbezirk, aus 1000 bis 2000 Seelen be¬
stehend, ernennt einen Wahlmann. (Nach dem gegenwärtig geltenden Gesetze
kommt aus 250 Seelen ein Wahlmann; der Verfasser will durch seinen Vorschlag
die bei der Zusammenlegung mehrer Kreise zu einem Wahlbezirk oft unförmliche
Größe der Wahlmannskörper beseitigen.) Die Stimmabgabe ist öffentlich, sie
geschieht nicht wie bisher in einem Act, sondern das Wahlbüreau ist acht Tage
lang geöffnet; die Abstimmungsliste wird durch das Kreis- oder Communal-
vlatt veröffentlicht. Zu Wahlmännern sind nur Personen wählbar, die in der
Gemeinde, zu der der UrWahlbezirk gehört, oder, wenn derselbe mehre Bezirke
umfaßt, in einer dieser Gemeinden, mindestens drei Jahre lang den höchsten
Satz der Classensteuer, oder, wo diese nicht besteht, einen Satz der Einkommen¬
steuer bezahlt haben; königliche Beamte und Mitglieder des stehenden Heeres
sind nicht wählbar. In Betreff der Qualification des zu wählenden Abgeord¬
neten mag es bei der bisherigen Bestimmung. daß er das dreißigste Lebensjahr
überschritten haben muß, bleiben; weitere Beschränkungen, also etwa die For¬
derung der Ansässigkeit im Wahlbezirke, sind nicht zu statuiren. Die Zahl der
zu wählenden Beamten, die als Specialitäten nicht ganz zu entbehren sind,
werden auf sechzig beschränkt. Sollten mehr als sechzig Beamte gewählt sei»,
so werden ihrer so viele, als über die gesetzliche Zahl gewählt sind, durch das
Loos zum Rücktritt verpflichtet; zu Gunsten eines aufgelösten kann freiwillig
ein anderer aus der Zahl der Beamten ausscheiden; eines Urlaubs bedürfen
die Beamten nicht, so wenig wie sie Stellvertretungskostcn zu tragen haben.
Dagegen fallen die Diäten für alle Abgeordneten fort. Die Dauer des Man¬
dates ist von drei auf sieben Jahre zu erhöhen. Dreißig Abgeordnete werden
nach einem unter den einzelnen Wahlkreisen wechselnden Turnus für jede Wahl¬
periode vom König ernannt,
Daß wir es hier mit einem wohldurchdachten und zusammenhängenden Wahl¬
system zu thun haben, erkennt man auf den ersten Blick. Es sollen Garan¬
tien für die Wahl tüchtiger und geeigneter Abgeordneter geboten werden; es
soll der übermäßige Einfluß der öffentlichen Meinung auf das Haus gemindert,
und eben dadurch soll die Macht des Hauses, das Gewicht seines Auftretens
nach allen Seiten hin gesteigert werden. Daß das preußische Haus nicht die
zur kräftigen Ausübung' seines Berufes erforderliche Autorität besitzt, ist nicht
zu bezweifeln. Der parlamentarische Sieg ist gegenwärtig weit entfernt, ein
Sieg des Parlamentes zu sein.'
Es fragt sich nun aber doch: ist dieser Uebelstand bis zu gewissem Grade
Folge des ungenügenden provisorischen Wahlgesetzes, odtzr läßt sich annehmen,
daß er auch unter der Herrschaft eines andern, z/B. des von dem Herrn Ver¬
fasser vorgeschlagenen Gesetzes sich geltend gemacht haben würden. Ist es also
zunächst eine Folge des Dreiclasscnsystemes, daß sich feste parlamentarische Par¬
teien, stark genug, um sich nicht unbedingt einer jeden Stömung der öffentlichen
Meinung hinzugeben, bis jetzt nicht haben bilden können? Wir glauben, nein!
Die Aufregung, welche durch die Hecresreorganisation in Perbindung mit dem
Stocken der Neformgcsetzgebung hervorgerufen wurde, war so überwältigend, daß,
— in dem kritischen Entwicklungsstadiuni, in dem wir uns befinden, in einer
Zeit, in der das Land in raschem Wechsel die ganze Scala der politischen
Stimmungen durchgemacht hatte, von völliger Apathie zu der Aufregung, die
jede hochgespannte Hoffnung verursacht, von da zur Enttäuschung, zum Mi߬
trauen, wenn nicht in die Gesinnungen, doch in die Kräfte der alten bewährten
Borkämpfer des Liberalismus — das Wahlgesetz des Herrn Verfassers schwer¬
lich wesentlich andere Resultate herbeigeführt haben würde. Das vorgeschlagene
Wahlgesetz will eine gewisse Solidität der Wahlen durch die Forderung einer
bestimmten Qualifikation für das Wahlmannsamt erzielen. Nun ist es aber
doch klar, daß die Majorität der Urwähler eines Bezirkes, mag sie angehören,
welcher Richtung sie wolle, unter den Notabeln ihres Bezirkes jedenfalls einen
Mann finden wird, von dem sie überzeugt sein kann, daß er ihr Mandat in
dem Sinne übernimmt, in den, sie es ihm überträgt, ja daß er unbedingt die
Person wählen wird, die von den Leitern der Partei zum Abgeordneten be¬
stimmt ist. Und wenn unter den Notabeln mehre Parteigenossen sich befinden,
so kann man. zumal in aufgeregter Zeit, mit Sicherheit darauf rechnen, daß
nicht, wie der Verfasser voraussetzt, der respektabelste unter ihnen, sondern der¬
jenige gewählt werden wird. Von dem man mit der größten Sicherheit anneh¬
men kann, daß er an dem vorher bestimmten Partcicandidatcn mit der größten
Zähigkeit festhalten wird. Denn der UrWähler hat stets das, und wie wir glauben
vollkommen gerechtfertigte Interesse, den Wahlmann zu einer bloßen Stimm¬
maschine zu machen, und dadurch die indirecte Wahl thatsächlich in eine directe zu
verwandeln; wir wüßten nicht, durch welche Mittel man hierin eine Veränderung
bewirken könnte. — Der Verfasser glaubt, daß in Wahlmännercollegicn, die aus
100 bis 150 Notabeln bestehen (je nachdem zwei oder drei Kreise gemeinschaft¬
lich wählen) die Einzelnen selbständiger dastehen, sich ihrer moralischen Ver¬
antwortlichkeit in höherem Grade bewußt sein werden, als in den bisherigen
viel stärkeren Kollegien. Wir halten dies für einen Irrthum, sobald man dem
Wahlmann eine höhere Pflicht als die, strict nach der Anweisung der Partei
zu stimmen zumuthet; ja wir sind überzeugt, daß in dem Zwischengliede zwi¬
schen UrWähler und Abgeordneten die Parteiströmung sich unter allen Umstän¬
den in schroffster Weise'fixiren wird, daß die WahlMännercollegien die eigent¬
lichen Brennpunkte des Par'teiwesens sind, daß sie stets nach der Rolle permanenter
Parteiausschüsse zur Überwachung der Abgeordneten streben werden. Wenn ein
Abgeordneter in irgendeinem Punkte von dem Parteiprogramme abzuweisen
sich in seinem Gewissen gedrungen fühlt, jedoch eingedenk der eingegangenen
Verpflichtung sich vor selbständigem Handeln scheut,' und sich deshalb an die
Wahlmänner mit der Bitte »in Indulgenz wendet, so kann man mit großer
Wahrscheinlichkeit annehmen, basi diese die ganze Schale ihres Zorns und Mi߬
trauens über den schwankenden und unzuverlässige» Abgeordneten ausschütten
werden. Denn sie sind ja unter allen Umständen (und würden es auch unter
dem Wahlgesetze des Herrn Verfassers sein) die Quintessenz der Partei, haben
also ihre nächste» Beziehungen nicht mit den gemäßigten, sondern mit den
extremen Parteigenossen unter den Urwählern, So ist die Mittelstufe recht
eigentlich der Sitz nicht der gemäßigten und vermittelnden, sondern der extre¬
men Meinungen; sie hindert vor allem, daß die Entwickelung des berechtigten
Parteiwesens in das Parlament selbst gelegt werde, d. h. daß die Parteiströ¬
mungen des Landes sich der Leitung der parlamentarischen Parteien unterordnen;
wie es doch bis zu einem gewissen Grade sein muß. wenn die Parteigegensätze
schrittweise zu einer Ausgleichung gelangen sollen. Im Parlament soll sich der.
Parteimann zum Staatsmann, soll sich die Partei zu einem schöpferischen Factordes
Staatswesens erheben; die parlamentarischen Parteien sollen die Träger der großen
Ideen sein, deren Kampf das Leben, deren ununterbrochene Wechselbewirkung die
Geschichte der freien Staaten ist; sie sollen zugleich die Leiter der Nation sein, die
ihre politische Reife nur dadurch bewähren kann, daß sie die staatsmännische Ueber-
legenheit ihrer Führer anerkennt und sich ihnen anzuvertrauen fähig ist; die aber
nicht blos empfängt, sondern was sie empfängt? zur öffentlichen Meinung
ausbildet, und dadurch selbst zum Träger und zur Stütze ihrer Führer wird.
In diesem Sinne ist die öffentliche Meinung eine ehrfurchtgeiuetende, gewal-
tige Macht, in jedem anderen Sinne ist sie nur eine unsichere Strömung, die
mit jedem Windstoß wechselt. Diese Wechselwirkung zwischen Volk und Abge¬
ordneten soll und muß, um in ihrer ganzen Kraft und Reinheit sich zu ent¬
wickeln, eine unmittelbare sein; sie wird durch vermittelnde Wahlmännercollegien
nur gestört und verfälscht, woraus mit Nothwendigkeit folgt, daß die indirecte
Wahl nicht zu modificiren, sondern ganz zu verwerfen ist. Bei dem Dreiclas-
scnsystem ist dies allerdings nicht möglich, und dies sehen wir als einen der
größten Mängel dieses Systems an. Die Solidität, die der Verfasser in die
Wahlmannscollegien zu legen wünscht, soll in den Urwcihlerkörpern ihren Sitz
haben. Der Verfasser verlangt für die Urwählerqualisicativn keine Garantie,
wohl aber für die Wahlmannsqualification; wenn aber die Urwähler keine
Garantie bieten, so giebt es überhaupt keine Garantie; bieten sie aber
Garantie, so ist gar nicht das Bedürfniß vorhanden nach einer Mittelstufe
zwischen Urwählern und Abgeordneten.
Der Verfasser nimmt eine Unverträglichkeit der militärischen Pflichten mit
der freien Ausübung des Wahlrechts an. So lange man für unentbehrliche
Hilfsmittel der Disciplin und der militärischen Loyalität hält, daß in den Ka¬
sernen und am Officiertiscd jede liberale Aeußerung niedergehalten werde, so
lange man politischen Liberalismus als einen lauernden Gegner der Dynastie
und der Staatswohlfahrt haßt, mag man das Abstimmen der Militärs für
zweckwidrig oder unvereinbar mit den Pflichten ihres Berufes betrachten.
Dauernd aber und richtig ist solche Auffassung militärischer Disciplin nicht.
Anders ist das Verhältniß, in dem die Mehrzahl der Civilbeamten steht.
Wenn diejenigen Beamten, die ihrer Stellung nach politische Organe des Mi¬
nisteriums sind, beiden Wahlen oppositionell stimmen, so beweisen sie dadurch
allerdings, daß sie nicht die geeigneten Organe für die Politik des Ministe¬
riums sind. Was aber die übrigen zahlreichen Beamten betrifft, die an be-
stimmte Verwaltungsnormen gebunden, amtlich mit der Politik nichts zu thun
haben, so gestehen wir zu. daß ihr ein vielen Orten überwiegender Einfluß
auf den Ausfall der Wahlen eine unerfreuliche und auch für die B'eamtendisciplm
immerhin bedenkliche Erscheinung ist. Es ist aber ein Irrthum zu glauveu.
daß man den Einfluß, der feinen tiefsten Grund in der überlegenen geistig
hervorragenden Stellung des preußischen Beamtenthums hat, durch Entziehung
des Wahlrechts würde brechen können. Will man etwa auch die Agitation
verhindern, die von der Ausübung des Wahlrechtes ganz unabhängig ist? Der
Einfluß wird abnehmen mit der' weiteren Verbreitung praktischer politischer
Bildung; vor allem also nurddic Organisation des SeisgvvenimentS geeignet sein,
ihn zu neutralisiren. Die Entziehung des Wahlrechts wird nicht dazu beitragen, das
Ansehen des Beamtenstandes zu heben, wenn sie auch immerhin dem Zwange,
in bestimmter Richtung zu wählen, bei dem die Integrität des Standes
untergraben würde, vorzuziehen ist.
Auch die übermäßige Vertretung des BcamtenclemcntS im Abgeordneten¬
hause sehen wir mit dem Verfasser als einen Mißstand an; wir wünschen weder
eine Landrathskcunmer noch eine Kreisrichterkaminer. Aber man darf auch hier
nicht vergessen, was schon oben erwähnt wurde, daß der Beamtenstand seit
länger als einem Jahrhundert der einzige Träger politischer Bildung in Preußen
gewesen ist, und daß es daher nicht nur natürlich, sondern auch gewissermaßen
berechtigt ist, wenn die Augen der Wähler sich vielfach auf die Mitglieder dieses
Standes richten; und wenn die Eonservativen ihre Vertreter in der spe»
cisisch conservativen, die Liberale» in der specifisch liberalen und am unabhängig¬
sten gestellten Bcamtenclasse suchen. Wir behaupten natürlich nicht, daß nicht
hinreichend viele politisch befähigte Privatmänner in Preußen vorhanden sind,
um mit ihnen die sämmtlichen Plätze des Abgeordnetenhauses zu besetzen. Wo
aber haben sie bisher, außer etwa in städtischen Verwaltungen. Gelegenheit
gehabt, sich hervorzuthun und die Aufmerksamkeit der Wählerkrcise auf sich zu
ziehen? Ein Privatmann, der nicht in ganz besonderem Grade das Talent be¬
sitzt, seine Persönlichkeit im öffentlichen Verkehr zur Geltung zu bringen, wird
in den Augen der meisten Wähler hinter dem tüchtigen, im praktischen Staats¬
dienst geübten Beamten zurückstehen. Wir meinen. daß man die Beamtenfrage
am besten so lange ruhen läßt, bis ein zweckmäßiges System des Selfgovern-
ment uns einen politischen Stand geschaffen haben wird, zu dem der Stoff
bei uns in reichem Maße, aber noch formlos, vorhanden ist. Sobald ein
öffentlicher Stand sich gebildet haben und aus ihm ein Kreis berufsmäßiger
Politiker hervorgegangen sein wird, wird auch die Beamtenfcage factisch ent¬
schieden sein. Ehe dieser Zustand eintritt, wird und muß das Bcamtenelement
neben den politischen Notabilitäten, die von der Eröffnung des vereinigten
Landtags an bis auf die Gegenwart sich zu dauernder Geltung emporgearbeitet
haben, in der zweiten Kammer eine hervorragende Rolle spielen.
Nun die Diätenfrage! Wenn ein Staatsmann, sagt der Verfasser und wer
wollte ihm hierin widersprechen, wußte, wie man die Freiheit gründet, so war
es Cavvur. Seine Abgeordneten beziehen keine Diäten. Die Frage hat aber
doch zwei Seiten. Daß ein Amt. welches als Ehrenamt verwaltet'wirb, dem
Inhaber ein größeres Ansehn giebt, als ein besoldetes Amt, ist unbestreitbar.
Und daß namentlich die gesellschaftliche Stellung der einzelnen Abgeordneten für
die Geltung deS Hauses nach Oben hin nicht ohne Bedeutung ist, wird eben¬
falls nicht in Abrede gestellt werden können. Dennoch ist ein 'ernstes Bedenken
nicht abzuweisen. Preußens Kraft liegt zum großen Theil in seinem Mittel¬
stande. Ein sehr bedeutender und zwar vorzugsweise gebildeter Theil des
Mittelstandes ist aber in Preußen ohne Vermögen. Jedenfalls muß zugegeben
werden, daß sich eine Fülle der bedeutendsten politischen Kräfte unter denen be¬
findet, die ohne Diäten nicht im Stande sein würden, jährlich mehre Monate
in Berlin zu verweilen. Soll man diese Kräfte durch Entziehung, nicht eines
Gewinnes (denn einen Gewinn wird niemand, als gelegentlich ein feudales
Blatt in den drei Thalern Diäten sehen), sondern einer Entschädigung principiell
vom Abgeordnetenhause ausschließen? es würde dies mit den traditionellen
preußischen Anschauungen in Widerspruch stehen. Jedenfalls wird die schlie߬
liche Entscheidung über diesen wichtigen Punkt einer späteren Periode unseres
Staatslebens vorbehalten bleiben.
In einer Verlängerung der Wahlperioden von drei auf sieben Jahre wür¬
den wir eine sehr wesentliche Verbesserung sehen. Die Argumentation des Ver¬
fassers scheint uns unwiderlegbar. Der Einwand, daß durch eine Verlänge¬
rung der Wahlperiode das politische Interesse im Volke abgestumpft werden
würde, ist unbegründet. Allerdings ist die Aufregung des Wahlkampfes eins
der Mittel, um das politische Interesse, zu erwecken oder aufzufrischen. Doch
ist die Wirkung dieser Aufregung nur eine vorübergehende, um so flüchtiger,
je häufiger sie wiederkehrt: es läßt sich mit Sicherheit annehmen, daß eine
Verlängerung der Legislaturperiode die Bedeutung des Wahlactes und die leben¬
dige, gespannte Theilnahme an demselben nicht vermindern, sondern erhöhen
würde. Die Hauptgründe für die Verlängerung ergeben sich aber aus folgen¬
der Betrachtung. Die gesetzgeberische Thätigkeit soll eine innerlich zusammen¬
hängende sein;'sie bedarf daher, um sich frei und ungehindert zu entfalten, der
Gewißheit, auf längere Zeit in einheitlicher Richtung thätig sein zu können.
Kurze Perioden haben die Wirkung, der Gesetzgebung einen fragmentarischen
Charakter zu geben; zunächst, weil zwei Jah/e an sich ein zu kurzer Zeitraum zur
Entwickelung einer zusammenhängenden Politik sind; sodann aber ist wohl zu beach¬
ten, daß auf die volle» drei Jahre gar nicht einmal zu rechnen ist. Denn die Noth¬
wendigkeit zwischen seiner Ueberzeugung und der Rücksicht auf die zur Wiederwahl
nothwendige Popularität eine Wahl zutreffen, tritt lange vor Ablauf der Wahl¬
periode an den Abgeordnete» heran. Und während so die Wirkung der öffentlichen
Meinung aus das Parlament eine dauernde, ununterbrochene wird, so daß jedes
Schwanken derselben sich sofort bis in die höchsten Kreise des Staates fortpflanzt,
sinkt die Gegenwirkung des Parlamentes, da es gar nicht die Zeit gehabt hat,
sich durch Thaten zu bewähren, auf den Nullpunkt herab. Die Folge davon
ist, daß die wirkliche Kraft der öffentlichen Meinung und die des Abgeordneten¬
hauses auf gleiche Weise geschwächt werden. Ersterer wird die für ihre dauernde
Macht unerläßliche Arbeit erspart, sich in dem Kampfe gegen alle Gegenströ¬
mungen durchzuarbeiten, zu läutern, zu befestigen, und dadurch in den Kreisen
des Volkes die Probe ihrer Berechtigung abzulegen, ehe sie ihren unmittel¬
baren Einfluß auf die constitutionellen Factoren des Staatslebens ausübt. Das
Abgeordnetenhaus aber, welches die Leitung nach Unten in dem Grade verliert,
daß es von allen Regungen, die jederzeit, und oft sehr geräuschvoll, das Publicum
durchzucken, bestimmt wird, mußunfehlbar auch nach Oben hin an Ansehen einbüßen.
Wenn wir den edlen Absichten, die der Verfasser verfolgt, im Ganzen beistimmen
können, glauben wir doch, daß auf dem von ihm vorgeschlagenen Wege die¬
selben nicht werden erreicht werden. Die Prüfung seines wohldurchdachten
Planes hat in uns nur die alte Ueberzeugung befestigt, daß jeder vor Einfüh¬
rung einer auf den Grundsätzen des Selfgovernments beruhenden Kreis- und
Gemeindeordnung unternommene Versuch einer Wahlreform scheitern oder re¬
In der Weidmannscher Buchhandlung soll eine Sammlung der cicademischen
Reden Lobecks erscheinen. Darunter ist die berühmte Rede des großen Philo¬
logen von Königsberg, welche derselbe am 3. August 1816 hielt. Sie wurde
wie eine bereits gedruckte Rede Solgers, in der Folge als bedeutsamer Aus-
druck der Zeitstimmung öfter erwähnt, den Hörern blieb sie sicher unvergessen.
Dem Gelehrten, der damals, 36 Jahr alt, die Hoffnung einer neuen Zeit
begrüßte, war vergönnt, seitdem von seiner friedlichen Arbeitsstube aus noch
an den Kämpfen und Leiden zweier Generationen Theil zu nehmen. Wir aber
geben seine edlen Worte ohne jeden Kommentar.
Ueber die Hoffnungen, welche sich an die königliche Verheißung einer freien
Verfassung knüpfen.
Gehalten am 3. August 1816.
In dem Augenblicke, als der Bund der Sühne zu Hubertsburg beschworen
ward, griff der Genius des Friedens in das Triebwerk der Zeit und hemmte
die Räder, welche die Sturmglocken des Krieges in Schwung setzten, und fesselte
die verborgenen Spannkräfte Und ließ alle Getriebe stocken bis auf das eine,
welches in stiller Kreisung die Jahre und die Jahrhunderte umtreibt. Und von
da vernahm man nur den eintönigen Pendelschlag des Zeitenwechsels, dunkele
Klänge verhaltener Reibungen und die Tritte derer, welche die Thronstufen auf-
vder niederstiegen. Aber kaum war ein Menschenalter verblüht, als die im In¬
nern schaffende Gewalt eine Fessel nach der anderen sprengte, ein verhängniß-
voller Stoß feste den stockenden Umlauf von Neuem in Bewegung, die immer
rascher und stürmischer ward und zuletzt alles, nahes und Fernes, in ihre Wir¬
bel riß. Und noch hören wir, wie dem Ausheben nahe die Uhrräder der Zeit
hastig rollen — und mit Ungeduld harren wir des Glockenschlages, der vielleicht
den Anbruch eines neuen Weltalters verkündet.
Als Polykrates einst sein Glück, seine siegreichen Flotten, seine prangenden
Heere überschaute, da gedachte er bei dem Uebermaße seiner Größe an die wan¬
delbare Gunst des Geschickes, und um die Nemesis zu versöhnen, warf er das
köstlichste Kleinod seiner Habe, den königlichen Siegelring, in die Fluthen. Auch
unsere Fürsten, die der Arm des Höchsten aus der Knechtschaft errettet und hoch
vor aller Welt erhoben hat, wollen dankbar dem Schicksal ein Opfer bringen
— sie wollen ihren Thron in der Mitte ihrer Völker aufschlagen und mit uns
die Rechte ihrer Hoheit theilen. Noch vermag kein irdisches Auge die Folgen
jener Verheißung zu ermessen, die vor allen deutschen Völkern uns zuerst gegeben
ward, aber ein Rückblick auf die Vergangenheit kann uns ahnen lassen, welche
Segnungen die friedliche Einigung zweier Gewalten, die sich zu aller Zeit feind¬
lich bekämpft haben, Königthum und Volksfreiheit — welchen neuen Glanz sie
über das Leben der Völker verbreiten werde.
Durch höhere Waldung geschah es, daß sich schon im Leben der alten Völ¬
ker die edleren Kräfte der Menschheit in zwei Brennpunkte sammelten, um mit
vereinter Kraft dem Andrange des Bösen zu widerstehen. Kirche und Staat
waren die grünenden Oasen in dem Flugsande des niedern Lebens, die festen
Stützpunkte, ohne welche die Idee des Rechts und der Heiligkeit längst in dem
Verworrenen Treiben der Sinnlichkeit untergegangen wäre. Lange standen im
Alterthum beide Vereine im engen Bunde, einer vertrat und schützte den andern
—- und je nachdem Gefühl oder Verstand, höheres oder niederes Bedürfniß
vorwaltete, war bald der Staat von der Religion abhängig, bald diese jenem
untergeordnet.
Aber wie auch immer die gegenseitige Beziehung sein mochte, überall stand
der geistige Bund an Reife und Ausbildung weit hinter jenem zurück, ja von
dem Prunk eines spielenden Cultus, von den lockenden Bildern der Phantasie
verdunkelt, schien der Glaube an eine höhere Weltordnung nur unsichtbar auf das
Leben zu wirken. Aber als dort in der Wüsten jene wunderbare Stimme er¬
klang, die des Himmelreiches Ankunft verkündete, da ward der dunkle Traum
zur lebendigen Wahrheit. Gleich einem Königssohne, der frühverloren in
Knechtsgestalt unter Hirten aufgezogen ward und nun aus seinem Dunkel her¬
vortritt und Reich und Scepter seiner Väter fordert — so trat die Kirche jetzt
sichtbar in das Leben ein und nahm Recht und Macht aus den Händen des
Staates zurück. Und seitdem hat sie in freier Selbständigkeit, unberührt von
dem Wechsel der Staaten, unabhängig von Ort und Zeit ihr unsichtbares Reich
verwaltet.
So war das große Erbtheil der Erde unter die beiden Zwillingsgeschwister
vertheilt. Die Pflege der Geister siel der Kirche, das irdische Gut dem Staate
anheim. Und irdisch, wie seine Bestimmung war auch sein Wandel. Wäh¬
rend die Kirche im Laufe weniger Jahrhunderte für die Ewigkeit gegründet ward,
hat die bürgerliche Verfassung stets zwischen entgegengesetzten Formen geschwankt,
selten die Nothdurft befriedigt, nie den Wunsch erschöpft. Doch hat es den
Anschein, als gehe jetzt die Bahn aufwärts zum Licht, als schwangen wir uns
der Sonnennähe entgegen. Oder warum sollte man sich nicht der Hoffnung
hingeben, auch der bürgerlichen Verfassung stehe eine feste und allgemeine Be¬
gründung bevor, wie sie der kirchlichen schon vor Jahrhunderten zu Theil ward?
Etwa darum nicht, weil es der Spekulation noch nicht gelungen, den Riß des
neuen Gebäudes zu entwerfen? Aber wer erkannte in früherer Zeit auch nur
die äußeren Umrisse jener Gemeinschaft, die mit dem Namen des höchsten
Sterblichen bezeichnet ist? wessen Geist durchdrang je die Ahnung des gott¬
geweihten Bundes, der das Siegespanier seines Glaubens in allen Welttheilen
aufgerichtet hat? Wie dort, so bedarf es auch hier vielleicht nur des zünden¬
den Funkens, der die lebensschwangeren Stoffe beseele, vielleicht ist es unserem
Zeitalter aufbehalten, Zeuge der neuen Schöpfung zu sein, deren Bild schon
längst in den Träumen der Menschheit gespielt hat. Die zarte Blüthe der
Freiheit hat sich ja schon mehr als einmal dem Tageslichte geöffnet, unter den
hellenischen Eidgenossenschaften, unter den Völkern des glücklichen Italiens; doch
überall überwucherte sie sich und erstarb.
Der Sturm, der die colossalen Reiche des neueren Europa zusammengewebt,
drängte sie in ihre Knospe zurück, doch ihre Wurzel war tief und innig in das
Leben der germanischen Völker verwachsen. Die Franken auf ihren Maifeldern,
die Sachsen aus ihren Wittcnagemots kränzten sich mit ihrem Blätterschmuck
und durch sie ward die Wunderblume auf den Boden Galliens und Britanniens
hinübergepflanzt, wo sie manche herrliche Frucht des Lebens getragen hat. Aber
die Völker berauschten sich in ihrem Duft zum Wahnsinn und zertrümmerten
freveltrunken die zarte Stütze, an der sie sich emporrankte. Denn überall hat
es noch dem Freiheitsbäume ander sorgsamen Pflege gefehlt, die seinen Riesen¬
wuchs mäßigte und beschränkte.
Darf uns aber eine erfahrungsreiche Vergangenheit zeugen, so wird er an
dem treuen, frommen deutschen Volke einen Pfleger finden, unter dessen Hand
er sich schöner als je am milden Sonnenstrahl der Königshuld entfalten kann.
Wenn aber nach dem Gewinn gefragt wird, den uns die neue Gestaltung
des öffentlichen Lebens bringen werde, so wollen wir zwar nicht auf ein tau¬
sendjähriges Reich, auf eine neue Erde hoffen, aber wir mögen auch nicht
die dürftigen Hoffnungen jener theilen, welche nur äußere Vortheile, Verminde¬
rung der öffentlichen Lasten, mit einem Worte nichts als die Rückkehr einer
Zeit erwarten, wo auf Land- und Reichstagen sich die Abgeordneten einzelner
Stände, Ritter und Prälaten über Anleihen und Steuern beriethen. Es kann
nicht mehr von der Wiederbringung alter Rechte und Ehren, es muß von neuem,
eigenem Erwerbe die Rede sein.
Und dabei müssen wir auf das untergegangene Leben jenes Volkes zurück¬
schauen, in dessen Mitte die Volksvertretung am frühesten in kühnerem oder
schwächeren Formen, wenn auch nur für einen kurzen Frühling sich entwickelte.
Zuerst ist es jene weltbürgerliche Theilnahme an den gemeinsamen An¬
gelegenheiten der Menschen, die nur da stattfinden kann, wo die Volkskraft sich
selbst verwaltet und frei und rücksichtslos den Regungen der Menschlichkeit
folgen darf. Dagegen fremder Verwaltung übergeben, wird sie nach den Gesetzen
eines engen Staatsrechts mit wirthlicher Sparsamkeit nur für die äußerste Noth¬
wehr in Anspruch genommen. Wird aber dem Volke der freie Selbstgebrauch
seiner Kräfte wiedergegeben, dann wird auch jene heilige Stimme wieder laut
werden, die so oft im Alterthum bei dem Hilfsgeschrei der Nachbarn den Kampf
für die ewigen Rechte der Menschheit entzündete, die Stimme, die sich in dem
freien England gegen die Gräuel des Menschenhandels laut und lauter erhob,
bis die Schläfer am Thron erwachten, und die noch jüngst für die verfolgten
Glaubensgenossen in Frankreichs Mördergruben um Rache rief.
Zweitens jener Gemeinsinn der alten Völker, begründet in dem lebendigen
Gefühl, daß der Staat, ein Gesammteigenthum Aller, nur in den Einzelnen
und durch dieselben bestehe, die heiße Liebe zum Vaterlande, welche Verban¬
nung aus der Heimath dem Tod gleich achtete, der Bürgerstolz, der Weiteifer
des Verdienstes und alle die andern Blüthen des öffentlichen Lebens. Mit dem
Untergange der Volksvertretung sind diese starken Triebfedern großer Thaten
und Entsagungen erschlafft, die angeborene Thätigkeit des menschlichen Geistes
hat sich, edlerer Beschäftigung entbehrend, auf niederen Erwerb, auf Handel
und Verkehr, sonst Sklavenhandwerk, gerichtet; ob die Nachwelt unser Volk
mit Begeisterung nennen, oder ob sie es zu den Steppenvölkern der Geschichte
zählen werde, die auf ihren Weideplätzen keine Spur ihres Daseins zurückließen,
als die Schädel erschlagener Feinde, das kümmert jetzt niemanden. Aber dieser
edle Bürgersinn wird wieder erwachen in der neuen Zeit, deren Morgenroth
schon am Himmel steht, erwachen werden alle jene Spannkräfte, die das alte
Leben bewegten; und die weise Leitung vom Throne herab wird sie vor der
gefahrvollen Richtung schützen, in der sie oft schon sich selbst zerstörten.
Doch mögen diese Hoffnungen auf eine Wiedergeburt Deutschlands Traum
oder Wahrheit werden, immer wird der Name des edlen Fürsten gesegnet sein,
der zuerst unter den deutschen Herrschern, ungemahnt und unbestürmt, seinem
Volke die königlichen Rechte zum neuen, beglückenden Bunde reichte, der Name
unsres erlauchten Friedrich Wilhelm, den die Nachwelt neben den unsterblichen
Wohlthätern der Menschheit nennen wird.
Das Kunstinteresse. Der Kunstverein und seine Genremalerei. Königsdenkmal und
Volkstheater.
Seit einigen Jahrzehnten ist die Theilnahme des größeren Publikums für die
bildenden Künste in fortwährendem Zunehmen begriffen. Mit dem ihr eigenthüm¬
lichen historischen Sinn ist unsere Zeit auch in die Kunstgeschichte tiefer eingedrungen.
In dieser war sie bemüht, die künstlerische Anschauung und die Gcstaltungsweise
der vergangenen Epochen unserem Verständniß nahe zu bringen und damit eine
anschauliche Schilderung von der Art der großen Meister und ihren noch er¬
haltenen Werken zu verbinden. Indem sie die Vergangenheit aufschloß, hat
diese geschichtliche Kunstbetrachtung zur Belebung des heutigen Kunstinteresses
mindestens ebenso viel beigetragen, als die eigenen Leistungen des Zeitalters:
namentlich seit es neuerdings an Versuchen nicht fehlt, den Ergebnissen jener
Forschungen durch populäre und gefällige Form eine weitere Ausbreitung zu
geben. Allerdings ist dieser literarische Ursprung, die Anregung aus zweiter
Hand dem neuerwachten Kunstsinn wohl anzumerken. Es fehlt ihm an ursprüng¬
licher Frische und der eigenthümlichen, in das Kunstwerk sich einlebenden Em-
Pfindung. an dem nachschaffenden Auge, welche das Bild in den Fluß der Phan¬
tasie zurückversetzt und beseelend in das Innere aufnimmt. Doch ein Fort¬
schreiten der Theilnahme und des Verständnisses ist seit den zwanziger Jahren
unverkennbar. Jetzt gilt auch in den weiteren Laienkreisen die Beschäftigung
mit den Dinge» der Kunst nicht mehr, wie im ersten Viertel des Jahrhunderts,
für eine müßige Liebhaberei, sondern für ein Bedürfniß der Bildung. In allen
Zeiten aber sind der Grad und die Tiefe der allgemeinen Empfänglichkeit von
großem Einfluß auf das künstlerische Schaffen selber gewesen. Nicht blos durch
die schwächere oder stärkere Theilnahme, welche diesem entgegenkam, sondern
Mehr noch durch das Interesse an den Stoffen, welche man behandelt, und
die besondere Empfindungsweise, die man Versinnlicht haben wollte. Diese
Seite des Kunstlebens, welche als die aufnehmende zur andern, der her¬
vorbringenden, die ergänzende Hälfte bildet, spielt auch in der Entwickelung
der modernen Kunst eine Rolle, und sie hat in dieser Ansicht eine Bedeutung,
auch für die Münchener Zustände, die, wie mir scheint, bisher nicht genug be¬
achtet ist. Nicht blos zeigt sich im Fortgang und Wechsel des modernen Kunst¬
sinnes, wie in einem vergrößerten Spiegelbilde, die Wirkung von dem, was
die Zeit in ihren verschiedenen Richtungen hervorgebracht hat, sondern umge-
kehrt hat auch die allgemeine Stimmung in ihrer an der Kunst noch nicht ge¬
bildeten Naivetät auf die Anschauung und Arbeit des Künstlers eingewirkt.
Und so ergiebt sich aus diesem Wechselverhältniß, wie weit die Kunst selber
jener Stimmung sich unterordnete und fügte, wie weit sie dieselbe zu bilden
und zu veredeln suchte.
Als durch den Umschwung des ganzen Lebens zu Ende des vorigen Jahr¬
hunderts der Zusammenhang mit den ohnehin schon abgängigen Kunstformen
vollends zerrissen war, die Kriegsstürme hereinbrachen und die Umwälzung aller
Verhältnisse alles ins Ungewisse brachte: da ging auch das Kunstinteresse und
Kunstverständniß, das sich bis dahin durch die Tradition noch erhalten hatte,
verloren. Schon die Kunst des Noccoco und de? Zopfs war mehr eine höfische
gewesen, als daß sie im Sinn des Volkes gewurzelt hätte. Doch da im acht¬
zehnten Jahrhundert der Fürst und sein Hof der einzige Ausdruck des öffentlichen
Lebens waren, so empfing von ihnen der Geschmack des großen Publikums seine
Anregung und Richtung. Die selbständige Bildung der mittlen Stände faßte
sich in der Aufklärung zusammen und diese mit ihrem nüchternen Gesichtspunkte
des Nutzens war der Kunst abgeneigt oder stellte an sie die ihr fremde Forde¬
rung des moralischen Zwecks. So weit aber die Kunst aus ächtem inneren
Bedürfniß sich zu erneuern strebte, griff sie — wie in den neuen Zeiten jeder
junge frische Gestaltungstrieb — im Einklang mit der neuaufblühenden Literatur
zum Vorbild der Antike zurück. Natürlich blieb diese classische Richtung, gegen¬
über der Ungunst aller Zustände und der Verwirrung des erst anbrechenden
neuen socialen und politischen Lebens, auf die abgeschlossenen Kreise der dem
Jahrhundert vorangceiltcn Bildung beschränkt. So war am Beginn unseres
Zeitalters die künstlerische Phantasie des Volkes wie ausgeleert, eine unbeschrie¬
bene Tafel, auf der die alten Züge verblaßt und neue noch nicht eingegraben
waren; sein ästhetisches Auge noch wie mit einer Binde umhüllt, unfähig so¬
wohl in der gährenden Menge der erst werdenden Dinge sich zurecht zu finden,
als sich über die Noth der Gegenwart in eine ideale Welt zu erheben. Wenn
sich vorab in der Architektur die künstlerische Stimmung der Zeit ihren Aus¬
druck giebt, so vermögen die Bauwerke vom Anfang des Jahrhunderts den Cha¬
rakter jener Epoche wohl zu kennzeichnen. Die nackten glicderlosen Wände
des „Kommisstils" mit ihren gähnenden Fensteröffnungen, ebenso reizlos und
langweilig, wie das bloße Bedürfniß, dessen nüchternen Stempel sie tragen, die
letzte Verkörperung jener Aufklärung, welche das Nützliche und Zweckdienliche
zum Weltprincip machte, zeugten zugleich von dem vollständigen Bankerott,
welche der Kunstsinn unter dem Umsturz der Dinge damals erlitten hatte.
Da tauchte mit der Wendung der Dinge zum Besseren und dem neu-
erwachcnden Streben nach Selbständigkeit auch das Verlangen nach dem kunst-
Krischen Ausdruck des inneren Lebens wieder auf. Nicht zwar wie ein still
wirkender Trieb, der im Genuß eines in sich erfüllten Daseins diesem in der
schönen Erscheinung die letzte Vollendung, sich selber die höchste Befriedigung
zu geben sucht, sondern wie ein sehnsüchtiges Begehren aus der alltäglichen
Prosa nach einer schöneren Welt. Schon vorher hatte diese romantische
Stimmung, aus dem Elend der Zeiten in das stille Reich der Phantasie zu
flüchten, in engeren Kreisen eine eigene Literatur, eine eigene Kunst hervor¬
gerufen. Nun, da mit den Freiheitskriegen in alle Gemüther wieder Hoffnung
und Zuversicht gekommen war, fand sie rasch um sich greifend einen immer
größeren Boden. Aber wie die Befreiung selber nur ein plötzlicher Aufschwung
war, der nach vollbrachtem Werk in sich zusammenfiel und in die alte Mattig¬
keit der gewohnten Zustände zurücksank: so war auch jene romantische Stim¬
mung unfähig, die Wirklichkeit bildend und gestaltend zu ergreifen, die Welt
mit klarem formenvollem Auge anzuschauen. Unterstützt von der frommen
Schwärmerei, mit der das durch langes Unglück und plötzlichen Sieg erschütterte
Gemüth in sich einkehrte und von der Welt abgewendet das alte Joch sich
wieder aufbürden ließ, erging sie sich im Zauberreich der Märchen und ahnungs¬
voll verschwebender Gefühle. Trieb und Wunsch erwachte wieder, so schreibt
einmal über diese Zeit einer der Führer der Romantik, die Kunst mit Staat
und Volk zu verbinden. Aber es fehlte die Brücke zur Wirklichkeit, und je
spröder diese jede Anknüpfung zurückwies, um so weniger vermochte die in
sich versunkene träumerische Seele aus eigenen Mitteln den Uebergang zu finden.
Nur an einem Punkte traf sie mit der Gegenwart zusammen, an dem gerade,
wo diese selber in eine Vergangenheit zurückbog, die zwar dem künstlerischen
Bedürfniß mit einem Reichthum bekannter Gestalten entgegenkam, doch der Wirk¬
lichkeit weder einen tieferen Inhalt, noch eine neue Form zu bringen vermochte:
W der Umkehr zum kirchlichen Leben.
So verflüchtigte sich die künstlerische Stimmung in eine der Realität entfremdete
.Phantasie, welche im Spiel mit sich selber und allerlei alten wieder hervorgeholter
Formen die ganze gegenwärtige Welt vergaß oder in das Dämmerlicht einer märchen¬
haften Poesie und Kunst einzuhüllen suchte. Wohl war also die künstlerische An¬
schauung wieder erwacht und zu einem Inhalt gekommen; aber nun verlor sie sich
in ein Nebelreich von Bildern, denen das volle Leben der Gegenwart und der
feste Umriß der Form fehlte. Sie schwebte und schwärmte in schwächlichen
Empfindungen und schwankenden Gestalten. Und so mächtig der Aufschwung
K>ar, den gleichzeitig im Gegensatz zur herabsteigenden Dichtung die bildende
Kunst nahm: diese that nichts weiter, als jener Stimmung willfährig entgegen¬
kommen und ihr allerlei Spielzeug bringen, aus dem Mittelalter, den Sagen
der Vorzeit oder der christlichen Legende. Wie das Interesse an der Kunst auf
der einen Seite ein stoffliches, auf der andern ein empfindsam poetisches war.
so war es dieser selbst vorab um die Schilderung eines die Seele rührenden
Inhaltes zu thun, und dazu genügten ihr ungewisse Formen, wenn sie nur
das Gemüth in Schwingung versetzten. Auf ti^se Weise war eine ganze Rich¬
tung der düsseldorfer Schule, sowie das Nazarenerthum, mit dem
in der Architektur die Erneuerung des gothischen Kirchenstils Hand in
Hand ging, zu allgemeiner Anerkennung gekommen.
Inzwischen hatte sich der reale Trieb der Zeit, da mit der Gegenwart so
wenig anzufangen war, an die geschichtliche Erforschung der Vergangenheit
gemacht: hier nicht blos spielend und nach Belieben auswählend, sondern mit
gründlichem, dem festen Zusammenhang der Thatsachen nachspürenden Ernst.
Diese Richtung traf zusammen mit dem durch die Noth und Rettung des Vater¬
landes wiedererwachten nationalen Sinn, der gleichfalls, da sich ihm die Wirk¬
lichkeit nicht fügen wollte, an der Geschichte zu wachsen und zu erstarken suchte.
Als dann die Forschung in bisher dunkle und unzugängliche Gebiete Licht
gebracht und nun das frühere Leben der Völker, der reiche Schatz ihrer Tha¬
ten und Schicksale vor'Augen lag, da erfüllte sich auch die Phantasie mit
diesen Stoffen und es erwachte das Bedürfniß, sich von ihnen eine Vorstellung,
ein Bild zu machen.
Der Gang der Geschichte zog in lebendiger Folge an ihr vorüber; aber
natürlich schwebten die Gestalten nur wie Schatten vor dem inneren Auge und
die Anschauung verlangte, sie im Raume festgehalten, in sicherer Zeichnung aus¬
geprägt zu sehen. Von seiner Seite empfand das sich ausbreitende philosophische
Bewußtsein, welches das Jenseits zertrümmert hatte und in dem Diesseits als
der wahren Welt sich einzurichten suchte, denselben Trieb. Und wenn endlich
das nationale Streben von der drückenden Schmach, mit welcher das politische
Elend der Zeit auf ihm lastete, an der besseren Vergangenheit sich aufzurichten
meinte: so war es auch ihm ein Trost, an dem Schein dieser schöneren Welt
sich über das wirkliche Unglück zu täuschen. So war die Phantasie, zudem
von der Schlaffheit der thatenloser Zeit abgestoßen, auf den Anblick großer
Ereignisse und heldenmäßiger Menschen begie.rig; wie sie andrerseits von der
Prosa der neu geregelten Zustände in den von der literarischen Forschung aus¬
geschlossenen Kreis der früheren Dichtungen geflüchtet, auch diese neuentdeckten
poetischen Gestalten versinnlicht haben wollte. Auch diesen neuen Bedürfnissen
fügte sich die Kunst, namentlich wie wir früher gesehen, die Münchener
Schule. Sie suchte die großen Menschen der nationalen Geschichte und Poesie
in gewaltige Umrisse zu fassen, ihre Kraft in kolossalen Zügen wiederzugeben.
So ungefähr mochte sich die noch ungebildete Anschauung des Volkes seine
Helden vorgestellt haben, und die Kunst gab ihr eben das, was sie verlangte:
in wuchtiger Form verkörperte Erzählungen, Schilderungen poetischer oder
dramatischer Scenen, von einer recht greifbaren Bewegtheit des Ausdrucks und
dem heftigen Geberdenspiel, das man leidenschaftlichen Menschen wohl zutraut.
Auf den Stoff also und die im eigentlichen Sinn dichterische Stimmung kam
es auch hier an. Ob dabei die Form künstlerisch durchgebildet und der Inhalt
zu freier in sich belebter Erscheinung ganz herausgeführt war: darum kümmerten
sich die Beschauer wenig , und ihrerseits that die Kunst so gut wie nichts, weder
um derlei rein ästhetische Anforderungen anzuregen, noch um sie zu befriedigen.
Das war es gerade, woran es fehlte: am Sinn für die künstlerische, die
erfüllte Form, die ihr Leben und ihren Reiz ganz in sich trägt und den In¬
halt fest in sich geschlossen hält. Man hatte kein Auge für die selbständige
Schönheit der in sich vollendeten Erscheinung. Alle Werke der geschichtlichen
Malerei, mit denen sich unser Zeitalter als eine große Kunstepoche fühlte : was
die große Mehrzahl der Beschauer in ihnen suchte und fand, das war ent¬
weder der ergreifende Inhalt der Geschichte selber oder die interessante Be¬
ziehung zu modernen Ideen. Was die Köpfe beschäftigte, das wollte die
Phantasie auch Versinnlicht sehen; aber so, daß sich dabei doch wieder etwas
denken und erzählen ließ, während sich das Auge am Flimmer und Schimmer
der Stoffe und Geräthe aus den bunten Zeiten ergötzte. Ob der Gegenstand
in den idealen Schein malerischer Form erhoben war, ob seine Erscheinung in
sich selber ein volles Leben trug, darnach frug man nicht. Und der Künstler,
ebenso wie der Beschauer Von der Bedeutung des Objectes durchdrungen, ließ
diese für sich sprechen und vernachlässigte, was das Auge ohnedem nicht ver¬
langte und nicht entbehrte. Das natürlich war zur Wirkung unerläßlich, daß
die Darstellung bis zu einem gewissen Grad den Eindruck bewegter, von einem
ungewöhnlichen Leben ergriffener Natur machte. Was hat Lessing, dem bei allem
Fleiß und Studium nach der Natur die Leichtigkeit des künstlerischen Schwunges
fehlte, was hat die Nibelungenbilder von I. Schmorr, dem man vielleicht nicht
einmal jenes, wenn auch ein reich producirendes Talent zuschreiben kann — was An¬
deres hat zunächst den Ruhm beider ausgemacht, als daß sie Stoffe, die dem moder¬
nen Bewußtsein bedeutungsvoll geworden, mit einem gewissen geverdenreichen und
aufgeregten Ausdruck geschildert haben? Doch wir können hier nicht weiter
verfolgen, wie viel oder wie wenig die deutsche Kunst that, um die allgemeine
Anschauung zu bilden oder zu veredeln. Wer ihre Geschichte im zweiten Viertel
des Jahrhunderts durchgeht, der wird finden, daß sie in ihren großen Fächern
weit mehr Gewicht auf den Stoff, den Inhalt, als auf die Form legte und so
dem Geschmack des Tages sich fügte.
Doch woran lag es eigentlich, daß unter den Laien die Phantasie im
Dienste des Verstandes blieb und sich mit jeder, auch unzulänglichen Form be¬
gnügte, wenn sie nur an einem interessanten Stoff sich versuchte oder eine
poetische Stimmung halbwegs versinnlichte? daß sie andrerseits der Last des
alltäglichen Daseins unterliegend todt und stumpf war? Gewiß trug daran die
Kunst selber nicht geringe Schuld, da sie der allgemeinen Anschauung sich unter¬
ordnete, statt sie zu sich zu erheben. Aber suchen wir, worin diese ihren ersten
Grund hatte, se> war es vorab der ganze Zuschnitt des öffentlichen und socialen
Lebens, der eine echte künstlerische Stimmung nicht aufkommen ließ. Die ge¬
setzliche und polizeiliche Zurichtung des ganzen Daseins, welche alle Formen,
Dinge und Menschen in ihre gleichmäßige Ordnung zwingt, in der die Person
nur eine Nummer neuen Nummern und mit ihren Kräften und Leiden¬
schaften hinter die Mauern des Privathauses gebannt ist; auf der anderen
Seite das Individuum in seinen vier Wänden ganz sich selber überlassen, seinen
Launen und Eigenheiten da erst recht nachgebend, nicht abgeschliffen, nicht ge¬
stählt durch die Schule der Oeffentlichkeit, mit seiner Willenskraft auf die
heimliche Ausbildung seines Inneren angewiesen, das es nur durch das Wort,
nicht durch die That mitzutheilen vermag; endlich in sich selber das Bild des
Staates wiederholend, indem es seine Natur in die Fesseln der allgemeinen
Sitte und Meinung legt und so seiner Erscheinung das farblose Gepräge einer
zum Gesetz erhobenen Schicklichkeit aufdrückt, dagegen alle Neigungen und Ge¬
lüste nur um so brennender unter der kühlen Decke spielen läßt: so ist überall
die Form zur starren ausdruckslosen Regel geworden, während das reich ent¬
wickelte Gemüth nur blitz- und sprungweise in einzelnen abgerissenen Aeußerungen
oder in abstracter körperlicher Erscheinung zu Tage schlägt. Wie soll da das
Auge fähig werden, in der Wirklichkeit ein organisches Ganze erfüllter Gestalten,
in der äußeren Hülle die Bewegung des Lebens zu sehen? Auch hier also,
in der Einrichtung der modernen Welt, ein schwerer Gehalt, der sich gegen die
Form gleichgiltig verhält, und daher eine Anschauung, welche entweder in dieser
nach jenem sucht oder nichts von ihr verlangt, als eine leere gefällige Ver¬
körperung des Alltäglichen.
Die alte Klage über die Prosa der Zeit. Diese ist ja nichts Anderes, als
jene Trennung des Inneren vom Aeußeren, jene Verfestigung des inneren Ge¬
setzes zur abgezogenen einschnürenden Rege! und die vom Ganzen losgerissene
auf sich beschränkte Ausbildung der individuellen Eigenheit. Der'Cultus des
Geistes, in dem die Gegenwart eine ihr eigenthümliche Größe hat, feiert in
den Gegensätzen des menschlichen Lebens seine Triumphe. Er unterwirft
sich auf der einen Seite die Natur in einem bisher ungeahnten Umfang und
ringt durch die erfinderische Ausbeutung ihrer Kräfte nach einem neuen glück¬
lichen Weltzustand; auf der andern schafft er alle bisher verdeckten geistigen
Schätze ans Licht und baut sich in Wissenschaft und Literatur eine große innere
Welt auf. Die Wirklichkeit strebt er mit dem Ideal, das er nun nicht mehr
in irgendeinem Himmel, sondern in sich selber findet, in tieferer Weise als je
zu versöhnen. Aber noch ist die Kluft nicht ausgefüllt, der Eingang früherer
Epochen zerstört, die überkommenen Lebensformen zerbrochen und „verdrießlich
klingt nun aller Wesen unharmonische Menge durcheinander". So ist die Prosa
des Jahrhunderts die Schattenseite jener großen Bestrebungen, und der Aus¬
druck „modern", wie er, einerseits bezogen auf das neue Ideal und die
neue Weltanschauung der Stolz des Zeitalters ist, bezeichnet andrerseits seine
Armseligkeit gegenüber der Kunst. Er bedeutet in diesem Sinne alle die Er¬
scheinungen, welche das an den classischen Werken gebildete Auge verletze» und
abstoßen: das schwächliche Ringen nach neuen eigenthümlichen Formen, das
Gefallen am leeren Reiz einer glatten bunten Schönheit und am spielenden
Ausdruck geistreicher Einfälle; das sentimentale Schwärmen in erhitzten Empfin¬
dungen, die Verwechslung des Mächtigen mit dem Gräßlichen; in der Behand¬
lung aber die Lüge einer blos äußerlichen Meisterschaft. Doch der Leser kennt
die Merkmale des Modernen und zu lang ist das Register, sie alle aufzuzählen.
Sie fassen sich in der subjectiven Willkür zusammen, welche losgelöst vom
Grunde des allgemeinen Lebens alle Unbefangenheit verloren hat, daher die
Erscheinung in ihrer Erfüllthcit nicht zu nehmen weiß und ihr dafür die küm¬
merliche Seele ihrer eigenen Einfälle leiht; welche andrerseits eitel auf den
großen die Zeit erfüllenden Inhalt, vom Bande einer bildenden Tradition
vollends losgerissen, zu übermüthig und zu schwach, um eine gründliche Schule
durchzumachen, jenen Inhalt voll und lebendig herauszugeflalten unfähig ist,
über die Unzulänglichkeit ihrer Mittel und Kräfte aber durch eine gesuchte und
übertriebene Erregtheit des Ausdrucks oder eine süßliche und gelenkte Zierlichkeit
der Form zu täuschen sucht. —
Die Kunst, sofern sie diesen Charakter des Modernen vorwiegend an sich
trägt, ist immer nur das Abbild der noch unentwickelten Anschauung des Pu¬
blikums. Sie ist daher besonders in jenen Anstalten vertreten, welche sich
eigens die Aufgabe gestellt haben — um es kurz mit dem rechten Worte zu
bezeichnen —, die bildende Kunst unter die Leute zu bringen: in den Kunst-
Vereinen. Die gute Absicht dieser Institute soll nicht bestritten werden; der
Zweck, die Werke der Künstler zu sammeln, um sie dem großen Publikum zur
Betrachtung sowohl als zum leichteren Erwerb zu übermitteln, so zwischen die¬
sem und jenen ein engeres Band zu knüpfen, die Einen in ihrer Production
zu fördern, den Kunstsinn des anderen zu bilden, ist an sich nicht zu verwerfen.
Doch ist schon die Absicht ein Beweis für die Noth der Zeit, welche den
Mangel des natürlichen Wechselverhältnisses von Kunst und Leben empfindet
und dafür nach einem Ersatz sucht: so bringt die praktische Ausführung die
Übeln Folgen einer solchen Abhilfe vollends zu Tage. Indem die Kunst zum
Publikum herabsteigt, buhlt sie um seinen Beifall und bequemt sich seinen
Launen; Publikum, in dem stolzen Gefühle gesucht zu sein, weiß sich der Herr und
sieht sich mit Gönnermiene die Arbeit des Künstlers darauf an, wie weit sie
seinen Ansprüchen entgegen kommt. Selbstverständlich kann der Verein keine
Stätte für monumentale Kunst sein. Die wenigen architektonischen Pläne,
das plastische Werk, das — im weiteren Sinne — historische Bild, überdies
aus der passenden Umgebung herausgerissen ohne Wirkung, verlieren sich zwischen
den Producten der kleineren Fächer, des Sittenbilds und der Landschaft, welche
den eigentlichen Artikel des Vereins abgeben. Der Laie, zerstreut und schau¬
lustig, bringt von draußen seine alltägliche Stimmung mit, welche, unfähig der
Erscheinung auf den Grund und in ihr die erfüllende Seele zu sehen, nur für
ihre äußeren und gefälligen Züge empfänglich, an das Kunstwerk mit eben
solchen Augen und Ansprüchen herantritt. Er will also in diesem die gewöhn¬
liche ihn umgebende Welt wiederfinden und fühlt sich am wohlsten, wenn ihm
die Prosa, die sich über diese gelegt hat, aus dem Bilde vertraulich und be¬
haglich entgegenwirkt. Trifft er dann in der Landschaft ein bekanntes Stück
Natur, in dem auch er einmal nach der Winterlast seine Sommererhvlung ge¬
funden hat, beglänzt vom Sonnenschein und mit lockenden Waldesdunkel, oder
im Sittenbilde aus bekannten Lebenskreisen eine spaßhafte Situation, die ihm
nach der Verdrießlichkeit des Tages ein Lächeln abgewinnt, so zollt er seine
ganze Anerkennung. „Philister in Sonntagsröcklein" — warum nicht ebenso
gut in der Kunst wie in der Natur? Kommt aber einmal ein Maler, der über
die kleine Welt des Privathauses oder der Bauernhütte den warmen beseelenden
Schein des Malerischen ausgießt, den Mangel des tieferen Inhaltes durch das
geheimnißvolle, an die Stimmungen des menschlichen Gemüths anklingende
Spiel der Töne zu ersetzen oder seinen Gestalten die einfache gediegene Er¬
scheinung des Lebens zu geben sucht! so gehen sie gleichgültig und ohne Ver¬
ständniß vorüber. Andrerseits wollen sie im Kunstwerk eine Erinnerung an
ihre historischen, literarischen Kenntnisse wiederfinden und lassen sich mit Wohl¬
gefallen noch einmal in bunten Farben von ihm erzählen, was sie früher aus
Büchern ihrem Gedächtnisse eingeprägt haben. Natürlich verlangen sie dabei
eine gewisse Geschicklichkeit der Behandlung, denn die verbreitete Bildung des
Jahrhunderts sieht überall wenigstens auf den Schein einer äußerlichen, abglät¬
tenden und die Mühe der Arbeit versteckenden Ausführung.
An dieser Blödigkeit der Anschauung trägt ohne Zweifel einen Theil der
Schuld das Publikum selber. Es betrachtet die Kunst als eine Sache der
Kurzweil, die gerade gut genug ist, dem von der Last des Geschäfts ermüdeten
Menschen eine angenehme Abspannung zu bieten. Daß das Kunstwerk, wie
jeder tiefere Genuß, die volle Hingabe der Persönlichkeit, den gesammelten Ein¬
klang aller Gemüthskräfte von Seiten des Beschauers voraussetzt, wenn es sich
selber ihm ganz offenbaren und zu eigen geben soll: das scheint jenem nicht
in den Sinn zu wollen. Aber die Kunst ihrerseits hat dieser Trägheit der
Phantasie allen möglichen Vorschub geleistet und ihrem lahmen Zuge nach'
gegeben, statt sie zu fruchtbarer Thätigkeit anzuregen.
In München verhält es sich mit dieser matten kunstvereinlichen Stimmung
nicht anders als überall, ja der Gattung von Werken nach zu schließen, welche
am reichsten vertreten und am liebsten gesehen ist, noch schlimmer. Auf den
Besuch des Vereins beschränkt sich so ziemlich der hiesige Kunstcultus und bei
ihm entwickelt der Münchener, was er an Theilnahme für ihre modernen Schö¬
pfungen aufzubringen vermag. Natürlich sind auch hier Landschaft und Sitten¬
bild — das historische Genre einbegriffen — die vorzugsweis beliebten Fächer.
Jene, von der ein gut Theil das Thema der bayerischen Alpen in unermüd¬
lichen Variationen mit einer merkwürdigen Gleichmäßigkeit des Ausdrucks —
wie es Leute mit einem ewiggleichen stereotypen Lächeln giebt — wiederholt,
werden wir später bei der Besprechung der Landschaft überhaupt wiederfinden.
Dagegen ist eine gewisse Art Sittenbild vom Kunstverein so unablösbar,
daß es wie ein aus ihm hervorgetriebenes Gewächs erscheint und da eine Be¬
rücksichtigung verdient, wo vom Verein die Rede ist.
Es sind fast nur bayerische Stoffe, welche diese eigenthümliche Gattung
behandelt und zwar in einer gewissen beschränkten gemüthlich-komischen Auf-
fassung. wie sie dem altbayerischen Stamme geläufig ist. Die Vorwürfe natür¬
lich meist aus dem Bauernleben der auch hier unvermeidlichen Alpen gewählt:
denn hier ist doch noch ein naturwüchsiger, von der Cultur unzersetzter Rest in
nner für den Maler dankbaren Umgebung. Bisweilen auch, daß der eine und
andere Künstler seinen Blick in eine städtische Dachstube auf die Arbeit einer
Näherin, den Kaffeetisch eines alten Mütterchens!, das Spiel von traiter, ihre
verschiedenen Blößen naiv preisgebenden Kindern oder den Sorgenstuhl eines
Pensionirten Schreibers wirft. — Die älteren, wie A. Klein und namentlich
H. Bürkel (die italienischen Motive behandelt dieser ebenso wie die deutschen),
auf welche die Jüngeren vornehm herabzusehen durchaus keinen Grund haben,
halten sich meist an einfache harmlose Situationen: Fuhrleute, Bauern, Jäger,
Schiffer u. s. f. in der Anstrengung ihres Geschäftes oder dem Genuß der Er¬
holung oder auch in allerlei kleinen mißlichen Zufällen. Meistens in kleinem
Zierlicher Maßstab, aber herb charakterisirt, mit den schweren Zügen der nie¬
deren mitgenommenen Natur, ganz hineingesetzt in ihre heimische Umgebung,
Worin sie sich ohne den Ausdruck eines besonderen Lebens behaglich fühlen.
Die Behandlung ist noch in der älteren Manier befangen, die um malerischen
Reiz und Stimmungsleben noch wenig bekümmert war: ziemlich trocken und
bunt, Form und Bewegung der Natur zwar mit frischem Blick, aber etwas
'Mb abgesehen, die Ausführung spitzig und geschrieben. Doch haben die kleinen
Figuren meist das einfache Gepräge des natürlichen Lebens, etwas von dem
vollen Zug desselben, und da sie in ihrer urwüchsigen Anstrengung und Lust
anspruchslos sich darstellen, etwas unbewußt Komisches. Was sonst noch von
der älteren Generation der Genremaler zu Tage kommt, trägt die steifen und
gealterten Züge einer ausgelebten Anschauung. Auch ist der frühere Brauch,
das deutsche Volksleben in seinen verschiedenen Stämmen oder gar die Wechsel¬
fälle der niederen Stände mit moralischer Tendenz zu schildern und so durch
den volkstümlichen Inhalt den Beschauer zu reizen, so ziemlich abgekommen;
man fühlt, daß in derlei illuminirten Blättern zur deutschen Culturgeschichte der
Stoff für die Hölzcrnheit und Armseligkeit der Ausführung nicht länger ent¬
schädigen kann.
Den Neueren genügt daher weder jene harmlose Auffassung der bloßen
Alltäglichkeit, noch diese lehrhafte Beschreibung der naturwüchsigen Neste in¬
mitten der verfeinerten Gegenwart. Sie sind auf besondere Momente aus, in
denen sich das Lächerliche dieser kleinen Welt, der es in ihrer Naivetät mit
ihren geringfügigen Zwecken so gewaltig Ernst ist, zu einem deutlichen Spaß
zuspitzt, oder doch die Menschen zu einem besonderen Thun mehr zusammengefaßt
und deshalb ausdrucksvoller, interessanter erscheinen. Zugleich ist doch auch
bis in die Mauern des Kunstvereins etwas von dem malerischen Sinn ge'
drungen, der in der Erscheinung als solcher eine selbständige Lebensfülle sieht.
Es ist jetzt seltener, was früher neben jenen ernsteren Schilderungen als ein
Stück deutscher Heiterkeit wohl beliebt war: daß nämlich an den Figuren jener
eingeschränkten Kreise als an für sich leeren und geistlosen Geschöpfen irgend
ein possenhafter Einfall Versinnlicht wird, der dann ihre eigentliche Seele aus¬
macht. Derlei Scherze, mit denen man sich im stolzen Bewußtsein des deut¬
schen Humors nicht wenig wußte, liegen nun hinter uns. Wenn der neuere
Genremaler nach einer komischen Situation greift, so wählt er sich mit rich¬
tigeren Gefühl meistens eine solche, die den eigentlichen Lebensinhalt der Person
spielend in sich zu fassen vermag; wie er andrerseits den Ernst des kleinbürger¬
lichen Daseins nicht mehr in den für den Maler ganz unbrauchbaren Conflicten
der socialen Fragen sucht, sondern in dem gemüthlichen, stimmungsvollen Aus¬
druck dieser noch in das naive Leben der Gattung, in die Noth und den Ge¬
nuß der äußeren Dinge versunkenen Welt.
Wir reden hier nicht von denjenigen unter den Münchenern Ge-nremalern, die,
noch immer in Erfindung von ebenso Phantasie- als charakterlosen Situationen un¬
erschöpflich, nicht müde werden, sonntäglich gekleidete Bauern in allen Lebenslagen,
deren ihre cnggezogene Existenz fähig ist, dem Publikum — das übrigens zu einem
ziemlichen Theil in deren Betrachtung eine gleich rühmliche Ausdauer bekundet —
immer wieder vorzuführen: Burschen mit ihren Schätzen, Mütter mit ihren^Kindern,
Weiber bald in oder vor der Kirche, bald in der Küche, nebenbei auch Kessel¬
flicker mit Dienstmädchen, Vagabunden, Krämer und Flickschuster. Nicht, als
ob diese Stoffe einer echt künstlerischen Behandlung nicht fähig wären. Aber
der Maler veranschaulicht nichts als ihre äußere, vom Lebensgrunde abgezogene
langweilige Hülle, zusammengeflickt aus den bunten Lappen, die hier und da
Unter dem Volke sich noch erhalten haben; mit diesen behängte Puppen, deren
Formen den Stempel der nächsten Verwandtschaft mit dem Gliedermann an
sich-tragen und deren Bewegungen eine Gelenkigkeit entwickeln, welche jedem
Automaten Ehre machen würde. Von der Art Gemälde läßt sich ebenso wenig
etwas sagen wie von den Madonnen Raphaels. Ist in diesen bei höchster Ein¬
fachheit die größte Fülle eines reizenden Lebens, so findet sich in jenen bei be-
wundernswerther Einfalt die vollkommene Leere eines abgeschmackten Daseins:
Weder das Eine noch das Andere vermag die Sprache zu schildern. Hier zeigt
sich wie nirgend die Ohnmacht der modernen Kunst, das Leben auch in seinen
unscheinbaren und alltäglichen Aeußerungen voll und tief zu fassen; hier, wo
der Inhalt gleich Null das Interesse nicht gefangen nehmen kann, die Armuth
und Trostlosigkeit der Phantasie und die lügnerische Geschicklichkeit einer dilettan¬
tischen, technisch ungebildeten, in der Form wie in der Farbe ausdruckslosen
Behandlung. Selbst ein Holländer mittleren Ranges giebt seinen in dem un¬
bedeutenden Moment gewöhnlicher Beschäftigung festgehaltenen Figuren, seinen
Zechenden, raufenden Bauern, seinen musicirenden oder sich schmückenden Frauen
die Unendlichkeit eines in sich gediegenen Lebens mit, indem er in den ein¬
fachen Vorgang durch eine wenigstens annähernde Vollendung der Form ihre
Seele, ihr Dasein legt. Von den Meistern nicht zu reden, welche ihre im
Geringfügigem befangenen Personen durch den überzeugenden Ausdruck stillen
inneren Glückes, ausgelassener, ganz in sich verlorener Lust oder rauflustigen
Uebermuths über die Beschränkung ihrer kleinen Existenz hinaussehen, und
dazu die todte Umgebung von Natur, Haus und Geräthe im malerischen Spiel
von Farbe, Licht und Schatten aufleuchten und aufleben, sie gleichsam die har¬
monische, voll ineinanderklingende Begleitung zum eigentlichen Thema spielen
lassen.
Freilich, es war seine eigene Welt, die der Holländer darstellte. Was in
der Schenkstube oder dem Prunkzimmer des Mynher vorging, das war ihm so
"ah und lebendig, wie was ihn selber bewegte; was er sah und hörte, fand
einen deutlichen Widerschein, ein klares Echo in seiner eigenen Brust. So
hatte er nur diese, seine eigene Empfindung, in die vertrauten Gestalten, denen
er auf Schritt und Tritt begegnete, die Seinesgleichen waren, niederzulegen, um
deren Leben zu fassen und festzuhalten. Der Neuere dagegen steht den Kreisen,
ihm allenfalls noch malerische Stoffe bieten, fremd gegenüber, und wenn
d^se ein sich schon durch die scharfe Sonderling von der verfeinerten Welt für
unser Bewußtsein ein dumpfes nur kümmerliches Leben führen, so ist es zudem
für den außerhalb Stehenden wie verdeckt und verschüttet. Daher sieht er nur
seine äußere Hülle und so viel allenfalls noch als schwacher Ausklang der in¬
nren Bewegung auf der Oberfläche spielt. Begreiflich daher, daß der Maler,
es um mehr zu thun ist, nach fruchtbaren Momenten sucht, in denen sich
das Treiben jener naturwüchsigen, aber für ihn inhaltslosen Menschen zu einem
volleren energischeren Ausdruck zusammenfaßt, die Aufregung eines wenn auch
kleinen Ereignisses den stärkeren Wellenschlag des Innern auch in die äußere
Erscheinung wirft. Ist von jenen Münchener Genremalern, welche sich an die
gewöhnlichsten Vorgänge des Alltaglebens halten, H. v. Rhomberg der be¬
deutendste, so fern in seinen Bildern wenigstens der Reiz einer gewissen mit
flotter Hand wiedergegebenen Naturwahrheit ist: so haben von den Letzteren,
die es auf einen bewegteren Inhalt und lebendigeren Ausdruck absehen,
C. v. Enhuber und R. S. Zi um ermann das meiste Talent und Ge¬
schick. Der Leser kennt wohl zum Theil die Gegenstände und den Charakter
ihrer Darstellungen, die öfters vervielfältigt sind. Ihr Interesse beruht meistens
auf den komischen, seltener auf den ernsten Conflicten, welche dieses kleine Le¬
ben mit sich führt, oder aus der Schilderung seiner verschiedenen Typen in
einer Situation, welche ihre Eigenheit zu einem scharfen Ausdrucke zuspitzt.
Da es hierbei den Künstlern auf ihre geistreiche und charakteristische Auffassung
ankommt, so liegt die Bedeutung des Bildes ebenso sehr in dem Gegenstande,
als in der Behandlung. Bei Zimmermann z. B. behäbige Lar diente, die,
nachdem sie sich im städtischen Gasthofe gütlich gethan haben, über die theure
Zeche erschrecken; oder die am Schrannentag im „protzigen" Bewußtsein der
gefüllten Taschen Eins draufgehen lassen; allerlei Leute, die sich in einer Leih¬
bibliothek für die magere Realität ihres Lebens in Romanen einen idealen Trost
suchen; Bauern unter dem Druck eines verlegenen Respects in Prungemächern;
andrerseits ein verirrter Sohn, den die bekümmerte Mutter mit Hilfe des Pfaf¬
fen vom Kartenspiel und aus der Gesellschaft böser Gesellen holt, oder guter
Leute Kind herabgekommen und mit zerstörten Mienen unter vagirenden Musi¬
kanten. Enhuber sucht in derlei Kreisen mehr die Widersprüche und Unge¬
reimtheiten, welche, in einer reichen Gruppe verschiedener Individuen verschieden
ausbrechend, mit Humor und Witz sich fassen lassen: ein Schneider, welcher der
bösen Frau zum Kartenspiel mit befreundeten Philistern durchgebrannt ist und
nun, da sie keifend hereinstürzt, seine Flucht unter den Tisch fortsetzt, während
Bäcker, Schuster und Barbier vergeblich ihn zu verstecken suchen, der Triumph
also einer bösen Sieben über gemüthliche Pantoffelhelden; allerlei malerisch ver¬
lumpte oder festtäglich ausgeputzte kleine Leute im belaubten sonnenbeschienenen
Hof vor dem alten Amtshause, im kritischen Moment ihres Zusammenstoßes
mit den Mächten des Landgerichts: als Hauptgruppe ein schon glücklich abge¬
fertigtes Brautpaar mit seiner Sippschaft im Gegensatz zum vom schlechten Ge¬
wissen zusammengekrümmten Vagabunden, den der Gerichtsdiener unhcildrohend
herbeiwiukt; oder endlich, um auch einmal umgekehrt die bergluftsüchtigen Städ¬
ter dem Gelächter preiszugeben, Vergnügungsreisende im bayerischen Hochge¬
birge unter der grauen Decke eines unermüdlichen den Münchener Sommer«
frischlern nur allzubekannten Regcnhimmels, und, um das Maß des Leidens
voll zu machen, eben erst der schrecklichen Qual des Stellwagens entstiegen.
Man muß es Enhuber lassen, daß er seine Figuren mannigfach zu charakterisi-
ren und die Gegensätze des menschlichen Wesens in der Beschränkung des
gewöhnlichen Treibens komisch zu versinnlichen sucht. /Auch gelingt es ihm
eher wie Zimmermann, in seine Figuren die überzeugende Bewegung der Na¬
tur zu bringen, in ihren Mienen und Geberden die innere Stimmung spiegeln
zu lassen und die Umgebung mit dem Inhalte des Motivs in Einklang zu
setzen. Aber es fehlt seinen Gestalten wie denen Zimmermanns die naive Er-
fülltheit der Erscheinung, die unbewußte Selbständigkeit des Lebens, sie gehen
in der Spitze des spaßhaften Momentes auf. Dem ernsteren Beschauer bleibt
ein Gefühl, wie wenn ihnen eigens zu diesem Spiele ein künstlicher Athem
eingeblasen wäre und sie mit diesem ihr seliges Ende nähmen. Das komische
Ereigniß ist ihre Seele. Es fehlt ebenso die tiefere Auffassung, wie die Voll¬
endung der Form und des Ausdrucks, das ernste Sich-Einleben in den kleinen
Stoff wie die Meisterschaft der Behandlung, wodurch doch allein das Kunst¬
werk auch der kleineren Gattung mit dem Reiz seelenvoller und malerischer Er¬
scheinung Auge und Phantasie gleich sehr zu fesseln vermag. Auch die Hol¬
länder fassen bisweilen das Treiben ihrer Individuen in einen Spaß oder in
einen novellistischen Hergang; aber die zerlumpten Kerle Ostades wie die fei¬
nen Damen Terburgs legen, wie schon bemerkt, gleichsam die Wucht ihres gan¬
zen Daseins in den flüchtigen Augenblick. In ihnen ist der Schein des natür¬
lichen Lebens nicht blos mit überraschender Wahrheit wiedergegeben, sondern
voll und mächtig über die Noth und Schwäche der zufälligen Wirklichkeit in
das Ideale und Künstlerische hinaufgehoben. Das freilich ist nur möglich durch
die Meisterschaft malerischer Anschauung und Durchführung, welche auch das
kleinste Geräthe in den lebendigen Zug der Phantasie hereinnimmt, in die ganz
durchgebildete Erscheinung des Menschen aber seinen ganzen Inhalt hinauslegt
und deshalb wieder aus ihr die Tiefe seines Innern herausleuchten läßt: eine
in ihrer Geringfügigkeit vollendete, harmonische, selbstgenugsame Welt.
Wenn nun auch die Meisterschaft der Holländer der modernen Zeit über¬
haupt versagt zu sein scheint, so haben doch die Düsseldorfer Kraus, Bankier
und Salentin bewiesen, daß eine Behandlung, welche im sicheren Besitz der
Darstellungsmittel vorab aus eine erfüllte malerische Wirkung ausgeht, auch noch
dem heutigen Sittcnbiide einen tieferen Reiz zu geben und die alltägliche Wirb
lichkeit in den idealen Schein der Kunst zu erheben vermag. Ja, nicht einmal
so weit braucht man zu greifen; in München selber finden sich einige Genre-
maler — von ihnen wird später die Rede sein — welche mit freiem Sinn für
die selbständige Schönheit des Malerischen den Inhalt in diese ganz hinauszu¬
führen suchen.
An der Art von Sittenbild aber, welche für den Kunstverein so bezeich¬
nend ist, hat sich die Engherzigkeit gerächt, mit der jene Anstalt und mit ihr
eine ziemliche Anzahl Künstler sich von aller ausländischen modernen Kunst ab¬
sichtlich und eigensinnig absperren. Nicht genug, daß die neue Münchener Ma¬
lerei zum guten Theil, wie wir früher gesehen, das Studium der alten Meister
vernachlässigt: sie verschmäht auch noch das Geschick und die Kenntnisse, welche
als die Frucht einer mühsamen Entwicklung, namentlich die moderne französische
Kunst und nach ihrem Vorgang manche junge deutsche Kräfte sich erworben
haben. Sie wirft sich lieber einem zufälligen, zerfahrenen Naturstudium, das
doch ohne die lebendige Anleitung der Schule und der Ueberlieferung immer un¬
zulänglich bleibt, mit Leib und Seele in die Arme. Davon abgesehen, daß sie
so zu einer gebildeten Formenanschauung, zur künstlerischen Uebung des male¬
rischen Blicks kaum gelangen kann, bleibt sie so selbst in der technischen
Behandlung unerfahren, rathlos, auf einige akademische Regeln und eigenes
unsicheres Herumtasten angewiesen. Wie viel Zeit und Mühe die strebenden
Künstler auf den Erwerb der technischen Mittel vergeudet haben, nachdem die
Tradition, von der Neuzeit abgeschnitten, ihren Schatz von praktischen Erfah¬
rungen mit sich begraben: das kann man sie selber oft genug klagen hören.
Um so mehr sollten die Deutschen zusehen, die Uebung, welche darin vorab die
französische Kunst durch ihren geschlossenen Zusammenhang und die Anstrengung
manches Menschenlebens erlangt hat, sich zu Nutze zu machen. Die jungen
Talente, welche in diese Schule gegangen sind, haben deshalb an ihrer deutschen
Phantasie und Gedankentiefe keinen Schaden gelitten; sondern, so weit sie von
tüchtigem Zeuge sind, wieder ausgestoßen, was sich von französischer Anschau¬
ung in die ihrige eingemischt hatte, dagegen durch die erlangte Herrschaft über
die Mittel Arbeiten hervorgebracht, welche dem echten Kunstwerk weit näher
kommen, als all der illuminirte Humor der bayrischen Wirthshäuser, Gebirgs-
joppen und Alpenfröhlichkeit. —
Freilich, so lange die künstlerische, in der Erscheinung der Dinge ihre Seele
erblickende Phantasie, das Auge für die selbständige Schönheit der Form und
Farbe fehlt, so lange bleibt auch die Technik unzulänglich und dem Maler
ihre Bedeutung verschlossen. Ist es doch im Publikum etwas Aehnliches, weil
jene beiden Seiten der Kunstthätigkeit untrennbar sind. Wie diesem die Uebung
des in das Kunstwerk eindringenden, es neubelebenden Blicks fehlt, so auch
der Sinn für den Reiz der äußeren Vollendung, den Schwung und die Freiheit
der technischen Hand. Wenn der Maler vorab auf den überraschenden Eindruck
der Naturwahrheit aus ist, so sucht jenes vor allem im Bilde die ihm bekannten
Züge der Wirklichkeit. Zudem fällt ihm noch mehr als Ersterem Form und
Inhalt auseinander. Stumpf für das einfach erfüllte Leben des Kunstwerks,
das beides in einen vollen Accord zusammenfaßt, erwacht seine Theilnahme
erst da, wo der Inhalt, über die Form hinausgreifend, eine Begebenheit andeu¬
tet, welche sich die Phantasie erzählend ausmalen kann.
In dieser Auffassung des Kunstwerks wird das Publikum von den Kunst¬
recensenten der Münchner Zeitungen nur bestärkt. Bekanntlich hat in unseren
Tagen die Kritik der Zeitschriften und Tageblätter auf die künstlerische Stim¬
mung und Anschauung einen Einfluß gewonnen, der den schöpferischen Epochen,
die sich mit mündlichem Austausch begnügten, ganz fremd war. Die moderne
Unsicherheit der ästhetischen Empfindung weiß sich in der Menge der aus der
Vergangenheit hervorgeholter Stosse und Formen nicht zurechtzufinden, nichts
entschieden abzulehnen, nichts entschieden festzuhalten; sie klammert sich daher
an die kritische Forschung und läßt sich von dieser den Weg weisen. Die Stütze
der Kritik ist dem Laien zum Bedürfniß geworden. Ob freilich durch sie seine
Anschauung an Halt und Klarheit gewinnt, daran muß, offen gestanden, der
Kritiker selber zweifeln; denn womöglich noch vielköpfiger als das Publikum
ist das Kunstrichterthum. Wenn den Beschauer nicht seine eigene gute Natur
auf das Rechte bringt, bei den wirr durchcinanderlärmenden Stimmen der
Kritik wird er sich schwerlich Raths erholen. Was kann auch der Kunstforscher,
dem es Ernst ist, dem modernen Werke gegenüber Anderes, als einerseits die
Wirkung schildern, die es auf seinen an der mustergiltigen Kunst geübten Sinn
macht, andrerseits die Stellung kennzeichnen, welche es in dem geschichtlichen
Zusammenhange des neuen Kunstlebens einnimmt? Was er von der Auffassung,
Behandlung und Ausführung auf Grund seiner Kennerschaft und seines ästhe¬
tischen? Wissens vorbringt, dafür muß er den Beweis schuldig bleiben; denn er
kann das Object der Anschauung nicht ebenfalls in Worte fassen, um an ihm
seine Meinung zu demonstriren. Was aber verbürgt dem Leser, der an der
Kritik sein Urtheil bilden möchte, ob dem Geschmacksrichter die erste Bedingung
aller Kunstbetrachtung eigen sei: nämlich die natürliche und durch Studium ge¬
bildete Gabe des Verständnisses? und ob er den Ariadneknäuel gefunden habe,
der ihm durch das Labyrinth der vielverzweigten modernen Kunst durchhelfen soll?
Auf Treu und Glauben muß er sich dem Führer überlassen: wo es dann wohl
vorkommen kann, daß er schließlich noch mehr in die Irre gebracht auch den
Faden verliert, den ihm sein eigener Sinn noch an die Hand geben könnte.
Denn in derselben schwankenden Ungewißheit wie die allgemeine An¬
schauung befindet sich das Kunsturtheil. Ja mehr noch als jener fehlt diesem
seiner Natur nach die Unbefangenheit des Blickes, die naiv sich hingebende
Freude an der Erscheinung. Wie erstere über der Frage nach dem Inhalt nur
selten der Form ihr Recht werden läßt: so hat bisher die deutsche Kritik fast
durchweg die Schleppe der Philosophie getragen und überall zunächst nach dem
bedanken, der Idee gesucht, die Form dagegen als ihr bloßes Kleid nebenher
"ut ein paar sei es dürren, sei es blühenden Redensarten abgefertigt. Natürlich,
bei dem Gerede über die „Idee" läßt sich ein gewisser Aufwand von Gelehr¬
samkeit und Scharfsinn machen, während bei der Frage rauh der Form die
ohnedem arme Sprache den Mangel der Phantasie wie der Kenntniß offen zu
Tage bringt. So schätzt denn auch die Kritik der Münchener Blätter vor allem
die Bilder, welche sich erzählen, in eins der ästhetischen Schubfächer einschieben
oder doch einen Schweif von ästhetischen Bemerkungen sich anhängen lassen.
Außerdem hat sie selbstverständlich den Trieb, in der einheimischen Kunst mög¬
lichst viel Meisterwerke zu entdecken: wobei es ihr indeß bisweilen begegnet —
zumal wenn sie Gemälde vor sich hat, die ihr unbescheidener Weise keinen An¬
laß zu allerlei Reflexionen über den Inhalt oder ästhetische Gesetze geben —
daß sie auf wahrhaft künstlerische Arbeiten den vernichtenden Stempel ihrer
Verachtung drückt, nachdem sie über höchst mittelmäßige Machwerke in einen
geheimnißvollen Schwung unverständlicher Redensarten gerathen war. So hatte
noch kürzlich der Recensent der bayrischen Zeitung das Unglück, mit einer Ent¬
rüstung, die selbst niedere Ausdrücke nicht verschmähte, über eine südliche Land-
sckaft von R. Krause herzufallen: ein Bild, das in der Vereinigung der
schönen Formen organischer Erdbildung mit einer feinen colvristischen Stim¬
mung, so wie in der sorgsamen Durchbildung ein Talent und eine künst¬
lerische Anschauung bekundete, wie sie im Kunstverein nur höchst selten anzu¬
treffen sind. —
Doch die Art von Kunstsinn und Anschauungsweise, die dem Vereins¬
publikum eigen ist, findet sich nicht blos bei diesem. Es ist etwas davon in
der ganzen Bevölkerung. Das wird namentlich fühlbar in dem fast durch¬
gängigen Mangel an Verständniß für monumentale Kunst, die doch vor allen
— vorausgesetzt natürlich, daß sie darnach ist — durch ihre Darstellung der
großen Kreise des Menschenlebens und durch ihr mächtiges Hinaustreten in die
Oeffentlichkeit zur Anregung eines tieferen Interesses im Volke geeignet scheint.
Wie in München der Sinn und die Fähigkeit für öffentliches Leben überhaupt noch
weniger entwickelt ist. als anderswo im gar so häuslichen deutschen Vaterlande,
so tritt dort auch die Gleichgültigkeit gegen die monumentale Kunst noch un-
verholener zu Tage. Erst neuerdings hat sich das wieder in einem recht be¬
zeichnenden Falle erwiesen. Nach dem unerwarteten Hingange des verehrten König
Max allgemeine Entrüstung und Trauer; dann, als sich die erste Verwirrung
gelegt hatte, ein Aufschwung dankbarer Erinnerung an den Verstorbenen und
der begeisterte Entschluß, aus freiwilligen Beiträgen des ganzen Landes ihm
ein mächtiges Denkmal zu setzen — natürlich als den unvergänglichen sicht¬
baren Ausdruck der allgemeinen Liebe. Also doch wohl — nicht anders läßt
sich denken — ein monumentales Bild des Fürsten, ein vor den Augen des
Volkes sich erhebendes Denkmal seiner Persönlichkeit und seiner Regierung.
Aber so hatte es ein gut Theil der Münchener nicht gemeint, mit dieser Vex-
Wendung ihres beigesteuerten Scherfleins. bei der ein greifbarer Nutzen nicht
zu holen ist, waren sie nicht einverstanden. Es erwachte plötzlich ein förmlicher
Wetteifer von edlen und hochherzigen Ideen über — milde Stiftungen und
Anstalten für das allgemeine Wohl; mit einem derartigen Institut, das auf
Umwegen des Volkes Geld in des Volkes Tasche zurückbrachte, glaubte man
den selber mildherzigen Monarchen mit einem Denkmal zu ehren, dauernder als
Erz. Wozu auch, so hieß es, zu den Vielen neuen Monumenten, über deren
Mittelmäßigkeit nun sofort mit rühmenswerther Einsicht Alle einverstanden
waren, noch ein neuestes? Davon wollte man nichts wissen, daß nun, bei
wahrscheinlich reich fließenden Mitteln, der Kunst eine große Aufgabe, zudem
eine solche gestellt war, bei der sie auf dem fruchtbaren Boden eines Volks-
thümlichen Interesses fußend mit der realen Gegenwart in eine belebende
Wechselwirkung treten konnte. Vergebens bekämpfte eine kleine Schaar dieses
überraschende Erwachen eines praktischen und rührigen Sinnes, der gerade da
sich kundgab, wo es sich um den künstlerischen Ausdruck der begeisterten Er¬
innerung an einen Todten handelte. Jene erreichte nichts, als daß ein Mittel¬
weg eingeschlagen, die eine Hälfte der Beiträge für ein Monument, die andere
für eine dem Volkswohl zweckdienliche Anstalt bestimmt wurde — ein Ausweg,
mit dem natürlich keiner Partei gedient ist und dessen Ergebniß nach beiden
Seiten nur ein halbes sein kann. Diesmal wird übrigens der Mittelweg, zu
dem man sich verständigt, um so weniger ein goldener heißen können, als sich
allmälig, wie der Ertrag der Sammlung ausweist, die ^ursprüngliche Begeiste¬
rung ebenfalls auf ein Mittelmaß herabgekühlt hat: zum neuen Beleg, daß in
Gelddingen nicht blos die Gemüthlichkeit, sondern auch die aufopfernde Anhäng¬
lichkeit von höchst zweifelhafter Tiefe oder Dauer ist.
Doch auch jetzt, da nur die Hälfte der kleinen Summe für ein Königs-
»ronument ausgesetzt ist, erlahmt noch nicht der praktische Sinn des Altbayern
im Kampfe mit der idealen Schwärmerei, welche den Fürsten mit einem ledig¬
lich ihm gewidmeten Denkmal ehren möchte. Bekanntlich liegt im Herzen Mün¬
chens eine Wüste, der Dult- oder Maximiliansplatz. Nun ist ein Architekt auf
die Idee gekommen, denselben zu Nutz und Frommen der Einwohner in eine
Gartenanlage umzuwandeln, mit einigen Ruhebänken, Blumentöpfen und Kan¬
delabern, dazu zwei Springbrünnlein für die wasserbedürftige Nachbarschaft, in
der Mitte aber mit einem Standbild des Königs im Krönungsornat — damit
"tho der neugeschaffene Spaziergang zur Noth wohl auch für ein „Denkmal"
gelten könne. Lärmend und fechtend trat die kleine Localpresse für den Plan
ein. Indessen ist die Beschlußfassung über das Monument Männern anheim¬
gegeben, welche über die dem Todten zu erweisende Ehre nicht eben solche phi¬
lanthropische und gemeinsüchtige Ansichten haben, wie sie andrerseits dem Ver¬
nehmen nach für die andere Hälfte der Summe die beste Verwendung getroffen
haben: zu Gunsten nämlich der Gewerksschule, die sich nun zu einer größeren
Kunstindustrieschule erweitern soll.
schlagend hat sich kürzlich noch an einem anderen Beispiele gezeigt, wie
wenig im Volke der Sinn für monumentale Kunst entwickelt ist. Ein Beispiel
übrigens, das zugleich von den schlimmen Einflüssen des neuesten Bauwesens
ein beklagenswerthes Zeugniß liefert. Wohl prägen sich die einförmigen, ewig
wiederholten Hauptzüge der „modernen" Architektur dem künstlerisch ungeübten
Auge ein, weil sie niedere und arme Formen, zudem auf ihr magerstes und
nüchternstes Maß heruntergebracht, abgetrennt von ihrem structiven Princip,
in einer schematischen, rein äußerlichen Zusammenstellung auf die simpelste Weise
variiren; mit ebenso viel Aufwand von Kenntniß und Phantasie kann sie der
Laie sich merken und der erste beste Maurermeister wiederholen. Aber um
so gewisser tödten sie auch den Rest noch ab. der von künstlerischem Sinne im
Volke geblieben ist. Wenn nun auch die nicht geringe Anzahl der Einsichtige¬
ren diese modernen Versuche als vollständig mißglückt ansieht, so feiert doch
jetzt schon jene nachtheilige Wirkung auf das Publikum der mittleren Classen
einen traurigen Triumph. Es handelt sich nämlich um den Bau eines großen,
von den Einwohnern Münchens gegründeten Volkstheaters, das an der
Stelle der kleinen Vorstadtbühnen, welche ihr Publikum mit Späßen ziemlich
grober Art belustigen, der Sitz einer edleren volkstümlichen dramatischen Kunst
werden soll. Nichts natürlicher also, als daß dem groß angelegten Unternehmen
das Gebäude entspreche und in seiner äußeren Form künstlerisch durchgeführt
den passenden monumentalen Ausdruck abgebe für den künstlerischen Zweck.
Was aber geschieht? Der Bau (für den bedeutende Mittel ausgesetzt sind) wird
einem — Zimmermeister übergeben. Doch was ist darüber sich aufzuhalten.
In der That haben die Gründer des Theaters so unrecht nicht: um die mo¬
derne Strecklisenenorduung von den königlichen Bauten nun auch auf die des
Volkes zu übertragen, dazu sind die Kenntnisse und Fähigkeiten eines Zim¬
mermeisters vollkommen ausreichend, die Kunst aber eines talentvollen und ge¬
bildeten Architekten ebenso überflüssig.
Der preußische Staat zählt heute acht Privatbanken und die königliche
Bank nebst deren Filialen. Die königliche Hauptbank datirt bereits seit
der Cabinetsordre vom 17. Juni 1765 und erweiterte sich in der Mitte der
vierziger Jahre; ihr zunächst folgten die Stettiner Privatbank seit 18. Au¬
gust 1824, dann die breslauer städtische Bank seit 10. Juni 1848, dann
der berliner Kassenverein seit Is. April 1850, dann die Privatbanken zu
Köln am Rhein am 10. October 1855, Magdeburg am 30. Juni 1866,
Königsberg in Preußen am 13. October 18S6, endlich am 16. März 1857
die zu Posen und Danzig, welche letzteren indeß erst im Herbst, resp. Ende
Sommers 1857 ihre Thätigkeit begannen. In den nächsten Jahren endet die
vorläufige zehnjährige Concesfivnszeit der genannten Privatbanken; da taucht
um so lebhafter die Erinnerung an die Mühsalen und Plackereien auf, welche
die preußische Regierung gerade in der für jene schwerste Zeit der Gründung
und ersten Sicherung zu Gunsten ihrer obervvrmundschaftlich zu hütenden Un¬
terthanen und der möglichst zu privilegirenden und monopolisirenden königlichen
Hauptbank den Privatbanken bereitete. Aber nicht minder gefährdeten ängst¬
liche, wo nicht gar von Regierungs- oder politischen Rücksichten geleitete Acti¬
onäre der Banken selbst ihre Existenz durch wiederholte Auflösungsabsichten und
Anträge. Es fragt sich, waren jene Schwierigkeiten und diese Absichten irgend
gerechtfertigt? oder sind sie widerlegt und künftig zu beseitigen? Wie wider¬
legen sie die Thätigkeit der Privatbanken ? Wie hätte diese Widerlegung etwa
nachdrücklicher sein können? Welche Lehren resultiren aus der bisherigen Be¬
wegung dieser wichtigen Geldverkehrs- und Crebitinstitute für die Privat¬
banken selbst, für die königliche Bank, für das Publikum?
Durch detaillirte Vergleichung der ganzen mannigfachen Geschäftsthätigkeit
der acht Privatbanken unter sich und mit derjenigen der königlichen Bank in
den letzten sieben Jahren muß sich, trotzdem die posener und danziger Pri¬
vatbanken nur das letzte Drittel und Viertel des Jahres 1857 arbeiteten, und
trotzdem die Preußischen Bankberichte den Bergleichstabellen leider in vielen
Wichtigen Punkten nur Fragezeichen statt der genauen Beträge anheimgeben"),
eine Zahl obiger Fragen mit genügender Genauigkeit und möglichst erschöpfen¬
den Beweiskraft beantworten lassen; aus den Zahlenreihen werden die wirth¬
schaftlichen Naturgesetze resultiren, welche für die noch stark in der Entwicklung
siebenden Banken, die gegenwärtigen Brennpunkte der Geld- und Creditwirth¬
schaft, von viel mehr durchschlagender Bedeutung sind, als ,sür andere, nicht
mehr den Zweifeln und Hypothesen der Theorie und Praxis gleich ausgesetzte
ökonomische Institute.
Dieser Erwägung folgend stellte u. A. der als tüchtiger Kenner der
Boltswirthschaft bewährte Rechtsanwalt und Syndikus der danziger Privat-
dank C. Roepell, einer der drei Abgeordneten Danzigs in der preußischen
Kammer, in 21 Tabellen die Berichte der „neun preußischen Zettelbanten"
über ihre Bewegung von 1857—63 voll Sachkenntniß zusammen (Danzig, Ka-
femann. 1864, 39 S. gr. 8.), indem er einzelnen der Tabellen kurze und sür
die Zukunft wichtige Bemerkungen beifügte.
Die wichtigsten der von den Banken veröffentlichten Berichte, mit einan¬
der in einer von Rvepell abweichenden Folge verbunden und verarbeitet, geben
uns >n Kurzem folgende lehrreiche Resultate.
Das sia mmcapita l sämmtlicher preußischer Banken beträgt 25,796,000 Thl.;
davon kommen auf die königliche Bank (in Actien von 1000 Thlr.) 16,897,000Thlr.,
nämlich Staatsgelder nur 1,897,000 Thlr. und Privatcapital 15 Millionen;
aus die Privatbanken (in Actien von 500 Thlr.) je 1 Million, nur auf
Stettin 1,899,000 Thlr., .ihr Verhältniß zur königlichen Hauptbank ist also
—-9:17. Dec dabei betheiligte viel kleinere Zahl der Ausländer hat doch
nahezu denselben Actienantheil, wie die Inländer. Der Grundbesitz der Privat¬
banken scheint etwa zwischen 20—25,000 Thlr. zu schwanken, nur Berlin zeigt
92,660 Thlr., die königl. Hauptbank dagegen 918,000 Th.ir. Der Reservefonds
der Privatbanken schwankt zwischen 67,546 Thlr. (Magdeburg) und 85,920 Thlr.
(Danzig), nur Berlin ragt vor mit 118,850 Thlr. und Breslau reservirt einen
Fonds erst von 1863; der der königlichen Hauptbank ist 3,545,565. Der Ac-
t imo erth steigt somit so: Magdeburg 533^/,, Posen 536^/,, Königsberg 538,
Köln 542, Danzig 543, Berlin 569V». (ü, 500 Thlr.); königliche Hauptbank
1239 Thlr. (ä. 1000 Thlr.) und Stamm- und Reservecapital der Privatbanken
(8,480,175Thlr.) verhält sich zu demselben der königl. Hauptbank (20,442,565 Thlr.)
— 2:5.
Kaum einem Zweifel kann unterliegen, baß es Hauptgrundsatz der Bank-
lhätigkeit sein muß, die fremden Gelbbeträge jeder Art, welche in den Bereich
ihrer Geschäftsbewegung gelangen, an sich zu fesseln, und Einnahme und Aus¬
gabe zu vereinen. Die Zettelbanken Nordamerikas, auch Englands, geben seit
langer Zeit den Beweis der Thatsachen dafür. (Check- und Claringsystem.)
Hinsichts des Depo sitengeschästs scheidet hier zunächst Berlin unter
den preußischen Banken aus, das kein Depvsitengeschäst macht. Stettin giebt
über die neucingezahlten und abgehobenen Depositen gar keinen Nachweis;
einen unvollkommenen namentlich für die früheren Jahre zeigen Köln, Königs¬
berg, Breslau. Die neucingezahlten verzinslichen und unverzinslichen De¬
positen steigen in der königlichen Hauptbank 1857 bis 1861 von 12 Millionen
aus 21 Millionen und fallen seitdem wieder aus 17,6 Millionen. Die andern
Banken erlangen ebenso den Höhepunkt der Depositen entweder 1861 (Mägde-
bürg) oder 1862 (Danzig. Köln. Königsberg. Posen) oder 1863 (Breslau).
Die größte Einzahlung unter ihnen empfing Danzig 1862: 1,749.150. die kleinste
Königsberg 1858: 27.060. Im letzten Jahre (1868) schwanken die Depositen
der Privatbanken zwischen 1,476.760 (Danzig) und 238.200 (Magdeburg) in
folgender Reihe: Danzig, Königsberg. Köln. Posen, Breslau, Magdeburg. Zu¬
sammen betrugen die neueingezahlten Depositen der königlichen Hauptbank und
Privatbanken 1857: 12 Millionen, stiegen bis 1861 auf 26 Millionen und
fallen seitdem auf 22 Millionen. Allem diese Zeitfolge bestimmt, wie aus Obi¬
gem erhellt, wesentlich die königliche Hauptbank wegen ihrer so überwiegenden
Beträge; bei den Privatbanken allein würde die Hauptsumme der neuen De¬
positen auf 1862 fallen. Eben wegen des großen Uebergewichts der königlichen
Hauptbank wäre eine besondere QuersumMirung der Privatbanken allein neben
der Quersumme dieser und der königlichen Hauptbank in den Tabellen selbst
zu wünschen gewesen; die nicht für jede Tabelle gleichen Nachträge und Notizen
ersetzen den Mangel nicht. Nach den Durchschnittssummen ihrer neuen Depo¬
siten folgen die Privatbanken so: Danzig »/,<, Million, Posen Million,
Magdeburg V» Million, Breslau V« Million. Die lückenhaften Berichte von
Köln, Königsberg. Stettin gestatten keinen Durchschnitt; königliche Hauptbank
17»/2 Millionen. Obgleich Breslau 1863 die neuen Depositen Magdeburgs
um etwa 100.000 Thlr. übertrifft, steht es doch in dem Durchschnittsbetrage
seiner neuen Depositen bedeutend gegen die übrigen Privatbanken zurück;
seine Auf- und Abfolge in diesen Depositen ist lehrreich vielleicht für die Grund¬
sätze der dortigen Bankdirection, 1857 bis 1858: 160.000 Thlr., 1859 nur
62.385 Thlr., 1860: 93,000 Thlr., 1861: 183.700. 1862: 238.800. 1863:
319.200 Thlr. Nach der Steigerung ihrer neuen Depositen 1857—63 folgen
die Banken so: Danzig um 880<V<>, Köln 400«/». Königsberg 50fach. Posen
9fach, Magdeburg 5fach. Breslau 9fach, königliche Hauptbank 44"/<,. zusammen
um 83°/o- — Die abgehobenen verzinslichen und unverzinslichen De¬
positen 1857—63 stimmen wesentlich mit obigen Beträgen und Verhältnißzahlen
der neueingezahlten Depositen überein. Nach dem Durchschnitt derselben folgen
die Banken so: königliche Hauptbank 17 Millionen, Danzig Million.
Posen Million. Magdeburg V» Million (Breslau für 1861 bis 1863:
V» Million), zusammen, wie oben, 19 Millionen. — An verzinslichem und un¬
verzinslichen Depositenveftande verbleiben durchschnittlich 1867—63 in der
königlichen Hauptbank 22 Millionen (hier fehlt indeß, wie bemerkt, die Ueber¬
sicht der neueingezahlten und der abgehobenen Depositen), Danzig ^ Million.
Breslau V« Million, Posen ^» Million. Magdeburg Vi« Million, der Bestand
Erichs bei jeder der neun Banken um etwa 38"/g. Verzinst wurden die De-
positenbestände durchschnittlich mit 2-/g"/y.
Beim Girogeschäst scheiden Königsberg und Posen von vornherein aus,
sie machen es gar nicht. Die königliche Hauptbank vollzog es 1867 mit 138
Millionen, sank 1888—60 von 84 Millionen auf 62 Millionen, und stieg
schwankend 1861 auf 89 Millionen, 1862 auf nur 88 Millionen. 1863 endlich
wieder auf 94 Millionen, steht also immer noch 30°/o unter der Höhe von
1867. Vor der königlichen Hauptbank und den Privatbanken aber zeichnet sich
hier in der Stärke der Summen (nicht aber in der Steigerung) Berlin bedeu¬
tend aus; es zählt 1857! 497 Millionen, sinkt dann freilich 1858—1860 (wie
die königliche Hauptbank) bis auf 392 Millionen, erhebt sich aber schon 1861
auf 466 Millionen, 1862 gar aus 603 Millionen, und notirt 1863 noch 666
Millionen. Ihm zunächst steht unter den Privatbanken Breslau, das zwar von
21 Vs Millionen (1857) in den nächsten zwei Jahren auf 18 Millionen sinkt, dann
jedoch allmälig wieder sich bis 1863 auf 38 Millionen erhebt. Stettin notirt
1867 bereits 30 Millionen, fällt aber 1868 jäh auf 2-3 Millionen hinunter.
1859 auf 7—8 Millionen und hebt sich erst seit 1860 mit 21 Millionen auf
34 Millionen 1862. 1863 führt es 30^o Millionen. Danzig dagegen, wel¬
ches im Herbste 1857 mit 1,443.684 Thlrn. beginnt, steigt bis 1862 stetig und
unter den preußischen Banken weitaus am schnellsten auf 34,141.786 Thlr.,
1863 führt es 32,221,178 Thlr. Von Köln zeigen selbst die drei Jahre
1861—63, welche allein berichtet sind, ein höchst unbedeutendes Girogeschäft von
1,362,264 bis 7,930,350 Thlr. (1863). Aber völlig verschwindend sind die
Beträge in Magdeburg, das von 1868—60 von 6,400 Thlrn. auf 53.079 Thlr.
kommt, aber bis 1863 wieder auf 18,489 Thlr. niederfällt. Bei allen neun
Banken zusammen stieg 1867—63 das Girogeschäft um 13"/y und zwar bei
Danzig um 2166"/g, Köln 500"/«, Breslau 80"/«, Berlin 13^.
Hieraus schon erweist sich, in wie weit eine nicht kleine Zahl der Privat¬
banken und wie selbst die königliche Hauptbank längere Zeit bedenklich von dem
oben aufgeführten Hauptgrundsatz der Bankthätigkeit abwichen und heute noch
abweichen. Die Schuld tragen bei einzelnen Banken während der vollen sieben
Jahre, bei andern innerhalb einer kürzeren Zeit nur die Bantdirectionen. Ge¬
wiß verkennt auch das Publikum die Folge, daß es unmittelbar und mehr noch
mittelbar sein eigenes Geld- und Creditinteresse gebietet, bei den Banken Kasse
zu machen, den Banken darzuleihen, durch sie Schuldposten einziehen zu lassen
(Zahlungen durch Checks, Anweisungen, auf die Guthaben bei den Banken
auszugleichen); aber die Bankdirectionen müssen als theoretische und praktische
Kenner jenes wirthschaftlichen Satzes die Geschäftstreibenden mit ihren Capi¬
talien durch möglichste Vortheile und Erleichterungen an sich ziehen und bei sich
erhalten, bis die Geschäftstreibenden einsehen, daß sie selbst erst den Banken Geld
und wieder Geld zuführen müssen, ehe die Bankmaschine mit ganzer Kraft arbeiten
und ihnen dauernd und in vollem Maße die erwünschten Erfolge bieten kann.
Im Lombardgeschäft lieh die königliche Hauptbank 1857—63 aus
49 Millionen durchschnittlich, 1867: 37.895,570 Thlr., sank bis 1860 auf 36
Millionen, stieg aber bis 1863 stetig auf 68V2 Million; dann folgen die Privat¬
banken hinsichts der Durchschnittshöhe ihrer Beträge so: Berlin 6V» Million,
Königsberg 5 Millionen. Breslau 2'/, Million. Stettin 1^ Million, Posen
IV2 Million, Danzig IVs Million. Magdeburg V- Million, Köln »/»Million.
Hinsichts der Steigerung ihrer Neuauöleihungen aber ist der Durchschnitt aller
neun Banken 42«/„. bei Danzig 8fach, Berlin 2'/gfach, Königsberg 2—3fach,
Stettin 160o/<>. Breslau 86«/<>, königliche Hauptbank 18"/o, Köln fiel stetig
zuletzt mit 88°/„. Die höchste Steigerung fallt in das Jahr 1863 bei der
königlichen Hauptbank mit 68'/« Million, bei Stettin mit 3>/s Million,
(tiefes Sinken 1858—59), Danzig mit 2 Millionen in dem Jahre 1862, bei
Berlin mit 10'/« Millionen (1863 10V» Million). Breslau mit 2.918595
Thlr. (1863 etwa 38,000 Thlr. weniger), Posen mit 1.618.920 (1863 etwa
130.000 Thlr. weniger), schon in dem Jahr 1861 bei Königsberg mit 7 Millionen
(1863 unter stetem Sinken 6>/s Million, 1857 aber nur 2 Millionen), in
dem Jahre 18S7 aber bei Köln mit 829,860 Thlrn., die. wie oben schon be¬
merkt, bis 1863 stetig auf 93.610 Thlr. sanken, und bei Magdeburg mit
525.400 Thlrn.. die 1860 bis auf 168.980 Thlr. sanken, seitdem indeß wieder
bis 1863 allmählich auf 427.800 Thlr. stiegen , also nur um 100.000 Thlr.
noch hinter dem Maximum von 1857 zurückstehen. Die neueingezahlten Depo¬
siten verhalten sich zu dem neuausgeliehencn Lombard in allen neun Banken
wie 63 : 19, einzeln bei Danzig wie 12 : 9. bei Magdeburg wie 5 : 3, bei
Posen wie 9 : 2, bei Breslau wie 14 : 1, bei der königlichen Hauptbank wie
14 : 5. — Die Lombardbestände zu Ende der einzelnen Jahre zeigen im
Durchschnitt zwar ein Sinken 1857—1861 von 18 Millionen und 16 Millionen
auf 10 Millionen, und seitdem erst bis 1863 wieder ein Steigen, doch veran¬
laßte dieses Resultat wiederum vornehmlich die königliche Hauptbank. Letztere
führt nämlich 1857 auf: 14 Millionen und fällt bis 1861 allmälig auf die
Hälfte, 1863 steht sie auf 11,427,270 Thlr. Bei den Privatbanken muß Berlin
unberücksichtigt bleiben, weil sein Bericht gerade von 1862 und 1863 fehlt. Die
übrigen Privatbanken folgen in den Depvsttenbestanddurchschnitten so: Stettin
V2 Million. Breslau V-> Million (1857 fehlt), Königsberg, Posen. Danzig
Million. Magdeburg V» Million. Köln V« Million. Am seeligsten steigt
hier wieder Danzig, welches 1857 mit 193,600 Thlrn. beginnt und mit kleinen
Schwankungen 1863 auf sein Maximum von 533.310 Thlr. gelangt; Köln fällt
von seinem Maximum (1857): 283.000 Thlr. fast stetig bis 1863 noch unter
die Hälfte dieses Betrages; Breslau culminirt 1859 mit 659,315 Thlrn., fällt
1860 auf 455.670 Thlr.. steigt aber dann bleibend bis 1863 aus 551.085 Thlr.;
Magdeburg erhob sich 1863 auf das Doppelte seines Bestandes von 1857 mit
246,540 Thlrn., indem es ganz, wie Danzig. 1859 und 1861 immer wieder
um etwas zurückfällt, sein Maximum aber liegt 1863 mit 281.180 Thlrn.;
Königsberg erreicht, indem es seit 18S9 allmälig steigt, noch nicht um 90,000 Thlr.
sein Maximum des Jahres 1858 von 747.943 Thlrn.; Stettin fällt bis 1859,
auf 301,925 Thlr., fast auf die Hälfte des Bestandes von 1837. steigt aber
dann bleibend zu seinem Maximum von 1863 mit 653,537; Posen endlich
fällt bis 1861 stetig und bis unter die Hälfte seines Maximums (1857) von
2/2 Million, seit 1861 stieg es indeß wieder bis 1863 fast auf den Betrag
jenes Maximums. Hiernach stiegen Danzig 174°/o, Magdeburg 100"/«,, Königs¬
berg 45"/o, Stettin 11"/<>, die übrigen Banken sanken. Die Jahresbestände
der Depositen stehen zu denen des Lombards in allen neun Banken — 12 : 7;
bei Danzig 6-5, Magdeburg 5 : 16, Posen 3 : 10, Stettin 3:1. Breslau
1.3, königliche Hauptbank 2:1. — Die Lombardzurückzahlungen
stiegen bei allen Banken um 38"/<> im Durchschnitte, bei der königlichen Haupt¬
bank um 14"/o, bei den übrigen ungefähr den Neuausleihungen entsprechend.
Das Effectengeschäft übergehen wir als weniger erheblich und in den
Bankberichten theilweise höchst lückenhaft.
In Wechselgesch after stehen nach der durchschnittlichen Ge sammt-
summe der angekauften Wechsel, die Jnkassowechsel mit eingerechnet,
1857—63 die neun Banken so zu einander: königliche Hauptbank 407 Millionen,
Danzig 15 Millionen. Stettin 14 Millionen, Berlin 10^ Millionen, Köln
10'/z Millionen, Posen 8 Millionen, Magdeburg 7'/« Millionen. Königsberg
6^/z Millionen, Breslau 3V, Millionen. Die königliche Hauptbank siel bis
1860 von 427 auf 354 Millionen, stieg dann indeß bis 1863 auf 512 Millionen
(mit 883,407 Stück); Danzig steigt 1857-62 von 4 Millionen auf fast 22 Mil¬
lionen (!), 1863: gegen 20 Millionen, Stettin sinkt bis 1859 von 19 Mil¬
lionen auf 8 Millionen. 1862 ist es auf etwa 18 Millionen gehoben, 1863:
17 Millionen. Berlin bleibt fast durchweg auf 10—12 Millionen, nur 1861
hat es 13 Millionen, Köln sinkt bis 1860 von 13—6 Millionen und gelangt
bis 1863 auf 16 Millionen, Posen steigt bis 1863 dauernd von 6—11 Mil¬
lionen. Magdeburg ebenso bis 1862 von 4—11 Millionen. 1863: 9 Millionen,
Königsberg schwankt zwischen 6—8 Millionen, 1859 zählt es nur 5 Millionen,
1863: 7 Millionen, Breslau steigt bis 1863 von 2—4V, Millionen. Die
Steigerung war also bei Danzig 375"/». Breslau 44"/«,, königliche Hauptbank
22"/», Stettin 16"/«.. Für den Einkauf von Platzwechseln. Wechseln auf
preußischen und außerpreußischen Bankplätzen fehlen die Berichte von
Breslau und Königsberg, theilweise auch von Köln. Wegen des eben genauer
betrachteten Gesammtbetrages der eingekauften Wechsel genügt es bei diesen
Detailrubriken, wenn wir die Durchschnitts- und Verhältnißzahlen angeben.
Platzwechsel kauften 1857—63 die königliche Hauptbank für 170 Millionen,
Berlin 6 Millionen, Köln 6 Millionen (nur 1859—63), Magdeburg 5'/» Mil-
livrer. (nur 1868—63), Stettin SV, Millionen (nur 1867—62). Danzig 5 Mil¬
lionen. Posen 4V- Millionen. Hierin stiegen Danzig um 333°/». Köln 50»/».
Stettin 42°/». Magdeburg 33»/«. königliche Hauptbank 20»/». Für Wechsel
auf preußischen Bankplätzen zahlten: die königliche Hauptbank 232 Mil¬
lionen, Danzig 9 Millionen. Stettin 5^ Millionen (nur 1857-62). Köln
5 Millionen (nur 1859—63). Berlin 4 Millionen. Posen 3^2 Millionen.
Magdeburg 2 Millionen (nur 1858—63), dabei steigerten sich Danzig um
483»/», Köln 250»/». Magdeburg 133»/». Berlin 100»/». Posen 100°/», könig¬
liche Hauptbank 23°/». Stettin 15»/». Für Wechsel endlich auf ausländischen
Bankplätzen wurden ausgegeben von der königlichen Hauptbank 5^» Mil¬
lion, Stettin 2V« Million (nur 1857—62). Danzig IV, Million. Berlin
V- Million (nur 1858-63). Magdeburg '/,- Million (1858—63). Posen V-»
Million (1858—63). Köln von 1859-63 ganz unbedeutende Beträge, für 1857
und 1858 fehlen von ihm die Berichte. Auf ein ähnliches Minimum, wie
Köln, sanken nach starkem Anlaufe Königsberg. Magdeburg, Posen. Danzig
stieg hier um das Vierfache, die königliche Hauptbank um 37°/», Stettin um
50»/», nachdem es hier, wie bei dem Einkäufe der Wechsel vom Platze und von
Preußischen Bankplätzen in den Jahren 1858—60 bedeutend gesunken war.
Ein besonders auffallendes Sinken zeigt sich in Berlin beim Einkauf auher-
Preußischer Bankwechsel; es steigt 1858—60 Von 110,954 Thlr. auf 1.469.219 Thlr.
und fällt dann enorm jäh bis 1863 auf 1772 Thlr. Der Einkauf von Platz¬
wechseln wurde daher besonders berücksichtigt bei: Berlin, Köln. Magdeburg.
Posen und zwar in dieser Reihenfolge, der Einkauf von Wechseln aus preu¬
ßischen Bankplätzcn besonders bei der königlichen Hauptbank und Danzig. Gegen
diese Waaren steht bei allen neun Banken der Einkauf von Wechseln außerpreußischer
Bankplätze bedeutend zurück, in letzterem Einkäufe ist Stettin den andern Pri¬
vatbanken voraus, sein Einkauf von Platzwechseln andrerseits ist fast gleichhoch
Mit seinen Zahlungen für Wechsel preußischer Bankplätze. Wünschenswert!)
zeigt sich, daß in den Bankberichten über diesen Theil der Bankthätigkeit anch
die Stückzahl neben den summirten Kaufpreisen der Wechsel aufgeführt würde.
— Im Jnkassowechselgeschäft überragt Berlin alle übrigen Banken be¬
deutend, sein Durchschnittssatz 1867—63 ist 344 Millionen, dagegen bei der
königlichen Hauptbank 2 Millionen. Köln 1^ Million, Danzig Vs Million,
Magdeburg V, Million. Posen Vi» Million, Königsberg und Stettin haben
kein Wechselinkassogeschäft, von Breslau fehlt der Bericht. Hier steigt Berlin
um 33»/» (1859-63 von 251-/4^470 Millionen), die königliche Hauptbank
hatte seit 1858 bis 1863 etwa um 200.000 Thlr.. Köln steigt 1858—62 von
669.966 Thlr. auf 2,691.329 und fällt 1863 um 1 Million, Danzig steigt
1858-62 von 255,573 Thlr. auf 844.150 Thlr., sinkt aber 1863 wieder auf
369,818 Thlr., ebenso steigt Magdeburg 1859—6? Von 95,690 Thlr. auf
733.474 Thlr., fällt dann 1863 auf 328.424 Thlr. Posen zeigt nur geringes
Schwanken. — Die Wechsel bestände von Platzwechseln, preußischen und
außcrpreußischen Wechseln (bei Köln. Magdeburg, Posen mit Einschluß der Jn-
kassowechsel) am Schlüsse der einzelnen Jahre betragen durchschnittlich bei der
königlichen Hauptbank 57V« Million, Stettin 2V- Million. Köln 1.874.000
Thlr.. Danzig 1.649.000. Magdeburg 1.476.000. Berlin 1,396.000 Thlr..
Posen 1.238,000 Thlr.. Königsberg 1.117.000 Thlr. Von Breslau fehlt auch
hier der Bericht. Eine Steigerung tritt ein bei Danzig um 100"/», Köln
100«/», Königsberg 50"/„. Stettin 50"/<,. königliche Hauptbank 46"/«. — Der
Gesammtumsatz im Wechselgcschäft, Einkauf und Eingang für
Wechsel 1837—63 sind durchschnittlich bei der königlichen Hauptbank 864^2
Million, Danzig etwa 31^ Million, Stettin 28V2 Million, Köln 24^/z
Million (nur von 18S9 ab). Berlin 22V» Million (nur von 1858 ab),
Posen 18 Millionen (ebenso), Magdeburg 17»/.; Million (ebenso). Königsberg
14"/2o Million (ebenso), Breslau berichtet erst seit 1861. Die Gesammt-
steigerung beträgt 28"/„; bei Danzig um das Sechsfache, von 7 Millionen auf
46 Millionen (1862). 42 Millionen (1863); bei Köln um das Doppelte 16V-
Million (1859). 14 Millionen 1860 auf 34^ Million (1862). 32'/- Mil¬
lion (1863); bei Posen ebenso um das Doppelte bis 23^ Million (1863); bei
Magdeburg um 50«/» bis 23^ Million (1862); 19 Millionen (1863);bei Königs¬
berg um 33"/g. 12Vs Million (1858). 11'/° Million (1859), 1^/4 Million (1862).
16 Millionen (1863); in Berlin von 17 Millionen (1858) bis 28V- Million
(1861), seitdem 21—22 Millionen; bei der königlichen Hauptbank um 22°/»
bis 1089V-- Million (1863); Stettin sank bis 1859 und 1860 um 113°/», seitdem
stieg es bis 34—36 Millionen Von 17 Millionen, sank also noch 13"/» im Ganzen.
— Der Gesam mtbetrag der eingegangenen Wechsel und ihrer
Disconti 1857-63 ist durchschnittlich bei der königlichen Hauptbank 407 Mil¬
lionen. Danzig 15 Millionen, Stettin 14V» Million. Berlin 13 Millionen
(seit 1858). Köln 12^ Million (seit 1859). Magdeburg 8'/» Million (seit
1858), Posen 8'/« Million. Königsberg 6-/, Million (seit 1858), Breslau
berichtet auch hier erst seit 1861. Er stieg bei allen Banken zusammen um
30°/o, bei Danzig um das Sechsfache, bei Berlin 120"/». Köln um das Dop¬
pelte, Königsberg 16°/», Magdeburg 50"/», Posen um das Doppelte, bei der
königlichen Hauptbank um 22"/». Stettin fiel 1857—60 von 20^ Million
auf 8-9 Millionen, seitdem hob es sich bis 1863 wieder auf 17—18 Milli¬
onen, es sank daher im Ganzen um 15°/»- Dieser Wechselumsatz warf in den
Zinsen auf Platz- und preußische, wie außerpreußische Nimessenwechsel folgen¬
den G esammtgewinn durchschnittlich ab: bei der königlichen Hauptbank
2.646.800 Thlr., Stettin 146,000 Thlr., Köln 70.000 Thlr. (seit 1859). Po¬
sen 66.000, Magdeburg 63,200 Thlr, (seit 1858). Berlin 55,000 Thlr., Kö-
nigsberg 53,000 Thlr. (seit 1868), Danzig 63,000 Thlr. Das Capital dieser
Gewinne ist ungefähr gleich dem Unterschiede, welcher sich aus dem Gesammt-
umsatz in Wechselgeschäft, Einkauf und Eingang für Wechsel, gegenüber der
Gesammtsumme der eingegangenen Wechsel und ihrer Disconti ergiebt; danach
betrug das thätige Wechselcapital durchschnittlich 530 Millionen im Jahre und
warf etwa 3 Millionen Thaler jährlichen Gewinn ab. Die rapideste Steige¬
rung finden wir hinsichtlich des durchschnittlichen Wechselgewinnes wieder bei
Danzig. das von 25,000 auf 90,000 Thlr. sich stetig erhob, Stettin dagegen
siel von 266,224 Thlr. (1867) auf 93,111 Thlr. (1860). seitdem hob es sich
allmälig wieder bis 1863 auf 149,732 Thlr. Der Wechselgewinn bildet vom
Brutto- und vom Reingewinne bei Danzig ^ (Brutto) und (Rein), Ber¬
lin und "/i». Köln und 1»/^, Magdeburg "/^ und 1°/i«. Posen
"/4 und 1»/g. Stettin Vi» und ^/^. königliche Hauptbank «/s und ^/^.
In der Notenemission sind die Privatbanken auf 1 Million beschränkt,
die königliche Hauptbank dagegen ist unbeschränkt. Durchschnittlich liefen
1857—63 in Noten um: bei der königlichen Hauptbank 86V« Million,
Breslau 1 Million. Königsberg 871.296 Thlr. (seit 1860), Posen 869.733 Thlr.
(seit 1868), Danzig 828,718 Thlr., Stettin 812.796. Magdeburg 716,380 Thlr..
Köln 700,797 (seit 1868), Berlin 628.100 Thlr., oder in Procenten der Noten¬
emission Breslau 100, Königsberg 87. Posen 86, Danzig 83, Stettin 81,
Magdeburg 71, Köln 70, Berlin 63. Hierbei stieg Danzig um das 2Vzfache,
die königliche Hauptbank um das 1^/^fache, Köln, Posen, Stettin sielen be¬
sonders in den Jahren 1869—61, überstiegen dann aber die frühere Höhe,
Breslau, Magdeburg verharrten, Berlin sank von 872,541 Thlrn. auf 600,460 Thlr.
Der durchschnittliche Notenumlauf der neun Banken betrug 1863: 120 Millionen
und 1857—63.- 92 Millionen. Wechselzahlungen gingen 1863 ein 616 Millionen
Thlr., Lombardzahlungen 87 Millionen Thlr.. zusammen 702 Millionen Thlr.
d. h. an jedem der 300 jährlichen Geschäftstage 2V» Millionen Thlr. „In
38 Tagen konnte also durchschnittlich der ganze Notenumlauf in der Zahlung
eigener Forderungen, d. h. ohne Schwierigkeit und Störung für die Banken
in ihre Kasse zurückkehren. Der Gesammtumsatz in Eingang und Ausgang be¬
trug 1863 2880 Millionen Thlr., d. h. im Eingange allein etwa 4^/g Mil¬
lionen Thlr. täglich, mithin konnte täglich V25 des Betrags des Notenumlaufs,
für welchen überdies noch ein Baarbestand von mehr als V» stets in den Kassen
war, durch die Kassen der neun preußischen Banken laufen. Indessen giebt
auch hier allein die königliche Hauptbank mit ihren großen Beträgen den über¬
wiegenden Ausschlag.
Wendet man diese Rechnung (Fauns er, volkswirtschaftliche Vierteljahrs-
schuft 1863. III. p. 100) auf die einzelnen Banken an, so ergiebt sich für
1863 für jede folgendes Resultat:
Durch die königliche Hauptbau-? und deren Filiale sind in folgenden Be-
trägen die Noten der Privatbanken gesammelt und zur Einwechselung präsentirr
durchschnittlich 1868—63: von Königsberg fast 10 Millionen, von Danzig und
Posen ,e 6 Millionen. Stettin S-/, Millionen. Magdeburg 4 Millionen. Da¬
von wöchentlich g, 3000 Thlr. von Königsberg 192.000, Danzig 127.000,
Posen 115.000. Stettin 109,000, Magdeburg 80.000 Thlr.. täglich ebenso von
Königsberg 33.200 Thlr.. Danzig 22.000, Posen 20.000. Stettin 18.900
Magdeburg 13.333 Thlr. Die Berichte der übrigen Banken fehlen; 1863 ist
der Betrag bei Köln etwa 15 Millionen, bei Berlin 23V- Million, wo sich
aber auch die stärksten Bestände fremder Noten, fast ebensoviel als bei der
königlichen Hauptbank befanden. Diese Präsentation sank bei Danzig von
8'/2^5'/» Million, bei Stettin von 7—6V, Million. — Ein Hauptaugen¬
merk der Bankverwallung muß bekanntlich darauf gerichtet sein, stets, doch vor¬
nehmlich für Zeiten der Verkchrskrisen genügende Deckung der präsentirten
Noten, der fälligen Depositen und der Rückforderungen von Girobeträgen be¬
reit zu halten. Als Deckung kamen hier am Ende des Jahres 1863 auf
1000 Thlr Noten:
Auf 1000 Noten. Depositen,Giro«
Hieraus resultirt folgendes Deckungsverhältniß-.
Aus dem Vergleich der Bonknotenbewegung und -Erträge mit denen der
übrigen oben kurz dargelegten Bankthätigkeit erhellt: „Die Bankvereine legen
noch immer ein Hauptgewicht auf Größe und Leichtigkeit ihres Notcnverkehrö,
liebäugeln mit dem Concessions- und Privilegienwesen, suchen ihr Heil noch
(fast sämmtlich) in einer Vermehrung des Stammcapitals (der Actien) und so
der Erweiterung der Notenemission, zugleich in einem entgegenkommenden Ver¬
fahren der königlich preußischen Bank, d. h. in einer rücksichtsvollen Schonung
bei der Noteneinwechselung."
Schließen wir nun mit einem Ueberblick der Gesammtthätigkeit und des
Gesammtertrages der Banken in den zu Grunde gelegten sieben Jahren.
Der Gesammtumsatz in Einnahme und Ausgabe (abgesehen von der
Notenrealisation und den Lombardprolongationen) betrug zusammen 2422 Mil¬
lionen im Durchschnitt von fünf Jahren, bei der königlichen Hauptbank 1SK6
Millionen. Berlin 612 Millionen. Stettin 111 Millionen, Danzig 60 Millionen,
(alle pro sieben Jahre), Köln 41^ Million (6 Jahre), Königsberg 32V»
Million (6 Jahre). Posen und Breslau je 29 Millionen. Magdeburg
20V» Million (seit 18S8). Die Privatbanken setzten 1863 um 1000 Millionen
Thlr., mit der königlichen Hauptbank zusammen 2880 Millionen, im Verhältniß
also 6 : 14. sDem gegenüber verhielten sich die Stammcapitalien, wie 9 :17
und diese mit den Reservefonds zusammen, wie 2 : S.Z Jenes Umsatzverhältniß
von 6 : 14 beträgt für die einzelnen Privatbanken gegen die königliche Haupt¬
bank bei Berlin 1 - 3. Stettin 1 : 14. Danzig 1 : 22, Köln 1 : 34, Königs¬
berg 1 : 61, Posen 1 : 60. Breslau 1 : 70. Magdeburg 1 : 86. Der Umsatz
stieg von seinen 2400 Millionen des Jahres 1867 bis 1863 um 17"/». Die
königliche Hauptbank ging hierbei in den ersten Jahren tüchtiger Concurrenz
der Privatbanken zurück, überstieg aber 1863 den Umsatz von 1867 schon um
200 Millionen, d. h. 12"/«, ein Bankbelag für den fast trivialen und seit dem
sechzehnten Jahrhundert bekannten Satz der Concurrenzwirkung. In der oben
erwähnte» Schrift giebt Roepcll noch eine Tabelle über die Concurrenz der ein-
zelnen königlichen Hauptbankfilialen, einschließlich der von ihnen rcssortirten
Bankstellen, mit den Privatbanken ihres Ortes, auf deren wichtiges Detail wir
hinweisen. Der Umsatz der Privatbanken wuchs von 730 Millionen Thlr.
(1837) auf 1000 Millionen (1863). also um 32°/«. bei Danzig 1 : 2'/-.
Berlin 2 : 3, Köln 1 - 2^/^, Königsberg 13 : 17, Magdeburg 13 : 22. Posen
fast 0, Stettin 8:9.
Hinsichts der Bruttoeinnahmen der Banken zeigen sich wieder besonders
lückenhaft die Berichte von Köln, Königsberg, Stettin, Breslau, und zwar be¬
züglich der Zinsen auf Platzwechsel. Rimessen und Lombard, sowie der sonstigen
Einnahmen, noch mehr betreffs der Verluste und der Reserven für zweifelhafte
Forderungen. Der Gesammtbruttogcwinn beträgt:
weist der obige Abschnitt dieses Zweiges der Bankthätigkeit.
Der Reingewinn stellt sich bei den Privatbanken durchschnittlich so:
Die königliche Hauptbank erzielte 18S7 den höchsten Reingewinn mit 3.240,496 Thlr..
siel bis 1861 auf IV- Million und stieg bis 1863 wieder auf 2.612,521 Thlr. Hier¬
von empfingen 1863 die Bankeigner 5. 4V- "/« und der Staat 1.363,333 Thlr.
und es blieb der Gewinnrest und 1,249,188 Thlr.; der Gewinnrest nebst Er¬
sparnissen von früher und mit Absetzungen macht 1863 1,232,403 Thlr. Der
Staat empfing davon 1,201,834 Thlr. an Zinsen und Gewinnantheil, die Bank-,
eigner erhielten davon an 4Vs °/o Zinsen von 15 Million 675000 und an Zusatz
pro 15,000 Actien s. 1000 Thlr.: 513,750 Thlr.
Die Berichte über die Verwaltungsunkosten der einzelnen Banken sind noch
für 1863 äußerst lückenhaft. Folgende Rubriken, welche Noepell in seiner Tabelle
XXI aufstellt, mußten dabei angemessenerweise berücksichtigt werden: 1) Noten¬
anfertigung. 2) Einrichtungsunkvsten. 3) Porti. Provisionen. 4) Verluste,
L) Reserven für zweifelhafte Forderungen, 6) Steuern, Gehälter, Remunerationen,
7) Drucksachen, Bücher. 8) Heizung, Licht. 9) Zeitungen, Inserate, 1H-'Schreib-
Material, Bureaukosten, 11) Bauten. , 12) Tantieme des Directsrs, 13) Ta«divine
des Verwaltungsrathes. 14) Verwaltung allgemein. Nach der Summe der Ver-
wa,le,ungsunkosten folgen me Banken so: -königliche Hauptbank 485.123 TW.
Berlin 34.739, Stettin 33,367 T-Hir.. Breslau 21.47«. Danzig 20.494.
Köln 19.164. Posen 18.059. Königsberg 15.856. Magdeburg 12,792. Danzig
i. i. Prozenten der Gewinneinnahme Berlin 33, Breslau 28. Köln 18.
Danzig 17. Königsberg, Posen. Magdeburgs Stettin je 16, königliche Haupt-
dank. 13 "/<>- und in Procenten des Gesammtumsatzes Breslau Posen
V»». Königsberg '/-». Magdeburg V»», Köln '/,«. Danzig V»«. Stettin "/^,
königliche Hauptbank Vs». Berlin nur Vi?» °/o wegen des großen Giro¬
verkehrs.
Dem Reservefonds flössen aus dem Reingewinne,zu
Der Bruttogewinn verhält sich zum Reingewinn durchschnittlich etwa bei
Danzig — 89 : 61, Breslau ----- 97 : 67. Köln ----- 81 ', 56. Magdeburg ----- 79 : 47,
Posen ----- 86 : 40, Stettin -----2:1. königliche Hauptbank ----3:2.
An Dividende brachten ihren Actionären durchschnittlich: Berlin
e°/«»/». Danzig ö'/»"/«. Köln 4"/^. Königsberg. 4V-». Posen 4V«. Magde-
burg 4»/.,. aber im Jahre 1863: Danzig 6«/„. Berlin 6"/«. Königsberg 5V»"/«.
Posen 5»/,s«/<,. Stettin 5^"/« Breslau 5-/^«/». Königsberg 4^/y. Magde-
burg 4V2°/o- Die fast ausnahmlos in den voraufgehenden Uebersichten hervor¬
ragende und trotz der zwischen 1857—63 häusigen kaufmännischen Kalamitäten
Danzigs nicht unterbrochene Art und Steigerung der Bewegung in der dan-
ziger Privatbank, Welche wie Stettin lehrt, nicht sowohl den hinter Stettin
zurückstehender Verkehrsverhältnissen Danzigs. als vielmehr der einsichtsvollen
und volkswirtschaftlich trefflich bewährten D'rectior der Bank, sowie dem Ein¬
flüsse des Banksyndicus zugeschrieben werden muß, sicherte neuerdings, wie die
Zeitungen berichteten, den Actionären eine den Satz von 1863 noch erheblich
übersteigende Dividende.
Diese kurze Uebersicht, über deren Detail wir auf die Bankberichte und
auf Roepells Zusammenstellung verweisen, beantwortete die oben aufgeworfenen
Fragen unwiderleglich; die ans den obigen Abschnitten jedesmal gezogenen
Schlüsse erweisen dies für die Staatsregierung, für die Banken, die Actio¬
näre und das Publikum. Wir schließen mi't Roepells Worten: „Die preußischen
Privatbanken haben ihre Nothwendigkeit für den Geldverkehr dargethan. Hohe
Zeit ist es, daß die Staatsregierung offen und klar mit ihrer alten Bankvo-
litik bricht, von ihren alten Normativbedingungen abgeht, daß sie selbst mit
dem leidigen Cvncessions- und Privilcgienwcsen bricht, die Verlängerung der
bestehenden acht Privatbanken, die Errichtung neuer, die Verwaltung der Bank¬
creditinstitute nur von der Erfüllung gewisser allgemeiner gesetzlicher Vorbe¬
dingungen abhängig macht und den längst allseitig befürworteten Reformen des
deutschen Bankwesens Rechnung trägt."
Die vorsichtige Haltung, welche Kaiser Napoleon bei dem Kampfe um
Schleswig-Holstein beobachtete, hat vielleicht die Erwartungen auch deutscher
Cabinete getäuscht, sie Hai aber wesentlich dazu beigetragen, den Krieg mit
Dänemark zu günstigem Ende zu führen, sie hat auch bewirkt, was dem Kaiser
am wichtigsten war, sie hat den Argwohn der Völker gegen seine Vergrvßerungs-
politik ein wenig gestillt. Auch der letzte Warnungsruf in der deutschen Presse
vor französischen und preußischen Verschwörungen und das Gemurmel über
projectirte Abtretung eines preußischen Kohlenbeckens ist glücklich zum Schweigen
^bracht. Dies Blatt hat durchaus nicht den Beruf und Wunsch, die Gedanken
des preußischen Ministerpräsidenten zu vertheidigen, aber es zeigt doch wenig
Kenntniß der regierenden Persönlichkeiten und des Volkes in Preußen, wenn
man die Abtretung irgendeines Landestheilcs, und sei er noch so klein, bei
den gegenwärtigen Verhältnissen für möglich hält. Wohl mag ein fremder
Diplomat in der Unterhaltung einmal einem solchen Einfall 'Worte geben,
doch im Ernste auch nur Saarbrück oder die Grafschaft Glans zu fordern, wird
schon eine Beleidigung Preußens, der die entsprechende Antwort nicht fehlen,
dürfte.
Wer Leben und Regierung des Kaisers Napoleon unbefangen betrachtet,
wird der ruhigen Politik, welche er gegen Deutschland angenommen hat, keine
""ergründlichen Hintergedanken zuschreiben. Napoleon der Dritte hat in der
Mcklichen italienischen Comvagne die Erfahrung gemacht, daß er zwar einige
iMtzcnswerthe Eigenschaften des Feldherrn besitzt/daß er aber kein Schlachten-
suhrer ist. Es, gehört zu den Eigenthümlichkeiten seiner auffallenden Person-
^keit, daß ihm^ dem ausdauernder Muth und Entschlossenheit in entscheidenden
Momenten von niemand bezweifelt wirb, doch die Schrecken des Krieges, der
lurchtbare Anblick des Schlachtfeldes und die Nervenspannung in den Stunden
Dosier kriegerischer Katastrophen widerstehen. Seit er erkannt hat, daß seine
Aufgabe nicht ist, selbst zu commandiren. sondern einem glücklichen Feldherrn
^ Entscheidung anheimzugeben, hat ein großer Krieg Gefahren für ihn selbst,
welche größer sind, als die möglichen Erfolge. Denn ein General, welcher in
den Herzen des französischen Heeres festwurzelt und an der Spitze siegreicher
Schaaren in Paris einzieht, muß für den Kaiser ein Gegenstand der Besorgnis;
werden. Wie wenig Pelissier befähigt war, eine politische Rolle zu spielen,
der Kaiser hat ihn doch aus Frankreich entfernt. Er hat ebenso den Sieger
von Solferino in ehrenvolle Verbannung von sich gestellt, und sorgt dafür,
daß die ihm untergebenen Truppen weder durch Zahl noch durch Dauer ihres
afrikanischen Dienstes gefährlich weiden. Diese Vorsicht ist in den letzten Jah«
ren größer geworden, denn sie zieht auch die Zeit nach dem eigenen Ableben
in Rechnung. Der Kaiser ist ein liebevoller, zärtlicher Vater, die Sorge um
die Zukunft seines Sohnes ist vielleicht die herrschende Stimmung in seinem
nachdenklichen, grübelnden Geiste. Unwillkürlich bricht dieses Gefühl in dem
oft geäußerten Wunsche aus, daß ihm vergönnt sein möge, das Jünglingsalter
des Prinzen zu erleben. Er weiß sehr gut, daß nichts'dem Erbe, welches er
seinem Sohne hinterlassen will, so große Gefahr bereitet, als ein populärer
General, auf dem aller Augen ruhen. Er wird deshalb gefährliche Kriege in seiner
Nähe vermeiden, wenn dies mit Ehren geschehen kann, und er wird, um sein
Frankreich zu unterhalte» und seiner Negierung Effect zu sichern, seine Erfolge
vorzugsweise in diplomatischen Verhandlungen und in kleinen entfernten Affairen
suchen, welche das Heer beschäftigen, den Franzosen seinen Einfluß auf die Ge¬
schicke der Welt beweisen. Er will Frankreich zwingen, ihn zu scheuen und zu
achten, er sucht ebenso die Achtung des Auslandes durch gehaltenes Wesen und
Mäßigung. Als er Savoyen und Nizza zu Frankreich fügte, bedürfte er zur
Begründung seiner Herrschaft einer Erweiterung der Grenzen, jetzt ist er sicherer
geworden, die Rolle eines Friedensfürsten entspricht seinen geheimsten Neigungen.
Auch seine Expeditionen in Hinterindien und Mexiko hatten nur die Absicht,
bei mäßigem Einsatz einen Erfolg zu gewinnen, der die Tagespresse und die
Gemüther seiner Soldaten beschäftigte/ Der Kaiser hat versucht, durch die
Rente und Börse jeden, der irgend Geld wagen will und verlieren kann, an
seine Herrschaft zu fesseln, und dies ist ihm in einer Weise gelungen, daß sein
Frankreich ein friedliebendes Land geworden ist, wie nie zuvor.'
Die plötzliche und ungesunde Ausdehnung, welche das Börsenspiel in
Frankreich gewonnen hat, in' welchem jetzt auch für die beste ländliche Hypothek
gegen fünf p. C.Zinsen kaum noch ein Capital zu finden ist, bedroht aller¬
dings auch die friedlichen Neigungen des Kaisers und die Ruhe Europas mit
einer Gefahr. Am Gedeihen des Credit mobilier und an dem Fortwuchernder
hoch gespannten Geldspeculationen hängt das Behagen des Landes, die Sicher¬
heit seiner Negierung, und es ist allerdings nicht unmöglich, daß eine Krisis
kommt, in welcher ein großer Zusammensturz der Speculationen aus schwin¬
delnder Höhe und die dadurch aufgeregte allgemeine Unzufriedenheit, den Kaiser
gegen Wunsch und Willen in eine verzweifelte Angriffspoliti? treiben. Zur
Zeit ist diese Gefahr nicht vorhanden und das Kaisertum ist jetzt in Wahrheit
der Friede, wenigstens in Bezug auf die Großmächte Europas.
Der Kaiser ist über die Lage Preußens genau unterrichtet. Seine Bericht¬
erstatter auf dem Kriegsschauplatz haben ihm auch Anderes berichtet, als die
Einnahme der Düppler Schanzen, die zum Erstaunen des Höckstcommandirenden
so ganz anders verlief als der Schlachtbefehl vorschrieb. Er kennt genau die
Schwäche und Stärke des preußischen Heeres, die regierenden Persönlichkeiten
und nicht am wenigsten das preußische Volk. Besser'als viele Deutsche weiß
er, daß dieser Staat nach fast fünfzig Jahren der Erschöpfung und innerer
Kämpfe jetzt im Anbeginn einer kräftigeren Macbtentwicklung steht, welche nicht
ohne Gefahr für den Gegner gehemmt, schließlich nicht gehindert werden kann.
Ob ihm die neue Militärorganisation die Achtung vor der preußischen Waffen-
tüchtigkeit vermehrt hat, wissen wir nicht, wohl aber, daß ihm die allgemeine
Wehrpflicht und die behende Hingabe, mit welcher sich auch der gebildete Preuße
zum Soldaten bildet, als ein idealer Zustand erscheint, den er Frankreich nicht
vollständig zu geben vermag. Er weih sehr gut, daß das Material, aus wel¬
chem sich die Wehrkraft dieses Staates erzeugt, ein vortreffliches ist, und daß
Preußen von dieser Seite ein sehr werthvoller Freund ist, ein gefährlicher Geg¬
ner sein würde.
Auch nach anderer Richtung ist Preußen für sein Frankreich kein schlechter
Nachbar, stark genug sich Achtung zu verschaffen, nicht groß genug, um Be¬
sorgnisse einzuflößen, auf Erfolge angewiesen, welche ein gutes Einvernehmen
mit Frankreich sehr wünschenswerth machen, auf keinem überseeischen Gebiete
Concurrent oder Gegner des Kaiserreiches.'
Die BedeutungPreußens aber ist in den letzten zwei Jahren für Frank¬
reich sehr gesteigert worden durch die Ueberzeugung, daß die kleineren deutschen
Staaten für Deutschland wie für Europa an Bedeutung wesentlich verloren
haben. Bei dem Kampf um Fortsetzung des Zollvereins, bei dem Fürstentage
zu Frankfurt und in der schleswigholstei'röchelt Frage hat dieselbe Erkenntniß,
welche in Deutschland durchgeschlagen ist. auch in den Tuilerien Wurzel gefaßt,
daß es den kleineren Staaten zu schwer wird, ein nationales Interesse mit Festig¬
keit zu vertreten, daß eine Koalition derselben untereinander nicht durchzusetzen
ist. und daß sie, wenn erreichbar, an ihrer eigenen Lockerheit zu Grunde gehn
würde, endlich aber, daß der Bestand dieser Staaten immer mehr gefährdet
wird, je weiter sich die Verkehrsinteressen der Nation entwickeln und je mehr
das Uebergewicht der Großstaaten den Völkern fühlbar wird.
Wir lesen in diesen Tagen geheimnißvolle Andeutungen, daß mehr Mittel¬
staaten damit umgehn, sich untereinander zu coaliren, daß darauf bezügliche
Memorials communicirt seien, ja daß man in Paris deshalb angefragt habe.
Dergleichen wird ebenso eifrig berichtet als desavouirt.
Solche Nachrichten, ob wahr ob falsch, haben insofern Bedeutung als sie
andeuten, wie lebhaft die Regierungen mehrer Mittelstaaten selbst die Gefahren
ihrer Lage empfinden und wie rathlos sie ihnen gegenüberstehn. In der That
sind die meisten derselben schlimm daran. Ihnen muß wünschenswerth erscheinen,
und untereinander zu vereinigen, um gegen Preußen oder Oestreich oder gar
Aegen eine gemeinsame Operation beider ein Gegengewicht zu bilden. AVer
selbst wenn ihnen gelingt, sich einmüthig zusammenzuballen, so wäre diese
Verbindung erstens immer noch schwächer als auch nur eine der beiden Gro߬
mächte, und dann droht solche Koalition Preußen und Oestreich grade zu ge¬
meinsamem Angriff zu vereinigen, also das Unglück herbeizuführen, welches
Man um alles vermeiden möchte. Offenbar ist die^Coalition der kleinen Staaten
inen Widerstande nur stark genug, wenn sie sich an eine der Großmächte an¬
lehnt. Man hat in Frankfurt verweigert sich mit Oestreich zu verbinden,
wollte man sich vollends mit Preußen vereinigen, so wäre dies ja grabe der
unselige Bundesstaat, welchen man durchaus nicht will. Es bleibt also nur
ubng. sich an eine auswärtige Macht — Frankreich — anzulehnen. Und das
wäre wieder der abscheuliche'Rheinbund, jedem deutschen Herzen verhaßt, den
patriotischen Regierungen der Mittelstaaten ebenfalls sehr bedenklich, zumal
'Vankreich möglicherweise keine Lust haben könnte, sich auf solche Anlehnung
^»zulassen, die bei der durch das Bundesrecht beschränkten Souverainetät
^er kleinern Staaten diesen ohnedies nicht gestattet würde. So ist eine Koalition
^er Kleinern zum Schutz gegen die Größern schon an sich ein bedeutungsloses, und
"»es verhängnißvolles Unternehmen. Und wie soll eine solche Coal'ition durch¬
gesetzt werden, wo das Motiv der Verbindung grade der Particularismus ist?
Man will die Rechte der Souveränetät und Selbstbestimmung ängstlich gegen
die großen Staaten wahren und man soll sie. um sie zu wahren, in einem schwachen
Bunde der Kleinen -opfern ; man findet die Suprematie Preußens unleidlich,
und man soll jetzt die von Bayern oder Hannover ertragen ! Und zu welchem
Zweck? Um doch schwach zu sein, um doch in Europa ohne Einfluß, ohne
Sympathien, ohne Erfolge zu bleiben und bei der ersten großen Bewegung als
Opfer zu fallen. Ferner aver was soll die politische Basis einer solchen Coa-
lition sein? Die Sorge um bedrohte Sonderexistenzen ist ein schlechtes Band,
Staaten zusammenzuschließen. Mit Eifersucht und ohne Zuneigung steht jede
einzelne Regierung neben der andern, jede wünscht ihrer kleinern Nachbarn
Herr zu werden, nicht zwei können sich ohne lange Verhandlungen auch da, wo
ihre Interessen zusammenlaufen, mit einander verständigen. Wie ist denkbar,
daß man einem Bundesstaat, an dessen Spitze Bayern steht, sich unterordnen
werde, da man einem größeren Staat gegenüber dies für unvereinbar mit sou¬
veräner Würde erachtet. Fragt man endlich, aus welchen Staaten ein solcher
Bund bestehen sollte, so steigern die geographischen Bedenken die Schwierigkeit.
Preußen ist angesessen in Thüringen/ ja auch in Schwaben, es schließt einige
der kleineren Staaten fast ganz von den andern ab, der zerrissene, getheilte
Bundesstaat der Trias wäre weder in militärischer Hinsicht ein vertheidigungs-
fähiger Körper, noch besteht zwischen den Gesetzen und Verkehrsinteressen seiner
Angehörigen ein Band, welches engeren Anschluß derselben untereinander, als
mit den übrigen Staaten des Zollvereins rechtfertigen würde. Sachsen und Thü¬
ringen sind in allen ihren realen Interessen eng an Preußen geschlossen, Hanno¬
ver und Bayern stehen in der localen Entwicklung ihrer Rechtsverhältnisse, in
Kirche, Handel und Volksleben so weit von einander ab, als irgend zwei
Stämme deutscher Zunge.
Alles dies wcrß man in Frankreich so gut wie diesseit des Rheins. Dem
Kaiser ist es auch durchaus nicht verborgen, daß die relative Bedeutung der kleinern
Staaten alljährlich in der civilisirten Welt verringert wird, daß der große Zug unsrer
Zeit auf Absorption und Ueberwindung des Particularismus im Innern großer
Nationen gerichtet ist. und daß es bedeutet, sich gegen die Tendenzen der Zeit
auflehnen, wenn man Großes einsetzt, um künstlich zu conserviren, was vielleicht
an sich nicht mehr lebensfähig ist. Sollte also ja eine deutsche Regierung,
was wir nicht gern glauben würden, in Frankreich geklagt, geraunt oder an-
gefragt haben, so ist auch für einen Fernstehenden unschwer zu errathen, was der
Kaiser zu Gunsten angedeuteter Triasprvjecte thun würde. Er würde den Gedanken
ohne Achtung und tieferes Interesse behandeln, weil er doch überzeugt wäre,
daß zuletzt nicht viel dabei herauskommen wird, er würde vielleicht feine Sym¬
pathien andeuten, vielleicht eine günstige Auffassung durch sein officielles Frank¬
reich in Aussicht stellen, vielleicht auch versprechen, bei drohender Vergewaltigung
durch eine der deutschen Großmächte seine Bedenken derselben mitzutheilen.
Aber er würde vor dem Ernste eines großen Conflictes fragen, ob diese Inter¬
essen ihm noch lohnen, Großes auf das Spiel zu setzen, um zu verzögern, was
endlich doch sich vollziehen muß. Und er wird bei solcher Rechnung ohne Zweifel
finden, daß für ihn und sein Frankreich vortheilhafter ist, ein besonnener Be¬
obachter zu bleiben, als sich zu einem Mitstreiter für eine Sache zu machen, an
deren Sieg er selbst weniger glaubt, als irgendein anderer Staatsmann Europas.
Das deutsche Heerwesen des achtzehnten Jahrhunderts ist in den letzten Jahren
Mehrfach behandelt worden und hat bereits eine reiche Literatur. Was hier
dafür gegeben wird, sind nur einzelne neue Striche zu einem Gemälde, welches
den Lesern dieses Blattes nicht unbekannt ist. Es konnten dabei hier und da
alte Aufzeichnungen und Actenstücke, welche noch nicht publicirt sind, benutzt
werden. Die Mittheilungen folgen in bunter Reihe, jede unter besonderer
Ueberschrift.
Der Soldat war früher weit mehr als jetzt die Puppe, mit der die
größeren und kleineren Kriegsherren gern in Friedenszeiten spielten. So
erbärmlich und unzweckmäßig gewöhnlich die Ausrüstungsgegenstände, nament-
lich die Bekleidung waren, so wurde um so mehr auf den äußeren Flit¬
ter gehalten, lediglich um das Auge zu bestechen. Die Bekleidung war meist
das Gegentheil von dem, was sie sein sollte, d. h. vom schlechtesten Material,
das nur wenig gegen die Einflüsse der Witterung schützte, dabei alles so
eng und knapp, daß der Mann in seinen Bewegungen sehr behindert war.
Schlecht und knapp lag im Interesse des Inhabers einer Compagnie, dem zur
Ausrüstung und Herstellung ein gewisser Fond überwiesen wurde, je mehr
er dabei zu sparen wußte, desto besser befand sich dabei sein Beutel. So war
denn das Innehaben einer Compagnie immer eine Art Volltopf, der jedem ge¬
nehm war und so finden wir sogar die Stabsoffiziere als solche Inhaber, wäh¬
rend der eigentliche Compagnicchef das weniger Angenehme des Kommandos
hatte. —
Die „Kriegsherren" prunkten so viel als möglich mit ihren Vaterlands-
vertheidigern. Große und schöne Leute, bunte und reiche Bekleidung und exacte
Bewegungen beim Manövriren waren die Hauptbedingungen. Da die Mann-
schaften angeworben wurden, so kosteten solche Halbriesen viel Geld und ein
Zoll mehr wurde oft mit Hunderten von Thalern bezahlt. Ehe die Mann¬
schaften zur Fertigkeit im Manöveriren gelangten, bedürfte es eine schwere Dressur,
bis der Gleichschritt, in einer Minute genau so und so viel, das Gleichmäßige
der Griffe und Chargüung und andere Schaueffecte erlernt wurden. Ja, es war
eine Dressur im wahrsten Sinne des Wortes, eine oft bei weitem ärgere, als
man sie bei Pferden und Jagdhunden anwendet. Es wurde alles über einen
Kamm geschoren, die Ungeschicklercn und Unachtsamen oder gar störrigen
kamen sehr übel weg. Allerlei Schimpf- und Zankworte, Ohren- und Haar-
zauscn, Knüffe und Püffe, Maulschellen und Schläge, kurz alles war dem
armen Rekruten gegenüber erlaubt, ihn zu „Raison" zu bringen und einen
„reputirlicher Kerl" aus ihm zu machen. Das Probestück wurde an den
Revuetagen gemacht, wo es sich zeigte, wie weit Jnstructor und Zögling ge¬
kommen und wobei es dann wohl Nasen und Absensierungen mehr setzte als
Anerkennung und Lob. —
Jeder Reichsunmittelbare, der Soldaten halten durfte, hielt gewiß mit
allem Pomp alljährlich über seine Armee einige Revuen ab, wenn diese
auch nur aus 20 Mann bestanden hätte. Bisweilen war die fürstliche oder
gräfliche Suite mit überzähligen Offizieren, Hautboisten, Pfeifern und Tam¬
bouren noch einmal so stark, als die unterm Gewehr stehende bewaffnete Macht.
Die bekanntesten Revuen sind die, welche der große Friedrich alljährlich
über gewisse Truppentheile abhielt, namentlich nach dem siebenjährigen Kriege.
Ihr Ruf hatte sich überall hin verbreitet, wo die Anfänge militärischer Civili¬
sation bemerkbar waren; sie wurden von Sachverständigen aus ganz Europa besucht
und bewundert. Mehr als ein Bericht bezeugt den großen Eindruck, welchen
sie auf Sachverständige machten. Die Leistungen des Heeres, welches aus dem
siebenjährigen Krieg hervorgegangen war, wurden zumeist durch die Friedens¬
übungen der letzten 23 Jahre, in denen Friedrich der Große regierte, Muster
für das Exercitium der übrigen Heere Europas. Zu den liebenswürdigsten
Berichten über die epochemachenden Manöver gehört der des zürichcr Jäger¬
hauptmanns Landolt, eines originellen Charakters und tüchtigen Offiziers, der
als leidenschaftlicher Bewunderer Friedrichs des Zweiten auf seinem Pferde von
Zürich nach Berlin ritt, um einmal mit eigenen Augen eine solche Revue zu
sehen. Als er in Berlin ankam, erfuhr er zu seiner Betrübniß, daß es für
Fremde einer besondrer Erlaubniß des Königs bedürfe, um Zutritt zu dem
Uebungsfelde zu erlangen. Er schrieb deshalb an den König und erhielt von diesem
eine gnädige Antwort. Er sah entzückt die Paraden und Feldübungen an
er selbst hielt diese Tage stets für die größten seines vielbewegten Lebens, — hatte
nachher mit Friedrich dem Großen eine Unterredung, gewann die Gunst des
Königs und kehrte nach längerem Aufenthalt in Berlin in seine Heimath zurück,
wo der Brief des Königs das Kostbarste seiner Habe, das Bild des Königs und
Zictens der liebste Schmuck seiner Zimmer blieb.
Gegen die begeisterte Darstellung, welche er seinen Freunden von den krie¬
gerischen Uebungen des Königs machte, sticht der nachfolgende Bericht allerdings
ab, er schildert die Kehrseite dieses glänzenden Manövers, aber auch an diese
ziemt es zu gedenken. Er ist aus den letzten Negierungsjahren Friedrichs des
Zweiten.
Wir haben den ersten Feldherrn, die tapferste, geschulteste Armee der
Zeit vor uns. Was erwarten wir alles davon! Leider finden wir uns in
Manchem getäuscht und statt des erwarteten Großartigen werden wir nicht selten
durch eine Kleinlichkeit überrascht, die wir anderwärts auch in so reichlichem
Maße finden. Der große König wird gar oft zum Pedanten und der Weise
Von Sanssouci, der in seinen Schriften so schön von Gleichheit, Gerechtigkeit
und Menschenwürde spricht, zeigt sich als ein rücksichtsloser Machthaber.
Wir wollen den Gang einer sogenannten Revue etwas genauer ver¬
folgen.
Das gegen 20.000 Mann starke Corps steht in der sandigen Ebene bei
Potsdam zur großen Revue bereit, rechts die Cavallerie, links die Infanterie
in Negimentscolonnen. Es ist ein schöner, klarer Ociobermorgen, die blanken
Waffen blitzen im Sonnenlichte und die bunte, wohlgeordnete Masse gewährt
einen schönen, großartigen Anblick. Alles ist im besten Staate und die Rich¬
tungen sind wie nach dem Lineal.
Lautlose Stille herrscht in den Massen; aber nicht etwa, weil das Plau¬
dern während des Wartens untersagt worden wäre, nein, etwas anderes hält
die Zungen gelähmt: ein gewisses Bangen, das wie ein Alp aus jede Brust,
vom höchsten General bis zum jüngsten Pfeifer herunter, drückt. Alles ist voller
Spannung und Furcht, wie die paar nächsten Stunden ablaufen, die über Lob
und Tadel. Ehre. Existenz entscheiden. Käme statt des „Alten" der Gottseibei¬
uns in seiner wahren Gestalt selber, man würde diesem getroster als jenem
entgegensehen.
Es hat eben sieben Uhr geschlagen, die bestimmte Stunde, da kommt der
König mit seiner zahlreichen Suite im kurzen Trabe, den Oberkörper etwas
Vorgebeugt und den verhängnißvollen Krückstock in der Rechten, angeritten. Es
schmettern Fanfaren, wirbeln Trommeln und quiken die Pfeifen, Kommandos
erschallen dazwischen. Es ist ein ohrenzerschmetterndes musikalisches Durchein¬
ander, da mehre Regimenter zugleich ihr Spiel rühren.
'
Alles schaut gespannt nach den Zügen des Königs. sobald er näher kommt.
Man will in diesen lesen, was es heute „für Wetter" giebt. Die, welche ihn
^unen, auch die Gemeinen, täuschen sich selten in ihren Erwartungen oder Be¬
fürchtungen.
Der König reitet die lange Fronte ab; jeder glaubt, sein scharfes Auge
durchbohre ihn, obgleich es ihn nur einen Moment streift. Hier und da nur
°we kurze Bemerkung gegen den betreffenden Chef oder einen seiner Adjutan¬
ten, bisweilen beißend und empfindlich, bisweilen, aber selten, belobend und
aufmunternd. Nun kommt es zum Vorbeimarsch. Jetzt heißt es aufgepaßt!
Die Cavalerie eröffnet' den Reigen. Jeder weiß, wie viel es beim Defiliren ge¬
schlagen, wenn auch der König kein Wort spricht. Grüßt er den Chef des
Regiments und sieht dieses beim Marsch genau an, so ist das ein Zeichen seines
Wohlwollens oder der Zufriedenheit. Aber beim nächstfolgenden Regiment thut
er, als wenn das gar nicht da wäre, er seht seinen kleinen Feldstecher vors
Auge und sucht mir diesem das nächste. In trefflicher Haltung marschirt das
schöne Husarenregiment vorüber, das bei allen Gelegenheiten im Kriege sich
einen guten Namen gemacht, aber der König würdigt es keines Blickes.
Und warum? Weil er den Commandeur von jeher nicht leiden mag. Er ist
als ein tüchtiger und braver Offizier in der ganzen Armee bekannt; aber der
König kann dessen Gesicht nicht ausstehen und dabei ist er von ganz jungem
Adel, den der königliche Philosoph noch weniger leiden mag. Der Chef und
sein Regiment mögens eben machen wie sie wollen, sie machens nicht recht und
das macht das ganze Regiment verstimmt und bitter. —
Es naht jetzt ein Regiment Küraßreiter. Es sind kräftige, schöne Leute,
getragen von tüchtigen Rossen. Vor der Front reitet ein zierlicher Oberst, dessen
Jugend auffällig gegen die anderen alten Graubärte absticht, denen die Führung
der Regimenter anvertraut ist. Der junge Oberst hat etwas Feines, Geschnie¬
geltes, das auf den ersten Blick mehr den Salonmann als den Soldaten ver¬
räth; aber er zählt zu den Bevorzugten des Monarchen, er gehört einer ange¬
sehenen altadeligen Familie an, die der König hoch schätzt und sein Protegö
ist außer der Tour avancirt. Zwar ist das Regiment nicht so gut geschult
als die andern, die bereits defilirt sind, es machen sich hier und da einige
Schlangenlinien in der Front bemerklich; aber der König übersieht es, oder will
es übersehen, er grüßt den Oberst, als dieser salutirt, freundlich und das ganze
Regiment wird von diesem Gnadenstrahl freudig wie von einem elektrischen
Schlage durchzuckt.
Die Cavalerie ist vorüber; es naht die Infanterie. Beim ersten Regiment
wendet der König sein Pferd, so daß er dem Regiment den Rücken zukehrt. Die
eben noch freundlichen Züge legen sich in tiefe Falten und die heruntergezogenen
Mundwinkel drücken Spott und Verachtung aus. Laut ruft er seiner Suite zu:
„Das Herz im Leibe dreht sich mir um, wenn ich diese verfluchte Montirung
sehe!" Was hat dies Regiment verbrochen, daß ihm solche Geringschätzung
widerfährt? Es ist eins von denen, die in der heißen Schlacht bei Zorndorf
(1758) gegen den linken russischen Flügel, der wie eine eiserne Mauer stand,
nach des Königs Meinung nicht ganz ihre Schuldigkeit gethan haben. E6
waren seitdem nahe an zwanzig Jahre verflossen, die Reihen waren großen-
theils durch andere rekrutirt; aber der König hatte seine Abneigung noch immer
nicht überwinden können. Er hatte diesen Regimentern die Tressen, den Gre-
nadiermarsch, ja das Avancement genommen, indem bei vacanten Stellen
immer Andere eingeschoben worden. Bei der vorletzten Revue hatte er zwar
ausgesprochen, daß alles Vergangene vergeben sein solle, das Regiment
hatte auch das bisher Genommene wieder erhalten; aber heute hatte der
König alles wieder vergessen und das Bild bei Zorndorf regte allen Zorn in
seiner lebhaften Phantasie wieder auf. —
Ein Corps von 20.000 Mann zu besichtigen und dann defiliren zu lassen,
erfordert mehr Zeit, als Mancher vielleicht meinen mag. So ist denn der
Mittag darüber herangekommen. Der König nimmt die Generale und etliche
andere höhere Offiziere zusammen, ertheilt nach der mehr oder minder guten
Laune einige kurze Kritiken und reitet dann, nachdem dieser und jener der Ober¬
generale noch zur Tafel befohlen, mit seiner Suite wieder ab.
Das Heutige war im Vergleich des Morgenden nur ein kleines Vorspiel.
Auf den nächsten Tag ist das Manövriren bestellt. Da heißt es aufpassen.
Die Cavalene kam zuerst an die Reihe, dann die Infanterie, die gewöhnlich
etwas später ausrückte. Es wurden zunächst die gewöhnlichen Schulmanöver
durchgemacht-Mancirt, retirirt, ein- und ausgeschwenkt, Malen gemacht, und
dergleichen nichr. Wehe dem Führer und dem Truppentheil, welche etwas ver¬
sahen oder beim König nicht in Gnaden standen.
Die Schwadron des Rittmeisters von W. ist im scharfen Galopp etwas
auseinandergekommen, weniger durch eigene Schuld, als die der Nebenescadrons,
die sich gezogen, dabei mußte ein ungünstiges Terrain passirt werden, Sturz¬
äcker, Gräben und Anderes. Dem scharfen Auge des Königs ist das wohl
nicht entgangen, allein er hatte eine Abneigung gegen den Rittmeister, der
zudem einen polnischen Namen mit der Endung ky trug, was der hohe Herr
durchaus nicht leiden mochte. Wie ein Pfeil jagt der König von der haltenden
Suite weg und spornstreichs auf den unglücklichen Schwadronchef mit erhobenem
Krückstock los. „Monsieur, was macht Er da für Teufelszeug, das ist ja nicht
Zum Ansehen! Und Seine Schlingels da soll der Teufel holen! Wie kömmt
zu dieser Coujonerie?" Der Rittmeister glaubt auf die Frage antworten zu
müssen und will eine Entschuldigung wagen. „Will Er wohl das Maul halten!"
^ ruft ihn der König mit rollenden Auge und gehobenem Krückstock an, als
wolle er jeden Augenblick zuschlagen — „Stecke Er seinen Degen ein und schere
sich zum Teufel!" — Das war nicht nur der Befehl zum Abgange vom
Exercierplatz, es war der Abschied. — Wohl verwenden sich später die Vor¬
letzten für den so hart Betroffenen, sie!heben seine gute Führung hervor,
Zimmern daran, daß er mit Auszeichnung im letzten Kriege gefochten, daß er
Familienvater und ohne Vermögen sei. Alles umsonst. Nur selten fruchtet
"ne solche Fürsprache; höchstens läßt sich der Monarch zu einer Pension be¬
wegen, von der kaum der Einzelne dürftig leben kann. —
So erging es aber bei diesen Revuen nicht nur einen mißliebigen Rittmeister;
selbst der Verdientesie General war vor dergleichen vernichtenden Wechsel nicht
sicher.
Bei der Infanterie hält sich der König gewöhnlich länger auf. Nament¬
lich achtet er auf die Richtungen, worin er selbst ein Meister ist. Auf seine
Anordnung werden die pointg as vus ausgestellt, in welche die einzelnen Ba¬
taillone einrücken müssen. Sein scharfes Auge sieht alles. Wehe, wenn nicht
das Ganze nach dem Lineal steht. Zuweilen übernimmt er das Nichten selbst
und ist er bei besserer Laune, dann giebt er auch wohl ruhig eine Instruction.
Näckstdem wird auf das Feuern, namentlich im Avanciren und Retiriren. be¬
sonders geachtet. Auch dabei haben nicht wenig Offiziere Verweise, Arrest oder
gar den Laufpaß erhalten und so und so viel Abtheilungen, dabei ganze Re¬
gimenter oder Brigaden, müssen den Nachmittag, wo die andern ruhen, nach-
exerciren. Beobachtete man den König bei diesen Schulmanövern, wie er sich
um das und jenes speciell kümmerte, wie er auch Kleinliches so unendlich ge¬
nau nahm, so glaubte man nicht den Sieger so vieler Schlachten, den größten
Feldherrn der Zeit vor sich zu haben, sondern einen kamaschenknöpsigen und
im Frieden ergrauten und erstarrten Stabsoffizier.
Die beiden nächsten Tage sind zu den größern Mannövern mit gemischten
Waffen bestimmt. Der König hat gewöhnlich die Disposition selbst ent¬
worfen, er ist mithin in allem an kg.it und wehe dem, der nicht in seinen Sinn
einzugehen weiß. Diejenigen Führer, die er von vornherein auf dem Zuge
hat, können ohnedies nichts recht machen. Hier wird mehr das Bild einer
Schlacht geboten; alles wogt wie im ernsten Kampf durcheinander, der Boden
erdröhnt unter den Hufen der jagenden Reiterei — dem Rasseln der Geschütze.
Adjutanten fliegen hin und her. So verworren auch das Ganze scheint, der
König blickt in alles. Er wendet sich mit seinem kleinen Fernglase bald
da, bald dorthin. Nicht selten jagt er wohl in das Gewühl hinein, wo er eine
Unordnung bemerkt und ist da nicht geizig mit Scheltworten. Eben ist bei
einigen Fußregimentern während des Retirirens ein Durcheinander entstanden.
Der König sprengt dahin. Das Unglück will, daß es dieselben sind, die des
Königs Unwillen in so hohem Grade erregt haben und wovon bereits eins am
ersten Tage die königliche Ungnade durch Zuwenden des Rückens so hart empfin¬
den mußte. Der Brigadier Barykowskh ist eben bemüht, die Regimenter
wieder zu ordnen, als der König dazu kommt. Er ruft dem Brigadier, dem er
ebenfalls nicht sehr hold ist, weil das verhängnißvolle ky an seinem Namen
hängt, halb höhnisch halb ärgerlich zu: „Laß Er doch die Schlingels zum
Teufel gehen! Sie laufen hier noch gerade so, wie ehedem bei Zorndorf vor
den Russen."
Die Cavalerie bekam aber auch ihr Theil. Beim Uebersetzen eines Grabens
kamen die Kürassiere nicht so gut und flink hinüber, wie die leichteren Husaren.
Der König hat es bemerkt und ist wie der alte Ziethen aus dem Busche, bald
am Platze. Wieder will das Unglück, daß el» Regiment dabei war, das bei
Maxen mit gefangen wurde, das damals bei dem unglücklichen sinkschen Corps
sich befand, welches eigentlich der König selbst geopfert hatte. Seit der Zeit
mochte er weder die Truppen noch die Offiziere mehr leiden, die jenes traurige
Geschick betroffen. Der General v. Vasold, der hier befehligte, war auch einer
davon und da er das erwähnte Kürassterregiment damals geführt, so ergoß sich
jetzt der ganze königliche Zorn über den alten General, der sich sonst im sieben¬
jährigen Kriege einen Namen gemacht.
Es war längst herkömmlich, daß am ersten Tage der größeren Manöver
sämmtliche Generale mit an des Königs Tafel speisten, weshalb sie nicht be¬
sonders dazu geladen wurden. Der so tief gekränkte General Vasold, der nicht
den geringsten Appetit verspürte und gern vom erzürnten König und seiner
Umgebung fern geblieben wäre, glaubte sich der Tafel nicht entziehen zu kön¬
nen und ging dahin. Es hatten bereits alle Platz genommen, als der König
sein Auge umherschweifen ließ und nun den General Vasold bemerkte. Mit
erzürnter Stimme rief er ihm zu: „Herr, was will Er hier? Für Ihn ist kein
Platz an meinem Tische!" Das war fast zu viel, nicht nur für den alten
General, sondern für alle Anwesenden, die im ersten Moment wie erstarrt
dasaßen. Der alte Vasold hatte kaum die Kraft sich von seinem Sitze zu er¬
heben, er wankte zum Saale hinaus.
Es blieb ihm nun nach dieser Blanc nichts anderes übrig, als den König
sofort schriftlich um seine Entlassung zu bitten, was ihm denn auch ohne wei¬
teres gewährt wurde, aber ohne einen Heller Pension, ohne «in Wort der
Anerkennung der vieljährigen treu geleisteten Dienste, wofür er den Orden
pour ig nwrite auf der Brust trug. Da der General ganz ohne Vermögen
"ud zu alt war, um einen andern Dienst zu suchen oder sich sonst was zu er¬
werben, so geriet!) er in die bitterste Verlegenheit. Trotz seiner und seiner
Gönner Verwendung beim Monarchen erhielt er ein Jahr lang gar nichts und
später eine jährliche Pension von 500 Thalern. — Jagte der König einen ihm
Mißliebigen nicht geradezu weg, so versetzte er ihn zu einem Garnisonsregiment,
Was mit Exil so ziemlich einerlei war, denn der Verwiesene kam so aus allem
Verband und von einem.weiteren Avancement war keine Rede mehr. Wer
"Kenv konnte, nahm daher lieber den Abschied.
So mußten denn diese Revuen nicht nur von allen dabei Betheiligten
"icht wenig gefürchtet sein, sondern auch von allen Angehörigen derselben, die
Während der Abwesenheit des Gatten oder Vaters für ihre fernere Existenz zu
Meru hatten, denn man wußte ja nicht, ob der Erhalter und Ernährer nicht
Brodloser wieder zurückkam. Manche der so übel und unschuldig Weg.
gekommenen nahmen sich im ersten Anfall der Scham, des Aergers und der
Verzweiflung das Leben. Und zu einer andern Zeit, vielleicht schon am nächsten
Tage konnte der König wieder leutselig, ja heiter sein und mit der größten
Geduld Fehler bessern und Jnstructionen ertheilen.
So sagte er z. B. einstmals bei Abhaltung der Schulmanöver zu einem
Offizier, der bei der Nähe des Monarchen befangen war und sich übereilte, wo¬
durch auch seine Leute angesteckt wurden: „Uebereile Er sich nur nicht, dann
wirds schon besser gehen; lasse Er den Leuten nur Zeit!" Und nach einer
Weile: „So, so, Bursche! So ists recht!"
So war der große König in seinen Launen, die mit dem Alter mehr und
mehr zunahmen, bald gefürchtet wie der Böse, bald verehrt wie ein Abgott.
Große Lichter werfen eben auch große Schatten! —
War Friedrich ein Feind aller .Lustlager und überhaupt unnöthigen Ge¬
pränges, so liebten dergleichen viele seiner gekrönten Herren Collegen um so
mehr. Wie man vorher dem Pracht- und machtliebenden vierzehnten Ludwig
auf Frankreichs Thron nachahmte, öfter nachäffte, so gab jetzt in Vielem,
namentlich was das Armeewesen anlangte, der Preußenkönig den Ton an.
Da man aber nicht mit dessen Geiste begabt war, so ließ man das Gute
und Nützliche bei Seite liegen und hielt sich mehr an das Kleinliche, Flache
und Bestechende. Nach Lust und Genuß jagend, suchte man auch im Gebiete
des ernsten Mars Ergötzen mit dem kriegerisch Jmponirenden zu vereinigen
und so dem großen Sybariten Ludwig und dem großen Feldherrn Friedrich
zugleich zu huldigen. So entstanden denn aus den Uebungsiagern, die als
Schule für einen kommenden Krieg und als Uebung und Abhärtung der
Führer gelten sollten, die sogenannten Lustlager, mit denen man so ziemlich
das Gegentheil erzielte.
Wie alles bei Hofe einen festlichen und pomphaften Anstrich haben mußte
so auch hier. Wie man mit wilder Lust auf den Parforcejagden die Thiere
matt oder zu Tode hetzte, so in diesen Lagern die Menschen, denn ein Mensch
hatte sür einen Herrscher ost weniger Werth, als ein stattliches Roß oder
ein guter Leithund, — für die Thiere wurde bei der Erwerbung meist doppelt
und dreifach mehr bezahlt, als für einen angeworbenen Mann.
Die Blüthe der Lustlager war in der Mitte des vorigen Jahrhunderts
namentlich in Sachsen, Hessen und Würtemberg zu suchen. Der galante und
splendide König und Kurfürst, der mehr körperlich als geistig starke August, war
Meister in allen großartigen festlichen Arrangements und so übertrafen auch
seine Lustlagcr an Ueppigkeit und Glanz alles bisher Erlebte.
In einer sonst wenig belebten aber freundlichen Gegend entstand plötzlich wie
mit einem Zauberschlage ein buntes, rühriges Leben. Eine kleine Stadt von
Wohnungen,'Theatern, Sälen, Küchen, Stallungen und anderen Bauten wuchs
aus dem Boden. Waren diese Bauten auch von außen etwas unscheinbar,
so herrschte dafür im Innern nicht weniger der gesuchteste Luxus, wie man
diesen nur in den Gemächern der Hofburgen oder der reichen Aristokratie fand.
Darum oder seitwärts erhoben sich die elenden Zeltrcihen, in welchen der
Soldat ein nothdürftiges Unterkommen fand, das ihn nicht immer gegen die
Ungunst des Wetters schützt.
In einem solchen Lager strömte alles zusammen, was Genuß und Uep¬
pigkeit zu bieten vermochte. Wer nur irgend konnte, brachte seine Köche
und Courtisanen mit. Hier wurde ungescheut aller Unfug getrieben. Hatte
man das Auge an den Uebungen der bunten Massen, an Paraden u. drgl. ge¬
weidet, dann ging es zum schwelgerischen Mahle, von da in die Komödie und
von da zu Illumination, Ball und Souper, bis der Morgen wieder graute.
Schaulustige und Genußsüchtige wurden in Massen herbeigezogen und so
vereinigte sich alles in einem sinnlichen Taumel. Und das alles sah und
hörte der arme Soldat: bei hungernden Magen sah er die leckersten Gerüchte
vorübertragen oder verzehren, der köstliche Duft machte ihn noch lüster¬
ner, wenn er des Nachts, zum Tode von der Hitze des Tages ermüdet,
die süße Ruhe und Stärkung für den folgenden finden wollte, ließen
ihn das lärmende Geräusch, Frost, Wind oder Regen nicht dazu kommen.
Außer den Lustlocalen der fürstlichen Herrschaften, der höheren Hofchargen und
Offiziere war in dieser Beziehung auch für die zuströmende Volksmenge reichlich
gesorgt, denn da gabs Trink- und Schaubuden, Seiltänzer und Kunstreiter,
Carousselle und in entlegeneren Winkeln auch Spielhöllen und andere Laster¬
höhlen. Während der Soldat dieses ganze Treiben vor Augen hatte, mußte er
ein resignirter Zuschauer bleiben, denn weder erlaubte es sein schmaler Geld¬
beutel, noch die strenge Zucht, daran theilzunehmen.
Diese großartigen, üppigen Feste trugen nicht wenig dazu bei, die Ent¬
sittlichung von Oben herab auch in die niederen Schichten der Bevölkerung zu
verbreiten. Auch der Landmann bekam sein Theil, da bei den Manövern
"icht selten ein Theil seiner Frucht und seines Wieswachses in den Boden ge¬
treten wurde und er mit Frohnden, Vorspann und allerlei Lieferungen arg geplagt
wurde. In dieser Beziehung suchte der Kriegsherr auf Unkosten Anderer mög¬
lichst zu sparen, während zu den Vergnügungen und einer unnützen Prachtentwicke-
lnng Millionen verschwendet wurden. Der gemeine Soldat und der Bauer
hatten mithin dabei wenig Lust, wohl aber die möglichste Last.
Wurde ein Offizier unehrlich gemacht, so geschah dieses im Felde vor einem
hierzu commandirten Truppentheil und zwar zunächst demjenigen, dem der Ver¬
theilte angehörte. Im Frieden machte man das auf der Wachtparade ab.
Nach dem Verlesen des Urtheils durch den Auditeur wurden ihm die Decora-
tionen und Abzeichen seines Ranges, entweder vom Adjutanten oder dem Pro-
fosen herabgerissen. Dem Offizier wurde der Degen abgenommen, durch einen
Tritt zerbrochen und ihm vor die Füße geworfen. Dann wurden Epaulettes,
Schärpe abgerissen, ja zuweilen auch die Tressen abgetrennt, vom Hut wurden
.Federbusch, Kokarde und Agraffe ebenfalls abgerissen und zu Boden geworfen.
Nach diesem Act wurde der ehrlos Gemachte zu seiner weiteren Bestimmung
entweder in einer Chaise oder durch eine bereitstehende Escorte abgeführt. War
er zum Tode verurtheilt, so wurde er gewöhnlich gleich dem Henker übergeben.
Konnte man des Inculpaten nicht habhaft werden, so wurde trotzdem über
ihn der Proceß verhängt. Traf ihn eine entehrende Strafe, die mit dem Ver¬
lust des Lebens verbunden war. so wurde sie insofern scheinbar an ihm vollzogen,
als man statt seiner seinen Namen, oder gar selbst sein Porträt, groß auf eine
Tafel gemalt, an den Galgen hing. Dies geschah mit demselben Ceremoniell,
das man bei einer wirklichen Hinrichtung beobachtete. Erwischte man den Ver-
urtheilten, wenn auch nach längerer Zeit, so wurde dann gewöhnlich die Execu-
tion an ihm ohne Weiteres vollzogen ; meldete er sich freiwillig wieder bei seiner
Truppe, was namentlich bei Deserteuren der Fall war, oder trafen mildernde
Umstände, auch wohl Begünstigungen ein, so konnte der ehrlos oder scheinbar
todt Gemachte auch wieder ehrlich resp, bürgerlich lebendig gemacht werden.
Das Nähere wird man aus dem Nachfolgenden ersehen.
Nach der zweiten Einnahme und Verheerung Heidelbergs durch die Fran¬
zosen im Mai 1693, wobei die unglückliche Stadt abermals auf vandalische
Weise geplündert und dann niedergebrannt, und das reizende Bergschloß großen-
theils durch Sprengung zerstört wurde, erhob sich ein Schrei der Entrüstung
nicht nur durch ganz Deutschland, sondern durch die halbe civilisirte Welt. Das
Ereigniß und der allgemeine. Unwille waren zu wichtig, als daß man von
Seiten der unterlegenen Partei leicht darüber hingehen konnte, und so wurden
denn von den betreffenden Gouvernements über die Motive der Uebergabe
Untersuchungen eingeleitet.
Die öffentliche Meinung klagte den Commandanten des Platzes, den östrei¬
chischen Gcncralfeldmarschalllieutenant Georg Eberhard von Hcdersdorf ganz offen
des Verrathes und der Feigheit an. So gern man auch die Sache vertuscht
hätte, um eine so hohe Stellung in der kaiserlichen Armee, sowie den Namen
einer angesehenen Familie nicht zu compromittiren, so war doch der Drang der
Umstände mächtiger als der Wille, und der General wurde vor ein Kriegs¬
gericht gestellt. Dasselbe erkannte ihn für schuldig und infolge dessen sollte er
seiner Würden und Stellen öffentlich und schimpflich entsetzt werden.
Da Hedersdorf dem damals noch ziemlich in Ansehen stehenden Dcutsch-
hcrrnorden angehörte, so ließ es sich dieser nicht nehmen, ihn mit allem Cere-
moniel aus sich auszustoßen und hierin das Prävenire zu spielen. Dabei
ging es denn in folgender Weise her: Im Ordenshause zu Heilbronn, gemeinhin
das „deutsche Haus" genannt, versammelten sich die Ritter unter Vorsitz des
damaligen Deutschmeisters Ludwig Anton, Herzog zu Pfalz-Neuburg, in Pon-
tisicalibus im großen Saal. Der Angeklagte, den man von der Militärbehörde
requirirr hatte, wurde in voller Ordenstracht hereingeführt. Hier wurde ihm
in feierlicher Weise vom Deutschmeister sein Vergehen vorgehalten und ihm dann
der Ausschluß aus dem Orden mitgetheilt. Nun begann die Ceremonie. Zu-
nächst wurde dem Verurteilten das Ordenskreuz abgerissen und „ihm ein paar
Mal ums Maul geschmissen". Dann wurde ihm die Bekleidung abermals
Stück für Stück herabgerissen, woraus ihn der jüngste Ordensritter beim Arm
nahm und ihn aus dem Hause führte. An der Thüre gab er dem Ausgesto¬
ßenen noch einen Fußtritt an einen gewissen Körpertheil und überlieferte ihn
dann der dort harrenden Militärwache, die ihn wieder zur Armee zurückbrachte.
Hier stand dem Entehrten noch Schlimmeres bevor, denn alles wurde
nun öffentlich vorgenommen. Am 20. Juni mußte der Exgeneral einen
Schinderkarrcn besteigen, der vom Henker und seinen Gehilfen begleitet wurde.
Die Fahrt ging zu der aufgestellten kaiserlichen Armee, worauf er vor dieser
von einem Flügel zum andern gefahren wurde. Vor dem Regimente, dessen
Inhaber er gewesen, mußte er vom Karren steigen und hier wurde ihm zunächst
sein Urtheil vorgelesen, dahin lautend: daß er mit dem Schwerte vom Leben
Zum Tode gebracht werden sollte, auch seine Güter zu confisciren seien. Als
sich nun der Henker anschickte, sein trauriges Amt zu vollziehen, wurde dem
Verurtheilten durch den Auditeur mitgetheilt, daß ihm das Leben geschenkt, ihm
dafür aber die Strafe des Exils und der Verlust aller seiner Würden und
Aemter zuerkannt sei, woraus er antwortete: „Dies hab ich wohl nicht ver¬
langet."
Der General hatte bisher in seiner Uniform, aber ohne Degen und an
Händen und Füßen gefesselt auf dem Karren gesessen. Jener wurde ihm nun
umgehängt, aber sofort wieder abgenommen, die Klinge herausgezogen, zer¬
brochen, ihm die Stücke dreimal ums Gesicht geschlagen und dann vor
die Füße geworfen. Hierauf wurde der Verurtheilte „auf ewig" aus den östrei¬
chischen, schwäbischen und fränkischen Landen, so wie aus denen des Ober-
rhcinkrcises verwiesen, wieder auf den Karren gesetzt und vor das Stadtthor
gebracht. Hier nahm ihm der Henker die Fesseln ab und ließ ihn sodann
laufen.
Hedersdorf, auch Hcydcrsdorf genannt, entstammte einer alten und an¬
gesehenen adeligen Familie, die am Rhein angesessen war, von der aber ein
Zweig nach Franken übersiedelte, und zu Anfang des siebzehnten Jahrhunderts
in den Freihcrrnstand erhoben wurde.
Der unbeteiligte, Oberst von Schonebeck, der die schmähliche Kapitulation
mit unterzeichnet hatte, „und sich auch sonst nicht nach Gebühr verhalten",
wurde cassirt.
Haben wir im Vorgehenden einen wirklichen Vorgang geschildert, so wollen
wir in Betreff des Ehrlichmachens einige Verfügungen anführen. Sie gingen
vom Herzog Karl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig aus, dem gefeierten
Erbprinzen im siebenjährigen Kriege, und dem zuletzt unglücklichen Feldherrn,
der in der Doppelschlacht bei Jena und Auerstedt tödtlich verwundet wurde.
Dieser Herzog, der seiner Zeit als tüchtiger Heerführer, Staatsmann und auf¬
geklärter Fürst galt, konnte sich den allgemeinen Bräuchen nicht entziehen und
wendete zur Erhaltung der Disciplin bei seinen unterhabenden Truppen diesel¬
ben Mittel an, wie andere Kriegsherrn, vielleicht hier und da noch etwas
schärfere. Freilich konnten auch die durch die Werbung zusammengebrachten
Hausen nur durch Strenge und Furcht zusammengehalten werden.
Die Zeit, in die Nachfolgendes fällt, liegt gerade hundert Jahre nach
jenem Heidelberger Vorgange, aber in den barbarischen Bräuchen hat sich wenig
oder nichts gemildert. Der Herzog hatte damals bekanntlich ein braun-
schweigisches Hilfscorps von etlichen tausend Mann an den Statthalter der
Niederlande überlassen, die. von Frankreich inficirt, in großer Währung
waren. Das Hilfscorps war in die Festung Mastricht verlegt worden, über
das eigentlich der General v. Riedesel das Commando hatte, bei dessen Kränk¬
lichkeit und häusiger Abwesenheit wurde aber dies interimistisch dem General
v. Warnstedt übertragen. Es kamen bei den sonst gut disciplinirten Truppen
durch den mehrjährigen, langweiligen Festungsdienst häufiger denn sonst Deser¬
tionen vor, und im Jahre 1793 fand sich der Herzog veranlaßt, strengere Ma߬
regeln zur Verhütung des Ausreißens zu ergreifen. Er erließ demnach an den
General v. Warnstedt folgende Ordre:
„Karl Wilhelm Ferdinand, Herzog :c. Wir haben erhalten, was Unser
Generalmajor v. Warnstedt wegen der um Pardon ersuchenden Deserteurs
unterm 25. April berichtet und angefragt hat. So viel nun diejenigen Deser¬
teurs anbetrifft, deren Namen noch nicht an den Galgen geschlagen gewesen,
so bleibt es zwar Unserem Generalmajor und den übrigen Rcgimentschefs oder
Commandeurs überlassen, diesen auf ihr Nachsuchen, befindenden Umständen
nach, den Pardon wegen der Desertion zu bewilligen; jedoch ist dabei nicht zu
willfährig zu verfahren, damit dadurch das Verbrechen der Desertion nicht zu
gering und zu leicht verzeihlich scheine, sondern es müssen zu Ertheilung des
Pardons immer erhebliche Gründe, die das Verbrechen beträchtlich mildern, vor¬
handen sein. So viel aber diejenigen Deserteurs, deren Namen bereits an den
Galgen geschlagen sind, anbetrifft, so kann diesen der Pardon von den Regi¬
mentschefs oder Commandeurs nicht ertheilt werden, sondern es muß, da das
Anschlagen des Namens an den Galgen-, das Surrogat des AufHängens der
Person des Deserteurs, also das Surrogat einer von Unserer Bestätigung ab¬
hängigen Lebensstrafe, so von Uns in jedem Falle besonders befohlen worden
ist, auch wiederum die Begnadigung des Deserteurs und das Abnehmendessen
Namens vom Galgen zu Unserer Entscheidung allein Verstellt bleiben; so ist
also, falls ein solcher Deserteur sich wieder stellen will, und um Pardon nicht
anhält, unumgänglich erforderlich, daß er sich ohne Bedingung in Arrest stelle,
worauf sodann die Untersuchung seiner Desertion förmlich zu wiederholen und
über ihn Kriegsrath halten zu lassen, Acta aber an Uns zur Bestätigung oder
Begnadigung einzusenden. Wornach sich also Unser Generalmajor zu richten
und die anderen Chefs und Commandeurs Unserer Regimenter zu instrm-
>en hat.
Wegen demnächstiger Abnahme der Namen der Deserteurs und deren Ehr-
Uchmachen ist, gleichwie in königlich preußischen Diensten dabei verfahren wird,
und wie die hierbeitommende Abschrift aus Müllers preußischem Kriegsrechte
zeigt, zu verfahren, und den Namen des Deserteurs in Gegenwart der Wacht-
parade, oder eines Commandos, abnehmen oder auslöschen zu lassen; sodann
aber, wenn solches geschehen, Unserm Commandanten hielselbst Nachricht davon
zu geben und derselbe zu requiriren, auch hier den Namen abnehmen oder
auslöschen zulassen, wofür die Kosten aber ebenfalls, wie in Mastricht, von
den Werbegeldern der Compagnie, die dadurch einen Mann wieder erhält, be¬
zahlt werden müssen.
LiZrmtur Braunschweig, den 18. April 1793."
Es folgt nun im „Extract" das Verfahren des Wiederehrlichmachens
nach preußischem Muster.
„Das Ehrlichmachen geschieht entweder bei der Cavalcrie oder Infanterie;
bei ersterer durch die Standarte, bei letzterer durch die Fahne. Ist das Bild-
niß oder der Name eines Mannes an den Galgen geschlagen, so wird solches
wieder von diesem zuvörderst solenniter heruntergenommen: nämlich es marschirt
die Wachtparade nach dem Galgen, und in deren Gegenwart wird die Abnahme
vollzogen. Wäre aber der Ort, wo dergleichen Execution vorzunehmen, zu
entfernt, so wird dahin geschrieben, daß das Abnehmen geschehe. Könnte auch
solches nicht effectuirt werden, so wird es durch eine öffentliche Kundmachung
^appelliret, welches eben die Wirkung wie das Herabnehmen hat. Es wird dem
^hrlichgemachten wohl auch ein Restitutionsbrief ertheilt. Durch die Fahne
und Standarte geschieht das Ehrlichmachen, entweder so, daß diese über ihm
geschwungen wird, ohne einige andere Solennitäten dabei anzuwenden, wann
nämlich Einer durch eine unehrliche Handlung zur Miliz untüchtig worden, oder
^ geschieht mit Anwendung verschiedener Solennitäten, wenn nämlich Einer
durch Verbrechen seine Ehre verloren,
Die Solennitciten, die beim Ehrlichmachen vorgehen, sind, wo nicht durch
ausdrückliche, dennoch durch stillschweigende Gesetze eingeführt, nämlich, indem
man sich gänzlich oder zum Theil auswärts üblicher Solcnnitäten hier gleichfalls
bedient. Gleichwie aber ein Landes- oder Kriegsherr die Gesetze ausheben kann,
also kann er auch die Solennitciten, die durch solche eingefühlt, entweder ganz,
oder doch in Ansehung einer gewissen Person aufheben. Folglich kann auch
ein Landes- oder Kriegsherr ohne den Fahnenschwung einen Soldaten wieder
ehrlich machen lassen. Wie denn letzteres auch bei den Offizieren geschieht,
die mit Verlust der Ehre cassirt werden, oder deren Bildniß am Galgen ge¬
hangen gehabt.
Nur bei dem gemeinen Soldaten ist dergleichen Neuerung nicht cnizurathcn,
weil das ?ville Ä'dormLur bei der Miliz weit delicater als bei Innungen sein
muß, hiernächst aus dergleichen Vorwurf Mord und Todschlag entstehen kann
und fast nicht zu vermeiden ist. Die Wirkung muß mit der Absicht des Ehr-
lichmachens übereinstimmen, folglich der Ehrlichgcmachte als ein solcher angesehen
werden, der niemals seine Ehre verloren, folglich muß er wiederum im Dienste
passiren, es müssen sich andere wieder von ihm befehlen lassen, wenn er anders
in seine vorige Würde eingesetzt worden und darf ihm auch niemand etwas
vorwerfen.
In der preußischen Armee geschieht das Ehrlichmachen in Gegenwart der
Wachtparade, nachdem vorher der Name vom Galgen abgenommen worden,
deshalb, wenn dieses in loco geschehen kann, die Wachtparade zunächst dahin
marschyt und in deren Gegenwart die Abnahme geschieht. Es wird ein Kreis
geschlossen, das Gewehr präsentirt, der Auditeur verliest die Veranlassung gegen¬
wärtiger Actes mit entblößtem Haupt, gleichwie alle im Kreise Befindlichen den
Hut abziehen; hernach schwenkt der Fahnenjunker die Fahne dreimal über den
Ehrlichzumachenden, und das letzte Mal giebt er ihm einen sachter Stoß mit
der Fahne zwischen den Schulterblättern. Beim ersten ruft der Junker-. „Im
Namen des Königs Majestät, unseres allergnädigsten Kriegsherrn!" Beim zweiten
Schwenken: „Im Namen des Herrn Generallieutenants v. N., unseres Negiments-
chefs und des Herrn Obersten v. N., unserem Regimentscommandeurs!" und
beim dritten Schwenken: „Im Namen des ganzen löblichen Regiments wirst
Du ehrlich gesprochen!" Der Ehrlichzumachende kömmt aufrecht mit dem Hut
in der Hand, aber ohne Montirung, in den Kreis gegangen, nicht aber wie
bei anderer Potentaten Armee, wie ein Hund mit dem Hut im Maule
in den Kreis auf allen Vieren hereingekrochen. Der Profos erhält
alle Kleidungsstücke, welche der Ehrlichgemachte am Leibe gehabt, als er ehrlich ge¬
macht worden, welches aber ein Mißbrauch zu sein scheint und nach Art 218 e. e- o.
zumißbilligen ist, zumal wenn der Ehrlichgcmachte kaum selbst ein Hemd und
ein Paar Strümpfe hat."
So stand es in den letzten Jahren des vorigen Jahrhunderts noch mit
den preußischen und braunschweigischen. und wahrscheinlich auch hessischen Trup¬
pen, die als die besten in Deutschland galten. Es ist zu verwundern, wie bei
solchen Spielereien und Sophismen mit der Ehre der Soldat noch so viel von
dieser sich erhielt, daß er. für sie muthig dem Tod und Verderben entgegen¬
ging und sich bestrebte, seinem Stande einen guten Namen zu erhalten.
Die Architektur. Die Bedeutung des antiken und des Renaissancestils für unsere Zeit.
Neue Aufgaben und Hoffnungen.
Auch außerhalb der Maximiliansstraße in München, die bekanntlich der
Geburtsort des „modernen Baustils" ist. sind fast alle in jüngster Zeit errichte¬
ten Privatgebäude nach seinen Schablonenhaften Zügen ausgeführt. Denn das
ist der neuen Bauart eigenthümlich, daß sie ungeachtet einer blinden und ^zu¬
fälligen Vermischung ganz verschiedener Stilelcmcntc nur ein paar magere
Hauptformen kennt, deren Zusammenstellung nach dem Muster, das an den
öffentlichen Bauten gegeben ist. dem ersten besten Maurermeister ebenso gut
gelingt, wie dem Architekten. Da zudem die Baubehörde, deren Prüfung
die neuen Pläne unterliegen, eben die ist. welche die Fahne des modernen
Stils aufgesteckt hat, so kann es nicht Wunder nehmen, daß nun ganze Stadt¬
theile nach der Regel der neuen Strccklisenenordnung in die Höhe schießen.
Diesen fehlt natürlich der Flitter des aufgeklebten Zicrraths, mit dem die
Staatsgebäude die Armuth wie die Verkehrtheit der Formen zu verhüllen suchen
und so tritt an ihnen die Mißgestalt des „neuen Stils" und die Hohlheit seines
gespreizten Wesens in abschreckender Nacktheit zu Tage. Das System, Füllung
Füllung zu schieben, die Mauer durch dünne Vertikale Streifen in lange
^PPen zu zerschneiden, den wagrechten Aufbau, den doch das moderne Bau¬
bedürfniß nicht verläugnen kann, mit ein paar zaghaften Gurten von der Dicke
""es Fadens und mit einer Miniaturkrönung, nur anzudeuten, dagegen durch
Serien und kleine Nundbogcnfricse am Profanbau des neunzehnten Jahrhun¬
derts dem romanischen Kirchenstil ein mageres Andenken zu stiften, endlich ferne-
dive Formen als Ornamente in einer allerdings unerhört neuen, d, h. wider¬
sinnigen Weise zu benutzen und mit solchen armseligen Mitteln sich das Gesicht
eines Palastes aninger zu wollen: dieses System mußte seinen Bankerott offen
bekennen, sobald ihm die täuschende Hülle, die das blöde Auge allenfalls noch
blenden konnte, abgezogen war und das häßliche verwachsene Gerippe an der
Straße stand. Doch von dem „modernen Münchener Baustil" ist schon früher
in diesen Blättern (Ur. 23. 24. 23 des Jahrgangs 1863) ausführlich die Rede
gewesen. Kommen wir hier daraus zurück, so ist es nur. um das Eine und
Andere nachzutragen, was die jüngste Zeit bei Vollendung der Bauten ans
Licht gebracht hat und um ein Wort von den Wirkungen zu sagen, welche eine
solche Architektur auf die Arbeit und die Bildung des Volkes über kurz oder
lang ausüben muß.
Zwar ihr Einfluß wird bald nicht mehr zu fürchten sein, denn ihr Reich
geht, so hat es allen Anschein, nun zu Ende. Nicht gerade, daß nur der Re¬
gierungswechsel ihrer Herrschaft ein Ziel setzte; auch unter König Max wäre
sie wohl nicht von längerer Dauer gewesen. Was schon in jenen Artikeln
ausgesprochen ist, daß nämlich diesen wohl der Gedanke leitete, durch neue
monumentale Bauten sowohl seiner Regierung ein würdiges Denkmal zu
setzen, als die Kunst und Gesittung seines Volkes zu heben, daß er aber
deshalb keineswegs selber zur Erfindung eines neuen Stiles anregen wollte,
das hat sich nun dem Referenten, wenn er recht berichtet ist. bestätigt. Ohne
Zweifel schwebte dem Fürsten im Sinne, daß die Baukunst unseres Zahrhun-
derts nicht nachahmend der Vergangenheit ihre Formen entlehnen, sondern diese
mit freier schöpferischer Phantasie, zugleich aber mit Verständniß im Geiste
und für die Zwecke des Zeitalters zu eigenthümlichen Werken verwerthen solle.
Der Gedanke war eines Königs wahrlich nicht unwerth, und an zwei wesent¬
lichen Punkten seines Planes, mit denen er die Hauptbedingungen für eine
fruchtbare Entwicklung der Baukunst traf, erwies sich, daß es ihm ebenso wenig
an Einsicht in den Charakter unserer Epoche als an seinem Sinn für eine
große wirkungsvolle Anordnung architektonischer Massen fehlte. Das erste zeigte
er in der Wahl der Zwecke, für die sich neue Gebäude erheben sollten ^
Zwecke, die mit den weltlichen Lebensmächten unserer Zeit im engsten Zusammen¬
hange stehen; das zweite in der Anlage der neuen Straße, die sowohl alle Be¬
dingungen eines monumentalen Platzes als die Anforderungen des städti¬
schen Verkehrs und Lebens erfüllt. Kam nur die Ausführung in die richtigen
Hände, so hätte das Festkleid, das in diesem Jahrhundert München angelegt,
seinen edelsten Schmuck erhalten können. War es des Fürsten Schuld,
daß sich Architekten fanden, die ihm mit drängenden Eiser die glänzende Per-
spective eines ganz neuen eigenthümlichen Stils eröffneten, als einer unerreich¬
ten königlichen That? Der vom König ins Leben gerufen als der endlich ge-
fürdere Ausdruck der bauenden Kraft des Jahrhunderts mit seinem Namen
eine neue Aera der Architektur beginnen sollte? Niemand kann es dem Mo¬
narchen verdenken, daß er eine scheinbar so fruchtbare Idee, die ihm ja von
Fachleuten, also von berufenen Männern an die Hand gegeben wurde, lebhaft
ergriff und das auszuführen beschloß, was jene Urtheilsfähigen nicht nur für
den Ruhm seiner Regierung, sondern auch für die Aufgabe des Zeitalters er¬
klärten. Das aber läßt sich aus einzelnen Andeutungen, die der nun Heim¬
gegangene König nicht lange vor seinem Ende gab, wohl abnehmen, daß er —
auch darin in Uebereinstimmung mit den Einsichtigen seines Landes — in den
fertigen Bauten nicht das erfüllt sah, was man ihn hatte hoffen lassen.
Kam diese Einsicht zu spät, um noch unter ihm die Rückkehr zu den
wahren Grundsätzen der Kunst und ihren gegenwärtigen Bedingungen zu
bewirken: so erregt dagegen die neue Regierung Ludwigs des Zweiten —
so viel schon jetzt sich sehen läßt, begründete Hoffnungen. Eine Redensart
Zwar, die nach altem Herkommen hinter jedem Thronwechsel daherhinkt, um
unvermerkt die allgemeinen Wünsche dem neuen Regenten als seine eige¬
nen Pläne unterzuschieben, die aber dieses Mal in vollem Ernst gemeint ist.
Kommt der Plan zur Ausführung, den der König, so viel wir wissen, jetzt fest
im Auge hat, so können Schöpfungen entstehen, in denen die Kunst des neun¬
zehnten Jahrhunderts, voran die Architektur, gereift und groß geworden
durch die Bildung, die ihr am Beginn unserer Epoche noch fehlte, befreit von
den fremden Rücksichten, welche die gährende Zeit ihr auflud, voll und un¬
gebrochen ihre Kräfte entfalten, den Reichthum von Formen, den sie aus der
Vergangenheit zu freiem Eigenthum sich erworben, zu neuen organischen Ge¬
bilden gestalten kann. Diese Kunst, in die lebendige Kette der Geschichte ein¬
gereiht und als ihr letztes Glied zugleich der erfüllte Ausdruck des die Gegen-
^art bewegenden Geistes würde kein Fremdling sein, noch ein über die Prosa
des Tages hinwegtäuschendes kümmerliches Spiel, sondern die Verkörperung
Ideals, das auch der modernen Welt nicht fehlt, aber wie verschüttet noch
unter der schweren Decke eines im Kampf und Drang der Wirklichkeit be¬
fangenen Lebens liegt. Daher würde sie auch einen Ton anschlagen, der in
der Seele des Volkes wiederklänge, seine Phantasie vom Zwang der kleinen
"ut gewöhnlichen Dinge löste und in ihm mit der Freude an der Form den
Sinn für den edleren Genuß des Daseins weckte. Doch ehe wir zusehen,
^lebe Richtung der bildenden Kunst diesem. Ziele zuführe, haben wir uns noch
^z mit dem zu beschäftigen, was die „neue" monumentale Architektur geleistet
und gewirkt hat.
Was wohl, wenn ihr Bausystem von Dauer wäre, aus dem Kunstsinn
Volkes werden würde? Und wenn man um diesen, da er in den Bedin¬
gungen des gegenwärtigen Lebens eine so kleine Rolle spielt, weniger besorgt
ist: so ist doch zu allen Zeiten die Architektur nicht blos aus die ästhetische
Bildung des gleichzeitigen Geschlechts von Einfluß gewesen. Sie giebt gleich¬
sam das feste Fundament ab, auf dem sich das ganze öffentliche und private
Leben bewegt, und so wirken die Gesetze, nach denen sie den Menschen ihre
Wohnstätte, den Raum für die gemeinsamen Zwecke ihres socialen Daseins und
für die Verehrung ihres Gottes bereitet, auf diese selber, ihre Cultur und ihre
Zustände bestimmend zurück. Zunächst steht sie mit allen den Mitteln und
Einrichtungen, deren wir zu unserem äußeren Leben bedürfen, im engsten Zu¬
sammenhang; von ihr empfangen Industrie und Gewerke den Charakter wie
den Grad ihrer Ausbildung. Aber auch das innere Leben eines Volkes, seine
Anschauung, seine Gesittung, seine Art, in das Gesammtleben Gesetz und Ord¬
nung zu bringen, erfährt von der Architektur mancherlei Einwirkung. In
unserem Jahrhundert, das allzu oft die Erscheinung und die äußeren For¬
men mit einer gewissen Gleichgiltigkeit. ja zum Theil mit blasirter Gering¬
schätzung behandelt und mit der Kunst nur eine lose Verbindung eingegangen
hat, mag dieser Einfluß nicht so fühlbar sein. Aber unmerkbar vollzieht er
sich doch und um so gewisser, als wenigstens die Entwicklung der Gewerbe, die
immer von der Baukunst abhängen, von der Zeit mit unermüdlicher Emsigkeit
betrieben, aus ihre Cultur zurückwirkt.
Von diesen üblen Folgen des neuesten Bauwesens hat sich wenigstens die
eine, welche die Gewerke trifft, jetzt schon eingestellt. An den meisten der neuen
öffentlichen Bauten zeigt die Ausführung, und zwar nicht blos die Arbeit des
Maurers, sondern ebenso die des Schreiners und Schlossers, kurz des Bau¬
handwerkers, einen so augenscheinlichen Mangel an Sorgfalt, Schärfe und Sau¬
berkeit, wie er sich vielleicht an keinem monumentalen Bau aus den letzten
Jahrhunderten findet. Zwar thut man sich nicht wenig auf die Geschicklichkeit
zu Gute, mit der man der Facade des Regierungsgebäudes nach Hafnerart eine
Bekleidung von glasirten Ziegeln in verschiedenen Mustern gegeben hat. Aber
man braucht, was das eigentliche Bauhandwerk anlangt, nur die Verfügung
der Hausteine an den Pfeilern der Münzarkaden zu betrachten und sie mit der
Arbeit an dem nahegelegenen Residenzschloß zu vergleichen, um ein merkwür¬
diges Beispiel von dem Rückschritt zu haben, den in neuester Zeit das Bau¬
handwerk gemacht hat. Wie oberflächlich, lieblos und nachlässig ist erst die Be¬
handlung des Ornaments, wo es nicht blos schablonenhafter Abdruck des
Modells ist. Zu allen Zeiten giebt die Behandlung des Schmucks, der
gleichsam den Bau aus der Fessel des structiven Gesetzes und dem ver¬
schlossenen Leben des Steins in die freie Schönheit organischer Formen sich
hinüberbewegen läßt, einen sichern Maßstab für den künstlerischen Werth,
den die Architektur selber hat. Kann es Wunder nehmen, daß eine Bau¬
kunst, welche mit tändelnder Willkür das Fremdartigste untereinandermengt
und es auf ein Flickwerk abgesehen hat, das durch seine seltsamen Verknü¬
pfungen überraschen soll, daß eine solche Kunst für die Vollendung der Arbeit
kein Auge hat? Da sie weder den Fleiß noch die Einsicht zu einem in sich
durchgeführten, belebten und gegliederten Ganzen aufbringen kann, so ist ihr
auch mit der oberflächlichen, mangelhaften Ausführung genug gethan. Nach
dem Kopf und der Phantasie des Meisters richtet sich die Hand des Gehilfen.
Ais die Kunst, welche unmittelbares Bedürfniß in die Freiheit der Form zu
erheben hat, beruht die Architektur durchaus aus einem lebendigen Ineinander¬
greifen von Kunst und Handwerk. Sobald sie aber von dem festen Boden
des allgemeinen Lebens und der geschichtlichen Ueberlieferung, andrerseits von
den Bedingungen des Stoffs! und den Grundsätzen gewisser Hauptformen sich
losreißt; sobald sie mit abenteuerlicher Neuerungssucht aus dieser Verschlingung
steh löst, um aus Bruchstücken der verschiedensten Stile eine Maske zusammen¬
zusetzen: sobald ist auch jene innere Einheit mit dem Handwerk zerrissen und
wie die Kunst unter der hohlen und lügnerischen Form zu Grunde geht, so
verfällt die technische Ausführung unter den plumpen und rohen Händen
des sich selbst überlassenen Tagelöhners.
Doch damit nicht genug. Auch das ist unzweifelhaft, daß solche monu¬
mentale Bauten in die Länge einen zersetzenden oder erschlaffenden Einfluß aus
die Bildung und Gesittung des Volkes üben müssen. Was die feste Stätte
für das öffentliche Leben abzugeben hat, dessen Erscheinung auch muß in großen
ernsten Zügen das Gepräge der Macht und Tüchtigkeit tragen. Daher hat die
Kunst mit ausdrucksvollen sicherem Formenspiel sowohl die nackte, blos daS
Bedürfniß aussprechende Gestalt zu bekleiden, als den Geist des Gemeinlebens
im organischen, wie aus innerer Kraft gegliederten Bau wiederklingen zu lassen.
So tritt dem Auge des Volkes im Gesetz des Aufbaues die innere Bedeutung,
der ernste Zweck würdig entgegen, während es zugleich über die Noth und
Spannung der Wirklichkeit durch die getragene festliche Stimmung der äußern
Erscheinung emporgehoben wird. Wie gleichgiltig aber oder frivol muß seine
Anschauung auch in öffentlichen Dingen endlich werden, wenn die Monumente,
^e sein Gemeinleben in sich fassen, ihren Zweck hinter einer Maske willkürlicher
Formen verstecken und mit falschem Schmuck die Sinne zu täuschen suchen.
Auf diese allgemeinen Wirkungen einer solchen Architektur die Rede zu
dungen, schien uns deshalb nicht überflüssig, weil es im Beamtenthum wie in
Wissenschaft noch immer Leute genug giebt, welche die Kunst als eine Sache
persönlichen Geschmacks und der Willkür betrachten, die mit den realen
Mächten, welche unsere Zeit umtreiben. nichts zu schaffen habe und daher dem
Belieben und den Einfällen des Einzelnen überlassen bleiben könne. Eine
Meinung, die schon ein oberflächlicher Blick auf die Geschichte über den Haufen
^"'se; mußte doch selbst das Christenthum, dessen Stifter vom religiösen Genius
ganz erfüllt, in seinem Bewußtsein für die Kunst keinen Raum hatte, diese
aus anderen Bildungsschichten, Zeiten und Völkern in sich aufnehmen, um die
Denkart wie das Schicksal der Menschheit umbilden zu können. Die Kunst ist
ebenso eine allgemeine Lebensform, wie sie ein der Seele eingeborenes Be¬
dürfniß ist, und so unterliegt sie den allgemeinen Gesetzen jedes lebendigen
Werdens wie denen des menschlichen Geistes und der geschichtlichen Ent¬
wickelung.
Vorab hat die Architektur, gebunden einerseits an die Bedingungen sowohl
des Stoffs als der Zweckbestimmung, andrerseits an die eigenthümliche Phan¬
tasie und Stimmung des gleichzeitigen Geschlechts, auch als Kunst diese innere
Nothwendigkeit in ihren Formen auszuprägen. Gerade sie ist insofern die Basis
aller Kunst, der feste monumentale Rahmen, welcher das ganze ideale Dasein
in sich schließt, als sie auf dem unverwüstlichen Grunde innerer Gesetzmäßigkeit
ruht und nur von diesem aus zur freien Bewegung, zum ungezwungenen Schein
des Lebens sich aufschwingt. Sie giebt den bildenden Künsten das Vorbild für
die Ruhe und den Einklang einer wohlgemessenen Anordnung; von ihr auch
geht in die Phantasie des von ihren Kunstwerken umgebenen Volkes unmerklich
Klarheit, Halt und Zusammenhang über. „Die Bürger einer wohlgebauten
Stadt," sagt einmal Goethe — an dessen Ausspruch sich zu erinnern freilich
jetzt schon Manche für altfränkisch halten — „wandeln und weben zwischen
ewigen Melodien, der Geist kann nicht sinken, die Thätigkeit nicht einschlafen,
und am gemeinsten Tage fühlen sie sich in einem ideellen Zustand; ohne Re¬
flexion, ohne nach dem Ursprung zu fragen, werden sie des höchsten sittlichen
und religiösen Genusses theilhaftig." Doch wenn auch die Architektur strenger
wie jede andere Kunst die festen Züge der gesetzlichen Normen, an die sie ge¬
bunden ist, in ihrer Gestalt ausprägt, so ist ihr deshalb die freiere Schönheit
organischer Gebilde nicht versagt. Sie überwindet die todte Schwere des Stoffs
und die Starrheit der statischen Grundsätze, indem sie durch die feine Zusammen-
stimmung der Verhältnisse, die maßvolle Spannung und Lösung der Conflicte
von Last und Stütze und die rythmische Gliederung der Massen, zu welcher sie
die bloße Theilung ausbildet, den Bau wie aus eigener Kraft sich erheben läßt
und so das Gesetz wohl ausspricht, nicht aber als eine Nöthigung, sondern mit
dem freien Schein innerer Belebung. Zugleich versinnlicht sie im Spiel der
Ornamente die Dienstleistung der structiven Glieder mit phantasievollem und
doch architektonisch gemessenem Anklang an organische Formen: wie wenn die
Kraft des tektonischen Körpers nicht blos die Trägheit des Steins überwunden
hätte, sondern überquellend nun ihr Amt mit den Formen der belebten Natur
noch einmal verrichten wollte, Andrerseits zieht sie den Schmuck der Plastik
und Malerei in ihre umschließenden Wände, um nicht blos mit dem Bilde des
menschlichen Lebens auch ihren Mauern den Schein des Bedürfnisses zu nehmen,
sondern zugleich von der Fessel des Zwecks sich loszulösen, indem sie ihn durch
den Mund der Schwesterkünste offen ausspricht. Deshalb fühlte sich die Bau¬
kunst auf dem Gipfel ihrer classischen Entwicklung, die griechische, sowohl
von der Strenge der Construction als von der Last des Stofflichen so voll¬
kommen befreit, daß sie das solide, mit der größten Feinheit ausgearbeitete
Gemäuer, mit dem sie doch hätte prahlen können, ganz in die schmückende
Kunstform hüllte (das Princip der Bekleidung, von Semper treffend hervor¬
gehoben) und unter dieser die Anstrengung der structiven Mittel, der Steinfugen
und des Baustoffes vollständig verschwinden ließ. Hatte sie aber so das blinde
Gesetz der Materie überwunden, so führte sie es zu freier lebendiger Erscheinung
w die künstlerische Form zurück. In dieser sprach es sich aus wie die freie
Thätigkeit der belebten Natur — z. B. im Kapital der Säule und in den Ge¬
simsen des Gebälkes — und so war jene Architektur im eigentlichen Sinn des
oft mißbrauchten Wortes wahrhaft organisch. So ringt sich durchweg die Bau-
kunst aus dem Zwang der Materie in das organische Leben hinauf, während
sie doch zu ihrer Gesetzmäßigkeit sich frei bekennt. Darnach begreift sich der
Ausspruch Michelangelos, daß nur. wer die Anatomie kenne, im Stande sei,
sich einen Begriff von der inneren Nothwendigkeit eines architektonischen Planes
ZU machen. Dieser wunderbare Einklang von freier Bewegung, mathematischer
Strenge und innerer Nöthigung war es wohl, der Schlegel auf den Vergleich
der Architektur mit einer gefrorenen Musik brachte. Ein Ausdruck, der auch
insofern nicht unpassend scheint, als wie in der Musik eine unfaßbare Empfindung,
so in der Baukunst die dunkel in der Seele des Volkes schwebende Gesammt-
stimmung sich kundgiebt.
Doch von allen diesen Bedingungen der wahren Architektur hat sich der
»Moderne Stil" kurzer Hand losgesagt. Er hat es eigens darauf abgesehen,
w seinen Formen alle Gesetze zu verläugnen. Aber auch alle. Zunächst das
geschichtlichen Entwicklung. Da er die Erfindung einiger müßigen
Köpfe ist. so ist es nicht seine Sache, den Charakter des modernen Gesammt-
lebens auszusprechen noch an den letzten der ausgebildeten Stile, den uns die
Vergangenheit überliefert. anzuknüpfen. Beides geht in der echten Architektur
immer Hand in Hand; denn wie der neue Weltzustand aus dem vorhergegangenen
sich herausgearbeitet hat. so nimmt die neue Bauart die Elemente der früheren
sich auf, um sie im Geiste des neuen Zeitalters fort-und umzubilden. Hätte
der neue Stil eine Ahnung von den wesentlichen Zügen der Gegenwart, so
KUrde er nicht mit einem Nationalgefühl. das mit patriotischer Beschränktheit
gerade da sich auswirft, wo es am wenigsten am Platze ist. der Kunst der
Renaissance als einer fremdländischen den Rücken kehren. Er greift lieber zu
^Manischen und gothische» Formen zurück, die doch allein im System
^ ganz auf das Innere sich werfenden Kirchenbaues Bedeutung und Ausdruck
haben — um sie für moderne Facaden an weltlichen Gebäuden zu gebrauchen.
Kein Wunder daher, daß er das Aeußere eines Regierungsgebäudes nach einer
Reminiscenz an den Längenschnitt eines gothischen Hauptschiffes gestaltet (vergl.
Grenzboten 1863, I. 414) und seine Privathäuser durch mit Rundbogenfriesen
verbundene — oder auch durch horizontalabschließende Streifen rahmenartig ge¬
bildete — Lisenen scheitrecht abtheilt: eine an sich arme Form, die nur Sinn
und Wirkung hat, wo sie theils als Verstärkung der Mauer das Widerlager
für die Bunde der Dachconstruction oder die inneren Gewölbebögen abgiebt,
theils am Aeußeren der dccorative Nachklang des Jnnenbaues ist.
Mit einer solchen Anwendung jener Stilelcmente verletzt diese Bauart zu¬
gleich das erste architektonische Gesetz: daß sich nämlich in der äußeren
Form die Zweckbestimmung sowohl als die innere Anordnung des Gebäudes
deutlich auszusprechen habe. Sie entlehnt Formen, in welchen sich der Cha¬
rakter unseres privaten und öffentlichen Lebens nicht wiedergeben läßt (wie ihr
denn dafür schon die erste Bedingung, die der wagrechten Gliederung fehlt) und
verläugnet in ihren in die Höhe ausgerecktem Facaden die innere Raumeinthei¬
lung. In demselben verkehrten Sinne ist ihre Ornamentation gehalten. Ihre
Hauptzüge bilden der Spitzbogen, der decorativ nur da auftreten sollte, wo er
zugleich in der Strenge seines constructiver Princips durchgeführt ist, gothisches
Maßwerk, das für sich, abgetrennt von dem aufstrebenden durchbrochenen Ge¬
rüst des Systems, ausdruckslos ist, und der Rosettenschmuck, der vervielfältigt
nur an den Lakunarien und neutralen Füllungen sinnvoll und wirksam ist.
Doch damit nicht genug. Diese Architektur verletzt auch, wie schon bemerkt, die
eigenen Gesetze derFormen, die sie aus früheren Stilen herbeigeschleppt
hat; denn sie gebraucht sie losgelöst von ihrem structiven Princip, wie eine
vom Kern abgezogene Hülle. Sie will neu sein und quält daher die verschie¬
denartigsten Formen zu einer Verbindung und Gestalt zusammen, für deren
Abenteuerlichkeit sich allerdings in der ganzen Geschichte der Kunst kaum ein
zweites Beispiel wird auftreiben lassen. Um diese Wirkungen zu erreichen, ver¬
schmäht sie auch entlegene und ausländische Formen nicht, die sich nur durch den
Zwang des structiven Bedürfnisses erklären, von ihr aber decorativ verwendet
werden (z. B. der Tudorbogen am Nationalmuseum). Ja, sie nimmt, um eine
unpassende Mannigfaltigkeit in die Bekrönung ihrer Gebäude zu bringen, selbst
zu ländlichen Dachkränzen mit hölzernen Dachsparren ihre Zuflucht: ein naiv
liebenswürdiger Abschluß für das Prachtkleid, mit dem sich der Bau brüstet,
wie etwa der breitkrämpige Bauernhut für die schlanke Zierlichkeit des Fracks.
Wie sollte man auch ein Verständniß für die in der Architektur wirkenden
Gesetze da erwarten dürfen, wo nicht einmal ihre Grundbedingungen
beachtet sind. Zu diesen gehört doch wohl ein gewisses Verhältniß der Gebäude-
sorm nach den drei Dimensionen der Höhe, Tiefe und Breite; eine rhythmische
Abtheilung, d. h. Gliederung der Facade in ein Ganzes wohlgeordneter und
zusammenstimmender Theile; endlich der Ausdruck der verschiedenen Richtungen,
des Oben und Unten, der umspannenden und abschließenden wagerechten Linien,
sowohl die Scheidung als Zusammenfassung der Massen und Glieder durch die
Gesimse. Selbst diese einfachsten Gesetze, welche schon die Natur der Kunst
an die Hand giebt, wirst um den Preis eines täuschenden Scheins von Origi¬
nalität der neue Stil ab. Zu weitläufig wäre das ganze Register dieser gröberen
Bausünden, die er sich zu Schulden kommen läßt, um es herzuzählen; eine
kleine Auswahl derselben kann der Leser in den schon angeführten Artikeln
finden. Charakteristisch ist, wie schon angedeutet, für diese Architektur, daß sie
nur die eine Richtung der Höhe betont, ihre Bauten nicht durch Horizontal¬
gurten und kräftige Krönungen zusammenzuhalten noch abzuschließen weiß. Da
sie dennoch, trotz ihrer Mauerstreifen und der durch mehre Stockwerke sich er¬
streckenden Fenstereinrahmungen die wagerechte Theilung des Innern nicht läug-
nen kann, so trägt sie wenigstens Sorge, ihre wenigen dünnen Profilcffen so
oft wie möglich zu durchschneiden — also eine Linie zu brechen, deren Wesen,
wie das schon der Ausdruck „Gurt" anzeigt, gerade in der umspannenden Con-
tinuität besteht. Wie ihr so schon bei der Facade der Sinn für die künstlerische
Anordnung der Raumverhältnisse abgeht, so mißlingt ihr auch, wie das Treppen¬
haus des Regierungsgebäudes zeigt, die Disposition des Irrenhaus. Wie in
die Seitenschiffe von Dorfkirchen sieht man in die beiden Treppenarme, die
von riesigen gedrückten Spitzbogen flankirt sind und daher stellenweise mit ihren
Wangen schief in dieselben hineinschreiben; der Potest schneidet dann beide ab,
ohne sie in sich und einander entgegenzuführen; über dem oberen mittleren
Treppenarm erheben sich Stichgewölbe auf Säulenbündeln von der plumpsten
Form. Das Ganze, erleuchtet durch zwei endlos ausgezogene Fensterstreifen,
wie eingeschachtelt in den Bau, von nüchterner, matter, schwerfälliger Wirkung.
Welch ein Gegensatz zu den grandiosen Treppenhäusern des nun so verachteten
Rococostils. In vollem Licht ausgebreitet schwingen sich diese festlich auf. breit
und groß wie für ein Geschleckt angelegt, das sich von der Erde erhebt, den
Himmel nicht braucht und sich den Herrn der Welt weiß; durch die Verschiebungen
der mannigfaltigen Bogendurchsichten zeigt sich dem Eintretenden sofort das
Weite. Großräumige des Palastes, während ihn zugleich die innere malerische
"ut harmonische Gruppirung behaglich in das Innere hereinzieht, in die Stätte
eines edlen Lebensgenusses und durch die Kunst gehobenen Daseins. Freilich,
"ich! mit solchen Erwartungen mag der moderne Staatsbürger den zaghaften
Fuß in ein Regierungsgebäude setzen, und schwül, beklommen und gedrückt, wie
Hin dabei bisweilen zu Muthe ist. wird er den Aufgang mit seiner Stimmung
2"nz in Einklang finden. Aber gerade hier wäre eine gewisse heitere und statt-
I'che Größe am Platze gewesen, um das Landeskind fühlen zu lassen, daß hier
zu waltenden Leitern des Staats keine ^unnahbaren Götter bestellt sind,
sondern nur menschlich denkende Vertreter des großen Ganzen, dem es selber
angehört.
Doch wir wollen den Leser nicht länger mit den einzelnen Zügen des
„modernen Stils" ermüden. Ermüdend ist ohnedem der Anblick dieser Archi¬
tektur, die trotz ihrer Vermischung verschiedener Formen durch die langweilige
Wiederholung ihrer magern, ausdruckslosen Hauptmotive und ihres ärmlichen
Flitters auf den ausgerecktem Wänden von verzehrender Eintönigkeit ist. Bei
dieser öden Gestaltlosigkeit ist es unnütz, noch von der Art zu reden, mit der
Arkaden und Gänge durch einen bunten decorativer Anstrich aufgeputzt sind.
Die Polychromie, von der noch die Rede sein wird, ist gleichsam die feine
Blüthe der architektonischen Kunst, welche den letzten vollendenden warmen
Hauch des Lebens über sie ausgießt, mit der sie als beseelte leuchtende Gestalt
in die farbenglänzende Welt tritt; zugleich läßt sie die Kraft der dienenden
Glieder in den freien körperlichen Schein des Malerischen gleichsam ausklingen.
Wie sollte jene Münchener Bauart zu einer solchen Polychromie kommen. Daß
sie das Wenige, was sie an farbigem Schmuck aufwendet, dem mit Schablonen
hantierenden Zimmermaler überläßt, das ist nur eine natürliche Folge ihres
ganzen Systems. In derselben äußerlichen Weise behandelt sie die plastische
Ausstattung; auch diese wird, wie jene Artikel ausgeführt haben, den Mauern
nach Willkür angeklebt oder aufgesetzt, ohne inneren harmonischen Bezug auf
die bauliche Gestalt, ohne ausdrucksvollen Zusammenhang mit den architek¬
tonischen Formen. Losgelassen von diesem Gesetze zeigt denn auch das plastische
Gebilde, ohnedem formlos und die menschliche Gestalt verrenkend, eine leere
willkürliche Auffassung und eine charakterlose Schwäche der Behandlung. —
Der innere Widersinn, der in dem abenteuerlichen Gedanken liegt, einen
neuen Baustil durch Zusammensetzung finden zu wollen, ist in der Maximilians¬
straße schlagend zu Tag getreten. Neue Formen zu entdecken, darauf haben
natürlich ihre Baumeister verzichtet. Geht man den verschiedenen Stilen, welche
die geschichtliche Entwicklung der Architektur bilden, auf den Grund, verfolgt
man sie rückwärts von ihrer Ausbildung zu ihrem Ursprünge: so zeigt sich
jedesmal, daß ihre Formen auf unscheinbare Anfänge zurückgehen, in denen
sie, wie die Pflanze im verschlossenen Keim, kaum erst angedeutet sind. Dem
langsamen Gange der Zeit, dem Fortschritt des ganzen Culturlebens, einer sich
aneinanderreihenden Kette von Kräften und Geschlechtern ist ihre Entfaltung
und Vollendung überlassen. In dieser Entwicklung geht immer Beides Hand
in Hand: das Gesetz der Construction und die künstlerische Ausbildung; auch
diese folgt dem großen objectiven Gang der Geschichte und läßt so der Willkür
des Einzelnen nur geringen Spielraum. Dabei ist dieser fortlaufende Gang
der Baukunst mannigfach verschlungen, indem die spätere Bauart alle die Ele»
Meute der früheren in sich aufnimmt, welche noch lebensfähig sind und für
die neuen Bedürfnisse, sich verwerthen oder weiterbilden lassen. So gebraucht
also jeder neue Stil frühere Formen, aber nicht mit launenhafter Auswahl
und mit kenntnißloser, ihre structive Bedeutung verkehrender Willkür, wie
die jüngste Münchener Architektur. Sondern er knüpft in geschichtlichem Zu.
sammenhang und nach dem Gesetz aller naturgemäßen Entwicklung an den
letzten der entwickelten Stile an. der ja alle früheren gleichsam im Auszuge
enthält, um guf ihm weiter zu bauen, mit seinen Mitteln den für die neuen
Zwecke passenden Raum zu gestalten, wobei sich dann die schöpferische Umbil-
dung von selbst ergiebt. So der griechische Stil an den chaldäo-assyrischen und
den ägyptischen, der römische an den griechischen, der byzantinische und roma¬
nische an den römischen, der saracenische — in dem zugleich orientalische Motive
erhalten sind — an den römischen und byzantinischen, der gothische an den
romanischen und saracenischen. Im Wesen der gothischen Bauart — von
der im nächsten Artikel noch die Rede sein wird — lag es, daß sie ganz auf-
gehend in die nothwendigen Folgen ihrer structiven Grundsätze, sich in sich
selber abschloß und vollendete. Alle ihre Formen sind nicht blos der Ausdruck
des structiven Gerüstes. sondern dieses selber die nackte Erscheinung der mathe¬
matischen Struktur; der künstlerische Schmuck aber ganz von diesen Formen ab¬
hängig oder eine ihnen nur äußerlich angeheftete Zierde (z. B. das Laubwerk
-M den Kapitälen der Bündelpfeiler). So durchaus in sich fertig und sein
Leben gleichsam in sich selber bis zum letzten Athemzuge verzehrend ließ sich der
gothische Stil in eine andere Bauweise nicht überführen und schnitt daher nach
der einen Seite, als der letzte abschließende Ausdruck des kirchlich-christlichen
Mistes, die Entwicklung ab.
Zugleich verlor, als der Stil seine Blüthezeit eben hinter sich hatte, die
kirchliche Lebensform die weltbestimmende Macht, die sie bis dahin ausgeübt.
Die individuellen Kräfte und Neigungen des menschlichen Geistes erwachten
Und warfen die lastende, alle gleichmäßig einschnürende Decke des hierarchischen
Systems ab. Der Bruch mit dem Mittelalter, den so im religiösen Bewußtsein
die neuanhebende Zeit Vollzog, war nur der entscheidende Ausschlag einer weit¬
greifenden Bewegung, mit welcher der aufstrebende Geist von der Fessel der
Autorität, die ihn sich selber entfremdet und mit der Natur in Zwiespalt ge¬
bracht hatte, sich losriß. In der Gesittung, in Wissenschaft und Kunst war
der Umschwung, wenn auch mit leiseren Schritt, schon eingetreten, ehe er um¬
wälzend 5as religiöse Leben ergriff. In diesen Gebieten des Daseins warf
schon früher der frische Trieb individueller Selbständigkeit die hergebrachten
Satzungen ab. die sich zu leblosen Typen allmälig verfestigt hatten; der
wieder mit sich vertraute Geist stellte sich auf seine eigenen Füße und ergriff
^gleich von dieser Welt mit heiterem Selbstgefühl Besitz. Dieses neue
Leben ging zuerst im Süden auf, wie immer, wenn der Mensch im Einklang
mit sich selbst und der Natur, sich auf seine eigene Kraft verlassend und ohne
sein Bestes an das Schattenreich eines Jenseits hinzugeben, aus sich ein schönes
Dasein mit frohem Muth gestaltet. Diese Rückkehr aber zur harmonischen Aus¬
bildung des eigenen Innern und zur Natur ging leicht und glücklich von Statten,
weil sie durch günstige Umstände und von einem richtigen Trieb geleitet, einen
sicheren Führer an einer Epoche der Vergangenheit fand, in welcher schon ein¬
mal alle Anlagen des menschlichen Geistes frei und glücklich entwickelt in voll¬
endeter Form ein in sich befriedigtes Dasein geschaffen hatten. So bildete sich
in Italien an der Antike der Humanismus aus, als in Deutschland noch
Wissenschaft und Kunst in den Fesseln der Gothik lagen.
Nicht blos Poesie und Wissenschaft, auch die Architektur griff frühzeitig
zu den Alten zurück. Im Grunde war in Italien die antike Tradition nie
ganz erloschen; zu mächtig war das Vorbild der noch erhaltenen Ueberreste
gewesen, als daß auch eine in entgegengesetzter Anschauung und in halbbarba¬
rischen Zuständen befangene Zeit ihm ganz hätte vorbeigehen können. Um
so leichter ließ sich das nur gelockerte Band fester knüpfen, sobald das innere
Bedürfniß wieder zu den alten Formen drängte. Was hat sich in Bru-
nellesco geregt, welche Pläne, die bis dahin nur dunkel in ihm auf- und nieder¬
stiegen, empfingen festen Umriß und Gestalt, als er in Rom den Tempel aus-
maß und am Pantheon sich zu seiner Kuppel für S. Maria del fiore begeisterte.
Er ist es gewesen, der die Kunst der Antike wiedererweckte und zugleich aus
ihren Trümmern im Sinne einer neuen Zeit eine neue Kunst hervorrief.
Denn die Renaissance ist keine Nachahmung der Antike. Sie wäre nicht
lebensfähig gewesen, wenn ihre Bauweise nicht die ihrem Zeitalter eigenthüm¬
lichen Zwecke befriedigt, die Anordnung des Raumes und der Verhältnisse
in ausdrucksvollen Einklang mit dem neuen Leben gebracht hätte. Wie viel
sie in dieser Hinsicht den ihr vorangehenden Stilen — besonders dem ro¬
manischen, wie wohl behauptet wird — zu verdanken habe, wollen wir hier
nicht untersuchen; sicher nicht so viel, daß sie nicht selbst hätte eine schöpferische
Phantasie bewähren müssen. Denn die Gesittung, der ganze Lebenszuschnitt,
aus eine harmonische Entfaltung aller Kräfte und eine heitere Sinnlichkeit
angelegt, war ein anderer als früher und bedingte eine ganz andere Anlage
und Eintheilung des Raums. Eher hätte ihr auch hierin das Massenhafte und
Weiträumige der römischen Bauweise, die mit ihrem offen ausgesprochenen
Quader- und Gewölbebau zuerst rein structiven Principien eine künstlerische
Form zu geben hatte, Vorbild sein können, wie sie es durch ihre Formen
war; und zum Theil war sie das auch, wie ja bekanntlich Bramante die Idee
zu seiner Peterskirche der Basilika Konstantins (dem alten Friedenstempel
Vespasians) entnahm. Insofern traf es sich nicht ungünstig, daß die neuerwa-
ahmte Architektur auf römische, nicht aus griechische Kunst traf. Indeß wie
dem auch sein mag: für die Befriedigung der mannigfachen neuen Bedürfnisse
war sie dennoch ebenso auf ihre eigene Erfindung angewiesen, als für ihren
Trieb nach einer solchen decorativer Ausstattung, welche das organische Leben
und die menschliche Gestalt zur ornamentalen Versinnlichung der Dienstleistung
gewisser Bauglieder herbeizog. So wußte sie die classischen Formen mit eigen¬
thümlicher Phantasie für neue Bildungen zu gebrauchen.
Denn darüber sollte uns doch kein Zweifel mehr sein, daß die antike
Bauweise nicht der vorübergehende Ausdruck besonderer Zwecke und einer be¬
dingten Zeitbildung ist, sondern die immer giltige in sich vollendete
Form für gewisse im Wesen der Architektur selber begründete
Gesetze. Sie bildet auch hierin wie in allem den geraden Gegensatz zur
Gothik. Ueber diese Bedeutung der classischen Baukunst sowie über das Ver¬
hältniß der Renaissance zu derselben — Punkte, die wir hier nur andeuten
können — herrscht noch immer unter den Architekten wie den Laien das gröbste
Mißverständniß. Die Architektur ist. wie schon bemerkt, in einen bestimmten
Kreis von Gesetzen und Bedingungen eingeschlossen. Diese Gesetze können nur
in einer bestimmten Reihe von Formen ihren einzig richtigen, vollkommenen
Ausdruck erhalten, und so gilt hier noch mehr als bei den Schwesterkünsten
der Grundsatz, daß gewisse Formen, zu welcher Zeit und von welchem Volke
sie auch gefunden sein mögen, für alle Zeiten unverbrüchliche Muster werden
und bleiben. So hat z. B. die griechische Kunst die Norm von tragender
Kraft und Last (in Säule und Gebälk) und ihre die Massen sowohl zusammen-
fassenden als scheidenden, den Conflict des Wagrechten und senkrechten ryth-
"Nsch lösenden Gliederungen, die römische dann die Verbindung structiver
Elemente, des Quaderbaus und Rundbogens mit dem idealen Säulen- und
Architravsystem als unvervrauchbares Erbe der Nachwelt überliefert.
Aber nicht blos in den einzelnen Formen, sondern in ihrer ganzen Ge-
staltungsweise ist die Antike bleibendes Vorbild. Noch immer geht das Vor¬
urtheil, daß es ein Hauptzweck der Baukunst sei, die materielle Construction,
°- h- die nackte Nothwendigkeit der structiven Bedingungen auch in der for-
Walen Erscheinung offen kundzugeben: ein Grundsatz, nach welchem die Kunst
dem Bedürfniß zu dienen hätte. So dachten die Griechen nicht. Bei ihnen
^«r, wie oben schon angedeutet, die architektonische Form ein selbständiges
künstlerisches Gebilde, das den baulichen Kern bekleidete und wie aus innerm
Trieb die zu Grunde liegende Gestalt zu freier Erscheinung brachte, gleich der
schönen fleischlichen Oberfläche des menschlichen Körpers, in welcher der Knochen-
b-w sich verhüllt und doch sich ausspricht. Dies nur kann im vollen Sinne
"»organisches Bauen heißen - nur in dieser Bauweise gehen der Stoff und
von ihm abhängige Construction in die schöne Form auf, nur hier, wo sie
das nackte Bedürfniß vollständig umkleidet und als freie Thätigkeit in sich nach¬
klingen läßt, ist die Form wahrhaft künstlerisch. Wie dieses Princip von
der Antike bis ins Kleinste durchgeführt wird, können wir hier nicht weiter
verfolgen (die neuen fruchtbaren Ideen in Sempers geistvollen Buche „der
Stil u. f. f.," die zwar der »och aufstehende dritte Band erst in festen Zu¬
sammenhang zu bringen hat. scheinen uns erst das richtige Verständniß der
griechischen Architektur anzubahnen). Nur darauf wollen wir hinweisen, wie
folgerichtig sie ist, indem sie in ihrer Blüthezeit auch an der plastischen Gestalt
den Schein des blos sinnlichen Lebens, die Sehnen und Adern til^t, gerade
so, wie sie in ihren Bauten das Gemäuer und die Steinfugen, obwohl mit
der größten Sorgfalt ausgeführt, hinter der wie in einem Guß vollendeten
Form verbirgt. Durch diese Gestaltungsweise begreift sich endlich leicht, wie
die classische Architektur das Vorbild für alle monumentale Kunst ist: sie
giebt dem Bau ein Festgewand, das ihn über das Bedürfniß und seine blinde
mathematische Nothwendigkeit hinaushebt und gleichsam das unorganische Ge¬
fügt verhüllend seine absolute Festigkeit, wie die eines organischen Gewächses,
verkündet. Wenn dann auch die römische Kunst, der es um den Ausdruck der
den Stoff beherrschenden Kraft zu thun war, stellenweise den materiellen Bau
des Gemäuers offen ausspricht, so behält sie doch den Charakter jener das Be¬
dürfniß überwindenden Kunstform bei.
Indem so auch die antiken Formen, welche eine wirkliche Dienstleistung
ausüben, den Schein einer selbständigen Schönheit annehmen und also dem
baulichen Zweck zu dienen nur scheinen, verlieren sie auch abgetrennt von
ihrem structiven Princip ihren Ausdruck, ihre künstlerische Wirkung nicht. Wie
oft ist die Renaissance darum getadelt worden, daß sie solche Formen decorativ
verwende: eine nüchterne und engherzige Anschauung, welche die Architektur für
einen Tagelöhner ansieht, der keuchend und mit sichtbarer Anstrengung seine
Lasten tragen muß. Die Gewißheit der materiellen Nothwendigkeit ist eine An¬
forderung, welche die ästhetische Anschauung gar nicht macht. Zudem sind in der
guten Zeit der Renaissance jene Formen — Pilaster, Halbsäulen u. s. f.
immer maßvoll und zugleich so verwendet, daß sie die Kraft der — eigentlich
nur umschließenden — Mauer in sich zusammenfassend dem Auge als tragende
stützende Glieder erscheinen. Insbesondere aber sind sie der lebendige Ausdruck
des Aufbaus an der Wandfläche, die an sich diesen nicht versinnlichen kann,
gleichsam der deutliche Anschlag des in der Anordnung des Raumes und der
Verhältnisse verborgenen Rythmus, endlich ein wirksames Mittel für die ver¬
tikale Gliederung, deren, um als ein organisches Gänze zu erscheinen, der Bau
der Neuzeit bedarf, der dem Bedürfniß gemäß, wagrecht sich ausstreckt. Andrer¬
seits knüpft namentlich an sie die ornamentale Ausstattung an, während ste
zugleich in den Bau eine Art von Bewegung, den Contrast von Licht Mb
Schatten bringen und so jene wunderbare malerische Wirkung erzeugen, welche
den Renaissancebauten für unsere Phantasie einen so großen Reiz giebt.
Daß also die neue Architektur der Antike diese Formen, dann insbesondre
ihre Gesimsbildung und die Art ihrer Decoration entnimmt, hindert sie nicht,
in der Composition ihrer Gebäude, in der Anordnung und Vertheilung der
Räume in eigenthümlicher Weise schöpferisch zu sein. Sie machte an sich
selber und unbewußt die große fruchtbare, Entdeckung, daß die antiken Formen
mustergiltig für jede Baukunst sind, welche auf dieser Welt zu Hause ist und
einem Leben die Stätte bereiten soll, das auf harmonische Entwicklung von
Geist und Sinnlichkeit sich richtet. Dachten jene italienischen Meister, welche
sich in Rom dem Studium der classischen Bauwerke ganz lüngaben, die schon
genannten Brunellesco und Bramante. dann ein Alberti. der den Vitruv er-
»euerte, ein Cronaca, der antike Krönungsgesimse an neuen Palästen geradezu
nachbildete, ein Peruzzi, der über die römischen Alterthümer schrieb — sollten
diese Meister die Absicht gehabt haben. durch jenes Studium eine neue Bau.
weise finden zu wollen? Sicher nicht. So naiv gingen sie in die alte Anschau-
ungsweise ein. daß Alberti von christlichen Kirchen nur noch wie von Götter¬
tempeln sprach, daß Bramante, wie bemerkt, die Idee zu seiner Peterskirche
von einer römischen Ruine empfing. Aber indem sie die classische Kunst nur
Wiederherzustellen meinten und dennoch für die Zwecke ihres Zeitalters aus
eigener Phantasie neue Pläne der Raumgestaltung fanden, da gab sich ein
eigenthümliches Schaffen von selbst, und ungesucht wie gewachsen, erhob sich
«me neue Architektur aus dem Boden. Wer die Antike blos nachahmt, ver.
steht sie nicht; von seinem nüchternen, geistlosen Sinn läßt sich ihr Wesen nicht
fassen. Die Renaissance verstand das Alterthum, wenn auch so manche Seite
seines Lebens, welche erst die heutige Forschung aufgedeckt hat. ihr noch ver-
schlössen blieb. wenn es zum Theil auch späte Formen waren. an denen sie sich
begeisterte; sie verstand es. weil sie es in die Phantasie aufnahm und in dieser
gleichsam neugestaltete, weil sie es wiederlebte und wieder empfand. Aus dem
Vitruv. zu dessen eingehendem Studium noch unter Paul dem Dritten eine
Anzahl von Künstlern . Literaten und Edelleuten, an der Spitze der Cardinal
Tarnest, eine Art Akademie bildeten — aus dem trockenen Buch des nüchter¬
nen Baumeisters hätten sich sicher die antiken Formen nicht wiederbeleben lassen,
Wenn nicht in ihnen selbst eine Lebenskraft war. welche die Renaissance durch
°'n tieferes Verständniß zu entbinden verstand. Dadurch also, daß diese für
die neuen Zwecke und die Anschauung ihrer Zeit mit Freiheit und Verständniß
^gleich jene Formen zu gebrauchen wußte, ward ihre Baukunst groß und
schöpferisch.
Der Ufer weiß, weshalb wir von der Renaissance bei Gelegenheit der modernen
Architektur reden. Weil wir hu ihr eine gleiche Stellung einnehmen, wie sie
zur Antike, oder vielmehr, da das neunzehnte Jahrhundert seiner Denkart wie
seinem Lebenszuschnitt nach mit dem sechzehnten in innerem und dem nächsten
geschichtlichen Zusammenhange steht, eine noch nähere, die der innigsten Wahl¬
verwandtschaft. Wir haben in diesen Blättern bei Gelegenheit der Münchener
Ausstellung von 1863 dieses Verhältniß der Gegenwart zur Renaissance näher
besprochen und gehen deshalb hier nicht darauf ein. Zudem, von dem beiden
Epochen gemeinsamen Charakter der Weltanschauung nicht zu reden, liegt ja
auf der Hand, daß in beiden die Baubedürfnisse dieselben sind. Was aber von
den Formen der Antike galt, daß sie nämlich zu immer giltigen Mustern ge¬
worden: dasselbe gilt von ihrer Erneuerung und Anwendung durch die Renais¬
sance, insbesondere von dem unerschöpflichen Reichthum neuer Combinationen,
in welchen sie von dieser den Charakter des neuen Lebens empfangen haben.
Und mehr noch-, wenn die classischen Formen insofern in sich abgeschlossen sind,
als sie wohl zu neuen Bildungen sich verbinden lassen, jedoch eben ihrer Voll¬
endung halber eine wirklich gelungene Umgestaltung ausschließen: so läßt da¬
gegen ihre Verbindung nach dem Vorbilde der Renaissance auch jetzt noch
der Phantasie einen unbegrenzten Spielraum. Worin endlich' diese unserer Zeit
eigenthümliches Muster sein kann, das ist einerseits ihr feines Gefühl für Raum¬
eintheilung und Rythmus der Verhältnisse, andrerseits die wunderbare Schön¬
heit ihrer das ganze organische Leben umfassenden Ornamentation. Ob wir
ihrem Vorgange folgend eine neue Bauweise finden werden — wer wird da¬
ran denken? Der einsichtige und phantasievolle Baumeister gewiß ebensowenig,
als jene Architekten des Cinquecento. So viel aber ist gewiß, daß wir auf
diesem Wege sowohl die Zwecke unseres Zeitalters erfüllen als ihnen den echten
künstlerischen Ausdruck geben. Eine Architektur, die dies zu Stande bringt, ist
immer eigenthümlich. Und wenn die Renaissance nicht selten in überquellendem
Trieb nach Schmuck und Pracht die ernsten gehaltenen Formen der Antike als
bloße Decorationsstücke mit vollen Händen auf ihre Bauten ausstreut: so können
wir ja darin eine eigene Phantasie bewähren, daß wir ihren Reichthum auf
die maßvolle Ordnung und die klare Gesetzmäßigkeit der antiken Bauweise zu-
zurückzuführen suchen und sie in die Zucht der nun tiefer erschlossenen griechischen
Kunst nehmen.
So ausführlich wäre diesmal die Rede nicht auf die Architektur der Re¬
naissance gekommen, wenn nicht jene Hoffnungen, deren oben gedacht ist, für
München eine vielleicht glänzende Erneuerung derselben in Aussicht stellte».
Die Bauausgaben, welche dort in diesem Augenblicke sich darbieten, lassen sich
günstiger nicht treffen. Ein Ständehaus, eine polytechnische Schule, eine pro«
testantische Kirche: so gilt es, den Raum für die größten Interessen des moder¬
nen Lebens künstlerisch zu gestalten. Nur Eines fehlt noch : die Kunst selber.
Dieser und zwar dem Zweig derselben, den unser Jahrhundert zu voller
unverkümmerter Blüthe gebracht hat, eine würdige, mit ihrem Wesen, dem der
Schönheit, übereinstimmende Stätte zu bereiten, so mit glücklichem Anfang der
Kunst durch die Kunst den rechten Boden zu geben, hat der junge König aus
dem eigenen Antrieb eines großen Sinnes den Plan gefaßt. Es handelt sich
um den Prachtbau eines neuen, zu musikalischen Aufführungen bestimmten
Festtheaters, mit dessen Entwurf Gottfried Semper beauftragt ist.
Ist es das schöne Vorrecht der Könige, durch die Errichtung monumentaler
Werke sowohl die Kunst zu neuem fruchtbaren Leben anzuregen, als die
Bildung des Volkes zu heben: so scheint Ludwig der Zweite zugleich die
Willenskraft zu haben, von keinerlei Vorurtheil beirrt durch die Berufung
der ersten künstlerischen Kräfte des Zeitalters große Zwecke und Pläne in wahr¬
haft großer Weise zu vollendeter Gestalt zu bringen. Und nur in dieser üben
sie eine glückliche Wirkung auf die Entwicklung der Kunst und der allgemeinen
Bildung. So hat er nun eine Aufgabe, wie sie entsprechender dem Charakter
des Zeitalters sich nicht finden ließ, einem Architekten übergeben, wie er besser
sowohl zu deren Ausführung, als um der Baukunst einen neuen Aufschwung
Zu geben, nicht gewählt werden konnte. Ein festliches Haus mit dem Schmuck
der bildenden Künste als der erhebende stimmungsvolle Raum für die würdige
durchgebildete Darstellung dramatischer Musikwerke, die Versammlungsstätte also
für Me Künste, der volle Ausdruck für den edelsten Genuß des modernen Lebens:
diese Aufgabe kann nur die Bauweise der Renaissance in ihrer weiten welt¬
lichen, lebensfroher Schönheit lösen, hier kann sich zugleich die eigene Kraft
der modernen Phantasie bewähren. Wie Semper gerade solche Aufgaben in
meisterhafter, wirkungsvoller Weise künstlerisch durchzuführen weiß, das hat schon
sein dresdener Theaterbau bewährt, das hat noch kürzlich der für Rio Janeiro
bestimmt Plan gezeigt (in d. Bl. bei Gelegenheit der Münchener Ausstellung
von 1833 besprochen).
Mit einem solchen, im echten Charakter der monumentalen Kunst gehaltenen
Bau werden jene anderen Gebäude sowohl im Stil als — soweit es ihr Zweck
erfordert — im Reichthum der Ausführung übereinstimmen müssen. Und dafür
'se jetzt ebenfalls Hoffnung. So zunächst für dasjenige, dessen Errichtung nun
schon in feste Aussicht genommen ist, für den Bau nämlich des Polytech¬
nikums, wenn der Architekt, der durch seine Stellung an der Bauschule zur
Ausführung dieser Aufgabe berufen erscheint — G. Neureuther — mit dersel¬
ben wirklich betraut würde: ein ebenso gebildeter als talentvoller Baumeister,
der sowohl an seinen öffentlichen und Privatbauten wie an umfassenden Plänen
(vergl. 1863 d. Bl. Ur. 49) bewiesen hat, daß er die Bauweise der Renaissance
"ut ebenbürtigem Verständniß für moderne Zwecke lebendig und phantasievoll
6u gebrauchen weiß. — Wenn es die Münchener Baukunst wohl zu fühlen
hatte, daß die Fähigkeit und die Kenntniß solcher Männer, die ihrer besseren
Einsicht und ihrem künstlerischen Sinn nicht untreu werden wollten, unter
der Herrschaft des „neuen Stils" brach liegen mußte, so bietet sich jetzt
die beste Gelegenheit, ihr Talent und ihre Arbeit dem Staate und der
Kunst wieder zuzuführen. Auch das steht zu hoffen, daß der Sinn des
jungen Königs der bureaukratischen Engherzigkeit, welche alle öffentlichen
Bauten blos nach dem Maßstab des greifbaren Nutzens errichten möchte und
keine Ahnung hat von der Wirkung der monumentalen Kunst auf die Gesittung
des ganzes Volkes, nun das Handwerk lege. Daß gerade für eine solche Bil¬
dungsanstalt, w elche darauf ausgeht, durch geistige Beherrschung der natürlichen
Kräfte und Mittel die allgemeine Wohlfahrt und Cultur sowohl zu steigern als
auszubreiten, die Bauweise der Renaissance wie geschaffen ist und ihre künstle¬
rischen Formen, mit einer gewissen Ruhe und Würde behandelt, den wahren
Ausdruck abgeben, das haben schon die Polytechniker von Zürich und Stutt¬
gart bewiesen.
Auch dafür bedarf es keiner weiteren Worte, daß der Kirchenbau unserer
Zeit nur in diesem Stile Werke von eigenthümlicher Art und edler lebendiger Wir¬
kung hervorbringen kann. Was in dieser Beziehung die Bramante und San
Gottl in Italien geschaffen haben, hat in unserem Jahrhundert noch zu wenig
Nachahmung gefunden. Hier bietet sich für den phantasievollen Architekten eine
neue schöne Aufgabe. Und wie allein die Bauart der Renaissance die Stätte
des Cultus für die gegenwärtige, vorgeschrittene Auffassung des Christenthums,
für unser Gefühl der die Natur einschließenden Gemeinschaft von Gott und
Welt zu gestalten vermag: so kann allein ihr weltlicher, breit hingelagerter, in
dem Zusammenwirken von Massen und selbständigen Kräften sich aufbauender
Charakter der modernen Stätte unseres politischen Lebens, dem Ständehaus,
die wahre Form geben. — Eine schöne Zukunft für die monumentale Architek'
tur in München. Und da kein Baustil so wie jener zur Vollendung seiner
Werke die harmonische Mitwirkung der Schwesterkünste voraussetzt, welche Hoff¬
nungen für einen neuen Aufschwung der Plastik — die dessen, wie wir bald
sehen werden, gar sehr bedarf — und der monumentalen Malerei. —
Das Leben des Feldmarschalls von Gneisenau, von Fr. Pech. 1. Band. Berlin,
Georg Reimer.
Der erste Band der Biographie des Feldmarschall Grafen Neithardt
v. Gneisenau von Pech liegt vor uns und gewährt einen Blick in das Leben
eines reich begabten und von den Wogen des Glücks vielfach herumgeworfenen
und endlich zu hohem Ruhm emporgetragenen Soldaten; eines Soldaten,
der im Krieg und im Frieden wacker für die Freiheit des Vaterlandes gekämpft
und wenigstens auf dem Schlachtfelde schöne Erfolge errungen hat. — Verstand,
Charakter und Kenntnisse sowohl, als auch die Macht einer edlen und freien
Persönlichkeit waren die treibende Kraft, welche ihn emporhob. Aber wie kein
Mensch ohne Schwäche ist, so gesellte sich auch bei Gneisenau zu den Eigen¬
schaften eines großen Mannes ein Fehler und zwar der eines gewissen Leicht¬
sinns. Dieser Fehler hat ihm mannigfach trübe Erfahrungen gebracht — er
hat ihm unter andern nie aus finanziellen Verlegenheiten herauskommen lassen,
aber dieselbe Charaktereigenschaft trug freilich auch dazu bei, ihn der Masse der
Menschen mehr zu nähern, den Zauber seiner Person zu erhöhen. Selbst¬
redend macht sich dieser bis zu gewissem Grad liebenswürdige Leichtsinn in
seiner Jugend mehr geltend als in spätern Jahren und tritt uns also in diesem
ersten Bande häusiger entgegen; er hat in dem Leben dieses Mannes, trotz
seiner schon früh hervortretenden Eigenschaften. Zeitperioden zurückgelassen,
die aufzuklären seinem Lebensbeschreiber ganz unmöglich oder nicht wünschens-
Werth gewesen zu sein scheinen. Fast möchte man das Letztere glauben, denn
die 18S6 von General v. Fransecky bearbeitete erste Abtheilung des Lebens
Gneisenaus giebt Einzelheiten, welche bei Pertz fehlen und welche, wenn auch
nicht unumstößlich bewiesen, doch als die Verhältnisse erklärend, viel innere
Wahrscheinlichkeit haben. — Sollte der Verfasser nicht von derselben Liebe für
seinen Gegenstand ergriffen gewesen sein, als bei dem Leben des Freiherrn v. Stein
un'd deshalb jetzt weniger bis ins Einzelne zu dringen Neigung gehabt haben, so
dürften wir ihm das nicht allzusehr verargen. Ein Blick auf das Leben beiderMänner
rbird den Unterschied klar legen. Steins reiche Gaben fanden von der Wiege an
dem reichsfreiherrlichen Stand und Besitz einen Boden, der ihre Entwicklung
"ach jeder Richtung hin begünstigte und zu rascher glücklicher Verwendung
Machte. 1757 geboren, ward er 1782, also mit 25 Jahren schon Oberbergrath,
"hielt 1784 die Leitung der westfälischen Bergämter, trat 178S vorübergehend
in einen politischen Wirkungskreis als Gesandter in Mainz und ging nun rasch
in dem großen Gange der Ereignisse der folgenden Jahre bis zum leitenden
Staatsminister vorwärts; während Gneisenau 1760 geboren, zwar auch das
Kind eines deutschen Reichsritters war, aber nur mit dem Unterschied, daß die¬
ser Ritter Lieutenant in der gegen Friedrich den Großen aufgestellten Reichs¬
armee ist und die Wiege unsres Helden im Marschquartier Schild« aufstellte,
wo Mutter und Kind blieben, während er weiter zog. Die Mutter, selbst flüch¬
tig, verlor das Kind vom Wagen und nur eine glückliche Hand hob es aus
dem Wagengeleise auf. Die Mutter starb bald nach der Geburt, der Knabe
blieb auf Gnadenbrod in Schilda und erreichte hier das neunte Jahr, ehe ihm
eine andere Erziehung ward, als die, welche Mutter Natur gewährt. 1769
führte ihn ein günstiges Geschick in das Haus seines Großvaters mütterlicher
Seits. Hier blieb er bis zum Jahr 1777, in einem ganz katholischen und
ernsten Hause wurde er dem geistlosen aber strengen und formellen Unterricht
der Jesuiten übergeben. — Im letztgenannten Jahre starb der Großvater und unser
Gneisenau wird Student in Erfurt, konnte sich hier nicht halten, nahm östrei¬
chische Kriegsdienste, verließ diese und trat 178» in das anspachische Militär,
das an England vermiethet in Amerika eine reiche Zukunft versprach; aber
als Gneisenau endlich 1782 dort ankam, ging der Krieg zu Ende und er mußte
im folgenden Jahre zurückkehren, ohne eine andere militärische Erfahrung ge¬
macht zu haben, als die, welche ihm der Blick in die dortigen Verhältnisse ver¬
schaffte. Aber diese Erfahrung war nicht unbedeutend, da sie ihn nicht nur mit
den Ideen und Institutionen eines freien Volks bekannt machte, sondern auch
die Kraft erkennen ließ, welche der Staat in einem bewaffneten Volk und welche
ein Heer in der entwickelten Persönlichkeit des Soldaten findet. Das waren
Gedanken, die später fruchtbringend in Preußen wirken sollten. 1783—86 ver¬
lebte Gneisenau idyllisch in Anspach als Jnfanterielieutenant, fand aber hierbei
keine Befriedigung. Er suchte größere Verhältnisse. 1786 wurde er Prcmierlieute-
nant in einem der zur Ausübung des leichten und Tirailleurbienstes vom Kö¬
nig von Preußen neu errichteten Füsiliervataillons in Löwenberg in Schlesien.
Hier beginnt nun ein zwanzigjähriges Garnisonleben von 1786 bis 1806, in wel¬
chem er 1790 Hauptmann wird, 179S eine Compagnie und somit zum ersten
Mal ein leidliches Auskommen erhält, 1796 heirathet, 1804 ein Gut kauft,
ohne die entsprechenden Mittel zu besitzen und nun schwankt, ob er Soldat
bleiben oder ganz Landwirth werden soll. — Die großen Ereignisse der fran¬
zösischen Revolution und die daraus folgenden Kriege hatten, mit Ausnahme
einiger Märsche, ihn noch nicht persönlich in Anspruch genommen. Da trat die
große Katastrophe von 1806 ein, welche keinen preußischen Soldaten unberührt
ließ und welche bestimmt war, Gneisenau zu den leitenden Elementen des Staats
zu berufen. — Während Stein mit 47 Jahren schon seinen Ruf als Staats-
wann begründet hatte und an die Spitze der Geschäfte trat, gewährte das
Schicksal Gneisenau in gleichem Alter zum ersten Mal die Gelegenheit die
Fülle seiner Eigenschaften überhaupt zur Geltung zu bringen. — Sein leichter
Sinn allein hatte ihm, trotz all der kleinen Nöthen, die ihn bis dahin gequält
und die wir in ihrer charakteristischen Auffassung eben vermissen, die nothwen¬
dige Sprungkraft erhalten, um sich noch hervorzustbwingen. In dem ersten
Gefecht 1806 bei Saalfeld war es Gneisenau vergönnt, seine Compagnie als
ebenbürtige Gegner der knegsgewohnten Franzosen zu zeigen und persönlich
Erfolge zu erlangen; er wurde am Bein verwundet und das zu seinem Glück,
denn er kam dadurch von der Truppe los und zum Stäbe des Feldherrn,
wachte so die Schlacht bei Jena mit und bekam Aufträge, welche ihn von
all den schmachvollen Capitulationen fern hielten, die jenen unglücklichen
Schlachten folgten. Er kam nach Ostpreußen. aber statt in den Reihen der
dort sich neu bildenden, dem preußischen Namen wieder Ehre machenden kleinen
Macht einen entsprechenden Platz zu finden, wurde er zwar Major, mußte
aber an die lithauisch-russische Grenze und dort Rekruten ausbilden. Erst
'M März 1807 mit seinen Truppen zur Verstärkung von Danzig berufen,
passirte er das königliche Hoflager zu einer Zeit, wo dort im wahren Sinn
des Worts Noth an Mann war. Die brillante äußere Erscheinung, die
Sicherheit seines Urtheils und Benehmens, die von Saalfeld her noch frischen
Lorbeeren ließen rasch in ihm den Offizier erkennen, der gerade jetzt gesucht
wurde, ein neuer Commandant für das in höchster Gefahr schwebende und für
die Erhaltung von Hinterpommern so wichtige Colberg. Am 29. April über-
nahm Gneisenau die Vertheidigung dieser Festung und entwickelte vom ersten
Augenblick an eine Sicherheit des Befehls, eine Kenntniß seiner Stellung, eine
Gabe der Herrschaft über Stadt und Land, ein Erfassen der großen politischen
Verhältnisse, eine persönliche Ausdauer und Allgegenwart und dabei eine Kühn.
h«t in der Anlage und Durchführung seiner Gefechte, welche vereinten Eigen-
schasten es allein möglich machten, eine bis dahin in Bau. Ausrüstung und Ver-
proviontirung ganz vernachlässigte Festung gegen einen siegreichen, in allen Rich¬
tungen viel überlegenen Gegner glücklich zu behaupten. Die Vertheidigung von
Colberg war der einzige volle und glorreiche Sieg, den Preußen im Kriege 1806—-7
w'arg und es liegt darin die große Bedeutung, welche Gneisenau 1807 für
Konig und Land gewann. Nach dem Frieden wurde Gneisenau zur Reorgani¬
sationscommission berufen und trat hier in Verbindung zu Stein indem er mit
als erstes Mittel zur Wiedererhebung des Staats die freie Entwicklung der
Persönlichkeit in Volk und Heer cttannte. Aber Gneisenau sowohl als Stein
stießen bei dem Neubau nach diesen Grundsätzen auf den Widerstand der trotz
""er Noth und Schmach noch herrschenden alten egoistischen Elemente. Stein
'uußte zuerst den Intriguen derselben weichen, Gneisenau hatte für seinen
Wirkungskreis den Vortheil voraus, daß der Krieg die Armee zerstört und
taduls, rasa, geschaffen hatte, wo nur die im Kriege bewährten, wenigen höhern
Offiziere bauen und eben nur neubauen konnten, während. Stein das Alte ver¬
drängen, zerstören mußte, ehe er Neues an seine Stelle setzen konnte. Der
Geist der Reaction drang aber auch in die militärische Welt, machte sich zumal
gegen die Bestrebungen geltend, welche Preußen zu erneutem Kampfe 1809
im Verein mit Oestreich führen wollten und siegte hierin. Gneisenau, der in¬
zwischen zum Oberst und Chef des Jngenieurcorps avancirt war, begnügte sich
nun nicht wie Blücher, Scharnhorst. Uork u. a. mit der rein militärischen,
den unausbleiblichen Kampf vorbereitenden Wirksamkeit im Heere, schloß sich
auch nicht den gegen Napoleon bereits fechtenden Völkern an wie Grolmann,
Dohna u. s. w., er unternahm Politik auf eigene Hand. Er nahm nach dem
Schluß des Krieges 1809 seinen Abschied, ging nach England, Schweden
und Rußland und conspirirte, um einen Krieg gegen Napoleon herbeizuführen.
Klar ist sein Wollen und Wirken hier nicht und wird es auch erst wieder, als
das Jahr 1813 ihn von Neuem der Armee zuführt. — Vergleichen wir damit
Stein, so sehen wir ihn in Folge der Achterklärung Napoleons zwar auch in
der Fremde, aber immer nahe dem Vaterland und in dem ganzen Leben dessel¬
ben betheiligt, stets zur Sache wirkend, niemals in einer unklaren Stellung.
— Gneisenau ist eine brillante Persönlichkeit, die überall da, wo sie zur
Handlung berufen wurde, den Genius bewies und Großes leistete; Stein
aber war eine durch und durch solide Natur, die seiner Zeit nicht nur, sondern
auch der ganzen Entwicklung des preußischen Staats den Stempel seines Geistes
ausgedrückt hat. — So verschieden die beiden Männer, so verschieden ist die Lebens¬
beschreibung derselben von Pertz. Während uns aus Steins Leben der volle
Mann vom Beginn seines Lebens bis zu seinem Schluß, in der öffentlichen
Wirksamkeit wie in der Studirstube, im großen Verkehr wie in der Familie
gegeben wird, erfahren wir von Gneisenau nur Einzelnes, erkennen wir in ihm
nur den begabten Mann, nicht den Genius seiner Zeit und es ist aus dem
Gegebenen nicht möglich, ein harmonisches Bild des Menschen zu formen. Die
kleinen Falten des Herzens haben Pertz bei Gneisenau anscheinend nicht ge¬
fallen, er hat sie deshalb nicht zu ergründen gesucht und kein lebenswarmes
Bild geschaffen. Daß das Gegebene immer ein Product tiefen Studiums und
reichen Fleißes, also wesentlich zur Kenntniß der berührten Zeiten beiträgt, ver¬
steht sich bei dem Verfasser von selbst.
Hätte das Buch den Titel „Pertz, Beiträge zu dem Leben Gneisenaus"
so wäre Charakter und Inhalt schärfer für die Welt gezeichnet als jetzt.
Dies Blatt behält sich vor, nach dem Erscheinen des nächsten Bandes das
Charakterbild Gneisenaus auf Grund des' veröffentlichten Materials zu zeichnen.
Der Herausgeber hat dafür Andern überlassen, was man gern in seinem Werke
gefunden hätte. Wir wissen nicht, ob Rücksicht auf die Familie oder Pietät
ihn bestimmt hat. das eigene Urtheil gänzlich zurücktreten zu lassenaber
wir meinen, daß auch die größte Pietät nicht mehr abhalten darf, gerade
und deutlich herauszusagen, was die Helden der großen Zeit besaßen und was
ihnen fehlte. Denn was uns eine Biographie lieb und werthvoll macht, ist
doch nur, daß wir vom Standpunkt unserer Bildung ein Verständniß und Ur¬
theil, gewinnen über das vollendete Leben. Die Liebe, welche der Biograph
seinem Helden schuldig ist, soll sein Urtheil nicht zurückdrängen, sie soll ihm
nur die höchsten Gesichtspunkte dafür an die Hand geben, damit es zugleich mild
und fest erscheine.
Daß eine Verständigung der Regierung mit der Majorität des Abgeordneten¬
hauses auch in dieser Session nicht erreicht wird, ist wohl niemandem mehr zweifel¬
haft. Wie gern die Volksvertretung eine zur Versöhnung ausgestreckte Hand erfaßt
hätte, durch die zurückhaltender Erklärungen der Minister und eine größere Vorsicht in
Behandlung des Hauses wird noch nichts erreicht, da in der Hauptfrage die Re¬
gierung jede Concession verweigert hat. Den Abgeordneten bleibt nichts übrig als
fest zu bleiben und den Kampf, dessen verhängnißvollen Zwang jetzt beide Parteien
fühlen, beharrlich durchzuführen. Die besten Wünsche der preußischen Partei in
Deutschland find mit ihnen, wir wissen, daß es fich immer auch um unsere eigenen
Interessen handelt, wenn wir mit Spannung die Sitzungsberichte durchmustern.
Wohl geziemt den Außenstehenden, mit Achtung die Taktik zu beurtheilen, welche
die Opposition in Preußen sür zweckmäßig hält, und dies Blatt hat kaum nöthig,
den warmen Antheil und die Sympathien mit der Majorität des Abgeordneten¬
hauses, mit den politischen Freunden und Führern der liberalen Partei in Preußen
Zu versichern. Wir sind überzeugt, daß sie die Gefahren ihrer Kampfmcthodc selbst
deutlich erkennen. Denn jede Opposition, welche in die Lage gesetzt ist, in con-
sequenten Widerstand gegen eine Negierung vorzugsweise zu negiren, kommt in die
Lage, den gesammten Staatsorganismus zu stören.
Wie ungenügend eine Regierung sei und wie mangelhaft sie die höchsten In-
dessen wahrnehmen möge, sie leitet doch das derzeitige Leben des Staates und jedes
systematische Widerstreben, auch das am höchsten berechtigte, ist in Gesahr, wenn
'hin nicht gelingt die Regierung zu besiegen, zugleich die nothwendigen Fortschritte
^s Staates zu gefährden. Wie gut ihr Recht war, wie lauter ihr Kampf sei, dadurch
kann geschehen, daß ihr Recht zum Unrecht wird und daß auch das Volk selbst
allmälig ihren Widerstand als ein Unrecht empfindet.
Diese Gefahr ist allerdings nur dann vorhanden, wenn die Opposition, wie
jetzt die der Preußen, in der ganz unerhörten und unparlamentarischen Situation
festgehalten wird, daß sie zwar durch die ihr gehörende Majorität die Handlungen
der Regierung, namentlich ihre Finanzmcißrcgeln zu lahmen vermag, aber nicht die
Kraft besitzt, die regierenden Minister selbst zur Abdication zu veranlassen. Die
Verfassungsgeschichte der größeren modernen Staaten hat wenig Analogien eines
solchen Mißverhältnisses und fast nur in Zeiten, welche gewaltsame Erschütterungen
eines Staates einleiten. Deshalb ist auch die herkömmliche Taktik anderer Volks¬
vertretungen auf die preußischen Zustände nicht durchaus anwendbar.
Von der preußischen Opposition zu verlangen, daß sie ihren Widerstand gegen
die Regierung unter den gegenwärtigen Verhältnissen aufgebe, heißt ihr Selbstver-
nichtung zumuthen. Daß sie in der Budgetfrage, welche durch die neue Heeres¬
organisation aufgeregt ist, nur nach Concessionen der Negierung d. h. nach einer
vollen Anerkennung ihres Rechtes weichen darf, darüber wird auch unter den preu¬
ßischen Wählern, durch deren Stimmen das gegenwärtige Abgeordnetenhaus entstanden
ist, wenig Zweifel sein. Aber der Gefahr, welche ein fortgesetzter Widerstand ohne
günstige Resultate herbeiführt, vermag das Abgeordnetenhaus nur zu begegnen,
wenn es nach allen Richtungen eine hohe und starke Empfindung für Ehre und
Vortheil des Staates erweist. Die Wähler und das Ausland dürfen keinen Augen¬
blick im Zweifel sein, daß der patriotische Stolz, das bessere Urtheil und die größte
Opferfähigteit bei ihr zu finden sind. Sie muß die unfruchtbare Defensive, auf
welche sie gedrängt ist, dadurch verdecken, daß sie sich als eifersüchtige Wahrerm der
höchsten Interessen des Staates bewährt, nicht nur in Fragen der inneren Ver¬
waltung und Gesetzgebung, nicht weniger in der Stellung des Staates nach Außen.
Nur auf diesem Wege ist ihr möglich, die Sympathien sür sich zu steigern. Daß
die Opposition weder unter den Altlibcralen noch unter den zusammenwirkenden
Fractionen der Linken eine Persönlichkeit zählt, we.leder vorzugsweise die Aufgabe
zugefallen ist, diesen wichtigsten Theil der Kampsführung in der Partei und der
Kammer zu vertreten, das ist zur Zeit ein großer Uebelstand.
Beispiele liegen nahe. Vor Kurzem ist ein Antrag in die Kammer gebracht
worden, Consumsteuern zu ermäßigen, weil die gesteigerten Einnahmen des Staates
dies verstatteten. Wenn diese Maßregel beabsichtigt, die Sympathien der arbeitenden
Classen zu gewinnen, so fürchten wir selbst dieser Zweck wird verfehlt. Denn auch
der arme Konsument muß sich sagen, daß es kein großes Verdienst ist, einen solchen
Antrag einzubringen, wenn man doch von der Unmöglichkeit ihn durchzusetzen
überzeugt ist. Nicht auf solchem Wege darf die Opposition ihre Popularität suchen.
Wenn sie selbst heut durch einen Zufall in Besitz der Macht käme, sie würde die Staats¬
einnahmen nach dieser Richtung nicht vermindern, eher steigern müssen, denn in der
That ist in Preußen von einer tüchtigen Negierung so viel zu schaffen und zu bessern,
daß eine liberale Leitung in Versuchung kommen würde, nach neuen Einnahmequellen
auszusehen. Alle Lehranstalten, die Förderung der Wissenschaft und Kunst, Beamten¬
gehalte und vieles andere ist in ein so arges Mistvcrhältniß zu den Bedürfnissen der
Gegenwart getreten, daß Preußen nach mancher Richtung, in welcher die Führer¬
schaft seit hundert Jahren sein Stolz war, hinter andern Staaten Deutschlands
bereits zurückgeblieben ist. Wollte die Opposition in den Staatseinnahmen eine Herab-
Setzung beantragen, so gab es wohl andere Gelegenheiten, viel mehr geeignet, sie
und den Staat populär zu machen. Die Rheinzölle z. B. sind eine Schande für
Deutschland, ihre Aufhebung wäre eine der populärsten Maßregeln. Grade im
letzten Jahre haben die Regierungen von Nassau und Hessen-Darmstadt ihre Pflicht,
das Fahrwasser des Rheins in ihren Marken schiffbar zu erhalten,, nicht erfüllt, sie
haben sogar dem Anerbieten anderer Nachbarn, die Ausbaggerung zu besorgen,
trotzigen Widerstand entgegengestellt, die Nheinschifffahrt war — zum Vortheil für
die Eisenbahnen — in einer beispiellosen Weise gehemmt, die Klagen der Interessen¬
ten sind laut und dringend geworden. Wir nehmen gern an, daß das preußische
Mitglied der Schifffahrtcommission seine Pflicht gethan und der Regierung über
diese Vertragsverletzung zweier Kleinstaaten berichtet hat, die preußische Regierung
aber hat nicht Zeit oder nicht den Willen gehabt, diesen Scandal zu beseitigen. Es
gab für die Opposition kein besseres Mittel, sich Verdienst und Erfolg zu erwerben,
als dadurch, daß man diese Angelegenheit zur Sprache brachte und gegenüber den
abgeneigten Regierungen, welche hier einmal gemeinschädlich gehandelt hatten, das
nationale Interesse entschieden wahrnahm. Durch eine Aufhebung der preußischen
Rhcinzölle — Baden hat sich dem Vernehmen nach schon früher zur Aufhebung der
badischen bereit erklärt — würde ein unwürdiges Verhältniß beseitigt und durch
pcremptorische Maßregeln gegen die erwähnten Regierungen der Kleinstaaterei ein Schlag
versetzt worden sein, bei welchem alle Welt mit Preußen sympathisirt hätte. Von
solchen und größeren Dingen, welche außerhalb der preußischen Grenzen vorfallen,
mußten die Führer der Majorität doch genau unterrichtet sein.
Ein ähnliches Interesse, noch größer und folgenreicher, hängt an der Erweite¬
rung der preußischen Bank. Mit patriotischer Willfährigkeit haben die Actionäre
die Erweiterung auf das preußische Gebiet zugegeben, die anfängliche Behandlung
der Kammer ließ einen schnellen und günstigen Verlauf der Rcgierungsanträge
hoffen. Wider Erwarten hat sich ein principieller Widerstand innerhalb der Oppo¬
sition erhoben, die wichtige Maßregel droht durch Bedenken des Abgeordnetenhauses
vereitelt zu werden.
Das hohe Haus der Abgeordneten ist keine Versammlung von Börsenmännern
oder Lehrern der Nationalökonomie, es ist eine politische Körperschaft und die poli¬
tischen Gesichtspunkte müssen in dieser Frage maßgebend für seinen Entscheid wer¬
ben. Daß aber die Ausdehnung der preußischen Bank über die Hauptplätze Deutsch¬
lands — und diese wird die unmittelbare Folge der projectirten Erweiterung sein
— von tiefgreifender Wichtigkeit für die Stellung Preußens zu den übrigen deut¬
schen Staaten werden muß, liegt auf der Hand. Nicht nur die Herrschaft der preu-
bischen Valuta in andern Landschaften wird dadurch gesichert, auch Capital und
Industrie der Deutschen werden in hundertfache enge Verbindung mit Preußen ge¬
macht. für ein weites Gebiet reeller Interessen wird ein neues Band zwischen den
Preuße» und ihren deutschen Nachbarn geschlungen. Es giebt kein bescheideneres
Und im Augenblick kein besseres Mittel. Bedeutung und Nutzen des deutschen Gro߬
staats dem Vcrkehrslcben eindringlich zu machen. Dies Prinzipat ist durch den
Egoismus der Kleinstaaten nicht z» hindern, seine Wirkung zu vereinigen ist nicht
aufzuhalten. Die Maßregel wird bei geschickter Ausführung, welche die kleinen Ban¬
ken der einzelnen deutschen Staaten zuvorkommend behandelt, grade auf dem Ge-
biet Propaganda für Preußen machen, wo Zeitungsartikel und begeisternde Reden
am wenigsten Gewalt haben.
Zuverlässig unterschätzen nur wenige der Abgeordneten die große politische Wich¬
tigkeit des Projects; die Abneigung auf die Vorlage der Negierung einzugehn hat,
wie es scheint, den theoretischen Grund, daß man die monarchische Herrschaft der
preußischen Staatsbank überhaupt für einen nationalökonomischen Uebelstand hält
und die freie Entwickelung auch der Geldinstitute durch Thätigkeit der Privaten ge¬
fordert wünscht. Wir wollen unsern Freunden im Abgeordnetenhaus«?, welche diese
Richtung vertreten und zuweilen mit der englischen Manchesterpartei verglichen wer¬
den, nicht entgegenhalten, daß zur Zeit noch sämmtliche große Culturstaaten Euro¬
pas die Staatsbanken nicht für entbehrlich halten und daß der Mißbrauch, welcher
durch gewissenlose Regierungen mit diesen Instituten getrieben wurde und der Druck,
welchen sie durch ihre Präponderanz zuweilen auf den Geldmarkt ausübten, nicht
vorzugsweise in ihrem Wesen, sondern dem ihnen auferlegten Zwange oder in mangel¬
haften Statuten begründet ist und bei der gegenwärtigen Entwickelung des Gcld-
vcrkehrs immer noch durch größere Vortheile aufgewogen wird. Man darf vielmehr
bereitwillig einräumen, daß die Decentralisation des Bankvcrkehrs eine der idealen
Forderungen ist, auf denen die Theorie mit Recht besteht. Und wir werden uns
freuen, wenn den preußischen Verfechtern dieser Ansicht in irgendeiner Zukunft ge¬
lingt, durch ihren Einfluß auf eine künftige Negierung alle nach dieser Richtung
wünschenswerthen Reformen durchzusetzen.
Indeß aber besteht einmal die preußische Bank. Durch eine principielle Oppo¬
sition gegen ihre Stellung wird ihre Jahresbilcincc auch nicht um einen Thaler ver¬
ändert, sie ist eines der größten und am höchsten geachteten Geldinstitute Europas,
sie ist in der nächsten Zukunft durch keine andere Einrichtung zu ersetzen und zu
beseitigen, sie ist eng mit dem Leben des preußischen Geldvcrkehrs verwachsen, ihre
Noten find schon jetzt das herrschende Papiergeld Deutschlands und Freunde wie
Gegner sind froh, das Wappen der wilden Männer in der Tasche zu tragen. Heißt
das erfolgreich ihr Princip bekämpfen, wenn man gerade eine große und segensreiche
politische Verwendung derselben verhindert? Die möglichen Nachtheile einer großen
bevorzugten Bank werden durch ihre Ausdehnung aus außcrpreußischc Plätze bei
tüchtiger und vorsichtiger Leitung, die ihr von niemand bestritten wird, in Wahrheit
nicht größer, der politische Vortheil ist ein sehr großer, naheliegender, unzweifelhafter.
Wir meinen, das Haus der Abgeordneten darf nicht einer Theorie zu Liebe gegen
eine Operation reagiren, welche überall von unparteiische» Geschäftsmännern, wie
von den Freunden Preußens als eine sehr löbliche und viclverhcißcnde Maßregel be¬
trachtet wird. Der Beschluß des Abgeordnetenhauses in dieser Frage wird mehr als
mancher andere, welcher die Parteien leidenschaftlicher aufregt, einer nüchternen und
sachverständigen Kritik unterworfen werden und er wird ein wesentliches Moment
für die Schätzung, nicht des Patriotismus und nicht der Intelligenz im Abgeord¬
netenhaus-, wohl aber für Schätzung der politischen Zukunft werden, welche die
gegenwärtige Majorität zu hoffen hat.
' Die rostocker Universität gehört zu den ältesten in Deutschland und es
hat Zeiten gegeben, wo sie durch das Ansehn ihrer Professoren und die
Zahl ihrer Studenten eine bedeutende und einflußreiche Stellung einnahm.
Von dieser Höhe ist sie jedoch längst herabgestiegen und wenn es auch
an ausgezeichneten und berühmten Namen in ihrem Lehrerpersonal nie¬
mals ganz fehlte, so sind doch die Grenzen ihrer unmittelbaren Wirksamkeit
jetzt wesentlich auf das kleine Land von etwas über eine halbe Million Ein¬
wohnern beschränkt, welchem sie unter dem amtlichen Namen der „Landes¬
universität" angehört.
Die Stiftung der Universität fällt in das Jahr 1419. Angeregt und be¬
fördert wurde dieselbe von den beiden mecklenburgischen Herzogen Johann dem
Dritten und Albrecht dem Fünften, welche in der Erkenntniß, daß nur auf
diesem Wege der im Lande herrschenden großen Unwissenheit und Barbarei
abgeholfen werden könne, dem Papst Martin dem Fünften ihren auf die Grün¬
dung einer höheren Lehranstalt gerichteten Wunsch vortrugen und ihn um die
damals erforderliche kirchliche Sanction des Unternehmens ersuchten. Unterstützt
wurden sie dabei von dem Bischof von Schwerin, Heinrich dem Dritten (von
Wangelin), wie auch von dem Rath der Stadt Rostock, welcher sogar eine eigene
Gesandtschaft in dieser Angelegenheit an den Papst schickte und einen Beitrag
zur Dotation zusicherte. Der Papst ging auf diese Wünsche ein und erließ,
unter dem Datum Ferrara 13. Febr. 1419 die Stiftungsbulle. Dieselbe ent¬
hielt die Bedingung, daß binnen Jahresfrist dem Bischof von Schwerin, der
zum Kanzler der Universität bestellt wurde, die nöthige Sicherheit wegen der
Dotation gegeben werde. Von der Genehmigung ward aber ausdrücklich die
theologische Facultät auLbeschieden, wahrscheinlich in der Besorgniß, daß die Rich¬
tung einer solchen dem damals ohnehin schon sehr bedrängten Papstthum ge¬
fährlich werden könne.
Nachdem die ersten Lehrer aus Erfurt und Leipzig berufen waren, erfolgte
am 12. Nov. 1419 die feierliche Inauguration der Universität durch den Bi-
Schos von Schwerin. Zur Dotation überwiesen die Herzöge dem rostocker Rath
ein Capital, welches jährlich 800 Goldgulden Rente trug, und die Stadt Ro¬
stock versprach, jährlich eine ebenso große Summe hinzuzufügen.
Die Studirenden stürmten gleich im ersten Jahre aus Mecklenburg und
aus dem ganzen übrigen Norddeutschland, später auch aus den skandinavi¬
schen Reichen, in großer Anzahl herbei. Der erste Rector, Peter Stenbete,
immatriculirte im ersten Halbjahre 160, im zweiten wurden von seinem Nach¬
folger 209 immatriculirt. Die Durchschnittszahl der Studirenden stieg bald
aus 600.
Im Jahre 1431 ertheilte Papst Eugenius der Vierte seine Einwilligung
zur Errichtung einer theologischen Facultät — „zur Befestigung des orthodoxen
Glaubens" —, so daß von dieser Zeit an alle Zweige der Wissenschaft ein'der
jungen Lehranstalt vertreten waren.
Die Einrichtung der Universität war unter dem vermittelnden Einflüsse von
Prag, Köln und Erfurt der pariser Universität nachgebildet; doch fehlte die
Eintheilung in Nationen. Die Universität war eine einheitliche Corporation,
welche die allseitige Gerichtsbarkeit über ihre Mitglieder, das Recht der Statuten-
gebung in vollster Selbständigkeit und das unbeschränkte Recht der Berufung
der Lehrer besaß. Erst anderthalb Jahrhunderte nach der Stiftung nahm unter
veränderten Verhältnissen dieses Selbstergänzungsrecht ein Ende, indem die Be¬
setzung der Lehrstühle auf die Herzöge und den Rath überging.
Das zu Basel versammelte Kirchenconcil belegte im Jahre 1436 die
Stadt Rostock, weil sie sich dem Ausspruche des Concils wegen Wiederein¬
setzung der geächteten Bürgermeister nicht unterwerfen wollte, sondern an
den Papst appellirte, mit Bann und Interdict, und befahl der Universität,
die Stadt zu verlassen. Diese zögerte anfangs; erst als sie selbst vom
Concil mit dem Banne bedroht wurde, entschloß sie sich zur Auswande¬
rung und verlegte (im März 1437) ihren Sitz nach Greifswald. Nachdem im
Jahre 1439 die Ruhe in Rostock hergestellt und der Bann zurückgenommen war,
suchte sie ihre Rückkehr sogleich zu bewirken, stieß aber jetzt bei dem rostocker
Rath auf unerwartete Schwierigkeiten und vermochte erst Ende April 1443,
unter Verzicht auf die städtische Dotation, sich wieder in Rostock zu installiren.
Einige in Greifswald zurückgebliebene Professoren bildeten demnächst einen
Theil des Lehrerpersonals der dort gegründeten und am 17. Oct. 1456 eröffne¬
ten Hochschule.
Ein halbes Jahrhundert später führte die von den mecklenburgischen Her¬
zögen Magnus und Balthasar beabsichtigte Errichtung eines Domherrnstifts zu
Rostock, dessen Präbenden zur Besoldung in den Ruhestand tretender Professoren
dienen sollten, zu mehrjährigen bürgerlichen Unruhen, in deren Folge die Stadt
Von Neuem dem Kirchenbann verfiel (1487). Die Universität mußte zum zweiten
Male auf Reisen gehen und wandte sich zuerst nach Wismar, bald darauf nach
Lübeck. Durch eine Bulle des Papstes Innocenz des Achten vom 18. März
1488 wurde ihr jedoch die erbetene Erlaubniß zur Rückkehr ertheilt, von welcher
sie im August eben dieses Jahres Gerauch machte.
Ungeachtet dieser Zwischenfälle und einiger durch den Ausbruch der Pest
bewirkter vorübergehender Störungen erfreute sich die Universität bis zur Zeit
der Kirchenreformation eines zahlreichen Besuches, welcher auch durch die
Stiftung der Universitäten zu Greifswald. Wittenberg (1502) und Frankfurt
a. O. (1506) keinen merklichen Abbruch erlitt. Die Kirchenreformation aber
ward ihr sehr verderblich, da sie den Kampf mit der neuen Richtung aufzuneh¬
men wagte und sich des Einflusses derselben zu erwehren suchte. Sie hatte
dabei anfangs an dem Rath eine Stütze, der nur zögernd der reformatorischen
Bewegung sich anschloß, dann aber, als er sich derselben nicht länger entziehen
konnte und sich veranlaßt sah. die Bestrebungen mehrer für die Hebung der
Universität thätiger Humanisten zu unterstützen, die Gunst der Umstände zur
Unterwerfung der Universität unter seine Herrschaft zu benutzen bemüht war.
Es wirkte dabei die Besorgniß mit. daß die Herzöge sich der Universität bedienen
möchten, um die Rechte und Freiheiten der Stadt zu beschränken. Um die
korporative Selbständigkeit der Universität zu schwächen und allmälig zu
vernichten, suchte der Rath dieselbe zur Veräußerung ihrer nach und nach er¬
worbenen liegenden Gründe zu bewegen, wogegen die Herzöge die Alienirung
der Universitätsgüter durch scharfe Mandate untersagten. Während dieser kirch¬
lichen und politischen Kämpfe sank die Universität sehr tief und geriet!) bei der
von dem neuen Geist ergriffenen und durchdrungenen Bürgerschaft in so große
Mißachtung, daß der Name „Doctor" als Spott- und Schimpfname galt.
Um sie aus diesem tiefen Verfall zu retten, bedürfte es langer und ange¬
strengtester Arbeit. Erst dem Herzog Johann Albrecht (1547—1576) gelang es,
die Regeneration der Universität auf reformatorischer Grundlage zu verwirklichen.
Durch einen neuen Dotationsbrief vom 8. April 1557 sicherte er ihr eine
jährliche Hebung von 3500 Fi. zu, die den Einkünften aus den säcularistrten
Kirchengütern entnommen werden sollte. Zugleich war er bemüht, bei!dem
Kaiser eine Bestätigung der durch die päpstliche Stiftungsbulle der Universität
verliehenen Rechte zu erwirken. Diese kaiserliche Confirmation. deren die Uni¬
versität, nachdem sie protestantisch geworden war, zu ihrer Sicherheit zu-be¬
dürfen schien, erfolgte unter dem 18. August 1560. Endlich kam es auch
zwischen ihr und dem Rath der Stadt über die gegenseitigen Verhältnisse zu
einer Vereinbarung, welche unter dem Namen der I^ormulg, eoneoräias am
11. Mai 1563 abgeschlossen wurde. Sie normirte die Selbständigkeit der Uni¬
versität dem Magistrat gegenüber und gab ihr zugleich eine neue Rechtsgrundlage
und eine wesentlich umgestaltete Verfassung. Durch diese Acte ward ein Patronat
der Landesherrschaft und ein Compatronat der Stadt Rostock über die Univer¬
sität begründet, zu deren Attributen namentlich die früher der Universitäts-
corporation selbst zuständige Berufung und Anstellung der Professoren gehörte.
Der Rath übernahm die Besoldung von zwei theologischen und einem juristischen
Professor, die ihm besonders verpflichtet werden sollten, und gelobte außer¬
dem jährlich noch eine Summe zum Unterhalt von sechs andern Professoren
(einem Juristen, einem Mediciner und vier Artisten). So entstanden zwei Kol¬
legien von Professoren, ein fürstliches und ein räthliches, von denen jedes neun
Professoren (zwei Theologen, zwei Juristen, einen Mediciner und vier Artisten)
zählte. Beide zusammen bildeten das aus achtzehn Mitgliedern bestehende Con¬
cilium (den akademischen Senat). Die überzähligen Artisten hatten im Con¬
cilium keinen Sitz. Die Reorganisation setzte sich in neuen Facultätsstatuten,
einer neuen Regentienordnung und in der Errichtung eines Convictoriums für
Studirende fort. Neue Differenzen, welche zwischen der Universität und dem
Rath entstanden, führten zu einem Ergänzungsvertrage., welcher am 19. Oct.
1677 zwischen beiden Theilen abgeschlossen ward und zum Unterschiede von dem
Bertrage von 1563 die ^ormulo. eoneoräiaö posterior genannt wird.
Der dreißigjährige Krieg, obgleich sonst für Mecklenburg von verderblichster
Wirkung, schlug der Universität keine nachhaltigen Wunden. Aber in der ersten
Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts nahm ihr Glanz merklich ab. Dazu kamen
dann die Zwistigkeiten, welche um das Jahr 1738 zwischen Herzog Friedrich
von Mecklenburg-Schwerin und der Stadt Rostock sich erhoben und bald zu
einer für die Universität überaus unheilvollen Explosion führten. So weit die
Universität einen Antheil an diesem Zerwürfnisse hatte ward dasselbe durch den
Zusammenstoß zwischen den beiden theologischen Richtungen, der scholastisch,
orthodoxen und der pietistischen, herbeigeführt. Die letztere war in dem (um
Ostern 17S8) vom Herzog berufenen Hallenser Professor Chr. Alvr. D öderlein
vertreten. Derselbe weigerte sich, den Eid aus die symbolischen Bücher in der
strengen Form zu leisten, welche die Statuten der Facultät als Bedingung
der Aufnahme vorschrieben; und die Facultät weigerte sich ihrerseits, dem
auf eine Abänderung und mildere Fassung der Eidesformel gerichteten Befehl
des Herzogs Folge zu leisten. Der Herzog entschloß sich nun, den unter seinem
Patronat stehenden Theil der Universität nach der vier Meilen von Rostock ent¬
fernten Stadt Vützow zu verlegen und denselben hier als neue Universität zu
constituiren. Die vom Rath berufenen Professoren, neun an der Zahl , blieben
in Rostock zurück und setzten hier die Universität fort, freilich ohne Siegel und
Jnsignien, da diese nach Bützow mitgenommen waren, und ohne Promotions-
befugniß, da diese von dem Herzog als Kanzler der Universität, in welches Amt
die Landesherren als Rechtsnachfolger des Bischofs von Schwerin eingetreten
waren, für jeden einzelnen Fall ertheilt werden mußte. Daß durch diese Hat-
birung, welche die ohnehin mäßige Lehrerzahl und die Geldzuschüsse zersplitterte,
beide Theile verwundet wurden und daß keine der beiden jetzt neben einander
bestehenden Hochschulen es zu einem kräftigen Dasein bringen konnte, ist be¬
greiflich, und der fromme Eifer des Herzogs Friedrich, der noch in seinem
dreiundfünfzigsten Lebensjahre bei dem von ihm angestellten Professor O. G.
Tychsen Hebräisch lernte, um das alte Testament in der Ursprache lesen zu
können, konnte bei den beschränkten Geldmitteln, über welche er verfügte, auch
für Bützow daran nichts ändern.
Zu Anfang der langen Regierung seines Nachfolgers Friedrich Franz des
Ersten (1783 bis 1837) wurden die Differenzen zwischen dem Landesherrn und
der Stadt durch einen neuen Erbvertrag (13. Mai 1788) ausgeglichen, welcher
auch eine neue Regelung der Verhältnisse der Universität enthielt, worauf denn
(1789) die beiden auscinandergerissenen Hälften derselben in Rostock wieder
zusammengefügt wurden. In einem spätern die Universität betreffenden Ver¬
trage zwischen Landesherrschaft und Stadt, dem Regulativ vom 9. August 1827,
Verzichtete die letztere auf das Compatronat, so daß von dieser Zeit an der
Großherzog alleiniger Patron der Universität wurde.
Die Folge der einheitlichen Leitung, welche mit der Aufhebung des städ-
tischen Compatronats eintrat, äußerte sich in zweifacher Hinsicht: theils durch
kräftigere und erfolgreichere Bestrebungen für die Hebung der Universität, theils
durch mehrfache Beschränkungen ihrer corporativen Selbständigkeit.
Einzelne vorbereitende Schritte für eine Kräftigung der Universität in ihrem
Lehrerpersonal und ihren Instituten geschahen bereits während der letzten Re¬
gierungsjahre des Großherzogs Friedrich Franz des Ersten; aber die Haupt¬
thätigkeit in dieser Richtung trat erst nach dem Regierungsantritt seines Nach¬
folgers, des Großherzogs Paul Friedrich (1837 bis 1842), hervor.
Bei dieser Arbeit entwickelte ein Mann besonderen Eifer, welcher sich dadurch
einen gerechten Anspruch auf Anerkennung erworben hat: der noch jetzt als Vice-
kanzler an der Spitze der Universität stehende Geheimerath Dr. v. Both.
Karl Friedrich v. Both trat im Jahre 1810 als Auditor bei der gro߬
herzoglichen Justizkanzlei zu Schwerin in die richterliche Laufbahn ein und ward
im Jahre 1820 Vicedirector, im Jahre 1844 Director der großherzoglichen
Justizkanzlei zu Rostock, legte diese Stelle aber schon im Jahre 1851 nieder.
In Ausführung des Bundesbeschlusses vom 20. Sept. 1819 wegen strenger
Polizeilicher Ueberwachung der deutschen Universitäten, ward er im Jahre 1820
zum Regierungsbevollmächtigter bei der Universität zu Rostock bestellt, was er
bis zum Jahre 1848 blieb, wo die Stelle infolge der veränderten Zeitverhält¬
nisse eingezogen ward. Im Jahre 1836 wurde er zum Vicekanzler der Universität
ernannt, welches Amt er, obwohl schon in hohem Alter stehend und durch Taub¬
heit am mündlichen Verkehr behindert, noch fortwährend mit großer Hingebung
versieht. Bei seinem funfzigjährigen Jubiläum am 28. Aug. 1860 ward er durch Ver¬
leihung der goldenen Verdienstmedaille, sowie durch den Geheimrathstitel geehrt.
Herr v. Both zeichnet sich durch ein bedeutendes Organisationstalent,
Geschäftsgewanbthcit, Arbeitskraft und durch unermüdlichen Eifer für das
seiner Sorge anvertraute Institut aus. Sein Charakter mag etwas Schwan¬
kendes haben, wie dies denn auch verschiedene Wandlungen in seinen poli¬
tischen und kirchlichen Anschauungen, sowie seine büreaukratische Unerschütter¬
lichkeit im Amt unter den entgegengesetztesten Regierungssystemen bezeugen;
er mag auch an einiger Eitelkeit leiden und z. B. mitunter von fremden Ge¬
danken in einer Weise Gebrauch gemacht haben, welche geeignet war, die
unbegründete Annahme zu erwecken, daß er eigene Gedanken vorführe; aber
Eines wird ihm stets zum Ruhme gereichen, das ist die Beharrlichkeit und
der Ernst, mit welchen er auch unter schwierigen und widerwärtigen Um¬
ständen den Interessen der Universität zu dienen bemüht war. Sein Wir¬
kungskreis als Vicekanzler besteht darin, daß er, ohne eine eigentliche Zwischen¬
instanz zwischen der Universität und der obersten Regierungsbehörde zu bilden,
ein fürsorgcndes. berathendes und begutachtendes Organ für die Universitäts-
angelegenheiten ist. In dieser Stellung hat er sich der Regierung gegenüber
stets als ein eifriger Anwalt der Hochschule benommen, namentlich wo es
sich um Erwirkung von Geldmitteln handelte. In dem Zeitraum vor dem
Jahre 1848 bestand das Negierungscollegium zum größten Theil aus Männern,
welche der höheren wissenschaftlichen Bildung entbehrten und daher die Bedeutung
einer Universität für das Land nicht zu würdigen wußten. Die Bestrebungen
der Regierungsbehörde für die Universität gingen daher wesentlich von dem
Gesichtspunkt aus, daß dieselbe ein nothwendiges Uebel sei, welchem man
zwar einstweilen noch einige Opfer bringen, dessen man sich aber bei pas¬
sender Gelegenheit zu entledigen suchen müsse. Diese Art von Regierungs¬
männern schätzte die Wissenschaft gering, weil sie nichts .neues erfinde und
keinen unmittelbaren Ertrag abwerfe, vielmehr der Regicrungskasse nur Opfer
auferlege, und bemaß hiernach den Werth der Hochschule für das Land. Diese
Geringschätzung der Wissenschaft führte denn auch zu ganz verkehrten Urtheilen
über die erforderlichen Eigenschaften eines Universitätslehrers. Man hielt es
für genügend, daß er, ohne eigene Theilnahme, an dem weiteren Ausbau der
Wissenschaft gleichsam nur als Repetent wirke und die von Anderen gewonnenen
wissenschaftlichen Ergebnisse mit seinen Zuhörern durchgehe. Einer der Haupt¬
träger solcher Anschauungen und Grundsätze war der Regierungsrath Ku aude,
ein früherer Bürgermeister, zu dessen Lieblingsgedanken die gänzliche Aufhebung
der Universität und ihr Ersatz durch eine landwirthschaftliche oder polytechnische
Lehranstalt gehörte. Später fand dieser Plan auch selbst innerhalb der Ab¬
geordnetenkammer und hier namentlich in dem jetzigen Geh. Ministerialrath
Meyer, einem nahen Verwandten Krautes, einigen Anhang. Doch traten
diese die Existenz der Universität bedrohenden Gedanken niemals offen hervor;
sie bewegten sich nur hinter der Bühne, in den Grenzen halbverstohlener Mei¬
nungsäußerungen. Sie wirkten aber doch den Wünschen und Bestrebungen
des Vicekanzlcrs vielfach hemmend und abschwächend entgegen und setzten seine
Geduld oftmals auf harte Proben. Unter dem Ministerium, welches die Wieder¬
herstellung der feudalen Landesverfassung zu seiner Aufgabe erkoren hatte, ist
zwar die Gefahr einer Aufhebung der Universität, wie es scheint, gänzlich ver¬
schwunden. Schon das hohe Alter der Universität würde demselben viel zu
ehrwürdig erscheinen, als daß es sich zu einem solchen Act entschließen sollte.
Statt dessen aber verlangt die feudale Partei von der Universität, daß sie die
Jugend des Landes für ihre Zwecke bearbeite und zurichte, und bedroht von
dieser Seite die Lehranstalt in den Wurzeln ihrer Lebenskraft. Bei der freieren
Anschauung von dem Wesen und der Würde der Wissenschaft, welche man be¬
rechtigt ist! dem Vicekanzler beizumessen, wird man annehmen dürfen, daß er
seitdem auch häufig sein Amt mit seinen Neigungen nicht in Einklang gesunden
hat und daß es nur seinen bureaukratischen Gewohnheiten, vielleicht auch seiner
großen Anhänglichkeit an die Lehranstalt zuzuschreiben ist, wenn er einen Posten
noch nicht aufgegeben hat, welcher von einem freigesinnten Mann unter einem
Regiment, wie es seit dem Jahre 1860 besteht, wohl fast zu große Opfer der
Selbstverläugnung fordert.
Der Anfang der unter v. Boths Einfluß und Mitwirkung auf die Uni¬
versitätsverhältnisse gerichteten reorganisirenden Thätigkeit bildete eine Regelung
der Universitätsfinanzen und die damit verbundene Aufstellung eines Etats der
Einnahme und Ausgabe. Der jährliche Aufwand, welchen die großherzogliche
Kasse für die Universität und die zu derselben gehörigen Anstalten leisten sollte,
ward auf ungefähr 40,000 Thlr. normirt. Einbegriffen darin war eine Summe
von 3,300 Thlr. aus gewissen Hebungen, die ursprünglich zu dem Dotalvermö-
gen der Universität gehörten. Außerdem hat die Universität noch ein eigenes
Vermögen, welches nach verschiedenen Verwendungen für Bauten und sonstige
Zwecke der Universität 63,000 Thlr. beträgt, wozu noch einige Hebungen an
Renten so wie die in der Stadt belegenen akademischen Grundstücke kommen.
Für die Verwaltung dieses Vermögens ward am 17. Juni 1834 eine großher¬
zogliche „Jmmediatcommission" eingesetzt, bestehend aus einem großherzoglichen
Commissarius (v. Both) und einem Deputaten der Universität. Die verschiede¬
nen Kassen, mit Ausnahme des Stipendienfonds und der Profcssorenwittwen-
kasse, wurden zu einer „Universitätskasse" vereinigt, deren Verwaltung nach
Maßgabe eines von der Regierungsbehörde alljährlich zu genehmigenden Etats
geschieht. Durch diese Einrichtung verlor die Universität die ihr bis dahin zu¬
ständig gewesene eigene Verwaltung ihres Vermögens.
Hierauf wurde die Revision der Universttätsstatuten und der auf die Uni¬
versität und die zu ihr gehörigen Anstalten bezüglichen Regulative in Angriff
genommen. Am 30. Nov. 1837 erfolgte die landesherrliche Bestätigung der
neuen Universitätsstatuten sowie der neuen Disciplinarstatuten für die
Studirenden; in demselben und den nächstfolgenden Jahren traten als weitere
Früchte der reorganisirenden Thätigkeit ein Regulativ für Preisfragen, ein Regle¬
ment wegen Bezahlung der Collegienhonorare, neue Statuten für das philo¬
logische und für das homiletisch-katechetische Seminar, ein Regulativ über die
Benutzung und ein anderes über die Vermehrung der Universitätsbibliothek
hervor und verschiedene Institute, darunter ein sogenanntes philosophisch-ästhe¬
tisches Seminar wurden neu geschaffen.
Die wesentlichen Bestimmungen der revidirten Universitätsstatuten sind:
Die Universität „hat, gleich den übrigen älteren Universitäten des protestantischen
Deutschlands, die althergebrachte Bestimmung, die reine Lehre der heiligen
Schrift nach den Grundsätzen der unveränderten augsburgischen Confession, so
wie alles Gute, Wahre und Schöne in sich aufzunehmen, zu bewahren und zu
verbreiten." Sie ist eine vom Staate anerkannte besondere Corporation. Die
Gesammtheit der ordentlichen Professoren bildet ein der Landesregierung un¬
mittelbar untergeordnetes Kollegium, an dessen Spitze sich der Rector befindet
und welches den Namen Rector und Concilium führt. Die Universität wird
regelmäßig durch Rector und Concilium, in gewissen näher bestimmten Fällen
durch den Rector und einen Ausschuß des gesammten Conciliums, das soge¬
nannte engere Concilium, jedoch gleichfalls unter der amtlichen Bezeichnung
„Rector und Concilium", in allen rein wissenschaftlichen Beziehungen durch den
Rector und die Decane der vier Facultäten und in einzelnen minder wichtigen
Fällen durch den Rector allein vertreten und repräsentirt. Das Concilium
wählt den Rector aus seiner Mitte. Der bisher zur Anwendung gekommene
Grundsatz, daß der. welcher der Anciennctät nach als Mitglied des Conciliums
auf den zeitigen Rector folgt, ein Recht auf das Rectorat habe, ist damit
weggefallen. Die Wahl des Rectors geschieht auf ein Jahr, ' jedesmal vier
Monate vor Ablauf des Rectoratsjahres. Der Landesregierung ist das Er¬
gebniß der Wahl anzuzeigen und dieselbe übt in Bezug auf die Person des
Gewählten ein Necusationsrccht. Das engere Concilium besteht aus dem Rec¬
tor, dem unmittelbaren Borgänger desselben, dem Vorgänger des letzteren, an
dessen Stelle nach geschehener Wahl des, Rectors für das folgende Jahr dieser
künftige Rector tritt, und einem vom gesammten Concilium aus Lebenszeit aus
den ordentlichen Professoren der Juristenfacuität gewählten Mitgliede, dem so¬
genannten sM'Muus. Der Geschäftskreis des engeren Conciliums
umfaßt die Ausübung der Civil- und Criminalgerichtsbarkeit der Universität,
die Disciplinargewalt über Akademieverwandte, welche nicht Studirende sind,
die Handhabung der für die Studirenden geltenden Disciplinarstatuten u. s. w.
Der Syndikus der Universität wird vom gesammten Concilium aus den ordent¬
lichen Professoren der Juristenfacultät und zwar gleich dem aLSSWor xsrxewus
auf Lebenszeit gewählt, wobei die Landesregierung ein Genehmigungsrecht übt.
Processe kann die Universität als Kläger nur mit vorgängiger Einwilligung der
Landesregierung führen. Ohne Genehmigung der letzteren darf kein akademischer
Lehrer Vorlesungen über Wissenschaften halten, die zu dem Lehrgebiet einer
andern Facultät gehören; doch werden einzelne Lehrfächer als gemeinschaftliches
Gebiet von zwei Facultäten bezeichnet. Für die Wahl und Ernennung der
ordentlichen Professoren normiren folgende Vorschriften: Die Facultät. bei wel¬
cher eine Professur erledigt ist, schlägt dem Concilium sechs Gelehrte vor, aus
welchen dieses, mit Ausschluß der Mitglieder der betreffenden Facultät, drei
auswählt und der Landesregierung präsentirt. Doch haben diese Vorschläge
nur den Werth einer Empfehlung, und die Landesregierung ist bei der Wieder¬
besetzung der Professur auf die in Vorschlag gebrachten Gelehrten nicht beschränkt.
Auch hat das Concilium das Recht, außer den ausgewählten drei Präsentaten
noch einen oder den anderen Gelehrten der Landesregierung zur Berücksichtigung
bei der Wiederbesetzung der Stelle zu empfehlen. Wer als Privatdocent zu¬
gelassen zu werden wünscht, hat sich mit einem hierauf gerichteten Gesuche an
die Regierungsbehörde zu wenden und sich über seine persönlichen Verhältnisse
auszuweisen, auch, wenn er in den Wissenschaften zu unterrichten beabsichtigt,
deren Studium zur Vorbereitung auf den Staatsdienst gehört, darzuthun, daß
er sich auf dem für den wirklichen Dienst vorgezeichneten Vorbereitungswege
damit vertraut gemacht habe. Die Erlaubniß, Vorlesungen zu halten, kann
demjenigen, welcher in Rostock studirt hat. nicht vor Ablauf von zwei Jahren
seit seinem Abgange von der Universität ertheilt werden. Der Verlauf der
Habilitation ist dann folgender: Die Landesregierung erläßt nach Befinden den
Befehl zur Prüfung des Candidaten, welcher nach bestandener Prüfung noch
eine öffentliche Disputation zu halten hat. Nachdem die Facultät über das Re¬
sultat der Prüfung an die Landesregierung berichtet und bei dieser die immer
nur mit dem Vorbehalt des freien Widerrufs erfolgende Genehmigung
erwirkt hat, ertheilt sie die Erlaubniß. Vorlesungen zu halten.
Um eben die Zeit, wo diese Reorganisationen erfolgten, trat innerhalb
der Mitglieder des Conciliums ein Gegensatz hervor, der bald zu mächtigen
Reibungen und Zerwürfnissen führen sollte. Seinen Ausgangspunkt hatte der¬
selbe in der neu aufkeimenden kirchlichen Richtung, welche unter Kliefoths be¬
ginnendem Einflüsse auch am Sitze der Regierung schon anfing sich die Wege
zur Herrschaft zu bahnen. Damit verbanden sich aber zugleich manche ander¬
weitige wissenschaftliche, auch wohl persönliche Gegensätze, welche den aus¬
brechenden Kampf zu einem Kampf zwischen dem älteren und dem jüngeren
Geschlecht der Professoren stempelten, von denen das letztere dem ersteren die
Herrschaft zu entreißen strebte. So weit religiöse Interessen dabei mitwirkten
oder den Vorwand bildeten, war die theologische Facultät der Hauptpunkt des
Angriffs und demnächst auch der Hauptschauplatz der miteinander ringenden
Kräfte. Diese bestand um die Mitte der dreißiger Jahre aus Gustav Friedrich
Wiggers, Anton Theod. Hartmann. Phil. Bauermeister und Karl
Friedr. Aug. Fri dz sah e. Von diesen waren die drei letzteren scharf ausgeprägte
Rationalisten, Wiggers zwar ein auf der Grundlage der kirchlichen Bekennt-
nißschriftcn stehender, aber doch zugleich ein wissenschaftlich freigesinnter Theolog,
dabei ein Mann von tiefer Frömmigkeit und wahrer Humanität, und ein Feind
alles Haders und Streites. Sein Charakterbild ist mit warmen und treuen
Farben in einer Schrift gezeichnet, durch welche einer seiner Söhne ein Jahr
nach seinem Tode sein Andenken ehrte. Gustav Friedrich Wiggers. Ein
Denkmal. Leipzig 1861.) Die Facultät erfreute sich um diese Zeit der größten
inneren Einigkeit. Im Sommer 1835 kam durch Hävernick. welcher, von
der frommen Partei zur Vertretung ihrer Interessen herbeigewinkt. sich als
Privatdocent habilitirte und im Jahre 1837 zum außerordentlichen Professor
ernannt wurde, ein neues, der tholuckschen Schule angehöriges Element hinzu.
Hävernick stand von Halle und seiner dortigen Disputation her in einem
Rufe, welcher seine Niederlassung in Rostock als eine Kriegserklärung gegen die
dortigen rationalistischen Theologen erscheinen ließ und ihm bei diesen gerade
nicht den besten Empfang bereitete. In dem lateinischen Kolloquium, welches
seiner Habilitation voranging, benutzte, wie man erzählt, Fritz sehe die Ge¬
legenheit, ihn sehr in die Enge zu treiben. Seine Fragen soll Hävernick
fast ohne Ausnahme mit einem too nescio beantwortet haben, worauf denn
Fritz sehe ebenso regelmäßig seiner Stimmung durch ein la yuoü miror Aus¬
druck gegeben haben soll, und wäre es nach Fritzsches Willen gegangen, so
würde ihm dieses Colloquium die Thüre zur Habilitation nicht geöffnet haben.
Im Jahre 1838 starb der Professor der alttestamentlichen Exegese, der oben
genannte Hartmann Die Wiederbesetzung dieser Stelle rief im Schoße des
Conciliums heftige Streitigkeiten hervor. Ein der medicinischen Facultät an-
gehöriges Mitglied, der Professor Strempel, erlaubte sich ein natürlich von
theologischer Seite ihm suppeditirtes schriftliches Votum abzugeben, in welchem
nicht blos über die von der theologischen Facultät für die Wicderbesetzung der
erledigten Professur in Vorschlag gebrachten Gelehrten auf das Wegwerfendste
geurthetlt, sondern auch auf die Mitglieder der theologischen Facultät und
nebenher auch noch aus die Vertretung des theologischen Elements im landes¬
herrlichen Consistorium oder mit anderen Worten auf Wiggers als Con-
sistorialrath mit zügelloser Kritik losgefahren ward. Es war dies die Debüt¬
rolle, mit welcher die damals im Aufkeimen begriffene, anfangs im pietistischen
Habitus. demnächst in symbolisch-orthodoxer Rüstung auftretende kirchliche Partei
bei der Universität sich einführte. Die in dem strempelschen Votum aufgehäuften
Beleidigungen bewogen die Facultät, bei der Landesregierung Ms Ertheilung
eines Verweises an dessen Verfasser anzutragen. Ein Negierungsrcscript suchte
die aufgeregten Gemüther zu beruhigen und den Frieden wieder herzustellen.
Die Acten wurden später versiegelt im Universitätsarchiv niedergelegt, um die
Sache möglichst der Vergessenheit zu übergeben. Da aber hierdurch der Streit
mehr gewaltsam erstickt als gründlich ciusgetragcn ward, so half diese Ver¬
siegelung nicht viel. Der Funke glimmte Weiler und entzündete sich im Laufe
der folgenden Jahre bei jedem Anlaß zu neuer Flamme. Um Michaelis 1840
erschien, von der Regierung berufen, ohne von der Facultät vorgeschlagen zu
sein, der Professor Otto Carsten Krabbe, bis dahin Professor der biblischen
Philologie am akademischen Gymnasium in Hamburg, nicht sowohl um die er¬
ledigte Professur der alttestamentlichen Exegese auszufüllen, als um die noch
nicht erledigte der Kirchengeschichte und der praktischen Theologie besser zu ver¬
sehen. als dies nach Ansicht der zur Herrschaft strebenden Partei durch Wiggers
geschah. Krabbe wurde zugleich als Universitätsprediger und neben Wiggers
als Mitdircctor des homiletisch-katechetischen Seminars angestellt. Er führte
sich dadurch in Rostock ein, daß er im Lectionsvcrzeichniß dieselbe Vorlesung
mit Wiggers (den ersten Theil der Kirchengeschichte) zu derselben Tagesstunde
ankündigte.
Im Jahre 1841 folgte Hävernick einem Rufe nach Königsberg und
Fritzsche ging nach Gießen. Fritzsches Nachfolger, den aber wiederum die
Facultät nicht vorgeschlagen hatte, war J..CHr. K. Hofmann, welcher um
Michaelis 1842 von Erlangen kam und drei Jahre später dorthin zurückging.
Inzwischen hatte Krabbe ein Antrittsprogramm „ac tLwxoiÄli ex nilrilo
ereationv" herausgegeben, welches von Julius Wiggers, einem Sohne von
Gustav Friedrich Wiggers, der seit dem Jahre 1837 Privatdocent und seit dem
Jahre 1840 titulärer außerordentlicher Professor in der theologischen Facultät
war, in einer besondern Schrift einer scharfen Kritik unterzogen ward, welche
den Nachweis zu führen suchte, daß die in Krabbe reprcisentirte theologische
Richtung weder den Forderungen der Wissenschaft noch den Interessen der Kirche
Genüge leiste. Es entspann sich hieraus ein Streitschriftenwechsel zwischen
Julius Wiggers und Krabbe, an welchem sich im weiteren Verlauf auch
Hofmann als Vertheidiger Krabbes betheiligte. Die Verhältnisse innerhalb
der Facultät gestalteten sich durch dies alles nur noch trüber. Neuen Anlaß
zu Mißhelligkeiten boten die Verhandlungen über die an den Candidaten der
Theologie Schliemann, der sich als Privatdocent niederlassen und zu diesem
Zwecke die Würde eines Licentiaten erwerben wollte, zu stellenden Forderungen,
Wobei sich namentlich Hofmann durch unprovocirte Beleidigungen der beiden
älteren Mitglieder der Facultät auszeichnete. Es war als wenn eine lange
mühsam darnieder gehaltene Gährung sich Luft machte. Wiggcrs sah sich
zu der Erklärung genöthigt, daß er, solchen Aggressionen gegenüber, es seiner
Würde allein entsprechend finde, auf ein weiteres Votum in der Angelegen¬
heit zu verzichten. Diese fortgesetzten Kränkungen und Reibungen, welchen
der alte Wiggers nach einer langen, bisher unter ganz anderen Verhält¬
nissen verlaufenen Wirksamkeit sich ausgesetzt sah, lasteten auf ihm sehr schwer
und ließen es ihn wiederholt bedauern, daß er durch sein damals schon den
Siebzigern nahe rückendes Lebensalter genöthigt war, auf den Gedanken an die
Aufsuchung eines neuen Wirkungskreises außerhalb Mecklenburgs zu verzichten.
Sonst mit seinen Empfindungen sehr zurückhaltend und nicht zu Klagen geneigt,
brach er doch einmal — es war im Mai des Jahres 1843 — unter dem Druck
der ihn umgebenden Verhältnisse gegen einen Vertrauten in die Worte aus:
„Ich preise jeden glücklich, dem es gelingt, einen Ausweg aus diesem Jammer«
lande zu finden, und wenn ich dazu nicht zu alt wäre, so möchte auch ich
noch den mecklenburgischen Dienst mit einem fremden vertauschen." Bis zu
solcher Stimmung hatte die fromme Partei in der kurzen Zeit ihrer Einwir¬
kung auf die Universität einen Mann gebracht, der ein Mecklenburger von Ge¬
burt, ein treuer Anhänger des Bestehenden in Kirche und Staat, ein mit war¬
mer Hingebung seinem Fürstenhause und seinem Berufe dienender Gelehrter,
von Friedlich Franz dem Ersten mit hohem Vertrauen und persönlichem Wohl¬
wollen beehrt, ein Mann von fleckenloser Reinheit des Charakters, jetzt, am
Ende einer vierzigjährigen akademischen Wirksamkeit an der vaterländischen
Universität seine treue und rastlose Arbeit mit Undank und Beleidigungen
belohnt sah.
Schliemann, an dessen Habilitation sich diese ärgerlichen Vorfälle knüpf¬
ten, war nur anderthalb Jahre als theologischer Privatdocent thätig. Er er¬
kannte dann, daß er an eine unrechte Stelle gerathen sei und daI ihm das
Studium der Rechte mehr zusage als das der Theologie. Drei Jahre später
habilitirte er sich als Privatdocent in der juristischen Facultät und ging darauf
in den Justizdienst über. Hofmann verließ Rostock im Jahre 1846. Es wird
ihm seitdem klar geworden sein, daß er damals an der Seite Krabbes und
KliefothS nicht den rechten Platz einnahm; wenigstens haben sich seine Wege
in kirchlicher wie in politischer Beziehung von seinen damaligen Parteigenossen
weit genug getrennt und diejenigen, für welche er zu jener Zeit kämpfte, stehen
ihm jetzt als Gegner gegenüber und verketzern seine Theologie wie seine Poli¬
tik. Etwas friedlicher gestalteten sich die Verhältnisse nach dem Eintritt von
Hofmanns Nachfolger, Franz Delitzsch, in die Facultät, welcher er von Ostern
1846 bis Michaelis 1850 angehörte, und selbst zwischen Wiggers und Krabbe
bahnte sich im weiteren Verlauf der Jahre ein anderes Verhältniß an. In
dem angeführten „Denkmal" wird es als ein Grundzug in dem Wesen von
Wiggers hervorgehoben, daß er stets Böses mit Gutem vergolten und seine
Gegner durch Sanftmuth und Geduld überwunden habe, und es heißt dann
weiter: „Auch in der schwierigen Lage, welche ihm nicht sowohl die Persön¬
lichkeit seines Svecialcollegen Krabbe als die demselben angewiesene, seinen
bisherigen Wirkungskreis beschränkende und beengende Stellung und mancherlei
anderweitige damit in Verbindung tretende Verwickelungen bereiteten, wußte er
sein Verhalten so einzurichten, daß alle Pfeile der Partei, durch welche ihm
Krabbe an die Seite gestellt war. an seiner Liebe stumpf wurden und ein
Verhältniß, welches seiner Natur nach den Samen der Bitterkeit und der Zwie¬
tracht in sich zu tragen schien, schließlich nur dazu gereichte, ihm aus der Mitte
gegnerischer Kreise heraus neue Verehrung zu erobern. Krabbe selbst Mb
in einem Gratulationsschreiben an Wiggers vom 25, Oct. 18S7 dem ge¬
winnenden Einfluß, welchen dessen Persönlichkeit auf ihn ausgeübt hatte, einen
sehr lebhaften anerkennenden Ausdruck. —
In der Gesammtheit der Professoren hatte bereits zwei Jahre nach Krabbes
Berufung die Partei der Jüngeren die Oberhand erlangt, wie dies aus der
Rectorwcchl sich ergiebt. Für den Zeitraum von 1837 bis 1840 wurde noch
Wiggers in dreimaliger Aufeinanderfolge zum Rector erwählt, nach ihm sein
College Bauermeister zweimal hintereinander. Hierauf aber ging das Rec-
torat auf die inzwischen zur Majorität gewordenen Mitglieder der Gegenpartei
über. Der erste aus derselben hervorgegangene Rector war der Professor der
Botanik Johann R'sper.
Mit der allmäligen weiteren Verminderung der Partei der Alten erloschen
schließlich die bisherigen Parteigegensätze. Das Jahr 1848 und die darauf
gefolgte Reactionsperiode verlegten jetzt auch den Schwerpunkt der Partei¬
gestaltung von dem religiösen auf das politische Gebiet.
Die östreichische Verfassung unterscheidet sich von allen anderen moder¬
nen Verfassungen dadurch, daß die Functionen des Staatslebens auf eine
unverhältnismäßig große Anzahl theils nebengeordneter, theils einander unter¬
geordneter Körperschaften vertheilt sind. Neben den beiden Häusern des engeren
Reichsraths steht das ungarische Parlament; über beiden der ebenfalls in zwei
Häuser zerfallende weitere Reichsrath, als Vereinigung des engeren Neichsraths
und einer Abordnung des ungarischen Parlaments. Erwägt man nun noch, daß
der engere Reichsrath selbst aus einer großen Anzahl provinzieller Körperschaften
emanirt, so wird man leicht einsehen, daß die Entwicklung der östreichischen
Verfassung ganz davon abhängig ist, wie die aus diesen Verhältnissen unver¬
meidlich sich ergebenden Competenzconflicte geschlichtet werden, vor allein davon,
welche Stellung die Gesammtvertretung zu dem ungarischen Parlament ein¬
nehmen wird. Dies ist die Cardinalfrage des östreichischen Verfassungs¬
lebens, von deren Entscheidung voraussichtlich nicht nur die Zukunft der Ver¬
fassung, sondern auch des Staates selbst bedingt ist.
Im engsten Zusammenhange mit dieser Frage steht die über das Verhält¬
niß des engeren zu dem weiteren Reichsrathe. Die Differenz, die bei Beginn
der gegenwärtigen Session infolge der Berufung des Reichsr-aths auf Grund des
§. 10 des Februarvatents über diesen Punkt aufzutauchen drohte, hat für
jetzt einen ernsteren Charakter noch nicht angenommen, da noch jeder Ver¬
such, die Competenz der beiden Versammlungen gegeneinander abzugrenzen
verfrüht ist, und so lange der weitere Reichsrath noch ein Bruchstück ist, resul¬
tatlos bleiben muß. Denn es ist einleuchtend, daß jede vor dem Eintritt der
Ungarn getroffene, auf den Gesammtstaat bezügliche organische Einrichtung
nur ein ziemlich werthloses Provisorium sein würde. Es könnte allerdings von
einem gewissen Standpunkte aus wünschenswert!) erscheinen, die allgemeine
Gesetzgebung vor dem Eintritts und also ohne die wahrscheinlich unbequeme
Mitwirkung der Ungarn weiter zu führen, wenn man sich nur der Zweifel
entschlagen könnte, ob denn auch auf diesem Wege dauernde und sichere Re¬
sultate zu gewinnen seien, und wenn man sich nicht sagen müßte, daß jede
Weiterentwickelung der Gesammtstaatsidee, jeder Versuch, die Magyaren für ihre
Hartnäckigkeit gewissermaßen zu contumaciren, den Bestrebungen, die staatsrecht¬
lichen Beziehungen mit Ungarn auf dem Wege friedlicher Auseinandersetzung
zu ordnen, im höchsten Grade präjudiciren würde.
Allerdings hat sich das Auftauchen präjudicirlicher Fragen nicht ganz ve»
hindern lassen. Jeder Versuch in der Richtung kann indessen nur beweisen,
daß der Reichsrath in seiner gegenwärtigen Zusammensetzung nicht im Stande
ist, eine irgendwie auf die Gesammtverfassung bezügliche Frage auch nur einen
Schritt weiter zu fördern. Dies hat sich bereits in der ersten Zeit der Session
sehr klar bei der Jnterpellation wegen eines Ministerverantwortlichkeitsgesetzes
ergeben. Es ist vollkommen erklärlich und gerechtfertigt, daß das Abgeordneten¬
haus in dieser Angelegenheit dringlich war, da ohne ein Ministerverantwort¬
lichkeitsgesetz alle Bemühungen, die verschiedenen Organe des Staatswesens zu
einem harmonischen Zusammenwirken zu stimmen, vergeblich sein werden. Den¬
noch wird man Herrn v. Schmerling darin Recht geben müssen, daß im ge¬
genwärtigen Stadium der Verfassungsentwickelung von Einbringung eines Mi-
nisterverantwortlichkeitsgesctzes nicht die Rede sein kann. Die etwas cavaliöre
Behandlung der Frage war zwar für den Vcrfassungsminister par exekllonos
nicht recht geziemend. Die ganze Abschweifung über die Ministerverantwort-
lichkeii im Allgemeinen war außerdem höchst überflüssig. Indessen wenn Herr
v. Schmerling das Bedürfniß hat, sich seinen Freunden von der Opposition
gegenüber Blößen zu geben, so ist das seine Sache; jedenfalls wird das Ge¬
wicht der reellen Gründe, die gegen die augenblickliche Vorlage eines Minister-
verantwortlichkcitsgesetzes sprechen, durch die Einwendungen, die man seinen
allgemeinen Bemerkungen entgegensetzen kann, nicht gemindert. Schon wenn
es sich um die erste Frage handelt: wem sollen die Minister verantwortlich
sein? stößt man auf Schwierigkeiten. Nur dem engeren, oder nur dem weiteren
Reichsrathe, oder je nach den besonderen Fällen entweder dem einen oder dem
andern? Man möchte geneigt sein, das Letztere anzunehmen. Denn wollte
man statuiren. daß nur dem weiteren Reichsrathe gegenüber eine Verantwor¬
tungspflicht bestehe, so würde das Ministerium in den wichtigsten Angelegen¬
heiten, sobald sie nur nicht die Verhältnisse des Gesammtstaates berühren, un¬
verantwortlich sein, oder es müßte für alle Fälle, in denen die Verantwort¬
lichkeit der Minister in Anspruch genommen wird, die Kompetenz des weiteren
Reichsraths auf das verfassungsmäßig unzweifelhaft in den Wirkungskreis der
engeren Versammlung fallende Gebiet erweitert werden. Dies würde aber zu
einer beispiellosen Verwirrung, zu einer völligen Verschiebung der Befugnisse
aller constituirten Körperschaften führen. Gesetzt z. B. eine starke Partei hätte
ein Interesse daran, den engeren Reichsrath möglichst zu schwächen, so brauchte
sie nur unter Anführung irgendeines Scheingrundes in diesem oder jenem Acte
des Ministeriums eine Verfassungsvcrletzung zu sehen, um allmälig den weite¬
ren Reichsrath zu einer Oberinstanz über alle verfassungsmäßig aus, " seiner
Sphäre liegenden Gegenstände zu erheben. Ein derartiges Zurückdrängen des
engeren durch den weiteren Reichsrath würden wir allerdings als eine wün-
schenswerthe, ja nothwendige Entwickelung der Verfassung ansehen; aber es
wäre nicht günstig für die Autorität der Staatsgewalt, wenn dieser Fortschritt
zur Neichseinheit ohne ihr Zuthun, gewissermaßen auf anarchischen Wege
sich vollziehen sollte.
Die angeführten Bedenken mögen dem vertrauenden Patrioten auf den ersten
Blick spitzfindig und gesucht erscheinen; sie sind es aber nur, so lange der weitere
Reichsrath auf seinen jetzigen Umfang beschränkt bleibt, d. h. so lange der
Unterschied zwischen weiterem und engerem Reichsrath wenig mehr als ein for¬
maler ist; sie gewinnen große Bedeutung, sobald die Ungarn in den Reichsrath
treten, und neben dem engeren Reichsrath das ungarische Parlament tagt. Dann
sind der weitere und engere Reichsrath sehr verschiedene, möglicherweise von ent¬
gegengesetzten Tendenzen beherrschte Körperschaften; im ungarischen Parlamente
aber erhebt sich eine dritte Macht, die jedenfalls bemüht sein wird, die Ge-
sammtvertretung der Monarchie durch ihre Delegirten zu beherrschen. Wie soll
man nun gegenwärtig die Kompetenz der verschiedenen Versammlungen nicht
nur in der Ministerverantwortlichkcitsfrage, sondern in allen Fragen von ge¬
meinsamem und doch wieder jeden der beiden großen Theile der Monarchie in
besonderer Weise berührenden Interesse abgrenzen, — gegenwärtig, wo man
sich noch entfernt keine Vorstellung davon machen kann, in welcher Weise staats¬
rechtlich das Verhältniß der großen Staatskörper zu einander zu ordnen sein
wird, und. noch viel weniger davon, wie thatsächlich das Machtverhältniß der
drei Versammlungen sich gestalten wird. — Das Gesagte wird genügen, um
von den Schwierigkeiten einen Begriff zu geben, auf welche ein jeder das Ver¬
fassungswesen und namentlich die Competenzfrage betreffende Gesetzvorschlag
vor der Ausgleichung mit Ungarn stoßen wird. So viel läßt sich aber in
Betreff der beiden wiener parlamentarischen Körperschaften schon jetzt behaup¬
ten. daß wie es scheint, gegen die Wünsche der Linken, die Sitzungsperioden
derselben zu trennen sein werden, und daß es sich als unthunlich herausstellen
wird, die Tagesordnung etwa mit einer Verhandlung im weiteren Reichsrath
zu beginnen, und nach Vollendung dieser die Ungarn hinauszuschicken, um
im engeren Reichsrath weiter zu tagen. Dies würde schon deshalb nicht an¬
gehen, weil daS ungarische Parlament, welches sich doch nicht einer gleich ge¬
müthlichen Behandlung würde erfreuen können, durch eine derartige Praxis zu
sehr in Nachtheil gesetzt würde. Allerdings kann die Regierung dadurch, daß
die eigentlichen Gesetzgebungsfragen regelmäßig erst nach Erledigung der Bud¬
getangelegenheit zur Sprache kommen würden, in eine unverhältnißmäßig vor-
theilhafte Stellung versetzt werden. Dieser Uebelstand ist groß, aber unvermeid¬
lich: er wird übrigens auch dazu beitragen, die Ueberzeugung zu erwecken, d.'ß
die Entwickelung der Verfassung, wenn sie nicht ganz ins Stocken gerathen soll,
aus innerer Nothwendigkeit die Richtung auf Erweiterung der Kompetenz deS
Gesammtreichsrathes wird einschlagen müssen.
Die Verlegenheiten, die dem Reiche aus dem gespannten Verhältnisse mit
Ungarn erwachsen, sind zu augenscheinlich und zu peinlich, um nicht allen Par-
teien die Ausgleichung als eine Nothwendigkeit erscheinen zu lassen. Nur sind
leider die Ansichten über die Mittel zur Herstellung des Friedens ebenso ver¬
schieden, als die Hoffnungen, die sich an diese oder jene Art der Beilegung des
Conflictes knüpfen. Die reactioncire Partei, so wenig sie sonst mit den Ungarn
svmpathisirt, hofft doch von ihnen die Zerstörung des schmerlingschen Verfassungs-
werkes; sie wünscht selbstverständlich nicht den Eintritt der Ungarn, sondern die
Rückkehr zum Octoberdiplom. Daß mit dieser Lösung (— abgesehen von den
Tendenzen der ungarischen Nationalpartei, die ganz andere Pläne, als die Wieder¬
herstellung des Octoberdiploms verfolgt —) gar nichts gewonnen sein würde, läßt
sich kaum bezweifeln, aber das Verzichten auf die parlamentarische Reichseinheit
könnte der Anfang eines völligen Zerfallens der Monarchie sein. Nicht minder,
aber aus anderen Beweggründen als die Reactionäre. sind die gemäßigt Libe¬
ralen, oder vielleicht besser gesagt die principiellen Vertreter der Reichseinhcit
von der Nothwendigkeit einer Ausgleichung durchdrungen, und mögen auch über
den Grad der den Ungarn zu machenden Zugeständnisse Meinungsverschieden¬
heiten vorhanden sein, so wird doch darüber, daß ohne den Zutritt derselben
die Verfassung keinen Bestand haben kann, unter aufrichtigen Constitutionellen
kein Zweifel bestehn.
Reichseinheit und Constitution stehen und fallen mit einander, wer keine
Constitution für den Gesammtstaat will, erstrebt für die Länder diesseits der
Leytha die Rückkehr zum Absolutismus. Diejenigen aber, welche durch mög¬
lichst schroffes Auftreten gegen Ungarn, durch Drohungen, durch Contuma-
cirung die Magyaren zur Nachgiebigkeit und zur Beschickung des Reichsrathes
zu zwingen hofften, werden jetzt wohl zu der Einsicht gekommen sein, daß
diese Mittel nicht zum Ziele führen, da gerade durch ihre Anwendung dem
Verhältniß Oestreichs zu Ungarn derselbe Charakter starrer und unfrucht¬
barer Unbeweglichkeit aufgedrückt ist, der nach allen Richtungen hin im östrei¬
chischen Staatswesen zur Erscheinung kommt. Es hat sich hier nur der Grund¬
irrthum der neueren östreichischen Politik wiederholt, die, freilich oft mehr aus
Ratlosigkeit als aus Berechnung, die Stärkung der Monarchie überall von
dem natürlichen Verlauf der Dinge erwartet, während die Dinge, ihrem natür¬
lichen Laufe überlassen, gerade gegen die Wünsche der östreichischen Politik
arbeiten. Wenn man in Ungarn davon überzeugt ist, daß die Spannung
zwischen Wien und Pesth gefährlicher für Oestreich als für Ungarn ist, weshalb
sollte man sich denn beeilen, dieselbe durch ein Entgegenkommen gegen Oestreich
zu beendigen? Die Ungarn stehen fest auf ihrem Rechtsboden; auf diesem er¬
warten sie den Kampf und werden sich schwerlich aus demselben herauslocken
lassen. Ohne vorhergegangene Anerkennung dieses Nechtsbodens hat die Re-
gierung wenig Aussicht, sie zur Nachgiebigkeit und zu einem der angestrebten
Reichseinheit entsprechenden Vergleiche zu bewegen.
Daß die entschiedene Linke mit Ungarn möglichst bald zum Abschluß zu
kommen wünscht, ist selbstverständlich; nicht blos im Interesse der Reichscin-
heit, sondern vor allem im Interesse der Freiheit und der Verwirklichung
der Verfassung. Denn es läßt sich durchaus nichts dagegen einwenden, wenn
die Regierung erklärt, sie könne mit der Gesetzgebung, soweit sie sick auf die
Entwickelung der Verfassung bezieht, nicht eher vorgehen, als bis die Ungarn
in den Reichsrath eingetreten seien. Will die liberale Partei den verfassungs¬
mäßigen Fortschritt, so muß sie suchen, das Zauberwort zu finden, das die
Ungarn ins wiener Parlament lockt. Dazu kommt noch ein anderes wichtiges
Moment: die liberale Partei wird ohne die Unterstützung der Magyaren nie¬
mals dahin kommen, eine selbständige, auf den Gang der Geschicke Oestreichs
Einfluß übende Macht zu werden, ja sie darf in ihrer jetzigen Jsolirung gar
nicht einmal den Versuch wagen, ihre Ansichten dem Ministerium gegenüber
um jeden Preis zur Geltung zu bringen. Denn sie darf nicht einen Augen¬
blick vergessen, daß, wenn sie Herrn v. Schmerling das Regieren unmöglich macht,
sie damit nur der Reaction in die Hände arbeiten würde*). Daher bedürfen
die östreichischen Liberalen der Ungarn nicht minder, um die Verfassung zur
Wahrheit zu machen, wie der Verfassungsminister ihrer bedarf, um den Bau
der Reichseinheit zu vollenden.
Daß gerade diese Erwägungen die Liberalen wirklich bereits bestimmen,
ist allerdings zu bezweifeln. Die Ansichten sind noch völlig ungeklärt; der
Schwierigkeiten der Frage, der Consequenzen dieses oder jenes Versuches zu,
ihrer Lösung, des Zusammenhanges, in dem alle Verwickelungen der Monarchie
zu einander stehen, ist man sich noch kaum bewußt. Wie denkt man sich die
weitere Entwickelung, wie wünscht man sie? Sollen die beiden engeren Körper¬
schaften, soll der weitere Reichsrath der Sitz und Brennpunkt der freiheitlichen
Bestrebungen werden, sollen der Westen und Osten des Reiches ihre besonderen
Wege gehen, oder soll das Centralorgan der Träger der Vefassung werden,
und allmälig die Bedeutung der particulären Körperschaften Herabdrücken und
ihre Functionen absorbiren? Ueber alle diese Fragen hat sich eine entschiedene
Meinung inerhalb der liberalen Partei noch nicht herausgearbeitet. Centrali-
stische und autonomistische Ansichten wogen bunt durcheinander. Die Einsicht,
daß, wenn es nicht gelingt, die Sonderparlamente unter die Herrschaft der Cen-
tralgewalt und der Gesammtvertretung zu beugen, ein Dualismus eintreten
wird, der, wenn er nicht durch den schroffsten Militärdespotismus überwunden
wird, die Monarchie zertrümmern muß. — diese Einsicht hat sich noch nicht
entschieden genug geltend gemacht; und sie wird nur sehr allmälig Boden ge¬
winnen, da die westlichen Stämme der Monarchie nicht ohne große Selbstüber¬
windung dahin kommen werden, neidlos die Macht des magyarischen Elementes
in seiner vollen Bedeutung zu würdigen.
Ueber den ersten Schritt, der gethan werden muß, um das Verhältniß zu
Ungarn ins Klare zu setzen, sind die Parteien, wie wir schon sahen, einig:
Berufung des ungarischen Parlamentes, die den» auch, wie es heißt, nahe
bevorsteht*). Ein Fortschritt ist es immerhin, daß die Ueberzeugung von der
Nothwendigkeit dieser Maßregel sich Bahn gebrochen hat: nur darf man sich
nicht der Erwartung hingeben, eine Differenz, zu deren Ausgleichung bis jetzt
noch nicht die ersten Präliminarien gefunden sind, durch Unterhandlungen rasch
und leicht beizulegen. Die Verlegenheiten der Regierung sind so groß, ihr
Bedürfniß, den inneren Frieden herzustellen, ist so dringend, daß man auf ein
gefälliges Entgegenkommen der Ungarn, die schwerlich die Gunst der Lage un¬
benutzt lassen werden, nicht wird rechnen können. Die Möglichkeit, daß die
Regierung, falls ti« Versuche einer friedlichen Einigung mit dem Landtage
scheitern, allgemeine Landeswahlen zum Reichsrathe (nach §. 7 des Februarva-
»dentes) veranstalten könnte, wird auf die Ungarn gar keinen Eindruck machen,
da sie sich überzeugt hallen werden, daß ein derartiger Schritt nur zu einer
völligen Niederlage der Negierung führen würde. Die Anwendung von Ge¬
walt aber brauchen die Ungarn nicht zu fürchten, da niemand der Regierung,
deren Friedensbedürsniß klar zu Tage liegt, den unsinnigen Entschluß zutraut,
ihre zahlreichen Verlegenheiten durch das Hervorrufen eines Bürgerkrieges zu
steigern. Wenn man nun die Gewißheit hat, daß Oestreich, was es nicht auf
dem Wege der Güte erreicht, auf dem Wege der Gewalt gewiß nicht erreichen
wird, so läßt sich erwarten, daß die Ungarn entweder ihre Forderungen sehr
hoch spannen, oder daß sie gar auf ihrem rein negativen, abweisender Stand-
Punkte verharren werden.
Man wird doch zuletzt, um zum Ziele zu gelangen, die Ansprüche der
Ungarn auf die xartos aclnexas im weitesten Umfange anerkennen und also
mit dem Princip des Ziviäö et impera vollständig brechen müssen, d. h. also
statt Ungarn zu schwächen, wird man es nach Umfang und Bedeutung viel¬
mehr zu stärken haben. In Betreff der Wirkung, welche dies auf die Grup-
pirung der Machtverhältnisse innerhalb der Monarchie, auf den „Schwerpunkt"
hoben würde, wollen wir hier erwähnen, daß Ungarn nur in dem Falle auf
eine Beschickung des Reichsrathes eingehen kann, wenn es darauf rechnen darf,
was es an nationaler Selbständigkeit aufgiebt, an politischer Bedeutung zu ge¬
winnen, d. h. wenn sich ihm die Aussicht eröffnet, umgestaltend auf die tradi¬
tionelle auswärtige Politik Oestreichs einzuwirken. Ein constitutionelles Oest¬
reich hat seinen Kern, sein politisches Centrum in Ungarn; so lange man
dies in Wien verkennt, wird das constitutionelle Oestreich ein Postulat bleiben.
Denn nach unsrer Ueberzeugung würden die Ungarn, wenn ihnen in Be¬
zug auf die pg.rtk8 aänexas die nöthigen Garantien gegeben würden. wozu
aber die Regierung durchaus nicht geneigt ist. die Hoffnung hegen dürfen,
im Reichsrathe bald eine überwiegende Macht zu bilden. Wenn sie dennoch
sich der Verfassung gegenüber bis jetzt ausschließlich negativ verhalten, so liegen
dem verschiedene, nicht überall gleiche Motive zu Grunde. Gemeinsam ist
allen wohl die Erwägung, daß die negative Haltung für jetzt die bequemste und
sicherste ist, daß jedes Entgegenkommen der Ungarn eine Schwächung ihrer auf
dem Boden eines alten von jedem Ungarn noch als bestehend anerkannten
Rechtes festgewurzelten Position wäre, und daß es an der Regierung ist, ihrer¬
seits mit Vergieichsvorschlägcn hervorzutreten. Hierin stimmen die verschiedenen
Parteien wohl überein, nicht aber in dem Ziele und in den anderweitigen Mo¬
tiven ihres Widerstandes. Die schroffen Nationalisten wollen eben nur Magy¬
aren sein und fragen in ihrer fanatischen Selbstgenügsamkeit, in der zum natio¬
nalen Dogma gewordenen Ueberzeugung von der Vorzüglichkeit des magyarischen
Stammes wenig nach gesteigerter politischer Bedeutung; die Gemäßigten da¬
gegen, die eigentlichen Politiker der Nation, wissen nur zu gut, daß sie ihre
hervorragende Stellung nur unter der Bedingung behaupten können, daß ihre
nationale Begeisterung über jeden Verdacht erhaben ist. Schon in ruhigen Zei¬
ten dürfen sie, wenn sie ihr Ansehn nicht compromittiren wollen, ihre ge¬
mäßigten Ansichten nur mit der äußersten Vorsicht laut werden lassen; in Au¬
genblicken der Aufregung aber müssen sie völlig dem allgemeinen Impulse fol¬
gen, um sich nur über den Fluthen zu erhalten, die bei jedem Schwanken, bei
dem geringsten Verdacht der Schwäche über sie hinweggehen würden. Sie
folgen der Bewegung und leihen ihr sowohl ihre überlegenen Talente als auch
die moralische Autorität, deren sie im Lande genießen. Endlich aber, — und
das ist wohl das bedeutendste unter den Motiven, die sich für die Zurückhal-
tungZder Ungarn anführen lassen, — fehlt das Vertrauen aus die Dauerhaftigkeit
der östreichischen Monarchie. Ungarn fühlt sich sicher und stark im Besitze sei¬
ner alten Verfassung und Nationalität. Soll es diesen vermeintlich unerschütter¬
lichen Besitz mit der Ähre vertauschen, die tonangebende Macht in einem Staate
zu werden, der die Bedingungen zu einer erneuerten Existenz zwar sucht, aber
noch nicht gefunden hat, dessen zugleich anspruchsvolle und unfruchtbare, passive
äußere Politik durchaus keine Bürgschaft für seine Befähigung zur Lösung der
ihn umschlingenden Verwickelungen bietet? Wir billigen, in der Ueberzeugung,
daß Ungarn nur in der lebendigen Gemeinschaft mit den übrigen Theilen der
östreichischen Monarchie sich zu einem einflußreichen, kräftigen Gliede des euro¬
päischen Staatensystems heranbilden kann, die starre, auf Ueberschätzung der
eigenen Kraft beruhende Selbstgenügsamkeit des magyarischen Nationalismus
durchaus nicht; aber sie ist vollkommen naturgemäß und erklärlich, so lange
das neue Oestreich noch in dem Netze der alten Traditionen verstrickt ist, die
weder mit dem Systeme der innern Verschmelzungspolitik, von dem es seine
Rettung hofft, vereinbar sind, noch auch den Anforderungen der gegenwärtigen
Weltlage irgendwie entsprechen.
Man darf daher auch nicht glauben, daß mit der Beschickung des Neichs-
raths durch die Ungarn die Sache bereits überwunden sein würde. Der äußere
Abschluß der Verfassung (von Venetien sehen wir hier ganz ab) würde keines¬
wegs zugleich den Abschluß des Nationalitätenkampfes bezeichnen; wohl aber
würde er den verschiedenen Nationalitäten Gelegenheit geben, ihre Kräfte auf
verfassungsmäßigen Boden zu erproben und gegen einander zu messen. Wer wollte
es wagen, einem solchen Kampfe einen günstigen Verlauf, einen glücklichen Aus¬
gang mit Sicherheit vorherzusagen? Wohl aber darf man behaupten, daß,
wenn überhaupt die Wiedergeburt des Reiches möglich ist, sie nur dadurch er¬
reicht werden kann, daß die widerstrebenden, innerlich verfeindeten Elemente
sich in nächster Nähe, in einer Versammlung auseinanderzusetzen und dadurch
eben die Möglichkeit einer inneren Wiedervereinigung anzubahnen suchen, und
wan darf sich wohl der Erwartung hingeben, daß, wenn die verschiedenen con¬
currirenden Gewalten die Lage der Dinge richtig beurtheilen, die Monarchie
neu gekräftigt aus dem Conflicte hervorgehen wird.
Die Gefahr der gegenwärtigen Situation liegt offenbar darin, daß der
Hauptgegensatz im Innern des Staates seinem Wesen nach der Ausgleichung
widerstrebt. Nationalitäten haben die natürliche Tendenz, eine die andere zu
beherrschen, oder sich von einander zu trennen: wenn sie es nicht vermögen zu
herrschen, so wollen sie wenigstens selbständig sein; aber ganz und gar wider¬
strebt es ihrer Natur, sich mit einander zu verschmelzen; sie sind daher der
sprödeste, zäheste Stoff, den ein Staatsmann zu behandeln haben kann. Das
Wichtigste und nächste Ziel, wonach die östreichische Stacttskunst zu streben hat,
^ daher, den absolut starren Gegensatz der Nationalitäten in den auch bei
^er äußersten Schroffheit der Gegenstellung immer doch der Ausgleichung fähigen,
^ >hr zustrebenden Gegensatz politischer Parteien zu verwandeln. Ist dies Ziel
Reicht, so ist die Hauptgefahr für den Staat überstanden. Die Vervollstän-
b'gnug des Parlamentes würde der erste Schritt zu diesem Hiele sein, aber
eben nur ein Schritt. Auch wäre es thöricht zu glauben, daß man, nachdem
dieser erste Schritt gethan, die Parteien sich selbst überlassen könnte. Parteien
bedürfen unter allen Umständen d-r Leitung; sie zu leiten, ist im constitutionellen
Staate ein wesentlicher Theil der Regierungskunst. Vorzugsweise wichtig ist
aber die thätige Einwirkung der Regierung auf die Parteien in Verhältnissen,
wie die östreichischen, wo es sich darum handeln wird, aus den heterogensten
Elementen Parteien zu bilden, die durch gemeinsame politische Grundsätze so
fest zusammengehalten werden, daß die nationalen Antipathien sie nicht zu trennen
vermögen.
Es ist ein bedenkliches Symptom, daß schon in dem gegenwärtigen Reichs-
rathe die Parteien der Führung des Herrn v. Schmerling sich entziehen, ja
in den bedeutendsten Fragen ihm unzufrieden gegenübertreten. Wir sehen die
tieferen Ursachen dieser Erscheinung weniger in den augenblicklichen, allerdings
den Tadel stark herausfordernden Wendungen seiner Politik; denn diese sind
zum Theil nur Konsequenzen früherer Handlungen und Unterlassungen; wir
sehen sie vorzugsweise darin, daß er das Werk der Staatseinigung im Gegen
sah gegen Ungarn begonnen hat; einerseits hat er damit etwas an sich Unmög¬
liches erstrebt; andererseits ist er gerade dadurch mehr und mehr in Tendenzen
verstrickt, zu Experimenten verleitet worden, die mit der Unirungspolitik in
directen Widerspruche stehen. Es fehlt seiner Politik die Einheit, die Concen-
tration auf einen Punkt, ohne die ein Erfolg unmöglich ist. Gelingt es ihm,
die Ungarn zur Beschickung des Reichsrathes zu bewegen (wozu indessen die
gegenwärtige Haltung seiner Politik, z. B. in Betreff Kroatiens, wenig Hoff¬
nung giebt), so wird ihm noch einmal Gelegenheit geboten sein, das Einigungs¬
werk in praktischer Weise weiter zu fördern, wenn er einsichtsvoll und entschlossen
genug ist, durch eine kräftige und liberale Politik die östreichischen Constitu¬
tionellen dahin zu bringen, den Ungarn ohne alle Rücksicht auf nationale Ri¬
valität sich anzuschließen, und wenn er, was freilich nach seinem bisherigen
Verhalten auch nicht zu erwarten steht, in der .äußeren Politik eine Rich¬
tung einzuhalten weiß, die den Ungarn jeden Vorwand zu trotziger Zurückhal¬
tung abschneidet und sie mit der Ueberzeugung erfüllt, daß in dem verjüngten
Oestreich gerade der Entwickelung ihrer nationalen Interessen der weiteste Spiel¬
raum geboten ist, und die andererseits dem Staate eine erhöhte Sicherheit ge¬
währt in den Gefahren , denen er durch seine vielfachen Beziehungen zu den
europäischen internationalen Verhältnissen ausgesetzt ist.
Nur eine Regierung, die in sich einig, unbeirrt von Antipathien und
Sympathien, jeden ihrer Schritte nach der Rücksicht auf die erstrebte Staats¬
einheit abmißt, kann hoffen, das begonnene Werk zum Ziele zu führen. Das
Unternehmen, einen Complex von Nationen, die bisher nur im Cabinete des
Kaisers und in der Armee Einigungspunkte gehabt haben, in einen constitutio¬
nellen Einheitsstaat umzuwandeln, also die Elemente, deren Widerstreit in den
letzten Jahrzehnten den Staat dem Zerfallen nahe gebracht hat, selbst zu Trä¬
gern des Einheitsgedankens zu machen, dies Unternehmen ist so riesenhaft, daß
es nur gelingen kann, wenn die gesammte Thätigkeit des Staates auf diesen
einen Punkt sich concentrirt, wenn alles, was zu der Erreichung des erstrebten
Zieles in keiner Beziehung steht, als hemmend und hindernd abgewiesen wird,
so viel der Staat es abzuweisen vermag. Wenn man nun bedenkt, daß Oest¬
reich durch alle Traditionen mehr als irgend ein anderer Staat von allen Punk¬
ten seiner ausgedehnten Peripherie nach den verschiedensten Richtungen hin en-
gagirt ist, daß alle diese Traditionen, wie sie im Lause der Jahrhunderte sich
zu einem bunten Systeme der großen Politik aufgethürmt haben, den Wechsel
der Weltverhältnisse überlebt haben, daß Oestreich der einzige größere Staat
des Kontinents ist, der in einer Periode politischer Neubildungen sein Heil auf
die unveränderte Erhaltung des bestehenden Staatensystems gesetzt hat, so be¬
greift man leicht, daß mit diesem Princip das für die innere Gestaltung deS
Staates angestrebte Ziel schlechterdings in einem unlösbaren Widerspruche steht.
Die allgemeine Ratlosigkeit diesem Widersprüche gegenüber spricht sich in dem
einen Wunsch: Erhaltung des Friedens aus. Gewiß ein nicht blos
durch die verzweifelte Finanzlage gerechtfertigter Wunsch! — Ein Wunsch,
dem die Erkenntniß zu Grunde liegt, daß jede Verwickelung nach Außen die
centrifugalen Kräfte im Innern ermuthigen und stärken werde. Ist denn
aber das abstracte Friedensbedürfniß schon eine Bürgschaft für die Erhaltung
des Friedens? Beseitigt es die Spannungen und Verwicklungen, die in ihrer
Wirkung auf die inneren Zustände fast eben so drückend und gefährlich sind
als der Krieg selbst? Werden die Feinde des Staates dadurch entwaffnet,
daß man stets wiederholt: Oestreich bedarf des Friedens, Oestreich muß ent-
Waffnen! Man will jeden Conflict vermeiden und vermag es doch nicht
über sich, die Positionen aufzugeben, deren Behauptung einen baldigen Zu¬
sammenstoß mit den Nachbarn fast unvermeidlich macht. Auch kann Oestreich
gar nicht, selbst wenn es wollte, ohne Weiteres alle gefährdeten Stellungen,
die es inne hat, aufgeben. Um so mehr aber muß es bedacht sein, eine
Deckung zu suchen, die seinen Gegnern Achtung einflößt; es muß um jeden
Preis die Beziehungen abbrechen, deren Bestehen wegen ihrer Unvereinbarkeit
Mit der Gesammtstaatsidee nur dazu dient, die particularistischen Hoffnungen
der Stämme jenseits der Lcytha zu ermuthigen.
Es ist ein ganz richtiger Gedanke, daß Oestreich, um der Schwierigkeiten
seiner Lage Herr zu werden, und besonders um sein Verhältniß mit Ungarn
in ordnen, sich aus Deutschland zu stützen hat. Aber gewähren ihm etwa die
^üttelstaaten diese Stütze? Kann ein östreichischer Abgeordneter, der tief durch¬
sungen ist von der Ueberzeugung, daß alles an die Beseitigung des inneren
Conflictes zu setzen sei, wirklich glauben, die Ungarn würden durch ein östreichisch-
miitelstaatliches Rcformproject bereitwilliger gemacht, ihre Kräfte dem Aufbau
des Gesammtstaates zu widmen? Allerdings liebt man in Ungarn die Bundes-
reformprojecte; aber doch nur deshalb, weil man sich klar des Widerspruchs
bewußt ist, in dem dieselben mit der angestrebten organischen Neichseinheit
stehen und weil man daher von ihnen ein Aufgeben der.Gesammtstaatsidee hofft ;
das haben wir im Jahre 1863 gesehen. Und vor allem ist es wunderbar, daß
man in Oestreich einer Macht die Fähigkeit zu helfen und zu stützen zutraut,
die ihrerseits ganz auf Oestreichs Schutz angewiesen ist, die ohne fremde Pro¬
tektion gar nicht existiren kann. Daher kann sich auch Herr Fröbel eine östrei¬
chisch-mittelstaatliche Politik nicht anders denken, als in engster Verbindung mit
Frankreich, das dem Bunde die Kraft gewähren soll, die er in sich selbst nicht
besitzt! — Oestreich bedarf der Unterstützung Deutschlands, das heißt nichts
anderes, als Oestreich bedarf der Unterstützung Preußens; jede andere Aus¬
legung dieses Satzes ist verkehrt. Es ist sehr zu bedauern, daß gerade in den
parlamentarischen, liberalen Kreisen Oestreichs, die das Wohl des Reiches in
der aufrichtigen Durchführung der Verfassung sehen, eine einsichtsvolle Wür¬
digung der deutschen Verhältnisse so schwer Eingang findet und namentlich die
Abneigung gegen Preußen durch dessen Erfolge gesteigert worden ist. Zum Theil
liegt dem wohl der Verdacht zu Grunde, als ob in Preußen die öffentliche
Meinung der östreichischen Verfassungsentwickelung gegenüber eine feindselige
Stellung einnehme. Dieser Verdacht ist aber nicht begründet. Abgesehen von
der äußersten radicalen Partei, die einen Zerfall Oestreichs wünscht, und von
der Kreuzzeitungspartei, die in ihrer eingewurzelten Antipathie gegen alles, waS
liberal und constitutionell heißt, seltsamerweise die Grundlage einer preußisch-
östreichischen Allianz in der Rückkehr zum Absolutismus oder etwa zum October-
diplom sucht, wünscht man in Preußen der constitutionellen Entwickelung Oest¬
reichs gerade im eigenen Interesse den besten Erfolg. Denn es ist doch sehr
klar, daß Preußen auf die Dauer sich nur mit einem verfassungsmäßigen Oest¬
reich auseinandersetzen kann, weil nur das Oestreich des Februarpatentes im
Stande ist, seine Kräfte nach einer Richtung hin zu entwickeln, in der ein
Conflict mit Preußen nicht zu erwarten ist. Das alte Oestreich muß, zumal
da es in Italien völlig auf eine unfruchtbare Defensive zurückgeworfen ist, seine
Kraft in der rivalisirenden Gegenstellung gegen Preußen suchen: das neue Oehl>
reich, sobald es sich erst so weit gefunden haben wird, um die Richtung und
den Umfang seiner Aufgaben zu übersehen, wird, man möchte sagen ganz un¬
willkürlich, in ein gutes Einvernehmen mit Preußen treten, dessen Eifersucht es
dann nicht zu fürchten hat, dessen Freundschaft ihm aber von hohem Werthe sein
muß. Man hat in Preußen allerdings ernste Zweifel, ob die Kräfte des östrei¬
chischen Staates der schweren Aufgabe gewachsen sein werden, aber man wünscht,
daß sie es seien. Man ist zu tief durchdrungen von der Ueberzeugung, daß
das Gleichgewicht Europas das Dasein einer starken Macht im Südoste» des
Continents erfordert, als daß man die Auflösung der Monarchie wünschen
könnte; nur Rücksichten der Selbsterhaltung würden Preußen zu einer Politik
bestimmen können, die dem Bestände des Kaiserstaates gefährlich wäre.
Auch in den leitenden Kreisen des östreichischen Staates kann man sich
noch nicht dazu entschließen, das zu thun, was die Lage der Dinge gebieterisch
fordert. Wohl scheint man von den Vortheilen, von der verhältnißmäßigen
Sicherheit, die das preußische Bündniß gewährt, überzeugt zu sein. Man möchte
aber diese Vortheile genießen, ohne ein Opfer dafür zu bringen, ohne sich den
Bedingungen zu unterwerfen, deren offene Annahme allein ein derartiges Bünd-
niß möglich macht. Hält Oestreich an seiner alten Maxime fest, in jeder Erwei¬
terung des preußischen Machtbereiches (wir sprechen nicht von einer eigentlichen
Gebietsvergrößerung) eine Schmälerung der östreichischen Macht zu sehen, so
bleibt ihm allerdings nichts übrig, als die Wiederaufnahme seiner alten deut¬
schen Politik. Daß durch diese Wendung aber das Bündniß mit Preußen so
gut wie gesprengt ist, kann man sich doch in Wien nicht verhehlen. Ebenso
wenig darf man daran zweifeln, daß in diesem Falle die Rivalität mit Preußen
einen weit bitterem Charakter, als sie je vorher gehabt hat. annehmen würde,
und daß dieselbe auf lange Zeit alle Kräfte des Staates absorbiren, ihn von
der Heilung seiner inneren Schäden ablenken und bei jeder entscheidenden Wen¬
dung in den südeuropäischen Angelegenheiten den allerernstesten Gefahren aus¬
setzen müßte. Eine entschiedene Wiederaufnahme der traditionellen deutschen
Politik wäre ein ebenso entschiedener Bruch mit den inneren Regcnerations-
besirebungen, deren Erfolge wesentlich von der äußeren Sicherheit des Staates
abhängig sind, wie diese wiederum ihre beste Bürgschaft in dem guten Einver¬
nehmen mit Preußen findet.
Wenn man nun aber hofft, in Frankreich einen Stützpunkt für die alte
antipreußische Bundespolitik zu finden, so ist allerdings zuzugestehen, daß Frank¬
reich ein natürliches Interesse hat, der vordringenden Politik Preußens, die bei
weiteren Erfolgen zu einer außerordentlichen Stärkung der deutschen Macht führen
wüßte, entgegenzuarbeiten und also für den Augenblick Oestreich und die Würz¬
burger zu begünstigen. Daß es aber dessenungeachtet mit der Solidität einer
östreichisch-französischen Allianz sehr schlecht bestellt sein würde, davon muß ein
B
Seit zwei Monaten tagt wieder unsere Ständeversammlung, eine Frist,
die lang genug ist, um einen kleinen Rückblick zu erlauben. Hut sich auch bis
jetzt nicht eben Weltbewegendes in ihrem Schoße ereignet, so durfte man doch
auf die öffentliche Haltung eines Ministeriums gespannt sein, welches zu einer
für Gesammtdeutschland so kritischen Zeit ernannt wurde und über welches doch
bei seinem Antritt so wenig zu sagen war. Bis jetzt scheinen freilich diejenigen
Recht zu behalten, welche damals vor weitgehenden Hoffnungen sowohl als
Befürchtungen warnten und die Fortsetzung eines gemüthlichen bescheidenen
Ganges der Staatsmaschine, wie er einem ordentlichen Mittelstaate ziemt, so
lang ihm Gott das Leben schenkt, als das Wahrscheinlichste prophezeien. Es
ist wesentlich der Eindruck eines harmlosen Stilllebens, den die Verhandlungen
unsrer Landesvertretung machen.
Dennoch spiegelt sich eben darin wieder ein Stück unseres nationalen Lebens.
Die häusliche Zurückgezogenheit eines Mittelstaats ist heutzutag kein Zufall,
auch nicht ein freier Entschluß, sie liegt vielmehr in der Natur der Sache. Sie
hängt mit dem Gang, welchen unsre nationalen Angelegenheiten genommen
haben, aufs Engste zusammen. Die Frage des deutschen Constitutionalismus
wird in Berlin entschieden, das Schicksal der Herzogthümer ruht in der Hand
unsrer Großmächte, was bleibt einer mittelstaatlichen Kammer übrig, als heute
eine Eisenbahn von zwei Meilen Länge zu beschließen, morgen die Besoldung
der Schulmeister und Revisoren aufzubessern, und übermorgen — das Geld für
die Gesandtschaften in Paris und Se. Petersburg zu verwilligen?
Jetzt ist gerade ein Jahr vergangen, da ging es lebhafter in der Kam¬
mer zu. Von acht zu acht Tagen wurde der arme Ministertisch mit Inter¬
pellationen wegen Schleswig-Holstein gequält, der Halbmondsaal hallte von küh¬
nen und pathetischen Reden wieder, und mehr als einmal bekam es die Negie¬
rung zu hören, daß, wenn die Mittelstaaten sich nicht energisch aufrafften, sich
eng verbündeten und auf das Volk gestützt den Gewaltthaten der Großmächte
gegenüber die Sache des Rechts durchsetzten, ihr letztes Stündlein geschlagen
habe. Die Mittelstaaten haben sich weder aufgerafft noch eng verbunden, noch
auf das Volk gestützt, und ihre Anträge zu Gunsten des Herzogs von Schles¬
wig-Holstein ruhen noch friedlich in den Ausschüssen zu Frankfurt am Main.
Aber was die bedrohlichen Folgen betrifft, so scheint die Regierung noch immer
guter Dinge zu sein. Die Kammer selbst ist sichtlich zu einer richtigeren Werth-
Schätzung der Mittel kleinstaatlicher Politik zurückgekehrt und hütet sich Anfor¬
derungen zu stellen, eins welche die Ministerbank zu ihrem eigenen größten Leid¬
wesen mit non xossumus antworten muß. Bayern darf sich nachträglich Glück
wünschen, daß während der ganzen Zeit sein Landtag nicht versammelt war
und somit manches nutzlose Wort ungesprochen geblieben ist.
Diese Veränderung in der ganzen Physiognomie ist das Jnteressanteste
an der diesjährigen Session. Ein einziges Mal, am 28. December, wurde eine
obligate Jnterpellation über den Stand der Herzogthümerfrage an den Minister¬
tisch gerichtet, sie wurde in ebenso obligater Weise am S. Januar vom Frhrn.
v. Varnbühler beantwortet, und damit war es zu Ende. Neues erfuhr man
natürlich bei dieser Gelegenheit nicht. Denn daß der Minister sich mit Ent¬
rüstung gegen die Möglichkeit von Abmachungen mit dem Ausland verwahrte,
verstand sich von selbst. Daß er eine Coalition des „übrigen" Deutschlands zur
Zeit für nicht räthlich erklärte, war ein offenherziges Geständnis) darüber, daß
entweder schon die ersten Vorbesprechungen keinen Erfolg gehabt hatten, oder daß
man in den maßgebenden Kreisen die Lage der Mittelstaaten noch keineswegs
für so bedenklich ansehe, um die Souveränetät einer gemeinsamen Triaspolitik
zum Opfer zu bringen. Wenn Herr v. Varnbühler endlich mit vollem Vertrauen
von der Einigkeit der beiden Großmächte sprach, so drückte sich darin vollends
die Resignation eines Staatsmanns aus, der sich der Grenzen seiner Macht
bewußt ist.
So bescheiden ist Herr v. Varnbühler geworden, daß er ordentlich feurige
Kohlen auf die Häupter derjenigen sammelt, welche ihn des politischen Ehr¬
geizes beschuldigt hatten. Bescheidenheit ist sein einziger Ehrgeiz. Als am
16. Februar bei der Berathung des Budgets der auswärtigen Angelegenheiten
die große Politik noch einmal leicht gestreift wurde und Oesterlen wieder seine
unvermeidlichen Triasprojecte zum Besten gab, äußerte Herr v. Varnbühler mit
liebenswürdiger Offenheit, es sei überhaupt nicht Sache der kleinen Staaten,
große Politik zu treiben, er halte es mit dem Ausspruche eines geistreichen
Mannes: die große Politik sei eine einfache Sache, wenn man 500,000 Bajonnete,
und eini unmögliche Sache, wenn man 20,000 habe; und weise setzte er hinzu,
es genüge für Würtemberg, sich als einen gebildeten Staat kund zu geben, in
Welchem die politische Freiheit richtig zugemessen sei. Wiederholt erklärte der
Minister, in dessen Hand das auswärtige Amt und die Verkehrsanstalten ver¬
einigt sind, daß er sich weit mehr als Lenker der Verkehrsinteressen, denn als
Lenker der auswärtigen Politik betrachte, seine Aufgabe sei vor allem Eisen¬
bahnen zu bauen, und auch die Posten seines auswärtigen Departements ver¬
theidigte er keineswegs mit politischen Gründen, sondern mit den Interessen
des Verkehrs und der Industrie, welche eine auswärtige Vertretung des Staa¬
ts erheischten. Solche Unschuldserklärungen können nun freilich, gerade weil
sie so angelegentlich wiederholt wurden, einigermaßen verdächtig scheinen; allein
unter den gegenwärtigen Umständen war doch ihre Aufrichtigkeit kaum anzu¬
zweifeln, sie drückten nur die Wirklichkeit der Lage aus, und der Minister war
klug genug, aus der Noth eine Tugend zu machen.
Allein wie jede Tugend, welche bis zum Exceß getrieben wird, hat auch
solche Bescheidenheit ihre bedenkliche Seite. Derselbe Minister sprach das un¬
zweifelhaft wichtige Wort aus. daß Würtemberg keine Insel sei, und doch ist
sein würtembergischer Staatsbegriff ganz geeignet, ja er scheint beinahe die Ab¬
sicht zusahen, für eine insulare Auffassung des würtembergischen Staatslebens
Propaganda zu machen. Ist dies wirklich seine Absicht, so kommt ihm dabei
die allgemeine politische Abspannung und Ernüchterung trefflich zu statten.
Zeigen sich Negierung und Kammer bei dem Gang der Schleswig-holsteinischen
Angelegenheit resignirt, so ist dies nur der Reflex der allgemeinen Stimmung,
welche sich, nachdem die auflnausende Begeisterung des vorigen Jahres ver¬
flogen ist, der Bevölkerung bemächtigt hat. Daß es so kam, war unvermeid¬
lich, und es ist gut so. Mag man es immerhin bedauern, daß so viel löblicher
Eifer, so viel edler Enthusiasmus ohne Resultate aufgebraucht worden ist. mag
man es doppelt bedauern, daß gerade an der Herzvgthümerfrage die bittere Er¬
fahrung gemacht werden mußte, so ist doch das vergangene Jahr eine unschätz¬
bare Lehre für unsre politische Arbeit gewesen. Es hat den zweifelhaften Werth
einer nationalen Agitation gezeigt, hinter welcher nicht die Macht eines organi-
sirten Staates steht, den Werth von Bereinen und Bolksversammlungen, welchen
keine andern Executivorgane zu Gebote stehen, als die Regierungen von ein
paar Dutzend uneinigen Duodezstaaten. Es hat gezeigt, daß auch die laut und
nachdrücklich manifestirte Gesinnung einer staatlosen zersplitterten Gruppe kein
wirkliches Gewicht in eine politische Entscheidung zu werfen vermag. Es hat
die Ohnmacht unsrer Kleinstaaterei, selbst wo Uebereinstimmung aller in einer
Rechtsüberzeugung vorhanden ist, aufs Klarste dargethan und ebendamit die
Einsicht in Ziel und Mittel für die Hebung unsrer nationalen Schäden wesent¬
lich gefördert. Insofern verdient das Jahr, welches den Zollverein wieder zu¬
sammentrieb und Schleswig-Holstein durch die preußische Armee befreite, mit
zwei rothen Strichen in unserm nationalen Kalender angestrichen zu werden.
Aber freilich, dies sind Wahrheiten, welche denen am schwersten eingehen,
auf deren Kosten sie gemacht worden sind. Nicht daß man sie nicht einsehen
sollte. — woher käme sonst der Haß gegen Preußen? Aber sie einzugestehen,
ist eine andere Sache. Ist es ein Wunder, wenn die nächste Folge die ist, daß
man verbittert über den eigenen Mißerfolg sich ans sich selbst zurückzieht, in
sein miltelstaatliches Sonderleben einspinnt und die Fehler überall sucht, nur
nicht da, wo sie wirklich liegen? Empfindet man es ohne Frage lebhaft, daß
wir einfach bei Seite geschoben wurden, und unsre Soldaten Tag für Tag die
Parade bezogen, während Düppel und Alsen erobert wurden, so ist doch dieses
Gefühl, eine Demüthigung erlitten zu haben, zur Zeit stärker als die leiden¬
schaftslose politische Erwägung und der Entschluß dafür zu wirken, daß Ähn¬
liches uns künftig erspart sein möge. So ist es erklärlich daß, wenn man nur
auf die Oberfläche blickt, die particularistische Strömung sich verstärkte und hef¬
tig aufschäumte, wie es jederzeit der Fall sein wird, wenn der Gang der Er¬
eignisse ihr ein verständliches Memento zuruft.
An Vorwänden, mit welchen der Particularismus sich bedeckte, hat es ihm
nie gefehlt. Daß sie ihm gerade jetzt besonders reichlich zuflössen, dafür sorgte
das gegenwärtige Regiment in Preußen, seine innere Mißregierung wie seine
Behandlung der Herzogthümerfrage. Ich brauche nicht zu schildern, in welcher
Weise diese Umstände von unsern radicalen Particularisten ausgebeutet wurden.
Sie trieben den Scherz so weit, daß sie den Holsteinern ein förmliches Condv-
lenzschreibcn zu ihrer Befreiung übersandten. Erfreulicher ist es, daß die Führer
unsrer Demokratie es endlich müde wurden, die moralische Mitverantwortlich¬
keit für die lustige Studentenpvlitik des bisherigen demokratischen Organs zu
tragen, welches zwar ganz amüsant zu lesen ist, aber die politische Bildung sei¬
ner Partei doch in einem zweifelhaften Licht erscheinen ließ. Es kostete nicht
wenig Mühe, bis die Herren Hölder, Seeger, Fetzer u. s. w. definitiv sich end¬
lich von der Partei des „Beobachter" lossagten und ein eigenes Organ zur
Vertretung ihrer Ansichten gründeten, und ihre Stellung wäre jetzt ohne Zwei¬
fel günstiger, wenn sie früher schon den Schritt gethan hätten, der eine längst
unerträglich gewordene Situation klären mußte. Auch hat das neue Blatt, die
»schwäbische Zeitung", mit nicht geringen Schwierigkeiten zu kämpfen, die zum
Theil in der Natur der Sache liegen. Daß der Preußenhaß gegenwärtig im
demokratischen Lager populär ist, ist erklärlich und es ist immer schwieriger Vor¬
urtheile zu bekämpfen als ihnen zu schmeicheln; mißlicher noch ist. daß das
neue Blatt, während doch gerade die Hauptdifferenz der beiden Fractionen in
der deutschen Frage liegt, eben in diesem Punkte nur ein unbestimmtes Pro¬
gramm aufstellte, dessen Wortlaut der „Beobachter" höhnisch als sein eigenes
«cceptiren konnte. Indessen stellte sich bald der Unterschied deutlich heraus.
Bekannte sich auch das neue Blatt zu einer Föderativpolitik, so suchte es doch
«eben den „Hegemoniegelüsten" auch den Particularismus zu bekämpfen, es
nutzte zwischen dem preußischen Staat und seiner gegenwärtigen Regierung zu
unterscheiden und zeigte insbesondere das Bestreben, sich bald auf einer Linie
Zu halten, auf welcher es die Berührung mit den nationalen Parteien außer¬
halb Schwabens nicht verlor. Uebrigens sieht es seine Aufgabe wesentlich auch
darin, die inländischen Fragen im Sinne seiner Gründer zu erörtern. Es erschien
"'u 1. Januar, also fast gleichzeitig mit der Eröffnung der Session.
Daß die gegenwärtige Session, welche vorzugsweise der Berathung des
Budgets gewidmet ist. keine ernsten Conflicte in ihrem Schoße birgt, läßt sich
jetzt schon voraussehen. Es herrscht ein ziemlich verträgliches Verhältniß zwischen
der Negierung und der Kammer. Gleich zur Eröffnung der Session hatte die
Regierung dem Land eine Ueberraschung bereitet, indem sie am Vorabend die
Ordonnanzen des Bundestags aus dem Jahre 1834, betreffend die Presse und
das Vereinswesen, aufhob, eine Maßregel, die guten Eindruck machte, obwohl
damit zunächst nur wieder die Gesetzgebung von 1817 in Kraft trat. Ihren
guten Willen, ihre constitutionelle Gesinnung hat die Regierung wiederholt
versichert. Ein anderes ist freilich, ob sie sich bald dazu entschließen wird, den
Wünschen nach umfassenden Reformen, wie sie'in der Adresse der 2. Kammer
ihren Ausdruck gefunden haben, zu willfahren. Diese Reformen sind haupt¬
sächlich dreierlei Art, einmal eine Reform der Landesverfassung, wobei es vor¬
nehmlich aus die Beseitigung der Privilegirten (Ritter und Prälaten) aus der
zweiten Kammer, sowie aus die Aufhebung des Geheimenraths abgesehen ist;
sodann eine Reform der Justizgesetzgebung im Sinne der Durchführung des
öffentlichen und mündlichen Verfahrens, wofür längst die nöthigen Vorarbeiten
vorhanden sind, endlich eine durchgreifende Vereinfachung des Verwaltungs¬
organismus.
Was die Verfassungsabänderungen betrifft, so wird man eine Vorlage der
Negierung in dieser Session schwerlich erwarten dürfen. Sodann darf die
Reform der Justizgesetzgebung so lange als vertagt gelten, als Herr von Neurath
an der Spitze des Justizdepartements steht. Als Vorstand des Geheimrathes
war eben er es gewesen, der das vom vorigen Ministerium eingeleitete Neor-
ganisationswerk hintertrieb und die von unsern ausgezeichnetsten Juristen aus¬
gearbeiteten Entwürfe einer Strafproceßordnung und einer neuen Gerichtsor¬
ganisation zurückhielt. Dagegen hat sich die Kammer bereits mit solchem Nach¬
druck für Reformen in der Administration ausgesprochen, daß das Ministerium
sich wenigstens vorläufig zu bestimmten Versprechungen genöthigt sah. Die
Veranlassung dazu gab das von der Regierung eingebrachte Gesetz über Er¬
höhung der Besoldungen und Pensionen der Staatsdiener. Die Linke wollte
die Zustimmung zu diesem Gesetz solange verweigern, bis die Regierung einen
Organisationsplan vorgelegt habe. Sie ging dabei von dem unstreitig richtigen
constitutionellen Grundsatz aus, daß eine Volksvertretung nur durch Zurück¬
haltung der Mittel der Regierung Zugeständnisse abnöthigen könne. Auch war
ein gewisser Zusammenhang beider Fragen insofern vorhanden, als man hoffen
konnte, durch Vereinfachung des Va'rwaltungsapparates auch eine Verminderung
der Beamtenzahl zu erzielen. Praktisch stellte sich freilich dem theoretischen
Grundsatz die Erwägung entgegen, daß bei den gegebenen Verhältnissen die
Erhöhung der Besoldungen auf alle Fälle dringlich war und im Interesse der
Billigkeit keinen Aufschub duldete. Es zeigte deshalb wenig politischen Takt,
wenn von radicaler Seite in ächt vormärzlicher Art wieder ein Sturm gegen
die Beamtengehalte überhaupt heraufbeschworen wurde und der „Beobachter"
seine Spalten mit banausischen Zuschriften vom Lande anfüllte. Es blieb nichts
übrig als die Aufbesserungen zu verwilligen und dafür die Versprechungen der
Regierung entgegenzunehmen.
Auch gegen das Institut des Geheimeraths sielen bei dieser Gelegenheit
scharfe Streiche. In der That gehört seine UnPopularität zu denjenigen Punkten,
in welchen die öffentliche Meinung des Landes am einstimmigsten ist. Der Ge-
heimerath gilt theils für eine überflüssige, theils für eine schädliche, mit dem
Geist der Verfassung in Widerspruch stehende Institution. Er hat nämlich eine
doppelte Function. Einmal ist er die oberste Instanz in Verwaltungssachen,
bildet also die Spitze in dem berühmten würtembergischen Instanzenzug, zu
dessen Charakterisirung es genügt, wenn ich anführe, daß Bagatellsachen wie
Z- B. die Verweigerung der Bürgerrechtsertheilung, nicht weniger als fünf In¬
stanzen durchzumachen haben. Noch weit mißliebiger aber ist der Geheimerath
als berathende Behörde für alle gesetzgeberische Arbeiten. Geht ein Gesetz¬
entwurf nach gründlichster Vorbereitung aus den Ministerien hervor, so muh
er, bevor er den Kammern vorgelegt wird, die Instanz des Geheimerathes
Passiren. Auf diese Weise ist, wie eine reiche Erfahrung lehrt, dafür gesorgt,
daß die Gesetzentwürfe entweder auf Nimmerwiedersehen verschwinden oder
auf merkwürdige Weise zugerichtet werden oder im günstigsten Falle Monate
und Jahre lang verschleppt werden. Man begreift, daß eine solche Institution
lich nicht der besonderen Gunst der Kammer und des Landes erfreut.
Arier den Arbeiten, welche die Kammer bisher erledigt hat, verdient das
Cvmvlcxlastengcsetz und eine Schulnovelle genannt zu werden. Jenes bildet
einen Nachtrag zur Ablösungsgcsetzgebung, die damit endlich zur Ruhe kommt.
Nachdem die Lasten des Bauernstandes abgelöst worden sind, war es nur
billig, daß die aus eidlichen Gütern oder Stadtgemeinden ruhenden Lasten in
betreff von Kirchen- und Schulbänken u. s. w. gleichfalls abgelöst wurden.
Daß nicht schon längst eine Vereinbarung auch hierüber erzielt wurde, war
k'uzig die Schuld des Adels selbst, welcher durch seine auch beim deutschen
^und angebrachten Ansprüche auf Nachtragsentschädigungcn die Avlösungsgesetz-
Sebung der Jahre 1848/49 immer noch in Frage stellte. Die Regierung gab
I^t das gewünschte feierliche Versprechen ab. daß sie das Ablösungswerk gegen
Sprüche und Angriffe jeder Art aufrecht halten werde, und da man an der
Zustimmung der 1. Kammer zum neuen Gesetz nicht zweifelt, darf damit eine
^'eilst'age, welche so lange die öffentliche Meinung des Landes beschäftigte
"ud in Aufregung hielt als erledigt gelten.
Von dem sogenannten Schulgesetz, richtiger Schullehrergesetz, welches der
Kultusminister vorlegte, hatte man sich zuvor größere Dinge versprochen. Da
Herr v. Golther für ein verhältnißmäßig freisinniges Element des Ministeriums
gilt, schien die Hoffnung nicht allzu kühn, daß, wenn einmal die gesetzgeberischen
K'äste in diesem Punkt angestrengt wurden, das Beispiel des badischen Nach¬
barstaats von einigem Gewicht sein und die Trennung von Kirche und Schule
wenigstens als allmälig anzustrebendes Ziel ins Auge gefaßt würde. Statt
dessen beschränkt sich das Gesetz, wie es auch von der Kammer angenommen
wurde, wesentlich darauf, die persönliche Stellung der Schullehrer zu bessern
und zu heben, ist also, wenn man so will, ein überaus milder Anfang in der
Richtung nach jenem Ziel. Gerade das Beispiel Badens schien für den Mini¬
ster wenig verlockend und er sprach sich etwas naserümpfend über die „experi-
mentirende" Regierung des Nachbarlandes aus, ein Wort, das ihm von der
Karlsruher Zeitung eine empfindliche Zurechtweisung einbrachte. Die Aeußerung
war um so weniger taktvoll gewesen, als eben am selben Tage König Karl
einen feierlichen Besuch am karlsruher Hofe abstattete und damit den anerken-
nungswerthen Anfang machte, ein nur allzu lang zum Nachtheil des Landes in
lächerlicher Weise gespanntes Verhältniß wieder in ein vernünftiges Geleise zu
bringen.
Uebrigens darf zur Entschuldigung des Cultusministers nicht verschwiegen
werden, daß in der That die öffentliche Meinung des Landes für die Trennung
von Kirche und Schule noch wenig vorbereitet ist. Auch in der Kammer sind
alle weiter gehenden Vorschläge mit großer Mehrheit abgeworfen worden. Wir
hätten leicht eine ähnliche Agitation erleben können, wie sie jenseits des
Schwarzwaldes aufgeführt wird, und dazu sind denn allerdings unsere Minister
schwerlich die rechten Leute, um trotz eines künstlich heraufbeschworenen Wider¬
standes, gestützt auf eine aufgeklärte Majorität, eine gute Sache kräftig durch-
zuführen.
Wie viel in unserm Lande die kirchlichen und religiösen Vorurtheile noch
bedeuten, sah man auch, als der bechersche Antrag, die Regierung um Vorlage
eines Gesetzentwurfes zur Abschaffung der Todesstrafe zu ersuchen, zur Ver¬
handlung kam. Wie auf ein gegebenes Signal sah sich die Kammer plötzlich
von einer Fluth von Petitionen um Beibehaltung dieser Strafe aus allen
protestantischen Theilen des Landes überschwemmt. Es zeigte sich, daß sie alle
aus den Pietistenconventikeln stammten, welche ein dieser Richtung angehöriger
Abgeordneter in Bewegung gesetzt hatte. Da überdies eine Anzahl protestan¬
tischer Prälaten in der Kammer sitzt (von welchen jedoch einer auch bei diesem
Anlaß zum Aerger seiner Collegen ein rühmliches Beispiel der Selbständigkeit
gab), so spielten die religiösen Gründe bei der Debatte keine kleine Rolle.
Hiervon abgesehen war übrigens die Debatte durchaus auf der Höhe des Gegen¬
standes. Das Resultat war eine unerwartet große Mehrheit zu Gunsten des
becherschen Antrags. Ob freilich die Negierung der Bitte entsprechen wird, ist
noch zweifelhaft. Es scheint, daß sie einen Entwurf einbringen will, der die
Todesstrafe für äußerste Fälle beibehält, aber auf diese beschränkt. Hat sich in
diesem Punkte die Kammer mit Recht über eine künstliche Agitation und weit¬
verbreitete Vorurtheile hinweggesetzt, so wird man die Erfahrung machen, daß
man auch in Schul- und Kirchenfragen nicht vorwärts kommt, wenn man sich
allzuängstlich scheut, an bestehende Vorurtheile zu rühren.
Die Anknüpfung nachbarlicher Beziehungen zu Baden gehört zu den er¬
freulichsten Erscheinungen unseres öffentlichen Lebens. Nicht als ob von Aehn-
lichkeit der Regierungsprincipien in beiden Ländern gesprochen werden könnte.
Nicht im Geringsten; die würtembergischen wie die badischen Staatslenker wür¬
den sich gegen solche Behauptung verwahren. Einen unzweideutigen Beweis
lieferte Herr v. Varnbühler in der schon erwähnten Sitzung vom 16. Febr.,
als Holder an ihn die Zumuthung stellte, das Königreich Italien anzuerkennen,
eine Zumuthung, welche Herr v. Varnbühler diesmal nicht als Vertreter der
Handels- und Verkebrsinteressen, sondern als ehemaliges Ausschußmitglied des
Reformvereins beantwortete, wobei ihm indeß das arglose Bekenntniß ent¬
schlüpfte, daß für die eines eigenen Vertreters daselbst entbehrenden würtem-
bergischen Unterthanen durch die preußische Legation in trefflicher Weise gesorgt
sei. Allein der Besuch unseres Königs bei dem Großherzog Friedrich, die er¬
folgreiche Reise des Freiherrn v. Varnbühler nach Karlsruhe zum Abschluß längst
schwebender Eisenbahnverträge, das Erscheinen des Herrn v. Roggenbach auf
einem Balle seines würtembergischen Kollegen, die — freilich schon öfters da¬
gewesene — Ankündigung einer Zusammenkunft würtembergischer und badischer
Abgeordneter, dies alles sind immerhin Symptome einer neuen Aera — wenig¬
stens unsrer Beziehungen zum Nachbarland, von welchen man nach dem Spruche:
Sage mir, mit wem du umgehst, u. f. w. nur Erfreuliches hoffen kann. Die
badische, Regierung darf großen Staaten zum Muster vorgehalten werde»; so
wird es wohl auch den Stolz Altwürtembergs nicht allzusehr verletzen, wenn
wir meinen, daß in nächster Nähe von ihrer kühnen, entschlossenen und frei¬
si
Herr Redacteur! Unter den mannigfachen Angriffen, welche mein in den
Preußischen Jahrbüchern enthaltener Aufsatz über die Lösung der Schleswig-hol-
steinischen Frage hervorgerufen, zeichnet sich die Beurtheilung von Herrn Pro¬
fessor Biedermann in Ur. 42 und 43 der Deutschen Allgemeinen Zeitung be¬
sonders aus, sowohl durch ihren Achtung gebietenden Umfang als auch durch
einen unverhältnißmäßigen Aufwand von sittlicher Entrüstung. Wichtiger ist
mir, daß Herr Biedermann seine Ansicht in einem in Leipzig vielgelesenen Blatte
ausgesprochen hat. Ich glaube an der Pleiße noch einige Freunde zu besitzen,
und Sie werden, Herr Redacteur, in der Ordnung finden, daß ich ein leipziger
Blatt ersuche, seine Spalten einer Erwiderung zu öffnen.
Zuvörderst muß ich Herrn Biedermann bitten, wenn über ernste vaterlän«
dische Angelegenheiten verhandelt wird, weniger von meiner Person und mehr
zur Sache zu sprechen. In einem Athem wirft er mir vor: ängstliche Rück¬
sichtsnahme, Mangel an Glaube» an mich selbst, vermcssnen Muth der Ver¬
zweiflung, trage Thallosigleit, endlich und vor allem leidenschaftliche Heftigkeit.
Ich bekenne, daß ich beim Besprechen vaterländischer Dinge leicht warm werde;
mir ist es nicht gegeben, über Deutschlands trübste Zeit mit derselben breiten
Gemächlichkeit zu reden, wie über die Schicksale Hinterindiens. Aber wenn
meine Weise zu schreiben wenig gemein hat mit der epischen Ruhe und Fülle
der Leitartikel der D. A. Zeitung — folgt daraus, daß meine Gegner der Mühe
überhoben sind, meine Gründe zu widerlegen? Herr Biedermann und andere
Gesinnungsgenossen scheinen in der That diese Schlußfolgerung gezogen zu
haben. Mir ist noch kein Blatt zu Gesicht gekommen, das auch nur versucht
hätte, die Bedenken zu widerlegen, welche ich gegen die Lebensfähigkeit eines
herzoglichen Schleswig-Holstein unter preußischer Oberhoheit ausgesprochen habe.
Ich habe versucht zu beweisen, daß durch die von Herrn Biedermann er¬
sehnte sogenannte bundesstaatliche Unterordnung Schleswig-Holstein ein Vasallen¬
staat Preußens werden würde. Statt dies zu widerlegen, ruft man von allen
Seiten, das sei schmählicher Hohn. Ich aber habe im trockensten Ernste geredet
und ich bitte meine Gegner, sich bei den beiden, mit den Institutionen des
Bundesstaates praktisch vertrauten Völkern zu erkundigen, ob diese in der Un¬
terwerfung der Herzogthümer unter die Militärhoheit Preußens irgend etwas
zu entdecken vermögen, was dem Bundesstaate gleicht. Ich bin überzeugt, jeder
Schweizer, jeder Nordamerikaner wird aus diese Frage nur mit verwundertem
Lächeln antworten. Ich habe sodann ausführlich nachgewiesen, daß ein von
Parteihader und nationalen Gegensätzen zerrissener, mit Schulden überladener
und dennoch zu durchgreifenden inneren Reformen gezwungener Kleinstaat nicht
fähig sein wird, Deutschlands Nordmark auf die Dauer zu schirmen. Je mehr
man sich die Details dieses kleinstaatlichen Daseins vergegenwärtigt, desto mehr
wächst das Mißtrauen gegen seine Lebenskraft.
Man stelle sich das Nebeneinander königlicher und herzoglicher Behörden
lebhaft vor die Augen; man male sich die verwickelte Lage aus, welche in
jenem angegriffenen Aussatze kurz geschildert wurde; man beachte, daß die
HerzogMimer ein Offiziercorps für ihr Heer nicht besitzen und in dieser Hinsicht
wesentlich von Preußens Gnade abhängen; man denke sich die unklaren Rechts¬
verhältnisse jenes norddeutschen Kanals, auf dessen Bau Preußen nicht ver¬
zichten kann und dessen Ufer preußisch sein müssen: — und man wird zugestehen,
daß die sogenannte bundesstaatliche Unterordnung ein unhaltbarer Zustand ist
— ein Zustand. den die Einheitspartei zwar im äußersten Nothfalle als einen
traurigen Nothbehelf annehmen, doch nimmermehr von vornherein erstreben
darf. Die Geschichte des deutschen Bundes bietet bereits ein warnendes
Beispiel. Die Herrschaft Knyphausen stand lange Zeit unter der Suzeränetät
des Großherzogthums Oldenburg. Hier, unter ungleich einfachern Verhält¬
nissen, endete der halbe unwahre Zustand damit, daß der größere Staat den
kleineren verschlang. An den Herzogthümern wird nach menschlichem Ermessen
derselbe Fall noch weit früher eintreten. Auf all diese sachlichen Erwägungen
weiß Herr Biedermann nur Folgendes zu antworten: es soll gar kein dauer¬
hafter Zustand in den Herzogthümern begründet werden, es soll ein Provisorium
dort bestehen, bis dereinst der deutsche Bundesstaat ins Leben und Schleswig-
Holstein in organischen Zusammenhang mit demselben tritt!! So redet derselbe
Mann, welcher der preußischen Regierung für und für die Verlängerung des
Provisoriums mit harten Worten vorwirft. So redet derselbe Mann, welcher
Zugesteht, daß der deutsche Bundesstaat nur durch ein außerordentliches Ereigniß,
vielleicht erst in fünfzig Jahren, gegründet werden kann. Mögen sich die Schles-
wig-Holsteiner bei Herrn Biedermann für seine schmeichelhafte Meinung be¬
danken. Ich kann mich nicht entschließen, einen edlen deutschen Stamm als
einen Cadaver zu betrachten, gut genug, um versuchsweise während zweier
Menschenalter erbkaiserlich- bundesstaatliche Experimente mit ihm anzustellen.
Juden Herzogthümern beginnt endlich, dem Himmel sei Dank, die Einsicht
sich zu regen, daß unsere Nordmark einer endgiltigen Regelung ihrer Verhält¬
nisse bedarf. Schon wagen brave Männer sich offen als Annexionisten zu be¬
kennen — Männer des Bürgerstands, welche man mit den beliebten Schlag¬
wörtern „Junker" und „Reaktionär" nicht abfertigen kann. Während die un¬
deutsche Gesinnung der Particularisien von Tag zu Tag greller hervortritt,
erhebt eine tapfere Partei im Lande bereits den Ruf: „Anschluß an Preußen
um jeden Preis!" Sie stellt, wie dem Patrioten geziemt, die Pflicht gegen
Deutschland höher als die Rücksicht auf das deutsche Privatfürstenrecht, sie be¬
handelt die Einsetzung des Herzogs Friedrich als eine offene Frage. Das sind
gute Zeichen, hocherfreuliche Thatsachen.
Statt auf die Zustände der Herzogthümer einzugehen, klammert sich Herr
Biedermann an zwei Stellen meiner Schrift. Manche ehrenwerthe Männer
meinen, das positive Recht allein müsse in Schleswig-Holstein entscheiden.
Diesen habe ich die Behauptung entgegengestellt, daß die Frage der Herzog¬
thümer nicht nur eine Rechtsfrage ist und daß auch die sogenannt« bundes¬
staatliche Unterordnung mit dem positiven Rechte nicht im Einklange steht. Ein
Herzog, der die Militärhoheit, die Vertretung des Staates nach Außen und
andre Hoheitsrechte an einen andern Fürsten abgetreten hat. befindet sich un¬
zweifelhaft nicht mehr im Genusse der bundesrechtlich vorgeschriebenen Souve-
ränetät. An dieser Thatsache wird durch sittliche Entrüstung nichts geändert.
Alsdann hebt Herr Biedermann einen andren Satz aus meinem Schrift¬
chen heraus und verwickelt denselben mit verschiedenen Bruchstücken aus meinen
„historischen und politischen Aufsätzen" zu einem Knäuel von Behauptungen.
Ich ziehe vor, diesen Knoten, der nicht von mir geschürzt ward, zu durchhauen
statt ihn zu entwirren. Schon mancher einsichtige Freund hat mir vorgeworfen,
daß ich meine Ansichten über die nationale Politik allzu offen ausspreche. Herr
Biedermann dagegen findet meine Meinung undeutlich. Ich erlaube mir, ihm
mit wenigen Worten reinen Wein einzuschenken. Den wichtigsten praktischen
Fortschritt, welchen Deutschlands Einheit in den jüngsten zwei Jahrhunderten
gemacht hat, erblicke ich darin, daß Preußen zu einer Großmacht herangewachsen
ist und verlebte Kleinstaaten beharrlich seinem kräftigen Körper angegliedert hat.
Dieses Staates Macht zu wahren und zu mehren halte ich für die erste Pflicht
des deutschen Patrioten. Trachtet Preußen, wie im gegenwärtigen Augenblicke,
mit einiger Aussicht auf Erfolg nach der Erweiterung seiner Grenzen, so sind
wir alle verpflichtet, dies preiswürdige Unternehmen zu unterstützen. Einen
solchen Gewinn zu mißachten in der Hoffnung auf einen irgendeinmal und
irgendwie eintretenden deutschen Bundesstaat scheint mir verkehrt. Ich habe in
dem von Herrn Biedermann citirten Buche versucht, die ungeheuren Schwierig¬
keiten darzulegen, welche sich einem Bundesstaate monarchischer Staaten von
sehr ungleicher Macht entgegenstellen. Ich kam dabei — auf die Gefahr hin,
die Lieblingsvorstellungen vieler deutscher Gelehrten zu zerstören — zu dem Er¬
gebniß, daß die Geschichte Deutschlands der Entwicklung Italiens näher M)t
als den Zuständen Nordamerikas und der Schweiz. Aber ich weiß, daß viele
Wege nach Rom führen; ich weiß, daß nicht die Logik das höchste Gesetz im
Leben der Völker bildet. Ich bin der doctrinäre Thor nicht, heute schon ein
detaillirtes Programm für eine Frage aufzustellen, welche vielleicht erst in einem
Menschenalter praktisch wird. Herr Biedermann freilich bezeichnet mich als ra¬
dialer Unitarier. Zu seiner Ehre nehme ich an, daß er mein Buch nur durch¬
blättert hat; wenn er auf S. 689 f. nachschlägt, wird er finden, daß er mir
Unrecht gethan hat. — Nur Eines scheint mir schon jetzt sicher: daß Deutsch¬
lands Einheit allein zu erreichen ist durch den Anschluß der Kleinstaaten an
Preußen. Die Weise dieses Anschlusses bangt ab von Verhältnissen, die kein
Seher heute ahnen mag.
Die brennende Frage des Augenblicks dagegen steht nicht in unmittelbarem
Zusammenhange mit der Frage der deutschen Zukunft. Jahrelang haben unsere
Patrioten geglaubt, die Schleswig.holsteinische Frage sei die deutsche Frage selber;
Wer die eine löse, werde auch die andere zum Ende bringen. Die Erfahrung
hat das Irrige dieser Meinung offenbart; und ich zweifle nicht, Herrn Bieder¬
manns jetzige Ansicht, die Schleswig-holsteinische Frage sei die deutsche Frage
«im Kleinen", wird schon in der nächsten Zukunft als gleichfalls unhaltbar sich
erweisen. Wie immer die Entscheidung im Norden fallen mag, das Problem
der deutschen Zukunft wird nach wie vor unverändert vor uns liegen. Ist es
überhaupt möglich, einen Staat von 19 Millionen Menschen mit einigen
Dutzend Kleinstaaten zu einem lebensfähigen Bundesstaat zu verschmelzen, so
wuß dies auch möglich sein, wenn dieser Staat 20 Millionen zählt. Die
Unterordnung Schleswig-Holsteins unter Preußens Oberhoheit bildet keinen
Präcedenzfall für den deutschen Bundesstaat; denn zwischen einem Vasallen und
dem gleichberechtigten Gliede einer großen Föderation ist ein himmelweiter
Unterschied. Desgleichen die Annexion eines bisher abhängigen und augen¬
blicklich herrenlosen Landes, das einer Neuordnung bedarf, bildet keinen Prä¬
cedenzfall für die Annexion von Staaten, welche seit einem halben Jahrhundert
der Selbständigkeit und einer rechtlich anerkannten Ordnung sich erfreuen. Da¬
her glaube ich, auch die unbedingten Anhänger des Bundesstaates sind in dem
Vorliegenden außerordentlichen Falle verpflichtet, für die Annexion zu wirken,
damit nicht einem problematischen zukünftigen Gute zu Lieb' ein realer gegen¬
wärtiger Gewinn verscherzt werde. Herr Biedermann mag diese Ansichten falsch,
er mag sie ruchlos oder auch „unorganisch" finden: an Deutlichkeit lassen sie
sicherlich nichts zu wünschen übrig.
Der Ausgang des transalbingischen Handels wird schwerlich den Hoff¬
nungen der Patrioten entsprechen. Die Verbindung Preußens mit Oestreich
^ird, wie zu fürchtrn steht, sich bestrafen, und auch der Zeitpunkt kann kommen,
da fremde Mächte, gewarnt durch die patriotischen Mahnungen mittelstaatlicher
Diplomaten, plötzlich entdecken, das Gleichgewicht im Norden sei gefährdet.
Die Haltung der Presse wird freilich auf diese Dinge nur geringen Einfluß
"den; darum kann einem großen Theil der liberalen Zeitungen doch nicht der
Vorwurf erspart werden, daß sie nicht rechtzeitig verstanden, über einer großen
nationalen Machtfrage den Groll der Partei zu vergessen. Es ist die alte nieder¬
schlagende Erfahrung: so lange beim schäumenden Becher gesungen und geredet
wird, scheinen wir eine Nation; kommt es zum Handeln, so sind wir unser
dreiunddreißig!
Noch ein Wort an meinen Gegner persönlich. Vor einigen Wochen über¬
raschte uns Herr Biedermann durch die Bemerkung, das Verbot der Deutschen
Allgemeinen Zeitung in den vierziger Jahren bezeichne einen Wendepunkt in der
Geschichte Preußens; er knüpfte daran die Vermuthung, das wiederholte Ver¬
bot des Blattes im Jahre 1864 werde abermals verhängnißvoll werden für
den norddeutschen Großstaat. Ich halte die Deutsche Allgemeine Zeitung für
ein sehr ehrenwerthes Blatt; jedoch ob wirklich ein so inniger Zusammenhang
besteht zwischen den polizeilichen Erlebnissen desselben und den Geschicken Preu¬
ßens — über diese Frage ist die historische Kritik zu einem abschließenden Ur¬
theile noch nicht gelangt. Wer mit so hoch gesteigertem Selbstgefühl aus lus-
tiger Höhe auf seine Gegner schaut, dem widerfahren leicht ärgerliche kleine Un-
genauigkeiten. Hätte z. B. Herr Biedermann es der Mühe werth gesunden,
meinen Namen zu lesen, so würde er mich nicht hartnäckig mit einem meiner
Verwandten verwechselt haben, der an meinen politischen Sünden schuldlos ist.
Auch ist es im gesitteten politischen Streite nicht üblich, dem Gegner „herzliches
Mitleid" auszusprechen. Ich wenigstens bedaure, diese christliche Empfindung
des Herrn Biedermann nicht annehmen zu können.
Jene Leser der Deutschen Allgemeinen Zeitung in Leipzig, welche sich noch
mit einiger Theilnahme meiner erinnern, bitte ich einfach, meine kleine Schrift
selber zu lesen. Dann werden sie finden, daß die Deutsche Allgemeine Zeitung
ein unrichtiges Bild von dem Aufsatze gegeben hat. Dann werden sie auch
begreifen, warum ich für die Zukunft darauf verzichte, mit Herrn Biedermann
einen literarischen Straus auszufechten.
Das unterzeichnete Comits ist zusammengetreten zur Veranstaltung einer inter¬
nationalen Ausstellung von Maschinen, Gerathen vnd Erzeugnissen des
Gartenbaues, der Land- und Forstwirthschaft, sowie von Gegenständen der
häuslichen Oekonomie des Land, und Forstwirthes, Sie wird hier am 13. Mai
dieses Jahres in den Anlagen der Gartenbau-Actien-Gesellschaft „Flora" beginnen.
Die Stadt Köln, am belibtesten Strome Deutschlands, im Knotenpunkte des
ausgedehntesten Eisenbahnnetzes und im Mittelpunkte reicher Fabrikbezirke, empfiehlt
sich von selbst durch ihre ausgezeichnete Lage wie durch ununterbrochene Verbindung
wie dem ganzen In- und Auslande.
Die von Herrn Gencralgartendirector Leurs zu Potsdam, dem Meister und
Nestor der Gartenbciukunst, geschaffene» Anlagen der „Flora" bieten bei ihrer Aus¬
dehnung und glücklichen Umgebung den zweckmäßigsten kostenfreien Raum zur Aus«
Nahme der reichsten Auswahl von Gegenständen der gedachten Art.
An alle Fabrikanten und Besitzer solcher Gegenstände im In- und Auslande
richten wir daher die Einladung zur Beschickung der Ausstellung, welche mit Hilfe
von Specialcvmmissioncn durch das unterzeichnete Generalcomitö nach dessen näheren
Anordnungen geleitet werden soll.
Indem wir bemerken, daß Gegenstände, die nicht mehr in den Händen der
Producenten sind, keineswegs ausgeschlossen sein sollen, wird nur der Wunsch um
Angabe des Namens und Wohnortes derselben ausgesprochen.
Die Ausstellung soll folgende Hauptabtheilungen umfassen:
1) Erzeugnisse der Landwirthschaft, einschließlich derjenigen der landwirthschaft«
u'eben Gewerbe sowie aller aus das Landleben Bezug habenden Sammlungen der
verschiedensten Art;
2) Geräthe und Maschinen für die Landwirthschaft;
3) alle auf das Landleben sowie die Forstwirthschaft bezügliche Gewerbe-
Zeugnisse, z. B. Pläne und Modelle von Wohn- und Wirthschaftsgebäuden und
deren Bestandtheilen, Hausrath, Arbeitsgeräthc, Nahrungsmittel und Geräthschaften
in deren Bereitung und Benutzung;
4) Producte und Geräthe der Forstwirthschaft und der Jagd sowie dahin
gehörige Sammlungen;
5) Producte und Geräthe des Gartenbaues und der Gartenarchitektur sowie
^artenmöbel, Statuen, VoliSren. Fontainen, Zelte :c. 2c.
Es wird Vorsorge getroffen werden, daß die eingesandten Maschinen während
°er Ausstellung in Betrieb gesetzt werden.
Zu Preisrichtern werden die bewährtesten Sachverständigen Deutschlands und
°" Staaten, denen die Aussteller angehören, berufen werden.
Zum Zwecke der Verwesung werden Ausstellungsgegenstände angekauft, wozu
^"ligstens 10,000 Thaler verwandt werden sollen. Die Aussteller werden daher
^sucht, bei Anmeldung der Gegenstände anzugeben, ob solche angekauft werden
Trinen, außerdem aber folgende Bedingungen zu beachten:
. 1) Die Ausstellung beginnt am 15. Mai und ist mit dem 1. Juni 1865 ge¬
flossen. Es wird jedoch deren Verlängerung auf weitere vierzehn Tage vorbehalten.
2) Aussteller verpflichten sich durch die Einsendung, die Gegenstände der Aus¬
stellung sür deren Dauer zu belassen und sie binnen acht Tagen nach deren Beendi¬
gung zurückzunehmen,
3) Alle Gegenstände, deren Beschaffenheit es erfordert, werden in bedeckten Räu¬
men aufgestellt, so weit solche beschafft werden können.
4) Die Anmeldung der Ausstellungsgegenstände hat bis spätestens den 30. März,
die Uebernahme vom 15. April bis 5. Mai stattzufinden.
5) Ausgezeichnete und gute Leistungen werden nach dem Urtheile von Nichter-
cvmmissivnen mit Preismedaillen von Gold, Silber und Bronce sowie mit ehrenden
Anerkennungen prämiirt..
t>) Eine kostenfreie Versteigerung der dazu von den Ausstellern bestimmten Ge¬
genstände soll nach dem Schlüsse der Ausstellung stattfinden.
7) Freier Transport, resp. Transportermäßigung steht auf den meisten in- und
ausländischen Eisenbahnen in Aussicht. Ebenso sind Verhandlungen wegen Zoll-
und Steuererleichterungen eingeleitet, deren Resultat später veröffentlicht werden wird.
"
Alle Anfragen und Briefe sind franco an die Aktiengesellschaft „Flora
in Cöln einzusenden.-
Die Herren Geh. Reg.-Rath ZK». Hartsteii», Director derZlandwirth-
schaftlichen Akademie, und v»n Nath, Präsident des landwirthschaft-
lichen Vereins für Rheinpreußen, beide zu Bonn, sind gern bereit, technische
Fragen zu beantworten.
Vr. Ernst v. Möller, Reg.-Assessor: Preußisches Stadtrecht. Breslau, 1864.
Verlag von Clar.
Die politische Wiedergeburt des festländischen Europa wurde durch die
Kroße französische Revolution eingeleitet. Durch die Macht der Umstände und
Mißstände angetrieben hatte man von den englischen Verhältnissen ein allge¬
meines Schema des staatlichen Lebens abstrahirt, und alle Reformgedanken, so
Weit sie auch übrigens ausschweifen mochten, kamen wenigstens darin überein,
mit der allgemeinen Staatsordnung den Anfang zu machen und vorläufig noch
gar nicht ernstlich an die andern natürlichen Einheiten und kleineren Kreise des
politischen Daseins zu denken. Das Programm der politischen Freiheit sowie
auch das des wirthschaftlichen Wohlstandes, wie es vom achtzehnten Jahrhun¬
dert aufgestellt wurde, war in einem so großen Stile geschrieben und bewegte
sich so hoch über der Einzelgliederung des staatlichen Organismus, daß man
sich nicht wundern darf, wenn es nur die großen Züge und die allgemeinen,
ja oft vage zu nennenden Principien andeutete. Die spätere Zeit mußte in
dem Bestreben, die Principien in die Wirklichkeit einzuführen, die nun schon
°se erprobte Erfahrung machen, daß sich weder politische Freiheit noch wirt¬
schaftlicher Wohlstand durch den blos auf die großen Kreise des öffentlichen
Daseins berechneten Schematismus gewährleisten lassen. Die reifere poli¬
tische Praxis hat sich daher immer mehr mit dem Gedanken befreundet, die
deinen natürlichen Einheiten des politischen Daseins d. h. die Gemeinden als
den Boden anzusehen, durch dessen Bearbeitung allein eine Sicherstellung
und Ausbildung der eigentlich staatlichen Freiheit möglich ist. Von diesem Ge¬
danken war bereits die Steinsche Städteordnung getragen und jetzt, nachdem
bald ein halbes Jahrhundert abgelaufen ist, erkennen Freund und Feind der
svrtdrängenden Entwicklung die kaum überschätzbare Bedeutsamkeit eines regsamen
^emeindelebens an. Man sieht jetzt klar ein, daß das Gebäude der politischen
Freiheit, wenn es nicht in die Luft gesetzt sein soll, auf die Selbständigkeit der
kleineren Lebenskreise gegründet werden müsse, und man drängt daher auf an¬
gemessene Gemeindefreiheit.
Die politische Praxis Steins war den theoretischen Einsichten anderthalb Men¬
schenalter vorausgeeilt. Nach Beseitigung des Uebels, durch welches die Reform
hervorgerufen worden war, machte sich auch wieder die alte Neigung der Restaura¬
tionen geltend. Nicht einmal die Zeit von Achtundvierzig, welche doch die all¬
gemeine Ordnung so ernstlich berührte, vermochte nachhaltig auf die städtische Freiheit
zu wirken. Man kann getrost behaupten, daß die preußische Gesetzgebung rück¬
sichtlich des Städtewesens noch nicht einmal dem Geist der Steinschen Reformen
gerecht wurde. Der auf die achtundvierziger Ereignisse folgende Rückschlag hat
die Gemeindeangelegenheiten noch weit mehr als die staatsbürgerliche Freiheit
dem restaurativen Geiste überliefert, so daß wir uns jetzt in einem Zustande
befinden, in welchem das Gemeinderecht in nicht geringer Disharmonie mit dem
gesetzlich anerkannten (ich sage nicht mit dem praktisch geübten) Staatsrechte steht.
So viel auch noch für die Ausbildung und Gestaltung der allgemeinen
constitutionellen Formen zu wünschen übrig bleibt, und so gering auch das Maß
der staatsbürgerlichen Theilnahme an den allgemeinen politischen Functionen
ist, so wird dennoch die Gemeindefreiheit noch ziemlich weit davon entfernt,
ihrerseits diesem Maße zu entsprechen. Das erste und unumgänglichste Erfor-
derniß gesunder politischer Gestaltung ist recht mangelhaft erfüllt: die Ueber¬
einstimmung zwischen dem allgemeinen Staatsrecht und dem Gemeinderecht
ist noch nicht hergestellt. In den beiden Gebieten des öffentlichen Lebens ist
noch wenig Einheit des Princips anzutreffen. Wahrend das Staatsleben von
dem Geiste der Emancipation und der allmäligen Beschränkung des Staats¬
absolutismus bereits durchdrungen ist. wird die Regelung- des Gemeindelebens
noch vorwiegend vom Princip der Bevormundung beherrscht.
Glücklicherweise ist gegenwärtig die Theorie und die herrschende Gesinnung
dem thatsächlich bestehenden Gemeinderecht in einer ähnlichen Weise voraus,
als es die politische Praxis unter den Händen Steins den damaligen Zeitideen
war. Schlimme »Erfahrungen, unter denen die neueste Gestaltung des Consti-
tutionalismus in Preußen nicht die einzige ist, haben die Ueberzeugung befestigt,
daß es an der Zeit sei, gleichsam Cellularpathologie zu treiben und die letzten
Ursachen der krankhaften Entartungen des Verfassungslebens in den kleinen
natürlichen Einheiten des politischen und socialen Daseins zu suchen. Diese
Ueberzeugung ist durch theoretische Studien an der Geschichte fremder Staats¬
körper und selbst durch romantische Vertiefung in die einstige Blüthe deut¬
schen Städtethums gefördert worden. Das englische Selfgovernment ist zum
Schlagwort geworden, und so wenig es auch in der Breite der politischen
Bildung seinem historischen und thatsächlichen Sinne gemäß verstanden werden
mag, so übt doch schon das Wort „Selbstregierung" einen nicht zu unterschätzen¬
den Zauber aus. Vielleicht grade weil man das Detail der englischen Zustände
und den unläugbaren Verfall derselben nicht kennt, vielleicht grade weil man
sich die Schlagwörter nach den Instincten auslegt, die unsern eignen Bedürf¬
nissen einen Ausdruck geben, befreundet man sich mit dem Gedanken, ein Ana¬
logen der englischen Gemeindeverfassung aus deutschen Boden zu verpflanzen,
und vergißt, daß der augenblickliche Zug des britischen Staatslebens fortwäh¬
rend in der Richtung der Centralisation arbeitet. Allein alle diese Jnconve-
nienzen der Auffassung beeinträchtigen den Hauptvortheil nicht, der offenbar in
der Verbreitung der Wahrheit liegt, daß eine relative Selbständigkeit des Ge¬
meindelebens die unerläßliche Vorbedingung gesicherter Verwirklichung der all¬
gemeinen freiheitlichen Institutionen sei. Ebenso erfreulich als die Gestaltung
der Theorie ist die Gesinnung, die uns bereits vielfach in der Handhabung der
städtischen Rechte entgegentritt. Ist auch der enge Rahmen, welchen das be¬
stehende Gemeinderecht dem freien Wirken verstattet, wenig einladend, so über¬
windet doch der politisch regsame und zuversichtliche Geist des Bürgerthums
häufig genug die beengenden Schwierigkeiten. Man geht (und dies ist ein vor¬
treffliches Zeichen der reiferen Auffassung) oft grade von dem Grundsatz aus,
auch den geringsten Spielraum, den das thatsächliche Recht offen läßt, mit allen
Kräften zu erfüllen und auszubeuten. Man sucht die Ungunst des einschränken¬
den Schematismus durch gesteigerte Thatkraft zu ersetzen und für das Gemein¬
wohl auch dann thätig zu sein, wenn die vorgeschriebenen Bahnen nur eine
^age Bewegung erlauben.
Zu der politischen Seite der Gemeindefreiheit und überhaupt des öffent¬
lichen Lebens der kleineren Kreise gesellt sich nun in neuester Zeit auch noch
die wirthschaftliche. Bis jetzt ist freilich die volkswirthschaftliche Emancipation
überwiegend mit den Genossenschaften beschäftigt gewesen; allein es dürfte sich
sehr bald dem Schlagwort der politischen Decentralisation noch ein anderes, näm¬
lich das der wirthschaftlichen Decentralisation an die Seite stellen. Freiheit
und Wohlstand, Politik und Wirthschaft stehen in so inniger Wechselbeziehung,
^ß es bald nicht mehr angehen wird, die eine ohne die andere zu betrachten.
Vielleicht dürfte sich auch der Streit, welcher gegenwärtig in wirthschaftlicher
Hinsicht zwischen der Initiative des Einzelnen und der künstlichen Einwirkung
des Staats noch immer unentschieden fortdauert, einst durch die Einführung
"ner unparteiischen dritten Macht d. h. der Gemeindegewalt ausgleichen lassen.
Doch wir können uns hier^nicht darauf einlassen, das Princip der wirthschaft¬
lichen Decentralisation mehr als anzudeuten. Der Gesichtspunkt ist noch zu
"°u. und wir verzichten gern auf die Beschäftigung mit einer erst in unbestimm¬
ten Umrissen erscheinenden Zukunft. So aber leuchtet ein', daß die politische
Localisation des öffentlichen Lebens ohne die wirthschaftliche ein halbes Werk
bleiben müsse Nur auf der Grundlage des localen Wohlstandes ist auch eine
Skiffe politische Würde aufrecht zu erhalten. Dasselbe Princip, welches ein
Gegengewicht gegen die politisch centralisirmde Macht fordert, bringt auch
die wirthschaftliche Befreiung von der übermächtigen Anziehungskraft der
großen Mittelpunkte mit sich.
Die bisherige Betrachtung läßt uns ebenso die Berechtigung als die
Schwierigkeit einer Ausgabe begreifen, wie sie durch das Werk, auf das
wir oben hingewiesen haben, wirklich gelöst worden ist. Wie man sich auch
zu dem bestehenden Rechte verhalten möge, eine einfache und klare Darstellung
desselben muß in jedem Falle erwünscht sein. Auch möchte die Wichtig'
keit der Leistung durch die voraussichtlichen Chancen der bestehenden Zu¬
stände nicht beeinträchtigt werden. Müssen wir uns noch lange unter den
gegenwärtigen Rechtsverhältnissen hinschleppen, so werden wir einen besonnenen
Führer in dem Labyrinth der Detailbestimmungen, an dem es bis jetzt fehlte,
willkommen zu heißen haben. Sollten dagegen die Aussichten einer gründlichen
Reform wachsen, so muß eine unparteiische Darstellung zu einem höchst
schätzbaren Anhaltspunkt der dann um so dringender gebotenen Orienti-
rungen werden. Das Möllersche Buch vereinigt in einem mäßigen Bande
alles, was für den bei den Angelegenheiten der preußischen Städte direct oder
indirect Betheiligten an Nechtsvestimmung en erheblich werden kann. Sein
nächster Zweck ist ein praknscher; es will offenbar jedermann in den Stand
setzen, die rechtlichen Verhältnisse der Städte in einer solchen Genauigkeit zu
übersehen, daß er, falls er bctheiligter Beamter ist, für die einzelnen Functionen
durchgängig mit Gesetzeskenntniß ausgestattet wird. Man würde jedoch fehl¬
greifen, wenn man die uns vorliegende Schrift zu jenen Elaboraten rechnen
wollte, die einzig und allein dazu bestimmt sind, einem praktischen Bedürfniß
abzuhelfen. Allerdings füllt das Buch des Herrn v. Möller eine Lücke der
praktischen Nechtsliteratur aus; aber es thut noch viel mehr. Es stellt durch
seine eigenthümliche Art der Darstellung für die fragliche Literaturgattnng einen
edleren Typus auf; es trägt das Gepräge einer Kunst, die bei uns bis jetzt
noch nicht sonderlich geübt wird. Mit dem Charakter des praktischen Hand¬
buchs vereinigt es den einer echt wissenschaftlichen Arbeit. Schon der Titel,
der, wie wir hervorheben müssen, nicht „Städterecht" sondern „Stadtrecht"
lautet, verräth dem Sachkenner, daß es hier auf eine wissenschaftliche Ein¬
heit der verschiedenen Städteordnungen abgesehen ist. Die übliche Aus¬
fassung erlaubt bis jetzt noch nicht, im politischen Sinne von einem Stadt¬
recht zu reden. Der Gedanke des Juristen richtet sich bei diesem Worte un¬
willkürlich auf die alten Reste privatrechtlicher Ueberlieferungen. Man denkt,
wenn gegenwärtig von einem Stadtrecht die Rede ist, etwa an ganz particuläre
Erbordnungen, die sich aus den städtischen Gewohnheiten oder sogenannten
Willküren herschreiben, und bedient sich zur Bezeichnung des Inbegriffs der
Verfassungs- und Vcrwaltungsnormen noch mit gutem Grunde des Ausdrucks
„Städterecht". Der Verfasser eines preußischen Stadtrechtes mußte beinahe
denselben Weg einschlagen, auf welchem die Bearbeiter des deutschen Privat¬
rechtes zu einer einheitlichen Verschmelzung der particulären Rechte zu gelangen
suchen. Er hatte einerseits mit weniger, andererseits aber mit mehr Schwierig¬
keiten zu kämpfen. Wie schon gesagt, sind die Haupthindernisse in dem that¬
sächlichen Rechtszustande selbst zu suchen. Die Schwierigkeit der Aufgabe liegt
in den bereits oben angedeuteten Schicksalen der Gesetzgebung. Es verhält sich
mit einer principiellen Durcharbeitung des preußischen Städterechtes ähnlich,
wenn auch vielleicht nicht ganz so schlimm, wie mit einer wissenschaftlichen Auf¬
fassung des römischen Erbrechtes der späteren Kaiserzeit. Das alte Erbrecht
beruhte auf dem Princip der Agnation und wurde allmälig von Einzelbestim¬
mungen aus dem Gesichtspunkte der bloßen Blutsverwandtschaft durchbrochen,
und so eine Principlosigkeit unvermeidlich, welche die größte Auslegungsvirtuo¬
sität (selbst bei dem besten Willen des Interpreten) zu Schanden werden
ließ. Alle Rechtszustände einer Uebergangsepoche, in welcher unverein¬
bare Principien zu Compromissen nöthigen, werden stets der wissenschaftlichen
Verschmelzungsversuche spotten. Nun ist freilich die Beschaffenheit unseres
Städterechts nicht ganz und gar nach der Analogie jenes römischen Erbrechts
zu beurtheilen. Die Grundsätze, welche die Steinsche Reform leiteten, sind
wenigstens in vielen Thatsachen verkörpert, und konnten daher nicht allzusehr
durchbrochen werden. Dennoch ist das Schwanken der Gesetzgebung einer wohl
gegliederten principiellen Gestaltung der Thatsachen wahrlich nicht günstig ge¬
wesen. Viermal, um mit den eigenen Worten des Verfassers zu reden, hat
man die Grenzen zwischen der Staats- und der Gemeindegewalt verschieden
gezogen. Ein solches Experimentiren oder, vielleicht besser gesagt, Laviren
führt nothwendig zu Gestaltungen, an denen die entgegengesetztesten Grundsätze
ihren Antheil haben, und die daher für eine wissenschaftliche Auffassung wenig
lockend sind. Nur was aus einheitlichen Antrieben hervorgegangen ist, kann
das Gepräge einer harmonischen Gliederung an sich tragen, und nur das
organisch gegliederte Gebilde, welches von einer principiellen Einheit durch¬
drungen ist, gestattet der Wissenschaft eine höhere Bethätigungsart. Wie will
Man Konsequenzen ziehen, wie Auslegungen und Ergänzungen der Gesetze vor¬
nehmen, wenn man nicht weiß, an welche leitende Normen man sich halten
soll? Schon unser allgemeines Staatsrecht krankt nach dieser Seite hin erheblich;
denn die Herbeiziehung eines allgemeinen, gleichsam aus den Particularver-
fassungen der einzelnen Staaten gewonnenen Subsidiarrechtes ist nicht leicht thun-
lich. wenn eine Verfassung so zu sagen ihre eigenen wunderlichen Compromißprin-
cwien in den Weg stellt, d. h. wenn sich enthüllt, daß ihr ein'principieller Schwer¬
punkt in der That fehle. Ein solcher Schwerpunkt fehlt nun aber noch weit mehr im
Gebiet des Städterechts, und außerdem kommt hier noch der die Schwierigkeit
sehr vergrößernde Umstand hinzu, daß das Städterecht oft weit unter dem bereits
geltenden Staatsrecht zurückbleibt. So ist z. B. jedem einzelnen Bürger das
Petitionsrecht gewährleistet; allein man hat neuerdings erfahren müssen, wie
die Stadtverordnetenversammlungen mit Strafen verfolgt wurden, als sie auch
ihrerseits von dem Petitionsrechte Gebrauch zu machen unternahmen. Die Ge¬
schichte zeigt uns überall die Gemeinden und Corporationen als natürliche Ver-
treter und Sprecher in den allgemeinen Landesangelegenheiten, und es ist eine
arge Jnconvenienz, wenn das Petitionsrecht, welches dem einzelnen Bürger
zusteht, der Vertretung einer ganzen Gemeinde in allgemeinen Staatsangelegen¬
heiten streitig gemacht wird. Was aber den Fall anbetrifft, durch welchen in
Preußen die ganze Frage auf die Tagesordnung kam, so kann man sich nicht
genug wundern, daß gerade die Partei, welche die organische Vertretung stets
im Munde führt und gegen die individuelle und atomistische Repräsentation
declamirt, diesmal eine ganz andere Auffassung der Sache beliebte. Wenn man
wirklich den Gemeinden verbieten will, außer in reinen Communalangelegen¬
heiten weder zu berathen und zu beschließen noch als einheitliche Körperschaft
zu handeln, warum nimmt man dann ihre Kundgebungen zu erfreulichen
Staatsereignissen an? Offenbar ist es eine engherzige Auslegung, welche An¬
stand nimmt, die Consequenzen der Verfassungsparagraphen zu ziehen und es
selbstverständlich zu finden, daß das Petitionsrecht des Einzelnen auch dasjenige
der Gemeinden einschließe. Was aber das Schlimmere ist: ist dieses be¬
schränkte Auslegungsprincip so zu sagen selbst geltendes Recht. Angesichts der
Grundsätze des Obertribunals, denen zufolge eine Menge Versassungspara-
graphen zu leitenden Principien einer künftigen Gesetzgebung herabgesetzt und
in ihrer Eigenschaft als Rechtssätze geschwächt werden, ist es ganz unmög¬
lich, in einzelnen Theilen des bestehenden Rechtszustandes einen freieren Ge¬
sichtspunkt eintreten zu lassen. Ueberall und durchgängig zeigt sich der
Widerstreit der neuen allgemeinen Grundsätze und der überlieferten Einzel¬
bestimmungen und kann in der That in vielen, wenn auch nicht in allen Fällen
einen Entschuldigungsgrund für die erwähnte Verfahrungsart des höchsten Ge¬
richtshofes abgeben. Man hat oft nur die Wahl, die Auslegung und logische
Consequenzenziehung ungehörig in Gesetzgebung umschlagen zu lassen, oder aber
gänzlich auf die Geltendmachung principieller Sätze des neuen Staatsrechts
zu verzichten. Soll das bestehende Recht nicht einer nothwendig von entgegen¬
gesetzten Principien verwirrten Dialektik anheimfallen, so muß man meist ganz
von einer principiellen Beleuchtung, Auslegung und Ergänzung der Einzelbestim¬
mungen absehn, oder sich wenigstens hüten, die wissenschaftliche Gestaltung des
Stoffes weiter treiben zu wollen, als die heterogene Beschaffenheit der nun ein¬
mal gegebenen Mischbildungen erlaubt. — Wir glauben daher, daß der Ver¬
sasser des Stadtrechts auch in diesem wichtigen Punkte das Richtige getroffen
hat. Er bekundet sich durchgängig als ein gewissenhafter und besonnener
Jurist und läßt nirgend den Politiker hervortreten. Wir können diese Zurück¬
haltung in einem Rechtsbuch, welches mit der Bearbeitung eines so wider¬
spenstigen Rechtsstoffes zu thun hat, nicht hoch genug anschlagen, obwohl wir
im Allgemeinen der Ansicht sind, daß für ein politisches Rechtsgebiet auch die
Principielle politische Auslegung Platz greifen müsse. Nur die besondere Be¬
schaffenheit unserer von entgegengesetzten Principien durchzogenen Rechtszustände
macht für den juristischen Darsteller eine Ausnahme rathsam, und die Noth¬
wendigkeit dieser Ausnahme erkannt und die aus ihr folgende Methode mit
sicherem Takt gehandhabt zu haben, ist ein anerkennenswerthes Verdienst der
vorliegenden Schrift.
Wenn es überhaupt erlaubt ist, in einem so zurückhaltender Buch, welches
kaum den politischen Standpunkt des Verfassers durchblicken läßt, zwischen den
Zeilen zu lesen, so möchten wir den Schluß ziehen, daß Herr v. Möller
dieses Werk nur als eine Vorarbeit zur Behandlung des allgemeinen preu¬
ßischen Staatsrechts und besonders des Verwaltungsrechts betrachte, und
daß er den Gang des natürlichen Ausbaues des öffentlichen Rechts, durch wel¬
chen gegenwärtig vor allen Dingen ein Fundament in der Gemeindeverfassung
geschaffen werden muß, auch in der Aufeinanderfolge seiner literarischen Pro-
ductionen nachahmen wolle. Wenn diese Vermuthung richtig ist, so würden
Wir urrs nach einer Ergänzung des Stadtrechts durch die Bearbeitung des Rechts
der übrigen Gemeinden und der noch leider immer nicht politisch gleichgiltig ge¬
wordenen Gutsherrschaften vielleicht aus eine in demselben Geiste und mit der¬
selben Objectivität unternommene Darstellung des allgemeinen preußischen Staats¬
rechts Hoffnung machen dürfen^). Besondere Hervorhebung verdient in dem
vorliegenden Buche die Darstellungsweise. Während man in manchen ähnlichen
Werken durch eine gewisse bunte Mischung der Gesetzesworte und des eigenen
Stiles der Verfasser nicht grade ästhetisch berührt wird, erfreut hier die fließende
Stetigkeit des Tons und Sinnes. Gewohnt, das eigentliche Ergebniß sonst
erst selbst aus den Anführungen der Gesetzesstellen und aus den Andeutungen
der Schriftsteller combiniren und construiren zu müssen und wohl gar das
eigentliche Urtheil zu Hilfe zu rufen, wo es den Darstellern rathsam erschienen
ist, sich die Mühe des Urtheilens durch mufivische Komposition von Gesetzes-
stellcn zu ersparen, — wird man in der That sehr erfreulich überrascht, in der
vorliegenden Schrift eine durchweg selbständige Fassung der Gedanken anzutreffen.
Diese Eigenschaft ist nicht nur ein großer Vorzug für die Gemeinverständlich¬
keit und allgemeine Brauchbarkeit eines nicht blos für den Juristen bestimmten
Buches, sondern ist auch an sich selbst betrachtet ein wissenschaftlicher Fortschritt,
weicher Nachahmung verdient. Nur auf diese Weise kann eine gewisse Naive¬
tät und klare Durchsichtigkeit der Darstellung erreicht und der Leser in den
Stand gesetzt werden, stets die eigentliche Meinung des Schreibenden aufzufassen.
Auch hinsichtlich der materiellen Ausführung der Hauptabtheilungen des Ge-
sammtstoffs ist eine höchst sorgfältige Oekonomie anzuerkennen. Die ganze Schrift
zerfällt in vier Theile, von denen der erste sehr gedrängt eine geschichtliche Einlei¬
tung und die allgemeinen Lehren (literarischen Apparat und dergleichen), der zweite
ebenfalls in möglichst knapper Darstellung das Verfassungsrecht, der dritte mit
einer alle übrigen Theile der Schrift überwiegenden Ausführlichkeit das bisher so
sehr vernachlässigte Verwaltungsrecht, und endlich der vierte die äußern Verhältnisse
der Städte zum Staate und seinen verschiedenen Hoheitsrechten mit einer eben¬
falls dem Gegenstande sehr angemessenen Kürze abhandelt. Der Schwerpunkt
der ganzen Darstellung fällt, wie gesagt, nicht in das Vcrfassungs-, sondern in
das Verwaltungsrecht, und in diesem ist wiederum das Capitel vom Stadt¬
haushalt mit dem der praktischen Erheblichkeit des Gegenstandes gebührenden
Raume bedacht. Wie das Staatsbudget den Mittelpunkt der constitutionellen
Functionen abgiebt, so bietet der Stadthaushalt die meisten Anknüpfungs¬
punkte für ein regsames Gcmeindeleben dar. In ihm concentriren sich die
verschiedenartigsten Interessen, und grade in seiner Behandlung werden auch
die principiellen Fragen am merklichsten. Die Politik hängt sich gegenwärtig
mit Recht gern an wirthschaftliche Punkte und setzt sich, wie ja für das allge¬
meine Staatsrecht seit Jahrhunderten üblich ist, auf dem Wege ihres indirecten
Einflusses auf die Finanzen nach allen Richtungen durch.
Für die Genauigkeit und Gemeinverständlichkeit, mit welcher in der übrigens
juristisch ziemlich verwickelten Lehre von der Stadtverfassung die wichtigsten
Punkte ausgeführt werden, mag hier ein charakteristisches Beispiel Platz finden.
Ich erinnere mich nicht, in irgendeiner Darstellung des allgemein staatlichen
Dreiclassenwahlrechts eine solche Deutlichkeit angetroffen zu haben, wie sie sich
rücksichtlich der Abtheilungsbildung bei dem Verfasser des Stadtrechts findet.
Nicht genug, daß er uns völlig anschaulich macht, wie nach dem Census oder
dem Steuerbetrage nach der Abfolge der Summen und in zweiter Linie, wenn
Mehre genau denselben Census haben, nach der alphabetischen Ordnung der
Familiennamen ein Verzeichnis; angefertigt, der ganze Steuerbetrag in drei
gleiche Theile getheilt und nun zugesehen wird, welche Personen mit ihren
Steuerbeträgen das erste Drittel und welche das zweite und letzte Drittel aus¬
füllen, — er belehrt uns auch noch über verschiedene delicate Fälle, in denen
Z. B. jemand das Schicksal hat, mit seinem Steuerbetrage zum Theil in das
eine und zum Theil in das andere Drittel zu fallen, oder etwa der Urtheils¬
spruch der sonst so mächtigen Abfolge der Buchstaben an der Mehrheit der
Schulze oder Müller zu Schanden wird. In jenem ersteren Fall wird der Un¬
glückliche, der heimathlos auf der mathematischen Grenze zweier Abtheilungen
balancirt, aus besonderer Gnade in die höhere Abtheilung aufgenommen.- In
dem andern Falle, in welchem selbst die Sanction der alphabetischen Ordnung
nicht helfen kann, wird die letzte Instanz aller menschlichen Dinge, nämlich seine
Majestät der Zufall angerufen, und das Loos entscheidet zwischen Müller
und Müller, Schulze und Schulze. Dieser einzelne Zug von Genauigkeit
und praktischer Brauchbarkeit mag für viele andere gelten. Es ist in der That
w der Regel nicht leicht, aus schriftlichen Darstellungen ohne Hilfe eigner Er¬
fahrung eine gehörige Anschauung irgendeines fraglichen Sachverhältnisses in
ausreichender Specialität zu gewinnen. Offenbar hat der Verfasser nur vermöge
seiner eignen unmittelbaren und nicht blos aus Büchern geschöpften Kenntniß
vieler Verhältnisse die außerordentliche Bestimmtheit und Deutlichkeit der Detail¬
darstellung erreichen können.
Ein anderer den durchgehenden Inhalt des Rechtsstoffs beireffender Punkt,
den wir nicht mit Stillschweigen übergehen können, betrifft die Sorgfalt, mit
welcher bei allen einzelnen Rechten angemerkt wird, ob bei ihrer Verfolgung der
eigentliche Rechtsweg oder nur das Beschwerdeverfahren bei den Verwaltungs¬
instanzen zulässig sei. Bekanntlich bildet die Regelung der juristischen und der
Verwaltungscompetcnz eine der dornichtsten und von politischen Motiven nicht
c»n wenigsten verschobenen Aufgaben. Die Competenzconflicte find ein Gebiet,
in welchem der gewöhnliche Jurist, der den Grundsätzen der Verwaltung fern
steht, nur eine sehr einseitige Auffassung haben kann. Hiermit soll nicht gesagt
^in, daß der Jurist falsche Principien anzuwenden geneigt sei; im Gegen¬
teil liegt die von uns gemeinte Einseitigkeit in einer ganz andern Richtung.
Man hat in specifisch juristischen Kreisen, in denen man bekanntlich eifersüchtig
genug für die eignen Kompetenzen einzutreten Pflegt, trotz alledem nur selten
eine auch nur annähernde Vorstellung von der praktischen Bedeutsamkeit der
Lanzen Frage und von den Mitteln und Wegen, welche den Regierungen zu
Gebote stehen, um ihre Gewalt über das eigentliche Rechtsgebiet auszudehnen
und tief in Verhältnisse einzugreifen, welche nach natürlichen Grundsätzen und
selbst zu einem großen Theil auch nach den bestehenden Gesetzen in die Sphäre
der richterlichen Gewalt gezogen werden müßten. Grade für Corporationen
und Gemeinden wird die Frage des zugelassenen oder ausgeschlossenen Rechts¬
weges meist von noch viel größerer Wichtigkeit sein, als sie es bereits für die
Einzelnen ist. Man denke z. B. an die Procente der Steuererträge, welche den
Städten für das Erhebungsgcschäft, das sie für den Staat besorgen, gesetzlich
zufallen. Diese Procente sind einer gewöhnlichen Civilforderung ganz gleich;
sie sind gleich einem aus einem Spccialtitel erworbenen Recht zu betrachten,
und es könnte bei ihnen, selbst wenn eine ausdrückliche Bestimmung fehlte, gar
kein Zweifel obwalten, daß ihre Eintreibung gegen den Staat auf dem gewöhn¬
lichen Rechtswege zu geschehen habe. Die politisch bedenklichen und bedeutsamen
Fälle hat man nun noch keineswegs da zu suchen, wo das bestehende Recht
den gerichtlichen Proceß ausdrücklich zuläßt, sondern da, wo es ihn ausschließt
oder nicht ausreichende und deutliche Bestimmungen enthält. Man kann zu¬
versichtlich und von vornherein annehmen, daß die bisherige Gesetzgebung dafür
gesorgt habe, die politischen Functionen der Verwaltungsbehörden vor ungebüh-
rcnder Beeinträchtigung durch allzu viele Anerkennungen der Zulässigkeit einer
gerichtlichen Austragung zu bewahren. Allein es giebt eine Menge streitiger
und auch nicht streitiger Punkte, in denen nur der Kenner der Verwaltung die
Mittel der Rechtfertigung des gerichtlichen Verfahrens in vollem Maße besitzt,
oder in denen nur er allein die Wichtigkeit einer Erhebung des Competenz-
conflictes gehörig übersieht. Es ist daher von großem praktischen Vortheil, in
den einzelnen Fällen eine möglichst genaue Auskunft über Zulässigkeit und Un-
zulässigkeit des Rechtsweges zu erhalten, und grade hierin thut sich unsere Schrift
ganz besonders hervor. Das intricate Thema von den Beziehungen der Justiz
und Verwaltung ist dem Verfasser durchaus geläufig, und er bekundet in
der gelegentlichen und zerstreuten Behandlung derselben, die wir in dem preu¬
ßischen Stadtrecht vor uns haben, ebenso sehr den Kenner der Verwaltung,
als den besonnenen, von den Rücksichten des eigentlichen Rechts erfüllten
Juristen.
Wir haben schon angeführt, daß die Exposition des Verwaltungsrechts, also
die Darstellung der Organisation und der Gegenstände der städtischen Verwal¬
tung den Schwerpunkt des ganzen Werkes bilde. Wenn man bedenkt, wie un-
verhältnißmäßig in den Darstellungen des gemeinen deutschen Staatsrechts grade
das Verwaltungsrecht zurückzutreten pflegt, und wie selbst für die preußische
Staatsverwaltung noch keine Bearbeitung vorhanden ist, die in das Detail in
einem für das praktische Bedürfniß ausreichenden Maße einginge (was offenbar
nur in einem großen, das Ve-rfassunzsrecht gar nicht behandelnden Werke geschehen
kann), so wird man die Ausführlichkeit, mit welcher das städtische Verwaltungs¬
recht dargestellt ist, um so höher zu schätzen wissen. Was die einzelnen Lehren
dieser Abtheilung anbetrifft, so dürften sie zu einem großen Theil nicht blos
für den Geschäftsmann, der bei den städtischen Angelegenheiten betheiligt ist,
ein Interesse haben. Nicht blos der Verwaltungsbeamte und der Jurist, sondern
auch der politische Oekonom wird diese Abtheilung mit Nutzen zu Rathe ziehen.
In dem Capitel, welches von dem städtischen Budget handelt, ist eine eingehende
Darstellung der Steuerverhältnisse gegeben, die für den volkswirtschaftlichen
Kritiker der Gemeindeökonvmie und des Stadthaushalts eine dankenswerthe
Grundlage des Raisonnements darbietet. Die Erhebungsart der wichtigeren
indirecten Steuern, z. B. der Schlacht- und Mahlsteuer, ist mit solcher Anschau¬
lichkeit beschrieben, daß man sogleich eine deutliche Vorstellung von den unend¬
lichen Belästigungen gewinnt, die mit diesen Arten, den Staatssäckel zu füllen,
verbunden sind. Manche überraschende Einzelheit, an die der politische Oekonom
kaum glauben möchte, tritt aus dieser Darstellung der Steuerverfassung zu
Tage. Der gute Glaube, die Zwangs- und Bannrechte seien eine verschollene
Mittelalterliche Ueberlieferung, wird bisweilen gar sehr enttäuscht. Man stellt
sich gewöhnlich vor, daß mit der steinschen Einführung der Gewerbefreiheit jene
Neste der ökonomischen Barbarei nun auch völlig vertilgt seien. Ein Volks-
^irthschafter, dem man heute sagte, daß der ihm zunächst wohnende Müller
noch eine Art Bannrecht gegen das Publicum besitze, d. h. ein Privilegium
habe, alles Korn in seiner Gegend zu mahlen, würde ungläubig den Kopf
schütteln; und dennoch existirt ein solches Zwangsrecht im Verwaltungswege.
Kein Korn darf zur Mühle gebracht werden, ohne von einem Mahlerlaubni߬
schein des Steueramts begleitet zu sein, und dieser Schein, so heißt es in der
gesetzlichen Bestimmung, wird der Regel nach nur auf die Mühlen des Ortes
und der Gegend ausgestellt. Nur der Finanzminister kann hiervon eine Aus¬
nahme zulassen. Aus denselben Gründen, aus welchen diese Beschränkung statt¬
hat, wird auch die Errichtung von Mühlen, die durch Thier-, Wasser- oder
Dampfkraft getrieben werden sollen, an die specielle Genehmigung des Mini¬
steriums geknüpft. — Der eben erwähnte Zug volkswirtschaftlicher Naivetät,
welche die Ortsmühlen im Wege der Steuerverwaltung beschützt und dem Pu¬
blikum vorschreibt, wo es sein Korn mahlen lassen soll, dürfte nur noch in der
Verwaltung des Salzmonopols Seinesgleiches finden.
Die jetzt wieder wichtiger gewordene Polizeicompetenz sowie die Armen-
pflege wird eingehend erörtert. Auch findet sich ein Capitel über die städtische
Vvlkswirthschaftspflege, aus welchem man freilich nur lernen kann, wie dürftig
°s mit dem Einfluß des städtischen Regiments nach dieser Richtung hin bestellt
'se- Doch möchte auch hier selbst in den engen Grenzen, welche das bestehende
^chi zieht, manchmal eine erhebliche Einwirkung möglich sein. So ist es z. B.
für die unteren und auch wohl für die mittleren Volksclassen durchaus nicht
gleichartig, wie die Marktpolitik (ich sage absichtlich nicht Marktpolizei) gehand¬
habt wird. Bekanntlich werden von den sogenannten Jahrmärkten, die wesent-
lich Fabrikatcnmärkte sind, die fremden Handwerker für den grösten Theil der
Dauer des Marktes ausgeschlossen. Ferner scheint gegenwärtig bisweilen die
Meinung herrschend zu werden, die offenen Jahrmärkte seien eine überflüssige
Belästigung des Verkehrs der Straßen und Plätze, und man geht daher mit
allmäligen Einschränkungen derselben vor. Durch derartige Beschränkungsma߬
regeln, die selbst in großen Städten kaum gerechtfertigt erscheinen, verschließt
man die einzige Möglichkeit eines billigen Einkaufs vieler Gattungen von Hand-
wcrkerarbeit. Man unterbricht den unmittelbaren Verkehr zwischen Producenten
und Consumenten und nöthigt zu einem sehr erheblichen Tribut an den an¬
sässigen Zwischenhändler, der sich natürlich nicht blos seine kostbare Laden¬
einrichtung bezahlen lassen muß, sondern auch seine Vermittlerrolle nach bei¬
den Seiten hin d. h. im Einkauf gegen die Producenten und im Verkauf
gegen die Consumenten gehörig ausbeutet. So geringfügig daher diese kleine
Marktpolitik der Städte auf den ersten Blick erscheinen mag, so hängt von ihr
doch ein Theil des Wohlstandes der weniger begüterten Classen ab, und sie ist
der volkswirthschaftlichen Beachtung durchaus nicht unwürdig. Es wäre zu
wünschen, daß einmal eine selbständige Lehre der städtischen Volkswirthschaft
in scharfer Trennung von den Gegenständen der allgemeinen politischen Öko¬
nomie ins Detail ausgeführt würde; eine solche Arbeit hätte offenbar jede
Andeutung des bestehenden Rechts zu benutzen, ja sogar auf die statutarischen
Bestimmungen, die in dem allgemeinen preußischen Stadtrecht nicht enthalten
sein können, näher einzugehen. — Was die Armenpflege betrifft, so muß
uns eine übersichtliche und klare Darstellung des Armenrechts um so willkom¬
mener sein, als in diesem Gebiet die Reformen am dringendsten sind und wir
uns jedenfalls an der Schwelle einer umfassenden Umgestaltung befinden. Die
Armenpflege wird sich durchgängig mehr mit den Institutionen der wirthschaft¬
lichen Selbsthilfe zu verschmelzen haben, und grade auf dem Gebiet der letz¬
teren wird den Städten vielleicht eine erhebliche Mitwirkung zufallen. Wie
schon oben gesagt, möchte sich der Streit zwischen Selbsthilfe des Einzelnen
und Staatseinfluß, zwischen der politisch ungebundenen Selbstüberlassung der
Gesellschaft und den Eingriffen der politischen Functionen vielleicht einst durch
die Einschiebung der Gemeindegewalt zum Austrag bringen lassen. Alsdann
würden sich Armenpflege und AnHaltung zu Versicherungmaßregeln vereinigen
müssen, um dem wirthschaftlichen Ungemach Schranken zu setzen. Eine solche
Entwicklung der Dinge wäre aber freilich nur unter Voraussetzung einer Macht'
Steigerung der Gemeindegewalt möglich, wie sie sich bis jetzt nicht im Gering'
sten vorfindet.
Die vierte Abtheilung behandelt die äußeren Verhältnisse der Städte und
besonders die Beziehungen der Gemeindegewalt zur Staatsgewalt und zu den
einzelnen Hoheitsrechten des Staats. Besonders interessant sind hier die Er¬
örterungen der Art, wie die Militärhoheit mit ihrer bekanntlich nicht geringen
Wucht auf den Communen lastet. Alles ist bis ins Kleinste geregelt, und man
bedauert bei all dieser Fürsorge nur den einzigen Umstand, daß sie leider noch
in so vielen Rücksichten nöthig ist. Wenn man nichts weiter als die hier
fragliche Rechtsdarstcllung der Einquartierungsverhältnisse kennte, so würde man
sich doch schon ein anschauliches Bild von dem Detail der Beschwerden, die sie
im Gefolge hat, entwerfen tonnen. Der Umstand, daß stehende Einquartierung
noch immer vielfach ein Surrogat der Kasernirung bilden muß, ist offenbar ein
großer Uebelstand. und wie sich in diesen Beziehungen die Militärhoheit des
Staates je zu Zeiten zu den Gemeinden und einzelnen Bürgern stellt, ließe sich,
wenn wir uns einen Scherz erlauben dürften, auf eine sehr einfache und zu¬
gleich charakteristische Weise bezeichnen. Wir sehen z. B. den einquartierten
Kavalleristen im Namen der Militärhoheit von seinem Wirth Futterschwinge,
Halfterkette, Mistgabel, Besen, Eimer und sogar zur Abendfütterung eine Laterne
in Anspruch nehmen, und versetzen uns andererseits in die behagliche Stimmung
des mit dem Gespenst der Bodenerschöpfung praktisch nicht ganz unbekannten
Ackerwirths, wenn er sich bei all jener Mühe die ebenso bedeutsamen als
naiven Worte des Gesetzes wiederholt: „Dafür gebührt dem Wirth der Dünger
der Pferde." Ein Satz, der hin und wieder allgemeineren symbolischen
Sinn gewinnt.
Das Gesammtbild, welches uns die möllersche Schrift von den Verhält¬
nissen der preußischen Städte entrollt, läßt bei aller objectiven Haltung und
vielleicht grade um der von subjectiven Hinweisungen ganz freien Darstellung
Willen einen etwas niederschlagenden Eindruck zurück. Man bedauert, daß ein
so reiches Entwicklungsgebiet, wie das des Gemeindelebens, nicht in dem
großen und praktischen Sinne Steins auch fernerhin gepflegt worden sei. und
daß kaum die Hauptpunkte der Reformen vor Angriffen bewahrt geblieben sind.
Die Beziehung der Gemeindegewalt zur Staatsgewalt, deren Regelung aller¬
dings eine der schwierigsten Aufgaben bildet, ist von der späteren Gesetzgebung
durchaus nicht im Sinne einer gewissen Emancipation und Selbstregierung be¬
handelt worden. Kaum würde man es glauben, daß noch eine Eintheilung
der Städte in mittelbare und unmittelbare nöthig ist. Koch und Rönne haben
diese Unterscheidung für obsolet erklärt, aber Möller weist nach, daß das von
der Städteordnung von 1808 aufgehobene mittelbare Verhältniß von derjenigen
des Jahres 1831 wieder restaurirt worden sei. Es giebt also in der That noch
Städte, die unmittelbar unter einer Gutsherrschaft stehen und daher zum Staate
uur ein durch den Gutsherrn vermitteltes Verhältniß haben. Außerdem ist die
Städteordnung von 1808 nicht überall eingeführt worden, und so erklärt sich
denn der Anachronismus, daß einige Standesherren den in ihrem Gutsbezirk
gelegenen Städten gegenüber noch jetzt die Rolle der Staatsgewalt spielen
dürfen. Eine Städteverfassung, welche diese Reste nicht etwa blos als zufällige
Ueberbleibsel des Feudalismus stehen gelassen, sondern noch im Anfang der
dreißiger Jahre, also in der Aera der Julirevolution von neuem wieder ein¬
geführt hat. — eine solche Städteverfassung wird auch sonst die Gemeinde¬
freiheit nicht allzu liberal bedacht und die natürliche Stellung der Gemeinden
nicht allzu sehr berücksichtigt haben. Ganz abgesehen von dem Aufsichtsrechte
des Staates, welches gar zu tief in die städtische Verwaltung hineingreift und
eine Controle ausübt, die besser von den zunächst Betheiligten, d. h. der ge¬
hörig vertretenen Bürgerschaft ausgehen würde, ist auch schon das ganze ver¬
fassungsmäßige Verhältniß zu den Staatsbehörden von vornherein als eine
Unterthänigkeit aufgefaßt. Die Vorstände derjenigen Städte, weiche nicht
direct mit der Regierung, sondern zunächst und unmittelbar nur mit dem
Landrath verkehren, müssen an den letzteren noch obendrein im respectvollen
Bauchtheil schreiben, während sich der Herr Landrath selbst gleich den Ministerien
des Rescriptenstils bedient. Dieser äußerliche Zug ist nur ein symbolischer Aus¬
druck des innern Verhältnisses. Die Gemeinden sind nun aber, so klein sie
auch übrigens sein mögen, natürliche politische Einheiten, deren Dasein etwas
mehr bedeuten will, als irgend eine untergeordnete Amtsfunction. So lange
man einer solchen natürlichen Körperschaft, wie die Gemeinde ist, noch einen
Einzelbeamten des Staats gegenüberstellt und ihm gegenüber ihr das Verhältniß
eines Dieners schon verfassungsmäßig anweist, ist keine Aussicht vorhanden,
daß sich die politischen Zustände allzu hoch über das französische Präfectensystem
erheben. Freilich muß in allen der Centralisation bedürftigen politischen
Functionen der Staat seine Interessen durchsetzen und wissen, wie er die
Gemeinden zur Mitwirkung für seine Zwecke nöthigenfalls gewaltsam anzu¬
halten habe; allein diese Nothwendigkeit schließt eine bedeutende Selbständig¬
keit des Gemeindedaseins nicht aus und erlaubt sogar eine gewisse Nebenord¬
nung der Gemeinden und der äußersten Ausläufer der allgemein staatlichen
Beamtenhierarchie. Warum soll der Landrath mit den Gemeindevorständen
nickt auf dem Fuße eines Kommissars der Regierung verkehren, welcher nichts
weiter zu thun hat, als ihnen die im centralen Interesse erlassenen Ver¬
fügungen mitzutheilen, im Falle der Nichtausführung seinem Committenten
zu berichten und so das eigne Einschreiten einer höheren obrigkeitlichen Ge¬
walt zu veranlassen? Doch wir wollen uns hier nicht auf besondere Schema-
tisirungen einlassen. Die politischen Functionen der durch Stadtverordneten¬
versammlung und Magistrat vertretenen Bürgerschaft werden im Allgemeinen
noch immer wie das oben erwähnte Petitionsrecht betrachtet. Die individuelle
Freiheit ist offenbar in höherem Maße als die communale Selbständigfeit
fortgeschritten. Diese Bemerkung führt uns unwillkürlich zu einem .zweiten
Gesichtspunkt, welcher für die Aussichten des Städterechts von großer Wichtig¬
keit ist.
Schon oben deuteten wir an, daß zwischen der allgemeinen Staatsverfas¬
sung und den Institutionen der communalen Freiheit eine gewisse Uebereinstim¬
mung hergestellt werden müsse. Wir können nun hier geradezu behaupten, daß
das bestehende Mißverhältnis; für die Gesammtheit sowohl des allgemeinen als
des besonderen politischen Lebens sehr ungünstig sei. Es besteht eine innige
Wechselwirkung zwischen der Freiheit und Regsamkeit des Gemeindelebens und
derjenigen der allgemeinen politischen Functionen. Der staatsbürgerlichen Frei¬
heit fehlt die niedere Grundlage zu einer nachhaltigen Bethätigung, wenn die
natürlichen Einheiten des socialen Daseins d. h. die Gemeinden keine Wider¬
standskraft besitzen und von der gouvernementalen Windrichtung abhängen.
Andererseits kann aber auch das Gemeindeleben nicht gedeihen, wo es nicht
höhere Antriebe von einem regsamen staatsbürgerlichen Leben empfängt und
die kleineren Verhältnisse im Lichte der größeren Angelegenheiten betrachten lernt.
Diese beiden Sphären des politischen Daseins verhalten sich zu einander wie
eine niedere und höhere Stufe des organischen Daseins. Die niedere Voraus¬
setzung kann allenfalls, aber doch nur in unvollkommener Weise, ohne die
höhere Gestaltungssphäre, also z. B. das vegetative ohne das animale Leben
selbständig bestehen; aber es kann das höhere Gesammtgebilde selbst nie un¬
abhängig von dem Dasein der niederen Stufe existiren. Die Wechselbeziehung
ist also, so innig sie auch sein mag. nicht völlig gleich. Der Unterbau der
Gemeindefreiheit muß erst gehörig ausgeführt sein, ehe wir von einer unwan¬
delbaren Garantie der staatsbürgerlichen Freiheit reden können. Lassen wir uns
jedoch durch den Anschein der gegenwärtigen Zustände nicht täusche». Es ist
iMz in der Ordnung, daß mit der Belebung des centralen politischen Daseins
und der centralen Functionen begonnen worden ist. Wenn einerseits die nie¬
deren Sphären gleichsam den unerläßlichen Unterbau der höheren Bildungen
abgeben, so ist doch das Nangverhältniß der schaffenden Kräfte ein grade um¬
gekehrtes. Was als niedere Stufe unerläßliche Vorbedingung der wirtlichen
^istenz xines höher organisirten Wesens ist, muß im schöpferischen Plane der
Tänzen Hervorbringung als im Voraus entworfen und aus centralen Kräften
entsprungen betrachtet werden. Ein solches Wesen ist nun auch der Staat,
""d es liegt daher ganz in der natürlichen Richtung des Ganges der Reformen,
^cum mit der Formulirung und einstweiligen Paciscirung der staatsbürgerlichen
Freiheiten begonnen und erst zur weiteren Sicherung derselben an die Gewähr¬
leistung und Ausdehnung der Gemeindefreiheit gegangen wird. Der innere
""d geistige Hergang hat eine Richtung vom Mittelpunkt zu den Außengebilden,
während die materielle Sicherung und der solide Aufbau der Garantien offen¬
bar von unten beginnen müssen.
Ungefähr dasselbe Maß von Selbständigkeit und politischen Rechten, wel¬
ches in dem allgemeinen Staatsleben gewährt werden kann, muß auch dem
communalen Dasein zu Grunde gelegt werden. Wir halten es daher für ein
Mißverhältnis;, daß das Wahlrecht zur Stadtvertretung noch nicht einmal dem
zur allgemeinen Volksvertretung entspricht. In dem Dreiclassensystem, welches
den Wahlen zum Abgeordnetenhause zu Grunde gelegt wird, findet wenigstens
insofern eine allgemeine Theilnahme statt, als in die letzte Classe auch diejenigen
aufgenommen werden, welche gar keine Staatssteuern zahlen. Dagegen ist für
Ine Theilnahme an der Wahl der Stadtverordneten ein gewisser Census erfor¬
derlich, und hierzu kommt noch, daß die Wahlfähigkeit zur Stadtverordneten¬
versammlung für die Hälfte der zu Wählenden dem Haus- und Grundbesitzcr-
thum gesichert ist. Besonders diese letztere Bestimmung befindet sich im Wider¬
spruch mit der gegenwärtigen Form der Gesellschaft. Sollte man geltend
machen wollen, daß ja auch in allgemein staatlicher Hinsicht ein ähnliches Prin>
cip, nämlich ebenfalls eine künstlich gesicherte Vertretung in der Schöpfung des
Herrenhauses Ausdruck gefunden hat, so würden wir auch in diesem Falle die
Consequenzen der modernen Gesellschaftsform gegen eine zu weit gehende Ver¬
tretung des Grundherrnthums geltend machen. Die veränderte Volkswirthschaft
muß auch eine Veränderung der politischen Gestaltung und der politischen Be¬
rechtigungen mit sich bringen. Ein Industriestaat kann nicht dieselbe politische
Verfassung haben wie ein Ackerbaustaat, und eine Stadtverfassung, die sich vor¬
nehmlich auf den Handwerksbetrieb und das Zunftwesen gründet, muß eine
andere sein, als diejenige eines Sitzes der modernen Fabrikation und des grö¬
ßeren Handels. So lange die Gemeinwesen noch vorwiegend mit der Aus¬
beutung des Grund und Bodens beschäftigt waren, mußte 'der Grundbesitz die
fast ausschließliche Vertretung der allgemeinen Interessen thatsächlich und recht¬
lich abgeben. Jetzt unter den veränderten Verkehrsverhältnissen ist das Grund-
und besonders das Hauseigenthum eine Waare, die verhältnißmäßig rasch um¬
läuft und sich daher, selbst von ihrer gegenwärtig nur untergeordneten wirth¬
schaftlichen Bedeutung abgesehn, sehr schlecht zur Grundlage politischer Rechte
eignet. Wenn man den kolossalen Abstand bedenkt, der ein vorwiegend acker¬
bautreibendes Gemeinwesen von dem modernen Manufactur- und Handelsstaat
trennt, so kann man allenfalls den Einkommen- oder Steuercensus, aber nicht
mehr eine Vorherrschaft des Grundbesitzes als gerechtfertigt erachten. Was nnn
gar den städtischen Grundbesitz betrifft, der doch hauptsächlich HauseigenthuM
ist, so möchten die vielen Hypotheken doch auch in Anschlag zu bringen sein,
und es dürste sich das Vorrecht der städtischen Grundbesitzer wohl auf keine
Weise mehr vertheidigen lassen.
Der theoretischen Bemeisterung der ebenso wichtigen wie intrikaten Fragen,
wie sie in „Möllers Preußischem Stadtrecht" vor uns liegt, wird die praktische
h
Da in Mecklenburg bis zum Jahre 1848 das politische Parteiwesen
noch gänzlich unentwickelt war und das politische Interesse sich nur um den
Gegensatz der adeligen und bürgerlichen Mitglieder der Ritterschaft und die
Ansprüche der letzteren auf gleiche politische Berechtigung mit den ersteren drehte,
so war auch die Universität von politischen Fragen nicht näher berührt und
erregt worden. Mit dem Jahre 1848 schien sich dies ändern zu wollen. Schon
in den ersten Tagen der Bewegung und noch bevor der Großherzog die öffent¬
liche Erklärung abgab, daß eine Verfassungsänderung, auch abgesehen von den
Weltereignissen der neuesten Zeit, unvermeidlich gewesen, setzt aber das drin¬
gendste Erfordernis; und daß es sein ernstlicher Vorsatz sei. Mecklenburg unver¬
züglich in die Reihe der constitutionellen Staaten einzuführen, richtete die Uni¬
versität als Corporation eine Adresse an den Großherzog, in welcher sie Re¬
form der Landesverfassung und Einführung von Preßfreiheit beantragte. Bei
der sehr veränderten Stellung, welche später die große Mehrzahl der Unterzeich¬
ner dieser Adresse zu den politischen Fragen eingenommen hat, ist es von
einigem Interesse, den Inhalt dieses Schriftstücks der Vergessenheit zu ent¬
reißen, welcher die chamäleontische Gesinnungslosigkeit ihn nur zu gern für alle
Zeit übergeben sehen möchte.
Die Adresse trägt das Datum des 12. März 1848 und ist von dem Rec-
tor und zwanzig Mitgliedern des Conciliums unterzeichnet. Von den jetzigen
wstocker Professoren haben Strempel. F. V. Fritzsche. Royer. Becker,
Bachmann, Karsten, Stannius und Krabbe, von den übrigen noch
lebenden damaligen Universitätsmitgliedern Thöl, Thering. Delitzsch, seist
und als Rector der Universität der Professor a. D. Wilbrandt das Schrift¬
stück mit ihrer Namensunterschrift versehen. Dasselbe beginnt mit den Worten:
"Inmitten der großen Bewegung stehend, von welcher das politische Leben un-
heres Vaterlandes in der Gegenwart ergriffen ist, werden auch wir von derselben
mächtig berührt. Obwohl nicht verfassungsmäßig berufen uns an der Entwicke¬
lung und Lösung der obschwebenden politischen Lebensfragen unseres Vaterlandes
zu betheiligen, sind wir darum nicht minder voll innerer Theilnahme dem öffent¬
lichen Leben zugewandt und von de? Bedeutsamkeit der Aufgaben, die hier vor¬
liegen, lebhaft durchdrungen." Es folgt die Versicherung, daß man sich in Ver¬
trauen und Liebe dem Großherzog verbunden fühle. „Diese unsere Gesinnung
glauben wir wahrhaft zu bethätigen, wenn wir im Hinblick auf die ganze Sage
des Landes Ew. K. H. unsere Ueberzeugung aussprechen, welche weder aus
irgendeinem Zeitereignisse hervorgegangen ist, noch erst jetzt
unter den Einflüssen der bewegten Gegenwart sich gebildet hat."
Die Verfassung, beißt es weiter, war für einen früheren Zeitraum gut; aber
es sind in den letzten fünfzig Jahren die gewaltigsten Bewegungen und Ver¬
änderungen überhaupt im Staatsleben eingetreten und haben auf die Verfassun¬
gen aller anderen Staaten Deutschlands bedingend eingewirkt. „Mit der Ent¬
wickelung des neueren Staats haben sich neue Elemente im Staatsleben aus¬
gebildet, ohne daß diese in den Organismus der ständischen Verfassung unseres
Vaterlandes aufgenommen worden sind. Während andere ständische Verfassun¬
gen durch einzelne zeitgemäße Modificationen fortgebildet wurden, ist in der
unsrigen keine Veränderung irgendeiner Art eingetreten." . . „Angesichts der
Bewegung, welche unsere ständische Verfassungsfrage hervorgerufen hat, können
wir uns doch nicht überhoben achten, auf den tieferen Grund derselben, der
nicht allein in der herrschenden Aufregung des Augenblicks zu suchen ist, hinzu¬
weisen. — Jetzt, wo das Bewußtsein lebendig geworden ist, daß nicht blos
einzelne Stände zur Uebung politischer Rechte berufen sein können, erscheinen
diejenigen, welche gegenwärtig im alleinigen Besitze der ständischen Rechte sind,
in ungeeigneter Weise bevorzugt." Hier liege ein Mißverhältniß vor. dessen Be¬
seitigung und Ausgleichung durch weitere verfassungsmäßig herbeizuführende
Fortentwickelung der Verfassung die Aufgabe der Gegenwart sei. Mit diesem
aus eine Reform der Landesverfassung gerichteten Verlangen schließe
die Universität sich den von den verschiedensten Seiten laut gewordenen Wün¬
schen und Bitten an. Dies „geschieht zugleich in der Ueberzeugung, daß in
der verfassungsmäßigen Abänderung unserer ständischen Verfassung derjenige
Weg vorgezeichnet ist, auf welchem sodann alle weiteren gerechten Wünsche und
Bitten in einmüthigem Zusammenwirken aller Staatsgewalten eine dem Wohle
des Vaterlandes entsprechende Erledigung finden werden. In der sofortigen
Gewährung der von Seiten des Bundes jetzt gestatteten Preßfreiheit
würden wir eine Bürgschaft für die Erfüllung aller dieser Hoffnungen
sehen."
Nachdem die Ndresse kaum abgegangen war, sorgten die Unterzeichner zur
Verstärkung ihrer Wirkung für deren Abdruck. Bereits in der „Rostocker Zei¬
tung" vom Is. März 1848 ward sie nach ihrem vollständigen Wortlaut zur
öffentlichen Kunde gebracht.
Die neue politische Aera. an deren Herbeiführung Rector und Concilium
sich durch diesen Schritt thätig betheiligten, hatte für die Universität zunächst die
Folge, daß durch Regierungsrescript vom 27. März die Stelle eines Re¬
gierungsbevollmächtigter eingezogen und zugleich alle übrigen auf den Bundes¬
beschluß vom 20. Sept. 1819 gegründeten Bestimmungen der Universitätsgesetz¬
gebung aufgehoben wurden. Durch ein anderes Rescript vom 4. April 1849
wurden noch manche anderweitige politische Beschränkungen in den Universitäts¬
statuten und in den Disciplinarstatuten für die Studirenden, welche aus dem
Bundesbeschluß vom 13. Nov. 1834 ihr Dasein ableiteten, beseitigt. Von den
Professoren betheiligten sich einzelne sehr lebhast an den freiheitlichen Bestre¬
bungen jener Zeit. Türk, Wilbrandt und Julius Wiggers wurden zu
Abgeordneten für die mecklenburgische constituirende Versammlung gewählt, welche
im October 1848 in Schwerin zusammentrat; Thöl ging als Abgeordneter
zur Nationalversammlung in Frankfurt a. M. Andere betheiligten sich in Ver¬
sammlungen und Vereinen, sowie in der Presse an der Verhandlung politischer
Fragen. Letzteres geschah namentlich von Seiten des außerordentlichen Pro¬
fessor der Geschichte Hegel, welcher durck seine in der „Rostocker Zeitung"
veröffentlichten Aufsätze über die Zeitbewegung und die Formen des zu
schaffenden constitutionellen Staats die Aufmerksamkeit der Negierung auf
sich zog und infolge dessen aus ein Jahr nach Schwerin berufen und mit der
Redaction der neubegründeten „Mecklenburgischen Zeitung", des damaligen
Ministeriellen Blattes, beauftragt ward. Zur Belohnung seiner Dienste erhielt
er gleichzeitig eine ordentliche Professur. Dem bis dahin nur titulären
Professor Julius Wiggers ward, nachdem er am 30. Sept. 1848 in
Rostock fast einstimmig zum Abgeordneten gewählt war, unter dem 12. Octo¬
ber. also fast unmittelbar nachdem die Nachricht von diesem Wahlergebniß
in Schwerin eingetroffen war, eine wirkliche außerordentliche Professur mit
Gehalt verliehen. Er nebst Türk und Wilbrandt wurden später auch
für den ersten ordentlichen Landtag, der nach Verkündigung des constitu¬
tionellen Staatsgrundgesetzes im Februar 18S0 in Schwerin zusammentrat.
Wiederum zu Abgeordneten gewählt. Die Regierung war so weit entfernt, an
der politischen Thätigkeit der Universitätslehrer Anstoß zu nehmen, daß sie,
wie die aufgeführten beiden Fälle beweisen, dieselbe sogar durch Beförderungen
ermunterte, welche auch solchen Männern zu Theil wurde, die. wie Julius
Wiggers, bereits öffentlich als Anhänger einer gründlichen, im freiheitlichen
Sinne auszuführenden Umgestaltung der feudalen Landesverfassung hervorgetre¬
tn waren. Auch der Vicekanzler schenkte den auf Herbeiführung einer con-
stilutionellen Verfassung gerichteten Bestrebungen seinen Beifall. Er hatte sich
zu Anfang der Bewegung in einem umfänglichen, vom 31. März 1848 datirten
Aufsatz für eine bloße Modification der mecklenburgischen ständischen Verfassung
ausgesprochen, nahm diese Ansicht aber später durch folgende Erklärung in der
„Rostocker Zeitung" vom 29. Sept. 1848 (Ur. 208) zurück: „Um einer an mich
ergangenen Aufforderung zu genügen, erkläre ich, daß die in dem Aufsatz Ur. 54
der „Rostocker Zettung" — „Zum Verständniß der Tagesfragen" — welcher
übrigens im Wesentlichen einer im Jahre 1838 zu Gießen erschienenen Abhand¬
lung entlehnt ist und blos zur Aufklärung über den Unterschied der ständischen
und Repräsentativverfassung dienen sollte — enthaltenen Ansichten, insofern
sie sich für die ständische, Verfassung aussprechen, gegenwärtig von mir nicht
mehr getheilt werden, daß ich vielmehr aus Ac o erze ugun g die constitutio-
nelle Monarchie im Princip für eine Wahrheit halte. Die Be¬
strebungen der Reformvereine, so weit sie sich von den Grundsätzen der con-
stitutionellen Monarchie nicht entfernen, erkenne ich als berechtigt gerne an.
Die Stellung der Regierung zu der politischen Thätigkeit der Universitäts¬
lehrer änderte sich aber sehr wesentlich, als es im Verlauf des Jahres 1850
der Reaction gelungen war, im angeblichen Wege Rechtens die constitutionelle
Verfassung wieder zu beseitigen und den alten Feudalstaat neu aufzurichten.
Der Minister v. Schröter, welcher dazu hauptsächlich mitgewirkt und dann zu
diesem Zweke das Ministeramt übernommen hatte, leitete jetzt, außer dem Justiz¬
wesen, die Unterrichtsangelegenheiten und damit auch die Universität. Was
während der constitutionellen Aera vollkommen gesetzlich gewesen war und sogar
als Qualification zur Beförderung gegolten hatte, ward von der jetzt wieder zur
Macht gelangten feudalen Reaction fast zu einem Verbrechen gestempelt. Besonders
richtete sich der Haß und die Rache gegen die drei Professoren, welche Mit¬
glieder der beiden Abgeordnetenversammlungen gewesen waren und hier zu der
demokratischen Linken gehört hatten. Im Bunde mit dem Criminaldirector
Bolle, der jetzt in einer rheinischen Irrenanstalt die Nachwehen seines damaligen
Verhaltens zu tragen hat, wußte der Minister schon in den Jahren 1850 und
1851 gegen sie und ihre politischen Freunde verschiedene Untersuchungen wegen
Hochverraths in Bewegung zu setzen, die aber wegen gänzlichen Mangels an
Material kläglich scheiterten. Unter den in dieser Richtung gethanen Schritten
ragt namentlich eine große Haussuchung im Juli des Jahres 1850 hervor, die
aber in einer Fülle mitgeschleppter Papiere auch nicht ein Körnchen Stoff für
eine Anklage lieferte und durch die Festigkeit des damals noch nicht purificirter
Oberappellationsgerichts mit einer großen Niederlage der Veranstalter dieses
Verfahrens endigte. Als auf diesem Wege nichts zu erreichen war, versuchte
Herr v. Schröter sich der drei liberalen Professoren durch ein anderes Mittel
zu entledigen. Er ließ dieselben mit einer Disciplinaruntersuchung bedrohen,
falls sie sich nicht etwa gegen Gewährung einer Pension zu freiwilligem
Rücktritt vom Amte entschließen wollten. Der Vicekanzler v. Both er¬
hielt den Auftrag, zunächst mit Wilbrandt und Türk wegen ihrer Pen-
sionirung in Verhandlung zu treten. Er eröffnete nun dem Professor Wil-
brand t in einer mündlichen Unterredung im Namen des Ministers v. Schröter,
daß Gründe genug vorhanden seien, um dessen Amtsentsejzung auf gerichtlichem
Wege herbeizuführen. Es befänden sich Acten in den Händen der Regierung,
Welche dazu völlig ausreichen würden. Herr v. Both stellte sodann sür den
Fall des freiwilligen! Rücktritts eine Pension von 700 Thlrn. (etwas über
die Hälfte des von Wilbrandt bezogenen Gehaltes) in Aussicht und for¬
derte ihn auf, sich über dieses Anerbieten zu erklären. Wilbrandt wei¬
gerte sich entschieden, auf den Antrag einzugehen und wiederholte auf Ver¬
langen des Vicekanzlers diese Erklärung schriftlich. In gleicher Weise und mit
demselben Mangel an Erfolg verhandelte Herr v. Both mit Türk. Die Folge
dieser Beharrlichkeit war aber nicht die angedrohte Disciplinaruntersuchung,
sondern die Amtsentlassung mit vollem Gehalt als Pension, welche der Minister
über die drei ihm mißliebigen Professoren verhängte. Es geschah dies durch
drei im Wesentlichen gleichlautende großherzogliche Entlassungsrescripte vom
7- Juli 18S2, von welchen das an den Professor Julius Wiggers er-
SMgene später in dessen Schrift: „Vierundvierzig Monate Untersuchungshaft"
(zweite Auflage S. 232 f.) der Oeffentlichkeit überliefert ist. Dennoch ward
dessen Amtsentlassung in folgender Weise motivirt: Derselbe habe sich „an den
Bewegungen der neueren Zeit in ihren revolutionären Beziehungen lebhaft
betheiligt", indem er dieselben durch die ihm zu Gebote stehenden Mittel zu
fördern bemüht gewesen sei; er habe insbesondere auch mit allen denen, welche
"diese strafbare Richtung" verfolgt, zusammengehalten und gemeinschaftliche
Sache gemacht, davon auch nicht abgelassen, als der Großherzog ihn im Herbste
^848 zum außerordentlichen Professor ernannt habe; er habe durch dieses sein
Verhalten nicht allein die Pflichten der Treue gegen den Landesherrn, sondern
"und die Rücksichten, welche er auf seine Stellung als akademischer Lehrer zu
Nehmen hatte, mißachtet, der ihm anvertrauten akademischen Jugend, welcher
^' in aller Weise ein gutes Vorbild zu sein verbunden gewesen, das verderb¬
lichste Beispiel gegeben, und somit in diesen Richtungen die ihm obliegenden
Pflichten, insbesondere auch die in der Bestallung übernommenen Verpflichtungen
schwer verletzt.
Also eine Fülle härtester Anklagen und Vorwürfe, auf welche jedoch schon
Thatsache, daß der Minister dieselben nicht für ausreichend gehalten haben
^um, um daraus hin eine Disciplinaruntersuchung einzuleiten, mit welcher er
durch den Vicekanzler hatte drohen lassen, ein seltsames Licht wirft, welche
aber durch ein späteres actenmäßiges Geständniß desselben Herrn v. Schröter,
der das Entlassungsrcscript mit den darin enthaltenen Motiven verfaßt und
unterzeichnet hatte, in die Classe reiner, vom Parteigeist eingegebener Phantasie¬
gebilde eingereiht werden. Dieses Geständnis; findet sich in einem Rescript des
Ministers v. Schröter vom 29. Juni 1863, mit welchem er dem Criminal-
cvllegium zu den Acten des damals eingeleiteten rostocker Hochverrathsprocesses
die Abschriften der Entlassungsrescripte der drei mit vielen anderen in diesen
Proceß verwickelten Professoren übersandte. Das Rescript bemerkt bei Ueber-
sendung dieser Abschriften wörtlich: „Daß über die Motive ihrer Ent¬
lassung sonst nichts bei den Aust ellungsacten der gedachten Pro¬
fessoren vorliegt." Dieser Thatsache gegenüber haben die Drohungen,
welche der Vicekanzler, wie erzählt, im Auftrage des Ministers anwandte, um
die Professoren Türk und Wilbrandt zur freiwilligen Niederlegung ihres
Amtes unter Annahme einer geringfügigen Pension zu bestimmen, und nament¬
lich dessen Behauptung, daß sich Acten in den Händen der Regierung befänden,
welche eine Remotion vom Amte ausreichend begründen würden, lediglich den
Charakter rabulistischer Vorspiegelungen, welche bei der unzweifelhaften Ehren¬
haftigkeit des Vicekanzlers v. Both nur darauf zurückgeführt werden können,
daß er selbst in dieser Beziehung das 'Opfer einer Täuschung geworden war.
Die Universität hatte schon am j12. März 1848, in der Petition um
Reform der Landesverfassung und um Preßfreiheit ihr politisches Pulver voll¬
ständig verschossen. Sie rührte sich nicht bei diesen Amtsentlassungen, denen
nach Beendigung des Hochverrathsprocesses für Türk und I. Wiggers
auch noch die Entziehung der Pension sich anreihte und gab überhaupt während
der ganzen Aera der Restauration des Feudalismus, von 1850 bis aus diesen
Tag, nie wieder einen politischen Laut von sich. Sowohl die Verfassungsreform
als die Preßfreiheit, welche sie doch im Jahre 1848 als so nothwendig dar-
gethan und so warm empfohlen hatte, wurde von ihr vollständig im Stich
gelassen. Statt dessen that die Universität bei jeder Gelegenheit das Ihrige,
um die Gewalthaber davon zu überzeugen, daß sie mit dem reactivirten Feudal¬
staat und mit dem herrschenden Regierungssystem vollkommen zufrieden und
weit davon entfernt sei, sich in politische Fragen zu mischen, mochte unter der
zur Herrschaft gelangten Partei die Stellung der Professoren auch noch so un¬
sicher, die Freiheit der Wissenschaft auch noch so bedroht, der politische und
sociale Zustand des Landes auch noch so erbarmungswürdig sein.
Durch das schon erwähnte Rescript vom 4. April 1849 war unter anderem
die Vorschrift, welche die Habilitirung eines Privatdocenten von der vorgängigen
Genehmigung der Landesregierung abhängig machte, außer Kraft gesetzt worden.
Es gehörte zu den Amtshandlungen des Ministers v. Schröter, daß er (durch
Rescript vom 18. Januar 1851) die frühere Einrichtung wiederherstellte, in der
Absicht, dieselbe zur Abwehr von Personen mißliebiger politischer Richtung zu
benutzen. Kurz vorher hatte der Doctor der Medicin Friedrich Dornbluth,
ein durch mehre physiologische und medicinische Schriften („Die Sinne des
Menschen", „Ursachen und Verbreitungsweise der Cholera", „Anleitung zum
Gebrauch des Seebades") sowie durch Aufsätze in Zeitschriften seitdem in wei-
ieren Kreisen vortheilhaft bekannt gewordener praktischer Arzt in Rostock, der
freilich im Jahre 1848 in den Versammlungen der Reformvereine eine politische
Richtung documentirt hatte, welche mit den Anforderungen des Herrn v. Schrö¬
der nicht zusammenstimmte, der aber doch noch im Jahre 1849 würdig befunden
war, das großherzogliche Gardebataillon als Militärarzt in den badischen Feld-
Zug zu begleiten, die medicinische Facultät von seinem Vorhaben benachrichtigt,
sich als Privatdocent niederzulassen. Die Facultät verwies ihn unter dem
28. Januar mit Bezugnahme auf das inzwischen eingelaufene und vermuthlich
durch den vorliegenden Fall erst hervorgerufene Ministerialrescript vom 18. Januar,
^nächst an den Minister. Dieser erforderte das Erachten des Vicekanzlers,
welches auf Grund einer Unterredung mit dem Dr. Dornbluth, die be¬
sonders die Ermittelung der politischen Richtung zum Zweck hatte, befürwortend
ausfiel. Dessen ungeachtet ertheilte der Minister unter dem 26. Februar den
Bescheid, daß „es bedenklich erschienen, . dem Antrage zu willfahren."
Dr. Dornblüth repräsentirte gegen diesen Bescheid, indem er darauf hinwies,
daß der Plan, sich der akademischen Laufbahn zu widmen, sein ganzes Studium
gleitet habe, und daß er, da ihm nur in Rostock die ärztliche Praxis freistehe,
"ur an dieser Universität das. was seine Lebensaufgabe geworden sei, verwirk¬
lichen könne. Auch machte er darauf aufmerksam, daß die Habilitation keinerlei
Zechte außer dem Recht, Vorlesungen zu halten, gewähre, und daß ein Ursprunk,
auf Anstellung sich aus derselben nicht ableiten lasse. Falls aber auch jetzt
"och Bedenken gegen seine Zulassung bestehen sollten, bat er, ihm dieselben
mitzutheilen, damit er sich bemühen könne, dieselben hinwegzuräumen. Der
Minister jedoch erklärte, daß „es bei dem in der Sache bereits ergangenen Be¬
scheide vom 26. Februar das Bewenden behalten müsse." Die Gründe der
Abweisung wurden zwar auch jetzt noch nicht angegeben; es können aber
schlechterdings nur Bedenken politischer Art obgewaltet haben.
Einem anderen jungen Gelehrten, dem Dr. Netslag (jetzt Redacteur der
"Abendzeitung" in Berlin), welcher während der constitutionellen Zeit sich
"is Privatdocent habilitirt hatte, wurde unter dem 20. November 1851,
Nachdem der Minister durch Rescript vom 9. August 18S1 eine allgemeine Be¬
stimmung über Entlassung von Privatdocenten gegeben hatte, von demselben
^ Erlaubniß, Vorlesungen zu halten, wieder entzogen, weil er wegen
eines Preßvergchens verurtheilt war. Durch den Verlust seiner Stellung an
Universität geriet!) der junge Mann jetzt unter die Jurisdiction des Raths
der Stadt Rostock und dieser verfügte nun seine Ausweisung aus der Stadt,
wodurch jener zur Auswanderung aus Mecklenburg genöthigt ward. Auf
eine Gegenvorstellung Retslags an das Ministerium vom 28. November 1851,
in welcher derselbe um Bestellung eines Procurators bat, um die Negierung
verklagen zu sonnen, ward ihm unter dem 8. Januar 18S2 erwiedert, daß
diesem Antrage nicht gewillfahrt werden könne. Das Rescript schließt mit den
Worten: „Die Universität unterliegt nach der ausdrücklichen Bestimmung des
Paragraph 2 der Statuten auch hinsichtlich ihrer einzelnen Glieder der Ober¬
aufsicht der Regierung, welche auch das Recht in sich schließt, solche Glieder der
Universität, deren Verhalten mit dem Zwecke und de-r Würde der Anstalt un¬
vereinbar ist, auf administrativen Wege von derselben zu entfernen. Jener
Fall ist aber bei Ihnen dadurch, daß Sie sich einer Handlung schuldig gemacht,
derentwegen Sie eine criminelle Strafe erlitten, eingetreten."
Nach der hier ausdrücklich ausgesprochenen Ansicht, daß in dem Oberauf¬
sichtsrecht das Recht enthalten sei, mißliebig gewordene Universitätslehrer auf
administrativen Wege ohne vorgängiges Gehör und ohne irgendein geordnetes
Disciplinarvcrfahren aus ihrer Stellung zu entfernen, handelte denn auch bald
nachher der Minister v. Schröter gegen die drei Professoren, welche er in der
schon dargelegten Weise aus ihrem Amte entließ, und wiederum im Jahre 1838
gegen den Professor der Theologie Dr. Michael Baum garder. Das Ver¬
fahren gegen letzteren unterscheidet sich von dem gegen die erstgenannten drei
nur dadurch, daß der Minister in dem baumgartenschen Falle sich ein Actenstück
vom Konsistorium anzuschaffen wußte, in welchem dieses den Professor Baum¬
garten der fundamentalen Ketzerei und des geflissentlicher Eidbruchs beschul¬
digte und daß dieses Actenstück auf Anordnung des Ministers, zusammen mit
dem Rescript über die Amtsentlassung vom 6, Jan. 18S8 durch den Druck ver¬
öffentlicht ward. Ungeachtet der zahlreichen Schriften, welche diese Angelegenheit
hervorgerufen hat, sind die Anfänge derselben doch noch immer in tiefes Dunkel
gehüllt, da der Minister es für gut befundewhat, nur diejenigen Actenstücke zu ver¬
öffentlichen, durch welche das Consisiorium in den Vordergrund geschoben wird.
Das von ihm an das Consisiorium erlassene Rescript, welches zur Erstattung eines
Gutachtens über das Verhältniß der baumgartenschen Theologie zum Inhalt der
kirchlichen Bekenntnißschriften aufforderte und ohne Zweifel schon einige wohlberech¬
nete Fingerzeige hinsichtlich der Auffassung des Ministers enthalten hat, wurde da'
gegen ebenso wie die vor Erlaß der ministeriellen Aufforderung an das Consist^
rinn und nach Eingang des Consistorialerachtens zwischen dem Ministerium
und dem Oberkirchenrath in Schwerin über diese Angelegenheit gewechselte Kor¬
respondenz ^ von der Veröffentlichung ausgeschlossen. Auch über die münd¬
liche Besprechung des Ministers mit dem damaligen Consistorialdirector Mar¬
tini und die vertraulichen Verhandlungen des letzteren mit Krabbe, dem Ver-
fasser des Consistorialgutachtens, welche der amtlichen Aufforderung an das Con-
sistorium zur Abgabe dieses Erachtens vorausgingen, liegen nur sehr unbestimmte
Mittheilungen vor, und man wird wohl darauf zu verzichten haben, hierüber
jemals genaueren Aufschluß zu erhalten. Es leidet aber keinen Zweifel, daß
die eigentliche Ursache der gegen Baumgarten ins Werk gesetzten Maßregel
nicht in dessen angeblicher Ketzerei, sondern in der Besorgniß vor den politischen
Früchten der Wirksamkeit dieses freien, offenen und muthigen Bekenners der
Wahrheit zu suchen ist. Die Universität verhielt sich auch in dem baumgarten-
schen Falle vollkommen schweigend und verehrte in stummer Unterwürfigkeit
auch diesen Act der administrativen Allgewalt, welche der Minister sich beilegte.
Ein Zeugniß über die Ungerechtigkeit des Verfahrens, eine Reclamation zu
Gunsten der durch dasselbe gekränkten korporativen und persönlichen Rechte von
Seiten der Universität hätte ja dem Minister leicht Anlaß zu weiterer Purifici-
rung des Lehrerpersonals der Hochschule bieten können.
Geld nennen wir heute die zur Vermittlung der Tauschgeschäste und Be¬
rechnung der Tauschwerthe allgemein angewendete Waare. Grade der Umstand,
daß Geld mehr als irgendein anderer Verkehrsgegenstand überall geschätzt
wird, machte es ihm möglich, an die Stelle aller anderen Waaren als großer
Werthvermittler zu treten und so dem früher allgemein verbreiteten Tauschver¬
kehre ein Ende zu setzen. In zweiter Linie erst stehen seine leichte Umlaufs¬
fähigkeit und Aufbewahrungsweise sowie seine große und der eigenen Existenz
nicht hinderliche Theilbarkeit. Daher enthält unser Wort Geld, das nach Ja¬
kob Grimms Nachweis in den deutschen Rechtsalterthümern in alter Zeit alles
umfaßte, was man als Zahlung entrichtete, gerade den Kern seiner Bedeutung,
^ verweist auf die allgemeine Geltung der Münzstücke, während das grie¬
chische und lateinische Wort Nomisma und Nummus schon undeutlicher sich
auf die allgemeine Vorschrift. Richtschnur (Nomos) zurückbeziehen. Andere Be¬
zeichnungen, zumal neuerer Sprachen, wie das französische arZellt, das eng¬
lische monkzs sind von weniger wichtigen Seiten des Geldwesens hergenommen.
Aber die Römer nannten das Geld auch xe ouuia, und faßten hierin den
'
weiteren und einen engeren, der oben gegebenen Begriffsbestimmung sich sehr
annähernden Begriff des Geldes zusammen, Sie zeigen dadurch, wie viel besser
ihnen, als den übrigen alten Völkern, ihr dem Raume und Wesen nach aus¬
gebildeter Verkehr ermöglichte, die eigentliche Natur des Hauptverkehrsmittels
zu erkennen. Die Griechen selbst und zwar ihre bedeutendsten Köpfe
extravagiren bedenklich in der Begriffsbestimmung und Schätzung des Geldes.
Der Eine kennt Reichthum nur, wo er Geldschätze gehäuft sieht; — Ztcnophon
glaubt, des Geldes könnte die Welt nie genug erhalten, daher müßte dem im¬
merwährenden, ja steigenden Bedürfnisse stets ein gleich hoher oder gar steigen¬
der Curs desselben entsprechen. Ein Dritter, und kein geringerer als Aristoteles,
weiß zwar, daß nur zum Leben brauchbare, nützliche Dinge sich als Geld eignen,
trotzdem behauptet er, das Geld habe keinen Werth in sich, sondern sei in sich
leer, wie die Spielmarken, und erhalte Bedeutung und Geltung nur durch die
übereinstimmende Billigung und Anerkennung der Gesetze und der verkehrtrei¬
benden Menschen. Daher nennt er das Geld auch an sich unfruchtbar gegen¬
über den gebärenden Organismen und dem fruchttragenden Boden; lege man
es in den Kasten, so erzeuge es keine Jungen, keine Zinsen, nur Gesetze und
Menschen schrieben seinen Zinsertrag vor. Wie sollte dann gar das Darlehn
dem Verleiher Zinsen bringen, bei dem doch der Entleiher sogleich Eigenthümer
der entliehenen Summe würde? Das dargeliehene Geld verschlechtere sich ja
nicht durch den Gebrauch des Entleihers, auch bezahle dieser nicht mit den Geld¬
zinsen die Zeit seines Darleihens; denn die Zeit sei ein nicht in Geld schätz¬
bares, allgemeines Gut. gleich der Luft und dem Sonnenlichte. — Ihnen gegen¬
über bezeichneten die Römer mit Pecunia im umfassenderen Sinne nicht blos das
geprägte Geld, die Münzen, sondern alle Theile des Vermögens, unbewegliche
und bewegliche, körperliche und unkörperliche (z. B. Rechte), kurz alles, was
sich im Privatbesitze findet und Vermögenswerth hat. Im beschränkteren Sinne
dagegen hieß Pecunia ihnen das allgemein anerkannte und verbreitete Ver¬
kehrs- und Schätzungsmittel; und wie nahe sie hiermit zur Einsicht der diesem
Essay vorausgestellten Definition des Geldes gelangten, zeigt sich aus der treff¬
lichen Erklärung, welche Paulus, ihr größter Rechtskundiger, darüber abgiebt
(1. 1 v. 18, 1- eoutiAliöiräg, emtionö). Auch darauf, daß mit der allge¬
meinen Erkenntniß und Anerkennung des Geldes der Tauschverkehr endete,
weist schon mit Entschiedenheit, wenn auch in etwas äußerlicher, mehr juristischer,
als wirthschaftlicher Begründung Ulpian in den Worten hin: „Bezweifelt wird, ob
ohne die Existenz des Geldes heute von einem Kauf die Rede sein könnte, wie
wenn ich eine Toga gab, um eine Tunika zu empfangen. Sabinus und Cas-
sius meinen, dies sei ein Kauf, Nerva und Prokulus, es sei ein Tausch und
nicht ein Kauf. Aber richtiger ist die Meinung von Nerva und Prokulus.
Denn wie ein Unterschied besteht zwischen verkaufen und kaufen, Käufer und
Verkäufer, so ist auch etwas anderes der Kaufpreis, etwas anderes die Waare;
beim Tausche aber kann man nicht unterscheiden, wer Käufer und wer Verkäufer
sei." Während die Römer durch den vagen Begriff der Pecunia (von Pecus,
Vieh) noch an den früheren Zustand des Tauschverkehrs erinnern, in welchem
Vornehmlich die einzelnen Stücke Kleinvieh der zahlreichen Heerden. daneben
dann aber auch alle anderen Vermögensbestandtheile als allgemeine Werrhmesser
gelten konnten, 'beweisen sie gerade durch den begrenzten, bestimmten Begriff
desselben Wortes, daß der Vorzug des allgemeinen Werthmessers sich auf das
entwickeltere Verkehrsmittel übertrug, und hierdurch erst, nicht, wie willkürliche
Ausleger gegen den geschichtlichen Verlauf meinen, durch den vagen Begriff der
Pecunia bekunden sie, daß ihnen auch ein Einblick in das wirthschaftliche We¬
sen des Werthes vergönnt war.
Diese zwiefache Bedeutung des Geldes verarbeitete darnach die im Römer-
reiche erstehende christliche Kirche in ihre gewaltige systematische Sittenlehre,
Welche wir, da sie in Rechtsform auftrat und gelten sollte, das kanonische Recht
nennen. Auch hier wird auf die Sklaven, Geräthe, Bäume. Thiere, kurz alles,
Was von Menschen besessen werden kann, unter Pecunia hingewiesen, die Her¬
leitung des Wortes von dem Heerdenvieh festgehalten; aber sehr schnell knüpft
daran die Scholastik Vorwurf und Verbot gegen die Habgier der Menschen.
Welche alle Theile des Irdischen in dem Gelde begehre. Geld im engeren
Sinne waren die Geldstücke, sei es als gemünzte, sei es als Theile ungeprägtem
edlen Metalles, sei es eine bestimmte Quantität anderer Sachen.
Ueber diese Bedeutung des Geldes steht den kanonistischen Schriftstellern,
welche, da das Corpus Juris tanonici nichts über das Münzwesen enthält, die
Hauptquellen zur Erkenntniß seiner kirchlichen Gestaltung für die Zeit der
blühenden Scholastik und zum Theil bis in die Neuzeit hinein bilden, ein über-
raschend ausgedehntes Material zu Gebote. Homer rechnet noch nach der
Wertheinheit des Rindes. Drako legte dasselbe Maß seinen Geldstrafen unter,
Lykurg untersagte gar allen Geldgcbrauch, um seinen Staat sicherer durch Tausch¬
handel zu erhalten, die atheniensischen Münzen vor Solon weisen durch
den Stier ihres Gepräges noch auf die Vorzeit des ungefügen Geldes hin.
Uebereinstimmend damit sprechen die Pecunia der Römer und die Münzen
Mit Gepräge von Rindern und Schafen, sowie die alten in Heerdenvieh ge¬
messenen Vermögensstrafen von der Zeit einer rohen Werthcinheit. Deutsch¬
land kennt dieselbe von den Jahren des Tacitus und der Volksrechte her,
w denen deshalb die Pecunia mit den Thieren dieselben Grundsätze theilt
Uex ^risionum gM. say. ti. '11. „si Joao l>M oyuum guna Msti-
terit vel quamlibot alwu pecmüam.") und nicht durchweg mit unserm ge¬
münzten Gelde verglichen werden darf. Trotz der daneben längst bekannten
geprägten Münzen, welche römische Handelsleute, ja schon Phönicier und
Griechen unsern Voreltern brachten, trotz der vielen geschlichen Strafen und
Schätzungen (z. B. im Wergelde), welche in Münzen bemessen sind, trotz des
Einflusses der Geistlichen und Juden auf den Geldverkehr, welcher sich über¬
raschend früh und schnell steigend in einer Zahl von hierher gehörenden Rechts¬
geschäften wie Kauf. Verrenkung, Darlehn, Schenkungen u. a. offenbart, endlich
trotz des aufblühenden Gewerbes und Handels in Süd-, dans in Norddeutsch'
land überwiegt in Deutschland der Tauschverkehr, die Schätzung nach Rinder¬
zahl bis tief in das Mittelalter hinein. Noch unter Otto dem Großen legt
man Strafen in Rindern auf, gerade die maßgebendsten Rechtsquellen des
dreizehnten Jahrhunderts kennen einige der vornehmlichsten Geldgeschäfte kaum
noch. Wo sich der Gebrauch der Münzen nachweisen läßt, ist ihre Prägung
beschränkt, ihr Curs schwankend, ihr Geltungskreis sehr klein, oft nur eine
einzige Stadt, ihr Umlauf unscheinbar wegen des regen Tauschverkehrs, der
allgemeinen Naturalwirtschaft, des mangelnden Credits, der vielfach gesetzlich
nur Zug um Zug den Kauf gestaltete. So darf in dem durch Handel blühenden
Prag im vierzehnten Jahrhundert ein Creditkauf nur auf vier Wochen Frist
bei Verlust des Klagerechts daraus abgeschlossen werden; kaufte aber ein prager
Bürger von einem Fremden Waaren auf Credit, so mußte er dieses zur
Genehmigung dem städtischen Rathe anzeigen. Größere Mengen geprägter
Münzen brachten auf den Markt wohl erst die seit dem fünfzehnten Jahrhundert
eröffneten Bergwerke von Meißen, wie Hüllmann nachweist: dies alles Zeichen
des unbedeutenden Geldverkehrs, des überwiegenden Tauschhandels in den
Schriften der Kanonisten. — Wir können heute ihr Alterthumsmuseum erheblich
bereichern, müssen darin aber auch Zahlen und Thatsachen aufstellen, welche
den Charakter ihrer Sammlung wesentlich verändern. Denn wir wissen, daß
zum Theil heute noch z. V. Salzbarren in Mittelasien und Afrika. Thonziegel
in Hochasien, Datteln in Persien und der Sahara, Cakaobohnen und Baum-
wolle in Mittelamerika, Wachs in Südamerika, Zucker in Westindien, Taback
in Virginien, Stockfisch in Neufundland, gewebte Stoffe, Korallen, messingene
Ringe und Gürtel bei den Kaffern, serner bei den Völkern des hohen Nordens,
in Nußland, in Ländern der Hudsonsbaigesellschaft Pelze der Füchse. Marder,
Biber, Zobel nach einer festen, dem Curse unterworfenen Skala die Stelle des
Geldes vertreten, daß aus solchen Pelzen allmälig kleines von der Regierung
gestempeltes Pelzgeld, aus diesem das Metallgeld in. der Geschichte Nordasiens
und Rußlands sich gestaltete; wir wissen, daß heute noch der Isländer, im
Anklange an das alte schwedische sa (Vieh) -vermögen, seine Schätze unter dem
gleichen Worte und Begriffe zusammenfaßt. Daraus folgt für uns der allge¬
meine Satz, daß das wechselnde Mittel zur Befriedigung des Hauptbedürfnisses
aus den verschiedensten Culturstufen stets als Geld galt, wechselnd je nach der
Cultur im Stoffe, immer dasselbe aber als allgemein anerkannter Werthmesser
und Vermittler des Hauptverkehrs. Daher rührt es, daß edle und unedle
(ungeprägte, dann geprägte) Metalle je nach ihrem häufigen und mühelosem
Gewinn aus dem Boden der einzelnen Länder schon in früher Zeit mit den
eben erwähnten Naturgeldern concurrirten. Der alte Michaelis zeigt, daß hei
den Juden erst seit 1050 Goldmünzen cursirten. In Griechenland, zumal in
Sparta, erhielt sich das Eisengeld, welches nebst Zinngeld heute noch in Sene-
gambien und im Südosten Asiens gilt, lange im Verkehr: Kupfergeld begann
Wohl erst unter Philipp von Macedonien. — In Italien dagegen bewirkte der
ausgedehnte Verkehr mit Nordafrika eine frühe Circulation des Kupfergeldes.
Seit der Mitte des dritten Jahrhunderts vor Christus etwa datirt hier das
Silbergeld, nur große Staatszahlungen leistete man in Gold, bis endlich der
großartig gesteigerte Volksreichthum in der Kaiserzeit das Goldgelb allgemein
nothwendig machte. In derselben Zeit berichtet Tacitus von der Armuth
unserer Vorfahren, denen Silber im Verkehre wesentlicher galt, als Gold. Eben
der Volksreichthum bewirkt heute in England die allgemeine Goldcirculation,
so daß Silber die Stelle unseres Kupfergeldes vertritt, während bei Einführung
des Goldgeldes, etwa um 1260, kaum königliche Befehle den Umlauf des Gol¬
des in London ermöglichen konnten. Dem gegenüber quält sich im Kirchen¬
staate der Bauer, der Handwerker, der Krämer noch jetzt, in gewaltigen Kupfer¬
münzen von der Größe der preußischen Zweithalerstücke (circius L^joeelü —
Sgr.) seinen geringen Marktverdienst weniger Thaler in Tüchern heim-
Zuschleppen. — Daß schließlich die Edelmetalle den Hauptstoff der Münzen ab¬
geben, ist sehr erklärlich. Sie sind selten, der Luxus begehrt sie, sie concen-
t"ren ihren Werth in kleiner Masse, theilen sich deshalb gut, genau und sicher,
^rentiren leicht, überdauern die Jahrtausende, ertragen den Angriff der meisten
Zemente, und fügen sich wohlfeil dem Stempel des Staates, welcher ihre
Feinheit und Schwere anzeigt, und so statt der Privatleute sie erprobt und
wägt. Barren edlen Metalls, mit Angabe von Ort, Zeit und Feingehalt des
Busses als Prägung, sind das Geld des Völkerhandels und Völkerrechts; denn
die Autorität des einzelnen Staates tritt hier zurück.
Nicht so zweifellos indeß lagen diese heutigen Schlüsse über die Geschichte
Geldes den Kanonisten vor, die einmal das lehrreiche Detail nicht aus
ganzen Erdkreise sich sammeln konnten, und dann selbst in die von ihnen
zusammengestellten geschichtlichen Daten ihre kanonistisch-scholastischen Rechts- und
Sittengrundsätze fertig hineintrugen, um sie durch jene bestätigen zu lassen. Auf
^ehe Weise begründeten sie die Lehren vom Wesen des Geldes!, welche vermöge
ausgedehnten Macht der Kirche von tiefgreifendstem Einflüsse auf die Wirth-
gastliche Theorie und Praxis des Mittelalters und eines großen Theiles der
^uzen geworden sind.
Chrysostomus eifert in seiner Schrift über Matthäus gegen die Kaufleute.
welche, mit Lug und Trug gleichwie von einer Pest behaftet, um äußeren Han¬
delsgewinnes willen der christlichen Selbstlosigkeit untheilhaft seien, daher aus
der jungen Kirche ausgestoßen werden müßten, und er sagt, im Anschlusse an
die Vertreibung der Wechsler aus dem Tempel: das Geld bedeutet die
Menschen, diese zeigen Gottes, jene des Kaisers Bildzeigen sie es nicht,
so sind sie unrichtig, rsprodati. (<Z<zor. oral. bist. 88. esp. 11. §> ü.)
Jrinocenz der Dritte bezeichnet in einem Briefe an den König von Arra-
gonien 1212 (Zecretal. II. 24. cap. 18) eine unrichtige Münze als solche,
welche geringer an Gehalt und Gewicht sei, als die gesetzmäßige (vera, le^i-
tima, pi-odata). Der hierin zu Tage tretende Fundamentalunterschied wurde
natürlich auf diejenigen angewendet, welche Münzen prägten, also auf die Obrig¬
keit und die Falschmünzer. Die erstere allein hatte von Natur das Prägerecht,
ein Anderer nur durch sie oder durch Gewohnheitsrecht. Daher verwerfen etliche
Kanonisier, die Prägung der kleinen italischen Republiken, Städte. Freiherrn,
andere billigen sie, weil sie als Legitimation eigner Landeshoheit Münzen ihres
Bildes schlügen. Selbst die berechtigten Regierungen indeß schienen, wie man
aus dem römischen und kirchlichen Rechte, nicht aber aus dem wirthschaftlichen
und Nechtszwange des Verkehrs herleitete, bei Ausübung ihres Prägerechts hin¬
sichtlich des Stoffes, der Form und des Werthes der Münzen an bestimmte
Vorschriften gebunden. Das Geld edlen Metalles durfte nicht — abgesehen
von den Zeiten der Noth — aus weniger edlem oder durch seine Mischung
verschlechterten Stoffe gefertigt werden, mußte bestimmte Form und Zeichen
ihres Gehaltes und Ursprungs tragen, und den dem ungeprägtem Metalle
gleicher Quantität entsprechenden, höchstens durch die Herstellungskosten vermehr¬
ten Werth ausdrücken.
Diesen Werth sollte nun die Regierung nach der im Verkehre zu Tage
tretenden Schätzung des Metalles bestimmen;'da indeß hierbei weder Zwang
noch Controle gegen sie zu üben war, so folgte daraus, daß die Regierung,
und nur sie, den Werth der Münzen bestimmte. Die Regierung konnte hierbei
natürlich so wenig wie in andern Punkten der Meinung ihrer Unterthanen,
den Resultaten des Marktverkehrs unterworfen sein, vielmehr war es Recht und
Pflicht der absoluten Herrschaft und unbegrenzten NegierungSvormundschaft, zu¬
mal im Sinne der kirchlichen Schriftsteller und des Papstthums, jenen Werth
des Geldes ebenso von oben her zu setzen, wie die Regierung den Preis der
im Verkehr umlaufenden Waaren durch Polizeitaxen vorschrieb und mit Zwang
durchführte. Hierdurch gestaltete sich der Geldwerth zwiefach unveränderlich,
einmal wegen seiner eigenen, zweitens wegen der Taxe der Waaren; letztere hätten
ohne Taxe der Obrigkeit das Geldfixum jeden Augenblick durch ihren schwan¬
kenden Preis illusorisch gemacht.
Diese wirthschaftlichen Grundsätze finden sich auch im lanonistischen
Wechselrechte wieder. Nach langem Streite verwarfen hier im sechzehnten Jahr¬
hundert die Päpste den trocknen (Sola-) Wechsel und billigten nur den gezoge¬
nen Wechsel, wo dieser bis zur nächsten Wechselmesse oder auf „angemessenen
^so" (aä IvAitimum usum eanMorum, qusiu neesssitas publica iuäuxit)
gestellt war. Denn der Wechselkäufer erwerbe den seutus (denkender Schild)
d- h. das im Wechsel enthaltene Geld. Hier aber unterlag die Regierung«,
gwalt bald dem Widerstreite der Wechselpraxis, welche täglich das Unhaltbare
solches starren polizeilichen Eingriffs in den aus vielen inneren Gründen zeit¬
lich und örtlich schwankenden Wechselkurs aufdeckte, und man mußte sich be¬
quemen, diesen Curs durch die Wechsler oder Haupt,kaufleute an den vornehm-
l'chen Handels'tagen und Orten jedesmal nach Ausweis des Verhältnisses
von Angebot und Nachfrage feststellen zu lassen, eine Praxis, die neuerdings
"und für die Geschichte des deutschen Wechsclrechtes nachgewiesen ist.
Daß dieser selbe Sieg des Capitalverkehres sich auch über die obigen Grund¬
sätze der Geldtaxen geltend machte, bewirkte allmälig die Naturwidrigkeit der
Zündsätze selbst, zuvor und schneller aber thaten die Regierungen das Ihrige
^zu. Ihr anerkanntes Recht, in der Zeit der Noth die obigen drei sittlichen
Schranken der Geldprägung zu überschreiten, ließ sie zu Gunsten ihrer Kassen
bald die Noth herbeiwünschen, sie oft vorhanden sehn, ja sie selbst erzeugen,
den Fällen besonders krasser Mißtaxen erlaubte daher das kanonistische Sy-
sogar, daß der natürliche Curs der Münzen die Taxen beseitige. Die
Masse der Fehden und Wirren in dem erst halb cultivirten Continente, die
räumliche und zeitliche Zerrissenheit der Münzgebiete, der unmittelbare und mittel¬
bare gewinnsüchtige Eingriff der benachbarten Münzherren in die vielleicht an¬
gebahnte Besserung der heimischen Geldprägung machten ein Innehalten der
^monistischen Prägenormen um so weniger möglich, als diese Normen schon an
der Natur der Wirthschaft und des Rechtes entgegenstanden.
nachhaltiger noch und mit dem fortschreitend steigenden Capitalumlauf
»inner entschiedener erschütterte eben diese ihre Naturwidrigkeit die obigen
Grundsätze. — Aus einigen der zuletzt angedeuteten Momente erhellt schon die
^"Möglichkeit, über die Grenzen der meist engen Münzgebicte hinaus der Münze
declarirten Werth zu erzwingen, ja nur innerhalb dieses Gebietes den
Werth gegen die Wirkungen der benachbarten Münzoperationen und Münz-
""ßblä'nahe zu vertheidigen. Hierzu kam der unvermeidliche schwankende Curs
Edelmetalle und das fluctuirende Verhältniß zwischen Angebot und nach¬
jage des Geldes selbst. So groß das kanonische Recht in seiner äußeren Cor-
^uenz. so kühn ist es in seinen Fictionen. Man sagte, die taxwidrigen Curse
Geldes billige die Negierung, weil sie sie nicht verbiete. Ein Wort statt
^r offenen Verwerfung jener Scheinconsequenz.
Diese Consequenz fußte aber nicht in leerem Eigensinne, sondern in der
innersten kanonistischen Grundanschauung vom Wesen des Geldes. Das Geld
ist darnach zunächst allgemeines Tauschmittel, aber man tauscht nicht eine Sache
gegen den innewohnenden Werth der Münzen, sondern gegen die Münze als
Münze, als sinnlich vorliegenden Gegenstand mit staatlich declarirtem Werthe.
Daher ist in diesem Sinne (übrigens unter Einwirkung noch anderer Mo¬
mente) auch das Geld an sich unproductiv. etwa wie die Stein-, die Holzwaaren
u. dergl. Somit kann es ferner auch eine Waare, wie diese, genannt werden,
welche je nach Angebot und Nachfrage (z. B. beim Geld- und Wechselhändler)
im Preise schwankt. Als Waare erhält es eine Polizeitaxe, wie andere Waaren;
dieser bedarf es aber vornehmlich, weil es das allgemeinste Tauschmittel ist,
das deshalb auch Preis der andern Waaren und seiner selbst heißen kann. Nur
sein ausgedehnter Tauschgebrauch unterscheidet es von andern Waaren, es ist
auch in kanomstischem Sinne nicht eine Sache ganz besonderer Natur,
wie neue Wirthschaftshistoriker haben entdecken wollen, indem sie die-geschicht¬
liche Entwicklung hintansetzen und übersehen, daß nicht wenige ihrer entdeckten
Besonderheiten aus dem einen Wesen des Geldes als Waare auch kanonistisch
folgen. Hierin ebenso, wie in dem Betonen der Münze als Münze mit staat¬
lich declarirtem Werthe liegt die kanonistische Vorstellung unserer Geldanschauung
nicht so fern, weil wir in dem Staatspapiergelde und bei dem enorm ge¬
steigerten persönlichen Credite auch in dem Privatpapiergelde (Actien, Noten.
Billets, selbst Wechsel) ebenfalls Geldzeichen haben, die nur durch den in ihnen
declarirten und angenommenen nicht durch den in ihnen selbst liegenden
Werth Haupttauschmittel sind.
Mit dieser Anerkennung des Geldes als Waare unter einer ihr besonders
nöthigen Polizeitaxe konnten aber die Scholastiker sich natürlich nicht gegenüber
den Kursschwankungen des Geldes helfen; denn auch die Waaren sollten von
ihren Polizeitaxen im Preise nicht abweichen können, oder die Geldtaxen wie
Waarentaxen bestritten nicht sowohl das abweichen können, als das.abweichen
dürfen. Und nicht erst um die Möglichkeit der Abweichung von der Geldtaxe
zu rechtfertigen, sondern in viel allgemeinerem, in der Natur des Geld-Verkehrs
begründetem Sinne, den jene wirthschaftlichen Historiker selbst anerkennen, con-
statirten die Kanonisten in dem Gelde die Waare. Sie rechtfertigten ja hier¬
mit auch nicht die Kursschwankungen des Geldes als Preis; denn, wo es Preis
war, war es ja eben nicht Waare.
Genug Widersprüche häuften sich übrigens im Geldverkehr bei den Kanonisten
auch ohne die oben besprochenen. Denn das Geld blieb nach Obigem immer ein
Tauschmittel (Waare als Waare) und wieder das Tauschmittel (Waare als
allgemeines Werthmaß, als Preis); beidemal gesetzlich taxirt und beidemal
doch schwankend im Preise. Gegen letzteren Punkt half natürlich nicht, wenn
man jene zwei Seiten des Geldes als unvereinbar erklärte; dieses oder das
dadurch bedingte Schadensinteresse betonten nur, daß jene zwei Seiten existirten.
Bei dem in Italien dann in Frankreich, schließlich auch in Deutschland ge¬
waltig emporsteigenden Wechselverkehr, wo der Cursunterschied der gegen ein¬
ander gewechselten Geldsorten in jedem Wechsel, also millionenfach der kirchlich
theoretischen und weltlich praktischen Geldtaxe entgegentrat, verwies man auf
die Arbeit des Wechslers beim Bereithalten und Hingeben der verschiedenen
Gelder, auf sein Risiko bei Transport des Geldes und machte eben deshalb
unter Verwerfung der trocknen Wechsel jene zwei Momente zum Bedingniß der
Tratten und des Wechselgewinnes daraus. Man täuschte damit sich selbst kaum,
den Verkehr gar nicht; und daß man letzteren nur ein Jahrhundert lang zwang,
sich in trocknen oder in gezogenen Scheinwechseln heimlich oder offen dem ka-
nonistischen Principe entgegenzustellen, ist neuerdings für die romanischen Wech¬
selgebiete und selbst für Deutschland aus Quellen erwiesen worden.
Hieraus geht aber, was sehr wesentlich, soviel hervor, daß die Scholastiker-
allgemein entfernt waren, das Geld nur zum Kaufe geeignet anzusehen, es in
sich für unfruchtbar zu erklären. Eine einzige Stelle im Corpus des kanonischen
Rechtes weist zwar hierauf mit bestimmten Sätzen hin (e. 11 §.4. aise,. 88).
Aber diese Stelle hat eben das Geld als General-Tausch Mittel besonders im
Auge und findet deshalb so durchgreifende Unterschiede zwischen ihm und den
Verkehrsgegenstäuden, die natürliche oder civile Früchte hervorbringen (Acker
und Haus). Daß sie nicht von dem Wesen des Geldes selbst erschöpfend reden
Will, erweist die in ihr ausgedrückte einseitige Veranlassung der Unterscheidung,
serner die Absicht der ganzen Stelle, das wucherische Treiben der Kaufleute zu
beurtheilen. Und dies ist auch der Zielpunkt, gegen den sich der Angriff der
Kanonisten richtet. Sie wollen zur Verwirklichung christlicher Selbstlosigkeit
jeden Wucher, jede Vergütung für den Gebrauch fremden Capitales mit sitt¬
licher Rüge und rechtlichem Zwange beseitigen, unterdrücken, unmöglich machen.
Daher lassen sie das Gesetz vor allem befehlen: das Darlehn, das wunderliche
Hauptgeschäft, soll zinslos, unfruchtbar sein. Erst um diesen unorganisch aus
einseitiger Sittenlehre in den Verkehr geschleuderten Satz, der nur aus dieser
Sittenlehre her verstanden und begründet werden kann, auch wirthschaftlich schein.
zu begründen, greift in der erwähnten einzigen Stelle Chrysostomus —
"iso zu einer Zeit (i. I. 370), da man noch nicht kanonistisch-nationalökono-
'"'sche Systeme aufführte — zu Aristoteles zurück und sagt in tanonistischem
leiste: das Geld sei nur zum Kaufe und habe keinen Gebrauchswerth. Dies
^ der geschichtliche Gang: erst sittliche Wucherrüge, dann rechtliches Wunder-
t^bot, zuletzt dessen Begründung aus dem Wesen des Geldes und andern
Momenten. Die Nächstenliebe ist Ausgangspunkt und Begründung des Wu-
chergesetzes, nicht die neue Geldtheorie. In dieser Folge erhalten die Sähe des
eifernden Chrysostomus eine modificirte Bedeutung. Daß diese die richtige,
erweist die Ncchnungsprobe. Die Scholastiker bauten diese sogenannten Grund¬
züge der kirchlichen Geldlehre (oder gar Wucherlehre) kaum aus; wir haben aus
der frühen und aus der Hauptzeit des Mittelalters mehre ihrer geläufigen Geld¬
geschäfte, in denen von fast allen das Geld als fruchtbares Capital verdeckt
und offen anerkannt ist. Wir erinnern an die bestimmten Fälle des Kauf¬
gewinnes. an das Seedarlchn, an die Verzugszinsen und vornehmlich an das
statt der Convcntionalzinscn eintretende kanonistische Interesse, an den Renten-
kauf, an den Wechselvertrag, an die Zinsgeschäfte der Juden, der Wechsler, an
die Nontes pietatis, die alle vom kanonischen Rechte gebilligt worden sind.
Und sagten nicht da, wo eine Münzveränderung während einer schwebenden
Geldschuld eintrat, selbst fanatische Kanonisten. wie Andrea und Tellez. die
Münzen seien zu zahlen nach dem Werthe, welchen sie zur Zeit des Con-
tractschlusses hatten?! Gegen die Reihe dieser geschichtlichen Beweise besteht
die scharfsinnige, aber einseitige und qucllcnwidrige Entdeckung der ganz beson¬
deren kanonistischen Geldtheorie nicht.
Auch ohne diese wirken eine Reihe der oben dargelegten kanonistischen Irr¬
lehren über das Wesen des Geldes noch in den heutigen Nechtssystemen und
verschärfen bei der schnell fortschreitenden wirthschaftlichen Entwicklung den
Gegensatz zwischen dieser und den Rechtssätzen vom Gelde, vom Werthe, vom
Schadensersatz, von Uebertragung, Zahlung einer Forderung, von Wechsel,
Papier auf den Inhaber, Banknoten u. a. Darum ist es wichtig, ja noth¬
wendig, diese Reste früherer einseitiger Doctrinen in Recht und Wirthschaft ge¬
schichtlich zurück und wieder bis auf die Gegenwart hin streng quellenmäßig zu
verfolgen; dadurch erweisen sich dann die Neste als solche, und es löst sich der
Bann, mit welchem sie das Recht von seiner Hauptaufgabe fernhalten, gesetz¬
licher Ausdruck der wirthschaftlichen Institute und Grundsätze zu sein.
Die Regierung von Hannover hat nach Bericht der Zeitungen vor Kurzem
ihrer Telegraphcnstation in Bremen die Annahme preußischer Kassenanweisungen un¬
tersagt. Es scheint, daß dies Verbot einen Kriegszug gegen Credit und Wesen des
vielgehaßtcn preußischen Staates eröffnet. Uns wird gleichzeitig der Druck eines
Soldatenliedes mitgetheilt, welches in den Kasernen des Welfenstaates zur Förderung
kriegerischer und patriotischer Empfindungen verbreitet wird. Es ist auch als volks¬
mäßiges Soldatenlied ein rohes Gedicht, die Tendenz der Verbreitung und das Ta¬
lent des Verfassers stehen auf einer Linie. Wir halten trotzdem für nützlich, dasselbe
den Lesern dieses Blattes mitzutheilen, denn es ist charakteristisch für den Geist, wo¬
mit man das eigene Wesen gegen die gefürchteten Uebergriffe des Nachbars zu schützen
sucht; es zeigt auch, zu welchen Maßregeln die Animosität verleiten kann und wie
peinlich sich die Gegensätze in Deutschland gespannt haben. Dergleichen wäre doch
sonst — auch in der schlechtesten Zeit seit 1815 — in keiner Kaserne eines deut¬
schen Staates geduldet worden. So aber singt im Jahr 1865 der hannöversche
Grenadier:
Bon Müller IV. von der Klar Compagnie des 3ten Hann. Infant.-Regia, 2tes Bataillon.
Mei, Wohl auf noch getrunken.
Der bekannte Herr der Wanzen und der Mäuse, Mephistopheles, spricht irgendwo
die finstre Wahrheit aus: was besteht, verdient daß es zu Grunde geht. Wenn der
Leser geneigt sein sollte, dieser Art von Triaspocsie und Politik ein schnelles ruhm¬
loses Ende zu prophezeien, so hoffen wir, daß eine andere Probe deutscher Gelcgen-
hcitspvefic ihm anmuthiger erscheinen wird. Auch sie stammt aus dem Gebiete der
Trias, auch sie enthält eine politische Anspielung auf das übergreifende Preußen;
aber es ist ein gelehrter Sachse, dem wir sie verdanken, und kaum ist ein größerer
Gegensatz denkbar als zwischen ihrer milden, höflichen Ergebenheit und dem wilden
Welsentrotzc des erwähnten Müllers. Die Probe, ebenfalls sehr charakteristisch, ist
nämlich einem Hochzeitsgedichte entnommen, welches der Rector eines leipziger Gym¬
nasiums, Robbe, Ritter A, wohlbekannt durch ähnliche Leistungen in Vers und
Prosa, neulich zur Vermählung einer liebenswürdigen Prinzessin des sächsischen
Königshauses gefertigt hat Die Worte des gelehrten Dichters lauten:
'
Nicht in jeder Periode unserer historischen Entwickelung ist der Poesie vergönnt,
das Höchste groß zu sagen. Aber geschmackvoll, patriotisch, gefällig und erheiternd
vermag sie, wie dieses Fragment beweist, doch auch in trüber Zeit zu unserem
Herzen zu sprechen.
In dem mitgetheilten poetischen Bruchstück des sächsischen Dichters ist der Sinn
der beiden ersten Vcrszcilen unzweifelhaft, die Behauptung entschieden, die aus¬
gesprochene Wahrheit auch für dieses Blatt unanfechtbar. Dagegen verrathen die
Agenten Zeilen allerdings den Parteistandpunkt des Verfassers; die Anspielung auf
^ Theilung Sachsens und auf den Wunsch gewisser Mächte, gar das Ganze zu
Nehmen, zittert wie ein elegischer Trnucrklang durch die freudige Erregung des
Hywnus. Aber wie sehr unterscheidet sich auch hierin der gebildete Dichter von dem
^UlM Verfasser des Welfcngesanges. Es ist eine leichte, zwar traurige, aber doch
schelmische Anspielung, womit er sich begnügt, fast genau der resigniren Humor,
welcher in dem bekannten Klagelied des Haasen ertönt, wenn dieser singt! „Ein
Schwänzchen hab' ich, das ist klein, wünscht' wohl, es möchte großer sein", und
zuletzt, nachdem er die ihm bevorstehenden Zurüstungen für die Küche aufgezählt hat,
mit den wehmüthigen Worten schließt: „Laßt euchs schmecken, ihr werthen Gast."
Auch Robbe faßt die Gefahr philosophisch, er klagt nicht, er droht nicht, er lächelt
ruhig mit einem allerliebsten Sarkasmus.
Nur in der Sache hat er nicht recht, Sie, nämlich jene Mächte, welche wir
am liebsten gar nicht bei Namen nennen, wollen es, nämlich das Reich, welches der
Dichter ungenannt läßt, gar nicht sür sich nehmen. Dort ist „oben und unten" weniger
guter Wille dazu vorhanden, als Robbe voraussetzt. Dennoch aber sind auch wir
tief durchdrungen von der Gemcinschädlichkeit eines politischen Zustandes, welcher aus
den Kasernen Hannovers und aus dem Musensaal eines loyalen Scholarchen solche
poetische Ergüsse heraustreibt. Wenn schon die Muse des Liedes, die gcmüthvollste
aller himmlischen Gewalten, ihr Antlitz so entschieden von dem unglücklichen Preußen
abwendet, was erst werden die strengeren Götter der Erdgebornen gegen diesen Slaven-
staat auf deutschem Grunde ersinnen? Das Aergste ist zu fürchten, denn die stärksten
Säulen brechen, wo der Sänger flucht. Kommen mag der Tag, wo auf den Land¬
karten im Osten des Triasgebictes ein schwarzer Fleck statt xines großen Stüdtcnetzcs
das Auge erschreckt, wo das Reich Müller des Vierten und Nobbes durch einen hohen
Plcmkcnzaun vor dem Chaos der Marken geschützt wird und häufig aufgerichtete
Stangen die warnende Aufschrift in der Sprache Müllers zeigen: „Hier dahinter
ist nischt". Dann wird Freude, Friede, Eintracht die deutschen Gauen beglücken,
dann wird der letzte Floh von Rendsburg getödtet werden, und der Orpheus, wel¬
cher jetzt vom goldenen Vließe sang, wird dann in höherem Schwunge den Unter¬
gang des neuen Jlions feiern.
Der Titel ist noch länger. Inhalt sind die Kämpfe der Römer gegen Gallier
und Deutsche in den beiden letzten Jahrhunderten vor Christi Geburt. —
Der vollständige Mangel einheimischer Nachrichten über die Kämpfe der Germanen
gegen Rom und die Mangelhaftigkeit der römischen Ueberlieferungen machen es un¬
möglich, dieselben ohne immerhin gewagte Combinationen zu schildern. Das vor¬
liegende Werk ist ein ausführlicher Versuch, diese schwierige Aufgabe zu lösen. Der
geehrte Verfasser war ernstlich bemüht, das vorhandene Material zu ordnen, die
Widersprüche auszugleichen. Manche Punkte werden wahrscheinlich der philologischen
Kritik Veranlassung zu Ausstellungen geben. Für den Leser aber, welcher die Krieg¬
führung der Römer kennen und erfahren will, wie Cäsar und seine Nachfolger,
zumal Drusus, es verstanden ein Land zu erobern und die wilde und an sich ihnen
überlegene Naturkraft ihrer Gegner zu besiegen, dem darf das vorbezeichncte Buch
empfohlen werden. Es giebt zumal in seiner zweiten Hälfte ein sehr klares Bild
der Straßen und Festungsanlagen, durch welche Roms Feldherrn Deutschland um¬
schlossen und für lange Zeit die Fortschritte der drängenden Deutschen aufhielten'.
Besonders empfehlen möchte man diesen Theil des Buches dem Studium der nord-
amerikanischen Feldherrn, welche in der Ueberwindung der Südstaaten nicht vor-
schreiten, weil sie es nicht verstehen, ihre Operationen zu basiren und ihre Siege
zu Klammern zu machen, welche den Gegner fest legen. — Die Blicke, welche Ge¬
neral v. Pauker vom römischen Lager aus wiederholt auf das deutsche Kriegswesen
wirft, Hütten vielleicht ein helleres Bild dieser Seite entworfen, wenn sie durch die
Resultate der neuesten Statistik regulirt worden wären. Es wäre Wohl möglich ge¬
wesen, aus der Stärke der auftretenden Heere Rückschlüsse aus die Zahle» der deut¬
schen Völkerschaften und dadurch auf die Ackerflächen zu machen, welche sie zu ihrer
Ernährung forderten. Werth und Gang der Eroberungen der deutschen Gaue
Wären dadurch mehr hervorgetreten und die alte unklare Vorstellung von den da-.
Maligcn deutschen Urwäldern, Sumpfstrecken u. s. w. etwas gelichtet worden. —
Das Buch, anscheinend nur eine lobende Biographie vom Partcistandpnnkt,
giebt doch zur Beurtheilung des Krieges in Nordamerika interessante Anhaltpunkte,
weil Butler bei der Besitznahme von Neuorleans zuerst berufen war, über die Zu¬
kunft der Negersklaven, die sich massenweise herrenlos einstellten, zu entscheiden, und
als Eroberer eine Staatsgewalt zu handhaben, die dem Geiste der nordamerikanischen
Regierungsweise durchaus fremd war. Butler erklärte sich von Anfang an für die
volle Emancipation der Neger und begann sie in seinem Gebiete auszuführen, indem
er die Regierung so lange die Rolle des Eigenthümers der Sklaven übernehmen ließ,
bis es gelang, diese in selbständige Lebensstellungen zu bringen. Er erreichte dies,
indem er sie zu Soldaten und zu Pächtern des Staats machte. Hierin sowohl als
auch in der strengen Durchführung der Gewalt eines erobernden Staates gegenüber
d°n Einzelnen trat er in Conflict mit der herrschenden Ansicht Nordamerikas, welche
Staat das Recht, in das Leben des Individuums einzugreifen, argwöhnisch
^schränken will. Butler wurde von Neuorleans abberufen, hat aber seitdem die
Rechtfertigung erfahren, daß seine Ansichten zur allgemeinen Anerkennung gekommen
sind, sowohl durch Emancipation der Neger als auch durch allmälige Entwicklung
?mer stärkeren Ccntralregierung. Wie sich der Conflict in Neuorleans bildete und
zu einer für den General ungünstigen Lösung kam, ist sehr anschaulich, wenn auch
nicht in einer immer ansprechenden Weise beschrieben. —
Das Buch beginnt mit den Ereignissen des Winters 1813 zu 14 und erzählt
davon bis zum Beginn des Krieges 1815. Man muß den Ausdruck erzählen in po¬
pulärem Sinne nehmen, weil der Verfasser, fern davon, ein historisches, die Ereig¬
nisse erklärendes Werk zu schreiben, sich vom Kritischen fern hält; er berichtet wie
ein guter Alter seinen Kindern die Erinnerungen seiner Jugend mittheilt, die er
durch einzelne anderweitig gesammelte Nachrichten und Anekdoten ergänzt. Wie der
Verfasser die große Zeit weniger mit dem Geiste des Historikers faßt, als mit dem
Herzen eines ehrlichen Soldaten, so läßt er auch die Charaktere jenes Kampfes nicht
aus den Ereignissen heraus, sondern nach ihrem Gefühl und nach gemüthlichen An¬
schauungen handeln. Napoleon ist deshalb nicht ein durch eigene übergreifende Kraft
zum Herrscher gewordener General, der als solcher jeder Qualifikation zu einem con-
stitutionellen Monarchen entbehren muß, sondern ein grausamer Tyrann und gebo¬
rener Wütherich. In dieser Hinsicht ist das Buch mehr für die Leser geschrieben,
welche die Menschen kurzab in gute und böse theilen, als für diejenigen, welche die
Entwickelung unserer Staaten und unseres eigenen Geistes in der Geschichte studiren
wollen. Nach dem Standpunkt, auf welchem die Literatur der Freiheitskriege steht,
zumal nach dem Werke von Bernhardt, war diese Geschichte wenigstens anspruchs¬
vollen Lesern kein wesentliches Bedürfniß.
Mit Mr. beginnt diese Zeitschrift ein neues Quartal,
welches durch alle Buchhandlungen und Postämter zu be¬
ziehen ist.
Leipzig, im März 1863.Die Verlagshandlung.
^
Der menschliche Witz hat sich zuweilen damit beschäftigt, eine pikante
Situation auszumalen: ein Todter, ein großer Mann der Vergangenheit, kehrt
nach Verfluß geraumer Zeit aus diese Erde wieder; alles hat sich in¬
dischen verändert, Sitte, Tracht, Bauart der Häuser treten ihm fremd ent¬
Segen, eine Reihe neuer Erfindungen hat sich inzwischen heimisch gemacht,
die Bedürfnisse, die Lebensanschauungen sind anders geworden. Mit Staunen
steht sich der Bürger eines anderen Zeitalters in der fremdgewordenen Welt
um, und mit Verwunderung steht das lebende Geschlecht den Vertreter der Ver¬
gangenheit in seiner Mitte und vermißt an ihm den Fortschritt der Zeit.
Aehnlich ist der Eindruck gewesen, als im vorigen Jahre Schleiermachers
Vorlesungen über das Leben Jesu aus der Verborgenheit, in welcher sie geruht,
üblich ans Tageslicht gezogen wurden. Der wiedererstandene große Gelehrte
fand sich verwundert in einer neuen Welt, und verwundert sah das jetzige
Geschlecht den Träger des verehrten Namens plötzlich wieder in seiner Mitte
"scheinen.
Noch sind kaum dreißig Jahre seit Schleiermachers Tod verflossen, und
dennoch, dies war der erste Eindruck. Eine kurze Spanne Zeit, aber erfüllt
Von den Veränderungen eines ganzen Zeitalters! Der tiefgreifenden Bewegung,
welche sich an Strauß' Leben Jesu knüpft und seitdem die theologische Wissen-
^äst umgestaltet hat. konnten wir uns in keinem Moment deutlicher bewußt
werden, als da wir das längst erwartete Werk in Händen hatten. Wir begriffen
^tzt, warum es von den Freunden so lange zurückgehalten worden war. weniger.
N'arna eben jetzt die Scheu vor der Veröffentlichung überwunden wurde. Denn
Kenn auch jedes Werk von Schleiermacher den unverwischbaren Stempel seines
Geistes trägt, und dem Fremdling ein achtungsvoller Empfang auf jeden Fall
sicher war, so war doch unverkennbar, daß durch die Veröffentlichung im jetzigen
Augenblicke nicht blos eine verjährte Schuld abgetragen, sondern zugleich eine
bestimmte Wirkung aus die gegenwärtigen theologischen Kämpfe ausgeübt werden
sollte. Hierzu aber schien die Zeit ebenso ungünstig, als in einer Beziehung
günstig gewählt. Günstig, sofern der Gegenstand selbst eben jetzt das allgemeine
Interesse in Anspruch nahm, und es nur erwünscht sein konnte, die Darstellung
des Meisters, der zum ersten Mal das Leben Jesu zum Gegenstand von Vor¬
lesungen machte, und schon damit seine Stellung auf der Grenzscheide zweier
Zeitalter anzeigt, nunmehr in authentischer Form zu besitzen. Allein es ließ
sich weder ein erheblicher Gewinn für die Arbeiten der Gegenwart absehen,
welche in der That auf ganz neuen Grundlagen, aus neuen Problemen beruhen,
noch konnte es ein Gewinn für das Ansehen des großen Theologen selbst sein,
in eine Debatte gezogen zu werden, welcher er mit den unzulänglichen Mitteln
einer vergangenen Zeit, fast wehrlos gegenüberstand. Es war also doch wesent¬
lich nur ein historisches Interesse, welches sich an die neue Publikation knüpfte,
zumal es bei der Beschaffenheit des Materials, das man im Nachlasse vorfand,
nur in höchst unvollkommener, fast ungenießbarer Form dargeboten werden
konnte. Es erforderte eine besondere historische Stimmung, wie man zum
Genuß eines älteren Kunstwerkes, das etwa im Uebergang zweier Schulen steht,
eine eigene historische Stimmung mitbringen muß.
Freilich wenn man sich einmal in diese Stimmung versetzt hatte, so ent¬
hüllte sich Schritt für Schritt der eigenthümliche Werth des neuen Buches.
Wir meinen nicht die Lichtblicke, die scharfsinnigen Bemerkungen, die über¬
raschenden Combinationen, welche wie Goldkörner im Geröll aus dem krausen,
schwerfälligen Vortrag zu Tage treten. Diese Vorzüge verstehen sich bei Schleier¬
macher von selbst. Aber was besonders anzog, war, daß man von jedem Ab¬
schnitt den Eindruck empfing, man befinde sich einem Werke gegenüber, das
hart auf der Scheide zweier Weltanschauungen steht, und den Kampf, in wel¬
chem eine neue Zeit mit einer alten liegt, wie kein anderes repräsentirt. Wir
sprachen von einem Bild, das die Grenze zweier Kunstweisen bezeichnet. Es
giebt kein interessanteres Studium für den Kenner. Zug für Zug wird er der
Intention des Künstlers nachgehen, wie dieser einem neuen Ideale zustrebt und
doch auf halbem Wege zurückbleibt, hier die Befangenheit der älteren Weise
kühn durchbricht und dort in die alte Gebundenheit zurückfällt. Die Betrachtung
solchen Widerstreits wird ihm selbst den Genuß aufwiegen, den ein in seiner
Art vollendetes Kunstwert gewährt. Genau dies ist der Reiz des schleier-
macherschen Lebens Jesu. Es ist kein Lebe» Jesu, viel weniger als alle die
Bücher, welche seitdem unter diesem Titel erschienen sind.
Es ist eine angestrengte Dialektik, die auf dem Boden der biblischen Ge¬
schichte das Alte und das Neue zu versöhnen sucht, die Anforderungen des
Kirchenglaubens retten will und doch durchdrungen von überlegenem zukunft¬
erfüllten Geist auf jedem Punkt darüber hinausgeführt wird, die den Bedürfnissen
des modernen Geistes Raum schaffen will und doch jeden Augenblick^gehemmt durch
den Dämon einer geheiligten Autorität wieder zurücksinke, eine Dialektik, die
zwar ein ideales versöhnendes Ziel im Auge hat, aber inneren Widerspruchs
voll den Weg dazu nur durch künstliche und — man kann es nicht läugnen —
sophistische Mittel finden kann, um am Ende doch des Zieles zu verfehlen. Wie
oft ist Schleiermacher nahe daran, die mythische Auffassung der überlieferten
Berichte anzuerkennen, aber indem er den Schritt thun will, zupft ihn jener
böse Dämon am Arme und spiegelt ihm ein Auskunftsmittel vor, bei welchem
er sich, wenn auch ungern, beruhigt. Wie frei ist im Grund seine Stellung zur
Schrift, und wie wird sie doch wieder eingeengt durch Machtsprüche des sub-
jectiven Bedürfnisses, durch Lieblingsmeinungen, in welchen.sich jene Gebunden¬
heit verräth! Wie klar fühlt er die Widersprüche der evangelischen Bericht¬
erstatter, welche seine Nachfolger wieder ängstlich zuzudecken beflissen sind! Aber
wo er sich zur Entscheidung für oder wider genöthigt sieht, sind es wiederum
nicht objective Gründe, welche ihn bestimmen, sondern vorgefaßte Meinungen,
die ihren letzten Grund darin haben, daß er nun einmal entschlossen ist, den
Hauptwiderspruch nicht anzuerkennen und, gehe es wie es wolle, zu vergleichen,
den Widerspruch zwischen dem Kirchenglauben und dem modernen Denken.
Wie ernst fühlt er das Bedürfniß, das Leben Jesu als ein echt mensch¬
liches darzustellen, aber er will zugleich nichts von dem göttlichen Erlöser der
Kirche wissen. Er schafft sich für sein persönliches Bedürfniß ein Idealbild vom
Erlöser, das aber weder den Anforderungen der Autorität noch den Denkgesetzen
des modernen Geistes entspricht, und indem er dieses Idealbild, das nur für
den mystischen Glauben Realität hat, auf kritischem Wege zu gewinnen und
zu beweisen sucht, zerstört er es selbst mit unbarmherzigen Händen. So ist
denn dieses Leben Jesu der getreue Ausdruck der Periode, welche dem Strauß-
feder Werk unmittelbar vorausging, einer Periode, die das Neue wollte
und wieder nicht wollte, die an das Alte sich anklammerte und nicht wußte,
durch welche Kluft sie bereits von ihm getrennt war. Es hat ein Janusgesicht,
wie die ganze schleiermachersche Theologie: der sich auf den Scheideweg gestellt
sah. war kein Herakles.
Ein Leben Schleiermachers, eine umfassende Charakteristik dieses reichen
Geistes ist bekanntlich noch zu schreiben. Mit Recht haben die Schüler nicht
Zu frühe an eine Aufgabe sich gewagt, welche eine ungewöhnliche Vereinigung
von Fähigkeiten, umfassende Kenntniß der zeitgenössischen Bestrebungen^ Kunst
und Wissenschaft, Kirche und Staat,, liebevolles Eindringen in eine der viel¬
maligsten und eigenthümlichsten Persönlichkeiten und dabei ein freies überschauen¬
des Urtheil und nüchterne Kritik erfordert. Inzwischen rückt die Gcsammtaus-
gäbe der Werke dem Ende zu und in den vier Bänden des Briefwechsels ist
dem künftigen Biographen eine Fülle von Material dargeboten. Für das Ver¬
ständniß der theologischen Eigenthümlichkeit Schleiermachers dürfte neben der
Glaubenslehre keines seiner Werke so instructiv sein als eben diese Vorlesungen
über das Leben Jesu: sie führen recht in die geheimste Werkstätte seines Geistes
ein, und das, was sie im Anfang geradezu abschreckend macht, ihre Formlosig¬
keit, kommt ihnen in dieser Beziehung gewissermaßen zu statten. Denn die Form¬
losigkeit rührt eben daher, daß die Vorträge, wie Schleiermacher sie auf dem Ka¬
theder frei producirte, mit möglichster Genauigkeit wiedergegeben sind. Es war
nicht seine Art, mit fertigen Resultaten vor die Zuhörer zu treten, er stellte
vielmehr wie zu gemeinschaftlicher Erörterung die Probleme hin und begann
nun mit soldatischer Dialektik sie von allen Seiten anzufassen, zu verwickeln,
zu entwickeln. Hatte er auch für sich die Grundgedanken längst durchgearbeitet,
so überließ er sich doch bei ihrer Wiedergabe auf dem Katheder der lebendigen
Improvisation und ließ so die Schüler an dem Processe theilnehmen, welchen
die Gedankenreihen in seinem Kopfe durchliefen. Eine solche Vortragsweise
wird ihre Vorzüge und ihre Mängel haben. Im akademischen Hörsaal wird
man vor allem jener sich erfreuen, die letzteren werden besonders dann hervor¬
treten, wenn das gesprochene Wort, allen Zufälligkeiten entnommen und nicht
mehr durch die Persönlichkeit des Redenden belebt, schriftlich fixirt wird. Es
kann nicht auffallen, wenn bei der sprudelnden Lebendigkeit, wie sie gerade
Schleiermacher im hohen Grad eigen war, der Gedankengang zuweilen unsicher
wird, der Faden abreißt, die Discusston oft mehr den Charakter der Verwick¬
lung als der Entwicklung an sich trägt. Allein im vorliegenden Fall häufen
sich nun doch jene Mängel in besonders bedenklichem Maß. und eben dies ist
das Charakteristische. Es ist kein Zufall, daß gerade hier Schleiermacher so
oft die Herrschaft über den Stoff verliert, festen Standort vermissen läßt und
von seinen eigenen Problemen wie im Kreise herumgetrieben erscheint. Wenn
der Vortrag so auffallend unsicher und selbst verworren ist, die Resultate so
sehr verschwinden hinter einer Dialektik, welche unermüdlich ist. Gründe und
Gegengründe zu häufen, von Einem zum Andern abzuspringen, bevor jenes
erledigt ist; von dieser und von jener Seite einen Gegenstand anzufassen, ohne
je seiner habhaft zu werden, so ist der Eindruck unabweisbar, daß hier alle
Kunst der Dialektik an einer unmöglichen Aufgabe sich abgearbeitet hat; und
so ist es in der That.
Welches war diese Aufgabe? Schleiermacher scheint sie im Anfang ganz
als eine historisch-kritische zu fassen. Seine Absicht ist, wie> er selbst sagt, eine
Lebensbeschreibung Jesu zu versuchen, und dabei betont er ausdrücklich, man
dürfe bei dieser Aufgabe nicht im Voraus vom Glauben an Christus ausgehen,
denn sonst könne sie nicht auf rein geschichtliche Weise gelöst werden, und die
Darstellung, die man von dieser Voraussetzung aus zu Stande brächte, hätte
nur für die an Christus Glaubenden Werth. Bringt man hierzu noch die freie
Stellung in Anschlag, welche Schleiermacher bekanntlich zur Frage des Wun¬
ders und der Eingebung der Schrift einnahm, so scheint es, als seien alle Be¬
dingungen für eine rein historische Untersuchung gegeben, aber es scheint auch
nur so. Es gehört zum Begriff einer historischen Untersuchung, daß die Resul¬
tate einzig von dieser selbst abhängig gemacht werden. Ist diese Voraussetzungs-
lofigkeit wirklich die Meinung Schleiermachers? Dürfen wir es, fragt er, wirk¬
lich dahin gestellt sein lassen, ob das Ergebniß unserer Untersuchung unsern
Glauben befestigen oder aufheben wird? Die Antwort lautet: „Wollen wir den
wissenschaftlichen Standpunkt behaupten, so dürfen wir die Untersuchung nicht
scheuen; wollen wir aber Theologen bleiben, so muß die wissenschaftliche Rich¬
tung und der christliche Glaube sich vertragen." Dieses „muß" ist das Bezeich¬
nende, es ist der Schlüssel von Schleiermachers ganzem theologischen Denken.
Der Zwiespalt zwischen dem Glauben und der Wissenschaft darf schlechterdings
nicht zum Ausbruch kommen. „Meine Philosophie." schrieb er einmal an Jacobi,
»und meine Dogmatik sind fest entschlossen sich nicht zu widersprechen; so
lang ich denken kann, haben sie immer gegenseitig an einander gestimmt und
sich auch immer mehr angenähert." Ist aber diese Voraussetzung, daß Glaube
und Wissenschaft stimmen müssen, überhaupt das Charakteristische der schleier-
macherschen Theologie, so war sie für ihn bei der Untersuchung des Lebens
Jesu vollends unerläßlich. Denn hier galt es den Mittelpunkt des ganzen
Systems, den idealen Christus. Entweder er bewährte sich auch auf dem Weg
der historischen Untersuchung, gut, so lieferte die evangelische Geschichte die
willkommene Ergänzung zur Glaubenslehre, oder er bewährte sich nicht, und
dann — doch nein, diese Seite der Alternative kann gar nicht ausgedacht werden,
sie ist ausgeschlossen schon durch die Prämissen. Glaube und Wissenschaft müssen
auf irgendeine Weise friedlich zusammengebracht werden. So schob sich der
rein historischen Aufgabe unversehens eine ganz andere unter. Was in der
Glaubenslehre aus dem Bedürfniß des frommen Gefühls heraus dogmatisch
ausgestattet worden war. sollte aus den biblischen Quellen auf empirischem
Wege gleichfalls gesunden werden, das Ziel stand von vornherein fest, und dazu
gehörte nun freilich eine eiserne „Entschlossenheit", das Gebilde der complicir-
testen Dialektik, ein Product eigenthümlichster Geistesarbeit des neunzehnten
Jahrhunderts in den einfachen Schriftdenkmälern des ersten und zweiten wieder¬
zufinden.
Schleiermachers idealer Christus ist bekanntlich nicht der Christus der Kirche.
Die Dreieinigkeitslehre hatte für ihn keine Bedeutung. Den Glauben, daß Gott
selbst in Jesus persönlich geworden sei, gab er willig Preis. Jesus war ihm
voller und wahrer Mensch. Und doch wieder nicht voller und wahrer Mensch.
Denn er meinte nun doch wenigstens den Kern des Glaubens zu retten, wenn
er dem Menschen Jesus eine vollkommen ideale sündlose Entwicklung zuschrieb
und selbst die Möglichkeit der Sünde von diesem Leben ausschloß, wenn er
annahm, das Gottesbewußlsein. d. h. die religiösen und sittlichen Triebfedern
seien in Jesus das allein Bestimmende gewesen, so daß ihm jeder sittliche Kampf
erspart blieb, oder wie er sich auch ausdrückt, in Jesus sei das Urbildliche
vollkommen geschichtlich, jeder geschichtliche Moment zugleich vollkommen urbild¬
lich gewesen. Sein Christus ist das Ideal der Menschheit verwirklicht in einer
historischen Persönlichkeit. Mit diesem Begriff glaubte er die beiden Ansichten,
welche entweder nur das Menschliche oder einseitig das Göttliche in Jesus be¬
tonen, die ebionitische und die doketische Ansicht, wie er sie nennt, als zwei
Extreme gleichmäßig vermieden zu haben. In Wahrheit hatte er sich damit
zwischen zwei Stühlen niedergelassen, zwischen dem Jesus der Geschichte und
dem Christus der Kirche. Denn dem letzteren hatte er die kirchlichen Grund¬
lagen entzogen, während sein urbildlicher Christus, in welchem die Reinheit
und Fülle der Idee verwirklicht ist, eben damit durch eine tiefe Kluft von der
wahren Menschheit geschieden blieb.
Von hier aus können wir nun bereits unschwer erkennen, wie sich die Un¬
tersuchung der evangelischen Berichte des Näheren bei Schleiermacher gestalten
wird. Er wird auf die Ermittlung eben dieses Christusbildes ausgehen und
was ihm nicht in nothwendiger Beziehung dazu steht, was nach ihm kein Mo¬
ment für den Glauben hat, wie z. B. die meisten Erzählungen der Vorgeschichte
Jesu und manche Wunder, freimüthig ablehnen, aber um so eifriger festhalten,
was ihm die Züge desselben wiederzugeben scheint. . Wo ihn die Beschaffenheit
der Erzählungen in Verlegenheit setzt, wird nicht selten der Machtspruch seiner
Voraussetzungen entscheiden müssen. Sätze wie die: dies und das ist unver¬
einbar mit unserer Voraussetzung von Christo, er konnte das, was er in un¬
serem Glauben ist, nur sein, wenn u. s. w. kehren bei der Auslegung biblischer
Stellen mehrfach wieder. Sein Scharfsinn wird ihn deutlich die Widersprüche
der evangelischen Berichterstattung erkennen lassen, insbesondere wird ihm der
durchgreifende Widerspruch zwischen der johanneischen und der synoptischen Dar¬
stellung nicht entgehen. Allein statt kritischer Gründe entscheidet auch hier seine
dogmatische Voreingenommenheit: bei Johannes, nicht bei den Synoptikern
findet er die Ansätze, die Motive zu seinem idealen Christusbilde, und so ist
ihm überall das Johannisevangelium das Werk eines unmittelbaren Augen¬
zeugen, während er die Synoptiker als ein Aggregat secundärer Nachrichten
tief dagegen in Schatten stellt. Er wird vermöge seines philosophischen Stand¬
punktes nichts schlechthin Uebernatürliches anerkennen und vermöge seines kritisch
geübten Blickes überall auf Unannehmbares in den Texten stoßen. Aber die
Zugeständnisse, die er dem Glauben gemacht, werden ihn auch hier verfolgen
und immer weiter treiben. Dem Wunder wird er durch die Ausdehnung des
Begriffs von Natur und Natürlichem, in welcher Beziehung „unsere Kenntniß
immer nur im Werden ist", wieder Raum schaffen, und wo er auch Dichtung
anerkennen muß, soll doch immer Thatsächliches zu Grunde liegen, das nicht
selten nach Art des gewöhnlichen Rationalismus aus den Texten herausgedeu¬
telt wird. Weil Schleiermacher, sagt Strauß treffend, in der Christologie Su-
Pranaturalist bleiben will, muß er in der Kritik und Exegese Rationalist sein.
Um den übernatürlichen Christus als geschichtliche Persönlichkeit nicht zu ver¬
lieren, darf er die Evangelien als geschichtliche Quelle nicht ausgeben. Um aber
">ehe einen übernatürlichen Christus in einem Sinne zu bekommen, in welchem
'hin das Uebernatürliche unannehmbar ist, muß er mittelst der Auslegung das
'hin anstößige Uebernatürliche aus den Evangelien entfernen. > ^
Ein solches Werk war recht eigentlich ein Gegenstand für die nachschaffende
Kritik eines Strauß. Mit der Achtung, welche dem aus dem Todtenreich wie¬
der heraufbeschworenen Theologen gebührt, aber mit unerbittlicher Schärfe un¬
tersucht er die Voraussetzungen, welche Schleiermacher zu seiner Aufgabe mit¬
bringt und folgt ihm dann mit ausdauernder Geduld durch alle Winkelzüge
einer feingesponnenen Dialektik, die Fäden entwirrend und bloßlegend, die
Gründe ansteckend, aus welchen eine an sich unmögliche Aufgabe scheitern
">ußte, immer wieder im Einzelnen nachweisend, wie falsche Prämissen zu fal¬
schen Resultaten führen. Aber es war nicht etwa der Ehrgeiz, an der Auf¬
trennung einer fremden Dialektik die Virtuosität der eigenen glänzen zu
^sser. was Strauß zu dieser Arbeit bewog, es war ein sehr praktisches In¬
teresse, das ihn über die lebenden Gegner hinweg zur Auseinandersetzung mit
ihrem geistigen Haupte trieb. Wir nannten das nachgelassene Werk von Schleier-
wacher einen Fremdling in den Kämpfen der Gegenwart. Wir müssen das
^ort zurücknehmen. Es ist im Gegentheil Quelle und Quintessenz jener ver¬
mittelnden Richtung, welche noch heute die Masse der theologischen Literatur
beherrscht. Obwohl bis jetzt verborgen gehalten, hatten diese Vorlesungen doch
fort und fort ihre Wirkung gethan; denn eine zahlreiche Zuhörerschaft zu des
Misters Füßen hatte sich mit den ihnen zu Grunde liegenden Anschauungen
durchdrungen und diese in ihren Schriften weiter verbreitet.") Während sie
durch die Wissenschaft fast auf allen Punkten überholt wurden, hatten sie sich
der Theologenwelt immer mehr Eingang verschafft und so steht die Durch-
schniltsthcologie unserer Tage heute noch — oder eigentlich erst jetzt recht —
"uf dem Standpunkt, den Schleiermacher geschaffen. Der Wahn, es müsse
Mischen .dem Natürlichen und dem Uebernatürlichen noch irgendeinen teriin-
uus meäius geben, Jesus könne ein Mensch im vollen Sinn des Worts und
doch der Erlöser im kirchlichen Sinn des Worts gewesen sein, ist recht
eigentlich auf ihn zurückzuführen. Indem also Strauß eine Kritik des schleier-
macherschen Lebens Jesu unternahm, trug er seine schneidigen Waffen zu¬
gleich in das Bollwerk, hinter dessen schützenden Mauern die modcrngläubige
Theologie Zuflucht gegen das Andrängen der Wissenschaft sucht. Ist auch der
letzte Versuch gescheitert, den kirchlichen Christus dem Geist der modernen Weit
annehmlich zu machen,,so wird man sich nicht länger der Wahrheit verschließen
können, welche Strauß in den Worten ausspricht: „Es geht ein für allemal
nicht mehr. Wir sehen heutzutage alle Dinge im Himmel und auf Erden an¬
ders an als die neutestumentlichen Schriftsteller und die Begründer der christ¬
lichen Glaubenslehre. Was die Evangelisten uns erzählen, können wir so, wie
sie es erzählen, nicht mehr für wahr, was die Apostel glaubten, können wir so,
wie sie es glaubten, nicht mehr für nothwendig zur Seligkeit halten. Unser
Gott ist ein anderer, unsere Welt eine andere, auch Christus kann uns nicht
mehr der sein, der er ihnen war. Dies zuzugestehen ist Pflicht der Wahrhaftig¬
keit; es läugnen oder bemänteln zu wollen, führt zu nichts als Lügen, zur
Schriftverdrchung und Glaubcnsheuchelei. Aufdringliche Vermittlungsversuche,
wo Zwei einmal nicht mehr zusammengehen können, führen nur zu tieferer Er¬
bitterung; ist die Auseinandersetzung vollzogen, daß sie einander frei gegenüber¬
stehen, so ist fortan gar wohl ein freundliches Verhältniß möglich. Sobald wir
uns nicht mehr zumuthen, die Schrift anders als wie ein menschliches Buch zu
behandeln, werden wir sie in allen Ehren halten können; sobald wir uns das
Herz fassen, Jesus wirklich in die Reihen der Menschheit zu stellen, wird ihm
unmöglich unsre Verehrung, unmöglich unsre Liebe fehlen können."
Das Lehrerpersonal der Universität besteht zunächst aus 24 ordentlichen
Professoren, von denen 4 der theologischen, 5 der juristischen, 6 der medicinischen
und 9 der philosophischen Facultät angehören; sodann aus 4 außerordentlichen Pro¬
fessoren (einem der medicinischen, 3 der philosophischen Facultät) und 7 Privat-
docenten (2 der medicinischen, ö der philosophischen Facultät), im Ganzen also
aus 35 Personen, zu welchen noch ein Lehrer der Musik hinzukommt. So¬
wohl die medicinische als auch die philosophische Facultät zählen jedoch eine
verhältnißmäßig bedeutende Anzahl von Docenten, welche theils wegen Körper¬
schwäche oder dauernder Krankheit, theils wegen chronischen Mangels an Zu¬
hörern für die Lehrthätigkeit nur einen Nominalwerth haben. Was die Natio¬
nalität der Professoren anbelangt, so bestehen die theologische und die juristische
Facultät lediglich aus Nicht-Mecklenburgern; von den ordentlichen Professoren
der medicinischen Facultät gehört einer, von denen der philosophischen Facultät
Zwei ihrer Geburt nach Mecklenburg an; doch ist von diesen, dreien nur einer
noch factisch als Docent thätig.
In der theologischen Facultät ist Otto Carsten Krabbe gegenwärtig
das älteste Mitglied. Er ist zugleich Director der homiletischen Abtheilung des
homiletisch-katechetischen Seminars und Universitätsprediger, serner Consistorial-
rath, Mitglied der Commission für die zweite theologische Prüfung (xro mim-
stsriy), auch großherzoglicher Provisor bei der Kirchenökonomie zu Rostock und
beim Jungfrauenkloster zum heiligen Kreuz. Als er von Hamburg, seiner Vater¬
stadt, nach Rostock kam, hatte er bereits durch Schriften verschiedener Art (über
den Ursprung und Inhalt der sogenannten apostolischen Konstitutionen; ä<z
eocticlz eauauum, yui apostolmum nomiire oireumteruirtul'; yuasstionW as
Hospiz vatieiiriis; die Lehre von der Sünde und vom Tode in ihrer Beziehung
zu einander und zu der Auferstehung Christi, exegetisch-dogmatiich entwickelte
Vorlesungen über das Leben Jesu für Theologen und Nichttheologen, mit Rück¬
sicht auf das Leben Jesu von Strauß und die darauf sich beziehende Literatur;
eeolesiae kvangLlie^ IIg.mdurZi instauratae lüstoria,) sich in die literarische
Welt eingeführt. In Rostock schrieb er, außer dem schon erwähnten lateinischen
Programm über die Schöpfung aus Nichts und einer Schrift zur Vertheidigung
dieses Programms, eine Geschichte der rostocker Universität während der beiden
ersten Jahrhunderte ihres Bestehens, und als eine Art von Fortsetzung dazu:
„Aus dem kirchlichen und wissenschaftlichen Leben Rostocks", sowie zwei Schriften
zum Schutze des von ihm verfaßten Consistorialerachtens in der baumgartenschen
Sache („Ueber das in der Sache des Pr. Dr. Baumgarten in Rostock erforderte
und abgegebene Gutachten des großherzoglich mecklenburgischen Confistoriums,
1858;" „das lutherische Bekenntniß und die in der Sache des Pr. Dr. Baum¬
garten abgegebene Gutachten der theologischen Facultäten zu Göttingen und
Greifswald. 18S9"). Die Vorlesungen, welche Kr ab b e hält, befassen jetzt, nach¬
dem die Kirchengeschichte in Dieckhoff ihren Vertreter gefunden hat, Dogmatik
und praktische Theologie, daneben Encyklopädie, Leben Jesu, auch Geschichte der
neueren christlichen Philosophie. Ursprünglich gehörte Krabbe als Theolog jener
vermittelnden Richtung an, welche in Neander, Lücke, Ullmann u. s. w. ihre
Vertreter und in den „Theologischen Studien und Kritiken" ihr Hauptorgan
hatte. Auch in Mecklenburg war er bis zum Jahre 1850 keineswegs ein Mann
der stricten Orthodoxie und des absolutistischen Staatskirchenregiments. Auf
der schweriner Kirchenconferenz im September 1849, wo unter Leitung Klie-
foths über die Stellung der Kirche zu dem in der Bildung begriffenen con-
stitutionellen Staat und die aus der politischen Reform für die Verfassung der
Kirche sich ergebenden Folgen verhandelt wurde, begrüßte er als Berichterstatter
den Augenblick mit der „innigsten Freude", wo die „Trennung der Kirche vom
Staate zu einer selbständigen Organisation und Befreiung derselben von der
territorialistischen Bevormundung, welche in der mecklenburgischen Landeskirche
zur vollständigsten Durchführung gekommen", nothwendig geworden sei, und es
wurde von ihm wie von seinem Freunde und Mitberichterstatter, dem damaligen
Oberappellationsrath, jetzigen Minister v. Schröter, die Organisation der
Gemeinden als nächste Aufgabe und als die unerläßliche Grundlage für den
Neubau der Kirchenverfassung bezeichnet. Im Jahre 1848 fand man Krah bes
Namen sowohl unter der Petition der Universität für Verfassungsreform und
Preßfreiheit, als auch unter der von Sternberg aus ergangenen Adresse einer
constitutionellen Partei. Aber schon im Jahre der siegreichen Reaction 1850 ge¬
hörte dieser Standpunkt für ihn zu den überwundenen und von der Herbei¬
führung einer kirchlichen Gemeindeverfassung war so wenig die Rede mehr wie
von einem Streben nach constitutioneller Landesverfassung, und sieben Jahre
später hält er über einen Collegen ein Ketzergericht, welches zu dem Schlüsse
gelangt, daß dieser ein gewissenloser und eidbrüchiger Mann, ein fundamen¬
taler Ketzer auf kirchlichem und ein arger Revolutionär auf politischem Ge¬
biet sei. Inzwischen waren freilich auch sah röter und Kliefoth in der¬
selben Richtung fortgeschritten und an dem gleichen Ziele angelangt. Seit diesem
Acte scheint er, durch das allgemeine Verwerfungsurtheil gereizt und auf die
schweriner Kirchen- und Staatssäulen gestützt, sich immer weiter in diesem todten
und fanatischen Wesen festgesponnen zu haben. Ein an ihn gerichtetes Privat¬
schreiben eines alten frommen und würdigen Geistlichen, welcher sich in seinem
Gewissen gedrungen gefunden hatte, mit Bezug auf die baumgartensche Sache
eine brüderliche Ermahnung zur Umkehr an ihn zu richten, überwies er dem
Konsistorium, welches infolge dessen den Pastor vor seine Schranken forderte
und mit einem Verweise strafte; eine von 600 Rostockern unterzeichnete Adresse,
in welcher er um Zurücknahme der gegen Baumgarten gerichteten Beschuldigun¬
gen gebeten wurde, schickte er an das großherzogliche Ministerium ein, welches
davon Anlaß nahm, eine Criminaluntersuchung gegen die Unterzeichner anzu¬
ordnen, die freilich in diesem Falle mit einer Freisprechung endigte. Krabbe
ist eine Natur von wenig Selbständigkeit, die stets das Bedürfniß nach Anleh¬
nung an festere und mächtigere Charaktere hat. Das Formelwesen, in welches
er hineingerathen ist, ist etwas von außen an ihn Herangekommenes, mehr in
der Reflexion und dem Gelehrtenthum, als in der lebendigen Herzensüberzeugung
wurzelnd. Er hat. ohne anscheinend sich selbst darüber klar zu sein, die Kir¬
chenlehre als einen fremden Mantel angelegt und behandelt sie als eine Summe
von Sätzen, zu welchen ihm aber der rechte Schlüssel fehlt. Von irgendeinem
genialen Zuge, einem geistigen Aufschwünge, einem frischen Hauche wird sein
Wissen nicht belebt, wie er denn auch kein einziges hervorragendes literarisches
Werk aufzuweisen hat und überall mehr in die Breite als in die Tiefe geht, in
formlos und eintönig dahingleitendem, auch nicht durchgängig logisch und gram¬
matisch correcten Stil. Er besitzt große Arbeitsamkeit, Pünktlichkeit und Ord¬
nungsliebe und bewältigt mit diesen Eigenschaften stets rechtzeitig die vielen Ge¬
schäfte, welche seine verschiedenen Aemter, zu welchen zur Zeit auch noch das Rec-
torat der Universität kommt, ihm auferlegen. Er wird bei seinen Arbeiten
Von einem treuen Gedächtniß unterstützt, mit dessen Hilfe er eine große Menge
von Material in sich aufgespeichert hat. Seine Reden und Predigten, die stets
memorirt sind, trägt er mit einer gewissen Art von Pathos vor. von welchem
selbst Jahreszahlen und andere dem Gefühlsbereiche wenig zugängliche Dinge
nicht verschont bleiben. Die Predigten, die er als Universitätsprediger alle
vier Wochen, sowie zu Festzeiten und zu Anfang und Schluß des Semesters
hält, werden von den höheren Ständen viel besucht, zumal da sie in eine ge¬
legene Tageszeit fallen, scheinen aber doch nicht mehr ganz den Beifall zu finden,
wie in den ersten Jahren. Bei dem Besuch seiner Vorlesungen wirkt wohl
seine Stellung als Examinator einiges mit; die Studenten fühlen sich durch
die Vorträge seines Collegen Philippi mehr angezogen. Bei dem Hauptverein
für innere Mission ist Krabbe als Schriftführer thätig, sowie er auch Mit
glied vom Centralcomite des Vereins für die Misstonen unter den Heiden ist.
Der Großherzog, gegen dessen Person er eine fast schwärmerische Verehrung hegt,
die er in dessen Nähe durch Verbeugungen von musterhafter Tiefe und Uner¬
müdlichkeit zu erkennen giebt, hat nach dem letzten Einzuge in Rostock (im Juli
1864), wo Krabbe ihn als Rector der Universität begrüßte, durch Verleihung
einer goldenen Medaille seine Verdienste belohnt.
Die übrigen Mitglieder der theologischen Facultät sind Philipps, Bach¬
mann und Dieckhoff.
Friedrich Adolph Philipps wurde als Nachfolger von Delitzsch, der im
Herbste 1850 nach Erlangen ging, berufen und begann seine Vorlesungen,
welche Exegese des Neuen Testaments und comparative Symbolik befassen, um
Ostern 1862. Seine schriftstellerische Laufbahn begann er schon im Jahre 1836
mit einer kleinen lateinischen Schrift über die Philosophie des Celsus. Später
schrieb er über den thätigen Gehorsam Christi (1841). Sein Hauptwerk ist
seine christliche Glaubenslehre in fünf Bänden, welche theils systematische, theils
historische Darstellungen umfaßt und in letzterer Beziehung dem wahrscheinlich
nicht großen Leserkreise, welcher den Eifer besitzt, sich in das umfängliche Lehr¬
gebäude zu vertiefen, manches darbietet, was von theologischen Interesse und
Werth ist. Philippi ist Mitglied der Commission für die erste theologische
Prüfung (pro lieentia eoneionMcii). Durch seine Theilnahme an Pastoren¬
versammlungen und Missionsconfercnzen hat er sich mehr als Krabbe den
mecklenburgischen Geistlichen persönlich genähert. Mit den Studenten, die
ihn als gelehrten Dogmatiker ehren, verkehrt er auch mittelst eines theolo¬
gischen Conversatoriums.
Johannes Bachmann, ein Sohn des Consistorialraths Bachmann in
Berlin, war dort Privatdocent, als er zu Michaelis 1888 für das Fach der
alttestamentlichen Exegese als Nachfolger Baumgartens berufen ward. Er
muß wohl Garantien geboten haben, daß er, obwohl bis dahin der preußischen
unirten Kirche angehörig, doch ein zuverlässiger Bekenner der lutherischen Lehre
sei. Er steht noch in sehr jugendlichem Alter, hat auch literarisch sich erst durch
einige kleinere Schriften gekannt gemacht. Daher erklärt es sich auch wohl
daß seine Collegen von der theologischen Facultät ihn fünfthalb Jahre als
bloßen Licentiaten der Theologie sitzen und auf die Doctorwürde warten ließen,
in deren Ermangelung er weder das Decanat führen noch an den Promotionen
sich betheiligen konnte. Erst im Mai 1863 machte ihn die Facultät zum Doctor
Kouoris eauLg.. Seine Vorlesungen sind nicht eben besucht, auch schon einmal
durch einen Conflict mit den Studenten und eine scharrende Demonstration
derselben belebt gewesen.
Aug. Will). Dieckhoff, als Nachfolger von G. F. Wiggers von Göt¬
tingen berufen, trat sein Amt um Michaelis 1860 an, liest über Kirchen« und
Dogmengeschichte, auch über Geschichte des protestantischen Lehrbegriffs und leitet
die katechetische Abtheilung des homiletisch-katechetischen Seminars. Aus Besuch
war er schon einmal, vielleicht zur Vorbereitung seiner Berufung, im Jahre
1868 in Mecklenburg. Gemeinschaftlich mit Philippi wohnte er damals der
berühmten Lutheranerconferenz bei, welche am 18. und 19. August des ge¬
nannten Jahres auf dem Gute des Freiherrn Friedrich v. Maltzan zu Rothen-
moor unter Anwesenheit verschiedener auswärtiger lutherischer Notabilitäten
(Huschke aus Breslau, v. Thadden-Trieglass, Generalsuperintendent
Brömel aus Lauenburg u. s. w.) abgehalten ward. Bei der Verhandlung
über die von Herrn v. Thal) den proponirte Frage: „wer ist ein Ketzer?"
wagte er die Behauptung aufzustellen, daß ein Reformirter kein Ketzer sei, stieß
damit aber auf fast allgemeinen Widerspruch. Brömel erklärte, mit einem
Reformirten nicht beten zu können und fand dafür bei Huschke und
Philippi Zustimmung. Auf nicht weniger Widerspruch stieß eine andere
Aeußerung Dieckhoffs, dahin gehend, daß ein Lutheraner aus der preußischen
Union dem Bekenntniß der lutherischen Kirche angehöre, und Philippi ent-
deckte in einem von Dieckhoff aufgestellten Satze ein socinianisches Erkenntniß-
Princip. Indessen war man auch auf der Gegenseite untereinander sehr uneinig:
Brömel bezeichnete eine von Plaß, dem bekannten Erfinder des Dogmas
von Teufel Vater. Teufel Sohn und Teufel Geist, geäußerte Ansicht als heid¬
nisch; Diedrich bezichtigte eine Lehre Philippis. daß sie der kirchlichen
Lehre von der Erbsünde und von der Rechtfertigung widerspreche; und wenn
Dieckhoff auch gewissermaßen eine äußerste Linke in der Versammlung bildete,
so scheint er doch wenigstens vor fundamentalen Häresien mit Erfolg sich ge¬
hütet zu haben. — Seit einigen Jahren führt Dieckhoff mit Kliefoth ge¬
meinschaftlich die Redaction einer theologischen Zeitschrift. Er gehört auch
Ma Vorstand des „mecklenburgischen Gotteskasten für bedrängte Glaubens¬
genossen", eines Nachbildes der Gustav-Adolf-Stiftung.
Von Zeit zu Zeit ehrt die Facultät irgendeinen bis dahin wenig bekannten
rechtgläubigen Theologen durch Verleihung des Doctortitels honoris es-usa.
Die neuesten Empfänger solcher Ehrenbezeigung sind außer dem Professor
Bachmann der Pastor Münkel zu Oyste in Hannover (1861), der sich durch
eine Vertheidigung des Consistorialerachtens gegen Baumgarten ausgezeichnet
hatte, und der Professor Szeberinyi zu Wien (1864).
Die juristische Facultät hat seit Jahrzehnten das eigenthümliche Geschick
Schabe, daß sie gleichsam als Wartesaal für durchreisende Rechtsgelehrte gedient hat,
welche nach kurzem Aufenthalt entweder auf eine auswärtige Universität zurück¬
gingen oder in ein höheres Richteramt übertraten. Die alten einheimischen
Juristen in der Facultät sind allmäliz ausgestorben und da es an einem Nach¬
wuchs von Privatdocenten fehlte, so mußte das particuläre Recht des Landes
sich mit der Rücksicht behelfen, die ihm von der Mehrzahl der Facultäts-
nntglieder nur im Vorübergehen gewidmet werden konnte. Die zum Theil
unter die Notabilitäten gehörigen Männer, welche seit dem Abgange von Elvers
"ach Marburg (1841) und Georg Beselers nach Greifswald (1842) und seit
^in am 14. November 1842 erfolgten Tode Ferdinand Kämmerers durch die
wstocker Juristenfacultät hindurchgingen, sind: Kierulff (1842—1844). Wun-
derlich (1842-1847). Thöl (1842—1849). Jhering (1846—1849). seist
(1847—1853), Bruns (1849—1831), Butte (18S0—1863), Wetzell
(18S2—1863), Roth (1864—1867). Von diesen hat Wohl Wetzell die nach¬
haltigste Wirksamkeit geübt, die er auch noch in Tübingen, wohin er von
Rostock gjng, unter den dort studirenden Mecklenburgern zu Gunsten ihrer feu¬
dalen Landesverfassung nach Kräften fortzusetzen bemüht ist. Er erblickt, wie
er dies in einer öffentlichen Rede als Rector erklärte, in Mecklenburg, weil es
^>n constitutionellen Wesen keinen dauernden Zugang verstattet und die alte
^ndständische Verfassung nach kurzer Abirrung wiederhergestellt hat. den Fels
"n Meere der Revolution, den conservativen Musterstaat, an dessen er-
behenden Beispiele sich eilte übrigen deutschen Staaten wieder zu der verlassenen
Rechtsgrundlage zurückführen lassen sollten. Abgesehen von solchen Extravaganzen
in seinen staatsrechtlichen und politischen Anschauungen ist Wetzells große Be¬
deutung als Rechtslehrer allgemein anerkannt. Sein jetzt in zweiter Auf¬
lage erscheinendes „System des ordentlichen Civilprocesses" gehört zu den
ausgezeichnetsten Leistungen auf diesem Gebiete. Früher schrieb er ein System
des Civilrechts. Die mecklenburgische Ritterschaft wählte ihn zum Oberapclla-
tionsrath, was er aus wirklicher Bescheidenheit ablehnte. Zu gleicher Stellung
ward er im Jahre 1859 nach Kassel und als Professor in demselben Jahre
nach Halle und 1862 nach Jena berufen. Der Großherzog ehrte ihn durch
Verleihung des Titels „Geh. Justizrath", die Universität durch zweimalige
Wahl zum Rector (1860—1862), die Studenten brachten ihm mehrmals einen
Fackelzug. Endlich aber folgte er dennoch dem Rufe nach Tübingen. Das
Gerücht meint, er sei zum Nachfolger Schröters als Justizminister designirt,
womit denn freilich dem Lande ein wo möglich ewiges Beharren innerhalb des
Feudalismus in Aussicht gestellt wäre.
Der älteste der jetzt die Facultät bildenden Professoren ist Otto Mejer.
Er wurde zu Ostern 1831 aus Greifswald berufen, nachdem er vorher in
Göttingen und Königsberg docirt hatte. Im Jahre 1852 wurde er Consistorial-
rath, später Mitglied der Prüfungscommission der Rechtscandidaten für die
Advvcatur, auch großherzoglicher Provisor bei der Kirchenökonomie und bei dem
Jungfrauenkloster zum heiligen Kreuz, im Jahre 1863 Ordinarius des von den
Mitgliedern der Juristenfacultät gebildeten Spruchcollegiums, und ^ demselben
Jahre zweiter Bibliothekar an der Universitätsbibliothek. Sein Hauptfach ist
das Kirchenrecht; er liest aber auch über Staatsrecht und Criminalproceß, fer
ner Encyklopädie und über die öffentliche Criminalrechtspflege in England und
Frankreich. Unter seinen schriftstellerischen Werken ist das hervorragendste: die
Propaganda, ihre Provinzen und ihr Recht (Gött. 1852 f. 2 Bde.); dasselbe
ist auch ins Holländische übersetzt. Außerdem schrieb er: Institutionen des ge¬
meinen deutschen Kirchenrechts (zweite sehr vermehrte Auflage 1856); Kirchenzucht
und Consistorialcompetenz nach mecklenburgischem Recht (1854); Einleitung in
das deutsche Staatsrecht (1861); die Grundlagen des lutherischen Kirchenregiments
(1864). Eine Zeit lang gab er in Verbindung mit Kliefoth eine „theologische
Zeitschrift" heraus. Im Jahre 1853 unterschrieb er mit den Mitgliedern der
theologischen Facultät und einer Anzahl erlanger und leipziger Theologen die
Schrift: „das Bekenntniß der lutherischen Kirche gegen das Bekenntniß des ber¬
liner Kirchentags gewahrt" (Erlangen 1853), durch welche das Verhältniß der*
augsburgischen Konfession zur evangelisch-lutherischen Kirche gegen eine demselben
drohende Verdunkelung sichergestellt werden sollte. Dies ist wohl die erste Ge'
legenden, wo sein specifisches Lutherthum, von welchem zur Zeit seines Unsere-
Halts auf preußischen Universitäten nichts wahrzunehmen war, zum Ausdruck
gelangte. Daß er im Jahre 1848 einer mit dem lutherischen Landeskirchen-
und Oberbischofthum sehr wenig zusammenstimmenden Kirchenverfassungstheorie
huldigte, beweist eine damals von ihm herausgegebene Brochüre: „die deutsche
Kirchenfreiheit". In der baumgartenschen Sache sprach er sich, wie Krabbe
mitgetheilt hat. für die Unabweislichkeit des dem Consistorium ertheilten mini¬
steriellen Auftrages aus; auf eine Bestreitung der alleinigen krabbeschen Urheber¬
schaft des Consistorialerachtens scheint sein Ehrgeiz nicht gerichtet zu sein, er
hat diesem die Vertheidigung des Erachtens ebenso allein überlassen wie die
Abfassung. Sein gewandtes, diplomatisches Wesen, welches bei einem Aufent¬
halt in Rom die Abrundung erhalten zu haben scheint, bewahrt ihn sowohl
auf dem kirchlichen wie auf dem politischen Gebiete vor zu schroffem Auftreten,
ohne ihm in der guten Meinung der herrschenden Partei zu schaden. Von
Vereinen und Versammlungen in Angelegenheiten der äußeren und inneren
Mission hat er sich stets zurückgehalten. In seinen Vorträgen über Kirchenrecht
'se es den Zuhörern aufgefallen, wie ausführlich und eingehend er bei der
^mischen Kirchenverfassung verweilt und wie mäßig, ja jämmerlich neben deren
stolzem Bau die protestantische Kirchenverfassung erscheint, sodaß es lediglich an
den Zuhörern liegt, wenn sie nicht von Bewunderung gegen die erstere ergriffen
werden und die letztere geringschätzen lernen.
Institutionen und Geschichte des römischen Rechts werden von Hera.
Aug. Schwan ert vorgetragen, welcher, aus Prag berufen, im Jahre 1853
als Ersatzmann für Leist, der nach Jena abging, bei der Facultät eintrat. Er
liest außerdem Erbrecht und Obligationenrecht und veranstaltet seit einigen
fahren auch Civilpraktika. Die Vorlesungen über Pandekten scheint er an
Muth er abgetreten zu haben. Bei seinen Zuhörern gilt er als ein Mann
bon sehr bedeutender Gelehrsamkeit, der so ziemlich alle Ansichten über die juri¬
stischen Controversen kennt. Sein Wissen reicht nach vielen Seiten hin über das
juristische Gebiet hinaus. Die Collegia werden gut besucht, wobei freilich in
Anschlag kommt, daß er Mitglied der juristischen Prüfungscommisflon ist. Auf
literarischem Felde hat er mit seinem Hauptwert: „Die Naturalobligationen des
römischen Rechts" (Göttingen 1861) kein besonderes Glück gemacht. Ein Re¬
censent resumirt die darin ausgesprochene Ansicht dahin, daß die Naturalobli-
gation zwar ein Rechtsverhältniß unter den Parteien begründe und somit
»rechtliche Bedeutung", aber keine „rechtliche Wirkung" habe, und erklärt eine
Kritik dieser Ansicht für überflüssig. Die Anzeige schließt mit der Bemerkung:
"Der Versasser hätte besser gethan, uns die Quintessenz seines Buches auf
wenigen Seiten zu geben, anstatt uns schon anderweitig ganz bekannte Sachen und
unklare eigene Vorstellungen in der weitschweifigsten und durch ihre langathmigen
Sätze wahrhaft unverdaulichen Darstellung mit selbstgefälliger Breite aufzutischen."
Als Nachfolger von Noth, der, gleich Wetzell von Marburg übergesiedelt
zu den Notabilitäten seines Faches gehört, in Mecklenburg aber an literarischen
Andenken nur ein ziemlich flüchtig abgefaßtes mecklenburgisches Lehnrecht und
daneben den Ruf hinterlassen hat, daß er im Winter nicht heizte, mit Virtuo¬
sität die Zither spielte und in lustigen Kreisen ein guter Gesellschafter war,
kam um Ostern 1838, gleichfalls von Marburg, wo er bis dahin das Amt
eines Unterstaatsprocurators bekleidet hatte, Victor v. Meibom. Er wurde im
Jahre 1863 zum Assessor pörxetuus des engeren Conciliums erwählt und
nahm in demselben Jahre als mecklenburgischer Commisscirius an den Verhand¬
lungen über Herstellung eines allgemeinen deutschen Obligationenrechts in Dres¬
den Theil. Seine Vorlesungen befassen deutsches Privatrecht, Geschichte des
deutschen Rechts, Lehnrecht, Handels- und Wechselrecht, seit einiger Zeit auch
Einleitung in das mecklenburgische Privatrecht, nach einem fleißig zusammen¬
getragenen und ausgearbeiteten Hefte. Früher arbeitete v. Meibom mit Roth
zusammen an einem Werke über kurhessisches Privatrecht. In dem „Jahrbuch
des gemeinen deutschen Rechts" von Bekker und Mulder (Band IV. 1860)
veröffentlichte er eine längere Abhandlung „über Realschulden und Reallasten",
welche mit einem empfehlenden Hinweis auf die mecklenburgische Hypotheken¬
gesetzgebung schließt. Die darin aufgestellte Ansicht hat jedoch wenig Beifall
gefunden und wird von Gerber in Leipzig in den von ihm und IHering
herausgegebenen Jahrbüchern scharf bekämpft.
Zu Ostern 1863 ward aus Greifswald der junge Professor Hugo B öhlau
berufen, der sich früher in Halle habilitirt hatte. Er führte sich damit ein,
daß er am schwarzen Brett bekannt machte, seine Vorlesungen über das und
das würden „so Gott will" dann und dann beginnen. Seit 1861 giebt er
mit Rudorff. Bruns. Noth und Merkel eine Zeitschrift für Rechtsgeschichte
heraus, in welcher sich kleine Aufsätze von ihm finden. Er ist äußerst fleißig
und sorgt auch dadurch für die Studenten, daß er mit Einzelnen in seinem
Hause den „Sachsenspiegel" und „Richtsteig Landrechts" tractirt. Aus Dank¬
barkeit haben sie ihm dafür einmal ein Ständchen gebracht. Er liest deutsche
Reichs- und Rechtsgeschichte, Criminalrecht, Criminalproceß, Civilproceß und
Encyklopädie. Das Criminalrecht behandelt er vom rein christlichen Stand¬
punkt und besucht gleich seinen Kollegen gewissenhaft die Kirche.
Die jüngste Erwerbung der Juristcnfacultät ist der Professor Theodor
Muth er. der zu Michaelis 1863 aus Königsberg berufen ward. Die ersten
Gerüchte von seiner Berufung sielen in die Zeit, wo er als Mitglied einer der
vielen Deputationen, welche mit der Ueberbringung von Ergebenheitsadressen
an den König von Preußen beauftragt waren und so weit nöthig von der
Kreuzzeitungspartei aus einer in der Wilhelmsstraße in Berlin für diesen Zweck
errichteten Niederlage mit Fracks und Handschuhen ausgestattet wurden, von
Königsberg nach Berlin gereist war. Die Geschichte dieser Berufung ist noch
immer nicht ganz aufgeklärt. Im October 1862 berichtete die „Ostpreußische
Zeitung" und nach ihr die Kreuzzeitung, daß der Professor Muth er in Königs¬
berg „eine ihm angetragene Berufung nach Rostock ausgeschlagen" habe. Eine
officiöse Berichtigung in der „Rostocker Zeitung" führte diese Notiz darauf zurück,
daß von einem Mitgliede der Facultät privatim bei Muth er angefragt sei, ob
er einem Rufe nach Rostock Folge leisten würde, falls die Facultät ihn in
Vorschlag bringen und dies zu einer Berufung führen sollte. Einige Wochen
später las man wieder in auswärtigen Blättern, Mut her sei nach Rostock
berufen, aber durch ausdrückliche Anerkennung seiner Leistungen der Universität
Königsberg erhalten worden, was von der „Danziger Zeitung" weiter dahin
erläutert wurde, daß ihm während seiner Anwesenheit in Berlin in Sachen der
Loyalitätsagitation eine Gehaltszulage von 300 Thlr. bewilligt worden. Die¬
ses letztere ward von der „Ostpreußischen Zeitung" für unrichtig erklärt und
der Sache jetzt folgende Gestalt gegeben: Mut her habe weder einen Ruf
nach Rostock erhalten, noch sei ihm ein solcher angetragen worden, vielmehr
sei nur eine vorläufige Anfrage deswegen von einem Facultätsmitgliede an ihn
ergangen. Von diesem Privatschreiben habe Muth er den Minister in Kennt¬
niß gesetzt, und da er infolge der hieraus hervorgegangenen Verhandlungen er¬
klärt habe, daß er einen etwa an ihn ergehenden Ruf nach Rostock ablehnen
werde, so stehe vom April kommenden Jahres an eine Gehaltsverbesserung für
ihn zu erwarten. Aber auch in dieser Version bestätigte sich die Nachricht nicht.
Mulder lehnte nämlich den an ihn demnächst ergangenen Ruf nicht ab.
sondern folgte demselben.
Als Student gehörte er in Jena der „Teutonia" an. Auf einer Be¬
suchsreise kam er vor etwa 16 Jahren einmal nach Erlangen, wo er durch
seine nichts weniger als gewählte Tracht und sein ganzes Auftreten keineswegs
den Eindruck machte, als ob ein künftiger Professor in ihm stecke. Später be¬
gab er sich zur Fortsetzung seiner Studien nach Erlangen, wo um diese Zeit
eine burschenschaftliche Verbindung bestand, die aus der fortgeschrittenen Partei
einer Burschenschaft von älterem Zuschnitt sich gebildet hatte. Dieser gehörte
Mut her in Erlangen an. Die ihn damals gekannt haben, werden nicht
wenig erstaunt gewesen sein, als er einige Jahre später plötzlich in Königsberg
als Professor hervortauchte. Vorher war er in Halle als Privatdocent habili-
tirt. Durch Empfehlung des bekannten Pernice in Halle, des Vaters
seines Freundes, des nicht minder bekannten göttinger Pernice, erlangte er
jene Professur in Königsberg. Als Schriftsteller trat er zuerst mit der Schrift:
"Sequestration und Arrest im römischen Recht" (1856) hervor, welcher die Kri-
Ur nachrühmte, daß der Verfasser durch Aufsuchung. Ordnung und Zubereitung
der Quellen mindestens die nothwendigste Vorbedingung für eine endliche Lösung
der schwierigen Aufgabe und zwar mit seltener Gewissenhaftigkeit und großer
Gelehrsamkeit erfüllt habe, was ihm auch diejenigen nicht absprechen würden,
die in der Vorrede so nachdrücklich von ihm angegriffen seien. Dann gerieth
er mit dem Professor Bernhard Wind Scheit (jetzt in München) in eine lite¬
rarische Fehde, welche ihm weniger zum Ruhme gereichte. (Mulder. zur Lehre
von der römischen Activ. Eine Kritik des windscheidschen Buchs: „die Activ
des römischen Civilrechts vom Standpunkte des heutigen Rechts"). „Der Haupt¬
zweck meiner Arbeit ist der, Windscheids neue Lehre zu entfernen," mit diesen
anmaßenden Worten führte er seine Streitschrift ein. Windscheid (die Activ.
Abwehr gegen Dr. Th. Mulder) erwiderte ernst und würdig. Von der Kritik
wurde Muthers Urtheil als ein zu rasches und seine Schrift als eine unreife
bezeichnet. Später schrieb er, außer einem von ihm veröffentlichten Vortrage
über den „Reformationsjuristen" Hieronymus Schürpf (1858). ein Werk: „die
Gewissenövertretung im gemeinen deutschen Recht, mit Berücksichtigung von
Particulargesetzgebungen, besonders der sächsischen und der preußischen" (1860).
Mit Macht zieht er hier gegen das „flache Raisonniren" und die aprioristische
Construction der Lehre von der Gewissensvertretung zu Felde und erklärt, daß
die Sicherheit der von ihm gefundenen Resultate die Veröffentlichung rechtfertige.
Die hierdurch angeregte Erwartung, daß die Lehre mindestens hinsichtlich ihrer
geschichtlichen Entwickelung hier zum Abschluß gebracht sei, wird aber getäuscht.
Gelegentlich bekennt der Verfasser sich in dieser Schrift auch als Gegner des
Geschworneninstitutes im Criminalprocesse, da die Trennung zwischen Thatsrage
und Rechtsanwendung unzulässig sei, und an einer andern Stelle wendet er
sich, um doch auch seine politische Farbe recht deutlich zu machen, gegen den
„reformjüdelnd-revolutionären Standpunkt" einzelner Juristen. Seit 1857 giebt
er mit Ernst Immanuel Bekker „Jahrbücher des gemeinen deutschen Rechts"
heraus, in welchen sich kleinere Aufsätze von ihm finden. Er liest über Insti¬
tutionen und Pandekten, kündigt auch Nelatorien und exegetische Uebungen an.
In socialer Beziehung zeichnet er sich durch geflissentliche Schaustellung
seiner Kreuzzeitungsrichtung aus. In einem Convivium, welches in Veran¬
lassung eines glücklich bestandenen Nichterexamens von einem seiner Partei¬
genossen veranstaltet ward, feierte er die mecklenburgische Landesverfassung als
das höchste Ideal einer Verfassung mit so überschwänglichen Worten, daß es
selbst der anwesenden Gesellschaft zu stark aufgetragen erschien und von der¬
selben Widerspruch erhoben ward. Unter den Studenten bevorzugt er die Ari¬
stokratie und deren Genossen, und die Art. wie er mit diesen bei Trinkgelagen
verkehrt und Dutzbrüderschaften eingeht, sowie seine sonstigen befremdend un-
genirter gesellschaftlichen Gewohnheiten sollen selbst bei der Partei, als deren
hervorragendsten Vorkämpfer er sich geltend machen möchte, bereits große Be¬
denken erregt haben. Daß man auch von ihm als künftigem Justizminister
spricht, beruht wohl nur auf der Ähnlichkeit hinsichtlich der beiderseitigen bur¬
schenschaftlichen Vergangenheiten, welche zwischen ihm und dem derzeitigen Justiz-
Minister v. sah röter obwaltet.
Zur Charakteristik der Juristenfacultät als Gesammtheit dient die Ver¬
handlung über die Schleswig-holsteinische Angelegenheit mit Herrn v. Wamse ete.
zu welcher sie durch diesen dadurch veranlaßt ward, daß er ihr, wie allen an-
dern deutschen Juristenfacultäten. die Aufforderung zugehen Keß, die in seiner
Schrift über das Staats- und Erbrecht der Herzogthümer Schleswig-Holstein
angeführten Quellenzeugnifse und die daraus gezogenen Schlüsse einer gründ¬
lichen Prüfung zu unterziehen und dadurch zugleich ihr Urtheil über die Schles¬
wig-holsteinische Erbfolgefrage abzugeben. Die Facultät lehnte dies in ihrer
Antwort vom 7. Mai 1864 einstimmig ab und motivirte diese Ablehnung folgender¬
maßen: Die Beurtheilung einer literarischen Arbeit liege nicht innerhalb
des Kreises von Gegenständen, mit denen eine Juristenfacultät als solche sich
angemessen beschäftige. Was.die Schleswig-holsteinische Frage selbst betreffe, so
könne sich die Facultät der Prüfung derselben weder aus Grund der warnstedt-
schen Schrift allein, noch mit der anscheinend gewünschten Eilfertigkeit unter¬
ziehen. Der Ernst der Berufspflicht fordere zum Zwecke rechtlicher Facultäts-
erachten eine tiefer eingehende Erwägung der Sachlage, als sie an der Hand
einer Flugschrift möglich sei. und es werde der Sachkunde des Verfassers nicht
entgehen, daß bei einer Frage von solcher Verwickelung und Bedeutung, wie
d>c Schleswig-holsteinische sei, die einer deutschen Facultät würdige Lösung
uur binnen einer geräumigen Frist zu erbringen sei.
Spötter haben aus dieser Motivirung geschlossen, daß es der rostocker Uni¬
versitätsbibliothek an staatsrechtlichen Werken über die Schleswig-holsteinische Frage
fehle und es ist schon von Geldsammlungen zur Ergänzung dieser Lücke die Rede
gewesen. Die Facultät hätte sich vielleicht angemessener aus der Affaire ziehen
können, wenn sie sich auf eine gesetzliche Bestimmung berufen hätte, welche,
wunderbar genug, keinem ihrer Mitglieder bekannt gewesen zu sein scheint. Die¬
selbe ist in einem Rescript der Landesregierung vom 12. Sept. 1839 enthalten,
und lautet: „Auf Allerhöchsten Befehl wird der Juristenfacultät zu Rostock
hierdurch aufgegeben, künftig von ihr verlangt werdende Gutachten über Fragen.
Welche die Bundes- oder die specielle Landesverfassung eines einzelnen deutschen
Staats betreffen, nicht anders als mit Vorwissen und specieller Genehmigung
der Regierung zu erstatten." Die Facultät durfte mit Sicherheit darauf bauen.
ihr in dem vorliegenden Falle die Genehmigung versagt werden würde.
Durch irgendeinen Umstand muß die Facultät schon seit längerer Zeit das
vertrauen der jungen Rechtsgelehrten in Portugal und Brasilien in besonderem
Maße besitzen, da sie den Titel eines voetor juris utriuscius nach diesen fernen
Ländern hin am häufigsten vertheilt. Namen wie de sa,, da Fonseca. de Lima
e silva, de Castilho, Guimaraens, d'Oliveira und andere von portugiesischem
Klänge mit den dazu gehörigen vielen Uebernamen erschienen auf den Diplomen
der Facultät in größerer Anzahl als deutsche. Mit Ausschluß einer Ehren¬
promotion betrug die Zahl der von der Facultät bewirkten Doctorcreationen
von 1858 bis 1863 17, darunter 10 Portugiesen oder Brasilianer.
Es ist jetzt nicht blos die feste Ueberzeugung aller gebildeten Architekten,
die sich nicht in irgendeine abgelegene Bauepoche der Vergangenheit verrannt
haben, daß die Bauformen der Renaissance allein im Stande sind, die archi¬
tektonischen Aufgaben der Gegenwart auf ebenso künstlerische als zweckmäßige
Weise zu lösen. Auch dem größeren kunstsinnigen Publikum wird das nach¬
gerade zur geläufigen Ansicht. Namentlich seit in jener Bauart die schönsten
monumentalen Bauten unserer Zeit und neuerdings auch Privathäuser — wie
deren z. B. Hansen in Wien aufgeführt hat — entstanden sind. Denn der
weitere Laienkreis kümmert sich wie natürlich wenig um die theoretische oder
geschichtliche Berechtigung eines Stils. Er bildet sich sein Urtheil nach
der That, nach dem Ergebniß des künstlerische» Schaffens; wenn er in diesem
die Ansprüche, die dunkel in seiner Seele schweben, erfüllt sieht, seine Phantasie
zugleich befriedigt und erhoben fühlt, so gilt ihm ohne Weiteres die Form des
Kunstwerkes für lebensfähig, ohne daß er ästhetischer Gründe für seine Empfin¬
dung bedürfte. Die echte Kunst ist immer zugleich Ausdruck des allgemeinen
Geistes, welcher der noch verschlossenen Stimmung des Zeitalters die Zunge
löst und dann mit ihr in ein lebendiges Zwiegespräch tritt, in dem sie sich
ihrer Verwandtschaft freudig bewußt werden. So findet das gegenwärtige Ge¬
schlecht in den neubelebten Formen der Renaissance vertraute Züge seines
eigenen Wesens wieder und daher ein Denkmal seines eigenen Daseins.
Aber noch ist die Herrschaft dieser schönen Formenwelt, welche uns zu
Erben der glänzendsten Kunstepochen, der Antike und des Cinquecento einsetzt,
nicht gesichert. Noch macht ihr die „deutsche" Baukunst — die den Na¬
men der „gothischen" so gern, doch bis jetzt vergeblich loswerden möchte
das Reich streitig. Diese, mit Begeisterung und wie im Triumphzug aus der
Vergangenheit hervorgeholt, war vor ihr da; sie will sich von der fremden
Schwester, die ihr mit still aber mächtig wirkenden Reize Fuß für Fuß den
Boden abzugewinnen droht, auch nun nicht verdrängen lassen. Wir Deutsche
haben es ja unser Leben lang büßen müssen, daß wir allzu weitherzig die Aus¬
länder in unser Haus aufgenommen und darüber fast verlernt haben, die Her¬
ren des eigenen Herdes zu sein. Jetzt endlich, da wir einmal Anstalt treffen,
in der Politik von unserem Hausrecht Gebrauch zu machen, nun sollen wir
auch in der Literatur und Kunst nicht länger den Fremden Thür und Thor
öffnen. So wenigstens denkt ein Theil der Nation, der seit fünfzig Jahren alle
Anstrengungen macht, sich als solche zu fühlen, und da er im Staatsleben das
Schwert noch in der Scheide lassen muß, das Banner der deutschen Eigenart
Wenigstens in der Kunst lustig flattern lassen möchte. Ob dieser Schlag von
Patrioten auch dann vorangehen wird, wenn es gilt, mit dem Opfer der klei¬
nen particulären Vortheile und Neigungen die wirkliche Einheit des zerrissenen
Vaterlandes endlich herzustellen, ist vorerst noch einigermaßen zweifelhaft; das
aber jedenfalls ausgemacht, daß er mit seinem nationalen Eifer der Kunst zu
einer neuen Blüthe bis jetzt nicht hat verhelfen können.
Er ist es, der in der Architektur seit fünfzig Jahren die gothische B au¬
art zu seiner Parole macht, und wie sehr dieser auch der Strom der gegen¬
wärtigen Bildung entgegen ist, noch in diesen Tagen treu bei ihr aushält.
Noch immer schwört er auf sie als die einzig nationale und will daher nur in
ihren Formen nicht blos die Kirchen, nein, auch alle Stätten des öffentlichen
Lebens aufgeführt sehen. Andrerseits rühmt er im Selbstgefühl deutscher Prin-
cipientreue die unerschütterliche Strenge ihrer structiven Gesetzmäßigkeit
als die vornehmste Bedingung aller architektonischen Kunst. Und so wirksam
ist noch jetzt die Macht dieser herkömmlichen Meinung, daß auch die jüngste
Zeit nicht nur allerlei niedliche Miniaturausgaben gothischer Kirchen, sondern
sogar gothische Rathhäuser und Börsen (z. B. in Bremen) hervorgetrieben hat.
Namentlich können sich Oestreich und Bayern — merkwürdigerweise die deut¬
schen Staaten, in deren Adern noch das dickste particularistische Blut fließt —
einer solchen nationalen Baugesinnung rühmen. München, das uns hier
zunächst anliegt, hat ausdrücklich in das Programm des von ihm erfundenen
neuen Baustils das „nationale" Element aufgenommen, restaurirt mit der Blind¬
heit eines fanatischen Eifers sein Münster und baut überdies neue gothische
Kirchen. Nun ist zwar das in einer trüben Periode des neuen deutschen Lebens
aufgeflackerte Vorurtheil für den „deutschen" Stil unter der Mehrzahl der Ge¬
bildeten wieder am Erlöschen, und so auch die Begeisterung, die er entzündet
hat. namentlich seit sein französischer Ursprung unzweifelhaft geworden, bedeu¬
tend abgekühlt. Da aber diese keineswegs harmlose deutsche Schwärmerei in
genug Baumeistern und Laien noch fortbrennt und sich noch immer ein kost¬
bares Dasein in Stein zu verschaffen weiß, so verlohnt es sich wohl der Mühe,
sich den Stil einmal näher sowohl auf seine nationale als auf seine künst¬
lerische Bedeutung anzusehen.
Sein französischer Ursprung*) ist also ausgemacht, und nur der
Eine oder Andere, der hinter der Forschung um zehn bis zwanzig Jahre zurück¬
geblieben ist, mag noch dagegen streiten. Nicht, als ob sich blos seine ver¬
schiedenen Formen und Elemente in Frankreich gebildet und, von dort nach
Deutschland gebracht, hier erst ihre stilbildende Verbindung erhalten hätten.
Sondern in Frankreich selber hat er seine Entwickelung durchlaufen und ist
am Ziele derselben zu einer in ihrer Art vollendeten Gestalt ausgewachsen.
Deutschland hat zwar nicht erst diese als ein fertiges Ganze übernommen, son¬
dern gleichfalls die gothische Bauart eine Entwicklung durchmachen lassen: dies
aber immer in den Spuren des vorangehenden Nachvarlandes
und seinen Schritten folgend. Schon jetzt lassen sich verschiedene Haupt¬
knoten dieses Abhängigteitsverhältnisses nachweisen und vielleicht gelingt es der
ins Mittelalter immer tiefer eindringenden Forschung, seinen ganzen Verlauf
ins Licht der Geschichte zu rücken. Der Spitzbogen war, so lange er neben
romanischen Formen rein decorativ auftrat, in Deutschland ebenso wie im süd¬
lichen Frankreich nichts als eine Erinnerung an arabische Architektur und orien¬
talische Ornamentik, welche die Europäer aus den Kreuzzügen mit heimgebracht
hatten. Die Bedeutung eines neuen Stilmvtivs erhielt er erst da, wo er mit
dem Bewußtsein seiner eigenthümlichen Form gewissermaßen consequent und
absichtlich, wenn auch noch nicht zur Wölbung, so doch zur Anlage von Arkaden
durchgeführt wurde, die bei ungleichen Pfeilerabständen gleiche Scheitelhöhe und
übereinstimmende Form erhalten sollten. Dies war zuerst bei der Erneuerung
des Chors von Se. Denis (um die Mitte des zwölften Jahrhunderts) der
Fall und insofern hat der Abt Suger, der diese Anordnung erfand, den ersten
Stein zum Bau des gothischen Systems gelegt. Indessen seinen wirklichen
Anfang nahm dieses erst, als man an die Stelle des rundbogigen Kreuz¬
gewölbes, (das um leicht und ohne verwickelte Berechnungen gehandhabt zu
werden, eine quadratische Eintheilung der inneren Räume und für die Wöl¬
bungen des Mittelschiffs das Ueberspringen je eines Pfeilers erforderte,) das
spitzbogige mit Diagonalrippen setzte, um den Gewölbefeldern des Mittelschiffs
die gleiche Tiefe wie denen der Seitenschiffe geben, die so entstandenen oblongen
Räume von ungleichen Spannweiten zu gleicher Scheitelhöhe bei gleicher Kämpfer¬
höhe überwölben und dann in einheitlicher Anordnung alle Pfeiler ebenso für das
Mittelschiff wie für die Seitenschiffe benutzen zu können. Indem nun die Last
des Gewölbes ausschließlich auf die Pfeiler übertragen war, hatte die Mauer
keine stützende Function mehr auszuüben; somit trat die Bedeutung derselben
Zurück und es entstand dagegen, um die Kraft jener Pfeiler zu verstärken, das
System der Streben. Mit diesen Neuerungen ging für den nun mehr aus¬
gebildeten Ritus der Kirche die Erweiterung der Choranlage Hand in Hand.
Diese wesentlichen Elemente, welche an sich schon die Bedingungen der neuen
Bauart bilden, traten zuerst, gemischt noch mit romanischen Formen, in der
Zweiten Hälfte des zwölften Jahrhunderts in nordfranzösischen Bauten auf (in
allmÄliger Ausbildung: z. B. Kathedrale von Noyon, Se. May in Rheims.
Notre Dame in Chs-tous s. M., Kathedralen von Paris und Laon). Im nörd¬
lichen Frankreich erfolgte auch die weitere Entwickelung, die Erfindung des Ma߬
werks, die Ausbildung des Thurms nach dem Gesetz allmäliger Verjüngung und
Zuspitzung, die der Bündelpfeiler u. s. w.; endlich in den größeren Kathedralen,
wie zu Rheims und Amiens, mit dem Beginn des dreizehnten Jahrhunderts
vollendende, den ganzen Bau folgerichtig gestaltende Durchführung des
Systems.
Die ersten sicheren Zeichen der Einwanderung des neuen Stils aus Frank¬
reich in Deutschland knüpfen sich an die Bauthätigkeit des Ci sterzie n ser-
ordens. Der strengen Regel desselben, welcher der decorative Charakter der spät¬
romanischen Bauart widerstrebte, entsprach eben deshalb, wie Schnaase treffend
Nachgewiesen hat, die strenge und gesetzmäßige Weise des in seinen Anfängen
"och einfachen neuen Stils-, dieselbe strenge Regel hielt die abgezweigten Klö¬
ster unter der Aufsicht der Mutterklöster, alle zusammen in einem engeren Ver¬
bände und erforderte daher für alle neu entstehenden Kirchen dieselbe Bauart.
So verbreitete sich namentlich durch die Cisterzienser die spitzbogige Wölbungs-
"re und mit ihr das neue Bausystem über Deutschland. Und wenn auch die
bauenden Klosterbrüder in einigen Detailformen an die deutsche Ueberlieferung
der romanischen Weise anknüpften, so blieben sie doch selbst noch im dreizehnten
Jahrhundert mit dem Mutterlande in Zusammenhang und empfingen von dort
^r die Formen der weiteren Entwickelung, die sie gleichfalls nach Deutschland
verpflanzten. Aber der Orden war nicht der einzige Weg. auf dem die neue
Bauweise nach den deutschen Ländern .gelangte. Die Uebereinstimmung, welche
d'e Choranlage des Magdeburger Doms, eines der ersten gothischen Werke
diesseits des Rheins und zum Theil noch mit romanischen Elementen vermischt,
mit dem Polygonen Chorplan der Kathedrale von Soissons zeigt, die auffal¬
lende Aehnlichkeit der Stiftskirche von Se. Georg zu Limburg an der Lahn mit
der Kathedrale von Noyon in fast allen Theilen, ferner die Durchführung des
Systems an dem ersten durchaus gothischen Bau, der Liebfrauenkirche in Trier,
nach dem Muster des Chors von Se. Aved in Braine bei Soissons, endlich die
Anordnung des kölner Domchors nach dem Vorbilde der Kathedrale von Amiens:
das alles sind unzweifelhafte Zeichen, daß die deutschen Baumeister an franzö¬
sischen Kirchen ihre Studien gemacht hatten und nicht blos die einzelnen For¬
men, sondern sogar die Anlage der Pläne und die Raumeintheilung aus Frank¬
reich holten. Es ist sicher, daß sie ebenso, wie nun etwa die Maler nach
Italien, nach dem Nachbarlande wanderten, um die französische Bauweise gründ¬
lich kennen zu lernen und sich dort die Ausbildung zu erwerben, die sie befähi¬
gen sollte, die Kirchen in der Heimath in dem neuen Stile zu errichten. So
erzählt ein Dechant des Stifts Wimpfen vor 1300, wie sein Vorgänger einen
Baumeister, der erst kürzlich aus Frankreich gekommen, berufen habe, um die
Kirche „in französischer Arbeit" auszuführen. Eine Stelle, die sowohl
das beweist, daß man sich des französischen Ursprungs der Bauart vollkommen
bewußt war, als das Andere, daß vorab die Architekten gesucht wurden, welche
eben erst ihre Studien in Frankreich beendet und somit die neuesten Fortschritte
der dortigen Baukunst inne hatten. Andrerseits hatte sich der Ruhm der fran¬
zösischen Baumeister so verbreitet, daß man sie weithin aus der Fremde kom¬
men ließ, wo etwa einheimische französisch geschulte Meister nicht zu haben
waren (z. B. nach Prag).
Wie weit, so lange die neue Kunstweise in der Entwickelung begriffen war,
das deutsche Bauwesen selbständig sein konnte, ergiebt sich aus diesen Daten.
Nicht mehr, als es die allmälige Loslösung von der einheimischen romanischen
Weise und andrerseits die naturgemäße Veränderung mit sich brachte, welche
jede Kunstform erleidet, sobald sie den Anforderungen bestimmter Bedürfnisse
sich anzupassen hat. Daher kann von einer eigentlich deutsche »Ent¬
wickelung der Gothik nicht die Rede sein. Sie war ein ausländisches
Erzeugniß, auf den deutschen Boden verpflanzt und schon vorher von so ent¬
schieden ausgeprägter Art, daß sie auch in der fremden Erde, der anderen Luft
ihrer ganzen Gestalt nach dieselbe blieb.
Wie sollte auch der Deutsche dazu kommen, eine Bauweise selbständig
fortzuführen, auf die ihn kein eigenes inneres Bedürfniß geleitet hatte?
Schnaase selbst, der sich bemüht, eine selbständige Ausbildung der Gothik in
Deutschland wenigstens von einem gewissen Punkte an nachzuweisen, aber sich
deshalb der unbefangenen Forschung nicht begiebt, hat zugeben müssen, daß
ursprünglich der neue Stil dem deutschen Naturell und den deutschen Verhält-
Nissen vielmehr entgegen war. Die Anhänglichkeit an die romanische Kunstform,
welche an das deutsche Gefühlsleben stimmungsvoll anklang und in ihren mehr
natürlichen Bildungen der Phantasie vertrauter war, der Zusammenhang, der
noch mit der classischen Welt bestand, andrerseits das deutsche Wesen selber,
von vornherein aus ungebundene Entwickelung der individuellen Eigenart an¬
gelegt, zudem damals in dem losen Verbände des staatlichen Daseins in eine
Mannigfaltigkeit verschiedener in sich abgeschlossener Lebenszustände zersplittert,
widerstrebten dem strengen und energisch zusammenfassenden Charakter des Stils.
Dagegen steht mit eben diesem das französische Wesen, gemischt aus roma-
nischen und germanischen Elementen und beide zu einer immer strafferen Einheit
verschmelzend, ganz im Einklang, wie denn von jeher die systematische, die
Gegensätze in sich auflösende Form Sache des Franzosen ist. In der Architektur
scheint überhaupt dem deutschen Geiste die schöpferische Gestaltungskraft versagt
in sein, während ihm die Gabe, fremde Formen auszunehmen und glücklich
wiederzubilden, in hohem Grade eigen ist.
Erst dann, als sich das System in den großen deutschen Domen zu einer
w sich fertigen Gestalt abzuschließen suchte und durch ihr Beispiel ein allgemeiner
Baueifer erwachte, begann sich bei uns eben für diese Vollendung ein ge¬
wisses selbständiges Streben zu regen. Dieses konnte nur auf die strenge
und gesetzmäßige Durchführung der Grundsätze bis in ihre letzten Folgen und
die kleinsten Einzelformen gerichtet sein; das lag ebensosehr im eigenthümlichen
Wesen des Stiles und in der eisernen Gründlichkeit des deutschen Charakters
— hierin war zwischen beiden Uebereinstimmung — als in dem damaligen
Leben, das sich nur in den festen geordneten Verhältnissen der Städte zu pro-
ductiver Kraft aufraffte und daher das Bürgerliche, Gediegene derselben auf
die Kunst übertrug. Diese straffe, consequente. ausgrübelnde, jede Einmischung
erfinderischer Phantasie, jeden Reichthum mannigfaltiger Formen abweisende
Ausarbeitung der Bauart: das vollständige Auslöschen des echt-architektonischen
Gegensatzes von Last und Kraft in der Pfeilerbildung, die gänzliche Beseiti¬
gung der Horizontale, dagegen die Ausbildung des Verticalprincivs bis zu seinen
äußersten Spitzen, die Auflösung der umschließenden Mauer in Stab- und
Fensterwerk, die wahrhaft fanatische Begeisterung für den Thurmbau, der im
durchbrochenen Helm selbst das Bedürfniß durch den Zwang des Systems über¬
windet, endlich die Vorliebe für ein geometrisches Spiel der Formen (namentlich
^n der Polygonanlage des Chors und im Maßwerk): darin besteht die eigentlich
deutsche Behandlung des Stils. Dieser unerschütterlichen Folgerichtigkeit kann
fich allerdings nicht die französische Gothik — noch weniger die italienische —
rühmen; sie hat bis zu einem gewissen Grade das willkürliche Spiel künstlerischer
Phantasie in sich eingelassen, das Schlanke, Senkrechte des aufstrebenden
Baues durch horizontale Linien gebrochen und öfters in überquellendem Ver-
zierungstrieb das stmctive Gesetz nicht sowohl zum Ausdruck gebracht als verdeckt.
Dafür aber haben ihre Werke eine lebendige, Empfindung und Phantasie
gleich stark anregende Wirkung und eine gewisse anschauliche Klarheit der Ge-
sammterscheinung, welche die deutschen Bauten des ausgebildeten Stils vermissen
lassen. Was Schnaase von der kölner Domfa^abe, für die eine Zeit lang das
romantische Deutschland in blinder Entzückung schwärmte, eingestehen muß, daß
nämlich das Ganze nur die verständige Durchführung eines gegebenen „poetischen
Gedankens" sei und uns die Lebensfülle, die Unmittelbarkeit der Empfindung,
welche den Schöpfungen des frühgothischen Stils eigen ist, nicht entgegenbringe;
daß die unzähligen Einzelheiten, nur flüchtige, vorübergehende Aeußerungen
desselben Princips, das Auge durch ihre Menge und ihren Parallelismus nur
ermüde: eben das gilt von der deutschen Gothik überhaupt, sobald sie den
Anspruch erhebt, eigenthümlich zu sein.
Denn die bloße regelmäßige Durchführung eines constructiver
Princips ist, auch wenn sie sich im Spiel einer Ornamentik — das ja hier
lediglich systematischer Ausdruck des Gesetzes ist — ins Endlose wiederholt,
niemals im eigentlichen Sinne künstlerisch; sie schließt die freie Thä¬
tigkeit der Phantasie und die lebendige Vermittlung der Gegensätze aus. Gerade
die Ausbildung des Stils, auf welche man sich als eine nationale in Deutsch¬
land nicht wenig zu gute thut, setzt an die Stelle des Kunstwerkes ein —
allerdings riesengroßes und Staunenswerthes — Kunststück. Damit steht ganz
im Einklang, daß die Meister der deutschen Dome im Grunde nichts waren
als Steinmetzen. Man hat früher der geometrischen Grundlage des Stils eine
übertriebene Bedeutung beigelegt und in gewissen Formeln vergeblich sein Ge¬
heimniß finden wollen; so viel aber ist sicher, daß die späteren deutschen Bau-
meister das lebendige Verständniß des Stils verloren hatten und nach den Re¬
geln der Quadratur und Triangulatur das System mechanisch handhabten. Es
war das allerdings schon in der Zeit des Verfalles, aber doch die natürliche
Folge der deutschen in die Spitzfindigkeit auslaufenden Consequenz. Daß die
großen Meister der Blüthezeit mit genialer Begabung ein künstlerisches Raum¬
gefühl und einen seinen Sinn für die schmückende Ausstattung verbanden, dies
bestreiten zu wollen, wäre thöricht. Aber auch über sie kam das System mit
zwingender Gewalt und schlug ihre Phantasie in die Fesseln des einförmigen
Gesetzes. Wie der eine Gedanke des verticalen Aufsteigens sich die wider¬
spenstige Natur des Stoffs unterwirft und ihn in seine Formen nöthigt, so
nimmt er auch den Geist des Meisters gefangen und lenkt gebieterisch seine Er>
findung in die Grenzen der Regel.
Und so ist überall die jede Selbständigkeit, jede Mannigfaltigkeit unter¬
drückende Herrschaft des einen Princips. Der lebensvolle Gegensatz von Kraft
und Last ist aufgehoben, indem die Dienste und die Gurten, die Nippen des
Gewölbes ineinanderfließen, und im Grunde ist der ganze Bau nichts als eine
Zahl von Säulenbündeln, die sich mit ihren Spitzen zueinanderneigen. Denn
was die Außengestalt des Baues bezeichnet, das Strebesystem, ist nur dieser
Bündel wegen da. Jedes Glied nicht blos, auch das Ornament — die wenigen
Fälle ausgenommen, wo es nur lose aufgeheftete Zierde ist — soll nichts sein, als
der nackte Ausdruck der steigenden Tendenz, soll auch spielend noch in der knappen
geometrischen Form die Dienstleistung offen bekennen. Nicht einmal von der
Erde sich entschieden abzuheben, sich seinen eigenen Boden zu bereiten, nimmt
der Bau sich Zeit; sondern schon mit dem untersten Steine ringt er aufwärts
und ruht nicht, bis er mit der körperlichen Spitze in die Luft sich verflüchtigt.
Denn mit dem Princip, die stoffliche Schwere des Steins durch die steigende Kraft
zu überwinden, geht das Streben Hand in Hand, seinen körperhaften lagernden Zu¬
sammenhang zu verläugnen, seine Wucht und Masse zu tilgen. Immer und überall
das alles umspannende, alles durchdringende Eins des Gesetzes: daher der
"Mze gewaltige Bau in den Gliedern wie im Schmuck die endlose Wieder¬
holung der wenigen Grundformen, ein Krystall zusammengeschossen aus unendlich
vielen Krystallen derselben Form, nur von der verschiedensten Größe. Nirgends
eine nackte Stelle, denn das Zeitalter liebte den Schmuck, und die Strenge des
Stils wirkte schroff und abstoßend sobald die Construction blos in der nüchternen
Gestalt des Bedürfnisses erschien; aber das Schmuckwerk, welches das ganze
Gebäude umspinnt, immer nur der Nachklang, gleichsam das selbstlose Ver¬
haltende Echo der structiven Nothwendigkeit. Es war in der Architektur, wie
im Leben, wo die Macht der Kirche 'alles ihrer Gewalt unterwarf und allen
Ständen, allen Verhältnissen ihren gleichmäßigen Stempel aufdrückte.
Aber indem das eine Gesetz der Construction den Stoff in Widerspruch
mit seiner Natur bezwang, überstieg es zugleich dessen eigene innere Kraft: die
aufstrebenden Glieder, die den ganzen Bau schon in sich ausmachten, vermoch¬
ten doch diese Riesenarbeit nicht aus sich selber zu verrichten und bedurften,
wie wir gesehen, der Stützen (das Strebesystem). Nicht genug also, daß sich
die structive Thätigkeit schon in den Gliedern selber aussprach, im Ornament
sich mit dem Schein des Spieles wiederholte. Sondern noch entstanden For¬
men, welche wiederum nur dienende Mittel für die höhere Dienstleistung jener
Theile waren, Handlanger gleichsam der den Bau ausführenden Gehilfen.
In ihnen kommt die mechanische, dem freien Leben künstlerischer Thätigkeit ent¬
gegengesetzte Natur des Stils vollends zu Tage. Sie umstehen starrend, stem¬
mend, steifend den Bau, nicht nur in sich selber ohne Ausdruck und ohne Be-
deutung, sondern auch die Erscheinung des Ganzen zerstückelnd, verwirrend,
verwickelnd; auch sie fast ausgelöst in Zierformen und daher ein doppeltes
Räthsel. Denn das Auge kann ihren Zweck nicht fassen, da das Glied, dem
sie dienen, im Innern der Kirche, also dem Blick, der nur die Streben vor sich
hat, verborgen ist. So find für die Anschauung Zweck und Mittel auseinander-
gerissen. Aber auch durch das Innere wird diese nicht befriedigt, da sie hier
für den sichtbaren Seitenschub der Gewölbrippen, den die allzuschlanken Pfeiler
nicht vollständig aufzufangen vermögen, das Widerlager vermissen muß. Also
überall der Ausdruck ungeheurer Anstrengung; aber dem Auge fehlt das sichere
Ineinandergreifen der Kräfte. Jede einzelne Form, für sich bedeutungslos, hat
nur Sinn und Leben in Bezug auf andere und das Ganze; aber es fehlt der
Schein der freien harmonischen Vermittlung. Auch nach diesen Momenten ist
die Architektur das Bild des damaligen Lebens. Wie in jener die Natur des
Stoffes besiegt ist und doch wieder in ihren Fesseln trotzig sich aufwirft, die
Macht seiner Schwere gerade in der Anstrengung, welche der Sieg kostet, sich
bekundet: so bäumt im Mitielalter die Sinnlichkeit, vom Geiste verläugnet,
nur um so mächtiger und eigensinniger sich auf. Und wie dort die Einzelform
selbstlos ist, an die Gesammtheit gebunden, und doch wieder ohne inneres leben¬
diges Verhältniß zu ihr den Schein selbständiger Existenz annimmt, so ist hier
die Individualität innerlich unfrei, äußerlich spröde, stachlig und eckig, gefangen
in den Fesseln der hergebrachten Sitte und im Buchstabendienste des Glaubens
und doch wieder ihren Launen und Einfällen, dem Spiel einer phantastischen
Willkür schrankenlos hingegeben.
Und das ist überhaupt der Charakter des ausgebildeten gothischen Stils
wie seine Wirkung: ein unvermitteltes Nebeneinander von blinder mathema¬
tischer Nothwendigkeit und phantastischer Willkür. Denn die bloße Durchfüh¬
rung des structiven Gesetzes, weiche als solche sich aussprechen will und daher
an sich keinen andern Schmuck duldet, als den Ausdruck der Structur selber,
befriedigt den bildenden Trieb der Phantasie nicht. Dieser ergreift daher das
Schema der gegebenen Formen, um sie in einer Fülle zahlloser Combinationen
über das Baugerüst auszubreiten. Er wird dieses Spiels nicht müde und kann
kein Ende finden, da jede neue Zierde nur eine Variation desselben The¬
mas ist. So ist schließlich der streng gemessene Bau in eine endlose aber ein¬
förmige Mannigfaltigkeit von Einzelheiten aufgelöst, die feste Grundgestalt in
das Netz von Stäben und Maßwerk, in die Spitzen der Fialen und Weinperge
zerstoben. Das Ornament, das jedes für sich dem strengen Princip des Gan¬
zen unterworfen ist, hat schließlich in seine Vielheit die Hauptformen verschlun¬
gen und aufgezehrt.
Wie es so dem Bau an der klaren übersichtlichen Gesammtform gebricht,
so fehlt ihm auch die künstlerische Erscheinung der in sich ruhenden Festigkeit,
der aus sich gewachsenen, in sich abgerundeten Gestalt. Der Triumph der
Structur läßt das Knochengerüst in seiner nackten Thätigfeit hervortreten und
verschmäht jede Bekleidung, die selber nicht wieder ein strebendes Gerüst im
Kleinen ist. Der Stil verachtet das Vorbild des organischen Lebens, da^ den
Bau der inneren festen Theile durch die lebendige Umhüllung des Fleisches nur
durchscheinen läßt. Und so erscheint das Dasein auch des vollendeten Baues
nicht als ein fertiges, sondern immer als ein werdendes, das Mühsame der
Entstehung und Ausführung, die Nöthigung des Bedürfnisses in Stein ver¬
ewigt.
Zu dem verwirrenden Reichthum der äußeren Gestalt steht der Innenraum
im Gegensatz erhabener und feierlicher Einfachheit, welche gleichsam die Größe
des göttlichen Wesens der Kleinheit des Menschen vernichtend entgegenhält.
Aber die freie geheimnißvolle Kraft, mit welcher die Säulenbündel die Gewölbe
aus sich emporzuschwingen scheinen, ist zum Theil wenigstens, wie wir gesehen,
blos täuschender Schein. Und außer Verhältniß steht der in die Höhe aus¬
gedehnte, aufgeschossene Raum zu der Creatur. für deren religiöses Leben er
doch die Stätte bilden soll. „Nichts füllt das Ganze aus, alles eilt vorüber,
die Individuen mit ihrem Treiben verlieren sich und zerstäuben wie Punkte in
diesem Grandiosen (Hegel)." Und so ist wie die Erscheinung des Aeußeren die
Stimmung des Innern ohne rechte Sammlung und Ruhe, aufregend und zer¬
streuend das bunte Dämmerlicht, die ungemessene Höhe, wie die gleichzeitige
Mannigfaltigkeit des Cultus an den verschiedenen Altären.
So fehlt von allen Seiten das Freie. Harmonische, in sich Befriedigte der
wahren künstlerischen Form, die maßvolle und geschlossene Schönheit, welche
das Bedürfniß sowohl befriedigt als seinen Zwang in ihre organische Bewegung
aufhebt. Wer wird deshalb die mächtige Wirkung der gothischen Dome läug-
nen, sie nicht als den in seiner Art vollendeten architektonischen Ausdruck einer
ganzen Zeitstimmung bewundern wollen? Ohne Zweifel, sie sind insofern
Kunstwerke, als sie die Empfindung einer großen Epoche in einer — wenn
wan es mit dem Worte nicht allzu genau nimmt — idealen Form ausprägen
und diese Form zu einer in sich selber fertigen Gestalt durchbilden. Aber
durchaus von dem einen Princip beherrscht, das eben nichts war, als der be¬
stimmte Ausdruck einer bestimmten Zeit und in seiner Durchführung ganz auf¬
gegangen, sind es Schöpfungen, deren Leben mit dem Ablauf jener Epoche in
steh selber erloschen ist. Also blos Denkmäler, niemals Vorbilder.
Kunstwerke als geschichtliche Erscheinungen; keine immer muster¬
gültigen Formen des Schönen.
Während des siebenjährigen Krieges bestand die preußische Armee aus
eigentlichen Landeskindern, die aus gewissen Bezirken, Cantons, ausgehoben
wurden und daher auch Cantonisten oder Enrollirte hießen, und aus
Angeworbenen, die zum Theil aus dem Reiche, zumeist aber dem Auslande
entnommen wurden. Die gesetzlichen Bestimmungen darüber datiren bis vor
die Zeit des großen Kurfürsten, bis zum Landtag von 1626 zurück. Auf diesem
wurde festgestellt: daß sich der Adel und Andere, so Sr. kurfstl. Durchl. mit
Roßdiensten verwandt, mit den Lohnpferden, Rüstungen und Gesinde so gefaßt
halten sollten, daß sie sofort zur Musterung fortziehen könnten; daß ingleichen
auch die Bürgerschaft in den Städten sich zur Musterung so gefaßt halte, daß
sie alle Tage dazu wohlbewaffnet erscheinen könne. Nach gehaltener Musterung
sollte zunächst der fünfte und zum eilenden Nachzug der zehnte Mann zum Aus¬
schuß herausgenommen werden.
So entstanden zunächst aus der Landmiliz die Garnisonsregimen¬
ter. Sollten sie zusammenkommen, so wurde es durch den Geistlichen von der
Kanzel herab verlesen, worauf sich die Pflichtigen Offiziere beim Gouverneur
oder Commandeur, die Unteroffiziere und Gemeinen bei ihren Compagniecom¬
mandanten meldeten.
Neben dieser Beschaffung der Streitkräfte bestand noch die Werbung.
Bald fand man, daß die gewordenen Soldaten weit zuverlässiger und brauch¬
barer waren, und so legte man auf die Werbung ein besonderes Gewicht. Man
machte schon einen Unterschied zwischen den Enrollirten oder Milizen,
und den regulären Truppen, zu denen vorzugsweise die Angeworbenen zähl¬
ten. So heißt es in einer Verordnung: „Weil nun heutiges Tages kein son¬
derlicher Staat mit denen Milizen gemacht wird, sondern vielmehr reguläre
Truppen gebraucht werden, so kommt es auf die Werbung derer Soldaten an,
wo und wie dieselbe am besten und füglichsten geschehen kann."
Die Werbung war im Allgemeinen zwar durch genaue Vorschriften und
strenge Gesetze geregelt; es kamen aber trotzdem die ärgsten Überschreitungen
und damit verbundene Gewaltthätigkeiten vor, zumal wenn unter Umständen
Uebergriffe ausdrücklich gestattet waren.
Die Werbung zerfiel demnach zunächst in eine ohne und eine mit Zwang
oder Gewalt; beide Arten wurden entweder vom Landesherrn selbst, oder mit
dessen Genehmigung von einer auswärtigen Macht in dessen Landen unternom¬
men. Nach der Art zerfiel die Werbung wieder in eine öffentliche oder
stille und in eine heimliche; zu letzterer griff man gewöhnlich da, wo sie in
einem andern Gebiete nicht gestattet war. Die öffentliche Werbung wurde ge¬
wöhnlich mit Aufruf und Trommelschlag vorgenommen.
Das Recht der gewaltsamen Werbung war dem Landesherrn unbedingt
Zugestanden; dagegen ward unerlaubtes Anwerben durch Auswärtige, wenn
diese dabei ertappt wurden, mit dem Tode bestraft. Wollten solche Werber
Gewalt brauchen und das ausersehene Opfer setzte sich mit Gewalt dagegen,
so wurde der Betreffende nicht bestraft, selbst wenn ein Werber oder einer
seiner Helfershelfer dabei das Leben verlor.
Gewöhnlich hielten sich die heimlichen Werber an den Grenzen der Ge¬
bietstheile auf, in denen sie Geschäfte machen wollten. Aber nicht nur mit
dergleichen Leuten, die das Werben als ein Metier betrieben, hatten die Be¬
hörden ihre Noth, sondern mit ganz anderen. Es kam nämlich nicht selten vor.
daß begüterte Edelleute in andern Staaten hohe militärische Stellen bekleideten.
Um nun die ihnen anvertrauten Truppentheile complet zu erhalten und mög¬
lichst schöne und billige Bursche zu haben, trugen sie den Beamten in ihren
Besitzungen auf. Rekruten zu schaffen, die nicht selten mit Gewalt aufgehoben
und über die Grenze gebracht wurden. Friedrich der Große erließ deshalb kurz
noch seinem Regierungsantritt ein Gesetz, nach weichem jeder Vasall oder adelige
Unterthan, der sich mit dergleichen besässe, er möge betreten werden oder nicht,
für einen entführten Mann 100 Dukaten Strafe zu zahlen habe, wovon V3
dem Denuncianten und V» den Fiscalen in den Provinzen zufallen sollte. Die,
welche dabei geholfen, wurden noch extra mit Geld, Gefängniß. Güterconfiscalion,
i« mit dem Leben bestraft.
Bereits im Jahre 1714 war in Preußen die gewaltsame Werbung durch
königliches Edict aufgehoben worden. Den Regimentern war in ihrem Rayon,
Standquartieren und Garnisonen die Werbung nur öffentlich durch Trommel¬
schlag erlaubt, auch durften sie dem Angeworbenen nicht mehr als das gesetz¬
liche Handgeld bieten.
Das Enrolliren und Anwerben hatte nur aus die niederen oder arbeiten¬
den Volksclassen Bezug; Söhne von Vornehmeren und Angestellten waren frei.
Aber auch bei den erstgenannten Classen fanden Ausnahmen statt, namentlich bei
den in Preußen aus andern Ländern Einwandernden. In der Verordnung heißt
^: „Es sollen alle Fremde mit gutem Vermögen und Habseligkeiten, anziehende
Familien und einzelne Personen sammt den Ihrigen von aller gewaltsamen
Werbung und Enrollirung frei sein." Fernerwaren befreit: Manusacturisten,
Namentlich Wollarbeiter, die Zimmerleute, und alle, die sich nach Preußen zur
Arbeit begaben, nebst den mitgebrachten Gehilfen und ihren Angehörigen.
Dann diejenigen im Bürger- und Bauernstande, die ein eigenes Anwesen oder
Geschäft hatten, so wie die einzigen Söhne, auch die, welche bereits einen Bru¬
der in der Armee hatten und schließlich die Seeleute. Hingegen wurden die¬
jenigen als Deserteure behandelt und im Betretungsfalle hart bestraft, die sich
heimlich in der Absicht außer Landes begeben hatten, sich dem Militärdienst zu
entziehen oder gar in die Reihen einer auswärtigen Macht einzutreten, selbst wenn
sie noch nicht enrollirt waren. Als unehrlich wurden nicht aufgenommen: die Scharf¬
richter, Schließvögte und Büttel mit ihren Knechten, ebenso die Cloakenreiniger.
Verheimlichte ein solcher sein ehrloses Gewerbe und ließ sich enrolliren, so
wurde er als infam behandelt und mit Staupbesen davon gejagt. Noch früher
waren auch die Schäfer, Stadtdiener und Wächter als Unehrbare ausgeschlos¬
sen. Erst 1722 wurde diese Verordnung, mit Ausnahme der Schließvögte,
aufgehoben, bis auch diese, aber erst nachdem sie ehrlich gemacht d. h. die
Fahne über ihnen geschwenkt worden war, angenommen wurden.
Zur erlaubten öffentlichen Werbung wurden gewöhnlich Offiziere unter
einem „Werbehauptmann" commandirt, die mit einer vom Regenten unter¬
zeichneten Legitimation versehen waren, in welcher auch die betreffenden Be¬
hörden angewiesen wurden, diesen in allem den möglichsten Vorschub zu leisten.
Diese Offiziere erhielten als Beihilfe noch einige Unteroffiziere, meist nette
und gewandte, zugleich aber handfeste Leute. Einem solchen Commando wurde
ein gewisser Bezirk angewiesen. Der Unteroffizier, der einen Angeworbenen
gegen Geld löslich, wurde auf drei Jahre in die Karre verurtheilt. —
Hier haben wir ungefähr die Grundzüge der geregelten Werbung ge¬
geben. Anders dagegen sah es bei der unerlaubten oder heimlichen aus.
Diese betrieben zum Theil Abenteurer auf eigene Faust und kein Mittel wurde
gescheut, zum Ziele zu gelangen. Namentlich in Kriegszeiten, wenn das Ka¬
nonenfutter rar wurde, ward überall auf Menschenfleisch Jagd gemacht.
Die Tummelplätze waren namentlich in den unzähligen Territorien der Reichs¬
unmittelbaren und der freien Städte, wo die Grenzen sich so nahe kamen, daß
man diese zuweilen mit wenigen Schritten erreichen konnte. In einem klei¬
nen Bezirke lagen oft mehre Werbeparteien, die sich ihre Beute gegenseitig
streitig machten, ja einander abjagten, wovei es nicht selten zu den blu¬
tigsten Händeln kam. Allerlei raffinirte Kniffe und Pfiffe, sowie Gewaltacte
galten dabei für erlaubt. Oft schlichen die Werber unter allerlei Gestalten
verkappt umher, ihr Opfer zu umgarnen und im rechten Moment fest zu
halten. Man machte Versprechungen, die nicht gehalten wurden, machte
die Leute betrunken, reichte betäubende Getränke und dergleichen mehr. Etliche
Berückungsmittel hatten geradezu Sanction erhalten; wer z. B. den Hut eines
Werders aufgesetzt, mit ihm getrunken oder gar Geld von ihm angenommen
hatte, war ihm verfallen. Ein gewöhnliches Mittel war das, die Ausersehenen
auf irgendeine Weise über die Grenze zu locken, meist indem man ihnen vorspie¬
gelte, sie in einen bürgerlichen Dienst zu nehmen, wobei dann allerlei gute
Versorgung vorgelogen wurde.
In einem Ausschreiben des schwäbischen Kreises, dem Werbeunfug zu flen-
n'n, heißt es unter anderem: „Nachdem Fürsten und Stände dieses löblichen
Kreises verschiedene Jahre her wahrgenommen, welcher Gestalt hier und da
durch einfindende fremde Werber viele und mannigfache Excesse verübt worden,
indem sie nicht allein junge Mannschaft, sondern auch Hausgesessene, verheirathete
und mit vielen Kindern versehene Unterthanen durch allerhand unerlaubte
Praktiken, arglistige Hintergehungen, auch zuweilen gebrauchte Gewalt wegzu¬
schnappen, sich vermessentlich unterfangen haben, auch daß sie die Leute mit
diesen oder jenen Motiven zu verführen trachten und die mit herum, führenden
neuen Hüte, um zu sehen, wie sie ihnen anstünden, aufsetzen hießen, dieselben
mit andern Soldaten Branntwein zu trinken, oder auf des Offiziers Gesundheit
Bescheid zu thun überreden, auch manchmal beim Trunk ihnen heimlicher Weise
Geld in die Tasche schieben und als wenn sie solches zu Kriegsdiensten genom¬
men prätendirten, wo sich aber jemand widersetzen wollte, diesen mit Prügeln
so lange hart tractirten, bis er sich entweder enrolliren zu lassen erklärte,
oder von ihnen mit einer constderabeln und solchen Leuten schwerfallenden
Summe Geldes loskaufte, ja es auch so weit käme, daß auch die Leute in
den Gärten, auf den Feldern und in den Wäldern nicht sicher wären und
durch die Werber verschwänden, so soll dieses hinführo nicht mehr geduldet
werden."
Es wird weiter gesagt, daß, wenn solches so fortginge, das Land bald
ganzUch von junger Mannschaft entblößt sein und demnach die Felder un¬
bebaut und verödet liegen bleiben würden, daneben auch alles Handwerks- und
übriges Gesinde, wie es sich schon wirklich zeige, gänzlich abgetrieben, ja selbst
von der Kreismiliz viele verführt würden, sodaß die Offiziers ihre Noth hätten,
bei dem großen Mangel an Mannschaft ihre Regimenter zu completiren. Gleich-
üeitig wird aber auch gerügt, daß Offiziere der Kreiscontingente unter dem Ver¬
wände eigener Anwerbung die Angeworbenen nicht zu dem Zwecke bei ihren
Abtheilungen behalten, sondern gegen einen Profit auswärtigen Werbern über¬
lassen hätten. —
War eine Partie solcher Unglücklicher, namentlich auf dem Wege der Ge¬
walt, zusammengebracht, so wurden sie mehr wie das Vieh, denn als Menschen
ttactirt. Es handelte sind nur darum, sie auf die billigste und sicherste Weise
an den Ort ihrer Bestimmung zu bringen. Sie erhielten eben so viel, um
nickt zu verhungern. Zusammengebunden und von einer zahlreichen Escorte be¬
gleitet, war es ihnen fast unmöglich, den Teufelskralle» dieser Menschenjäger zu
entfliehen, gelang es aber einem, einen Fluchtversuch zu machen, so wurde er
gewöhnlich wie ein Wild zusammengeschossen. Ja, man ging so weit. Bursche,
die »'an bei der Feldarbeit überfallen wollte und die, das Unheil merkend, zu ent¬
weichen strebten, ebenfalls ohne Weiteres zusammenzuschießen, und gewöhnlich
krähte kein Hahn darnach.
Man denke aber nicht, daß nur untergeordnete Chargen und fübllose, selber
verdorbene Subjecte sich mit diesem elenden Gewerbe befaßten: sie hatten Colle-
gen in den obersten Führern, ja sogar gekrönte und gesalbte Hcinvter fanden
nicht selten ebenso viel Freude an einer derartigen Menschenjagd, wie an einer
Hirsch- oder Sauhatz?. Um etwa zur Potsdamer Riesengarde unter Friedrich
Wilhelm dem Ersten einen Mann zu erlangen, auf den das Auge gefallen war,
respectirten Fürst und Diener kein Gesetz, keine Stellung, keinen Stand. Selbst
Geld, sonst das beredteste Mittel, konnte nicht davon entbinden. Kein frem¬
des Gebiet, nicht die Heiligkeit des häuslichen Asyls wurde respectirt, keine
List, kein Betrug verschmäht. Und war der Erwischte einmal in der bunten
Zwangsjacke, so nahm er sie auch mit ins Grab. —
Wenn auch Friedrich der Zweite vieles in den barbarischen Bräuchen
milderte, so blieb doch noch manches zurück, was jetzt das menschliche Gefühl
empört. Der Mensch wurde eben, so lange die Werbung bestand, als eine
nothwendige Waare betrachtet, die man haben mußte. Negierende Herren,
Prinzen und Generale wetteiferten darin mit einander. Bon dieser Schwäche
seiner Zeit war auch der bekannte Herzog Karl Wilhelm Ferdinand von
Braunschweig, der Held vom siebenjährigen Kriege, nicht frei, der als einer der
humanster und intelligentesten Fürsten galt und in allen Schichten der Bevöl¬
kerung seine Verehrer hatte. Wir wollen hier als Beispiele ein paar Briefe
von ihm an den braunschweigiscken General v. Riedesel anführen^)
„Die beiden Werber Seitz und Rühlmann. welche Ew. Hochwohl-
geboren dieses Schreiben überreichen werden, haben mir einen 12zölligen Kerl
auf Lauterbach*) angegeben, welcher unter der hessischen Garde dienet, und
sich Fuchs nennet, da nun verschiedene Preußische Werber nach ihm heraus
sind, so wünschte, da er doch in Preußische Hände endlich gerathen wird, daß
ihm vorzüglich beladene, ich ersuche daher, dem Seit) ein Schreiben an einen
zuverlässigen Mann zu Lauterbach mitzugeben, daß er diesen Leuten in Anwer¬
bung des Fuchses Hilfe leisten möge, ich will'ihm gern 20 Pistolen Handgeld
und Z bis 4 Thlr. Monats geben, könnten Dieselben auch daß Handgeld dorten
zur Stelle auszahlen lassen, wie auch 10 bis 12 Thlr. Zähr- und Transport¬
kosten, von diesen Zeitz und Rühlmann. so würden Dieselben aler eine beson¬
dere Gefälligkeit damit erweißen, und werde ich nicht unterlassen den Vorschuß
aufs prompteste zu ersetzen. Sie glauben nicht was es für Umstände macht,
solchen Kerl zu bekommen, und waß die Werbung Sauer und Kostbahr ist,
derowegen würde der Preußische Nahme wohl eigentlich nicht zu nennen seyn.
Ich bitte um Verzeihung mit dergleichen beschwehrlich zu fallen, der ich übrigens
mit vollkommenster Hochachtung verbleibe
Ein Jahr später schreibt dieser Fürst an denselben:
„Denen beiden 8zölligen können von 30 bis 60 Thlr. an Handgeld
gebothen werden, übrige vonclitiovös würden so viel immer thunlich zu ver¬
meiden seyn.
Dem 12zölligen Hutmacher stehen nicht allein 200 sondern 300 si. und
Wenn es auch SO si. mehr wären zu Dienste, wollte ober könnte es eingeleitet
Werden, daß er als Hutmacher zu Halberstadt sich niederlassen wollte, so ver¬
sichere ihm außer dem Handgeld daß freye Bürger und Meisterrecht, wie auch
lin eigenes Hauß.
Dem 11 Zottiger können die 100 si. weiche er verlangt ebenfallß gegeben
werden, dürste aber nicht über 400 kosten.
In Betreff eines Deserteurs, der sich unter der Bedingung des Straf¬
erlasses wieder stellen wollte, schreibt der Herzog:
Auf Dero Bericht vom heutigen den desertirten Grenadier Heinrich
Bernhard Solff betreffend, habe ich dem Amte Lichtenberg inscribiren lassen,
daß dessen Weib und Kinder sofort arretirt werden sollen, nachdem wegen Be-
schlagung seines Vermögens und Jnvigilirung auf seine Person, auf die erste
geschehene Anzeige an gedachtes Amt sowohl als an das Amt Lutter das nötige
bereits ergangen ist. Den Deserteur aber selbst werden Sie dahin bescheiden,
daß mit seines Gleichen, die ihren Eid gebrochen, niemalen capitulirct werde,
sondern er sich stellen müsse, wenn er nicht alles Seinigen verlustig gehen wolle.
Ich verbleibe mit vieler Consideration
Deroselben
Ein schlimmes Corrclat der Werbepraxis war nun das Plündern: der
schreckliche Unfug wurde von den Kriegsherrn zunächst deshalb gestattet und
aufrecht erhalten, um den Soldaten durch den Extraerwerb zu „encouragiren"
Bei dem ganzen alten Militärsystem nahm dieses Ranbrecht eine sehr wichtige
Stelle ein. Auch die einsichtigsten und humanster Kriegsherrn hatten die größte
Mühe es zu beseitigen, da eben der Erfolg der Werbungen sehr wesentlich von
der Freiheit im Plündern abhing, welche sie gestatteten.
Es mußte daher schon als sittlicher Fortschritt betrachtet werden, wenn
das Unrecht, was man nicht ohne Weiteres aufheben zu können einsah, in
ein System, unter strenge Gesetze gebracht wurde.
In dieser Meinung und um der üblen Wirkung des Plünderns auf die
Disciplin zu steuern, setzte Friedrich der Große folgende Bestimmungen fest:
Das Beutemachen war erst nach völliger Beendigung einer Bataille gestattet.
Während dieser durfte kein Todter oder Biessirtcr ausgezogen oder visitirt wer¬
den. Der geschlagene Feind sollte zunächst rasch verfolgt werden und darnach war
es erlaubt, den Gefangenen zu plündern. Bei Einnahme eines Lagers oder
Platzes war das Beutemachen erst dann zulässig, wenn aller Widerstand des
Feindes gebrochen war. Doch durfte der Soldat auch nicht alles behalten, was ihm
in die Hände fiel: ausgenommen waren Fahnen und Standarten, Pauken, Kassen,
Geschütze, Munition, Proviant, was dem Kriegsherrn gehörte. Dafür erhielt
der Mann aber eine Entschädigung.
Eine noch vom großen Kurfürsten datirende Verordnung besagte: daß,
wenn vorher für den Kriegsherrn die Beute weggenommen wäre, den Soldaten
das Uebrige, nach Abzug des zehnten Theils für die Armee zu belassen sei;
daß auch für die eingebrachten Gefangenen, die sich der Kriegsherr vorbehält,
nachdem sie ihm präsentirt, eine Vergütung an die. welche sie gefangen, gegeben,
sür die andern aber die Nanzion demjenigen, der sie eingebracht, überlassen
werden müsse. —
Fremde Miethssoldaten wurden beim Plündern knapp gehalten; ein beson¬
deres Privilegium hingegen hatten die sogenannten „Freipartcien" oder Partei¬
gänger, um diese dadurch anzureizen, den Gegner wo sie sonnten zu belästigen
oder ihm seine Subsistenzmittel zu entzieh«. — Die Zeit des Plünderns wurde
den Truppen gewöhnlich genau bestimmt und zum Beginn in der Regel ein
Z
Was amerikanische Blätter über die dortigen Zustände bringen und was
von Privaten für die Oeffentlichkeit geschrieben wird, ist bekanntlich ohne Unter¬
schied mit äußerster Vorsicht aufzunehmen. Es kann daher nur sehr willkommen
sein, wenn hin und wieder Privatbriefe, die nur der vertraulichen Correspondenz
angehören und in keiner Weise für die Oeffentlichkeit berechnet sind, zur all¬
gemeinen Kenntniß kommen. Jedenfalls geben solche Berichte das unmittelbarste
Bild der Eindrücke und Stimmungen und werden auf diese Weise unwillkürlich
in einem Maßstabe der Ereignisse, die auf den Einzelnen oder den engeren
Kreis wirken, dem er angehört.
In Nachfolgendem geben wir den Privatbrief eines bostoner Fabrikherrn
"n seinen in Deutschland lebenden Bruder*).
In letzterer Zeit waren die Kriegsoperationen dem Norden günstig. Eine
Beendigung des Kampfes scheint mir jedoch noch nicht so nahe, als man gern
annimmt, und obgleich es Thatsache ist, daß der Präsident mit seinem ersten
Minister eine Zusammenkunft mit Abgeordneten der feindlichen Regierung hatte,
so ist doch vorläufig nichts erzielt worden und ich bezweifle nicht, daß der
Süden fest entschlossen ist. alles daran zu setzen und lieber zu Grunde zu gehen,
als in den früheren Staatenverband wieder zurückzutreten. England und Frank¬
reich werden das Ihre dazu thun, die Macht des Nordens zu lahmen, und so
ist eine Besserung der Verhältnisse, namentlich eine Herabsetzung der Existenz¬
mittel auf geringere Preise, wohl nicht in naher Aussicht. Doch wir sind
guten Muthes. Nächst der Fähigkeit zu zahlen ist die Generosität des Ameri¬
kaners nicht genug anzuerkennen. Jede Stadt von einiger Bedeutung veran¬
staltet Industrie- und Kunstausstellungen, deren Gegenstände geschenkt und von
den liebenswürdigsten Damen dem Publikum zu hohen Preisen aufgeschwatzt
werden. Der Erlös, der sich in Bausch und Bogen auf circa 2Vs Millionen
belief, wurde zum Besten der Armee und Flotte verwendet. Heute taucht eine
Idee auf, und morgen wird sie schon verwirklicht. In der Weihnachtswoche
erschien hier ein Aufruf: unseren Soldaten im Felde ein ordentliches Christmas-
diner zu bereiten; zugleich wurde Zeit und Local angegeben, wo etwaige
Spenden in Empfang genommen werden sollten. Zwei Tage später waren
dort 60.000 Truthühner, nebst Massen von eingemachten Früchten, Backwerk
und Anderem abgegeben und da bald andere Städte mit uns wetteiferten, s»
kann man sich denken, was da in kurzer Zeit zusammengekommen war. —
Inzwischen erreicht unsere Staatsschuld in diesem Jahre die Summe von
4000 Millionen! — Wer sie bezahlt und wann sie getilgt wird, darum wollen wir
uns nicht grämen; genug, daß wir gern und willig die außerordentlichen Taxe»
zu einer Höhe zahlen, wie sonst kein Volk der Erde. Vom Präsidenten herab bis
zum Arbeiter, der über 600 Doll. jährlich verdient, muß alles von seinein
Einkommen fünf Procent zahlen,'der Manufacturist noch extra von jedem Fabri'
rat fünf Procent. Versäumnisse oder Unrichtigkeiten werden mit 600 Doll. be¬
straft. Jeder Wechsel, nach Betrag des Werthes,-jede Photographie, das Päck¬
chen Zündhölzer muß den Stempel führen! — Groß sind die Summen, die
dadurch dem Staate zufließen und wenn dabei alles mit rechten Dingen zuginge,
so wäre ein Veranschlagen von 200 Millionen durch inländische Taxen zu er¬
zielen, wohl nicht zu hoch gegriffen, wenn man namentlich liest, wie hoch die
Summen der Taxzahlenden in einzelnen Fällen sich belaufen.
Der Präsident zahlt von seinen? 25.000 Doll. jährlichen Gehalts 1200
ab. Ein Herr Stevens in Philadelphia, dessen Oelquellen eme täg¬
liche Einnahme von 3000 Doll. ergeben, zahlt täglich 150 ans Gouverne¬
ment. Ein hiesiges Haus zahlte für eine einzige Schiffsladung von Spi-
'ituosen 66.000 Doll. Zoll. Und nun gar der Kaufmann Stewart in
Newyork, Jmporter von Sammet- und Seidenwaaren. 2S0.000 in einem
Jahre! — Er importirt für 30 Millionen, und rechnet man nur sechs Pro-
cent Gewinn im Geschäft, so ergiebt das nahe an 2 Millionen jährlicher
Einkünfte. —
Vor zwei Wochen starb hier in Boston Edward Everett, einer der
geachtetsten und verdienstvollsten Männer, jedenfalls der. bedeutendste Redner
Amerikas. Nachdem die Stadt am Beerdigungstage durch Schließen der Ge¬
schäfte. Dämpfen der Kirchenglocken u. tgi. ihm die letzte Achtung erwiesen,
wurde beschlossen, ihm eine Statue zu errichten und gestern waren bereits
27.000 Doll. gezeichnet. — Also Geld wäre noch da.
Was nun die Kriegsereignisse selbst betriff:, so lauten die Berichte darüber
so verschieden, daß man sich allmälig gewöhnt, gar nichts mehr zu glauben,
als nur das: daß endlich Kanonen und militärische Erfolge das Ende herbei¬
führen müssen. Letztere waren, wie gesagt, für die Waffen der Union in
letzterer Zeit mehrfach günstig.
Fort Fisher in Nordcarolina. das den Hafen vor Wilmington be¬
herrscht, von wo die meisten Blokadebrecher ein- und ausliefen, wurde von der
vereinigten Land- und Seemacht erstürmt und dadurch die bedeutendsten Zu¬
fuhren für den Süden abgeschnitten. Man hat berechnet, daß nicht weniger
als 23,000 Bomben, jede Secunde vier, in das Fort geworfen wurden. —
Unsere Commandirenden werden dem Kritiker in Europa nicht selten
Stoff zum Lachen geben. Sie sind gewohnt, den Mund gehörig voll zu
nehmen. Admiral Porter, der die Flotte dort commandirt, sagte unter
Anderem: Er sei zur Zeit des Krimkrieges einige Tage nach der Erstürmung
des Malakoff in Sebastopol gewesen, die dortigen Werke wären aber
nur ein Kinderspiel im Vergleich zu Fort Fisher. — Klingt gewiß stark! —
Viel Ursache zu den oft geringen Resultaten der bisherigen Kriegführung
im Verhältniß zu den großartigen Mitteln ist wohl die Uneinigkeit oder
mehr die Unfähigkeit der Führer. Es macht daher einen günstigen Ein¬
druck, daß die Regierung ihren Fehler einsieht, einflußreiche Politiker zum
Dank für geleistete Dienste mit hohen Militärstellen zu bekleiden, und daß man
nun anfängt, damit aufzuräumen. Es sind jetzt so ziemlich alle verantwortlichen
Stellen mit Personen besetzt, die auf der Militärakadamie zu West-Point
gebildet wurden. Unter den Namen der Generale wird man auch manchen
ursprünglich deutschen lesen, wie Rosenkranz, Weltzeit :c. Da jedoch ge¬
wöhnlich nur Söhne von Senatoren und Congreßmännern das Institut beziehen
können, so ist anzunehmen, daß sie schon der zweiten und dritten Generation
eingewanderter Deutscher angehören.
Karl Schurz, aus der Kinkelaffaire wohl bekannt, wurde für sein po¬
litisches Wirken zunächst mit dem Gesandtschaftsposten nach Spanien belohnt.
Ich habe immer lachen müssen, wenn ich seine Caricatur sah, wie er behängt
mit Bierglas, Tabacksbeutel und Pfeife nach Madrid marschirt. Dort
fühlte er sich jedoch nicht heimisch, er kam zurück, wurde Brigadegeneral,
machte aber nie von sich reden und ist ohne Commando. Ebenso gegenwärtig
Sigel, obwohl er schon Tüchtiges geleistet und lange Zeit von den Amerika¬
nern der ü^ing vntsenmaim (fliegende Holländer) genannt und vielfach be¬
günstigt wurde. —
Mit Ur. t4 beginnt diese Zeitschrift ein neues Quartal,
welches durch alle Buchhandlungen und Postämter zu be¬
ziehen ist.
Leipzig, im März 1863.Die Verlagshandlung.
Unser gesegnetes badisches Land ist in den letzten Wochen mehr als je der
Gegenstand von Correspondenzen in den verschiedenen politischen Blättern Deutsch¬
lands gewesen. Nicht nur das Streben, die Leser über uns zu orientiren, hat eine
Anzahl von Federn geleitet, deren Producte, sehr ähnlich lautend, nur im Tone
Verschieden gefärbt, bald in der Mundart der Zionswächter in der „Kreuzzeitung",
im bureaukratisch-reactionären Sinne in der Frankfurter „Postzeitung". in groß-
deutschem Jargon in der unvermeidlichen Augsburger „Allg. Zeit." nach passenden
Intervallen auftauchten. Während sie im Anfang nur den Fluch des Himmels
über unsere Gottlosigkeit herunterriefen, endeten sie mit nicht undeutlichen Auf¬
forderungen zu einer Intervention der Nachbarstaaten. Das Land, wußten sie
ZU melden, sei in einem unerhörten Zustande der Aufregung, die Katholiken sam¬
melten sich zu Tausenden und Abertausenden, und erhöben ihre Stimme gegen
die himmelschreiende Unterdrückung, mit der sie der ..Terrorismus" der herr¬
schenden Partei bedränge, die Religion und somit auch die Monarchie sei in
Gefahr und nur von ihnen könne Rettung. Ruhe und Friede gebracht werden.
Der Grund dieser mit Ostentation zur Schau getragenen Entrüstung und
nner Agitation, die in der That lästig wäre, wenn sie nicht ein so jämmer¬
liches Fiasco gemacht hätte, ist das Aufsichtsgesetz für die Volksschulen.
Getreu dem Grundsatze, aus allen Gebieten des öffentlichen Lebens an
die Stelle der bureaukratischen Bevormundung die Selbstverwaltung auf brei¬
tester Grundlage treten zu lassen, und erfüllt von dem Streben, die Gemeinden
ZU einem lebhafteren Interesse an dem Volksschulwesen heranzuziehen, auf der
andern Seite dem allgemeinen Rufe nach Trennung der Schule von der Will¬
kürherrschaft des Klerus entsprechend, beschäftigte sich die Regierung seit mehren
Jahren mit der Schulfrage. Ein Oberschulrath wurde, als Mittelbehörde unter
dem Ministerium des Innern stehend, gegründet, der das gesammte Unterrichts,
rochen des Landes mit Ausnahme der Universitäten zu leiten hat, an seine
Spitze wurde ein durch scharfsinnige volkswirtschaftliche Untersuchungen als
Gelehrter, durch hervorragende Rednergabe als Abgeordneter, hochgeachteter Mann,
bis dahin Professor in Freiburg, Karl Knies berufen, das Collegium ward
aus je einem Geistlichen der beiden christlichen Konfessionen, einem Philologen,
zwei Reallehrern und einem Volksschullehrer zusammengesetzt, zu denen noch ein
juristisches und ein cameralistisches Mitglied kam.
Der Oberschulrath oder vielmehr sein Director begann seine Thätigkeit mit
der Ausarbeitung von Thesen über eine Reform des Jolksschulwesens. die
zunächst dem Minister des Innern vorgelegt, sodann von einer Versammlung
von Vertrauensmännern aus dem Lehrerstande besprochen wurden und die
Grundlage eines neuen Schulgesetzes werden sollten. Gegen sie erhob sich zuerst
ein heftiger Widerspruch der ultramontanen Partei, dann des Klerus, endlich
des Erzbischofs. Diese Thesen sind keineswegs radical. Im Gegentheil, die
fortgeschrittenere Fraction der liberalen Partei erhebt fortwährend gegen sie den
Vorwurf, daß sie auf halbem Wege stehen bleiben. Die Thesen kennen keine
Communalschulen. sie halten in der Regel die scharfe Trennung der Schulen
nach Confessionen aufrecht, nur da, wo in einer Gemeinde beide Bekenntnisse
vertreten sind, ohne daß jedes eine so große Zahl erreichte, daß sich die Er¬
richtung zweier Schulen als zweckdienlich erwiese, nur da sollen gemischte Schulen
und auch da nicht ohne die Zustimmung von zwei Drittheilen der Schulgemeinde,
errichtet werden. Der Religionsunterricht bleibt den Kirchen vollständig über¬
lassen und auch die Lehrer sollen in Verhinderung des Geistlichen diesen Unter¬
richt zu ertheilen ermächtigt sein; die Stunden in denen der Geistliche die
Schule besucht, sollen mit der Kirchenbehörde vereinbart, dann aber unveränder¬
lich festgestellt werden. Diese letzten Bestimmungen erregten hauptsächlich den
Unwillen der Kurie. Bisher war der Religionsunterricht nicht nur in dem
Sinne der Hauptlehrgegenstand gewesen, daß der ganze Unterricht von einem
wahrhaft religiösen Geist geleitet und durchdrungen wurde, sondern der for¬
melle Religionsunterricht hatte, besonders auf dem Lande, die Thätigkeit der
Lehrer und Schüler zum größten Theile absorbirt. Zu jeder beliebigen Stunde
hatte der Geistliche seine Unterrichtsstunden abhalten und dadurch die andern
Lehrgegenstände nach Belieben verkürzen können. Das war namentlich auf
Kosten der Realien geschehen, gegen deren Betreibung in der Volksschule die
Geistlichen von jeher eine besondere Abneigung bewiesen hatten.
Der Wunsch, diesen Zustand fortdauern zu sehen, die Abneigung der
Pfarrer, mit schlichten Gemeindegliedern in einer und derselben Commission
— dem Ortsschulrath — sitzen und tagen zu sollen waren die Hauptursachen
der klerikalen Agitation, die sofort begann, kaum daß jene Thesen durch den
Druck den weitesten Kreisen zugänglich gemacht waren. Ihre schlimmen Fol¬
gen machten sich zunächst in dem Verhältnisse der Geistlichen zu den Lehrern,
in den Beziehungen der Schulvisitatoren zu der obersten Schulbehörde be-
merklich; die klerikalen Proteste machten die Angelegenheit täglich mehr zu
einer Principienfrage und M Negierung sach ihre wohlmeinenden Absichten
verdächtigt und den Grund, auf dem sie das neue Gebäude aufzuführen
gedachte, völlig unterwühlt. Freunde der Negierung konnten sich eines leb-
haften Bedauerns darüber nicht erwehren, daß man durch die Publication
der Thesen, die in ihrer doctrinären Form gar manche Schroffheit und Ein¬
seitigkeit 'zeigten, welche das Leben sofort beseitigt hätte, die Agitation des
Klerus geradezu provocirt, daß man namentlich dadurch ein freundliches Ein¬
vernehmen mit der Kurie, welches auf dem so zu sagen neutralen Boden,
den Leben und Praxis zwischen den beiderseitigen principiellen Standpunk¬
ten offen hielten, zu erreichen war. sehr erschwert hatte. Aber die Thesen
Waren nun einmal veröffentlicht, die Agitation war da. die Regierung konnte
unmöglich einen Schritt rückwärts thun. Die Kammern waren versammelt und
in zahlreichen Petitionen kam das Ersuchen an sie. den Erlaß eines Schulgesetzes
so viel als möglich zu beschleunigen. Aber nun zeigte sich doch, daß die Vor¬
bereitungen noch nicht weit genug gediehen waren und wenn je irgendein Ge¬
setz, so war dieses der reifsten Erwägungen am meisten bedürftig, bevor man
den Entwurf den Berathungen der Stände vorlegte. Andrerseits schien die
unveränderte Fortdauer des bisherigen Zustandes unerträglich. Die Kirche be-
nutzte ihre Stellung gegenüber der Schule zur entschiedensten Befehdung der
Regierung und dem Staat waren durch die Gesetzgebung vom October 1860
alle Mittel genommen, mit denen die Gesetze der Aufklärungsperiode die Om-
nipotenz der Bureaukratie auch der Kirche gegenüber ausgerüstet hatten. Unter
diesen Verhältnissen entschloß man sich, den Theil des Schulgesetzes, welcher
die Aufsicht über die Volksschulen betrifft, zunächst allein vorzulegen. Der
Entwurf wurde in der zweiten Kammer mit allen gegen zwei Stimmen an-
genommen und auch in der ersten Kammer waren es nur zwei Stimmen, welche
sich dagegen erklärten.
Nach diesem also fast einstimmig beschlossenen Gesetze wird die örtliche
Aufsicht über die Volksschule durch den Ortsschulrath besorgt. Der Ortsschul¬
rath für die konfessionellen Volksschulen besteht aus dem Ortspfarrer der be¬
treffenden Confession, dem Bürgermeister, dem Schullehrer, endlich 3 bis 5
«ewählten Mitgliedern, je nach der Größe der Schulstelle; für eine gemischte
Schule besteht er aus je einem Ortspfarrer für jede betheiligte Confession, dem
Bürgermeister, den Schullehrern, je einem für eine betheiligte Confession. end-
Uch 2 bis 6 in der Weise gewählten Mitgliedern, daß jede Confession durch eine
gleiche Zahl vertreten ist. Die Wahlen finden für je 6 Jahre statt; die Ver¬
weigerung der Annahme der Wahl ohne genügenden Entschuldigungsgrund
Zieht eine für Ortsschulzwecke zu verwendende Geldstrafe von 2S bis 60 Gul-
den nach sich. Der Vorsitzende des Ortsschulrathes wird aus der Müde desselben
für je 6 Jahre durch die Staatsregierung ernannt; die Schullehrer können nicht
zu Vorsitzenden ernannt werden; wegen dienstwidrigen Verhaltens können ein¬
zelne Mitglieder des Ortsschulrathes aus demselben ausgeschlossen und der Vor¬
sitzende von der Vorstandschaft entfernt werden. Zur Beaufsichtigung einer
größeren Anzahl von Schulen werden Kreisschulräthe ernannt. Jede Kirche
kann für die Ueberwachung des Religionsunterrichts ihrer Angehörigen in der
Volksschule ihre eigenen Aufsichtsbeamten ernennen und durch dieselben Prü¬
fungen des Religionsunterrichts vornehmen und sich Bericht erstatten lassen.
— Ich theile Ihnen absichtlich so weitläufig den Inhalt dieses Gesetzes mit,
weil es zur Taktik der Gegner gehört, über seine Gemeinschädlichkcit, über die
Gefahr, die es der Religion drohe, zu declamiren, aber wohlweislich den Vor¬
hang nie zu lüften, hinter dem sie der Masse einen Popanz der gräulichsten
Art vorschwindeln.
Gegen das Gesetz erhob sich zuerst der feierliche Protest des greisen Erz-
bischofs von Freiburg. Und ihm folgte, als er erfolglos blieb, ein wahrer
Sturm von Angriffen gegen die Regierung von den Kanzeln herab, in den
klerikalen Zeitungen, in zahllosen, geschickt verbreiteten Flugblättern. Auf der
andern Seite schwieg nun auch die liberale Partei nicht. Adressen an die Kam¬
mern, an Lamey, an den Großherzog dankten für das Gesetz und die kleine
Presse des Landes gab die Vorwürfe und Schmähungen der Ultramontanen
mit Zinsen zurück. Die Agitation wurde neu belebt, als im Herbst des vorigen
Jahres die Wahlen der Ortsschulräthe angeordnet wurden. Zweck derselben
war nun, die Wahlen an möglichst vielen Orten zu verhindern und auf diesem
Wege die Durchführung des Gesetzes zu vereiteln. Neuerdings wurde die Re¬
ligion als in Gefahr bezeichnet, neuerdings die Unwahrheit verbreitet, man habe
die Geistlichen aus der Schule verjagt, man wolle die Schule entchristlichen
u. s. w. Und zu alle dem führte das Kirchenregiment nun einen neuen Schach¬
zug aus. Nach der Gesetzgebung von 1860 konnte der Staat die Geistlichen
nicht zwingen, in die Ortsschulrathe einzutreten; er konnte folglich auch nicht
im Gesetze sie zu gebotenen Vorsitzenden derselben bestimmen. Aber bei
den Debatten der Kammern war vom Ministertische aus mit der größten Be¬
stimmtheit erklärt worden, daß die Regierung regelmäßig den Ortspfarrer zum
Vorsitzenden ernennen werde, wenn nicht ganz besondere Gründe es dem staat¬
lichen Interesse bedenklich erscheinen ließen und es war ferner nicht minder be¬
stimmt erklärt worden, daß die Staatsbehörde von ihrem Recht, den Vorsitzen¬
den zu entsetzen und Ortsschulräthe zu entlassen den Pfarrern gegenüber ohne
vorheriges Benehmen mit den Kirchenregimentern keinen Gebrauch machen werde.
Diese Erklärungen reichten vollauf hin, den von Anfang an sehr geringen
Widerstand, den das Gesetz bei einem Theile der evangelischen Geistlichkeit ge'
funden hatte, fast gänzlich verschwinden zu machen. Der evangelische Ober-
kirchenrath ließ einen Erlaß ausgehen, der den Pfarrern zwar den Eintritt in
die Ortsschulrathe nicht befahl, aber sehr dringend empfahl. Und in der That
sind es trotz der Opposition, mit der gerade damals aus Anlaß der schenkelschen
Angelegenheit eine nicht unbedeutende Anzahl evangelischer Geistlicher dem Ober¬
kirchenrath entgegentrat — nur einige wenige evangelische Pfarrer, welche sich
weigerten, in die Ortsschulräthe einzutreten. Die Staatsbehörde ihrerseits
ernannte in allen Landorten und in einigen Städten die evangelischen Pfarrer
ZU Vorsitzenden der Ortsschulräthe ihrer Confession. Dem Beispiele des evan-
gelischen Oberkirchenrathes folgte das erzbischöfliche Ordinariat nicht. Im Ge¬
gentheile, zu den bisher angewandten Agitationsmitteln wurde noch ein neues
hinzugefügt: das „non possumus" des freiburger Erzbischofes wurde durch ein
»Kowa 1ven<Ä est" unterstützt. Der Papst erließ ein Schreiben an den Erz-
bischof. worin er in durchaus allgemein gehaltenen Ausdrücken die Bestrebungen
Zur „Entchristlichung der Schule" verdammte und aussprach, daß an solchen
Schulen, von deren Leitung die Kirche völlig ausgeschlossen sei. kei.i Katholik,
besonders aber kein Priester irgendwie sich betheiligen könne. Die Voraus¬
setzung, von der Pius der Neunte ausging, war, wie Sie sehen, eine ganz
falsche. Der Staat hat nie daran gedacht, die Kirche von der Leitung der Schule
völlig auszuschließen; sonst hätte er nicht dem Ortspfarrer die hervorragende
Stelle in den Ortsschulräthen zugedacht, sonst hätte er keine Geistlichen in die
oberste Schulbehörde berufen. Aber die Logik ist nicht die stärkste Seite des
freiburger Kirchenregiments. Den katholischen Geistlichen wurde durch einen
Ordinariatserlaß verboten., in die Ortsschulräthe einzutreten, oder mit ihnen in
Geschäftsverkehr zu treten. Es konnte nicht fehlen, daß diese Maßregel und
die ununterbrochenen Mahnungen einer großen Anzahl namentlich jüngerer
Kleriker in vielen katholischen Gemeinden auf das Verhalten der Bevölkerung
gegenüber den Wahlen einen namhaften Eindruck machte. In manchen, freilich
"ur sehr wenigen Landorten (etwa 90 von circa 1400) kam gar keine Wahl
Stande, in ziemlich vielen erschien nur ein Minimum von Wählern; aber
das war doch nicht allein die Folge der Abneigung gegen das Gesetz, sondern
Zum großen Theile auch bloße Indolenz der Bevölkerung. Man hat nachgewie¬
sen, daß sich bisher im Durchschnitt an den Wahlen zu den (klerikal gesinnten)
Stiftungscommissionen keine größere Zahl von Wählern betheiligt hat; man
bat daran erinnert, daß es mehr als einmal, und sogar in Städten der durch das
besetz vorgeschriebenen Strafandrohungen bedürfte, um die zu einer Bürgermeister¬
wahl nöthige Anzahl von Bürgern zusammenzubringen. Auf der andern Seite
^unde man das erhebende Schauspiel sehen, daß in ganz katholischen Orten
mitten im Schwarzwald, trotz aller klerikalen Agitation die ganze Gemeinde
bis auf den letzten Mann zur Wahl erschien.
Auch dieser Versuch der Kurie, die Durchführung des Gesetzes unmöglich
zu machen, war mißlungen. Sie zeigte sich trotzdem keineswegs nachgiebiger,
als die Staatsbehörde eine entsprechende Anzahl von Kreisschulräthen aus dem
katholischen Klerus nehmen wollte, wie sie einigen evangelischen Geistlichen diese
Würde übertrug. Der Erzbischof verbot auch die Annahme dieser Stellen, ja
ein alter Schulmann, der längst keine geistlichen Functionen mehr verrichtete
und die Ernennung annahm, mußte die kaum angenommene Stelle wieder
niederlegen.
Bis dahin hatte die klerikale Opposition gegen das Schulgesetz sich im
Ganzen auf dem gesetzlichen Boden bewegt. Er war da und dort im Eifer des
Kampfes wohl einmal verlassen worden, namentlich die ultramontanen Pre߬
organe hatten einen maßlosen Gebrauch von der Preßfreiheit gemacht, die
ihnen das so leidenschaftlich bekämpfte System der „neuen Aera" in der libe¬
ralsten Weise gewährte; aber sie konnten wohl anführen, daß auch die liberale
Presse nicht immer Maß gehalten und in ihrer Fehde gegen den Ultramon¬
tanismus mehr als einen Hieb auch gegen das kirchliche Wesen selbst, dessen
Träger und Gebräuche geführt hatte.
Nun aber, in den ersten Wochen des neuen Jahres schlug die Bewegung
neue Bahnen ein, die täglich weiter von dem Boden des Gesetzes ableiteten.
Um diese Zeit war es, daß in geschlossenen confessionellen Katholikenvereinen,
wie sie sich auf das Not ä'oräre hin, das die Würzburger Katholikenversamm¬
lung hatte ergehen lassen, auch an einigen Orten Badens gebildet hatten, der
Gedanke auftauchte, diese katholischen „Casinos" zu „wandernden" zu machen,
d. h. exclusiv katholische, oder vielmehr ultramontane Volksversammlungen in
Scene zu setzen, bald da, bald dort, so daß die Leiter der Agitation überall
erscheinen konnten, während die Pfarrer der Gegend, in denen eben das „Casino"
tagte, mit den von den Kanzeln aus aufgebotenen Schaaren ihrer Gläubigen
herbeiziehen wollten. In diesen Versammlungen, die anfangs ziemlich unbemerkt,
an abgelegenen Orten vor sich gingen, wurden Adressen beschlossen, in denen
die Versammelten im Namen sämmtlicher Katholiken des Landes erklärten, daß
das Gesetz ihr Gewissen beschwere und den Fürsten um Aufhebung desselben,
aus eigener Machtvollkommenheit. Vereinbarung mit dem Erzbischof, eventuell
Unterrichtsfreiheit baten; es wurden Deputationen erwählt, welche diese Adressen
dem Großherzog überreichen sollten. Ende Januar und Anfang Februar konnte
man in Karlsruhe jeden Tag mehre Schaaren von Landleuten nach dem Schlosse
wandern sehen, welche die Vorzimmer des Großherzogs füllten und truppweise
Einlaß in den Audienzsaal begehrten. Bald ließ sich nachweisen, daß diese
Deputationen in einer stetigen Reihenfolge kamen, wie sie ihnen von Freiburg
aus vorgeschrieben wurde. In einem Circular der Parteiführer war geradezu
als Zweck dieser unaufhörlichen Abordnungen angegeben, man müsse den Groß'
Herzog müde machen, durch das massenhafte Erscheinen einschüchtern, über die
Stimmung im Lande belehren, zu einem Ministerwechsel veranlassen.
Dieses Streben, das Ministerium Roggenbach-Lamey zu stürzen und an dessen
Stelle ein großdeutsch-ultramontanes zu setzen, trat nun mit jedem Tage
deutlicher hervor. Nicht nur in der Presse der Partei (d. h. in zwei Blättern
des Landes, dem ..Badischen Beobachter" und dem wöchentlich erscheinenden
..Freiburger'katholischen Kirchenblatt") wurde diese Forderung laut erhoben, sie
fand auch in den Versammlungen und Adressen Ausdruck, welche von Tag
ZU Tag kühner, provocirender, leidenschaftlicher auftraten.
Bisher hatte die liberale Partei sich diesem Treiben gegenüber lediglich
auf eine sehr heftige Polemik in der Presse beschränkt. Als aber die Casino-
partei täglich kecker auftrat, endlich in ihren Adressen dem Großherzog geradezu
einen Verfassungsbruch zumuthete und immer mehr sich als das einzig
berechtigte Organ der badischen Katholiken ausgab, da geschah es zuerst in
Radolfszell am Bodensee, daß eine große Anzahl liberaler Katholiken bei einem
„wandernden Casino" sich einfand und durch energische Theilnahme an den
Debatten den vorgeschriebenen Gang der Verhandlungen unliebsam störte und
die von Freiburg aus commandirten Beschlüsse unmöglich machte. Dadurch
unangenehm berührt, erklärte das nächste „Casino" in Freiburg, daß nur
Gegner des Schulgesetzes sollten als Redner austreten dürfen und die liberale
Minderheit, die sich eingefunden hatte, verließ den Versammlungsort, als ihr
nut Anwendung von Gewalt gedroht wurde, aus Scheu vor der Heiligkeit des
Raumes. Es war eine Kirche, in der diese Parteiversammlung tagte und von
der Kanzel herab warfen ihre Führer die Schlagworte der Partei unter die
Schaar der größtentheils bäuerlichen Zuhörer. Die Regierung hatte bis daher
keinen Gebrauch von dem Rechte gemacht, welches ihr das Vereinsgesetz an die
Hand gab. die Abhaltung der „Casinos" in den Kirchen zu verbieten. Sie
that es zuerst, als eine solche Versammlung nach Mannheim ausgeschrieben
wurde. Es war das einer der gewagtesten Versuche der Ultramontanen,
durch Abhaltung eines „Casinos" in Mannheim, zu dem sie die überwiegende
Mehrzahl der Theilnehmer von auswärts zusammenführen würden, glauben zu
dachen, daß ihre Agitation auch in dieser, kirchlich durchaus liberal gesinnten
Stadt feste Wurzeln gefaßt habe. Hindernisse stellten sich ihnen entgegen, kein
Pnvatlokal. auch nicht für hohe Miethe, öffnete sich ihnen, die Kirchen wurden
ihnen verweigert. Sie schienen zurückweichen zu wollen, das Casino wurde
^gesagt; aber da kam neue Ordre aus Freiburg, es wurde neu angesagt,
obwohl kein Versammlungsort innerhalb der Stadt bezeichnet werden konnte.
Unter solchen Verhältnissen geschah es. daß die Stadt Mannheim der Schau-
Platz eines jedenfalls äußerst beklagenswerten Straßentumultes wurde. Aus
dem Spott, der die einziehenden Casinogenvssen empfing, den manche von ihnen
^t Wort und Geberde erwiederten, ward eine Schlägerei, die sich bis zur
Rheinbrücke fortwälzte und den Rückzug der Theilnehmer nach Ludwigshafen
geleitete, wo sie auf bayerischem Loden die Polizei dieses Staates mit einem
Auflösungsbesehle empfing. Diese Vorgänge wurden von allen Gegnern der
badischen Regierung mit einem wahrhaft diabolischen Vergnügen aufgegriffen
und in den fabelhaftesten Entstellungen zu passenden Leitartikeln und Korre¬
spondenzen verarbeitet.
Im Lande schloß damit der Unfug dieser Versammlungen, nachdem früher
schon ein schönes Schreiben des Großherzogs an Lamey die Unzulässigkeit der
verfassungswidrigen Zumuthungen, die jene Partei an den Landesherrn ge¬
stellt, dargethan, nachdem eine Cabinetsordre den Empfang der täglich ein¬
treffenden Deputationen sistirt hatte. Die liberale Partei hat indeß auch ihrer¬
seits den Weg der Versammlungen betreten, um dem Großherzog Dank für
seine verfassungstreue Haltung, dem Ministerium Anerkennung und Vertrauen
in zahlreichen Adressen und Erklärungen auszusprechen.
Es steht zu hoffen, dahin nicht allzu ferner Zeit die klerikale Agitation
die bei der intelligenten Mehrzahl der Bevölkerung kein Gehör findet, ein Ende,
nehmen und ein Zustand der Ruhe eintreten werde, der es erleichtern wird,
auf dem weiten Felde der Praxis die wichtigsten streitigen Fragen zum Aus¬
trag zu bringen.
Die rückwärtsblickende Romantik unseres Jahrhunderts, selber eine Mischung
von nüchterner Reflexion und phantastischer Willkür, hat die gothische Bauart
neu zu beleben gesucht. Nur eine unthätige, noch in abgängigen Formen
hängende Zeit konnte in mittelalterlichen Gefühlen schwelgen und Ersatz für
die Prosa einer erschlafften und leeren Gegenwart in dem Ausbau deutscher
Münster finden wollen. Es entsprach ganz dem Wesen einer solchen Periode,
daß sie sich für eine Bauart begeisterte, welche besten Falls sich nachahmen,
in keiner Weise aber fortbilden läßt. In Berlin dachte man, nachdem der kurze
Aufschwung der Freiheitskriege vorüber war, diesen mit einem gothischen Dome
ein religiöses Denkmal zu setzen, und selbst Schinkel griff zu diesem Stile für
derartige Zwecke mit einer gewissen Vorliebe. Aber es ist bezeichnend sowohl
für die Unklarheit jenes in der Gothik befangenen Zeitalters als für den künst¬
lerischen Trieb des talentvollen Architekten, daß er meinte, die „völlige Voll¬
endung des Stils sei der kommenden Zeit aufgespart" und durch die „Ver¬
schmelzung" mit antiken Elementen zu erreichen (Worte der Denkschrift an Frie¬
drich Wilhelm den Dritten, die den Entwurf des Doms begleitete). Er fühlte
die tieferen Mangel des Stils und dachte ihnen abhelfen zu können. Er hat
bekanntlich eine solche Fortbildung an anderen Kirchenbauten versucht. Aber
diese konnte durch die maßvollere Behandlung des Ornaments, das breitere Her¬
vortreten der Massen, die Horizontalabschlüsse und die an die Antike sich an¬
lehnenden Gliederungen ebenso wenig gelingen, als sie überhaupt gelingen kann;
und schließlich kam Schinkel zu der Ueberzeugung, daß in dieser Bauart nichts
möglich sei, als Nachahmung. Seitdem haben wir die süßen Bande der Ro¬
mantik, die nachgerade im restaurirten Staats- und Kirchenlcbcn zu schweren
Fesseln geworden, endlich abgeworfen — und nur in der Architektur sollten
wir die alten Ketten als unheimlichen Spuk noch nachziehen, weil uns Einige
weiß machen wollen, jene Bauart sei echt deutsch und ihre consiructive Strenge
der höchste Grundsatz der Kunst?
Was soll uns noch die Gothik? Haben wir Kirchen zu bauen, die ihre
Spitzen sehnsüchtig in einen nun entleerten Himmel, d. h. die blaue Luft strecken?
Leben wir noch in dem Jahrhundert, da Vornehm und Gering in frommer
Zerknirschung herzulief, um „an der Stelle der Zugthiere", wie sich der Abt
Suger selber ausdrückt, Steine zum aufgethürmten Bau zu schleppen? Denn
die Züge einer fanatischen Anstrengung des ganzen Geschlechts stehen diesen
ungeheuren Kathedralen an der Stirne geschrieben. Und bauen sollten wir,
^ne Zeit nachahmend, wo alles unter dem Druck der Hierarchie und der Geist
i» den Banden einer dunklen Sinnlichkeit lag? Jenen Druck haben wir
abgeschüttelt und streben dagegen, in gemeinsamer freier Arbeit Herren der Erde
und unserer selbst zu werden. Diesen, unseren großen Zweck haben wir
mit Hilfe einer die Vergangenheit durchsuchenden und ihre echten Schätze heben¬
den Bildung auszuführen und dazu unsere Bauten nach dem Vorbild einer
Mustergiltigen, lebensfähigen Kunst aufzurichten. Weder das Eine noch das
Andere ist die Gothik; und wir sollten da nachahmen, wo wir das Urbild doch
nie erreichen können, während wir in Wahrheit über sein einseitiges Wesen
hinaus sind und mit seinen beschränkten Formen nichts anzufangen wissen?
Was es mit der Nationalität des Stils auf sich hat, das ist nur noch
den Fanatikern verborgen; aber auch über seinen Kunstwerth sollte man
endlich ins Klare kommen. Es ist nicht wahr, daß die Architektur auch
als Kunst vor allem die gesetzmäßige Folgerichtigkeit der Con-
struction auszusprechen habe. Die Kunst ist so wenig wie das Leben
mathematisch. In beiden wirkt das Gesetz wie die innere Thätigkeit des Or¬
ganismus unter der Oberfläche des Fleisches; nichts ist zufällig in dem har¬
monischen Spiel der Formen, aber in ihrer freien Bewegung der Zwang der
Nothwendigkeit aufgehoben. Und so klingt auch in der wahren Baukunst das
Gesetz überall durch; aber die Gestalt des Baues ist nicht das nüchterne Er¬
gebniß geometrischer Combinationen, sondern das wie in einem Guß geschaffene
Gebilde einer die Nothdurft verhüllenden Phantasie. Wie klar und bestimmt
spricht sich in dem griechischen Tempel das Gesetz des Aufbaues, ja selbst die
materielle Festigkeit der Construction aus; und doch wie aus innerer Kraft, in
freier Lebensäußerung scheint er aufgerichtet, daß das Auge nur diese in sich
vollendete Form steht, ohne weder auf das Gesetz noch auf die Dauer der
Structur zu achten. In ein Festgewand hat sich das stoffliche Gefüge gekleidet,
das ihm aber nicht wie eine bloße Hülle umhängt, sondern sich darum legt,
wie die unzerreißbare Form eines organischen Gewächses, in welcher sich das
dunkle gebundene Leben des Kerns wie spielend entfaltet. Selbst in die gothische
Architektur drang das künstlerische Bedürfniß ein, die mechanische Thätigkeit des
Steins durch die Bekleidung zu verdecken; sie suchte im Inneren ihren Glie¬
dern durch einen farbigen Ueberzug den Schein natürlicher Bewegung, ihrer
Dienstleistung den Ausdruck freier Lebendigkeit zu geben und verbarg z. B. an
den Gurtbögen und Gewölbrippen hinter dieser Hülle die aus den Wölbsteincn
bestehende Structur. Ja, die Blüthe des Stils verlangte die vollständige
Färbung des Jnnenbaues, wie wenn sie müde wäre der todten Gesetzmäßig¬
keit und nach der warmen Sinnlichkeit des Lebens verlangte; auch erreicht sie
in der That da, wo sie dieselbe durchführt, wie in der Sainte Chapelle zu Pa¬
ris noch am ehesten eine volle künstlerische Wirkung. Aber nur in einen um
so schrofferen Gegensatz tritt damit der gerippartige Charakter des Aeußeren.
in dem sich ja das Gerüst mit tollem Uebermuth tausendfach wiederholt. So
offen bekennt der Stil die materielle Structur als seine eigentliche Seele, daß
er selbst untergeordnete technische Hilfsmittel derselben, die Maneranker und
Beschläge, durch ein verzierendes Spiel hervorhebt. Und so ist im Grunde
durchweg die Form nichts als der dienende Ausdruck des der widerstrebenden
Natur des Stoffs abgezwungenen Sieges.
Und dieselbe Beschränktheit und Erstarrung, an welcher die architektonische
Kunstform leidet, haben unter der Herrschaft des Stils die bildenden Künste
überhaupt erfahren. Seine Bauten haben keinen Raum für eine freie Entfal¬
tung der Plastik und Malerei. Sie verweisen jene in die Hohlkehlen der Por¬
tale und in die Fialen, wo sie mit der schwachbewegten Einzelfigur sich begnü¬
gen muß, beschränken diese auf die vergitterten Fenster und die Flügel des Altar-
bildes. Die Schwesterkünste sind zu den dienenden Mägden der Architektur
geworden. Malerisch will diese selber sein in der reichen Verschiebung ihrer
Innenräume, Plastisch in der Behandlung des Steins; sie duldet keine Gestal¬
tung, die nicht ihr Gepräge trägt, und daher keine Fläche, auf der sich jene
ausbreiten könnten. Wo sie aber dieselben zu ihrer Verherrlichung herbeizieht,
da müssen sie ihrem Gesetz sich fügen und den Charakter ihrer Formen an¬
nehmen. Deshalb sind ihre Steinmetzen meistens auch die Bildhauer, und als
Maler genügt ihr der zünftige Schilderer, der sein Handwerk an Wirthshaus¬
und Wappentascln auszuüben gewöhnt ist.
Lange hat dieser despotische Druck die deutsche Sculptur und Malerei
niedergehalten und ihre Formengebung in den Zwang des Herkommens ge¬
schnürt. Auch in ihnen die Verläugnung der Natur; daher die Unkenntnis;
der Körperbildung und das Beharren in bestimmt ausgeprägten, fast geome¬
trischen Formen. Daher die traditionelle Schlankheit und die weiche Neigung
der Gestalten, in der doch zugleich der organische Bau wie gebrochen erscheint;
der typische Charakter, der einförmige Ausdruck der Köpfe, die Gewandung
von unbestimmtem Fluß oder hart und eckig; die Bewegung conventionell und
wie gebunden, da sie in den engen architektonischen Rahmen gefesselt ist, oder,
wo sie freigegeben wird, ins andere Extrem überspringend, maßlos und über¬
trieben. Nirgends organische Freiheit und Fülle, dagegen überall eine typische
Gleichförmigkeit, die nur eine kleine Tonleiter von Seelenstimmungen kennt
und auch diese Innerlichkeit in der Form nicht voll ausprägen kann. Der
Künstler in überlieferten Regeln befangen und so gleich unfähig zu treuer Nach¬
bildung der Natur wie zu eigenthümlicher Auffassung: die Kunst selber in ihrer
natürlichen Entwickelung gehemmt und aufgehalten. Und da sich doch die
künstlerische Phantasie niemals ganz unterdrücken läßt, so sprengt sie anderer¬
seits diese Fesseln und ergeht sich dann, aller Bande ledig, in einem wilden
Taumel abenteuerlicher Bildungen. Auch hier also das Schwanken zwischen
verfestigten Formeln und phantastischer Willkür. Dagegen freilich weiß man
nicht Rühmens genug zu machen von der Gefühlsinnigkeit der gothischen Kunst,
welche aus dem unbeholfenen Leib mit ganzer wunderbarer Macht hervorleuchte,
von der seelenvollen Andacht, in welcher die körperliche Form ganz aufgegangen
sei. Allerdings spricht aus jener Kunst, sofern sie nicht gar zu handwerks¬
mäßig ist, eine rührende und anmuthige Befangenheit in hingebender religiöser
Empfindung; aber auch dieser Ausdruck, ohne die Kraft individueller Erregung,
erstarrt in seiner endlosen Wiederkehr allmälig zur leblosen, herkömmlichen
Maske. Und überdies — kann eine solche einseitige Gefühlsseligst jemals
Ersatz geben für alle jene Mängel, unter denen das Wesen der deutschen Kunst
und damit ihre Entwickelung bis in ihre Blüthezeit hinein gelitten hat?
So wenig es uns einfallen kann, jene Epoche der bildenden Kunst zum
Vorbild zu nehmen: so wenig kann es unsere Sache sein, die gothische Bauart
wieder ins Leben zu rufen. Ungünstig genug ist der Boden des neunzehnten
Jahrhunderts sür eine neue Kunstblüthe, daß man seine wenigen glücklichen
Anlagen zu einem neuen Aufschwung nicht auch noch vernichten sollte. Zu
diesen aber gehört vor allem die Freiheit der Anschauung, in dem Kunstwerk
nichts zu suchen, als die vollendete Form eines harmonisch und voll ent¬
wickelten Lebens: ohne Vorliebe für eine ganz besondere Empfindung und
Stimmung, sei sie nun religiöser oder weltlicher Art.
Überdies, nur ärmliche Nachahmer wären wir jener Bauart, schwächliche,
herabgekommene Enkel, die den Glanz des einst mächtigen, nun aber verfallenen
Hauses nicht wiederherstellen könnten. Unsere Kraft und Größe richtet sich auf
ganz andere Ziele, als diejenigen waren, denen jene Architektur diente. Den
alles in Bewegung sehenden Baueifer, mit welchem das Mittelalter seine
Münster aufführte, können wir nicht mehr aufbringen; mit den zweideutigen
Mitteln einer künstlich erhitzten Empfindung und einer gemachten Anstrengung
fördern wir mühsam nur ein schwächliches Abbild zu Tage, aus dessen ge¬
zwungener Einfachheit nur das nüchterne Wesen des Stils und die Leere der
nachahmenden Phantasie sprechen. Nur die verschwenderische Häufung, der
Ueberfluß der Formen (der dennoch von dem Gesetz des Ganzen zusammen¬
gehalten wird), giebt dem gothischen Bau das Gepräge eines Kunstwerkes.
Wo dieser Reichthum fehlt, da kommt der im Grunde arme und phantasielose
Charakter der Bauart unverhüllt zu Tage. Und so verhält es sich überall mehr
oder minder mit der modernen Gothik. In Wien ist sie durch den be¬
gabten Fr. Schmidt noch am besten vertreten. Können aber auch die dort
entstehenden neuen Kirchen (neben ihnen ein gothisches Lyceum!) jene Armuth
und die Kälte der Nachbildung nicht verläugnen: so tritt an den Münchener
Versuchen — der Kirche in der Vorstadt Haidhausen. den Restau¬
rationen der Frauenkirche und des Rathhauses — das Schwäch¬
liche einer beschränkten und zudem ungeschickten Nachahmung um so greller
ans Licht.
Was zunächst jene Kirche anlangt, so hat der Architekt dem einschiffigen
Bau ein flaches Netzgcwöibe gegeben und die ganz mageren dünnen Dienste der
kraftlos vrosilirten Rippen aus den Capitälen von Säulen aufsteigen lassen, welche
auf überhoben Basamenten ruhen: eine unschöne Form, in der sich die Wölbung
gleichsam zersplittert und der aus den Pfeilern frei aufwachsenden Bewegung
entbehrt. Gerade solche unglückliche Eigenheiten der späteren Gothik sollte man
am wenigste» nachahmen. Da der Seitensch'ub der flachen Bedeckung sehr stark
ist. bedürfte es massiger Pfeiler, die fast ganz in das Innere hereingezogen
sind. Das kommt häusig vor (so auch in der Münchener Frauenkirche); in guten
Mustern — namentlich in norddeutschen Ziegelbaukirchen — sind dann die
Zwischenräume zu Kapellen gebildet, die durch Flachbögcn unter den Fenstern
gedeckt sind. Hier aber erheben sich die einförmigen todten Mauermassen der Pfeiler
bis zu der Gewölk'höhe der Kirche. In den Chor sind die Pfeiler nicht mit
hereingezogen; ihre äußeren Zwischenräume sind hier zu Wandnischen benutzt,
welche von außen den falschen Anschein eines kleinen Kapellenumgangs bieten.
Ueber diesem Umgang schrumpfen die Pfeiler zu ungefähr einem Drittel ihrer
unteren Dicke zusammen und werden dagegen durch Miniaturstrebebögen von
der ärmsten, bedürftigsten Form gestützt. Ebenso ärmlich und nüchtern sind die
Seitenihürme, die der Fialen an der Stelle entbehren, wo sich der achteckige
Theil aus dem viereckigen erhebt, und die somit ohne jeden Schein von Ver¬
mittlung schwerfällig Stück auf Stück setzen. Es ist überflüssig, noch von den
Thurmhelmen zu reden, die in unschönem Wechsel geschlossene Füllungen zwischen
durchbrochenen haben, von den viereckigen Fenstereinfassungen des Chorumgangs,
dem aus später Zeit hervorgeholter Maßwerk der Galerien. Noch ist der Bau
nicht ganz vollendet und wir wissen nicht, welche Ausschmückung dem Inneren
bestimmt ist: aber auch schon so zeigt sich, daß eine solche kleinliche Erinnerung
der „christlichen Kunst" nichts weiter ist, als ein versteinertes Mißverständniß
der Bauaufgabe der modernen Zeit und das leblose Machwerk spielender Nach¬
ahmung.
Bezeichnend für den despotischen, der Kunst überhaupt wie der Geschichte
feindlichen Charakter der modernen Gothik ist die Art, wie die Frauenkirche
restaurirt worden. Offenbar sehen die Gothiker einen solchen Bau, in dem die
sich folgenden Geschlechter in Altären und Monumenten ihrer Gesittung und
ihrem Kunstleben ebensoviele Denkmäler wie ihrer Frömmigkeit gestiftet haben,
für einen mit allerlei bunten Fetzen berasten Rock an, die sie abtrennen müssen,
um neue Flicken von möglichst gleicher Farbe und Textur aufzusetzen. Herstellen
heißt ihnen nicht die den Bau selber entstellenden Umbildungen oder Bekleidungen
späterer Kunstepochen entfernen und ihm seine ursprüngliche architektonische Ge¬
stalt zurückgeben; sondern kurzweg alle Spuren vertilgen, welche die Entwickelung
der Geschichte und der Kunst als denkwürdige Zeichen im Gotteshaus zurück¬
gelassen haben. Aerger kann man den tieferen Zusammenhang von Religion
und Kunst und die schöne Bestimmung christlicher Kirchen nicht verkennen. Diese
haben ja das religiöse Dasein nicht eines, sondern vieler Geschlechter aufzu¬
nehmen und durch das Band gemeinsamer Gottesverehrung die Nachkommen
mit den Vorfahren zu verknüpfen, wie zum Beweis der alle Zeit überragenden
Macht des Glaubens. So zerstört der Bandalismus einer solchen Herstellung
nicht blos Kunstwerke von einem Werth, den vielleicht die Producte unseres
stolzen Jahrhunderts nicht einmal erreichen, sondern auch die Geschichte und die
ehrwürdige Stimmung des Baues, dem er gleichsam seine Erlebnisse nimmt.
Und was tritt an die Stelle der verschleuderten Altäre und Monumente? Aller-
lei gothisches Spielzeug von der armseligsten Erfindung in einem Farbenschm
der weit mehr erinnert an Faschingsaufzüge und Narrenlappen, als an
Polhchromie der alten Dome.
Was hat man erst durch eine tischlerhafte Erneuerung aus dem Ha
chffache ni
und verliert sich in ein kleinliches Formenspiel. Zudem ist sie, in ihr Vorbi
verrannt, von seiner Vortrefflichkeit so blindlings überzeugt, daß sie am liebste
alle andere Kunst vernichten möchte und darüber auch den letzten Rest der eig
nen künstlerischen Phantasie einbüßt. Wenn sie nur könnte: wie gerne wür
die moderne Gothik die ganze nachmittelalterliche Kunst und Gesittung aus
Geschichte streichen. Um den Sirenengesang derselben nicht zu hören, verklebt sie
die Ohren; denn sie fühlt, daß sie dem Untergang verfallen wäre, wenn
ihn vernähme. Aber sie gleicht auch darin den Gefährten des Odysseus,
gt
,weeneane
geweihten Heiligthume des Helios, und dafür im Schiffbruch elend zu Grund
geht. Jetzt, da das Zeitalter seine romantischen Schwankungen hinter sich ha
und auf dem Grund einer allseitigen Bildung sowohl zu den wahren Vorbil
dern der Kunst als zum Bewußtsein seiner eigenen Aufgabe durchdringt, jetz
geht auch das neugothische Reich rasch seinem Ende zu.Julius Meyer.
Die medicinische Facultät hat sich erst im Laufe der letzten Jahrzehnte
von der untergeordneten Stufe allmälig emporgehoben, auf welcher sie bis da¬
hin sowohl der Personen ihrer Mitglieder als der Qualität der mit ihr verbun¬
denen Anstalten nach im Allgemeinen stand. Von den Mitgliedern, aus welchen
sie vor zwanzig Jahren bestand: Will). Josephi (1- 1846), Heinr. Spitta
(1-1860). Carl Strempel, C. Fr. Quittenbaum (5 1852) und Hera.
Stannius leben jetzt nur noch Strempel und Stannius, und auch diese
sind durch Krankheit an der Ausübung ihres Berufes behindert. Quitten¬
baum, der das Fach der Anatomie hatte, war auf dem Standpunkte seiner
Universitätszeit stehen geblieben und mit allen späteren Fortschritten der
Wissenschaft unbekannt. Gegen das, was davon zufällig zu seiner Kunde kam,
verhielt er sich grundsätzlich abwehrend. Als Operateur war er zwar nicht un¬
geschickt, aber verwegen, und als praktischer Arzt zeichnete er sich durch Ver¬
ordnungen von Medicin in Quartflaschen aus. Seiner stabilen Art stand als
ein Extrem von Rührigkeit und sich überstürzender Receptivität sein College
Strempel gegenüber, mit welchem er in heftigem, bei jedem Anlaß neu auf¬
flammenden Streite lebte. Strempel umfaßte mit Feuereifer alles Neue,
versuchte es in der Klinik und verwarf es wieder, sobald etwas Neues aufkam,
ohne Ruhe, ohne Ausdauer, ohne Beobachtungsgabe. Sein vieles Wissen ent¬
behrte, zusammengerafft wie es war, der Einheitlichkeit und Ordnung eines
Systems, so sehr er es auch liebte, die Studenten und Examinanden mit künst¬
lichen Systemen zu plagen. Als Operateur z. B. des Schielens, genoß er eine
Zeit lang eines großen Rufes, den er durch längere Reisen auch in das Aus¬
land verbreitete. In Wien feierte er wahre Triumphe, wiewohl dieselben auch scharfe
Anfechtungen erlitten, u. a. in der Medicinischer Ccntralzeitung vom Mai 1842.
Im Jahre 1838 ward ihm vom Großherzog „zur öffentliche» Anerkennung seiner aus¬
gezeichneten Verdienste" der Titel eines Obermcdicinalrathes verliehen. Ein
wahres und ancrkenncswertheS Verdienst hat er sich durch die Gründung der
Klinik erworben, welche lediglich durch seine Bemühungen ins Leben gerufen
»ut theilweise sogar durch seine Mittel geschaffen wurde. Er war längere Zeit
deren alleiniger Director, sowohl für die medicinische als für die chirurgische
Abtheilung. Nach Erbauung eines geräumigen Malscher Krankenhauses, wel¬
ches für die Zwecke der Klinik mit der Universität verbunden ward und jetzt
auf den doppelten Umfang erweitert werden soll, gab er im Jahre 1835 die
medicinische Klinik ein Thierfelder und im Jahre 1861 die chirurgische an
Simon ab, und zog sich, infolge zunehmender Kränklichkeit, allmälig ganz in
die Stille zurück.
Gleichfalls nur noch nominell bekleidet Hermann Stannius seine Pro¬
fessur, indem er seit längerer Zeit einer unheilbaren Gehirnkrankheit verfallen
ist. Er kam im Jahre 1837 nach Rostock. Die Physiologie hatte in ihm einen
sehr ausgezeichneten Vertreter. Aus Johannes Müllers Schule hervorgegangen,
war er strenge der experimentellen Seite seiner Wissenschaften zugethan und
hatte längst ein physiologisches Institut, das er einsichtsvoll leitete, bevor an
den meisten andern Universitäten an eine solche Einrichtung gedacht ward. Zahl¬
reiche, unter seiner Leitung entstandene Dissertationen, Jahresberichte und Ab¬
handlungen in medicinischen Zeitschriften legen von der Wirksamkeit dieses In¬
stituts Zeugniß ab. Später wandte er sich mehr und mehr der Anatomie der
Thiere, namentlich der Fische zu, in welchem Zweige er ebenfalls Bedeutendes
geleistet hat. Auch seine Vorlesungen über allgemeine Pathologie und patho¬
logische Anatomie standen immer auf der Höhe der Wissenschaft. Das letztere
Fach ist- schon seit längerer Zeit auf Thicrfclder übergegangen. Die verglei¬
chende Anatomie wurde interimistisch von Bergmann übernommen und wird
setzt von dein jüngeren Schulze vertreten. Mit v. Siebold zusammen gab
Stannius ein Lehrbuch der vergleichenden Anatomie heraus. Weniger Aner¬
kennung hat er mit einer Uebersetzung von Naycrö, eines französischen Arztes,
Werk über Hautkrankheiten gefunden.
An Quittenbaums Stelle wurde zu Michaelis 1852 Karl Bergmann
aus Göttingen berufen, der höchst bedauerlich jetzt gleichfalls durch eine Lungen-
krantheit vollständig behindert ist, seinem Berufe obzuliegen. Er gilt sowohl
in wissenschaftlicher Hinsicht wie als Lehrer mit Recht sehr viel, hat sich auch
durch, die ihrem Inhalte nach ebenso gediegenen wie in der Form schönen Vor¬
träge, welche er zweimal als Rector (1858 bis 1860) vor einem größere» Pu¬
blikum hielt, wohlbegründete Anerkennung in den gebildeten Kreisen erworben.
Er ist gerade und bieder, fern von jeder Kriecherei gegen Hochstehende. Bei
dem Ministerium scheint er nicht in besonderer Gunst gestanden zu haben, da
er den Titel eines Obermedicinalraths erst ein Jahr später als sein jüngerer
College Thicrfelder erhielt. — Er las auch über gerichtliche Medicin, hat sich
aber auf diesem Gebiete durch seine einem etwas veralteten Standpunkte an-
gehörige Bearbeitung des hcnckcschen Lehrbuchs den Ruf nicht erweitert, den
er in seinem Hauptfache mit Recht genießt. Als Rector schrieb er folgendes
Programm: „Zur Kenntniß des Tarsus der Wiederkäuer und paarzehigen
Pachydermen." (1859). In, der Anatomie wird er durch einen zwar noch
jungen, aber befähigten und fleißigen Privatdocenten. Franz Eilhard Schulze,
Vertreten, der seit Anfang des Jahres 1864 habilitirt ist und eine Preisschrift
„über Verdunstung" (1860) und eine Doctordissertation „über den Bau der
Rinde des kleinen Gehirns" (1863) veröffentlicht hat.
Einer der tüchtigsten Professoren und beliebtesten Lehrer der Hochschule ist
Benjamin Theodor Thierfelder, zu Ostern 1856 als außerordentlicher Pro-
fessor von Leipzig, wo er Wunderlichs Assistent war, berufen, seit 1857 ordent¬
licher Professor. Pathologie und Therapie, die sich bisher in den Händen des
gänzlich veralteten Spitta befunden hatten, wurden nach langem Zwischenraum
durch ihn wieder in den Kreis der wirklich gehaltenen Vorlesungen eingeführt.
Außerdem liest er pathologische Anatomie und Encyklopädie. Er ist ein Mann
von anerkannter Gelehrsamkeit und gründlicher wissenschaftlicher Durchbildung.
Wegen seiner Kenntnisse und seiner liebenswürdigen Persönlichkeit ist er auch
als consultirender Arzt sehr gesucht und bei seinen ärztlichen College» kaum
weniger beliebt als bei den Kranken. Es ist nur zu befürchten, daß seine aus¬
gebreitete Privatpraxis ihn mehr, als für seine akademische Wirksamkeit und
für seine Muße zu selbstthätiger Förderung der Wissenschaft gut ist, in Anspruch
nimmt. Auf dem literarischen Felde ist er nur mit einer kleinen Schrift über
Temperaturen in Krankheiten hervorgetreten.
Für das chirurgische Fach wurde Gustav Simon zu Michaelis 1861 als
außerordentlicher Professor aus Darmstadt berufen und ein halbes Jahr später
zum ordentlichen Professor befördert. Durch einzelne sehr mühsame Operationen
(Blasenscheidenfistel, Gaumenspalte u. s. w.) hat er sich als Operateur einen
bedeutenden Ruf sowohl in der ärztlichen Welt als im Publikum erworben.
Sonst läßt vielleicht seine übrige medicinisch-chirurgische Bildung, sowie seine
Fähigkeit als Docent und klinischer Lehrer Einiges zu wünschen übrig. Bei
den Studenten ist er wegen dieser Mängel und wegen seines etwas schroffen
Wesens weniger beliebt als sein College bei der medicinischen Abtheilung der
Klinik, Thierfelder. In neuester Zeit hat er dadurch bei patriotischen Gemüthern
Kummer erregt, daß er unter Zurücksetzung der Mecklenburger zwei junge
Hessen-Darmstädter herangezogen und in die von Studenten versehenen und
von diesen sehr gesuchten Gehilsenstellen bei der Klinik und mit Zustimmung
seines Kollegen Winckel auch in den Dienst bei der Entbindungsanstalt ein-
geschoben hat.
Die Geburtshilfe hatte früher in Krauel, einem Rostocker von Geburt
(1' 1854), einen nicht gerade genialen, aber fleißigen Vertreter, der auch als
klinischer Lehrer, bei geringem Material, recht tüchtig und beliebt war. Er
starb in dem Zeitpunkt, als das neue Gebäude für geburtshilfliche und gynä¬
kologische Klinik eben seiner Vollendung entgegenging und hinterließ das damit
wesentlich bereicherte Unterrichtsmaterial seinem Nachfolger, Gustav Veit, einem
gediegenen und strebsamen Forscher und Lehrer, bekannt u. a. durch feine vor¬
trefflichen Berichte über Frauenkrankheiten in Canstatts Jahresberichten über die
Fortschritte der gestimmten Medicin, und durch seine gedrängte, aber inhaltreiche
Darstellung der Frauenkrankheiten in Virchows Handbuch der Pathologie und
Therapie. In dieser Specialität hat er sowohl als klinischer Lehrer wie als
consultirender Arzt und College den Kranken und Aerzten in ganz Mecklenburg
und besonders in Rostock außerordentlich genützt. Man sah ihn daher mit
großem Bedauern um Ostern 1864 einem Rufe nach Bonn folgen. Sein Nach¬
folger Winckel, aus Martins Schule in Berlin, durch manche kleinere wissen¬
schaftliche Arbeiten bekannt, hat noch nicht Zeit gehabt sich so zu bewähren,
daß über seine Tüchtigkeit und Fähigkeit als Lehrer bereits ein entschiedenes
Urtheil festzustellen wäre. Außer seinem Specialfache befassen seine Vorträge
auch gerichtliche Medicin.
Die ordentlichen Professoren der Facultät, mit Ausnahme von Simon,
sind zugleich Mitglieder der Medicinalcommisfion zu Rostock, einer im Jahre
1830 zur Aufsicht über das gesammte Mcdicinalwesen im Lande eingesetzten
Behörde. Als außerordentliches Mitglied gehört derselben der Professor der
Chemie, und als Assessor mit consultativcm Votum ein Pharmaceut an. In
Verbindung mit dem Professor der Chemie bilden die sämmtlichen ordentlichen
Professoren der Facultät die Prüfungscvmmission sowohl für die erste Prüfung,
.welche die sogenannten Vorbereitungswissenschaften mit Einschluß der Anatomie,
Physiologie und Pharmakognosie umfaßt, als auch für das zweite, sogenannte
Doctorexamen. Letzteres ist sowohl theoretisch als praktisch und man darf
behaupten, daß die Anforderungen der Höhe der Wissenschaft entsprechen.
Die durchschnittliche Zahl der Doctorpromotionen war in den drei letzten
Jahren fünf.
Zum Eisatz für Bergmann ist der außerordentliche Professor Acker¬
mann, ein Mecklenburger von Geburt, zum Mitgliede der Medicinalcommisfion
ernannt worden. Er habilitirte sich im Jahre 1852 und wurde im Jahre
1869 außerordentlicher Professor. Er hat bis dahin hauptsächlich Pharmakologie
und eng-teris. mecliea, gelesen, auch allgemeine Pathologie und Therapie, neuer¬
dings auch gerichtliche Medicin. Durch experimentelle Forschungen und Arbeiten
im erstgenannten Fache (Beiträge zur Pharmakodynamik des Brechwcinsteins,
1868) und durch eine ihm vom Ministerium aufgetragene, sehr fleißig ge¬
arbeitete Monographie über die Chole-raepidemie des Jahres 1869 in Mecklen¬
burg-Schwerin ist er so bekannt geworden, daß er vor Kurzem für die Stelle
des Klinikers in Königsberg mit vorgeschlagen ward. Die Schrift über die
Choleraepidemie hat auch von Seiten der Kritik Anerkennung gefunden, wenn
gleich die darin aufgestellte bestimmte Verneinung der autochthonen Entstehung
der Krankheit auch in Bezug auf die in Mecklenburg vorliegende Erfahrung
noch sehr bedeutende Zweifel übrig läßt.
Außer dem schon genannten Privatdocenten Schulze gehört der Facultät
schon seit länger als 30 Jahren ein anderer Privatdocent an, der Hofmedicus
Schröder, Director der städtischen Irren- Heil- und Pflegeanstalt, welcher
hier deshalb genannt werden muß, weil er der alleinige Docent ist, welcher
das Fach der Geisteskrankheiten vertritt oder vielmehr durch Ankündigung von
Vorlesungen alle halbe Jahre zu vertreten sich bereit erklärt.
Wegen der nahen Beziehungen der Naturwissenschaften zu der Medicin
mögen hier gleich die Lehrer der ersteren angereiht werden.
Professor der „Naturgeschichte", wie der amtliche Ausdruck lautet, oder
vielmehr der Zoologie und der Botanik ist seit ungefähr 30 Jahren Johann
Royer, Enkel eines vor hundert Jahren aus dem callenbergischen Institut zu
Halle in Mecklenburg eingewanderten Judenmissionärs. In seinem Hauptfache,
der Botanik, genießt er eines ehrenvollen Rufes. Er hat „zur Flora Mecklen¬
burgs" ein in zwei Abtheilungen erschienenes Rectoratsprogramm veröffentlicht.
Als Lehrer und Leiter botanischer Excursionen wird er von den Studenten ge¬
schätzt. In kirchlicher und politischer Hinsicht steht er auf Seiten einer extremen
Reaction, scheint indessen, was ersteres betrifft, doch noch immer Mühe zu
haben, sich von den Traditionen der schweizerischen Frommen, die er als Pro¬
fessor in Basel zu seinen Parteigenossen zählte, zu einem soliden, symbolisch¬
orthodoxen lutherischen Christen nach dem Herzen Kliefoths emporzuschwingen.
In öffentlichen Vorträgen vor einem gemischten Publikum, die er aber nicht
frei zu halten weiß, sondern mit monotoner Stimme abliest, liebt er es, die
Ohren der Damen mit schlüpfrigen Anspielungen und Bildern und die der
Herren mit höhnenden Reden auf die „Demokraten" zu kitzeln. In seiner
letzten Rectoratsrede bekämpfte er die darwynsche Theorie von der Entstehung
der Arten durch die Bemerkung, daß dann wohl gar einmal im Verlauf der
Jahrtausende der „Brüllaffe" sich zum „Demokraten" gestalten könnte. Es
gibt dies zugleich eine Probe von der Stufe, auf welcher der Witz dieses
Mannes steht; dennoch richtet er bei solchen Stellen einen schelmischen und den
Beifall Herausfordenden Blick auf sein vorherrschend reactionär gesinntes Publikum,
welches meistens den Tact besitzt, solchen Scherzen das gewünschte Ge¬
lächter zu versagen. Früher soll er sich auch mit allerlei Mystik getragen
und z. B. in einer Rectoratsrede im Jahre 184S die Beziehung der Fünfzahl
im Pflanzenorganismus auf die Wundenmale Jesu zur Geltung zu bringen
versucht haben. Royer ist Mitglied des Hciuptvereins für innere Mission und
Ehrenmitglied des rostvcker Handwerkervereins, welcher den Zweck verfolgt,
das Zunftwesen gegen das Vordringen der Gewerbefreiheit und der Maschinen¬
industrie zu schützen.
Seine reactioncire politische Richtung hinderte ihn übrigens nicht, im
März des Jahres 1848 den Antrag der Universität auf Reform der Landesver¬
fassung und Preßfreiheit zu unterzeichnen und sich auch im weitern Verlause
der politischen Belegung als gut constitutionell gesinnten Staatsbürger darzu¬
stellen. Man gewahrte ihn als Unteroffizier, mit der goldenen Tresse am
grünen Waffenrock, in den Reihen der Bürgerwehr und konnte ihn als Mitglied
des constitutionellen Vereins, welcher im September 1848 in Rostock gestiftet
wurde, als eifrigen Theilnehmer an den Verhandlungen erblicken. Aus dem
Programm dieses Vereins werden folgende Sätze seine damalige Richtung
charakterisiren: „Wir wollen die ungesäumte und vollständige Verwirklichung
der errungenen Volksfreiheit in Verfassung, Verwaltung und in der Rechts¬
pflege, sowohl im Staats- wie im Gemeindewesen. Alle diejenigen Institu¬
tionen, welche zur Ausbildung und starken Gewähr der Freiheit dienlich
und nothwendig sind, wollen wir insbesondere durch das Mittel der freien
Presse und der freien Versammlung zum allgemeinen Verständniß und zur Aner¬
kennung bringen helfen. Wir wollen als Staatsform die constitutionelle Mo¬
narchie."
Die Professur der Physik ist mit der der Mathematik verbunden und
wird von Hermann Karsten versehen, der auch über Geologie liest, von
der Physik aber nur den ersten Theil (allgemeine Physik. Akustik, Optik) vor¬
trägt, während den zweiten Theil (Wärme, Elektricität, Magnetismus) der
Professor der Chemie übernommen hat. Karsten ist zugleich Director der
Navigationsschule zu Rostock. Seine literarische Thätigkeit beschränkt sich auf
einige unbedeutende Gelegenheitsschriftcn. Er gilt für einen klaren Kopf und
tüchtigen Mathematiker, wirkt aber als Docent wenig belebend und anregend.
Im Jahre 1848 war er Vorsitzender des rostocker constitutionellen Vereins,
ist aber seitdem auf dem Gebiete der Politik verschollen.
Das Fach der Chemie war durch den Professor v. Blücher, welcher im
Jahre 18S0 seine Stelle niederlegte und sich aus sein Landgut zurückzog, sehr
mittelmäßig vertreten. Man sagt von ihm, daß er bei einem Besuch, den er
in Berlin dem Professor Mitscherlich machte, sich diesem nur als mecklen¬
burgischer Edelmann vorstellte und daß Mitscherlich sich an den schätzbaren
Kenntnissen des vermeintlichen Dilettanten erfreut habe, ohne auch nur entfernt
einen Kollegen vom Fache in ihm zu ahnen. Bei den Vorlesungen v. Blüchers
soll mitunter der Hausverwalter Kleesat.h, der als Diener im Laboratorium
fungirte, mit berichtigenden Zwischenbemerkungen eingegriffen haben. Ein
Mann von bedeutendem wissenschaftlichen Range ist dagegen sein Nachfolger,
der von Greifswald berufene Professorder Chemie und Pharmacie Franz Fer¬
dinand Schulze. Wer sich erst an die MAngel seines durch Stocken und
Abschweifungen etwas verunzierten Vertrags gewöhnt hat. findet sich durch
dessen wissenschaftlichen Gehalt und durch Schutzes fördernde und anregende
praktische Uebungen reich belohnt. Außerhalb seines akademischen Berufs ent¬
faltet er auch eine höchst anerkennenswerte Thätigkeit im rostocker Gewerbe-
verein. In Bezug auf Gewerbepolitik jedoch hat er es bis dahin nicht zu
festen Grundsätzen gebracht und seine Stellung in dieser Beziehung scheint
von mancherlei fremdartigen Rücksichten nicht frei zu sein. Durch die Annahme
der Wahl zum Ehrenmitgliede des zünftlerischen rostocker „Handwerkervereins"
hat er sich für eine Politik rücksichtlich der Gewerbeverhältnisse engagirt, welche
kaum mit seiner Denkweise in Einklang stehen möchte. Als Rector (1856—1868)
führte er bei seinen öffentlichen Reden am Geburtstage des Großherzogs die
Neuerung ein. daß er jedesmal am Schlüsse ein dreimaliges Hoch auf den
Landesherrn ausbrachte, ein sorcirtes Unternehmen, welches nach einer abge¬
lesener Rede über ein wissenschaftliches Thema nothwendig auf eine unvorbe¬
reitete Stimmung traf und bei den anwesenden Herren und Damen immer nur
geringe Unterstützung fand. — Die medicinische Facultät ehrte ihn im Jahre
1862, wie schon früher seinen College» Royer. durch Verleihung der
Doctorwürde.
In der gemischten Gesellschaft, welche in Rostock wie anderswo die phi¬
losophische Facultät genannt wird, findet sich zunächst die Eigenthümlichkeit,
daß der Lehrstuhl der Wissenschaft, von welcher die Facultät den Namen hat,
seit dem Tode des alten Kantianers Joh. sig. Beck (t 1840) unbesetzt ge¬
blieben ist. Man behilft sich mit zwei außerordentlichen Professoren und einem
Privatdocenten der Philosophie, die aber gleichfalls die Philosophie kaum noch
mehr als nominell vertreten. Der außerordentliche Professor Eduard Schmidt,
welcher in gesunden Tagen eine Menge von großen und kleinen Druckschriften
hat ausgehen lassen, ohne dafür besondere Aufmerksamkeit zu finden, aber doch
eine Zeit lang stark besuchte Vorlesungen hielt, hat seit vielen Jahren wegen
Kränklichkeit selbst die Ankündigung von Collegien aufgeben müssen. Ein noch
älterer Genosse, Professor Heinr. Francke, der ein Buch „Philosophie und
Leben" veröffentlicht hat und ein Jünger von Fries ist, ist ein Mann von
tüchtigem Wissen, ehrenwerthen Charakter und liberaler Gesinnung, hat aber
wohl kaum in seinen besten Jahren als Docent viel a/wirkt und dem Ver¬
nehmen nach in Jahrzehnten nicht mehr gelesen. Dasselbe.'gilt von Dr. Karl
Weinholtz, einem Stralsunder'von Geburt, welcher in den ungefähr vier
Jahrzehnten, seit er sich in Rostock als Privatdocent niedergelassen, eine Logik
und mancherlei andere Bücher unter mehr oder weniger seltsamen Titeln
veröffentlicht, aber mit dem darin aufgestellten System des „Organischen"
kein Glück gemacht und neuerdings sich auf die graphische Darstellung von
ihm erfundener Tänze und sonstiger Künste verlegt hat. Die Titel: „Die
organische sprech- und Singschrist, zur Förderung des lautrechten und sinn¬
vollen Vortrags", „der Hanachino, vierpaariger Zehen-Hackentanz", „der Tändler,
ein Gesellschaftstanz" u. f. w. lasse» auf das Ungewöhnliche der hier behandel¬
ten Gegenstände schließen.
Zu den "negativen Eigenschaften der Facultät gehört es ferner, daß die
orientalischen Sprachen und Literaturen seit dem Tode Mahns im
Jahre 1845 nicht mehr durch einen Fachgelehrten vertreten sind, indem man
sich mit den etwaigen Kenntnissen auf diesem Gebiet, welche der für das
Fach der alttestamentlichen Exegese angestellte Professor der Theologie als
Ueberschuß seines sonstigen Wissens mit sich führt, behelfen zu können
meint. —
Die philosophische Facultät zählt, außer den im Anschlusse an die medi¬
cinische Facultät bereits genannten drei Vertretern der naturwissenschaftlichen
Fächer, sechs ordentliche Professoren. Der älteste ist Franz Volkmar Fritz sehe,
Glied eines philologisch-theologischen Professorengeschlechts, (Sohn des Pro¬
fessor Fritzsche in Halle und Bruder der Professoren Fritzsche in Gie¬
ßen (früher in Rostock) und Fritzsche in Zürich, von welchen jetzt nur der
zuletzt genannte noch lebt). Er ist Professor der classischen Literatur und Be¬
redsamkeit, welche letztere indessen nur die Anforderung an ihn stellt, daß er
das Organ der Universität ist, so oft dieselbe Schriftstücke in lateinischer Sprache
ausgehen läßt. Sein angeborener Rationalismus hätte ihn und seine heid¬
nischen Klassiker leicht in Conflicte mit der herrschenden christlichen Romantik
bringen können, wenn nicht sein harmloses, kindliches Gemüth und seine naive
Verehrung gegen die Träger der höchsten Staatsgewalt ihn davor bewahrt
hätten. In das nichtrationalistische Christenthum hat er sich nie zu finden ver¬
mocht und besitzt kein Organ für dessen Verständniß. Seine äußere Erscheinung,
seine Sitte und Ausdrucksweise tragen von moderner Fügsamkeit nicht eben viel an
sich; doch glauben diejenigen, welche sich seiner noch aus der Zeit seiner An¬
kunft in Rostock vor 36 Jahren erinnern, einen Fortschritt zu geschmeidigern
Formen constatiren zu können. Als Philolog gehört er der leipziger Schule
von Gottfried Hermann an, dessen Schwiegersohn er auch ist. Seine Classiker
kennt er und liebt er innig, und pflegte letzteres früher auch dadurch kund zu
thun, daß er sie mit»wändeerschütterndcr und selbst die Vorübergehenden allar-
mirender Donnerstimme auf seiner Studirstube recitirte. Der Hauptgegenstand
seiner Studien bildet die Komödie und die Satire der Alten; als Herausgeber
des Aristophanes und des Lucian ist er ehrenvoll bekannt. Dem zu Anfang
seiner rostocker Laufbahn begründeten philologischen Seminar steht er mit Eifer
und Pflichttreue vor und seine Schüler schätzen ihn sowohl wegen seines tüch¬
tigen Wissens als wegen der humanen und wahrhaft liebevollen Gesinnung,
mit welcher er an ihren wissenschaftlichen Fortschritten wie an ihrem mensch¬
lichen Wohlergehen auch noch über die Universitätszeit hinaus Theil nimmt.
In den lateinischen Schriftstücken, welche er für die Universität abzufassen hat,
ist es ihm mitunter begegnet, daß er sich auf Gebiete wagte, von denen er
wenig versteht oder für welche sein Tactgefühl nicht ausreichte. Man erinnert
sich aus der jüngsten Zeit jenes unglücklichen Vergleiches, mit welchem er in
dem Epithalamium zum Hochzeitstage des Großherzogs den vom Kriegsschauplatz
in Schleswig zurückgekehrten Landesherrn als Mars und dessen durchlauchtig-
sie Braut als Venus feierte, so wie jenes verzückten Posaunentons auf der
Votivtafel zum Einzuge des Großherzogs in Rostock, mit welchem er den Herr¬
scher als Verächter eitler Reden pries, ohne zu bedenken, daß er damit Regie¬
rungsgrundsätze in den Himmel erhob, nach welchen von Zeit zu Zeit Profes¬
soren der Universität ohne vorangegangenes Gehör und ohne disciplinarisches
Verfahren aus ihren Aemtern herausgesetzt werden, sobald ihre politischen oder
religiösen Ueberzeugungen das Mißfallen des Ministeriums erregen. Eine wei¬
tere bemerkenswerthe Probe seiner gelegentlichen Verirrung auf Gebiete, in
denen er nicht heimisch ist, liegt in einem Gratulationsprogramme vor, welches
er im Jahre 1833 für die dreihundertjährige Jubelfeier der Domschule zu Gü^
servo verfaßte. Hier rühmte er an der Beschäftigung mit der Wissenschaft
als etwas Gutes, daß sie den Menschen hindere, sich um die Politik zu beküm¬
mern, und begründete von diesem Gesichtspunkte aus den Satz, daß das Heil
der Fürsten in dem Gedeihen der Wissenschaft seinen Halt habe. Es heißt
zu Deutsch: „Ich meine, daß in dem Gedeihen der Wissenschaften auch das
Wohlergehen der Fürsten enthalten sei. Die Geschichte lehrt, daß die ersten
Herrscher nach Beseitigung der Republik dem Studium der Wissenschaften
ihre besondere Unterstützung habe angedeihen lassen, z. B. schon Augustus
selbst, denn da in einem gebildeten Volk der menschliche Geist nicht unthätig
verharren kann, so wirft sich nach Beseitigung der Wissenschaften als Denk¬
stoff das Denken sogleich auf die Leitung des Staats, indem das Verlangen
nach Freiheit sich einschleicht." (Literis as «zuidus co^itötur sublatis con-
tinuo us oivitÄtö aämmi8t,rg,enlg, eogitatur gliseevtL UKörts-dis äesiäerio!
- Sie.)
Durch Eleganz des Wissens wie der äußeren Form zeichnet sich der zweite
Professor der classischen Literatur, Ludwig Bachmann, aus. Er ist zugleich
Director des städtischen Gymnasiums zu Rostock, und steht schon dadurch der
Universität und den Studenten ferner. Ein gelehrter Kenner der griechischen
und römischen Literatur, der Paläographie, der Alterthümer, durch mehrmaligen
Aufenthalt in Italien mit den Monumenten der antiken Zeit aus eigener An¬
schauung bekannt geworden, weiß er gewandt und geschmackvoll in der Sprache
der römischen Dichter sich zu bewegen und dieselbe auf moderne Gelegen¬
heiten anzuwenden. Seine Hauptstudien haben sich um die griechischen Lyriker
bewegt.
Als Professor der Oekonomie und Forstwissenschaft ward vor ungefähr 40
Jahren Eduard Daniel Heinrich Becker auf den akademischen Lehrstuhl gleich¬
sam vom Pfluge, wie Cincinnatus, berufen, indem er bis dahin Pächter eines
rostocker Stadtguts war. Seine Thätigkeit ist von den Studenten selten in
Anspruch genommen worden. Er ist Erfinder einer neuen Construction des
sogenannten Wesebaums, eines in Mecklenburg üblichen Werkzeuges zur Be-
festigung von Getreidegarben und Heu auf Erntewagen. Auf einer größeren
landwirthschaftlichen Versammlung soll er einmal das Wort erbeten haben,
um zu erklären, daß er über den verhandelten Gegenstand bis dahin keine Er¬
fahrungen gemacht habe. Er gehört zur frommen Partei, ist auch Mitglied des
Hauptvereins für innere Mission, lebt aber mit seinen Collegen, auch denjenigen,
welche seine religiösen Parteigenossen sind, auf gespanntem Fuße, wie man sagt,
wegen einer bei der Neuwahl des Inspektors der Stipendien im Jahre 1843
ihm widerfahrenen Zurücksetzung.
Carl Barisch, zu Michaelis 18S8 als Professor der deutschen und neueren
Literatur berufen, ist für dieses Fach eine gute Requisition, findet nach
Lage der Verhältnisse, ungeachtet des seiner Leitung überwiesenen deutsch-philo¬
logischen Seminars wenig Gelegenheit, den Studenten nützlich zu sein, ist aber
desto thätiger auf literarischem Gebiet.
Der Professor der Geschichte, Georg Voigt, ein Sohn des königsberger
Historikers, ist als Nachfolger Paulis (18S7—1869) seit Ostern 1860 in Thä¬
tigkeit. Er hat sich durch eine Reihe ehrenwerther Arbeiten bereits bekannt gemacht.
Professor der Staatswissenschaften ist Hera. Rösler. als Nachfolger
nasses (18S7—1860) im Jahre 1861 von Erlangen berufen. Sein Name hat
auf dem Felde der Volkswirthschaft einen guten, auch literarisch bewährten
Klang. Er schrieb „zur Kritik der Lehre vom Arbeitslöhne" (1861); „über
den Einfluß der Lebensmittelpreise aus die Lolksmoral" (1862); und „Grund¬
sätze der Volkswirthschaftslehre" (1864). In dem letzteren Werke läßt die Ab¬
wägung von Gründen und Gegengründen es vielfach zu einem sicheren Ergeb¬
niß und einer principiellen Entscheidung nicht kommen und der Verfasser hat
sich von einzelnen traditionellen Vorurtheilen und Bedenken der Gegner der
freien Concurrenz, des freien Zinsfußes u. s. w. noch nicht ganz losgesagt.
Mit den mecklenburgischen wirthschaftlichen Verhältnissen und Zuständen ist er
ungenügend bekannt, worüber sich niemand wundern wird, welcher weiß,
mit wie großen Schwierigkeiten selbst Landeseingeborene zu kämpfen haben, um
sich eine gründliche Kenntniß auf diesem Gebiet zu erwerben. Die Zurück¬
gezogenheit vom öffentlichen Leben und von gemeinsamer mündlicher Verhand¬
lung über volkswirtschaftliche Gegenstände theilt er mit der großen Mehrzahl
seiner akademischen Fachgenossen. Auf den volkswirtschaftlichen Congressen
erscheinen diese Herren nur als seltene Ausnahmen. Die Facultät begrüßte
Rösler, der bereits Dr. ^uris war, bei seiner Ankunft mit dem Ehrendiplom
eines Doctors der Philosophie.
Zur Facultät im weiteren Sinne gehören noch ein außerordentlicher Pro-
fessor der klassischen Literatur, Gymnasiallehrer Busch, der aber seit längerer
Zeit wegen Kränklichkeit nicht mehr wirksam ist, ein als Privatdocent habilitir-
ter Lehrer der französischen Sprache und zwei Privatdocenten Namens Cos en
und John, jener im Fache der Thierheilkunde, dieser in dem der Landwirth¬
schaft, welche beide als tüchtig und strebsam gerühmt werden. Der Lehrer der
Musik, Dr. Ferdinand v. Roda, der als Komponist geistlicher Musik sich eines
guten Rufes erfreut, ist auch zum Halten von Vorlesungen über Theorie und
Geschichte der Musik berechtigt. Sonst besitzt die Universität keine Lehrer der
Sprachen und Künste, nicht einmal einen Fechtlehrer, über welche Lücke der
Lectionskatalog, auf die außerhalb des Kreises der Universität in Rostock für
diese Fächer vorhandenen Kräfte hinweisend, mit einem zarten „non äeücit
oeeasio" u. s. w. hinwegzugehen pflegt.
Die Zahl der promovirten Doctoren der Philosophie belief sich während
der beiden letzten Jahre durchschnittlich auf 33. meistens Auswärtige, welche
nur eine Dissertation einzureichen haben, (!!!) und unter ihnen eine Anzahl Portu¬
giesen und Engländer. Unter zwei im Jahre 1863 vorgenommenen Ehren¬
promotionen befand sich die des berühmten mecklenburgischen Dichters Fritz
Reuter.
Die Besoldungen der gesammten Professoren erfordern ungefähr 29,000 Thlr.,
welche sich auf die einzelnen Facultäten in runden Summen wie folgt ver¬
theilen: theologische Facultät 6000 Thlr., juristische 8000 Thlr., medicinische
S000 Thir.. philosophische 11,000 Thlr. —
Eine statutenmäßige Verpflichtung zur Veröffentlichung von Druckschriften
liegt von den Lehrern nur dem Professor der Beredsamkeit und dem Rector
ob. Der erstere hat jedesmal den Inclex Isetionum mit einem gelehrten Proö-
mium zu versehen. Der Rector hat, statt der früheren drei Festprogramme
am Schlüsse des Rectoratsjcchres ein „die Wissenschaft bereicherndes" Programm
in lateinischer oder deutscher Sprache zu schreiben, wovon sich jedoch in der
neueren Zeit mehre Rectoren glaubten dispensiren zu dürfen. Ebenso ist auch
die Vorschrift der Univerfltätsstatuten, daß der sein Amt antretende Professor
ein Programm veröffentliche, häufig (z. B. schon von Hofmann, Kierulff, Wun¬
derlich, Thöl und später fast regelmäßig) unbefolgt geblieben. Erst Winckel
hat damit wieder einen Anfang gemacht.
Einmal im Jahre, am Geburtstage des Großherzogs, tritt die Universität
mit einer Feier an die Oeffentlichkeit, deren Mittelpunkt eine Rede des Rectors
und deren Schluß die Vertheilung der Preise für die eingegangenen Beantwor¬
tungen der Preisfragen bildet. Nachdem lange Zeit der äußere Pomp dabei
nur durch zwei glänzende Scepter vertreten war, die dem Rector bei dem unter
den rauschenden Klängen der Musik erfolgenden Einmarsch des akademischen
Corpus in den Festsaal vorangetragen werden, wurde derselbe im Jahre 18S7
durch Einführung einer mittelalterlichen Tracht des Rectors und der Decane,
bestehend aus Talar, Mäntelchen und Barett, wesentlich erhöhet. Veranlassung
zu dieser Neuerung gab eine Hoffcierlichkeit in Schwerin, deren Theilnehmer
nicht anders als in Uniform oder Amtstracht zugelassen werden sollten. Da
man aber im Laufe der folgenden Jahre die Erfahrung machte, daß wegen der
verschiedenen körperlichen Länge und Dicke der aufeinander folgenden Decane
die auf Unkosten der Universitätskasse angeschafften Kleidungsstücke nicht auf
den Leib eines jeden Decans gleich gut paßten, und da wohl auch kein rechter
Grund vorhanden war, weshalb nur der Rector und die Decane durch ihr
Kostüm das Mittelalter, die übrigen aber die moderne Zeit repräsentiren sollten,
so gelangte man in neuester Zeit zu dem Beschlusse, daß alle Mitglieder des
Conciliums sich mit der Amtstracht zu versehen und dieselbe bei feierlichen Ge¬
legenheiten anzulegen hätten.
Von den mit der Universität verbundenen Instituten sind bereits einzelne
gelegentlich erwähnt worden. Für die praktischen Uebungen der Studirenden
bestehen drei Seminare: für die Theologen ein homiletisch-katechetisches, für die
Studirenden der philosophischen Facultät ein philologisches und ein deutsch¬
philologisches, welches letztere anfangs unter dem Namen „philosophisch-ästhe¬
tisches" begründet ward. Die Mitglieder des homiletisch-katechetischen Seminars
predigen zu bestimmten Zeiten im Betsaal des Jungfrauenklosters und üben
sich im Katechisiren an dazu vom Wcuscnhause gestellten Knaben.
Für Medicin und Naturwissenschaften sind die erforderlichen Anstalten und
Sammlungen meistens erst von ziemlich jungem Datum oder sie haben doch
in neuerer Zeit wesentliche Umgestaltung und Verbesserung erfahren. Die
Klinik zerfällt in eine medicinische Klinik, eine medicinische Poliklinik, eine chi¬
rurgische und Augenklinik, eine ambulatorische Klinik für chirurgische und Augen¬
kranke und eine geburtshilfliche Klinik. Die medicinische und chirurgische Klinik
ist dem städtischen Krankenhaus angeschlossen; in jeder der beiden Abtheilungen
kommen jährlich 400 bis S00 Fälle zur Behandlung. Die Zwecke der Klinik
werden auch durch zwei angestellte Assistenzärzte gefördert. Die geburtshilfliche
Klinik hat durch die im Jahre 1868 eröffnete Centraihebammenanstalt eine er¬
weiterte Einrichtung erhalten. Die Anatomie nebst dem dazu gehörigen anthro-
potomischen Museum ist sehr vollständig eingerichtet und hat eine reiche Samm¬
lung von anatomischen Präparaten des menschlichen Körpers. Seit dem Jahre
1854 ist außer dem Director noch ein Prosector bei der Anstalt thätig. Die
Gesetzgebung ist bereits seit dem Jahre 1791 vielfach bemüht gewesen, das In¬
stitut mit einer genügenden Zahl von menschlichen Leichnamen zu versorgen;
doch wurden die gesetzlichen Bestimmungen, wiewohl von dem Minister noch
1854 und 1858 wiederholt eingeschärft, von den Behörden wenig beachtet und
es ist daher dem diesjährigen Landtag ein neuer Gesetzentwurf über diesen
Gegenstand vorgelegt worden. Nach den bisherigen Bestimmungen sollen alle
in dem Umkreise von 8 Meilen um Rostock aufkommenden Leichname von Per¬
sonen, welche wegen Capitalverbrechen verhaftet sind und im Gefängnisse sterben,
von verhafteten Verbrechern, welche sich selbst entleihen, von Personen, welche
aus Armenkassen verpflegt wurden, wenn sie sich selbst entleihen, und von Per¬
sonen, die an dem Orte, wo sie sterben oder todt gefunden werden, unbekannt
sind und deren Nachlaß zur Bestreitung der Beerdigungs- und Untersuckungs-
kosten unzureichend ist, an die Anatomie abgeliefert werden. — Es bestehen
ferner ein Institut für vergleichende Anatomie und Physiologie, ein patholo-
gisches Institut, ein naturhistorisches Museum (in zwei Abtheilungen: einer
zoologisch-botanischen und einer mineralogischen), ein chemisches Laboratorium
(1833 gegründet), ein physikalisches Cabinet und ein mathematisches Cabinet
und Observatorium. — Die Universitätsbibliothek bestand zu der Zeit
der Wiedervereinigung der Universitäten Rostock und Bützow, im Jahre 1789,
nur aus 4699 Bänden und 94 Handschriften, wurde aber damals mit den zu
Bützow befindlich gewesenen großen Sammlungen mehrer mecklenburgischen
Herzoge ansehnlich bereichert. Seitdem hat sich dieselbe bedeutend vermehrt,
hauptsächlich durch Erwerbung mehrer großen Privatbibliotheken, so daß sie jetzt
etwa 120,000 Bände zählt. Für ihre Vermehrung kommen jährlich gegen
2900 Thlr. und für Gehalte der Bibliotheksbeamten 1700 Thlr. zur Verwen¬
dung. Die Kataloge entsprechen den Anforderungen noch nicht und eine schon
vor Jahrzehnten begonnene Katalogisirungsarbeit scheint aus Mangel an ge¬
nügenden Kräften oder wegen dabei befolgter unrichtiger Grundsätze nicht zu
Ende kommen zu können. Den Professoren ist zu Gunsten der Bibliothek eine
merkwürdige Naturalstcuer auferlegt. Sie „haben von jedem Buche, welches sie
zum Druck befördern, auch dann, wenn der Druck nicht in Rostock geschehen
sollte, ein Exemplar an die Universitätsbibliothek abzugeben". — In dem Saal
der Bibliothek befindet sich auch ein Münzcabinet.
Bis gegen die Mitte des vorigen Jahrhunderts war, ungeachtet der sich
mehrenden deutschen Universitäten, die Zahl der Studirenden in Rostock doch
noch immer eine ganz ansehnliche. Man zählte deren noch gegen 600. Seit¬
dem übte die im Jahre 1737 eingeweihte Universität Göttingen eine An¬
ziehungskraft, welche nicht blos die Fremden vom Besuche Rostocks zurückhielt,
sondern auch viele Mecklenburger der einheimischen Universität abwandte. Später
kam noch Berlin hinzu und in den letzten Jahrzehnten that auch die vermehrte
Leichtigkeit in der Erreichung entfernterer Universitäten das Ihrige zur Ab-
minderung der Frequenz. Eine Zeit lang wirkte zwar die (durch Verordnungen
von 1793, 1819, 1826 und 1827) eingeführte Zwangsmaßregel, wonach in-
ländische Theologen, sofern sie in Mecklenburg zu einem Schul- oder Pfarramt
befördert werden wollten, wenigstens zwei Jahre, und inländische Juristen
wenigstens ein Jahr in Rostock studiren sollten, Einiges zur Aufrechthaltung
des Besuchs. Indessen wurde im Juli 1831 diese traurige Schutzmaßregel für
die Juristen gänzlich aufgehoben, für die Theologen auf die Verpflichtung zu
einem einjährigen Studium in Rostock beschränkt. Im Jahre 1831 zählte man
noch 145 Studenten, im Jahre 1833. nachdem inzwischen auch der Ausbruch
der Cholera viele verscheucht hatte, nur noch 70. In den nächstfolgenden
Jahren bewegte sich die Zahl um 100 herum, im Jahre 18SS betrug sie 91,
hob sich aber von da an wieder auf 129 im Jahre 18S9, und im Sommer
1864 auf 180. Von letzteren studirten 43 Theologie, S2 Rechte. 33 Medicin;
die übrigen 22 vertheilten sich in kleinen Ziffern auf die Fächer der Philosophie,
Philologie, Notariatswissenschaft, Chirurgie, Thierarzneikunde, Pharmacie,
O ekvnomie und Forstwissenschaft, und 12 von diesen 22 (meistens Pharmaceuten)
waren nur zum Besuch der Vorlesungen berechtigt, ohne immatriculirt zu sein
und unter akademischer Gerichtsbarkeit zu stehen. Mit Ausnahme von vier
slowakischen Theologen aus Ungarn, welche mit Hilfe von Stipendien und
Unterstützungen in Rostock die lutherische Rechtgläubigkeit sich aneignen, um sie
demnächst wieder in ihr Vaterland zu verpflanzen, sowie von sechs Apotheker¬
gehilfen aus fremden deutschen Staaten, waren sämmtliche Studirende mecklen¬
burgische, und zwar bis aus vier Mecklenburg-Strelitzer mecklenburg-schwerinsche
Landesangehörige, so daß die rostocker Universität auch in dem Sinne, daß sie
fast lediglich von Landeskindern besucht wird, den Namen einer Landesuniver¬
sität mit vollem Rechte führt. Es ist bei den Studenten darin umgekehrt wie
bei den Docenten, welche fast sämmtlich Auswärtige sind. Die große Mehr¬
zahl der Mecklenburg-Strelitzer, aber auch fast die Hälfte der Mecklenburg-
Schweriner, welche sich dem Universitätsstudium widmen, ist jederzeit auf aus¬
wärtigen Universitäten zu suchen. Nach einer im letzten Winter aufgenommenen
Uebersicht studirten 148 Mecklenburger auf anderen Universitäten, 135 in Rostock.
Unter ersteren befanden sich 114 Schweriner und 34 Strelitzer, unter letzteren
131 Schweriner und 4 Strelitzer. Die außerhalb Landes studirenden Forst¬
akademiker und Techniker sind in diesen Zahlen nicht einbegriffen.
Ohne Zweifel würde man rücksichtlich des Besuchs der rostocker Universität
auch von Seiten der Landesangehörigen noch weit geringere Zahlen zu regi-
striren haben, wenn nicht zwei Umstände auf die Heranziehung derselben Ein¬
fluß übten: der nahe liegende und sehr begründete Wunsch der Studirenden,
mit den Systemen und Ansichten der Mitglieder der Prüfungsbehörden, zu
welchen in jedem Fache Professoren gehören, eine vorgängige nähere Bekannt¬
schaft zu erwerben, sodann die zahlreichen akademischen Stipendien und Com-
plete, welche unter der Verwaltung der Universität stehen. Die Stipendien
zerfallen in benannte und unbenannte. Die ersteren führen die Namen ihrer
Stifter und unterliegen den Normen und Vorschriften der Stiftungsurkunden'
Sofern diese nicht etwas anderes festsetzen, betragen die Stipendien jährlich
jedes 50 Thlr. Die unbenannten werden auf zwei Jahre verliehen und von
ihnen werden so viele gebildet als der Stand der Stipendienkasse es erlaubt.
Aus den Fonds der sämmtlichen Stipendien älterer und neuerer Stiftung ist
eine „akademische Stipendienkasse" gebildet, auf welche an benannten Stipen¬
dien 12 radicirt sind. Außer den unter akademischer Verwaltung stehenden
Stipendien gibt es noch andere zum Theil sehr ansehnliche, deren Verwaltung
und Collationsrecht theils dem Engeren Ausschuß von Ritter - und Landschaft,
theils den Inhabern gewisser akademischer Aemter, theils städtischen Behörden,
theils einzelnen Familien oder Privaten zusteht. Auch das Ministerium für
Unterrichtsangelegenheiten verfügt noch über 6 Stipendien. Das akademische
Convict hat 33 Stellen, jede im Betrage von 24 Thlr. jährlich, und wird in
der Regel auf 4 Semester verliehen. Mit dem durch Herabsetzung des Couplets
erzielten Ueberschusse wurde das Institut der jährlichen Preisveriheilung be¬
gründet und dafür die Summe von 480 Thlr. jährlich bestimmt. Jede der
vier Facultäten schreibt eine Preisaufgabe aus; eine fünfte, philologische,
wird von den Decanen der vier Facultäten unter Mitwirkung des Professors
der classischen Literatur und Beredsamkeit aufgestellt. Die Bewerbung pflegt
jedoch eine spärliche zu sein, was indeß kaum zu beklagen sein möchte, da
das ganze Institut der Preisaufgaben überall, wo es als Reizmittel für Stu-
dirende angewandt wird, seine großen Bedenken und selbst Gefahren zu
haben scheint.
Die Aussicht auf das am Ende der Studienzeit bevorstehende Examen
hält namentlich die älteren Studirenden an ihren Fachstudien so fest, daß sie
sich gegen alles abschließen, was ihnen nicht zur Vorbereitung auf die Prüfung
unmittelbar förderlich erscheint; und auch die jüngere Generation der Studi¬
renden verthut sich selten über den Kreis der Fachcollegien hinaus, weshalb
denn die außerhalb desselben belegenen Studien, Geschichte, Sprachkunde,
Volkswirthschaft u. s. w., große Vernachlässigung erfahren. Die Professoren
dieser Fächer wissen davon zu sagen, wie viele Zeit ihnen die Studenten
zur Beschäftigung mit literarischen Arbeiten gönnen. Aus der angegebenen
Ursache trägt auch das gesellige Leben der Studenten schon manches Philister¬
hafte an sich; äußerlich sind die Studenten kaum als solche zu erkennen und
von dem beweglichen, fröhlichen, jugendlichen Leben und Treiben, welches aus
anderen Universitäten unter ihnen heimisch ist, gewahrt man in Rostock nichts.
Es fehlt an dem Sinn für Gemeinschaftlichkeit und Vereinigung. Alles zer¬
fällt in kleinere Gruppen und Zirkel, zum Theil nach Facultäten, zum Theil nach
früheren Bekanntschaften von der Schule und von andern Universitäten her,
in neuerer Zeit auch nach Ständen, indem der zahlreicher als früher sich ein¬
findende Adel mit einigen begüterten Commilitoren bürgerlicher Herkunft sich
absondert. Landsmannschaftliche Verbindungen sind schon aus dem Grunde
nicht wohl möglich, weil es an dem Material zu einer Mehrheit von Lands¬
mannschaften wegen der exclusiver Anwesenheit von Mecklenburg-Schwerinern
fehlt. Eine Burschenschaft bestand zwar im Jahre 1817. Sie ward damals
auch zum Wartburgfest eingeladen, lehnte aber die Betheiligung durch eine De¬
putation wegen des Kostenpunktes ab, indem die Anschaffung eines neuen
Paukapparates soeben alle ihre Mittel in Anspruch genommen hätte. Vom
Jahre 1819 an standen aber wiederholte Verbote und die bei der Immatriku¬
lation abgeforderten schriftlichen Versprechungen der Entwickelung des Verbin¬
dungswesens entgegen; und wenn auch seit dem Jahre 1849 dieser äußere
Druck verschwunden ist, so fehlt es statt dessen jetzt an dem innern Trieb zur
Association. Als organisirte Einheit tritt die Studentenschaft nur bei gegebenen
Veranlassungen hervor: bei öffentlichen Aufzügen, bei einem Balle, den die
Studenten jährlich einmal zu veranstalten Pflegen und dergleichen. Es werden
dann vorher Versammlungen gehalten, in welchen die Organisation für den
vorliegenden Zweck erfolgt. Die Commerce, welche sich an die öffentlichen
Aufzüge anschließen, bieten meistens Veranlassung zu sehr unerfreulichen Rei¬
bungen, welche die gesellige Zerfahrenheit des Ganzen aufdecken. Gewöhnlich
sind es in solchen Fällen frühere Corpsstudenten, welche ihr Ansehn und Ueber¬
gewicht in verletzender Weist zur Geltung zu bringen suchen und dadurch Strei¬
tigkeiten hervorrufen. Auf dem Commerce im letzten Sommer, welchen auch
der Großherzog durch seine Gegenwart beehrte, sollen gegen den Schluß die
Geister sich dergestalt erhitzt haben, daß gegen dreißig Duelle contrahirt worden
sind. Bei diesen, übrigens seltenen Zusammenkünften finden auch manchmal
einzelne Professoren sich ein. Man erlebte es sogar auf dem erwähnten Com¬
merce. daß der Consistorialrath Krabbe, welcher als Rector der Universität
der an ihn ergangenen Einladung folgend erschienen war, sich hier zu dem
Ungewohnten entschloß und auf das Wohlsein der rostocker Studenten einen
feierlichen Salamander rieb.
Aehnlich wie mit dem geselligen Leben der Studenten steht es auch mit
dem der Professoren, auch diese zerfallen in kleinere Kreise und entbehren eines
gemeinsamen geselligen Mittel- und Vereinigungspunktcs. Ein mit der Univer¬
sitätsbibliothek in Verbindung stehendes Lesezimmer ist nur für gewisse Tages¬
stunden geöffnet und kann nicht entfernt mit den großartigen Anstalten in
Vergleich gestellt werden, durch welche in anderen Universitätsstädten für das
Lese- und zugleich für das Geselligkeitsbedürfniß gesorgt ist. Diese Mängel
tragen dazu bei. daß die Universität von der Gesammtheit der übrigen,
etwa 26,000 Seelen betragenden Bevölkerung wenig beachtet wird und neben
den im Vordergrunde stehenden Handels- und Verkehrsinteressen der alten Han¬
sestadt fast verschwindet. Bürger und Professoren, wie sie unter verschiedener
Gerichtsbarkeit nicht allein, sondern auch unter verschiedenem Recht stehen, die
einen unter dem, namentlich in Bezug auf Erbschaftssachen sehr abweichenden,
wesentlich mit dem indischen Recht verwandten rostocker Stad lrecht, die anderen
unter gemeinem Recht, so haben sie auch in geselliger Beziehung wenig mit
einander gemein. Auch ist in Folge der abweichenden politischen und religiösen
Richtung bei vielen Bürgern die spätere Gleichgiltigkeit gegen die Universität
und die innerhalb derselben dominirenden Persönlichketten neuerdings in eine
feindliche Stimmung umgeschlagen, wozu besonders die baumgartensche Angele¬
genheit beigetragen hat.
Unter der Einwirkung der wenig belebenden und anregenden Verhältnisse,
in welchen die Universität sich bewegt, erleiden selbst die strebsameren unter
den Docenten einen Druck, welcher leicht eine Erschlaffung zur Folge hat, zu¬
mal wenn nicht die Hoffnung auf eine Berufung nach einer auswärtigen Uni¬
versität ein gewisses Gegengewicht übt. Dazu kommt, daß der fast gänzliche
Mangel an freiwillig mitwirkenden jüngeren Kräften, erklärbar aus den Hin¬
dernissen, welche der Niederlassung von Privatdocenten entgegengestellt werden,
aus ihrer eingeengten und bedrohten Stellung, aus der geringen Ermunterung,
welche ihnen von Seiten der Negierung zu Theil wird, und aus der fehlenden
Aussicht auf einen größeren Zuhörerkreis, jenem Wetteifer der jüngeren, nicht
im Amte stehenden Lehrer mit den älteren, angestellten, welcher anderswo so
förderlich wirkt, in Rostock keinen Zutritt bietet.
Groß sind die Schattenseiten, welche unsere Darstellung an der rostocker
Universität hervorheben mußte. Aber es wäre doch voreilig, wenn man daraus
folgern wollte, daß den Interessen des Landes mit der Aufhebung der Univer¬
sität gedient sein könnte. Die Wissenschaft bleibt auch dann noch ein Licht,
wennn sie im Trüben leuchtet, und von der Reaction in Dienst genommen ist,
um sie für ihre Zwecke auszubeuten. Die Universität enthält an Personen und
Unterrichtsmaterial doch auch in ihrem jetzigen Zustande noch immer einen
werthvollen Kern, an welchen unter günstigen Umständen einmal ein reicheres
und fruchtbringenderes Leben sich ansetzen mag. Der Anfang einer solchen Zeit
wird dann gegeben sein, wenn unter dem Schirme einer freien Staasverfassung
die Wissenschaft sich ohne Zwang schaffend und lehrend äußern kann.
Am letzten Tage des vergangenen Jahres starb in Berlin der Meister,
welcher als letzter Repräsentant der älteren berliner Malerschule gelten konnte,
August von Kloeber. Der eine, ihn und sie heute noch in frischer Kraft über¬
lebende Genosse ihrer besten Tage, Eduard Magnus, nahm immer eine Art
Sonderstellung zu ihr ein, welche ihn vor Anderen befähigt hat, an den künst¬
lerischen Bestrebungen der jüngeren Generation eine so lebendige thätige Be¬
theiligung zu beweisen, daß dies neue Malergeschlecht ihn nicht ohne Grund
wenigstens halb zu den Seinen zu zählen berechtigt ist. v. Kloeber, Wach,
Karl Begas, in zweiter Linie Kolbe und in der Landschaft jener tiefsinnige
Meister, dessen eigenartige Größe durch die spätere glänzende Entwickelung der
Landschaftsmalern nicht in Schatten gestellt, sondern vielmehr erst zur immer
volleren und allgemeineren Erkenntniß und Geltung gelangen sollte, Blechen,
— diese Meister einer mit Schinkels Principien und Lehren in engstem Zu¬
sammenhang stehenden idealen Richtung, und als Gegensatz und Ergänzung,
der reich begabte Realist jener Epoche, Karl Keger, sind es, von welchen das
„malerische Berlin" der Zeit Friedrich Wilhelms des Dritten sein bestimmtes,
von dem des heutigen so grundverschiedenes Gepräge empfängt. Wenn ihre
Thätigkeit und Wirksamkeit sich auch noch ein Jahrzehnt und länger unter der
darauffolgenden Regierungsperiode des kunstfreundlichsten aller preußischen Kö¬
nige kundgiebt, so treten seit dessen Thronbesteigung doch mit und neben den
Genannten, herbeigerufen und neu erwachsen, viele wesentlich anders geartete
künstlerische Kräfte in Berlin auf, neue Gestaltungen bedingend und schaffend.
Kloeber, dem ein glückliches Geschick, heiter und friedlich, wie seine eigenste
Kunst, während seines ganzen Lebens jene Kämpfe, jenes schmerzvolle Ringen
mit Hinderniß und Mißgunst erspart hat, wie es so vieler großer Meister Lauf¬
bahn aufweist, ist auch die bittere Erfahrung eines in solche Perioden der Um¬
wandlung fallenden Künstlerdaseins erspart geblieben, sich von einer neuen
Strömung des Kunstgeschmacks plötzlich bei Seite geschoben zu sehen und
von einem jungen revolutionären Geschlecht zum Märtyrer seiner theuersten
Ideale gemacht zu werden. Einmal vollzogen sich während der letzten vierzig
Jahre derartige Umwandlungen bei uns in Deutschland überhaupt weit ge¬
linder und allmäliger als z. B. in Frankreich und von solch erbittertem An¬
sturm- und Vertheidigungskampf der Kunstprincipien, von solchen tragischen
Opfern, die denselben gefallen, wie die Geschichte der französischen Malerei aus
den zwanziger und dreißiger Jahren berichtet — ich erinnere nur an Gros —
weiß die Chronik unserer vaterländischen Kunstentwickelung während der vorhin
genannten Periode nichts zu melden. Und andererseits war und ist Kloebers
Talent und das, was er schuf, von so liebenswürdiger und einschmeichelnder
Art, von so immer giltiger und wirksamer Heiterkeit und Anmuth beseelt, daß
es auch von schärferen, leidenschaftlicheren Fehden, als wir sie auf diesen Ge¬
bieten bei uns gesehen, nicht berührt, und inmitten aller hochgehenden Aufregung
künstlerischer Parteikämpfe respectirt geblieben sein mochte. ,
Nicht an Kämpfen, wohl aber an mannigfachen Schicksalen reich war dies
lange schöne Künstlerleben, das der letzte Tag des Jahres abschloß, und mit
einer Aufzählung der Schöpfungen, welche demselben erblühten, ist es keines¬
wegs erschöpft. Zumal der erste Theil seiner Laufbahn, ehe ihm Raum und
Muße zur stillen schönen Arbeit des Talents vergönnt wurde, war in hohem
Grade bewegt, angemessen der gewaltigen Zeit des allgemeinen Umsturzes aller
europäischen Verhältnisse, des kriegerischen Sturms, der zerstörend, reinigend,
aufrüttelnd über die alte Welt dcchinbrauste und auch den Knaben und Jüng¬
ling in seine Wirbel hineinzog. Am 21. August 1793 ist er zu Breslau
geboren, Sohn des Kammerdirectors. Geheimen Raths Ludwig v. Kloeber, den
er bereits im zweiten Lebensjahre durch den Tod verlor. Darin war seine
Jugend der aller bedeutenden Künstler ähnlich, daß sich „frühe schon" die Lust
und Neigung des Knaben zum Zeichnen kundgab. Freilich wurden diese ersten
Aeußerungen seines innern Berufs zunächst nicht für die Wahl desselben be¬
stimmend.
Denn mit dem zwölften Lebensjahre tritt er zu Berlin ins Kadetten¬
haus, und nur dem jähen Sturz der Macht seines preußischen Vaterlandes
dankte er es. daß der ihm vorgezeichnete, seinen Wünschen wenig entspre¬
chende Lebensplan nicht zur Durchführung gelangte. Die Schlacht bei Jena
löste wie die preußische Armee, so auch das berliner Kadettencorps auf, und
Kloeber wurde seiner Mutter wiedergegeben. Mit ihren Kindern übersiedelte
sie von Breslau nach Tarnowitz und von hier nach Troppau. Dieser Aufent¬
halt wurde für Kloeber von entscheidender Wichtigkeit. In den Kunstsammlun¬
gen eines östreichischen Gutsbesitzers, des Baron v. Skbrenski, und in dessen
freundlicher Theilnahme fanden seine künstlerischen Neigungen so viel Förderung
und Ermuthigung, daß wenigstens der Gedanke einer militärischen Laufbahn
für ihn aufgegeben und dagegen die eines Architekten erwählt wurde. Die zeich¬
nerische Thätigkeit, der er zu diesem Zweck auf der breslauer Bau- und Ge¬
werbeschule oblag, konnte aber seinem ursprünglichen Hange nur neue Stärke
verleihen und dem leidenschaftlich zu Tage tretenden Wunsch zur Malere,i mochte die
Mutter kein Hinderniß entgegensetzen. Mit neunzehn Jahren, im Winter 1812
kam er unter so veränderten Umständen zum zweiten Mal nach Berlin,
in der unter Gottfried Schadows Leitung stehenden Akademie seine male¬
rischen Studien zu beginnen. Diesem fröhlichen Arbeiten und Genießen setzte
unerwartet schnell der gewaltige ernste Gang der geschichtlichen Ereignisse
ein Ziel.
Der Aufruf von 1813 fand auch in seinem feurigen Herzen den Widerhall,
unter den Ersten ergriff er die Büchse der freiwilligen Jäger, und in den
ersten beiden mörderischen Schlachten, den von Lützen und Bautzen, welche so viel
hoffnungsreiche junge Saaten mähten, entging er nur in fast wunderbarer
Weise dem Geschick, für seines Vaterlandes Befreiung mit dem Leben zuzählen,
und 1814 noch einmal in ganz ähnlicher Art in den Gefechten vor und um
Paris! Die damals in der besiegten „Hauptstadt der Welt" zusammengehäuften
Kunstschätze vermochten ihn doch so wenig zu längerem Ausenthalt daselbst
zrl reizen, wie der Officiersrang zum Verbleiben beim Heere. Er kehrte
heim und zwar zunächst nach Wien. Dieser Besuch bei seinem ihm verschwägert
gewordenen erwähnten Gönner und Freunde v. Skrbenski hat damals die
Gelegenheit zu der ersten seiner künstlerischen Arbeiten gegeben, welche,
weit über das Werthmaß jugendlicher Studien und Versuche hinausgehend,
ihren tiefen und bedeutenden Gehalt heut noch jedem Beschauer bekundet, und
am besten von der überraschenden Entwicklung zeigt, welche sein Talent, trotz so
mannigfacher Hemmungen und Störungen einer ruhigen Ausbildung damals bereits
erlangt hatte. Es ist dies jenes Portrait Beethovens, zu welchem dieser, ein
seltner Ausnahmefall, sich bewegen ließ, dem jungen Maler zu sitzen, ein
Bildniß, dem sich, wie man schon nach der allgemein verbreiteten großen
Steinzeichnung von Th. Neu urtheilen kann, keine andere der zahlreichen Dar¬
stellungen des gewaltigen Mannes an Größe der Auffassung und charakteristischer
Echtheit des Individuellsten dieses Kopfes vergleich. Der ideale Beethovenkopf
ist darin festgestellt und die Gestalt gefunden, in welcher er für immer in
der Vorstellung der Menschen leben wird.
Nach Berlin führte Kloeber 1818 Schinkels Aufforderung, an der malerischen
Ausschmückung des neuen, von ihm erbauten Schauspielhauses Theil zu nehmen.
Diese Scenen aus der Mythe des Apollo und allgemeinern Decorativma-
lereien eines heiter idealen Genres, seine ersten öffentlichen Arbeiten, so
sehr die Gegenstände der innersten Eigenthümlichkeit seines Talentes ent¬
sprachen, lassen den Meister, wie er sich später entwickelte, noch kaum erkennen,
und zeigen bei graziösen und anmuthigen Intentionen eine gewisse akademische,
Unfreiheit, von welcher er sich bald genug gründlich los machen sollte. Zwei
Jahre später durfte er die tiefste Sehnsucht seiner Seele befriedigen und
die Reise nach Italien antreten, wo er sieben Jahre studirend und schaffend
verweilte. An den unsterblichen Mustern der heitern Kunst, bei einer an
erhebenden Genuß mit begeisterten Freunden überreichen Existenz im Hei-
mathlande der Schönheit gewann sein Talent die bestimmt ausgeprägte be¬
sondre Physiognomie, die es auch in seinen spätesten Schöpfungen noch un-
verkümmert bewahrt hat.
Das Ernste. Grandiose, Tragische lag seiner Natur durchaus fern, und
nicht die ungeheuern Gebilde von der Decke der sixtinischen Kapelle, sondern
die reine Schönheit, welche in den Gestalten der Fen'mesma verkörpert ist, und
die scherzende Grazie des Meisters der Domkuppel zu Parma haben wohl
auf seine Seele den stärksten und bestimmendsten Einfluß geäußert. Dieser
hat ihn auch gesichert gegen das neudeutsche Nazarenerthum, wie gegen die
Carton zeichnende Münchner Romantik, die noch in jener Zeit unter den deut¬
schen Malern in Italien ihre Opfer forderten. Er fühlte sich bereits zu hei¬
misch in der heitern hellenischen Geisteswelt, um von ihnen berührt zu werden,
und seine andächtige Liebe zum großen Meister des Helldunkels machte es ihm
unmöglich, die lebensvollste blühendste Götter- und Heroenwelt grau in grau
oder in Contour zu denken. Dem italienischen Aufenthalt sind die beiden
ersten wichtigeren Oelgemälde Kloebers erwachsen, in denen sich sein eigenstes
Wesen ausspricht, die „Toilette der Venus" (einmal für den Prinzen Heinrich
und später noch einmal für König Friedrich Wilhelm den Dritten gemalt) und
„Perseus und Andromeda", eine Concurrenzarbeit für den eben begründeten
berliner „Verein der Kunstfreunde im preußischen Staate".
Nach seiner Rückkehr 1828 beginnt für ihn in Berlin ein Leben voll un¬
unterbrochener schöpferischer Thätigkeit und nur von der langen Reihe schöner
künstlerischer Resultate, welche dieselbe ins Leben rief und von keinen eigent¬
lichen Schicksalswechseln und Ereignissen ist bis zum Ende desselben zu berich¬
ten. Es sei denn seine 1835 geschlossene Heirath, welche ihm die glücklichste
Häuslichkeit während der ganzen Dauer desselben und damit die gesunde natür¬
liche Grundlage eines fröhlichen künstlerischen Schaffens schenkte. Das erste
seiner bekannter gewordnen Bilder aus dieser berliner Zeit, Pausias mit Gly-
kera dem Blumenmädchen, entstand erst 1831 oder 1832. Die zwischen diesem
und seiner Rückkehr aus Italien liegenden Jahre sind durch Arbeiten anderer
Art ausgefüllt. Gestalten und Kompositionen, welche er als Vorbilder für die
Malereien der königlichen Porzellanmanufactur zu entwerfen beauftragt war,
ihren Gegenständen nach gleichfalls durchaus seiner Lieblingsrichtung entspre¬
chend, dabei mannigfaltig genug unter sich, Scenen heiteren südlichen Lebens¬
genusses, oder phantastischen indisch-orientalischen Fürstenpomps, anmuthige Alle¬
gorien und Gelegenheitspoesien in die ihm so wohl vertrauten Formen antiker
Mythengestalten gekleidet. Wenn solche Arbeiten ihm auch um so weniger
Volles Genüge schaffen konnten, als nicht einmal das Bekanntwerden des Na-
mens (blieben sie doch immer nur Produkte des „königlichen Instituts" als solchen)
den eigentlichen Autor lohnte und ermunterte, so geben sie ihm doch Gelegenheit,
die Fülle und Leichtigkeit seiner Phantasie dabei zu bethätigen. Der, allgemeine
Beifall, den seine ersten in Berlin gemalten Oelbilder fanden, überhob ihn
indeß bald der Nöthigung zu jener Art von Thätigkeit. Dem „Pausias" folgte ein
zweites „Blumenmädchen, bei seinen Körben eingeschlafen". (Hier wie dort hatte
Kloebers Freund, der bekannte Blumenmaler Völker die Ausführung des betreffen¬
den Theils der Ausgabe übernommen) und 1834 „Bachus, seinen Panther
kränkend".
Wenige moderne Bilder antiken Stoffs sind unter uns so populär gewor¬
den, als diese köstliche Komposition in ihrer spielenden Einfachheit und entzückenden
Anmuth. Die Vereinigung unbefangener unstilisirter Natur mit einer Rein«
seit und Vollendung der Form, welche nur der feinste und ausgebildetste pla¬
stische Sinn eingeben konnte, verführte damals manchen berliner kritisirenden
Kunstgenossen zu der wenig wohlwollenden Behauptung, der „alte Schadow",
der Kloeber sehr begünstigte, habe ihm die ganze Gruppe in ihren drei
Götter- und zwei Thiergestalten gezeichnet, und er habe nichts gethan, als sie
„auszumalen". Und diese Entstehungsmythe hat sich trotz ihres Unsinns lange
genug erhalten; in den vierziger Jahren fand ich sie hier noch viel wiederholt
und verbreitet. Die auf dies Bild folgende „Sakontala", die ich nur aus den
damals vom Kunstverein herausgegebnen Umrißvlättern nach den von ihm an¬
gekauften Bildern kenne — freilich eine für kloebersche Gemälde schlechterdings un¬
genügende Neproductivnsweise — steht bei vieler Lieblichkeit des Ausdrucks
der fremdartigen Mädchengestalten wohl nicht auf gleicher Höhe mit dem vorher¬
genannten. Die indische „Breithüftigkeit", welche der Dichter so nachdrücklich
bei seiner holden Heldin betont , hat vom Maler noch reichlicher entwickelt der
Lieblichkeit dieser Gangestöchter doch einigen Eintrag gethan.
Er war geneigt, sich in jeder Art malerischer Technik zu versuchen und
sich ihrer Handhabung Meister zu machen — wie er denn später auf Lava, in
Wcichsfarben, in- Fresko u. s. w. mit bestem Erfolg experimentirt hat. und wir
finden ihn in jenen Jahren vielfach an Federzeichnungen auf Stein thätig. Diese
gegenwärtig durch den so selten die künstlerische Originalzeichnung treu bewah¬
renden Holzschnitt nur zu sehr verdrängte, schöne und ausgiebige Manier, in
weicher Menzel, der damals zwanzigjährige, seine erstaunlichsten, noch von keinem
der Lebenden erreichten Kompositionen jedes Genres ausführte, das „Vaterunser",
„die fünf Sinne", die „Meister und Schützenbriefe" und zahllose verwandte
Schöpfungen, wurde von Kloebcr in einer sehr abweichenden, aber in ihrer
Eigenthümlichkeit höchst geistreichen und vorzüglich malerisch wirksamen Weise
behandelt; in breiten Strichlagen, tief und geschlossen gehaltenen Schattenmassen,
welche im Verein mit den weiß ausgeschabten Lichtern der übergedruckten Ton¬
platte einen bei der großen Einfachheit der Mittel überraschenden Effect kör¬
perlich plastischer Rundung hervorbrachten. Allgemein verbreitet und be¬
kannt, an den Zimmerwärter jeder aus jener Zeit herüberragenden ge¬
bildeten berliner Familie heute noch in Glas und Nahmen, ist so ausgeführt
die friesartige Komposition Kloebers, „die Ernte", nach dem eigenen Bilde
im Auftrage des Kunstvereins gezeichnet. Es ist wie alle seine Darstellungen
solcher der natürlichen Wirklichkeit ursprünglich entlehnten Vorgänge doch weit
mehr ein ideales Bild einer Ernte, „die sich nie und nirgends hat begeben",
als in dem goldenen Zeitalter, „von dem die Dichter singen"; aber andererseits
doch nicht ganz in das Costüm eines solchen gekleidet; halb südlich, halb antik
und dann wieder gleichzeitig an moderne Realität anklingend (trägt doch die
Mehrzahl der Männer auf dem Bilde Hosen auf den Beinen), und trotzdem
ein Ganzes von bezwingender Anmuth, natürlicher Schönheit und Fülle, das
den poetischen Eindruck der erquickenden Frische und des freigebig spendenden
üppigen Reichthums einer ursprünglichen Welt, den malerischen von mäch¬
tiger Mittagsonnengluth und lockender Schattenkühle unter breitem Laubdach
in so voller Stärke hervorruft, wie ihn der Künstler beabsichtigte. Von solchen
Steinzeichnungen mit breiter Feder ist dann noch der prächtige Maskenzug, die
großen Künstler alter Zeiten und Völker schildernd, zu nennen, den er gelegent¬
lich der Stiftungsfeier des älteren berliner Künstlervereins ausführte, und jene
Schmückung des „Letzten Willens" Friedrich Wilhelms des Dritten, mit welcher
ausgestattet eine der vielen Ausgaben dieses eigenthümlichen Documents im
Jahre 1840 erschien.
An Oelbildern folgte 1837 auf jene „Ernte" der „Huon bei den Hirten"
nach Wielands Oberon. Was dem streng romantisch an Düsseldorf und
München geschulten Geschmack in dieser Auffassung mittelalterlichen Paladinen-
thums nicht behagen wollte, gereichte dem Bilde im Grunde?zum Lobe. Es
erschien so völlig einem dem wielandischen nah verwandten Geist entsprungen.
Die heitre Freiheit, mit welcher es den romantisch ritterlichen Helden behandelte,
war von ironischer Färbung nicht ganz frei. Malerisch und technisch gehörte
es, soweit ich mich des damaligen Eindrucks noch entsinnen kann, nicht zu
den durcbgeführtesten Bildern Kloebers. Desto unbedingterer Preis auch in
dieser Hinsicht, wie nach jeder anderen künstlerischen Seite hin verdiente und
verdient beut noch das im Jahre darauf gemalte „Jubal, der Erfinder der
Flöte" Es ist eine der schönsten malerischen Perlen der ehemaligen wagnerschen
jetzt „National-Galerie"; .voll sonnig klarer, idyllischer Poesie, voll glücklicher
naiver Heiterkeit in der Komposition, ist es ein eben solches Meisterstück des
ComponirensIn den Raum des kreisrunden Medaillons, wie der Malerei und
Tonstimmung, welche in ihrer Flüssigkeit, in ihrer warmen Tiefe und ruhigen
Leuchtkraft die Nachbarschaft und den Vergleich mit denen der gepriesensten
heutigen Coloristen ohne dabei zu verlieren aushält. Die „Pferdeschwemmc"
(1840 vollendet, erschien sie auf der berliner Ausstellung von 1842) theilt, ihrem
Gegenstand entsprechend, die eigenthümlichen Wunderlichkeiten in der Auffassung
eines ganz realen Vorgangs, welche das Bild der „Ernte" charakterisirten. Es
ist ein liebliches, graziös bewegtes Geschlecht von Knaben, Jünglingen und
Mädchen, welches sich da auf ziemlich unirdischen rosa gescheckten Rossen, denen
der Eos nicht unähnlich, nahe dem Ufer im schäumenden Wasser tummelt,
oder am grasigen Rande lachend und jubelnd dem verwegenen Spiel der Ge¬
nosse» zusieht; aber man suche keine Zeit- und Localbestimmung für das Jahr¬
hundert und das Land der Erde, dem es angehören könnte. Und doch sollen
und wollen die freudigen und zarten Geschöpfe Menschen und Kinder dieser
Welt sein. Der ungelöste Widerspruch, welchen solche Bilder des Meisters in
sich tragen, zeigt sich folgerecht dann auch in der iFarbe derselben, welche
die Realität naturgemäß auszuschließen genöthigt wird, während der Colorist
in dem Autor doch wieder zu mächtig bleibt, um sie einer abstracten Farb-
losigkeit zu opfern. Die Rosse dieser Pferdeschwemme fänden eine passendere
Verwendung in dem Bilde der „Aurora" und der „Luna", die er in den nächsten
Jahren darauf für König Friedrich Wilhelm den Vierten malte. Da war er wieder
völlig in seinem Element und unter der Einwirkung jenes belebenden Hauchs,
welcher von der unsterblichen Schönheit antiker Mythe ausgeht, schuf er gleich¬
zeitig das kleine Bild, das immer unter seinen vollendetsten Werken zu
den ersten zählen wird, den „pfeilschärfenden Amor", die reizende, nackte,
knieende Gestalt des kleinen Gottes. vom bergenden grünen Walddickicht rings¬
um in klares, sonnigwarmes Helldunkel getaucht, aus welchem das von
dichtem braunem Gelock überschattete Köpfchen, welches lächelnd auf die
emsige Arbeit seiner Hand niederblickt, mit geheimnißvoller Lieblichkeit
hervorleuchtet. Die bedeutenden künstlerischen Unternehmungen, mit welchen
sich der „König-Künstler" Friedrich Wilden der Vierte introducirte, gaben Kloe¬
ber bald eine Fülle von Aufgaben zunächst decorativer Natur, seinem Talent aufs
Glücklichste angemessen. Im neuen Opernhausbau waren es der „Arion auf
dem Delphin", mit seinen Scitenmcdaillonbildern für den Vorhang; Genien¬
gruppen mit den Jnsignien der Herrschermacht für die Decke der königlichen
Loge (1844). Im Marmorpalais zu Potsdam die Wand- und Plafondbilder
eines Saals: „Geburt der Venus", „Apoll unter den Hirten", „Bachus, den
Menschen die Traube bringend", die Gestalten des „Schlafs und des Traums";
und für einen zweiten Saal desselben Schlosses die vier Jahreszeiten mit einem
grau in grau auf rothem Grunde ausgeführten Fries von Kindergestalten
(1848—47). Die Revolutionsperiode mag wie in jedes Künstlers Thätigkeit
auch in die seinige einige Hemmung gebracht haben. Erst 1860 finden wir
ihn wieder bei bedeutenden Arbeiten, einer Ausführung jenes Arion vom Vor¬
hang des Opernhauses als selbständiges Bild, den kolossalen Gestalten des
Matthäus und Marcus auf Goldgrund in der Kuppel der neuen Schloßkapelle
gemalt, dem Oelbilde vom „Tod des Adonis" (1851). Das in seiner Innig¬
keit und holden Schönheit hervorragendste Werk des letzten Jahrzehnts seines
Lebens, „Psyche, von Amor aus der Bewußtlosigkeit erweckt", das die Aus¬
stellung von 1864 schmückte und mit der großen Medaille gekrönt wurde, ward
vom Kunstverein für dessen ständige Galerie erworben. Der im Auftrage der¬
selben Verbindung von Seidel ausgeführte Stich hat die Anschauung der
fvrinenschönen edlen Komposition allgemein verbreitet, wenn sich der Farben¬
reiz des Originals auch der völligen Wiedergabe durch diese Übertragung ent¬
zieh» mußte. Einer geringeren Gunst hatte sich das historisch-romantische Le-
gendenbild vom bekehrten und geretteten Wendenfürsten „Jaozko" zu erfreuen,
das einer besondern Liebhaberei des königlichen Gönners wie der Sage,
seinen Ursprung verdankte und 1866 vollendet wurde. Lebendige Bewegtheit
und Feuer der Darstellung war der Komposition nicht abzusprechen; aber Kloe¬
bers Natur widerstrebte dieser barbarische nordisch-christliche Sagenwelt doch zu
sehr, um ihr in der malerischen Schilderung ebenso gerecht werden zu können,
wie sie es der antik-hellenischen wurde. Ueberwiegend mehr und mehr nahmen
ihn decorative Arbeiten in Anspruch, und da ihn die Anmuth seiner Erfin¬
dungen, der Geschmack in der Anordnung, in der Raumbenutzung und Farben-
vertheilung so vorzüglich dafür befähigten, so folgten den glücklich gelösten im¬
mer wieder neue derartige öffentliche und Privatauftrage. Ich beschränke mich
auf die Angabe der wichtigsten, seitdem von ihm ausgeführten: 1866 spielende
Gestalten und Gruppen als Decoration einiger Räume des von Strack am
leipziger Platz erbauten Hauses; 1868 Allegonen in der „Gedenkhalle im
kronprinzlichen Palais"; 1869 im weißen Saal des königlichen Schlosses
symbolische Gestalten der Provinzen Rheinland. Westphalen, Schlesien und Pou«
mern; zugleich den Tod des Herkules und den Sieg des Theseus über die Cen¬
tauren im neuen Museum und Plafondbilder für das Victoriatheater; 1862
und 1863 die Farbenskizzen und Cartons für das Donnersche Haus in Hamburg
und für die Plafonds und SuperPorten des dem belgischen Consul Odilon de
Krater daselbst gehörigen, die allegorischen Kindergruppen für den Festsaal der
Villa van der Heydt zu Berlin und die Entwürfe zu den beiden großen Wand¬
bildern für die neue Börse. Mit Ausnahme dieser letzten, von seinen Schü¬
lern Q. Becker und Fechner stereochromisch nach seinen Aquarellen ausgeführ¬
ten Gemälde, die ich im Berichte über die große letztjährige berliner Kunstaus
Stellung in diesen Blättern bereits ausführlicher besprochen habe, prätendirt
keine der genannten Decorationen als „monumentales" Werk, als „großartige"
Verkörperung „tiefsinniger geschichtlicher oder philosophischer Ideen" zu gelten,
wie sie sich z. B. im Treppenhaus? des neuen Museums so widerwärtig breit
machen. Er überschätzte nicht die Tragweite seines Vermögens, und weder der
durch seinen königlichen Gönner bei uns importirte Münchner symbolisch-histo¬
rische große Stil, noch die von Belgien her auf unsere Künstlerkreise einwirkende
moderne Geschichtsmalerei, noch der radicale Realismus einer jüngeren Schule,
welche zur Fahne Adolf Menzels geschworen, haben ihn je von seinem natür¬
lichen Wege abzulenken und zu verirren vermocht. Seinen alten, manches Jahr
vor ihm dahingegangenen Genossen der treueste Kamerad, hat die große Frische
und geistige Spannkraft seines Wesens ihn sich nie einseitig in seinen An¬
schauungen verhärten und gegen die eines neuen Geschlechtes abschließen lassen.
Im Gegentheil nahm er freundlichen Antheil an seinen Versuchen und Erfolgen
und, verehrt und geliebt von ihm, verstand er sich mit dessen bedeutendsten
Vertretern so gut wie außer Magnus keiner der „alten Herren", zumal derer
„von der Akademie". Diese Frische und dies volle Verständniß einer neuen
Zeit soll er auch aus anderen Gebieten nie verläugnet haben, wo man es von
dem siebzigjährigen Edelmann am wenigsten erwartet hätte.
Eine Herzbeuielwassersucht, die sich mit dem Beginn des vorigen Jahres
bei ihm ankündete, in den letzten Monaten wieder zu weichen schien, endete
sein Leben am 31. December. Die Krankheit konnte seine Geistesrüstigkeit nicht
so weit schwächen, daß sie ihn an dem Entwurf einer Reihe der liebenswür¬
digsten Kompositionen zur Mythe des Amor und der Psyche für die Villa Raven6
in Berlin verhindert hätte. So war noch sein letztes künstlerisches Thun wie
ein frommes Opfer den schönen heitern Göttern des .alten hellenischen Olymp
dargebracht, deren treuem Priesterdienst all seine Kunst fast während eines halben
Jahrhunderts geweiht war.
Mit Ur. t4 beginnt diese Zeitschrift ein neues Quartal,
welches durch alle Buchhandlungen und Dostamter zu be¬
ziehen ist.
Leipzig, im März 1865.Die Verlagshandlung.