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]]>Zeitschrift für Politik und Literatur.
23. Jahrgang.
I. Semester. It. Band.
Leipzig.
Verlag von Friedrich Ludwig Herbig.
(Fr. Will). Grunow)
18«4.
Das Christenthum ist einerseits religiöser Glaube, und als solcher hat
es absolute Bedeutung für alle, die sich zu ihm bekennen; es ist andrerseits
Geschichte, und als solche steht es für uns unter dem Gesichtspunkt der ge¬
schichtlichen Erkenntnis;. In diesen beiden Momenten liegt der ganze Widerstreit,
der die theologische Wissenschaft seit ihre» Anfängen bis auf diesen Tag bewegt.
Ja dieser Widerstreit und die Versuche ihn aufzulösen find der eigentliche In¬
halt der Theologie. Wäre das Christenthum blos das Eine oder das Andere,
so wäre eine besondere Wissenschaft der Theologie das Überflüssigste von der
Welt. Wäre es blos Religion, so würde es genügen. ihren Inhalt ein für
alle Mal auszusprechen; wäre es blos Geschichte, so wäre es nie unter einen
andern Gesichtspunkt als den rein geschichtlichen gestellt worden. Daß es beides
zugleich ist, macht eine fortgehende Vermittelung zwischen beiden Momenten
nöthig.
Es liegt in der Natur der Sache, daß hierbei bald die eine bald die andere
Seite überwiegen wird. Es läßt sich ein Standpunkt der Betrachtung denken,
auf welchem der absolute Inhalt der- christlichen Religion als unveränderlich
durch alle Zeit sich glcichblcibcnd festgehalten wird, und ein anderer, auf welchem
er sich auflöst in eine Reihe von Glaubensmeinungen. welche sich mit den
Zeiten und nach den wechselnden Nildungsverhältnissen verändern. Der erste
Standpunkt kommt in Conflict mit dem geschichtlichen, der letztere mit dem
religiösen Charakter des Christenthums. Beides sind Extreme, bei welchen eine
Seite zu kurz kommt. Die Forderung wird also zunächst dahin lauten, beide
Extreme zu vermeiden, indem einerseits der Inhalt des Glaubens in eine wirk¬
liche' geschichtliche Entwicklung hineingezogen, andrerseits doch ein bleibender
Gehalt als Resultat derselben aufgezeigt wird.
Allein wie man sich nun auch das Verhältniß beider Seiten zu einander
näher denken mag, so zeigt sich doch bald, daß auf jedem Punkte das geschicht¬
liche Moment das absolut übergreifende ist. Jede Zeit glaubt, im Besitz der
reinen christlichen Wahrheit zu sein; aber faßte man von irgendeinem Punkte
zurückschauend die ganze Entwickelung des christlichen Bewußtseins zusammen,
so zeigte sich, daß das. was einer Zeit als christlich galt, sehr verschieden.war
von dem. was anderen als solches galt. Es war eine Täuschung, wenn Theo¬
logen irgendwelcher Zeit sich bemühten den Inhalt des Glaubens für alle Zeiten
zu fixiren. Was sie als Lehre des Christenthums in scheinbar absoluter Gil-
tigkeit hinstellten, war doch nur die Art und Weise, wie sie oder ihre Zeit
dieselbe auffaßten, der dann andere Zeiten eine andere Auffassung mit demselben
Anspruch auf absolute Giltigkeit gegenüberstellten. Auch die Unterscheidung
des Inhalts von der bloßen Form half wenig. Denn man konnte sich nicht
verbergen, daß der Wechsel auch den Kern der Glaubensmeinungen nickt ver¬
schonte. Ja man konnte wohl eher umgekehrt sagen: die Form der Dogmen
veränderte sich weit weniger als der Inhalt, welchen man in sie hineinlegte.
Welche Kluft zwischen dem nicänischen Symbol und dem Gebäude der Scholastik,
zwischen Augustin und dem Nationalismus des achtzehnten Jahrhunderts, zwischen
der augsburger Confession und Schleiermachers Glaubenslehre? und nun aller
zusammen mit den unbefangen betrachteten Texten der kanonischen Schriften?
Wo blieb da jener ewig sich selbst gleiche Glaubensinhalt, wenn er sich im
Bewußtsein so verschiedener Zeiten so verschieden reflectirte? Glaubte die Theo¬
logie aller Zeiten sich wesentlich eins mit der echten Lehre Jesu, so war zwar
die Redlichkeit dieser Voraussetzung nicht anzufechten, wie weit auch die Glau¬
bensmeinungen augenscheinlich auseinandergingen; allein die Objectivität der
religiösen Erkenntniß wurde um so mehr in Frage gestellt, als der Inhalt der
Lehre Jesu selbst und die Bedeutung seiner Persönlichkeit anderen Zeiten in
einem ganz anderen Lichte erschien.
Thatsache war also zunächst nur die Verschiedenheit der Glaubensmeinungen.
Es war das achtzehnte Jahrhundert, das mit seinem kritisch-verständigen Geist
diese Thatsache zur allgemeinen Geltung brachte, aber freilich in der ersten Freude
des Furth voreilige Konsequenzen daraus zog. Bleibend sind seine Verdienste,
sofern es die ungeschichtlichen und vernunftwidrigen Voraussetzungen der Ortho¬
doxie verneinte. Aber wenn es nun das Christenthum in eine abstracte Moral¬
theorie auflöste und damit von dem geschichtlichen Proceß losschälte, wenn es
in dem letzteren nur eine Reihe menschlicher Irrthümer, überall nur subjective
Factoren, Willkür und Leidenschaften sah, so bewies es damit nur denselben
Mangel an wirklich geschichtlichem Sinn, wie auf allen anderen Punkten. Hier
trat dann die moderne geschichtlich-philosophische Weltanschauung berichtigend
ein. indem sie zwar die kritische Arbeit der Aufklärungszeit in sich aufnahm,
aber zugleich eine wirkliche Bejahung hinzuzufügen vermochte. Sie that dies
mit dem Grundsatz, daß die Geschichte der christlichen Religion eine vernünftige
sei, daß in ihrem Verlauf sich die christliche Idee durch ihre Momente hindurch
verwirkliche. Die Geschichte der Religion wurde damit als ihre wahre Wirt-
lichkeit erbaut, und das Absolute der christlichen Religion eben darin gefunden,
daß sie vermöge ihrer Idee der wesentlichen Einheit des Menschlichen und Gött¬
lichen in den unendlichen Proceß der weltgeschichtlichen Entwickelung einzugehen
vermag, womit zugleich gegeben ist, daß sie nie durch eine spätere Religions¬
bildung verdrängt und abgelöst werden kann.
Sobald nun aber das Christenthum unter den Gesichtspunkt eines geschicht¬
lichen Processes gestellt wird, springt die Bedeutung seines Anfangs, des Lebens
Jesu und der christlichen Urzeit von selbst in die Augen. Die Auffassung des
Anfangs muß auf die Auffassung des ganzen geschichtlichen Verlaufs von prin¬
cipiellen Einfluß sein. Ist die Erscheinung Jesu ein Wunder im absoluten
Sinn, wie die Kirche will, ein unmittelbarer Offenbarungs- und Schöpfungsact
Gottes, der die natürliche Weltordnung durchbricht, so wird auch die Betrachtung
der ferneren Geschichte der neuen Religion nicht über einen dualistischen Wider¬
streit hinauskommen. Ihre Substanz ist etwas über die irdische Entwickelung
Hinausgehobenes, und aus allen Verunreinigungen, die ja doch nur die äußere
Schale betreffen können, geht sie siegreich als die sich selbstgleiche hervor. Um¬
gekehrt, je reiner die geschichtliche Ansicht für die folgenden Zeiten des Christen¬
thums festgehalten wird, um so näher liegt das Interesse, den Anfang desselben
gleichfalls seines Wundercharattcrs zu entkleiden und in seine geschichtlichen
Momente zu zerlegen. Das was der kirchlichen Auffassung als die ursprüngliche
Substanz, als unmittelbar geoffenbartes Wesen des christlichen Glaubens erschienen
war, ist nunmehr selbst ein geschichtlich gewordenes, ein Resultat geschichtlicher
Factoren, nach denselben Gesetzen entstanden wie alles andere Geschehene. Der
alte Streit kehrt also jetzt wieder, aber concentrirt auf einen bestimmten Punkt,
der zugleich für das Ganze von entscheidender Wichtigkeit ist.
Noch ein anderer Grund ist es, der jetzt das theologische Interesse vorzugs¬
weise auf das Urchristenthum richten mußte. So lange die Kirche sich in ihrer
festgeschlossenen Macht behauptete und die Andersgläubigen als Ketzer von sich
ausschloß — ein Standpunkt, den die altlutherische Kirche mit der des Mittel-
alters theilte, — wußte sie sich als die unmittelbare Erbin des von Gott durch
Jesus mitgetheilten Offenbarungsinhalt. Eben die Voraussetzung der wesent¬
lichen Uebereinstimmung mit diesem Inhalt drängte jedes Interesse, diesen zu
untersuchen, zurück gegen das Interesse ihn festzuhalten. Es galt das Kleinod
zu wahren, nicht es auf die Probe zu legen, denn nur teuflische Bosheit konnte
seine Echtheit bezweifeln. Anders wurde es. als die Macht und das Selbst¬
bewußtsein der Kirche durch den Andrang freidenkerischer Meinungen, die mit
richtigem Instinkt ihre Angriffe vorzugsweise auf die schriftliche Ueberlieferung
richteten, nach allen Seiten hin erschüttert wurde. Jetzt handelte es sich nicht
mehr um Ketzer und Sekten, die durch kirchlichen Machtspruch ausgeschieden
werden konnten, sondern um Richtungen, welche verwegen in die Kirche selbst
eindrangen und sich hier festsetzten. Gläubige, freidenkerische und vermittelnde
Systeme traten einander auf dem Boden der Kirche selbst gegenüber. Der Geist
der Zeit widerstrebte einer Einheit, welche die Gegensätze künstlich zusammen¬
hielt; freie Forschung, vernünftiges Denken war die Losung. Gerade diejenige
Kirche, welche am Schriftwort die allerbesteste Norm zu haben schien, verfiel in
Richtungen, welche wenig mit einander gemein hatten, als daß sie sich gleicher¬
weise aus die Schrift beriefen, welche aber jede in ihrem Sinne sich auslegte.
Dieser Zustand enthielt die dringendste Aufforderung sich mit allem Eifer eben
auf die Schrift zu werfen, um durch eine möglichst eindringende Untersuchung
in ihr eine objective Begründung für die Glaubensmeinungen zu finden.
Eine solche Schriftbetrachtung war nun aber natürlich zunächst wesentlich
polemisch und an Voraussetzungen gebunden, die von vornherein feststanden.
Es handelte sich darum, die eigene Meinung zu vertheidigen, die fremde zu
widerlegen. Das Interesse war ein wesentlich theologisches, der Standpunkt
der des eignen Systems, von welchem aus nicht schwer wurde, dasjenige in
die Schrift hineinzulegen, was das andere- aus ihr hinausbcutcte. Auch so war
also noch wenig Aussicht aus objective Ergebnisse 'der Kritik. Nur das Ein¬
dringen des kritischen Triebs in die Theologie selbst war ein wesentlicher
Fortschritt.
Allein der kritische Trieb selbst hatte noch ganz andere Wurzeln, welche
von dem Interesse an der Rechtgläubigkeit ganz unabhängig waren. Es war
jetzt nicht mehr ausschließlich die Theologie, welche sich den Anfängen des
Christenthums zuwandte. Eine Reihe von Wissenschaften, ehemals im Dienst
der Kirche, hatte sich emancipirt und aus die eigenen Füße gestellt. Jede von
ihnen hatte, sobald sie ihres selbständigen Rechts sich bewußt waren, ein
Interesse, von ihrem eigenen Standpunkt aus sich mit dem Christenthum aus¬
einanderzusetzen. Wie, wenn die Naturforschung, die Philologie, die Geschichte,
die Philosophie, die einst von der Kirche ihre Gesetze empfangen hatten, wiederum
sich auf dem mütterlichen Boden zusammenfanden, aber jetzt, um das kirchliche
Christenthum auf einen Punkte, wo sie alle gleichmäßig betheiligr waren, gemein¬
sam anzugreifen; wenn sie ein Gebäude, das durch innere Risse bereits morsch
war, niederreißen, aber nur, um mit vereinten Kräften die Grundlinien eines
N.cubaueS zu ziehen? Eben dieses geschah. Die Naturfor-schung hatte, seitdem
ihr der innere Zusammenhang der Weltgesetze immer klarer ausgegangen war,
die Aufgabe, auch alles das zu beseitigen, was mit dem Anspruch auftrat, eine
Störung der ewigen Ordnung zu sein. Sie zog die Wunderberichte erst des
alten Testaments, dann kühner auch die des neuen Testaments vor ihr Forum
und maß sie an den unveränderlichen Gesetzen des Seins. Die Philologie
bemächtigte sich des Textes der kanonischen Schriften, entdeckte Unterschiede, welche
bisher verborgen waren, sonderte Echtes und Unechtes und lehrte die Kunst
einer unbefangenen Vorurtheilslosen Auslegung; und wie sie in ihren höheren
Leistungen die Einheit der homerischen Gesänge zerstörte und die älteste Geschichte
Roms in Mythen auflöste, so drang sie mit denselben Waffen der Kritik ein
in die schriftstellerischen Compositionen der urchristlicher Zeit, um deren Veran¬
lassung und Zeit der Entstehung zu ergründen, um sagenhaftes und Geschicht¬
liches zu scheiden. Die Kunde der Religionen des Alterthums hatte den Be¬
dingungen nachgeforscht, unter welchen religiöse Vorstellungen sich erzeugen, sich
verwandeln, sich verfestigen, mit ihren Ergebnissen trat sie jetzt an den Kreis von
Lorstellungen heran, die sich um den Stifter der christlichen Religion gebildet
hatten, und deren Niederschlag den Inhalt der ersten christlichen Urkunden aus¬
macht. Die Geschichte, bestrebt, in die unendliche Masse des Geschehens Ordnung
und Sinn zu bringen, wies den inneren Zusammenhang der Erscheinung Jesu
mit seiner Zeit nach. Sie durchbrach die teleologische Betrachtungsweise und
gewann für die Entstehung des Christenthums einen Standpunkt, von weinten
dasselbe als das Ergebniß der ganzen bisherigen weltgeschichtlichen Entwickelung
sich darstellte. Die Philosophie endlich, alles Gewordene überschauend und auf
ihre letzten Ziele zurückführend, wies dem Christenthum seine absolute Stelle
in der Geschichte des menschlichen Geistes an, und eindringend in das Wesen
der Religion stellte sie als ewige ideelle Wahrheit dasjenige wieder her, was
als religiöse Vorstellung von dem modernen kritisch entwickelten Bewußtsein in
Anspruch genommen war.
Alle diese Momente, welchen die Theologie selbst trotz anfänglichen Wider-
strebens mehr und mehr Eingang verstatten mußte, wirkten zusammen, um die
neutestamentliche Kritik zu dem zu machen, was sie geworden ist, zu einer
Wissenschaft, welche zu der Geschichte deö Urchristenthums zum mindesten die
sicheren Umrisse zu zeichnen vermag. Eben in ihrem Zusammenwirken liegt die
Gewähr für die Objectivität ihrer Resultate. Das eine war gleichsam das
Correctiv fut das andere. Die Philosophie wies die Natulfolschung in ihre
Schranken, und umgekehrt; beiden trat eine lebendige Geschichtsbetrachtung zur
Seite, die wiederum nur durch die genaueste Detailforschung ihren wahren In¬
halt erhielt. Die herkömmlichen Vorstellungen wurden nun freilich durch diese
Kritik aufs gründlichste zerstört, aber zugleich auch die Möglichkeit einer geschicht¬
lichen Kenntniß erst geschaffen. negativ, destructiv waren wohl, wie sich von
selbst versteht, einzelne Theile derselben; aber als Gcsammtarbcit betrachtet ver¬
dient sie keinen Namen weniger als diesen. Wurden die ältesten Thatsachen des
Christenthums der mythischen und dogmatischen Zusätze entkleidet, die sich später
um sie gebildet hatten, so trat dafür das rein Menschliche in sein volles Recht,
und die Einsicht in den natürlichen Zusammenhang der Dinge entschädigte für
so manche Verluste die der Glaube zu beklagen hatte, — Verluste, die zudem
nur scheinbar waren; denn die biblischen Erzählungen verloren dadurch, daß
ihre Thatsächlichkeit in !Zweifel gezogen wurde, nichts von ihrer Bedeutung
für das religiöse Gemüth, ebenso wie die idealen Grundwahrheiten der christ¬
lichen Religion unberührt blieben von der Realität äußerlicher Vorgänge,
Wurden einzelnen Schriften des Kanons die Namen abgesprochen, welche sie
an der Stirne trugen, so fanden sie dafür in der Entwickelung der christlichen
Literatur erst ihre geschichtliche Stelle. Konnte das überlieferte Bild von den
ältesten Zeiten des Christenthums, die man sich so gern als einträchtiges Zu¬
sammenhalten der Gemeinde und mit der darmlosen Ausprägung des religiösen
Ideals ausgefüllt vorstellte, vor der historischen Kritik nicht bestehen, so hatte
man zwar Streit und Gegensat, bis in die erste Jerusalemgemeinde hinauf;
aber wo Streit ist, ist auch Leben, das älteste Christenthum erschien nun in
seinen inneren Motiven, Interessen, Wandlungen aufgedeckt: die unklare Vor¬
stellung wurde zum lebendigen Geschichtsbild.
Durch diese kritische Arbeit hat die theologische Wissenschaft eine große Ver¬
änderung erlitten. Bedeutender noch werden die Wirkungen auf das allgemeine
Bewußtsein, zunächst in den gebildeten Kreisen sein. Oder wollte man den ver¬
geblichen Versuch machen, das Publicum gegen die verderblichen Einflüsse der
Kritik durch Quarantänemaßrcgeln zu schützen? Man hat allerdings die pro¬
phylaktische Weisheit des Hauptpastors Götze, welcher den Kritikern zwar nicht
das Schreiben verbieten wollte, aber zurief: „Schreibt lateinisch, ihr Herrn!
Schreibt lateinisch! Ja wer fleißiger in den Classen gewesen wäre!" — auch
noch in unserm Jahrhundert wiederholt, und Strauß hat noch einmal auf den¬
selben Borwurf antworten müssen, der Lessing gemacht wurde, Allein man wird
nicht im Ernst wieder in die Fußtapfen des würdigen Hauptpastors zurücktreten
wollen. Der Anknüpfungspunkte, welche derzeit zwischen der theologischen
Wissenschaft und dem Bewußtsein und Interesse der Gebildeten bestehen, sind
nicht so viele, daß es wünschenswert!) erscheinen könnte, die wenigen noch künst¬
lich zu zerreißen. Jedenfalls haben die Laien ein Recht darauf, daß ihnen die
Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung über jene die höchsten Gegenstände
berührenden Fragen nicht vorenthalten bleiben. Würde man es versuchen, so
würden dennoch die Zweifel und kritischen Anfechtungen langsam durchsickern,
vielleicht nur in gefährlicherer Form; ja es würde schon durch die bekämpfenden
Stimmen ausreichend dafür gesorgt, daß auch die Zweifel sich verbreiteten, wie
sich an Strauß's Leben Jesu gezeigt hat, das nur für die Gelehrten geschrieben,
ausdrücklich durch seineu wissenschaftlichen Apparat die neugierigen Laien ab¬
schrecken sollte, aber — Dank dem Ketzergeschrci, welches das Buch vor das
Forum der Unmündigen rief, alsbald einer ungemeinen Popularität sich erfreute
auch da, wo man es nicht verstehen konnte.
Die neueren kritischen Forschungen im Gebiet des Urchristcnthums sind
nun allerdings bis jetzt wenig in das größere Publicum gedrungen, trotzdem
daß vereinzelte Popularisirungsversuche gemacht wurden, die letzten zusammen¬
fassenden Werke Baurs nicht ausschließlich für die theologischen Kreise bestimmt
waren und Schwarz in seiner Geschichte der neuesten Theologie ausdrücklich
einen größern Leserkreis vor Augen hatte. Indessen macht sich doch unläugbar
das Bedürfniß einer Verständigung über die Hauptpunkte, die hier zur Sprache
kommen, täglich fühlbarer. Renan hat im Grund zuerst die zunftmäßige Be¬
handlung des Lebens Jesu kühn durchbrochen, und dasselbe als ein Laie für
die Laien zu schreiben versucht. Aber die Ratlosigkeit, mit welcher das große
Publicum diesem Buch gegenüberstand, wäre weniger groß gewesen, wenn die
Grundfragen, deren Erörterung die Wissenschaft beschäftigt, allgemeiner verständ¬
lich und bekannt waren. Indessen, wie gesagt, der Zug der Zeit geht entschieden
dahin, näher in die Geheimnisse der Werkstätte einzudringen, aus welcher unsere
Religion hervorgegangen ist. Am sichtbarsten ist dieses Interesse gegenwärtig bei
unsern Nachbarn über dem Rhein, sowohl nach der Vielseitigkeit der betreffenden
Literatur zu schließen, als nach der Aufnahme, welche dieselbe findet. Von hier
aus ist die Ansteckung für die übrigen romanischen Völker von selbst gegeben.
England hat bezeichnend genug — wie die Processe gegen die Neviewers und
den Bischof Colenso zeigen — eben noch an den Untersuchungen über die
fünf Bücher Mosis zu verdauen. Ist diese schwierige Arbeit erst gethan, so
kann es nicht ausbleiben, daß die Reihe auch an das neue Testament kommt.
In Deutschland, aus dessen Schooß alle diese Forschungen hervorgegangen sind,
legt die neue Bearbeitung des Straußfeder Werth, das sich nunmehr nicht an
die Gelehrten.-nicht an das theologische Publicum, sondern an das deutsche
Volk wendet, den gebildeten Laienkreisen es nahe, sich über den Gang, welchen
die theologische Wissenschaft und Kritik seit dreißig Jahren genommen, zu orientiren.
Im Unterschied von der ersten Bearbeitung wird die jetzige erst verständlich
durch die Kenntniß der dazwischen liegenden Untersuchungen.
Das Haus und das Land, welche durch die Uebertragung der Marken an
die Hohenzollern auf einander angewiesen wurden, sind erst auf der Höhe des
Mittelalters hervorgetreten. Jedes h.atte eine eigenthümliche selbständige Ge-
schichte hinter sich, ein Umstand, der ihre freiwillige Verbindung nur um so
verheißungsrcicher erscheinen läßt.
Die Zollrischcn haben ihre erste politische Schule auf einem Boden durch¬
gemacht, welcher nicht blos seiner Lage nach das Herzland des deutschen Reiches
war. Der salische Kaiser Heinrich der Vierte hatte diese Heimath seines Hauses,
Franken, dem getreuen Geschlechte der Hohenstaufen anvertraut, und als das
schwäbische Haus dann selber das Reich antrat, galt es, dort einen Haupthalter
des Principes zu bestellen, welches ihr Regiment leitete. Denn dieser Kernpunkt
des Reiches mußte vor allen gegen die einreißende Tcrritorialabschließung sicher
gestellt, in ihm mußte ein Vorbild der mittelbaren Statur des Ursprungs fürst¬
licher Macht aufgestellt werden. Das war die Absicht, als die Hohenstaufen den
Zollern die Vurggrafschaft von Nürnberg verliehen. Sie traten so in ein Land
ein, welches überall die Fußspuren der hehren Gestalten auswies, in denen die
höchsten Erinnerungen unseres Volkes sich vereinigten; vermöge des geistigen
Erbganges, in den sie hincinberufen wurden, übertrug sich auf sie das Kleinod
der Kaiserpolitik, und sie haben gut ghibellinisch damit Haus gehalten.
Es genüge, über die Stellung des burggräflichen Amtes, welche Droysen
eingehend erörtert, nur das Wichtigste hervorzuheben. Ehemals war das Ver¬
hältniß der Burggrafen zum Markgebict — hier Ostfrankens — so ausgedrückt
worden, daß jener zum Markgrafen sich verhalte wie der Pfalzgraf zum Könige.
Der nürnberger Graf jedoch war anders gestellt. Von den Befugnissen der
Mark- und Burggrafen alten Stils hatte er sozusagen das Durchschnittsmaß.
Er war oberster Beamter in der fränkischen Krondomäne, aber zugleich kaiser¬
licher Regent und militärischer Statthalter innerhalb des Sprengels der Land-
gcrichtsbarkcit, die er zu hegen hatte. Auf diese Weise nicht unumschränkt und
nicht mächtig genug, um volle Landesherrlichkeit mit Erfolg anstreben zu kön¬
nen, war er in eigenem Interesse darauf bedacht, die selbstherrischen Gelüste
anderer Großen zu vereiteln und in dem Maße als er solchergestalt die
kaiserliche und römisch-königliche Autorität wahrte, steigerte sich seine Bedeutung,
welche in ihrem Amtscharaktcr eben ihre Kraft besaß. Sie sollte sich bald
als letzter Hort der Kaiserpolitik bewähren, ja es blieb auf ihr noch ein Abglanz
der alten Herrlichkeit haften, als ihr Gestirn bereits hinabgesunken war. In
der Mittagshöhe des staufischen Glanzes wie in den bösen Tagen Friedrichs
des Zweiten und Konradins haben die Zollern des Reiches Sturmfahne ge¬
tragen. Dem Reiche als solchem, nicht blos jenem Hause gehörte ihr Eifer,
ihre Hingabe; wo beide nicht in demselben Lager waren, haben sie sich frei zu
jenem bekannt.
Bei ihnen und dem geringen Häuflein der Kaisertreuen, die nicht mit in
die Schuld des Verrathes an den Staufen verwickelt waren, stand das Reich
in der furchtbaren Krisis der herrenlosen Zeit. Das Haupt der Partei, die
Rudolph von Habsburgs Wahl durchsetzte, war, bedeutsam genug, der Senior
des Zollernhcmses, Friedrich der Dritte. Des neuen Kaisers erster Regierungsact
dankte in feierlicher Urkunde dem Burggrafen für sein „Anzeigen und Arbeit"
zum Frommen des Reichs durch eine Verleihung, welche seine erbliche Belehrung
auch auf die Töchter erstreckte. Mit seinem echt ritterlich begabten Schwager
Albrecht von Hohenberg stand dieser fortan dem Könige zunächst, der — wie
der Reimchronist erzählt — „alle seine Tag Seines Raths pflag Und folgt ihm
auel nach Für alle, die er pe gesach". Dies Verhältniß befestigte sich bei der
Handhabung der endlich durchgesetzten Landfriedensordnung und besonders bei
der Gründung der Habsburgischen Hausmacht in Oestreich. Ihr drückte Friedrich
von Hohenzollern durch den Ausschlag, den er persönlich in der Marchfeldschlacht
gegeben hat, das Siegel auf.
An den Kämpfen, welche nach Rudolphs Tode zwischen König Albrecht und
Adolf von Nassau entbrannten, nahm das burggräfliche Haus nicht unmittelbar
und dauernd Antheil. Nur die große Jugend Friedrichs, der dem Vater 1297
gefolgt war, erklärt es, daß die mahnende Stimme der Zollern in jenen Vor¬
gängen vermißt wird, die wiederum das Reich auf neue unerhörte Art zer¬
wühlten. Das Königthum, das Albrecht aus der Hand der Rebellen seines
Nebenbuhlers empfangen, stützte er durch eine Politik des vollendeten dynastischen
Egoismus, den er durch Aufbeschwörung eines überaus gefährlichen Dämons
beförderte. Denn indem er die Weisheit des jetzt darniederliegenden Papst¬
thums nachahmte, bewaffnete er kraft kaiserlicher Autorität die unteren Mächte.
Vor allen die Stadtcommunen, gegen die oberen: eine Methode, die nicht blos
den Umsturz bedeutete, sondern mehr: die Sünde und Frivolität der Ent¬
pflichtung.
Seltsam ergreifend wirkt es. daß nachdem Albrecht todtgeschlagen war.
sein vollkommenes Gegenbild in Heinrich dem Siebenten hervortrat. Man hat ihn
als den „romantischen Kaiser" gelästert und gelobt; aber es war nicht Narrethei,
was ihm die stumme Ehrfurcht einer solchen Zeitgenossenschaft erwarb. So
groß und rein wie er haben wenige Kaiser von ihrem Amte, von der Idee
der Obrigkeit gedacht; in ihm, dem einzigen unter den Machtbegabtcn seiner
Zeit, der sich wie Dante ihm nachrühmt, nicht nährte von „Erde und Metall"
und „der die Nichtwollenden zu lernen zwang, gerecht zu sein", verkörperte sich
die Religion der Pflicht. Fragt man vergebens nach den handgreiflichen und
dauernden Leistungen eines solchen Mannes, so darf geantwortet werden:
„Segen genug, daß der lautere Lichtblick des Wahren und Rechten einmal über
die Geschlechter der Menschen hinleuchtete und als Mahnung in ihrem Gedächt¬
niß blieb." In Heinrichs Gefolge tritt der junge Burggraf Friedrich zuerst
ins öffentliche Leben; er ist eine Zeit lang mit dem Kaiser in Italien gewesen,
von ihm mit wichtiger Sendung ins Reich betraut worden. Ais dann aus der
lichten Folie der kurzen Negierung dieses edlen Kaisers die wieder entfesselte
Zuchtlosigkeit der politischen Bestrebungen nur um so finsterer sich abhob, hat
sich der Burggraf der Ehre dieser Berührung nicht unwürdig gemacht. Er
hielt in guten und bösen Tagen treu zu Ludwig von Bayern, für den er den
Sieg von Ampfing entscheiden half, und seine Söhne thaten ihm nach. Die
beiden Brüder, Albrecht und Johann, nahmen nach Ludwigs Tode ohne Schwan¬
ken die Partei Karls des Vierten. Allerdings haftete an ihm der Makel der
Gegenwahl, die der Papst und die eigensüchtigen Fürsten bei Ludwigs Leben
durchgesetzt hatten. Aber die Patrioten mußte damals die Einsicht bestimmen,
daß vor allen Dingen ein kräftiger und tüchtiger Fürst noththat. Denn es
fehlte nicht,, daß die ruchlose Saat Albrechts aufwuchcrte. In den Städten
kamen die unteren formlosen Massen in Gährung, der Haß der Stände unter¬
einander flackerte auf; der schwarze Tod, die Geißlerschaaren, alle Schrecken
geistiger und leiblicher Seuche hielten den verheerenden Umzug im deutschen
Lande.
Karl, dessen hervorragendes Organisationstalent die Zeitgenossen willig
anerkannten, richtete sein Augenmerk vornehmlich darauf, ein Ncichsgrundgesetz
zu Stande zu bringen. Klug genug, um die Nothwendigkeit zu würdigen, daß
dabei von einer Fixirung des thatsächlichen Machtbcstandes der Hauptglieder
des Reichs ausgegangen werden müsse, und mächtig genug, um durchzuführen,
was er beschlossen hatte, erließ er die Verfassung der goldenen Bulle. Sie
erklärte die Kaiserwahl frei von dem Einflüsse des Papstes und gab den sieben
Kurfürsten die Tcrritorialherrlichkeit in ihren Gebieten, das M laesae miy'v-
Ltg-dis, die Gerichtsautonomie (M ne non evoeanäo) und andere früher nur
königliche Attribute. Dadurch wurde ein scharfer Unterschied festgestellt zwischen
der kurfürstlichen und allen anderen Mächten,, die im Reiche emporstrebten.
Dieser Oligarchie der sieben Häupter gegenüber würde die Kaiscrmacht unerheb¬
lich geworden sein, wenn sie nicht, und zwar in Karls Hand, just bei dem
Mächtigsten unter den Gleichen gewesen wäre. Und er war drauf und dran,
den Schwerpunkt des Reiches für immer in seine böhmischen Hausgebiete zu
verlegen, wo unier seinem starken und klugen Regimente ein Staat sich ent¬
wickelte, der alle übrigen „Länder" des Reiches an Geschlossenheit und Macht
weit überbot. Ueberdies gewann der Kaiser durch die Marken, die er über¬
nahm, noch die brandenburgische zu seiner böhmischew'Kur und war somit auch
im Kollegium der Neichsregierung im materiellen Vortheil, abgesehen davon,
daß seine achtunggebietende Stellung den freiwilligen Abbruch, den er dem alten
Principe der Kaiscrautorität anthat, reichlich wieder ersetzte. Immerhin war
seine Reform hochwichtig und konnte dauernden Segen stiften, wenn die Kur¬
fürsten ihre Ausgabe verstanden und vor allem im nationalen Sinne zu lösen
strebten. Ein großer Schritt in dieser Richtung war durch die Carolina de-
zeichnet, indem sie der römischen Politik kräftig auf die Finger schlug. Aber
auch die Schattenseite fehlte nicht. Vornehmlich in der fast brutalen Zurück-
werfung der unteren volkstümlichen Mächte lag sie. Die neue Reichsverfassung
Versagte den Städten das Pfahlbürgerthum, den Wachsthum an Boden, Rechten
und Schutzübungen auf Kosten der benachbarten Herrschaften; außerdem machte
sie alle Eidgenossenschaften und Einungen vom kaiserlichen oder landesherrlichen
Consens abhängig: ein Schlag, der zugleich auch den Adel hoch und niedrig
traf. Aber zur Entschuldigung dieser auffallenden Härte muß gesagt werden:
Wie die demokratische Bewegung der Städte einmal sich anließ, so war mit
dem aristokratischen Fundament, aus welchem heraus die Reform gedacht war,
die Hemmung jener politischen Entwickelung geboten. Ihren wirthschaftlichen
Aufschwung wollte Karl keineswegs beeinträchtigen, nur bestand zwischen diesem
und jener bereits eine Solidarität, die der Kaiser anzuerkennen zögerte, so
deutlich auch ihre Schätzung von Seiten des Volkes sich damals in zahlreichen
Aufständen und später in blutigen Kämpfen kund that.
Der bittere und hartnäckige Widerspruch, den das Reichsgrundgesctz fast
bei allen nicht tur- und landfürstenmäßigcn Elementen fand, macht es den
Zollern zu einem desto schöneren Verdienste, daß sie in patriotischer Uneigen-
nützigkeit sich demselben willig fügten, und dem Kaiser sich eng und dienstfrcudig
anschlössen. Im Großen und im Kleinen gedieh ihnen die Friedensarbeit, die
sie übten; sie halfen getreulich und an hervorragender Stelle die Späne des
Reichs im kaiserlichen Sinne schlichten und daheim auf den fränkischen Bergen
wuchs und blühte ihnen immer reichlicheres Hausgut.
Allein es kam doch ein Punkt, wo sie inne hielten. Die späteren Ma߬
regeln Karls weckten den Verdacht, daß er mit den Bestimmungen der goldnen
Bulle nur sein Gewissen habe salviren wollen. Es mehrten sich die factischen
Uebertretungen von seiner Seite. Dahin gehörte die Einverleibung der Mar¬
ken von Reiche hinweg ins böhmische Königreich, dahin die Erbverbrüdcrung
mit Habsburg, die Ehcberedung mit Ungarn-Polen, insonderheit aber die Wahl¬
umtriebe zu Gunsten seines Sohnes Wenzel, und daß der Kaiser nicht anstand,
für diesen Plan am Papste einen Rückhalt zu suchen, da er im Reiche nicht
vorwärts kam. Alles zeigte, daß er selber sich außerhalb seines eigenen Ge.
setzes fühlte und daß er seinen Stützpunkt nicht im Reiche als solchem, sondern
in europäischen Combinationen wußte: Bestrebungen, die einen merkwürdig
modernen Charakter tragen. Ihre Wirkung auf die Vorgänge innerhalb des
Reiches war schnell und entscheidend. Den kaiserlichen Verfassungsbruch nützten
die Städter als Signal, um sich des Druckes, der aus ihnen lastete, mit den
Waffen zu erwehren, ^hre großen Erfolge in Schwaben, wo der Graf von
Würtemberg 1377 bei Reutlingen niedergeworfen wurde, bestimmten den Kaiser,
einen Schritt zurückzuweichen. Nur um so fester und drohender schlossen sich
die feindlichen Gruppen des Adels und der städtischen Communen gegen einander
ab. Unter Wenzel kam es denn nun zum unvermeidlichen Bürgerkrieg im
großen Maßstabe, Die Noth trat an den Mann; auch der Burggraf Friedrich
der Fünfte, nachdem er wiederholt vermittelnd zwischen die Gerüsteter getreten
war und nur mit Mühe vorläufigen Waffenstillstand durchgesetzt hatte, wurde
endlich doch in den Kampf gegen die Städte hineingerissen. Die Fürstenpartei,
die sich auf diesem Wege eng zusammenschloß, drohte auch dem Kaiser Gefahr.
Wenzels haltlose Politik war das Eingeständniß, daß er die Unrechtmäßigkeit
seiner Wahl empfand. Durch die Parteinahme für die Städte, und nach ihrer
Niederwerfung bei Dössing und Worms durch das Verrätherische Laviren zei>
tigte er sein wohlverdientes Verhängnis;. Die Ausbeutung des Sieges der
Fürsten über die Städte hatte der Burggraf gemäßigt. Sein Gerechtigkeitssinn
führte ihn in die mittlere Züchtung, die im Frieden von Eger Bestimmungen
durchführte, bei welchen sich die Besiegten füglich beruhigen konnten. Aber mit
Wenzel hatte er abgerechnet. Er war überzeugt, daß unter seinem Regimente
kein Gedeihen möglich war, und trennte sich von seinem Bruder, da dieser
beim Kaiser aushielt. Aber wie und wo den Hebel einsetzen, um das Ver¬
sunkene Reich wenigstens so weit aufzurichten, daß ein thatkräftiger Fürst die
Ordnung herzustellen unternehmen konnte? So viel war klar: es mußte, wohl
oder übel, an bestehende Anhaltepunkte angeknüpft werden. Daß es dabei nur
möglich war, Unrecht durch Unrecht zu vertreiben, hat der Burggraf nicht ver¬
schuldet. Nur um sie zu Gunsten des Reiches mitteilten zu können, schloß er
sich der Fürstenbewegung an, die in den wittelsbachischen Intriguen ihre Trieb¬
feder hatte. Ihre Verzweigung nach Frankreich durch Vermittlung der bay¬
rischen Jsabeau und des früher der Partei Wenzels anhängigen Herzogs von
Orleans, des Führers der raubsüchtigen französischen Adligen, ihr Ausgangs¬
punkt, der auf den Streit im Mainzer Hochstifte zurückwies. bei welchem Pfalz¬
graf Ruprecht der Zweite den im Widerspruch gegen die Capitelwahl vom römi¬
schen Papste patronisirten Johann von Nassau unterstützte — alles zeigte, daß
sie fast keinem der widerwärtigen Conflicte fremd war, welche das Reich und
seine Nachbarschaft bewegten.
Obenan stand aber damals die trostlose Frage des Kirchenschismas. Mit
ihm war das letzte, höchste Band gelöst, welches wenigstens formal eine Einheit über
Alle dargestellt hatte. Nur um so nackter offenbart sich seitdem in allen poli¬
tischen Vorgängen die emancipirte Leidenschaft, es tritt überall etwas Roh--
elementarischcs zu Tage. Ganz besonders in den Machinationen, die endlich
zur Wahl Ruprechts des Dritten von der Pfalz führten. Es ward angedeutet,
daß auch Burggraf Friedrich dem marburger Fürstcnverein angehörte, der sie
zu Wege brachte. Seine Motive sind nicht nach allen Seiten erkennbar, aber
daß weder seine Verschwägerung mit dem Pfalzgrafen noch persönlicher Vortheil den
Ausschlag gab. darf behauptet werden; er wählte eben unter großen Uebeln
das kleinere. Es war nicht seine Art sich den Konsequenzen des verfänglichen
Schrittes zu entziehen, zu dem er mit gerathen. Redlich und an erster Stelle
hat er die Absetzung Wenzels, die Anerkennung Ruprechts betrieben; und mehr
noch, er zog mit ihm nach Mailand, um durch Wiederherstellung der von
Wenzel zu Gunsten der Visconti preisgegebenen Neichsautorität dem Gegenkaiser
die neue Krone und die Popularität sichern zu helfen. Aber das Unternehmen,
ein Mehrer des Reichs zu werden, ehe er ein Besitzer desselben war, mißlang
Ruprecht aufs kläglichste; so auch die meisten seiner Regicrungsacte in Deutsch¬
land; so endlich der Römerzug, der überdies nur auf Grund einer Thatsache
hätte ausgeführt werden können, welche die schiefe Ebene seiner ganzen Position
hervortreten ließ und ihm den geringen Rückhalt an der öffentlichen Meinung
Völlig verdarb. Er hatte mit dem in Rom residirenden Papste die gegenseitige
Anerkennung ausgetauscht und forderte die Entsetzung des avignvnischen, jetzt,
wo bereits der Gedanke einer bis dahin unerhörten Neutralität durchgedrungen
war, vermöge deren man sich über jede Obedienz gegen die vorhandenen Prä¬
tendenten der Tiara hinwegsetzte.
So wurde Ruprecht ohnmächtig zur Seite geschoben. Das Concil von
Pisa setzte bekanntlich 1409 beide Päpste ab und an ihre Stelle einen dritten.
War aber nicht im Stande diesem auch die factische Macht in die Hände zu
liefern. Infolge dessen geschah es, daß sich alle drei Unfehlbarkeiten sich gegenseitig
verfluchend behaupteten. Die Wirkung davon war heillos. Nicht, daß die
Entsittlichung der Kirche jetzt erst begonnen oder auch nur ihren Höhepunkt
erst erreicht hätte; schon seit sie die Herrschaft der Welt den Hohenstaufen ab¬
gewann, hatte sie so viel Schaden an der Seele genommen, daß sie nicht mehr
blos ein entartetes Werkzeug ihrer großen ursprünglichen Gedanken, sondern
die völlige Verkehrung derselben darstellte. Das System der Menschensatzung.
Gaukelei und Willkür, welches jetzt ihren Inhalt ausmachte, war lauge aus¬
gebildet und eingewurzelt; aber jetzt auf ein Mal, als die päpstliche Herrlich¬
keit zur Carricatur geworden, jetzt erst wurde man inne und wagte man sich
zu gestehen, daß es so sei. Und welche Aengstigung der Gemüiher, welche
Verwirrung der Geister, welche Verödung der Herzen und Gewissen, die dieser
furchtbaren Erkenntniß folgte! Allenthalben wurden Seufzer laut wie Stimmen
in der Wüste, Stoßgebete, Flüche, Beschwörungen, die Buße, Umkehr und Er¬
neuerung predigten. Und diese Verzweiflung herrschte nicht blos im geistlichen
Leben, sondern auch im politischen. Denn Abfall, Gewaltlust und Selbst¬
gerechtigkeit wucherte allenthalben.
„Besserung an Haupt und Gliedern!" — war die Losung der ticfsluthen-
den Bewegung dieser merkwürdigen Zeit. In diesen, Wunsche fühlten alle
Kreise und Stände, alle Nationen sich einig, die an der europäischen Cultur
Theil hatten. Alles verlangte ein neues allgemeines Concil. Und man hatte
etwas gelernt durch das freilich erfolglose Pisanum: man fühlte die Solidari¬
tät des politischen und kirchlichen Interesses. „So lange es nicht einen ge¬
rechten, strengen, allgemeinen Kaiser oder König giebt, wird das Schisma nicht
blos dauern, sondern man muß besorgen, daß es immer ärger werden wird."
So schrieb Gerson, der Kanzler der pariser Universität, von Pisa aus und
diese Einsicht fand überall Eingang. Daher der Aufschrei nach einem Kaiser,
einem mächtigen und rechtschaffenen Führer. „In der Sehnsucht der Nation
lebte noch der ghibellinische Gedanke;" jetzt in der Tiefe ihrer Noth fand sie
ihn wieder. Von wannen aber sollte der Retter genommen werden?
Was sich im Reiche wirklich und ernsthaft die kaiserliche Partei unter den
Fürsten nannte, richtete das Augenmerk auf Sigismund von Ungarn. Nicht
weil er Luxemburger war und der Sohn jenes bedeutenden Karl, noch auch
darum, weil seine Vergangenheit ihn etwa als Ideal eines Fürsten hätte er¬
scheinen lassen, noch endlich deshalb, weil er sich eine freie Stellung gegenüber
dem kirchlichen Conflicte bewahrt hatte, sondern vor allem darum, weil er kühn
und wehrhaft für das Seinige gegen die Ungläubigen eingestanden war, wen¬
deten sich ihm die Sympathien zu. Gleichviel, daß Ungarn, der ferne Vorposten
des Reiches, der Schauplatz seiner Thaten gewesen; gerade die Entfernung brachte
ihm den Vortheil, daß sein Name nach andrer Beziehung noch unverbraucht
war in der Nation. Wenn er nicht der war, den man ersehnte, so konnte man
hoffen, ihn dazu zu machen durch diese Berufung. Am 20. Sept. 1410 erfolgte
seine Wahl. Ein seltsamer Act: er fand draußen vor der Thür der Bartholo-
mäuskirche in Frankfurt statt, die der widerwillige Kurfürst-Erzbischof von
Mainz den Wählenden verschlossen hatte. Dort am Chor hinter dem Frohn-
altar traten die Fürsten zusammen, lasen die Messe. leisteten den Schwur, ließen
das Gefolge abseits treten und wählte». Unter ihnen mit der Vollmacht des
Ungarnkönigs Friedrich der Sechste von Zollern. Er war es, der erklärte, „daß
er sich des heiligen Reiches an Statt und im Namen des Königs in Gottes
Namen annehme."
Wie hätte der Burggraf fehlen sollen bei einer solchen Handlung! — aber
wie kam er in dieses Verhältniß dazu? Nicht zufällig, sondern wohlverdienter
Maßen gab er, man kann sagen den Gewährsmann dieser That ab. An Si-
gismunds Seite hatte er sich in den Kämpfen, die zur Behauptung Ungarns
geführt wurden, die Sporen verdient; sein Rath und seine Energie hatte den
Ausschlag gegeben bei dem ganzen Plane. Und nicht leichten Kaufes wurde
das kühn Begonnene durchgeführt. Erst wiederholte mißliche Verhandlungen
mit der Partei Wenzels und der Territorialen stellten die Wahl des Königs
von Ungarn sicher. Aber gleichviel, welche Opfer es gekostet hatte: vom Volke
ist er mit Jauchzen bewillkommt worden. Es war wieder einmal wirkliche, hin-
gebende Begeisterung in den Kundgebungen der Nation. Mochten unter den
Fürsten etliche lauernd bei Seite treten, andere sich trotzig auflehnen: ihr schien
ein Heiland gekommen; ein schöner gläubiger Zug zwang die Massen ihm zu.
In den, gelehrten wie in den heilig-trivialen Doctrinen von der Autorität des
obersten Hauptes, wie sie damals laut wurden und allenthalben variirt die
Gedanken der Nation durchdrangen, wurde es kund, wie hoch von Nöthen ein
echter König war, „des Name Regent heiße um des Willen, weil er das ihm
unterthänige Volk regieren, das heiße, es zu seinem Ziele leiten müsse, zu po¬
litischer und moralischer Glückseligkeit, zu Frieden und Wohlstand, zu Ehrbarkeit
und würdiger Gottesverehrung."
Bei weitem das wichtigste Zeugniß für den großen Sinn, in welchem
Sigismund die neue Bahn betrat, lag in dem Schritt, mit welchem er seine
Regierung inaugmirte. Er übertrug die Hauptmannschaft in den Marken, welche
nach Josef Tode ganz an ihn gekommen war, dem Burggrafen von Nürnberg
und vervollständigte kurz darauf die Erhebung desselben durch Uebertragung der
Ku»- und Erzkämmererwürde. Dieser Act war gleich bedeutsam für das Reich
wie für jene Länder. Es ist gezeigt worden, daß unter den damaligen Fürsten
keiner war, der in seiner Stellung „als Edelmann des Reiches" so sehr seine
Ehre und Pflicht suchte wie Friedrich von Hohenzollern, in dessen Hause diese
Auffassung des Fürstcnberufcs seit Jahrhunderten Tradition war. In ihm
bekam der Gegensatz der territorialen Richtung nicht nur Sitz und Stimme im
mitrcgierenden Reichscollcgium, sondern zugleich eine Macht, die. richtig genützt,
alle andern Kurhäuser überbot, selbst Böhmen nicht ausgenommen, vor welchem
sie den Stammbcsitz inmitten des Reiches voraus hatte. Aber es war ein
starkes Stück Arbeit, das der neue Markgraf auf sich nahm. Wir sahen, wie
jene Gebiete sich aus dem Reiche „hinausgelebt" hatten, als dessen eigentlicher
Sitz je länger je mehr der Südwesten Deutschlands betrachtet worden war.
Auffällig gering war der Antheil, den damals und zum großen Theil auch später
noch die niederdeutschen Lande insgesammt an den Geschicken der Nation ge¬
nommen haben. Sie glaubten sich selber zu tragen und wollten auch nur sich
selber leben. Diese Selbstlust führte, wie wir sahen, dahin, daß sie sich all-
mälig in ihre ständischen Elemente zersetzt hatten, unbekümmert um die Gefahr,
von den fremden Nachbarn nach und nach verschlungen zu werden. Jeder Machte
nur darauf, sich seiner Haut zu wehren. Kein anderes Gefühl der Gemein¬
samkeit war in diesen Rcichsatomen. als dasjenige des materiellen Interesses.
Droysen bezeichnet es treffend als „das letzte Aufleuchten des ghibellinischcn
Gedankens", daß mit einem Zuge nicht nur der Staatslosigkeit, sondern auch
der Entfremdung von Deutschland ein Ende gemacht wurde. Und mehr noch:
während es scheinen konnte als sei das altkaiserliche Princip aus dem Reiche
verwiesen, da man den Burggrafen in die Marken ziehen sah, wurde in Wahr-
heit dort vielmehr ein Stützpunkt geschaffen, von welchem aus die alte Reichs¬
welt in den Angeln zu bewegen war. Wir deuten dabei nicht blos drei und
vier Jahrhunderte weiter auf den großen Friedrich und die Freiheitskriege, son>
dem schon damals im Frischer hat sich gezeigt, daß die Natur der Beziehung
Brandenburgs zum Reiche diese Fähigkeit barg, wennschon das Verhältniß zu¬
nächst die Gestalt wiederholter schwerer Opfer trug.
Urkunde und Mißgunst haben nicht verabsäumt, die Motive, welche jener
Erhebung des Zollernhauses zu Grunde lagen, zu bemängeln, und das große
Gewicht ihrer Folgen auf die zufällige Ursache einer Schuldverschreibung zurück¬
zuführen. Man bedient sich dabei als Beweises der Thatsache, daß König
Sigismund den Burggrafen bei der erblichen Verleihung der Hauptmannschaft
für die Summe von 100,000 Goldgulden auf die Marken angewiesen hat.
Dies ist gerade im entgegengesetzten Sinne ein Umstand von Wichtigkeit. Denn
die Marken wurden dem neuen Hauptmann nicht übergeben, damit er sich an
ihnen für eine Schuld des Königs schadlos halte, sondern das Geld wurde ihm
als Entschädigung für die Mühen und Kosten zugesichert, die er — wie der
König überzeugt war — an die Durchführung seiner Aufgabe setzen werde.
Ausdrücklich so weist es die Urkunde aus; wie auch die weitere Verschreibung
infolge des Abkommens mit König Wenzel durch die Absicht begründet wird,
das Fürstenthum der Marken „desto geruhlicher in ein ordentliches Wesen und
gute Sasse zu bringen." Daß aber Sigismund dabei mit Nichten einen Raub
am Lande beging, lehrt zum Ueberfluß die Motivirung seines Beschlusses den
märkischen Ständen gegenüber. Er sprach da, um die Herren Stände nicht
kopfscheu zu machen, glimpflicher Weise nur von „Anfechtungen, Kriegen und
Versetzungen, durch welche die Nutzungen, Zinsen und Renten der Markgraf¬
schaft so klein geworden seien, daß der Burggraf zur Führung der Hauptmann¬
schaft des Königs besonderer Hilfe bedürfe, wenn man ihn nicht in die Gefahr
bringen wolle, sein eignes Vermögen zuzusetzen;" aber gemeint waren damit
vor allem die Zugriffe und Anmaßungen gegen den landesherrlichen Güter- und
Rechtsbestand. Mit Worten und Papier hatten die Ktände sich gehorsam zur
Huldigung erboten, in der betrüglichen Hoffnung, es würde nichts Rechtes aus
der Sache werden; waren sie doch in der Erfahrung groß geworden, daß alle
solche Ankündigungen fürstlicher Restauration sich unwirksam erwiesen hatten.
Gewitzigt aber durch die Maßregeln König Karls hielten sie es für gut, sich
jetzt gleich vor dem ersten wirtlichen Schritte zu hüten. Als mit des neuen
Hauptmanns Vollmacht Wand von Eilenburg zu ihnen kam. um sich im
Interesse ihres anerkannten Herrn zu onentiren, begaben sich die Einen wieder
in die Obhut ihres ehemaligen Hauptmanns Swantibor von Pommern-Stettin;
Andere erklärten, lakonisch und beharrlich, „Kaspar Gans von Puttlitz sei ihnen
Markgrafs genug." Auch die Städte machten es nicht besser. Alle waren
dann einig, sich „des Tantes von Nürnberg" zu erwehren. Nach Jahresfrist
kam mit stattlichem Gefolge aus Franken der Burggraf selber ins Land. Mit
guter Absicht trat er höchst mild und gelassen auf. Aber auch er erlangte zu-
nächst nur von Einzelnen die Huldigung. Die „Schloßgesessenen" zumeist
behandelten ihn ebenso geringschätzig wie seinen Gesandten. Die Puttlitz,
Quitzow, Rochow, Jagow, Bredow, Schulenburg. Alvensleben und andere,
»steuerlos Volk" — verbanden sich eidlich, ihm zu trotzen: „und regnete es noch
ein ganzes Jahr lang Nürnberger, sie wollten ihre Schlosser schon behalten!"
Die Maxime des Burggrafen ist nachmals treffend bezeichnet worden: „der
Gegner müsse sich erst ganz ins Unrecht setzen." Nach diesem Gedanken ver¬
fuhr er und er war hier, wo es die landesherrliche Macht auszurichten galt,
ebenso weise als ersprießlich. Es kam darauf an. wer das Warten länger aus.
halten könne und am Schlüsse der Stärkere war. Um den Widerspenstigen
die Hinterthüren zu versperren, machte Friedrich mit den fürstlichen Nachbarn
seinen Frieden. So mit Magdeburg, Sachsen. Braunschweig. Mecklenburg und
Pommern-Wolgast. Aber die jungen Herren von Pommern-Stettin meinten
mit ihres Baders Regierung auch die Pfandherrlichkeit von Schlössern in der
Uckermark überkommen zu haben, und traten mit gewappneter Hand dem Burg
grasen in den Weg. Gleichzeitig wurden auch die kleinen Herren munterer.
Des aufgerichteten Fürstenfricdens ungeachtet erhoben etliche die altgewohnte
Raubfehde, sielen in benachbartes Gebiet ein.
Der Burggraf, durch anderweite gute Erfolge in seiner langmüthiger
Politik bestärkt, hatte es über sich gewonnen, zunächst nur beim königlichen
Hofgencht zu klagen. Die Vorladung von dort fruchtete nicht; die Reichsacht
stand bevor. Da, in der elften Stunde, bequemten sie sich zur Huldigung.
Friedrich verfuhr äußerst schonend; nur wenige der von den Renitenten inne<
gehaltnen Schlösser löste er wirklich ein, die andern behielten sie gegen die Ver-
pflichtung. ihre Dienste darnach zu leisten. Man weiß, daß sie betrüglich
schwuren. Bei einer der ersten Gelegenheiten, die ihre Sinnesänderung zeigen
sollte, erneuten die Hauptjunter — die Quitzows voran — ihr sauberes Ge¬
werbe; stracks aus dem Lager des Burggrafen ritten sie ins Magdeburgische
M Plünderung. Der Gewalthaufen bekam Zuzug; alle Aufforderungen, zu
denen sich der Burggraf auch jetzt noch verstand, blieben erfolglos. Nun war
es an der Zeit, den entscheidenden Streich gegen sie zu führen. In Gemein¬
schaft mit dem bedrohten Erzbischof von Magdeburg traf Friedrich seine An¬
stalten. Endlich brach er los. Die Burgen wurden überfallen, erstürmt, ein¬
gezogen; die Haupthelden der Anarchie ergriffen. Auf Gnade und Ungnade
waren sie in des verhöhnten Herrn Gewalt. Niemand konnte es hindern oder
strafen, wenn er ihnen die Köpfe vor die Füße gelegt hätte. Er unternahm
das Größere, diese übermüthige, entartete Kraft in den Gehorsam des Gesetzes
zu zwängen. Auf Wiederherstellung stand sein Streben, er fand seinen
höchsten Ehrgeiz darin, die widerstrebenden Elemente zum Gefühle der Staats¬
ordnung zu erziehn. Deshalb will es mehr sagen als peinlich Gericht, wenn
er seinen Sieg damit feierte, daß er jetzt, 1414, seinen märkischen Land¬
frieden „mit Rath, Willen und Vollwort der Prälaten und Herren, der Mann¬
schaft und Städte" aufrichtete. Dadurch „verzichteten die Stände auf alle jene
zweideutigen Steigerungen ihrer politischen Stellung, wie sie ihnen trotz dem
Rechte und trotz dem Wesen staatlicher Ordnung die Gewohnheit gebracht hatte."
Seine Satzungen bringen nichts Neues, es sind die elementaren Staatsgrund¬
sätze, die sie wiederholen; der alte einfache Gedankengang, daß der Friede des
Fürsten verbindlich sei für männiglich; ferner daß diejenigen, welchen Gerichte
zustchn, dieselben redlich bestellen sollen, endlich daß der Landesherr jeden Ueber,
fahrer dieser Gesetze „zu Leib und Gut richten solle, als sich das von Rechts¬
wegen gebühren wird". Aber gerade vermöge ihrer Selbstverständlichkeit, die
freilich damals lange noch nicht allerorten einleuchtete, wirkten sie als um so
schärferes Urtheil der augenblicklichen Zustände. Jetzt war alle Selbsthilfe so¬
wohl innerhalb des Landes als auch nach außen durch die öffentliche Sittlichkeit
als Frevel verdammt und die privatrechtliche Auffassung des Auftrags mit
Waffen abgethan. Die Pflege der Gerechtigkeit, die lediglich zur Ausnutzung
zufällig erworbener Rechte herabgewürdigt war, sollte wieder im Auftrage der
Landesobrigt'an und mit dem Bewußtsein geübt werden, daß Gewinn und Ge¬
walt in ihrer Funktion von der Erfüllung der Pflicht abhängig sei, die mit
dem Gericht übernommen werde.
Das Hauptstück dieses Gesetzes aber war'Markgraf Friedrich selber. Die
Fürstenpflicht, wirklich zu regieren, trat mit ihm wieder in Uebung und über¬
nahm die Gewähr dafür, daß des Landes Recht auch gehalten werde. In
allem zeichnet ihn die fürstliche Ueberlegenheit aus, welche die Sicherung ihrer
Macht nicht darin sieht, daß die bestehenden Zustände aufgelöst werden, weil
feindselige Elemente in ihnen ihre Nahrung gefunden haben, sondern in echt
konservativer Weise schonte er das Gewordene, da er sich die Kraft zutrauen
durfte, jedem Mißbrauch und Unrecht zu steuern. Das that er rechtschaffen,
und indem er so nicht als Scherge, sondern als Arzt seiner Unterthanen auf¬
trat, erwarb er sich mit der Achtung und dem Gehorsam auch die Zuneigung.
Er ließ den Ständen ihr gebührendes Maß von Selbständigkeit und die patri-
moniale Gerichtsautorität; aber er controlirte und säuberte sie. Genau nach
Maßgabe der Reichsordnung verfuhr er in seinem Lande; seinen Ständen gegen¬
über war er der Kaiser, wie er dem Kaiser gegenüber Stand war. Auf diese
Weise richtete er in seinen Marken einen Zustand auf, welcher ihm als die
Summe der Reform vorschwebte, deren das Reich bedürfe. „Zu ihrem Gelingen
ist ja nur erforderlich, daß des Reiches hochberufene Aristokratie nach ihrer
geschwornen Pflicht gegen Kaiser und Reich handle; daß sie aufhöre, an Kaiser
und Reich Wucher zu treiben."
Frisch von der grundlegenden Arbeit im eigenen Hause hinweg wurde der
Burggraf wieder an des Königs Seite berufen, um die Besserung des Reiches
fördern zu helfen. Es geschah unter glücklichen Vorbedeutungen: 1417 am
18. April erfolgte in Konstanz seine Belehrung als Markgraf und Kurfürst.
Näher noch als die neue Würde verband ihn, wie wir sahen, seine Gesin¬
nung und seine Politik mit dem Könige. Er wurde bald dessen vornehmster
Berather in Reichsgeschästen. So schwunghaft und freudig wie alle Probleme,
deren Lösung er auf sich genommen hatte, griff Sigismund auch diese schwer be¬
schädigte Hinterlassenschaft seines Vaters, die Reichsreform, an. Und keineswegs
mit unbedachter Hand. Auch an Energie hatte es seinem ersten Auftreten in dieser
Richtung nicht gefehlt. Die Bestrafung Leopolds von Habsburg, der seiner
Autorität gröblich gespottet hatte, war allenthalben von größter Wirkung ge¬
wesen. Allein Sigismund. ein unvorsichtiger Strateg, hatte in sanguinischen
Vertrauen seinen Sieg nicht gleich verfolgt. Die erschreckten Fürsten bekamen
Zeit, sich zu sammeln und Als er seine politischen Pläne nach zwei Jahren
unverantwortlicher Zögerung von neuem aufnahm, war er es allein, welcher
wähnte, daß er da wieder anfangen könne, wo er aufgehört hatte. Immerhin
machten die Entwürfe, mit denen er hervortrat, wenn sie auch nicht durchaus
sein geistiges Eigenthum waren, seinem staatsmännischen Talent alle Ehre.
Nur sollte er alsbald darüber aufgeklärt werden, daß aus den Klagen über die
Unerträglichst der öffentlichen Zustände, wie sie von allen Seiten erhoben
wurden, auf nichts weniger als auf Bereitwilligkeit zum Zweck der Abstellung
des Unwesens geschlossen werden dürfe. Der Cardinalpuntt war der Land¬
frieden. Alle Vorschläge und Versuche ihn durchzuführen scheiterten. Die Fürsten
hatten ihren Nutzen von den Fehden auf eigne Hand und die Städte, denen
der König ein Sondcrbündniß unter seiner eignen Hauptmannschaft antrug,
schoben die Sache, die ihnen „nicht gelegen, nützlich noch kommlich" sei, mit
ihrem altherkömmlichen Mißtrauen von der Hand. Alles was auf mehr als
vereinzelte locale Anordnungen hinauslief, siel zu Boden, nicht immer ohne
Verschuldung Sigisnrunds, der die erste staatsmännische Tugend, die Geduld
nicht kannte. Die Neichsgetreuen mußten es daher für eine höchst glückliche
Wendung halten, daß er bei seinem bevorstehenden Weggange rü seine Erd¬
taube den Markgrafen zum Reichsverweser bestellte. Er hatte bewiesen, wie
Viel mit starkem , beharrlichem Willen durchzusetzen war. Anfänglich gelang es
ihm auch vermittelst der Fürstcntage. die er berief, mancher drohenden Gefahr
vorzubeugen, den Ausbruch der Gewaltthaten wenigstens hinzuhalten, welche
durch die neuen Fürstenbündnisse vorbereitet wurden. Aber der Umstand, daß
ihm, dem Emporkömmling unter den hohen Häuptern, wider Gewohnheit die
Statthalterschaft übergeben war, trug andrerseits wieder dazu bei, den Ueber¬
muth der Gegner zu reizen. Und mochte auch der Markgraf noch so eifrig
und geschickt die Dinge angreifen, es war auf die Dauer eitles Bemühn.
Denn es fehlte ihm der nothwendige Rückhalt am Kaiser selbst, dessen Rolle
im Reich so gut wie ausgespielt war. Selten, darf man sagen, ist ein Fürst
mit redlicherem Willen an ein größeres Tagewerk gegangen; selten ist und hat
sich keiner bitterer getauscht als Sigismund. So glänzend seine Anfänge gewesen
waren, sein ganzes Auftreten litt an der Unzuverlässigst des Dilettanten,
und überdies kämpfte er jetzt schon lange mit zerbrochenen Schwert.
Die imposante Stellung, die er als Schirmvogt und Haupt jenes Conciles
zu Konstanz einnahm, das zu einem Parlamente der Christenheit wurde; das
hohe Pathos, welches allen seinen Negicrungsacten jener ersten Zeit den Stempel
alter Kaiserherrlichkeit verlieh, spannte die Erwartungen der Nation ins Un-
gemessene. Aber sein anfängliches Glück verblendete ihn. Es riß ihn zu der
Ueberschwänglichkcit fort, den Machtumfang des weiland christlich-germanischen
Reiches wieder zu usurpiren. Die Rundreise, die er zu diesem Zwecke unter¬
nahm, mißglückte und kostete ihm obendrein seine alte Stellung dem Concile
gegenüber, durch dessen Papst, Martin den Fünften, der Glanz seiner Majestät
verdunkelt, sein Einfluß auf die Kirche beseitigt wurde. Dies alles konnte er
weder verhüten noch hinterher wieder gut machen, nachdem er bei Hussens Pro¬
ceß der persönlichen Versuchung erlegen war, die an ihn herantrat. Das Concil
wollte nicht mehr erstreben und schien nicht mehr erstreben >u dürfen, als die
Reform der Kirchenverfassung; die Frage des Dogmas wies es ab und darum
zunächst verdammte es den Urheber. Sigismund aber, der die gottgegebene
Natur seiner Macht unabhängig und unberührbar von menschlicher Sündhaf¬
tigkeit glaubte und in der Anerkennung dieser Auffassung die Gewähr des neuen
Regimentes suchte, das er auf sich genommen, ihn traf der sittliche Rigorismus
des böhmischen Magisters wie ein Attentat; die Abwehr war, daß er ihn fallen
ließ und dem Scheiterhaufen überlieferte.
Hier liegt der Wendepunkt seiner und der deutschen Geschichte. Es war
eine unheimliche Gleichzeitigkeit gewesen, daß in den Tagen von Sigismundö
erster Wahl die Nachricht von der tanncnberger Schlacht ins Reich gedrungen
war. Was der Rabenschrei bedeutet hatte, offenbarte sich nun: der Ausbruch
der böhmischen Revolution verwandelte die Gestalt der Dinge von Grund aus.
Denn diese -hussitische Empörung war wie für die Kirche so für das Reich ein
völlig unerhörtes Erlebniß. Jeder Tag erneute die Erfahrung, daß das Zu-
sammenwirken der politischen, der religiösen, socialen und nationalen Bewegung,
wie es hier zum ersten Male hervortrat, alle bestehenden Bildungen mit dem
Untergang bedrohte. Und an Sigismunds Name» haftete nicht blos der Fluch
der That, welche die grollenden Geister entfesselt hatte, sondern seit Wenzels
Tode auch der Anspruch der Herrschaft über Böhmen. Auch ohne dieses
gesteigerte persönliche Verhältniß zu den Vorgängen im Osten war der König
zunächst auf die Bewältigung seines Ervlandes angewiesen. Die cechische Er¬
hebung als die eine Seite der panslavistischen Bewegung, die zwei Menschenalter
hindurch die mitteleuropäische Welt in Spannung hielt, war lange vorbereitet.-
Immer einseitiger wurde der König in die Interessen seiner Haustaube hinein¬
gebannt. Und hätte er wenigstens jetzt seine Schritte klug und klar bemessen;
aber dank seiner unfertigen Natur taumelte seine Politik zwischen den Gesichts¬
punkten der früheren und der jetzigen Lage hin und her. Das zeigte sich nicht
blos in dem geradezu feindseligen Verhalten in der schleswigschen Frage, son¬
dern bezeichnender noch in der Art und Weise, wie er die polnisch-böhmischen
Angelegenheiten behandelte. Seine Opposition gegen den Papst, der mit der
Mehrzahl der deutschen Fürsten, unter denen natürlich auch der Burggraf war,
für den deutschen Orden eintrat, hatte den König in die Parteinahme für Po¬
len gedrängt, ja er vergaß sich so wett, unter der Hand dem König Wladis-
laus seine günstige Entscheidung eidlich zuzusagen. Mittlerweile war er zur
Besinnung gekommen und sein Schiedspruch fiel gegen, die Polen aus. Aber
während er schwach genug war. diesen auf ihre Bezüchtigungen zu erklären, daß
er von den Klerikern berückt worden sei, überspannte er andrerseits seine For¬
derungen gegen Böhmen in einem Augenblicke, wo es gelungen wäre, ihrer
Meister zu werden und dadurch gegen Polen den Rückhalt zu gewinnen. Dies
hätte erfolgen müssen, wenn er den Rath des Markgrafen geachtet hätte. Sein
Gedanke war gewesen. Sigismund solle mit Mäßigung gegen Böhmen ver¬
fahren, das er nur dann gewinnen könne, wenn er aufhöre, neben der politi¬
schen auch die religiöse Frage zu betonen. Er hörte nicht. Der Erfolg war
die grimmigere Auflehnung der Cechen, ihre erneute drohendere Verbindung
mit Polen. Schlimm genug, daß es gerade in dieser Zeit zwischen dem Kaiser
und dem Markgrafen zu einem andauernden Bruche kam, aber daß es so werden
würde, war vorauszusehen. Sigismunds Starrsinn trug die Schuld an der un¬
heilvollen Wendung, die Friedrich mit höchster Anstrengung zu verhüten gestrebt
hatte; nichtsdestoweniger war er es, der den größer» Theil der Arbeit, Mühsal
und Gefahr auf sich nahm, die daraus folgten. Er, dessen „Begehr gänzlich
aus Frieden stand", hat nun viele Jahre lang das Schwert nicht ir/die Scheide
stecken dürfen. Denn wieder lohte jetzt auf ein Mal allerorten das Feuer auf,
und durchaus nicht immer gelangen ihm so glückliche Schläge wie der bei Anger¬
münde, wo er (1420) seine Marken gegen die slavisch-dänischen Gelüste sicherte.
Man kennt vielmehr genugsam die traurigen Jahre der Böhmenkriege, die nicht
einzeln betrachtet werden sollen. Die Sache war einmal verkehrt angefaßt
und konnte nur bittre Früchte bringen. Nicht aber die unablässigen und frucht¬
losen Opfer, welche dem Markgrafen durch die falsche Behandlung der böhmischen
Frage auferlegt wurden, waren es, welche ihn endlich in direkte Opposition gegen
Sigismund versetzten, sondern weil er erfahren mußte, daß des Kaisers Politik
mit der wachsenden Noth immer undeutscher und unkaiserlicher wurde. Er be¬
handelte die Angelegenheiten des Reiches lediglich nach dem Maßstabe seines
augenblicklichen Vortheils. Der alte heillose Wucher mit der höchsten Rechts-
autvrität kam wieder in Schwang. Friedrich fühlte das Recht und die Pflicht
kaiserlicher zu sein als der Kaiser. Auf dem nürnberger Reichstage von 1422
fühlte Sigismund zuerst den Gegendruck der markgräflichcn Politik. Den Mittel¬
punkt der Verhandlungen bildete die Angelegenheit der Reichskriegssteuer, ein Pro-
ject, welches nicht blos darauf angelegt war, die über alle Borstellung verkommene
militärische Verfassung des Reiches durch die Revision der Matrikel zu heben, son¬
dern man wollte überhaupt den unmittelbaren Kriegsdienst theilweise durch Geld¬
leistung ersetzen. Der Manndienst auf Zeit hatte niemals mehr als einzelne Feld¬
züge möglich gemacht. Die Lehnsmiliz kam unpünktlich und ging wieder, wenn sie,
es an der Zeit hielt oder wenn Mißgeschick entmuthigt hatte. An wirklich einheitliche
Leitung war ohnehin nicht zu denken; dasRcichsheer war eben eine Summe be¬
waffneter Haufen, aber kein militärisches Ganzes. Mit Hilfe der Neichstriegssteuer,
welche für einen großen Theil der Rcichsverwandten nur das Budget festsetzen,
aber die Wahl des Materials freigeben sollte, dachte man einen sogenannten
„täglichen Krieg" in Gang zu bringen, d. h. das Heer sollte im Felde bleiben
und dadurch Kriegsübung erlangen, was bei jedes Mal neu zusammenlaufenden
Truppen nicht zu erreichen war. Man erkennt auf den ersten Blick, von wel¬
cher Wichtigkeit diese Neuerung damals sein mußte, wo die alte faule Neichs-
kriegsconfusion sich mit einer Kraft zu messen hatte, die aller Berechnung
spottete; haben diese Zizkaschen Bauerncvhortcn es doch dahin gebracht, daß
«und bei noch so überlegener Zahl alle die periodischen Invasionen, welche die
Kreuzzüge gegen Böhmen vorstellten, in Wirklichkeit höchstens zu ganz unglück¬
lichen Vertheidigungen führten. Mehr aber noch als auf die Reorganisation
des Kriegswesens im Allgemeinen kam es besonders dem Markgrafen jetzt darauf
an, daß der Sache des Kaisers nicht anders als von Neichswegen gedient
werde. Mit außerordentlicher Rührigkeit warb er, diesmal von der Mehrheit
der Fürsten unterstützt, in dieser Richtung. Die Absicht, so natürlich und
loyal sie war, bedeutete bei der gegenwärtigen Lage der Dinge für Sigismund
eine empfindliche Einschränkung. Das gründliche Mittel, die Erhebung des
hundertsten Pfennigs zum Behuf der Organisation eines Svldheercs, blieb im
Project wie alle umfassenden Ncsormcntwürfe. Es scheiterte vornehmlich am
Widerwillen der Städte, denen die Steuernase hier besonders fatal sein durfte,
da durch die Taxation des Einkommens ihrer geheimen Prosperität eine kost¬
spielige Beleuchtung drohte. Nur der principielle Zweck Friedrichs ward er¬
reicht: der Krieg gegen Böhmen wurde als Neichstrieg beschlossen und er er-
hielt den Oberbefehl mit ziemlich vollmächtigen Befugnissen zur Unterhandlung.
Den traurigen Erfolg zu verhüten war er trotzdem außer Stande. Die Elen¬
digkeit der deutschen 'Militärverfassung erhielt in der „Husserei" ein noch deut¬
licheres und wirksameres Brandmal als das gewesen war. welches die schwei¬
zerische Bauernkeule dem Harnisch der östreichischen Rittergeschwader aufgedrückt
hatte.
Die diplomatische Niederlage Sigismunds hatte zur Folge, daß der Ge¬
danke eines oligarchischen Reichsregimentö unter den Kurfürsten von neuem nach
einer bestimmten Form trachtete. Damals konnte ein Mittel, welches der alles
durchfressenden Anarchie, dem wüsten GewaltfreVel. wie er wieder gäng und
gebe geworden war. wenigstens äußerlich einen Damm entgegensetzte, nur will¬
kommen geheißen werden; nichtsdestoweniger will es als ein völliger Gesinnungs¬
wechsel des Markgrafen erscheinen, daß er der Kurfürsteneinung beitrat. Aber
mit Nichten war es an dem. Als erste Aufgabe mußte, wie wir sahen, dre
Abwehr gegen die Konsequenzen der ausländischem Angelegenheiten gelten,
welche der Politik des Königs die Richtung gaben. „Mußte man innerhalb
der Verfassung und der allgemeinen Rechtsüberzeugung bleiben, um dem Gegner
die Schwäche des Unrechts zuzuschieben, so blieb kein anderer Weg. als d,e
Kraft und das Interesse derer, welche so lange die monarchische Energie der
Reichsgewalt bekämpft hatten, jetzt gegen ihren Mißbrauch in Thätigkeit zu
setzen, die Schwerkraft des Reiches von dem Haupt auf die Föderation der vor¬
nehmsten Glieder zu übertragen." Es ist damals so wenig, wie später zur
Zeit des dahier Conciles. wo die factische Neutralität in der Frage des neuen
Kirchenschismas dem Reiche die Gelegenheit und Muße bot. sich zu constituiren,
zu verfassungsrechtlichen Bestimmungen über diese Abschließung des Reiches ge¬
kommen, die doch eine äußerlich nationale war, wenn sie auch nicht mehr zu
leisten vermochte, als daß durch sie der „Brei" der Zustände conservirt wurde.
Denn in der Zeit, wo alles aus den Fugen zu gehen drohte, gerade damals
geschah alles nur für den nächsten Zweck. Es fehlte nicht an Vorschlägen, an
Mahnrufen und drohenden Forderungen, aber nur um so mehr am Gefühle der
Pflicht, daß der Nothwendigkeit gehorcht werden müsse. Wie klar und über¬
zeugend hat Nikolaus von Cusa der Kirchen- und Reichsreform in ihrer Wechsel¬
beziehung den Weg vorgezeichnet und die Gesichtspunkte angegeben: es war
denen, die Hand anlegen sollten, ein tönendes Erz und eine klingende Schelle.
So klein die Menschen waren, welche diese große Zeit Vorhand, die sich
in den Gemüthern der Masse, hier doctrinär, dort in beschaulicher Abkehr, dort
convulsivisch verkündigte, ganz ohne Wirkung konnten ihre Erfahrungen nicht
bleiben. Aber, was im politischen Leben Deutschlands durch sie gewirkt hat,
war nicht ihre sittliche Seite, sondern das Gesetz der Schwere und des Falls.
Die hussitische Revolution und alles, was ideell und zeitlich mit ihr zusammen-
hängt, gab dem entscheidenden Umschwunge im Reich den Anstoß, aber sein
Resultat ist blos negativer Natur. Die acute Verwundung wird zur Todes-
krankheit: wir sehen den Reichskörper den chemisch-physikalischen Processen der
Auflösung anheimfallen, zufolge deren die materielle Substanz sich selbst zurück¬
gegeben wird; und mehr noch: diesen Zustand fördert und pflegt die Fürsten¬
politik als ihr eigentliches Lebenselement. Die entschwindende Seele ist der
Gedanke der mittelalterlichen Monarchie.
Das waren die Zustände, die über dem Grabe Sigismunds emporwuchsen.
Nicht, daß es seines Hingangs erst bedurft hätte. Wir sahen vielmehr, wie
recht eigentlich die Erfahrung, welche die Nation an ihm gemacht hatte,
den schlecht verhehlten Tendenzen der fürstlichen Aristokratie die abschließende
Bekräftigung und die praktischen Handhaben bot. Darum, weil es diesen Sinn
hat, ist sein Zeitalter ausführlich betrachtet worden. Die Vorgänge, die in ihm
begegnen, verleihen der nachfolgenden Entwickelung jene verzweifelte reale Noth¬
wendigkeit, welche endlich auch die edelsten Vorkämpfer des factisch überwundenen
Staatsideals in den Bann ihrer Logik hineinzwingt. Zugleich aber läßt diese
Spanne Zeit die ganze Fülle der politischen Hilfsmittel offenbar und thätig
werden, welche der großartigste Repräsentant des „neuen Deutschlands". Friedrich
der Erste von Brandenburg, kraft seiner Einsicht von den Pflichten und Auf¬
gaben seiner Stellung in sich vereinigt.
Was hatte der Markgraf nicht daran gesetzt, den alten Neichsbegriff auf¬
recht zu erhalten! Nicht blos Kopf und Hand widmete er diesem Streben.
Jeden Zwiespalt von Pflichten entschied er im patriotischen Sinn; Undank,
Mühsal, Gefahr war sein Lohn — gleichviel, er ließ nicht davon. Die wieder¬
holte anhaltende Entfernung drohte ihm sein heimisches Gut zu entfremden.
Die fränkischen Lande waren mittlerweile zu öfteren Malen furchtbar heimgesucht
worden, theils durch die bestialischer Fehden der Baycrnherzögc. theils durch
die Raubzüge der Hussiten. Noch mehr wollte die Anfechtung sagen, welche
die Marken auszustehen hatten. Die Gewähr ihrer Neugestaltung lag über¬
wiegend in seiner Gegenwart, die niemand ersetzen konnte. Kein Wunder, daß
hier und da die alten Schäden aufbrachen und die Nachbarn sich die Abwesen¬
heit des Landesfürsten zu Nutze machten. Stets gab es saure Arbeit, wenn er
kam und mehr als ein Mal mußte er wieder gehn mit dem Wurm schlechter Erfolge
im Herzen. Aber der kategorische Imperativ seiner Handlungen blieb unwan¬
delbar die Pflicht zum Reiche. Und es hat ihm Segen eingetragen im eigenen
Hause, daß er seines Namens Ehre vor allem in dieses Streben gesetzt. Was
allen andern gleichzeitigen Fürstcnmächten zum schwersten Schaden ausschlug, ist
in den Ländern der Hohenzollern mindestens damals zum Guten gediehn: sein
Erbtheilungsstatut wurde von den Söhnen mit Eintracht und Pietät inne ge¬
halten. Im Hinblick auf Zustände, wie sie in Sachsen der Bruderkrieg, in
Bayern der ruchlose Familienhader, in Oestreich der Betrug und die Hinterlist
der Verwandten zu Wege brachten, konnte von den Nachfahren Friedrichs gesagt
werden, „daß sie aufgewachsen seien als Rosen und gute Blumen zwischen Dorn
und Distel."
Allein konnte dies einem solchen Mann Ersatz gewähren für das Ein-
geständniß, daß die große Mühe seines Lebens doch eitel gewesen sei? Er am
meisten hatte das Zeug dazu, die Tragweite der Zustände, wie sie jetzt im Reiche
waren, zu bemessen. Ihre Unerträglichkeit war allen offenbar, aber darum nur
desto krampfhafter klammerte sich jeder an das nächste Interesse, um in den
allgemeinen Bankerott nicht hineingerissen zu werden. Der blödsinnige Egoismus,
jedes rettenden Entschlusses baar. glaubte in der Fluth, die man Heranrauschen
hörte, sich mit den eigenen Händen selbst über Wasser halten zu können. Ver-
gebens hatten unvcrzückte Seher die Fremdherrschaft verkündet, die über Deutsch¬
land kommen müsse; vergebens darauf hingemiesen, „daß wie das Reich jetzt
von den Fürsten, so diese einst vom Volke würden verschlungen werden." Die
vollendete Frivolität der herrschenden Richtung war gleichgiltig gegen Furcht
und Schande des gemeinen Wesens. Der Name Vaterland und was Heiliges
damit ausgesprochen ist. hatte seinen Zauber verloren.
Welch ein Abgrund, der sich vor dem einsichtigen Blicke des getreuen
Eckart seiner Nation aufthat. Es konnte nur als eine Frage der Zeit er¬
scheinen, daß auch in Deutschland die Spannung zwischen den populären und
den hierarchisch-feudalistischen Mächten in einem Kampfe aus Leben und Tod
ausbrach. Allenthalben standen die lichten Zeichen am Horizont, die Söhne
und Enkel ereilte das Wetter. Und war wirtlich kein Mittel, die Katastrophe
abzuwenden, des Reiches rechten Hort, ein starkes Kaiserthum von neuem auf¬
zurichten? Der sanguinische Liberalismus, der Sigmund getragen. hatte, war
verraucht und seine Erneuerung war es wahrlich nicht, was jetzt noth that;
aber war alles erschöpft, um für diejenigen conservativen Principien, die den
Markgrafen bei der Neugründung seines Territoriums zu so glücklichem Erfolge
geführt hatten, im Reiche Bekenner und Arbeitsgenossen zu werben? Zu aller¬
meist schien die Enttäuschung der letzten Jahre schuld zu sein an der Stimmung
und Verwilderung der Geister; wie nun, wenn den Erwartungen von ehemals
»och jetzt genug gethan wurde? „Die rechte Reichsrefvrm ist ein Mann an der
rechten Stelle, ein Kaiser, der es nicht nebenbei ist und seine Richtung nicht
nach Interessen nimmt, die dem Reich und der Nation fremd sind, ein Kaiser,
der die Pflicht und das Recht seines Amtes erkennt und dem, was er erkannt
hat. Nachdruck zu geben den klaren Blick, die feste Hand, den Willen und den
Stolz hat." Konnte es zweifelhaft sein, daß Friedrich von Hohenzollern durch
seine Erwägungen sich auf sich selbst zurückgewiesen fühlte? Wahrlich, nicht Ehr¬
geiz allein gehörte zu diesem Schlüsse, sondern in noch viel höherem Grade
die Selbstverläugnung, die nur den Schlechten eine Thorheit ist: die ganze
Summe seines Werthes an einen kühnen Wurf zu setzen. Friedrich warb um
die Wahl und ist erlegen. Eine Weile schwankte die Wage; aber das Häuflein
der Reichsgetreucn, welche die Wichtigkeit seiner Berufung erkannten, blieb in
der Minorität. Es war kein schlechter Nebenbuhler, dem er wich; allein in
seiner Erwählung triumphirte das entgegengesetzte Princip. Zwar noch nicht
in völliger Klarheit. Denn Herzog Albrecht von Oestreich, der König von Un¬
garn und Böhmen, war ein kraftvoller Mann von tüchtiger Regenteneinsicht
und von hervorragender Machtstellung; aber nicht blos der Schwerpunkt, viel¬
mehr die ganze Basis seines Wirkens lag außerhalb des Reichs und er war
pflichtgetreu genug, dies zu empfinden und darnach zu handeln. Nicht trotz¬
dem, sondern gerade weil man wußte, daß es so war, erkor man ihn. Aus
derselben Ferne war Signum-d einst zur deutschen Krone gerufen worden, nur
lag die umgekehrte Absicht zu Grunde. Albrecht, der sich gegen seine Stände
verpflichtet hatte, die Wahl ins Reich von der Hand zu weisen, falls sie auf
ihn fallen sollte, nahm sie in einem*Sinne an, welcher die Befürchtungen sei¬
ner Erdtaube nicht berührte. Was war ihm Hekuba! Freilich, schandehalbcr
bewegte sich die Thätigkeit seiner Räthe auch auf dem Gebiete der innern An¬
gelegenheiten des Reiches und der Eifer ist keineswegs zu tadeln, mit welchem
sie die Landfriedensfragc in die Hand nehmen, aber vollkommen bezeichnend
für das Verhältniß des Königs zu Deutschland war der Umstand, daß von der
Kreiseintheilung, welche zu diesem Zwecke in Borschlag kam, Böhmen und
selbst Oestreich ausgenommen wurden. Er wollte sich dem Reiche auch nicht
einmal in dem Maße verpflichten, als er Landesherr innerhalb desselben war,
und faßte daher sein Amt als eine laxe Personalunion auf, die er nicht
anstand von vornherein in einer Weise zu mißbrauchen und zu brechen
für welche die moderne dänische Politik das bekannteste classische Seitenstück
bietet. '
Aber es hatte auch damals gute Weile, ehe dergleichen Seltsamkeiten des
Reiches hohe Häupter bekümmerten. Am entgegengesetzten Ende Deutschlands
verdarb der burgundische Raupenfraß und die französische Schlauheit den blühen¬
den Westen; es ging seit Jahren schon im Reiche keinen Menschen etwas an.
Immerhin hätte Albrechts bedeutende Macht, so sehr sie auch zunächst durch
den Türkenkrieg gebunden war, auf die Dauer doch ihren Druck auf die Politik
der Reichsfürsten ausüben können. Als er nach zweijähriger Regierung in
Deutschland ungekrönt und ungesehen starb, eilten die Territorialen, den Fehler,
der für ihre Anschauungen in der Erhebung eines bedeutenden Fürsten lag,
gründlich gut zu machen. Was den Herzog Friedrich von Oestreich ihnen
empfahl, war neben der gleichartigen auswärtigen Stellung vor allem gerade
die Schwäche seiner Mittel und seiner Persönlichkeit. Diese zweite habsburgische
Wahl bestätigte und vervollständigte die Tendenz, welche der ersten zu Grunde
gelegen hatte. Jetzt war ein Mann gefunden, der die Gewähr gab, daß unter
ihm die Anarchie, welche man „die deutsche Libertät" nannte, gute Tage
haben werde; ein Mann, der, wie das Lied sagt, seinen dumpfen Ehrgeiz darein
setztet,ein Staar zu werden wie die anderen, während er zum Adler erhöht war."
Ungestört konnten nun die Rcichögliedmaßen auseinanderbröckcln. Aber die
größten unter ihnen waren nur erst politische Weichthiere, ohne schützende Schale,
ohne geschlossene Organisation; die kleinen solche Gebilde, auf die das aristotelische
Wort Anwendung fand, das, ein handgroßes Schiff überhaupt kein Schiff sei.
So auf Selbsttäuschung, Lüge und Eigensinn gestellt eröffnete die neue politische
Tendenz, indem sie das hehre Symbol der nationalen Macht dem schlechten
Manne preisgab, ihre Aera.
Dem Markgrafen ist es erspart worden, in dieser neuen Zeit zu leben.
Seine politische Niederlage vor Albrecht von Oestreich hat er das Reich als
solches nicht entgelten lassen; wenn auch verschmäht und zur Seite geschoben,
blieb er dennoch thätig zu fördern und zu helfen. Aber für sich selbst verzichtete
er, als die Königskrone bald aufs neue erledigt war. Er mußte den ferneren
Schmerz erfahren, daß auch der Candidat, den er aufstellte, den kürzern zog.
Dann ist er abgetreten von der politischen Bühne und noch im nämlichen
Jahre gestorben. Unwürdige Leichenfeier, die das Grab umtobte, in welches
ein solcher Held alle höchsten Wünsche und Hoffnungen des Lebens mit sich
nahm! Die Tage kamen, wo schnödes Interesse und schleichender Betrug den
von erhabenen Gedanken und geheiligter Tradition leer gelassnen Platz besetzten;
wo nach Gesichtspunkten sündigen Gewinnstes die weltbewegenden Fragen des
. geistlichen und weltlichen Systemes verunstaltet wurden, die nationale Kirche
den römischen Concordaten, die Neichsreform der wüsten Fehde und der Ver¬
schwörung zum Opfer siel. In dieser Atmosphäre hat auch die brandenburgische
Politik sich umbilden müssen. Durch das Princip der östreichischen Wahlen,
die nicht blos über die Frage „Habsburg oder Hohenzollern", sondern damit
zugleich über Sein und Nichtsein der politischen Einheit Deutschlands entschieden,
war der Lebcnsmethode des Staates, wie ihn Friedrich gewollt und getragen
hatte, die ideelle Grundlage entzogen. Den jungen Söhnen siel die Aufgabe
zu, nach dem Maßstab ihrer Mittel und.Kräfte einerseits und der thatsächlichen
Zustände andrerseits eine Stellung zu suchen, die der Zukunft rettete, was der
Gegenwart verloren war. Die alten Ideale waren überholt von der Wucht
der wirklichen Gestaltungen; nur eine unerschrockene Expcrimcntalpolitik schien
der entsprechende Einsatz in die Lotterie dieser bösen Zeit.
War es dieselbe nicht, an deren Ausgangsschwelle die Reformation steht?
Wohl, aber die Nation sollte erfahren, welche grimmigen Wehen der Erfüllung
dieses Wortes vorausgingen und folgten, das man seit einem Jahrhundert
als einziges Heilmittel im Munde führte, um es immer von neuem zu schänden.
Das evangelische Wesen hat nachmals allerdings vermöge seiner unverwüstlichen
und eminent historischen Gedankenmacht inmitten des Wirrsals die rechte Fahne
aufgepflanzt; aber zunächst brachte es der politischen Entwickelung unsres Volles
nicht Frieden, sondern das Schwert; ja den Fanatismus des Waffcnganges
aller mit allen, bei welchem jeder mehr oder minder frevelnd sich der Losung
vermaß: „ich kann nicht anders!" —
In dem vorigen Briefe sind die Vorzüge der jetzigen preußischen Schußwaffen
^wähnt. Die dort erwähnten Erfolge werden die folgende Auseinandersetzung
motiviren: über den Einfluß, welchen die bessere Bewaffnung auf die Resultate
des Gefechts übt.
Das nächste Ziel des Krieges ist die Vernichtung des feindlichen Heeres,
da man hierdurch der Herr des feindlichen Landes und des feindlichen Willens -
zu werden erwarten darf. Diese Vernichtung kann auf zweierlei Art herbeigeführt
werden, entweder durch Tödtung, Verwundung und Gefangennehmung des
einzelnen Mannes oder durch Auflösung der feindlichen Armee als einer Einheit.
Im Ganzen und um unsere Anschauungen zu vereinfachen, können wir sagen,
daß die Vernichtung des einzelnen Mannes Aufgabe der Gefechte, die Zerstörung
des Ganzen aber Folge derselben ist. Aber im Gefecht selbst werden auch schon
beide Zwecke verfolgt und zwar der erstere durch die Schußwaffen, der zweite
durch das Bajonnet und die Kavallerie. Die Vernichtung des Einzelnen ist der
Regel nach das erste, die Auflösung des Ganzen das letzte Ziel. Jedes Gefecht
muß deshalb so angelegt werden, daß es vorweg das Tödten. das unmittelbare
Begegnen mit dem Feinde bezweckt und darf dann erst dahin zielen, durch Be¬
drohung der Rückzugslinie in die innere Ordnung des Feindes einzugreife».
Der letztere Erfolg fällt nur dann als reife Frucht ab, wenn der Tod vorder
eine entsprechende Ernte gehalten hat. Das tödtende Instrument in der Hand
des Soldaten ist also eine der wichtigsten Grundlagen für die Leistungen der
Truppe. Wer die gegründetste Aussicht hat den Gegner todt zu machen, der
hat auch die höchste Wahrscheinlichkeit des Siegs auf seiner Seite. Die Wahr¬
heit dieses Satzes an jedem einzelnen Gefecht zu beweisen, ist unmöglich, da in
den Gefechten die allerverschiedensten Dinge den Ausschlag geben und ein ganzes
Buch nothwendig wäre, um das Verdienst der Waffen in diesem und jenem
Gefecht auseinanderzusetzen. Nur in den Kämpfen der cultivirten Völker mit
den nicbtcultivirtcn tritt'diese Hauptsache sehr auffällig heraus. Sie macht sich
immer wieder geltend in der steten Fürsorge gerade der größern Feldherrn für
die Bewaffnung. Zum Beleg dieser Behauptung wollen wir nur einige Bei¬
spiele aus der Geschichte der preußischen Armee anführen.
Der große Kurfürst war der erste Kriegsherr seiner Zeit, der seine ganze
Infanterie mit Musketen statt der bis dahin zum Theil beibehaltenen Pike be¬
waffnete. Auch verbesserte er die Muskete durch Einführung des bis heute
noch gangbaren Feuerschlosses und des Bajonnets; beides französische Erfindungen.
Friedrich der Große gab seinen Gewehren den eisernen Ladestock und das ko¬
nische Zündloch, um das Schnellladcn zu befördern. — Dies letztere Bestreben
machte die preußischen Gewehre immer schlechter und 1806 begegneten sie in
dem Entscheidungskampf, nach einem 1777 genehmigten Modell, den damals
besten Gewehren der Welt, den französischen, mit welchen während der Revo-
lutionskriege diese Armee vollständig ausgerüstet worden war. Napoleon der
Erste erachtete auf diesem Gebiet einen Fortschritt für sehr erwünscht und stellte
einer zu diesem Zweck versammelten Commission das Ziel, ein Gewehr zu er¬
finden, das von hinten zu laden sei. Die verschiedensten Modelle wurden in
der etablirten Werkstatt angefertigt, aber die Sache kam nicht zum Abschluß,
die Katastrophe Napoleons' löste Commission und Werkstatt auf. Einer der
Arbeiter der letztern aber, der jetzige. 86 Jahre alte Geheime Commerzienrath
Dreysc in Sömmerda, setzte die Gersuche fort und trat zuerst mit einem theil¬
weise für brauchbar erkannten Modell im Jahre 1830 auf. Aus diesem hat
sich das in der preußischen Armee eingeführte Zündnadelgewehr entwickelt, wel¬
ches wir für das beste Armccgcwehr der Welt erachten und welches sich als
solches bisher auch in Schleswig bewährt hat.
Außer einigen deutsche« Contingentcn hat mock keine Armee das Zündnadel-
gewehr eingeführt und zwar deshalb nicht, weil durch die schnelle Ladung sich
eine Truppe zu rasch verschießen kann. Schießt der Soldat nur dann, wenn
er einen guten Schuß abgeben kann, so schießt er mit dem Zündnadelgewehr
kaum häusiger als mit jedem andern Gewehr, aber dafür gibt es keine Sicher¬
heit. Der Vorgesetzte kann das Feuer in der Hand behalten, so lange das Ge¬
fecht unbedeutend ist. sowie aber die Gefahr wächst, hört mehr und mehr der
Einfluß der Vorgesetzten auf. und das Streben, sich zu vertheidigen und zu
rächen, wächst. Je mehr Kugeln um die Ohren fliegen, um so mehr steigert sich
das Bedürfniß zu schießen. Die Thätigkeit, das eigne Schießen unterdrückt die
Angst erfahrungsmäßig am besten und mehrt den Munitionsverbrauch ganz un¬
endlich, ohne daß die feindlichen Verluste sich vergrößern. Je schärfer das Ge¬
fecht aber auf einer Stelle ist, desto schmieriger wird auch dort der Munitions-
crsatz oder eine Ablösung der Truppen. Die Ausdauer im Gefecht aber ist eins
der nothwendigsten Dinge und läßt allein eine höhere Leitung in den Gefechten
zu. — Alle andern, größern Armeen haben also die Vordcrladungsgewchre bei¬
behalten, durchgängig jedoch gezogene Rohre eingeführt. Der Werth des sichern
Schusses ist überall anerkannt, aber der schnelle Schuß ist verworfen. Diese
letztere Ansicht können wir nicht gutheißen, weil die Vorzüge des schnellen
Schusses viel größer sind als die Nachtheile und weil man die letztern, wenn
auch nicht aufheben, so doch auf ein Minimum zurückführen kann, indem
man: 1) die Zahl der Patronen, welche der Soldat mit sich führt, vermehrt;
2) den Patronenersatz besonders regelt; 3) aber den Verlauf der Gefechte be¬
schleunigt.
Den letztern Punkt wollen wir in einem nächsten Artikel erledigen, über
die beiden andern aber folgendes bemerken: Jetzt führt jeder Soldat 60 Pa¬
tronen bei sich; diese Zahl muß man verdoppeln, indem man einestheils die
Patronen leichter macht, andrerseits das sonst vom Soldaten geführte Gewicht
vermindert. Das Erstere ist statthaft, wenn man statt Bleikugeln eiserne Kugeln
einführt. Letztere haben noch den Vorzug, daß das härtere Metall eine größere
Durchschlagskrast hat und daß die Kugeln, weil sie leichter sind, mit einer
flacheren Flughahn dasselbe Ziel erreichen als die schwereren Bleikugeln.
Das andere ist zulässig durch Verminderung des Putzapparates und durch Ent¬
fernung aller überflüssigen Ausrüstungsgegcnstände, wie z. B. des schweren
Helmes und des Jnfanterieseitcngcwehrs. Für den Patronenersatz aber bedarf
es nur der rcglementcuischen Bestimmungen und tüchtiger Fricdensvorübungen.
Ebenso wie mit der Entwicklung der Gewehre verhält es sich mit der der
Artillerie. Hier haben die Franzosen von je die meisten Fortschritte gemacht
und auch heute ist es Napoleon der Dritte, der die gezogenen Geschütze in die Feld-
artilleric eingeführt hat und dem die andern Staaten gefolgt sind. Man ist
aber noch nirgend so weit gegangen, das gezogene Rohr für alle Geschütze an¬
zuwenden und zwar deshalb nicht, weil das glatte Rohr heute noch im Nah¬
gefecht mehr leistet als das gezogene. — Es wird für die Leser dieses Blattes
genügen, wenn hier über gezogenes und glattes Rohr folgendes angeführt wird:
1) das gezogene Geschütz erfordert eine viel genauere Behandlung und
Richtung als das glatte und wirkt deshalb langsamer, also im Nahgefecht, wo
jede Kugel trifft, weniger.
2) Das Geschoß aus dem gezogenen Rohr hat eine viel höhere Kugelbahn
und bestreicht deshalb einen viel geringern Raum in der Mannshöhe.
3) Der für das Nahgefecht so wichtige Kartätschschuß ist in seiner ganzen
Fülle und Einfachheit im gezogenen Geschütz nicht anwendbar. .
4) Man hat noch keinen hinreichend einfachen und anwendbaren Zünder
für das Spitzgeschoß der gezogenen Rohre erfunden, welcher das Platzen vor
dem Ziel gestattet und dieses also mit einer Fläche der einzelnen, bereits aus¬
einandergegangenen Theile trifft. Die jetzigen Zünder sprengen das Geschoß
infolge der Berührung mit dein Ziel, der Streuungskcgel beginnt im zu
treffenden Körper und hat infolge dessen einen geringern Wirkungskreis.
In Bezug auf die Zünder sind die Erfindungen einem günstigen Resultat
schon sehr nahe, in Betreff der andern Punkte werden sie auch nicht zurück¬
bleiben und es ist deshalb kaum zu zweifeln, daß wie in der Infanterie ebenso
bei der Artillerie in kürzester Zeit das gezogene Rohr das glatte ganz ver¬
drängen wird, weil das erstere überall mit Sicherheit zu verwenden ist, wäh¬
rend das letztere nur einen beschränkten Gebrauchswert!) hat.
Wir dürfen also daraus rechnen, daß in kürzester Zeit die Schußwaffen
unsrer Armeen durchgängig vortrefflich sein werden. Daraus ist aber noch
nicht zu folgern, daß deshalb die Kriege blutiger werden müssen. Schon die
Erfahrung widerspricht. Und der Krieg ist in dieser Richtung mit dem Duell
zu vergleichen, dessen Ausgang im Ganzen weit mehr von der Natur der
Kämpfenden und von der Art der vorangegangenen Beleidigung, als von der
Güte der Waffe abhängt. Je mehr es sich um das Leben handelt, um so
mehr wird das Leben eingesetzt. In den alten Zeiten, wo ewige Sklaverei die
Folge der Kriegsgefangenschaft war. fiel die Hälfte bis zwei Drittel der Käm¬
pfenden auf dem'Schlachtfelde. In der Zeit der Söldnerheere, wo jeder da
Dienste that, wo er gerade war, oder in dem Heere, in welchem der Krieg
selbst die meiste Aussicht bot. erreichten die Verluste durch den Tod die aller¬
geringsten Zahlen.
Je mehr das Heer mit seinen innersten Interessen in die Absichten des Krieges
verwebt ist. je blutiger sind die Schlachten. Die Russen verloren z. B. in der
Schlacht an der Moskwa an Todten und Verwundeten mindestens ein Drittel ihrer
gescunmten Mannschaften. Bei Großgörschen aber. 1813, zählten ihre Todten
und Verwundeten ein Sechzehntel der Gescnnmtzahl, während sie sich bei den
Preußen in derselben Schlacht aus ein Drittel berechneten. In einem Rccognos-
cirungsgefecht. wo kein Mensch weiß was er soll, sind die Verluste immer sehr
gering, in der Entscheidungsschlacht, wo es sich um die Existenz von Staaten
und dergl. handelt, erreichen sie das höchste Maß. Bei Montebello 18SL verloren
die Oestreicher ein Zweiundzwanzigstel ihrer Gefechtsstärke, bei Solferino ein Elftel.
Die Sarden hatten in dieser Schlacht einen Verlust von einem Sechstel ihrer
Zahl, die Franzosen von einem Zwanzigstel der in die Schlacht geführten Truppen.
In Italien 1869 hatten — nebenbei bemerkt — die Franzosen die bessere Be-
waffnung auf ihrer Seite. Neben der Natur des Krieges und des Heeres wirkt aber
vor allen Dingen auf die Verluste der Feldherr ein. Ein Friedrich d. Gr., ein
Napoleon, ein Suwaroff drangt viel schärfer auf die Entscheidung, achtet das Blut
im Gefecht viel weniger als alle Künstler zweiter Classe auf diesem Gebiet.
Deshalb verdienen aber die großen Feldherrn keinen Vorwurf, denn schließlich
ersparen sie auf diesem Wege doch Menschenleben. Die Verluste durch Krank¬
heit sind in allen Kriegen viel, viel großer, als die durch Verwundung; und
je unentschlossener der Feldherr, desto größer sind die Fatiguen und folglich um so
zahlreicher die Krankheiten. Wenn Se. Arnaud und Lord Raglan sofort nach
der Schlacht an der Alma verfolgten, den Gegner aus Sebastvpol warfen und
dann zum Sturm schritten, so siel die Festung, nach Ausspruch aller dabei Be¬
teiligten, wahrscheinlich sogleich. —Suwaroff verlor beim Sturm auf das noch
ganz intacte Ismail die Hälfte seiner Leute und nahm die Festung. — Fiel bei
einem Sturm auf Sebastvpol die Hälfte der Armee, so kostete dies den Fran¬
zosen noch nicht so viel als die folgenden Gefechte, und nur den sechsten Theil
dessen, was im Lauf der Belagerung in den Lazarethen starb. Wir wollen sehen,
wie sich die Sache bei Düppel stellen wird. Gewiß ist, daß ein geglückter
Sturm auf das Dannewerk sofort den ganzen Krieg geendet hätte, wenn die
Verfolgung der ersteren Kriegsthat entsprach.
Wir fassen also unsere Ansicht noch einmal dahin zusammen, daß bei gleich
guter Bewaffnung die Höhe der Verluste nicht durch diese bestimmt wird, son¬
dern ganz allein von der Energie der Handelnden abhängt. Je besser die Schu߬
waffen sind, desto mehr bleiben die feindlichen Seiten in der ersten Aufstellung
eines Gefechts von einander entfernt und die Thatkraft der Fechtenden bestimmt
nun, ob schließlich das Heer Mann an Mann um das Leben ringen oder wie
viele Verluste im Fern- oder Nahgefccht das Nachgeben der einen Seite herbei¬
führen soll.
Die Verbesserung der Waffen muß in den Armeen gleichen Schritt halten;
geschieht das, übt sie keinen Einfluß auf die Verluste und auf die Resultate
des Krieges aus. Die Armee aber, welche mit der Verbesserung der Waffen
zurückbleibt, erschwert sich den Sieg außerordentlich.
Wir werfen einen Blick auf den Stand, welchen die Waffenverbesserung
in den einzelnen Armeen zur Zeit eingenommen hat. An eine gute Kriegs-
schußwaffc macht man den Anspruch:
1) daß sie sicher und weit trifft, 2) daß sie die Kugel aus dem kürzesten
Wege d. h. mit der größten Durchschlagstraft und mit einer Flughahn mög¬
lichst in Manneshöhe rasant über dem Boden an das Ziel bringt, 3) daß die
Waffe, die Munition und die ganze Handhabung einfach ist.
Mit den frühern Schußwaffen traf man nur sehr unsicher, aber der Schuß
war rasant und hatte eine bedeutende Durchschlagskraft. Die Waffe und deren
Handhabung war einfach, die Munition aber hatte beim Gewehr durch Ein¬
führung des Zündhütchens neben der Patrone statt der frühern Seldstauf-
fchüttung, an Einfachheit verloren.
Das gute und weite Treffen erreichte man durch das Ziehen des Rohrs. in
dem man mittelst Entfernung des Spielraums ^die Kugel zwang den Zügen
des Rohrs unh der ihr im Rohr gegebenen Richtung streng zu folgen; endlich
durch Einführung der Spitzkugel, welche besser geeignet ist die Luft zu durchschneiden.
Am Gewehr waren die Vortheile des gezogenen Rohrs schon im 16. Jahr¬
hundert bekannt; auch entfernte man damals den Spielraum wie heut noch
beim schweizer Stutzen mittelst Talgpflaster, in welche die Kugel eingewickelt
und durch das Rohr aus die Ladung geteilt wurde, aber diese Art der Ladung
eignet sich wenig für eine Kriegswaffe.
Die Erfindungen der Neuzeit suchten möglichst einfache Entfernung des
Spielraums und die beste Form der Kugel; die ersten in größerem Ma߬
stab zur Anwendung gekommenen Resultate waren die Dorn- und Kammer¬
gewehre. An denselben ist der Lauf, wie an allen ferner zu nennenden Ge¬
wehren gezogen. unten aber ist ein Dorn oder ein Rand am Rohr angebracht,
auf welchen die Kugel über dem Pulver zum Aufsitzen kommt. Mittelst einiger
kräftiger Stöße des Ladcstocks auf die Kugel wird diese auseinandergetrieben,
bis sie den Lauf im Durchschnitt ganz ausfüllt, und deshalb beider Entladung
genöthigt in die Züge zu treten.
Diese Gewehre schießen sehr gut und weit, aber die Züge verbleien leicht,
die zum Erweitern der Kugeln angewendete Kraft ist nicht geregelt und infolge
dessen der Dorn fragiler Natur. Im Krimfcldzuge wurden die Gewehre ganzer
französischer Bataillone wegen dieser Mängel zeitweise gefechtsuntauglich. —
Die thouveninsche Dornbüchse ist noch als Wallbüchse, als Jägergewehr
in einzelnen deutschen Kontingenten und in der russischen Armee im Gebrauch.
Das delvignesche Kammcrgewehr (mit dem Rande über der Pulverkammer)
aber finden wir noch in der französischen, östreichischen und sardinischen Armee
in theilweiser Anwendung. Um die Fehler der beiden genannten Systeme zu
vermeiden, erfand Miris seine Spitzkugeln mit einer Höhlung in der untern
Fläche, die Pulvergase treten in die Höhle und treiben die Wände auseinander
und in die Züge. Hierdurch wurde nicht allein die Ladung vereinfacht und
eine geringere Bleimasse in die Züge getrieben, sondern es wurde auch möglich,
dieses System an den vorhandenen Waffendeständen in Anwendung zu bringen.
Man schießt die MinMugel mit großer Präcision aus dem glatten Gewehr und
aus allen auch nur schwach gezogenen Rohren. Man konnte alle bereits vor-
handenen Gewehre mit schwachen Zügen versehen und zu Präcisionswaffen
umwandeln; man konnte ferner das Mimi6geschoß in Kammer- und Dorn-
gewehren verwenden. — Diese ökonomische Seite mußte dem Minisgeschoß rasch
einen ausgedehnten Boden der Verwendung verschaffen, und so wurde das Sy¬
stem bei allen Armeen eingeführt. Den kleinen Mängeln des Systems suchte
man durch eine Variation in der Eonstruction der Kugel abzuhelfen. Von
diesen Variationen ist die bedeutendste, daß man statt der Höhlung in der Kugel,
ringartige, tiefe Einkerbungen an dem untern cylindrischen Theil der Kugel
anbrachte und so bewirkte, daß durch die erste Entwickelung der Pulvergase die
entstandenen Bleischeiben aufeinander und damit auch auseinandergetrieben
wurden. Derartige Kugeln, von Lorenzen und Wilkinson erfunden, führt die
östreichische, sächsische, hannöversche und schweizerische Infanterie. Die Eng¬
länder sind mit dem Geschoß Pritchet, die Franzosen mit dem von Neßler, die
Bayern mit dem von Podewils, die Hessen mit dem von Plönnies erfundenen
Geschoß dem System Miris treu geblieben. — Dieses System hat, wie gesagt,
den großen Vortheil das Bestehende zu conserviren, aber es hat den Nachtheil,
daß die Züge bei starkem und erhitzenden Gebrauch verbleien und daß die Kugeln
eine sehr hohe Flughahn haben. Der erstere Fehler erklärt sich selber, der an¬
dere' entsteht dadurch, daß man nur schwache Ladungen anwenden kann, (starke
lassen die Kugeln aus den Zügen springen) und infolge dessen nur durch
hohe Bogen an ein fernes Ziel gelangen. Auch die Form der Kugel und die
Lage des Schwerpunkts tragen zu diesem Uebelstande bei und haben ebenfalls
kleine Variationen in der Kugelform zur Folge gehabt. Doch gehört zur Klar¬
legung dessen ein viel genaueres Detail, als uns hier gestattet sein dürste.
Radical in der Bewaffnung seiner Infanterie verfuhr nur Preußen.
Es gab seinen Feldtruppen ein ganz neues Gewehr, das in seinen Vorzügen
und Nachtheilen schon erwähnte Zündnadelgewehr und wandelte seine alten
Bestände durch Ziehen der Rohre in Miniegewehre für die Festungsbesatzungen
um. Neben dem bereits erwähnten Nachtheil des leichten Verschießens wirft
man dem Zündnadelgewehr noch vor, daß das Schloß zu complicirt und zu
fragil, die Munition aber zu künstlich sei. Den beiden erstem Vorwürfen wider¬
spricht die Erfahrung, welche in dieser Beziehung zu Gunsten des Zündnadel¬
gewehrs gegen die andern Gewehre spricht. Die Reparatur des Zündnadel,
Schlosses kann in den meisten Fällen der Soldat zu jeder Zeit mit freier Hand
unternehmen, während es bei den andern Gewehren mindestens eines Schrauben¬
ziehers und meist eines Federhalters bedarf. Gewiß ist, daß bei dem jetzigen
Feldzuge in Schleswig in Folge der Witterung die östreichischen Gewehre ver¬
sagten, die preußischen nicht. Der Vorwurf der künstlichen Munition kann
nicht ganz abgewiesen werden, da die Zündpillen, welche die Zündhütchen ersetzen,
nicht wie diese in allen Landen, sondern nur in den eigenen Laboratorien fabricirt
werden. Dafür ist die ganze Munition aber auch in der Patrone vereinigt. Die
Nachtheile der Mimi6gewahre. die Verbleiung und die hohe Kugelbahn hat der
schon genannte Schöpfer des Gewehrs, Dreyse, dadurch zu heben und zu mildern
gewußt, daß er die Kugel in einen festen Papprahmen (Spiegel) gesetzt hat,
welcher die Führung in den Zügen übernimmt, und daß er das Langblei, eme
Kugel in Form einer länglichen Eichel eingeführt hat, welche die Lust besser
durchschneidet als die Spitzkugel, also einen kürzeren, flachern Weg zum Ziele
braucht.
Bis jetzt haben nur die mit Preußen in näherer Beziehung stehenden klei¬
nen deutschen Contingente das Zündnadelgewehr angenommen; die Vorzüge
desselben haben sich aber so bemerklich gemacht, daß man in Frankreich schon
der Ausstellung eines eigenen Modells nach gleichem Princip sehr entschieden
näher getreten ist.
Bei den Geschützen sind, wie schon gesagt, die eingeführten Verbesserungen
noch' nicht so allgemein und durchgreifend zur Geltung gekommen, als bei den
Gewehren. Während bei diesen die Versuche schon zu einem gewissen Abschluß
gekommen sind, ist man aus dem größern Gebiet der Artillerie und bei der Kost-
barkeit ihres Materials kaum über die ersten Schritte des Experimentirens hin-
aus. Nur Preußen hat von vorn herein das Princip als richtig angenommen,
dessen Vorzüge sich bei seinen Gewehren so glänzend documentirt hatten. ES
wurde hierbei begünstigt durch die gleichzeitige Erfindung Krupps in Essen.
Gußstahl in großen Blöcken darzustellen. Bis jetzt hat sich kein Matenal
gefunden, das so vollständig den Ansprüchen der Dauerhaftigkeit für Hinter.
ladungsgeschütze entspricht, wie der Gußstahl. Preußen hat also für die ge°
zogenen Rohre folgendes System angenommen: 1) Als Material bei Neu-
anschaffungen wird Gußstahl verwandt, ebenso wie bei den Gewehren. 2) Dre
Geschütze werden von hinten geladen. 3) Als Verschluß werden, wie ber den
Gewehren, zwei schiefe Flächen gegeneinander geschoben. Dieser Verschluß (der
Keilverschluß) hat sich bis jetzt allein bewährt. Der zuerst angewandte Kolben-
Verschluß, ein in die Seele des Rohrs geschobener Bolzen klemmt sich sehr weht.
4) Das Geschoß bildet eine hohle Spitzkugel, am besten von Gußstahl nut
Bleimantel von etwas größerem Kaliber als dem des Rohrs, so daß der Bler-
mantcl in die vor der Pulverkammer beginnenden Züge getrieben wird und tue
Führung der Kugel übernimmt.
Die Geschosse sind entweder Sprenggeschosse. wo dann das Geschoß am
Ziel zerspringt und in größerm Kreis durch seine Sprengstücke wirkt, oder
Shrapnels. Geschosse, welche neben der Sprengladung Flintenkugeln enthalten
und damit in noch größerem Kreise wirken als mit den schweren Sprengstücken,
oder Brandkugeln, welche neben der Sprengladung einen scharfen Brandsatz
führen, oder Kartätschbüchsen mit sehr dünner Hülle, die nach kurzem Fluge
springen und ihre eisernen Kugeln in einen sehr weiten Kreis senden.
Pulver. Zündung. Lasteten u. f. w. sind die bisherigen. Die bronze¬
nen Festungskanonen sind nach diesem System umgearbeitet. Das preußische
System hat bis jetzt den sichersten und kräftigsten Schuß verbunden mit der
flachsten Flughahn erreicht. Preußen hat den entschiedenen Uebergang zum
Neuen nicht zu bereuen; anders ist es mit Oestreich, das mit den alten Kano¬
nen auch das alte Pulver abschaffte und den Irrthum in seinen Neuschaffungen
erst erkannte, als es demselben schon eine sehr bedeutende Ausdehnung gegeben
hatte. Oestreich hatte die Schießbaumwolle als treibendes Element angenommen
und hatte hier ein zu vehementes und in der Aufbewahrung und Behandlung
zu leicht explodirendes Material gewählt. Hierdurch ist Oestreich wieder beim
Anfang seiner Versuche angekommen und scheint jetzt das preußische System an¬
nehmen zu wollen, während dasselbe von Belgien bereits adoptirt ist.
Frankreich hat zuerst das gezogene Rohr in der Feldartillerie eingeführt,
indem es einfach die vorhandenen Rohre zog und den Spitzgeschvssen Zapfen
gab, welche in die Züge passen und das Geschoß nöthigen, denselben zu folgen.
Das Geschütz wird von vorn geladen, infolge dessen bleibt der Spielraum
bestehen und dem Schuß fehlt es im Vergleich zum preußischen Geschütz an
Präcision. Trieb- und Durchschlagskraft. Man erwartet auch dort den Ueber¬
gang zum preußischen System. England hat am meisten das armstrongsche Ge¬
schütz acceptirt, das den preußischen Principien ziemlich nahe kommt. Man ist
dort aber noch sehr im Experimentiren. Sardinien hat fast zuerst gezogene Ge¬
schütze eingeführt nach dem System von Cavalli: eiserne Kanonen mit Hinter¬
ladung und Kolbenverschluß, aber nur zwei Züge im Rohr, in welche das
ganz eiserne, längliche Geschoß mit zwei Zapfen greift. Der Spielraum ist
deshalb nicht entfernt, der Verschluß ist unzuverlässig und das Geschütz ist sehr
schwer. Für die Feldgeschütze ist man deshalb zu dem französischen System
übergegangen. Rußland hat noch nicht das Bedürfniß gefühlt, die gezogenen
Rohre über das Versuchsstadium hinauszuführen.
Die Wohnsiätte der Bewohner Nordalbingiens gewährt in ihrer Geschlos¬
senheit und bezeichnenden Eigenart einen Anblick, der zumal den Mittel- und
Süddeutschen fremdartig berühren mag.
Das Dach ist meist von Rauch geschwärzt und mit Moos überzogen. Die
Mauern des Hauses dagegen sind fast immer so bunt als irgend möglich. Ein Ge-
ripp von Balkenwerk, welches am häufigsten einen schwarzen oder einen hell¬
grüne» Anstrich hat und verschiedene Quadrate und Triangel bildet, umschließt
Flächen von erbsgelben oder rothen Ziegeln mit weißgetünchten Fugen, oft
auch solche aus weißen, rothen, schwarzen und gelben Ziegeln, die von phan-
tasievollcn Baukünstlern, vorzüglich unter dem Vordergicbel. zu allerlei Mustern
und Figuren. Sternen, Schnecken, Rosetten. Dreiecken und Kreisen musivisch
zusammengestellt werden. Andere wieder haben es geschmackvoller gefunden,
die Zwischenräume zwischen den Pfosten der '
Wände mit schreienden Farben
zu übertünchen, und dann kommt es vor, daß Einem dottergelbe Flächen in ru߬
schwarzer, rosenrothe in papageigrüner Balkmumgrenzung in die Augen stechen.
Rechnet man dazu noch den blutrothen, himmelblauen oder zeisiggrünen Anstrich
der Thorflügel und Fensterrahmen, der Giebellucken und Pferdeköpfe. und die
Sprüche oder Buchstaben an der Einfahrt, so läßt ein solches Gebäude im
Punkte des Farbenreichthums nicht viel zu wünschen übrig.
Die Fenster des niedersächsischen Hauses befinden sich im Osten Holsteins '
und Schleswigs immer auf der dem Wege abgekehrten schmalen Seite desselben
und sehen nach dem Garten hinaus. Die Langseiten haben meist nur Stall¬
luken, in den ältesten Häusern auch diese nicht.
Tritt man durch die Einfahrt ins Innere eines solchen wunderlichen Ge¬
bäudes , so bietet sich ein wo möglich noch ungewöhnlicherer Anblick dar. Man
sieht sich auf der „Dehl" in einem halbdunilcn Raume, der zugleich Dreschtenne,
Viehstall. Scheune und Küche ist. Auf der Tenne, welche die Mitte einnimmt,
liegen Strohbündel und Körnerhaufen, an denen Hühner naschen. Von den
Seiten her, die plattdeutsch als „Boos" und „Afsit" bezeichnet werden, schauen
rechts, die Ohren spitzend, Pferde, links die gehörnten Köpfe von Kühen aus
ihren Ständen. Im Hintergrund endlich, der Einfahrt gegenüber, erhebt sia'.
mit blinkendem Kochgeschirr umhängen, ein gewaltiger Heerd. Ueber dessen
Flamme siedet, wenn wir am Vormittag kommen, prasselnd ein Kessel mit
einem der Nationalgerichte, etwa Specksuppe, oder jüdische Töpfe mit Klößen
senden ihren Dampf dem Rauche nach, der in bläulichen Wolken sich zwischen
den Balken und Stangen der Dehl verliert, aus denen die letzte Ernte des
Hausbesitzers lagert. Wenn es windig ist, füllt das Heerdfeuer das ganze Haus
mit einem beißenden Qualme, der jedem, welcher daran nicht gewöhnt ist. die
Thränen in die Augen treibt. Bei stillem Wetter dagegen erweist er sich als
nützlicher Gast, indem er die an jenen Tragbalken des Getreidebodens aus-
gehangnen Schinken und Würste räuchert.
Zu beiden Seiten des Herdes öffnen sich Thüren, von denen die zur Rech¬
ten in die „Doms". die zur Linken in die „Pesel" führt. Die Doms ist
Wohn-und Schlafstätte der Hausbewohner. Hier steht in mächtigen, grell¬
bemalten und mit Arabesken von Eisenblech beschlagenen Truhen der Kleider-
und Lcinwandschatz der Hausfrau. Ferner befindet sich hier, fast überall mit
dem Bild eines springenden Pferdes geschmückt, ein niedriger eiserner Ofen,
auf dem der „Stulper«, eine große Mcssingstürzc zum Warmhalten der Speisen,
nicht fehlen darf. Am Deckbalken hängt neben dem Rasiermesser die Flinte des
Hausherrn. Am Fenster sitzt die Großmutter am Spinnrad oder der Gro߬
vater bei der Postille. Bettstellen sind nicht zu sehen. Da schließt die Haus¬
frau eine der Schrantthüren auf, welche etwa in Dreiviertel-Mannshöhe die
ganze eine Seite der Doms einnehmen, und wir haben die Betten vor uns.
Es sind eben Wandschränke, in denen man hier zu Lande schläft, gefüllt mit
rundbauchigen Federkissen, in die wir so tief einsinken, daß es, um das Auf¬
stehen und Herauskommen zu ermöglichen, nothwendig war, an der Decke einen
Quast als Handhabe anzubringen.
Der Pesel ist die Putzstube, der Ort für die Haupt- und Staatsactionen
im Leben des hiesigen Landmanns. Hier werden die Hochzeiten, die Kindtauf-
schmäusc und. wenn eine Seele in die himmlische Doms abgerufen worden ist,
die Leichencssen gehalten. Auch fremder Besuch pflegt hier einquartirt zu wer¬
den, und der Pesel der Wohlhabenden ist ein gar stattliches und anspruchs¬
volles Gemach. Tische und Stühle von polirtem Holz, selbst Mahagonimöbel,
ein Polstersopha, hübsche Gardinen, modische Lampen sind manchen Gegenden
hier nichts Seltenes. Sogar ein Pianoforte kommt bisweilen vor. Vor allem
aber ziert den Pesel höhern Stils eine gute Auswahl silberbeschlagncr Mecr-
schaumpfeifen, nächst schönem Viel) der Hauptstvlz des Bauern der Herzogthümer.
Für die Milchkammer, welche im Osten der wichtigste Theil einer größern
Wirthschaft ist, giebt es einen eignen Anbau, indem man die, natürlich bunt-
angestrichnen, oft mit Messingreifen beschlagenen Holzgcfäße in langen Reihen
aufgestellt sieht. Alles ist hier äußerst blank und sauber gehalten — vermuth¬
lich ein Erbtheil der Holländer, welche vor etwa zweihundert Jahren die
Butterfabrikation hier einführten.
Das Gesinde hat seine Schlafstellen auf der Dehl neben den Viehständen.
Festlichkeiten, welche viel Raum erfordern, werden auf der Tenne abgehalten,
und ein Auszug beim Ningreiten oder ein Erntetanz in diesem Halbdunkel, vor
dem flackernden Heerdfeuer und unter den rauchumwirbelten Stangen des Ge¬
treidebodens, an deren mittelster dann ein laubumwundencr, mit Lichtern be¬
steckter Faßreifen als Kronleuchter herabhängt, möchte mit seinen Lichtreflexen
keinen üblen Gegenstand für den Pinsel eines Genremalers abgeben.
Das geschilderte Haus ist das normale. Aermere müssen sich selbstverständ¬
lich enger und mit weniger Aufwand von Farben einrichten, und aus der hohen
Geest giebt es nicht wenige dürftige Hütten. In einigen Gegenden Wagriens
und in der Propstei sowie im Amte Cismar steht man häusig Schornsteine und
von dem Wohnhaus getrennte Wirthschaftsgebäude. Im Amte Neinfeld haben
die Häuser eine Durchfahrt, die durch das Ganze der Länge nach hindurchgeht,
und die Wohnzimmer liegen vorn an der Dehl. In der Wilstcrmarsch giebt
man den Gebäuden meist die Gestalt eines Kreuzes, indem man das Haus seine
Langseite der Straße zukehren läßt und Stall und Scheune hinten anbaut, so
daß sie den Stamm des Kreuzes bilden. In der Crempermarsch hat das Haus
die Einfahrt an der Rückseite und vorn heraus nur eine kleine Thür. In
Ditmarschen cndlick sind die Wohnhäuser verschieden, solgen ab.er doch dem
sächsischen Grundtypus, indem sie Wohnung und Ställe mit seltnen Ausnahmen
unter demselben Dache enthalten, und nur dxmn abweichen, daß sie in drei
besondere Räume, sür Wohnung. Stall und Scheune zerfallen, und daß jede
dieser Abtheilungen ihren eigenen Eingang hat.
Das Haus des Anglers unterscheidet sich von dem des Sachsen. seines
südlichen Nachbars, in verschiedenen Stücken. Es kehrt, wenn irgend möglrch
die Front dem Süden zu. Es hat ferner niemals die Pferdeköpfe und stets
Schornsteine, und die Einfahrt befindet sich nicht auf der schmalen, sondern in
der Mitte der breiten Seite. Das Ganze zerfällt dadurch in eine östliche und
eine westliche Hälfte. In jener wohnt der Bauer, in dieser steht rechts und
links von der Tenne, die hier „Lob" heißt, sein Vieh. Die Wandbetten mit
ihren Thüren oder Schiebern, die Bezeichnungen der Hauptgcmächer. das Stroh-
dach, die großen, bunten, mit Messing- oder Eisenblumen beschlagenen Wäsch-
und Klndertruhen sind dieselben wie in Holstein. Die älteren Häuser bestehen
aus Fachwelt, das mit Ziegeln ausgefüllt ist. Die neueren, durchgehend«
massiv gebaut, aber wie jene niemals mehr als ein Erdgeschoß besitzend, gleichen,
wenn man von der Strohbedachung absieht, oft kleinen Edelhöfen. Ein solches
Gehöft ist ein nach der Straße zu offenes Viereck, dessen Hintergrund das Wohn¬
gebäude einnimmt, während Stall und Scheune die beiden andern Seiten bilden.
Das Mauerwerk besteht aus gelbgrauen oder rothen Ziegeln mit weißen Fugen.
Zu der grün oder dunkelgelb angestrichenen Thür führen meist einige steinerne Stufen
hinauf. Hohe breite Fenster mit vielen kleinen Scheiben und weiß und grün
gemalten Rahmen nehmen einen großen Theil der Vorderwand ein. über deren
Mitte sich zuweilen ein verzierter Giebel erhebt, und ^vor der gewöhnlich eine
lebendige Kolonnade verschnittener Linden steht. Die Seitenwände tragen fast
überall den landesüblichen Schmuck von Eisenklammern in der Form von Jahres¬
zahlen. Buchstaben oder Lilien. Im Innern giebt es eine durch die Hausflur
geschiedene Flucht verschiedener in der Regel sehr geräumiger Gemächer, unter
denen eine Art Salon nicht fehlen darf, welcher „Saal" heißt, nach hinten
hinaus liegt und mit Modehausrath von Mahagoni, wo möglich auch mit
einem Piano ausgestattet sein muß.
Die Edelhofe Angelus sind fast durchgehend^ von anspruchslosen Aeußern.
Man begegnet einigen ungewöhnlich großen Gütern, z. B. Rundhof und der
Baronie Gailing, aber keinem eigentlichen Schlosse, wie in Holstein und Süd-
schleswig. Ein freundliches, meist nur aus einem erhöhten Parterre bestehendes
Wohnhaus, nebst den nöthigen Wirthschaftsgebäuden, umgeben von einem
Graben, den alte Eschen oder Ulmen beschatten, ist in der Regel alles, was zu
einem cmgclnschen Rittergut? gehört. Uebrigens sind die adeligen Güter hier
mit wenigen Ausnahmen in den Händen von Bürgerlichen, und nur ihre zum
Theil eigenthümlichen Privilegien erinnern daran, daß sie früher einer bevor¬
rechteten Classe gehörten.
Während es in den letzten Jahre» den Anschein gewonnen hatte, als hätte sich
das religiöse Interesse vorwiegend auf die Angelegenheiten der Kirchenverfassung und
ähnliches concentrirt, so ist jetzt weniger die eigentlich theologische Welt als ein großer
Theil der Gebildeten lebhaft angeregt worden durch den auffallenden Erfolg des be¬
kannten Buches von E. Renan. Sicherlich ist es weniger dieses Buch selbst als der
lebhafte Antheil des Publicums daran, welcher mehre deutsche Gelehrte bewogen
hat. ihre den gleichen Stoff behandelnden Arbeiten gerade jetzt zu veröffentlichen. —
Die Grenzboten beginnen mit dem vorliegenden Hefte eine Reihe von Aufsätzen, in
welchen dieses Gebiet eine selbständige Behandlung findet, welche selbstverständlicher
Weise auch die hier einschlagende Literatur berücksichtigt. Res. begnügt sich daher,
hieraus zu verweisen, und braucht nicht hinzuzufügen, daß das Straußhahn Buch hohe
Beachtung verdient, allerdings aber auch nicht gewöhnlich gebildete und geschulte
Leser erfordert.
Auf Grund des Markusevangeliums wird nach einer kurzen Einleitung über
die Bedeutung der Person Jesu, ihre bisherigen Darstellungen und über die evan¬
gelischen Darstellungen, unter den 6 Abtheilungen- Die Entwickelung, die erste Gc-
mcindestiftung, der Messias, der Wirkungskreis in Judäa, die Entscheidung und die
Vollendung ein Bild von Jesu Wesen und Wirksamkeit gezeichnet.
Ein kleines Schriftchen:
deckt mit Geschick und Müßigung die Schattenseiten des französischen Buches
auf, während die Uebersetzung einer Schrift:
sehr überflüssig ist und höchstens deshalb Beachtung beanspruchen könnte,
weil in der Broschüre des französischen Prälaten die Naivetät psychologisch merk¬
würdig erscheint, mit der die absoluteste Kritiklosigkeit für ihre unbewiesenen und
nicht zu beweisenden Behandlungen den Anspruch macht, in wissenschaftlichen Fragen
nicht nur mitzusprechen, sondern sogar abschließend aufzutreten. Daß der Herr Bischof
„die Leidensgeschichten unsers Herrn genau erzählt und beschrieben in den Propheten
vorfindet", wird nicht verwundern und die Gottheit Jesu wird ihm auch dadurch be¬
wiesen, daß „selbst der furchtbare Ketzer Luther, dessen Grundsatz es zu sein schien, nichts
Bestehendes zu achten, nicht den geringsten Angriff aus die göttliche Person des Hei¬
landes wagt"e. Eine solche Vertheidigung will fast gefährlicher als der heftigste Angriff
erscheinen.
Das Leben Jesu von Strauß erschien in seiner ersten Gestalt in den
Jahren 1835 und 1836. Welcher Gegensatz zwischen der heimlichen Stille und
Enge der Repetentenstube im tübinger Stift, in welcker es entstand, und dem
widerhallenden Lärm, mit dem es alsbald die Welt erfüllte! Nicht monatelang
zuvor angekündigt, sondern mit der Gewalt eines plötzlichen Ereignisses traf
es die unvorbereiteter Gelehrtenkreise. wie die politische Welt zuweilen mitten
im tiefsten Frieden durch einen ungeahnten Schlag erschüttert wird. Tiefer
Friede — war der damalige Zustand der theologischen Welt so zu nennen?
Allerdings war wenigstens die Neigung zum Frieden überall vorhanden. Die
verschiedensten Richtungen, die aus der großen Geistesarbeit um die Scheide
des Jahrhunderts hervorgegangen waren, reichten der Kirche die Hand, die steh
behaglich des neu geschlossenen Bundes mit der Philosophie erfreute. Der
Rationalismus war derselben Geringschätzung anheimgefallen, wie das ganze acht-
- zehnte Jahrhundert. Hand in Hand mit der politischen Restauration war immer
zuversichtlicher das Werk der kirchlichen Restauration gegangen. Schleiermacher
hatte sich dieser Richtung so wenig ganz entziehen können als Hegel, und wenn
die beiden Schulen auch unter sich im Streite lagen, ob das Gefühl das Ein
und Alles der Religion sei. oder ob diese von der untergeordneten Stufe des
Gefühls fortschreiten müsse'zum begrifflichen Wissen. so war dies doch in Ab¬
sicht auf das Resultat von wenig' Belang. Denn wie die Schüler Schwer-
machers. die kritischen Thaten ihres Meisters abschwächend und verläugnend
bald den ganzen Kreis der kirchlichen Dogmen wiederherstellten, so wurde auch
in der hegelschen Schule das „Erheben zum Begriff" nicht anders verstanden,
als daß die Vorstellungen des religiösen Glaubens aus ihrer Prüfung durch
die dialektische Methode mit einem vollgiltigen Attest versehen hervorgingen, ein
Attest, den dann, wie billig, die Kirche ihrerseits zum Dante wieder der philo¬
sophischen Speculation ausstellte.
Während im Norden, der damals auch die politische Restauration reiner
durchführte, jener vorschnelle Bund zwischen Glauben und Denken geschlossen
wurde, war an der entlegenen süddeutschen Universität eine jüngere Gelehrten¬
schule, in welcher Baurs kritischer Geist lebendig war, bevor er seine epoche¬
machenden Werke gezeitigt hatte, durch eifriges Studium Schleiermachers und
Hegels auf tiefer liegende Consequenzen geführt worden, denen sie nun mit
klaren Augen, und fester Zuversicht, mit einer unbestechlichen kritischen Schärfe
nachgingen. Die Kritik war es, welche die Schule Schleiermachers vergessen,
diejenige Hegels von Anfang an verläugnet hatte. Jetzt rächte sie sich, und
ihr erstes reifes Werk war Strauß' Lebe» Jesu, das nun jenem geträumten
Frieden mit einem jähen Schlag ein Ende machte, und durch die schonungslose
Aufdeckung von Gegensätzen, die bisher künstlich verhüllt waren, zu einer Revi¬
sion des gesammten theologischen Besitzes der Gegenwart nöthigte.
Man hat die Bedeutung des straußischen Werth, oder wenigstens seine
Originalität damit herabsetzen wollen, baß man sagte, es sei nur eine Richtung
und einheitliche Zusammenstellung aller der Zweifel und Anfechtungen, welche
bisher schon die neutestamentliche Kritik aufgehäuft hatte; auch die Theorie der
Mythenbildung sei ja längst vor ihm entdeckt und auf einzelne Punkte des
neuen Testaments angewendet worden. Mit Recht entgegnete Strauß darauf
in seinen berühmten Streitschriften: schon die Wirkung, welche das Buch hervor¬
gebracht, beweise augenscheinlich, daß es wesentlich Neues gab, und wenn er
nun dennoch seinen eigenen Nachweisungen zufolge einen großen Theil des
kritischen Stoffes den Borgängern verdanke, so werde dadurch nur klar, daß es
bei wissenschaftlichen Arbeiten nicht auf den Stoff, sondern auf die Art der Ver¬
wendung ankommt. „Daß an eine Durchführung des mythischen Gesichtspunkts
durch das Ganze der evangelischen Geschichte auch schon Andere vor mir ge¬
dacht haben, das kann mich nicht in Schatten stellen, da ich jenen noch dazu
ganz unbestimmten Gedanken in meiner Weise näher bestimmt, und was die
Hauptsache ist, ausgeführt habe." Strauß hat sich im Grund mit diesen Worten
sehr bescheiden ausgedrückt. Denn wenn er auch einen im Wesentlichen schon
vorhandenen Stoff nnr ordnete und unter einen einheitlichen Gesichtspunkt
stellte, so war damit sofort der weitere Fortschritt gegeben, daß es in Zukunft
nicht mehr auf die Deutung und Auslegung einzelner Punkte ankam, die man
sich bald so bald so zurecht legen mochte; vielmehr hatte die freie Forschung
ihr Recht durch ein so wohlgefügtes, eng geschlossenes, nach allen Seiten ge¬
decktes Gebäude erwiesen, daß die gegnerischen Ansichten zur Bestreitung wie
zur Selbstvertheidigung ihm gegenüber eine principielle Stellung einzunehmen
genöthigt waren. Der Streit wurde überhaupt auf einen höheren principiellen
Boden geführt, und dies war ein wesentlich Neues. Denn der Zustand der
neutestamentlichen Kritik vor Strauß war der eines haltlosen Schwankens, eines
grundsatzloser Tastens. Entsprechend jener Friedensncigung. welche das Ver¬
hältniß der Religion zur Philosophie bestimmte, hatte man auch bei den neu-
testamentlichen Studien vor allem das Interesse, nach keiner Seite hin wehe
zu thun. Man nahm mit Emphase das kritische Messer in die Hand, aber es
war in aller Stille stumpf gemacht worden, kein Wunder, daß die kirchliche
Lehre bis auf etliche Nisse unverletzt aus der Operation hervorging. Man
hatte zwar den strengen Offenbarung- und Jnspirationsglauben längst auf¬
gegeben, aber man wollte doch soviel als möglich davon retten, und was man
zuvor offen beseitigt hatte, ließ man heimlich durch emsig geöffnete Hinterthüren
wieder hereinschlüpfen. Man zog die Authentie dieser oder jener Schrift in
Zweifel, aber man war so behutsam, dabei nicht nach ernsten Grundsätzen zu
Verfahren, weiche weitaus den größeren Theil des Kanons gefährden mußten.
Man fühlte wohl das Bedenkliche der Wundercrzählungcn. an welchen sowohl
der Geschmack als die Naturkenntniß der Gegenwart Anstoß nahm. Aber anstatt
sie ein für alle Mal in das Gebiet der Sage zu verweisen, dentelee man an dem
Wunderbegriff in einer Weise, daß wieder die Wissenschaft noch die Kirchenlehre
befriedigt sein konnte, oder man beseitigte hier ein Wunder. schwächte ein
anderes ab. erklärte ein drittes auf natürliche Weise- nirgends verfuhr man
nach einem strengen Gesetz. Man war sich wohl der Wiedersprüche in den
Berichten der Evangelien bewußt, aber man suchte sie auf die künstlichste Weise
zu verschleiern, ja das Widersprechendste zusammenzureimen; höchstens für Neben¬
dinge wurden schriftstellerische Ungenauigkeiten angenommen. Man sah wohl,
daß der Christus der drei ersten Evangelien ein anderer ist als der johanneische. aber
anstatt die Unterschiede mit kritischer Schärfe zu Verfolgen und ihre Gründe zu
erforschen, nahm man keinen Anstand die Züge beider Bilder ineinanderzuschieben,
oder man wählte sich je nach Neigung oder aus dogmatischen Interesse einen
Lieblingsschriftsteller, dessen Darstellung dann die maßgebende war und mit
welcher sich wohl oder übel die anderen vereinigen lassen mußten.
Diesem grundsatzloser Eklekticismus, diesen kleinlichen Ausflüchten einer
Principscbeuen Halbwisscnschaftlichkcit machte Strauß ein Ende, und wenn nach
'hin gleichwohl die Sisyphusarbeit der Harmonistik. d. h. der Versuche, die wider¬
sprechenden evangelischen Berichte zu einer einheitlichen Erzählung zusammen¬
zumengen, nicht aufhörten, so haben ihre Erzeugnisse doch fort und fort an dem
Straußfeder Werk ihre bündigste Kritik. Denn obgleich vieles an demselben
durch spätere Arbeiten weitergeführt oder überholt ist. so behält es doch seine
unerbittliche Beweiskraft gegenüber allen denjenigen Auslcgungsversuchen. welch
auf dem kirchlichen Boden stehend die Voraussetzung theilen, daß uns in den
vier evangelischen Berichten wirkliche Geschichte überliefert sei. Es ist hier ein
Wort am Platze, das Strauß von Reimarus gebraucht: ..sein Nein bleibt Nein,
aber sein Ja hat einem besseren Platz machen müssen." Das heißt, seine Be¬
streitung der kirchlichen Ausfassung der vier Evangelien und aller Versuche,
dieselbe für das moderne Bewußtsein aufzustutzen, bleibt unwiderlegt, überwun-e
den ist sein Standpunkt nur insofern als die Forschungen über die Bildung
der Evangclienlitcratur über die Negationen seines Resultats hinausgeführt
haben.
Aber wie verhält es sich nun näher mit diesem negativen, destructiven
Charakter des straußischen Buchs? Mit andern Worten, was hat es leisten
wollen und was hat es geleistet?
Das Leben Jesu von Strauß zerfällt in drei räumlich allerdings ungleiche
Theile, einen orientirenden, einen kritischen und einen philosophischen. Der
erste rechtfertigt die mythische Auffassungsweise, der zweite führt diesen Stand¬
punkt an den einzelnen Erzählungen der neutestamentlichen Geschichte durch,
der dritte stellt das auf kritischem Wege Vernichtete philosophisch wieder her.
An die Stelle der veralteten supranaturalen und übernatürlichen Be¬
trachtungsweise der Geschichte Jesu, so beginnt Strauß, wolle er eine neue
setzen, die mythische Auffassung. Nicht als ob die ganze Geschichte Jesu für
mythisch ausgegeben werden soll, aber alles in ihr soll kritisch darauf angesehen
werden, ob es nicht Mythisches in sich habe. Wenn die altkirchliche Auslegung
davon ausging, daß in den Evangelien erstlich Geschichte, und zwar zweitens
eine übernatürliche enthalten sei, wenn hierauf der Rationalismus die zweite
dieser Voraussetzungen wegwarf, doch nur um desto fester an der ersten zu
halten, daß in jenen Büchern lautere, wenngleich natürliche Geschichte sich finde:
so konnte auf diesem halben Wege die Wissenschaft nicht stehen bleiben, sondern
es mußte auch die andere Voraussetzung fallen gelassen und erst untersucht
werden, ob und wie weit wir überhaupt in den Evangelien auf historischem
Grund und Boden stehen. Der Begriff des Mythus, herübergenommen aus
der profanen Urgeschichte, hatte schon vor Strauß in die Auffassung des alten
Testaments, bald auch in die des neuen Eingang gefunden. Aber er war bis¬
her weder rein gefaßt noch in seinem gehörigen Umfang angewendet worden.
Nicht rein gefaßt, weil neben der mythischen auch die natürliche Auslegung
immer noch ncbenherzulaufen Pflegte und es an Kriterien fehlte, das Geschicht¬
liche von dem sagenhaften auszuscheiden. Nicht umfassend genug angewandt,
weil der Mythus lange an der Schwelle der Kindheitgeschichtc Jesu stehen blieb,
später auch Jesu Lebensende, die Himmelfahrt, anzugreifen wagte, so daß nun
Anfang und Ende von kritischen Zweifeln angefressen war, während der eigent¬
liche Kern von der Taufe bis zur Auferstehung immer noch unangetastet bleiben
sollte, so daß man „durch das Prachtthor der Mythe in die evangelische Geschichte
hinein und durch ein ähnliches wieder hinausfuhr, für das Dazwischenliegende
aber mit den krummen und mühseligen Pfaden der natürlichen Erklärung sich
begnügte." Strauß fand, wenn der Begriff des Mythus einmal zugelassen,
lasse sich eine solche Schranke nirgends ziehen. Den Begriff des Mythus also
aus den ganzen Umfang der Lebensgeschichte Jesu anzuwenden, in allen Theilen
derselben mythische Erzählungen oder wenigstens Ausschmückungen zerstreut zu
finden, dies ist das Augenmerk des Knitters, der nun nicht blos die Wunder¬
erzählungen aus der Kindheit Jesu, sondern auch die aus seinem öffentlichen
Leben, und nicht blos die an ihm vorgegangenen, sondern auch die von ihm
verrichteten Wunder unter die Kategorie des Mythischen stellt. Die Möglich art
von Mythen läßt sich aus inneren und äußeren Gründen nachweisen, und ihre,
beste Rechtfertigung hat die mythische Ansicht überhaupt darin, daß sie nicht em
willkürlicher Einfalt, sondern nur das natürliche Resultat einer vierhundcchahngen
Entwickelung der Auslegungskunst ist.'
Die Durchführungdieses Standpunktes durch das Ganze der evangelischen
Berichterstattung bildet nun den zweiten Theil. Aber es ist ein höchst compU-
cirter Proceß, 'in welchem sie sich vollzieht. Zunächst nämlich gilt es. die be¬
achteten Thatsachen an den bekannten und sonst überall geltenden Gesetzen des
Geschehens zu messen Von wirklicher Geschichte kann überall da nicht die
Rede sein, wo in die Kette der bedingten Ursachen die absolute Kausalität in.t
einzelnen Acten eingreift, oder die Einmischung von Wesen einer höheren Geister-
Welt in die menschliche berichtet wird. Alles Wunderhaste ist also von vorn¬
herein dem Mythus preiszugeben. Aber dazu kommt nun ferner die Wahr¬
nehmung, daß die vier vorhandenen Relationen vom Leben Jesu auf die
mannigfachste Weise auseinandergehen, theils indem die eine behauptet, was
die andere läugnet oder verschweigt, theils indem Zeit, Ort und Umstände einer
und derselben Handlung verschieden angegeben werden. Eine Zusammenstellung
der verschiedenen Berichte nebeneinander ergiebt, daß immer nur die eine Er¬
zählung wirklich so geschehen sein könnte, die andern also unhistorisch waren.
Da sich nun aber hier schwer für die eine oder die andere entscheiden läßt, auch
meistens noch der von den Naturgesetzen hergeleitete Widerspruch dazukommt,
so ^igt sich als der natürlichste Ausweg die mythenbildende Phantasie der
jungen Gemeinde, wofür sich außerdem die stärksten positiven Anhaltspunkte
auffinden lassen. Denn außer dem übermächtigen Eindruck der Persönlichkeit
Jesu, um welche sich bald ein verklärender, verherrlichender Nimbus legte, kommt
nun der Kreis messianischcr Vorstellungen in Betracht, welche, in den letzten
Jahrhunderten entstanden, die christliche Gemeinde vorfand und in einem natür¬
lichen Interesse aus Jesus übertrug. War Jesus der Messias, so mußten auch
alle Weissagungen, alle Vorbilder, welche die alttestamentlichen Schriften auf
den Messias enthielten, an ihm wirklich geworden sein. In der That ergab die
genauere Nachforschung, daß bei allen Wundererzählungen, und nicht blos bei
diesen, sondern fast bei allen Ereignissen im Leben Jesu die alttestamentlichen
Vorbilder sich nachweisen ließen, nach welchen dasselbe in der frommen Sage
der Gemeinde ausgebildet und ausgeschmückt wurde.
War nun aber durch diesen kritischen Proceß das Leben Jesu als ein ge-
schichtliches aufgelöst und in Sagenbildungen der ersten Gemeinde verwandelt
so war es die 'Aufgabe der Schlußabhanbiung, das kritisch Vernichtete dogma¬
tisch wiederherzustellen. Den Kern des christlichen Glaubens, sagte Strauß,
wisse er von seinen kritischen Untersuchungen vollkommen unabhängig, und die
Kaltblütigkeit, mit welcher die Kritik scheinbar gefährliche Operationen vornehme,
.könne nur aus der Sicherheit der Ueberzeugung erklcin werden, daß ihr Ge¬
schäft die Grundwahrheiten des christlichen Glaubens nicht verletze. Das Posi¬
tive in der Lehre von der Pnson Christi findet er nun aber nicht mit der
hegelschen Schule darin, daß nun doch die Einheit der göttlichen und mensch¬
lichen Natur in dem Menschen Jesus individuell und ausschließlich verwirklicht
gewesen sei; vielmehr sei jene Einheit vollkommen nur in der menschlichen
, Gattung, in dem Ganzen des Menschengeschlechts vorhanden. „Die Mensch¬
heit ist die Bereinigung'der beiden Naturen, der menschgewordene Gott, der
zur Endlichkeit entäußerte unendliche und der seiner Unendlichkeit sich erinnernde
endliche Geist, sie ist das Kind der sichtbaren Mutter und des unsichtbaren
Vaters, des Geistes und der Natur, sie ist der Wunderthäter, sofern im Ver¬
lauf der Menschengeschichte der Geist sich immer vollständiger der Natur be¬
mächtigt, diese ihm gegenüber zum machtlosen Material seiner Thätigkeit herunter¬
gesetzt wird, sie ist der Unsüubliche, sofern der Gang ihrer Entwickelung ein
tadelloser ist, die Verunreinigung immer nur am Individuum klebt, in der
Gattung aber und ihrer Geschichte aufgehoben ist, sie ist der Sterbende, Auf¬
erstehende und zum Himmel Fahrende, sofern ihr aus der Negation ihrer
Natürlichkeit immer höheres geistiges Leben hervorgeht. Durch den Glauben
an diesen Christus, namentlich an seinen Tod und seine Auferstehung, wird
der Mensch vor Gott.gerecht, d. h. durch die Belebung der Idee der Mensch¬
heit in sich, namentlich nach dem Momente, daß die Negation der Natürlich¬
keit der einzige Weg zum wahren geistigen Leben für den Menschen sei, wird
auch der Einzelne des gottmcnschlichen Lebens der Gattung theilhaftig."
Der Haupttheil des Straußfeder Werks ist der kritische, wie er auch bei
weitem den größten Raum einnimmt. Die Zerstörung der kirchlichen Vorstel¬
lung Vom Leben Jesu war die Hauptabsicht, und die Art und Weise der Aus¬
führung, die logische Schärfe, mit welcher die Widersprüche aneinandcrge-
halten und alle Versuche sie zu bemänteln unerbittlich zermalmt werden, die
einfache Dialektik, welche die verwickelten Knoten wie von selbst sich lösen läßt,
die heitere Objectivität der Beweisführung, die Kunst der Gruppirung, die
Durchsichtigkeit der Sprache, welcher jede Zweideutigkeit widersteht, haben dem
Buche sofort eine classische Geltung in unsrer wissenschaftlichen Literatur an¬
gewiesen. Der Widerspruch des modernen Bewußtseins mit der überlieferten
kirchlichen Vorstellung war längst geahnt, an einzelnen Punkten aufgezeigt,
aber man hatte immer wieder nach Auskunftsmitteln gegriffen, um sich diese
Wahrheit zu verdien oder zu verhüllen. Eben diese Selbsttäuschungen wur¬
den von Strauß in ihrer ganzen Nichtigkeit blosgelegt. Wurden d.e biblischen
Berichte wie die Zeugen in einem Kreuzverhör Aug in Auge gegen errante,
vorgeführt. so richteten sich die schärfsten Waffen der Kritik doch erst gegen d.e
modernen Auslcguugstunstler aller Schattirungen. welche dem Resultat i.me.
Zeugenverhörs auszuweichen, es in Objectivem Interesse umzubiegen oder ab¬
zuschwächen versuchten; mit wahrem Behagen ging ihnen der Künder ^en
heimlichen Wegen nach und ertappte sie aus ihren Trugschlüssen und kleinlichen
Künsten, holte die Ausreißer zurück, schlug sie mit ihren eignen Worten; da
war kein Entrinnen, die Gegner waren in ihren eignen Schlingen gefangen,
und das Ergebnis; war ans allen Punkten das. daß die biblische Erzählung
weder in ihrer ursprünglichen Einfalt noch in ihren rationalistischen und supra-
naturalistischen Auslegungen sich vor dem modernen Bewußtsein halten könne.
So weit war nun der negative Charakter der Straußfeder Kritik sett'ft-
verständiich. Aber wie verhielt es sich nun mit dein Leben Jesu selbst, von
dem man erwarten konnte, daß es nach Abstreifung der mythischen und dog¬
matischen Borsteltungen in seiner reinen Geschichtlichkeit hergestellt wurde? Go' ist kein Zweifel, daß auch in dieser Hinsicht das Ergebniß des Straußfeder Buchs
ein negatives ist. Es waren nicht blos die bisherigen Borstellungen vom ^eben
Jesu durch die Kritik beseitigt, sondern es waren auch dessen geschichtliche
Grundlagen auf allen Punkten in Frage gestellt. Die Möglichkeit einer ge¬
schichtlichen Erkenntniß wurde zwar nickt ausdrücklich in Abrede gezogen. aber
das gesammte Material, welches für diesen Zweck einzig vorlag, wurde nach
eindringender Prüfung Stück für Stück alö untauglich für diesen Zweck erklärt.
Das einzig Positive war nur dies, daß in der mythenbildenden Phantasie der
jungen Gemeinde geschichtliche Factoren aufgezeigt wurden. Aber wenn es sich
"und im Allgemeinen erklären ließ, wie die in der Zeit liegenden messiamscken
Vorstellungen später auf die Person Jesu übertragen wurden, so war damit
für den wirtlichen Verlauf des Lebens Jesu nicht das Mindeste gewonnen.
Strauß gab sich auch gar keine Mühe, d>> Negativität seines kritischen Ergeb¬
nisses in dieser Beziehung zu verbergen.' Er sagt es wiederholt, daß er bei der
Beschaffenheit der Quellen aus eine pragmatische Darstellung Vollständig verzichte,
daß er es vielmehr nur mit der Kritik der Berichte zu thun habe, und da diese,
auch wo sie den Naturgesetzen nicht widersprechen, doch unter einander fast
überall in Widerstreit sind, so hatte Strauß — von den rein mythischen Er¬
zählungen, wie, in der Kindheitsgeschichte u. s. w. abgesehen -— fast bei jedem
Abschnitt zu gestehen. daß. sich bei der Beschaffenheit der Quelle» über den ge¬
schichtlichen Hergang nichts Gewisses oder auel, nur Wahrscheinliches mehr er¬
mitteln lasse, ein abschließendes Urtheil wenigstens weiterer Forschung vor¬
behalten bleiben müsse. Selbstverständlich war dann nicht blos eine eigentliche
Erzählung, sondern auch nur eine Zusammenstellung der Hauptmomente des
Lebens Jesu, ja selbst eine zusammenfassende Charakteristik seiner Person aus¬
geschlossen. Nicht der Zweifel an der Realität des Lebens Jesu, wohl aber der.
Zweifel an der Realität aller einzelnen überlieferten Geschichten und Züge dieses
Lebens, dies war das letzte Resultat der Straußfeder Kritik.
Es war nun leicht zu sehen, daß auch dies mit der kritischen Gewissen¬
haftigkeit und Unbestechlichkeit des Standpunktes von Strauß überhaupt zusammen¬
hing, der mit Zurückdrängung aller Subjectivität rein nur den Gang der Unter¬
suchung selbst sprechen, ihn wie einen Naturproceß sich vollziehen ließ und alle
Hypothesen und Combinationen, wie er sie an Andern bekämpft, so auch seiner¬
seits aufs strengste abwies. Allein die Wahrnehmung, daß die genaueste Durch¬
wühlung der Quellen nur dazu dienen sollte, den Thatbestand des Lebens Jesu
auf jedem Punkte unsicher zu machen, hatte etwas Unbefriedigendes, gegen das
nicht nur die religiöse Angewöhnung sich auflehnte. Die Wiederherstellung des
dogmatischen Gehalts des Lebens Jesu bot nur einen dürftigen Ersatz, da sie
doch nur den philosophisch Gebildeten zugänglich war, aber weder dem religiösen
noch dem historischen Interesse genugthat. Betroffen, mit ängstlicher Rat¬
losigkeit stand man gegenüber dieser Negativität des Resultats; hing sie doch
aufs engste zusammen mit der Kritik der evangelischen Berichterstattung, die
man nicht anzugreifen im Stande war. Der Widerspruch war allgemein, aber
er war um so tumultuarischer, da man nicht klar war, wo der Fehler eigent¬
lich sitze, und man an einer Reihe unwesentlicher Punkte herumtastete, um
Strauß vermeintlich zu widerlegen, den eigentlichen Kernpunkt aber nicht treffen
konnte. Und doch kam alles darauf an, den Sitz des Rechnungsfehlers zu
entdecken, dem man Wohl auf der Spur war, aber ohne seiner habhaft zu
werden.
Man weiß jetzt, wo dieser Fehler sitzt. Er hing aufs engste mit der ganzen
Methode der Untersuchung zusammen und beruht auf dem damaligen Zustand
der 'neutestamentlichen Kritik. Indem Strauß einfach die vier evangelischen
Berichte einander gegenüberstellte, diese aber nicht blos in Nebenumständen,
sondern auch in Bezug aus Hauptthatsachen nicht zu vereinigen waren, so schien
man sich überall mit der bloßen Constatirung dieser Widersprüche begnügen zu
müssen. Jede Combination, jeder Ausgleichungsversuch hätte aus die Wege
zurücklcnken müssen, welche Strauß eben für immer abwies. Wie konnte histo¬
risch Sicheres z. B. über den Schauplatz der Thätigkeit Jesu sich ermitteln
lassen, wenn die drei ersten Evangelien Jesus bis zu der letzten entscheidenden
Reise nach Jerusalem in Galiläa verweilen lassen, das vierte Evangelium ihn
durch die wiederholten Festreisen von Anfang an mit dem Centrum des Juden-
thums in Berührung bringt und diese Differenz für den ganzen Gang der
beiderseitigen Relation entscheidend ist? Was über die Einsetzung des Ge-
dächtnißmahles, von welcher derjenige Evangelist nichts weiß, den man so gern
als den zuverlässigsten Erzähler betrachtete, oder über den Todestag Jesu, der
von den Synoptikern auf den Tag nach dem Passahfeste, von Johannes aus das
Passahfest selbst verlegt wird. In allen diesen und anderen Fällen konnte aus¬
schließlich nur die eine Darstellung historisch sein; aber für welche sich ent¬
scheiden? Es ist klar, so lange man einfach die verschiedenen Relationen
einander gegenüberstellte, war geschichtlich Sicheres nicht auszumitteln; man
sah sich im günstigsten Fall auf Wahrscheinlichkeitsgründe gewiesen, die sich
aus der Prüfung der einzelne» Erzählungen ergaben. Allein gerade das Er¬
gebniß, daß die wichtigsten Differenzen sich so vertheilen, daß aus der einen
Seite die drei ersten Evangelisten stehen, auf der anderen Johannes, mußte zu
einer ganz anderen Fragstellung leiten. Ist die Differenz zwischen beiden Ge¬
schichtserzählungen eine so durchgreifende, daß nur die eine oder die andere in
ihrem Recht sein kann, so kommt es nicht mehr darauf an, auf jedem einzelnen
Punkte den Widerspruch zu constatiren, sondern nach den tieferen Gründen zu
forschen, ans welchen eine so principielle Verschiedenheit beruht. Die Evangelien
mußten abgesondert für sich auf ihre Gesammthaltung, auf ihre Tendenz, auf
den beherrschenden Gesichtspunkt ihrer Erzählung angesehen werden, und dies
mußte sofort zu der Wahrnehmung führen, daß der mythische Gesichtspunkt, um
die Bildung der Evangelienliteratnr zu erklären, nicht ausreicht, daß hier viel¬
mehr dogmatische Momente mitwirkten, welche nun eben das Hauptlriterium
für die gegenseitige Unterscheidung der Evangelien sind. Mit anderen Worten:
einer Kritik des Lebens Jesu mußte eine Kritik der Evangelien vorausgehen.
Wie es mit der Kritik der Evangelien damals stand, zeigen am besten die
wenigen einleitenden Worte, die sich bei Strauß darüber finden. Er begnügt
sich mit dem Nachweis, daß die Augenzeugenschaft oder ein solches Verhältniß
zu Augenzeugen, welches das Eindringen von Mythen in die christliche Ueber¬
lieferung undenkbar machte, von keinem Verfasser unserer Evangelien durch
äußere Zeugnisse zu beweisen sei, es sei also rein nach inneren Gründen bei
den einzelnen Erzählungen zu entscheiden, ob sie eine historische oder eine mythische
Erklärung verlangen. Allein bemerkenswert!) ist nun, daß Strauß eben auf diesem
Wege, auf dem Weg der Einzelkrillk vielfach schon auf dieselben Resultate
kommt, welche durch die späteren Forschungen bestätigt und vervollständigt
worden sind. Die grundsätzliche Verschiedenheit des Jvhannesevangcliums von
den drei anderen entging ihm um so weniger als sie ihm auf allen einzelnen
Punkten wieder aufstieß. Vielfach ist schon von der idealisierenden, einheitlichen,
absichtlrch verherrlichenden Darstellung des vierten Evangelisten die Rede, wie auch
auf die dogmatische Tendenz andrer Evangelien gelegentlich ein Licht fällt. Wo
dann die Berichte der Evangelien auseinandergehen, werden mit gründlichster
Gewissenhaftigkeit die Gründe für und wider jede Darstellung abgewogen;
dabei wird der geschichtliche Vorzug, den man gewöhnlich dem vierten Evange¬
lium beilegt, auf jedem Punkt mit den triftigsten Gründen bestritten, und
häusig angedeutet, daß wenigstens die größere Wahrscheinlichkeit auf Seite der
Synoptiker sein möchte. Aber weiter wagt sich der behutsame Kritiker nicht,
immer schließt er mit einem von liesse. Die zerstreuten, auf den einzelnen
Punkten gewonnenen Bemerkungen mußten zu einer zusammenhängenden Unter¬
suchung werden, welche sich über die gesammte altchristliche Literatur erstreckte,
bevor man über die negativen Resultate von Strauß hinauskommen konnte.
Allein von seinem epochemachenden Charakter hat durch die späteren For¬
schungen das berühmte Buch nichts verloren. Es Hut die Gesammtarbeit des
Nationalismus zusammenfassend der kirchlichen Erzählung vom Leben Jesu die
Widersprüche nachgerechnet, in welche sie sich mit sich und mit den Denkgesetzen
verwickelt; in dieser Beziehung ist. was es geleistet hat. ein für alle Mal gethan.
Es hat damit zugleich die kirchliche Auffassung der Evangelienschriften aufs tiefste
erschüttert, und dies hat den weiteren Forschungen vorgearbeitet, welche von
dem nunmehr gewonnenen Standpunkte, diese Schriften nicht als göttlich ein¬
gegeben und unfehlbar, sondern als einfache Erzeugnisse der urchristlicher Lite¬
ratur zu betrachten, bereits ausgehen konnten. Indem Strauß mit einem rein
negativen Ergebniß abschloß, zeigte er, daß auf dem bisherigen Wege, durch
die bloße Gegenüber- und Zusammenstellung der Evangelien keine weitere Unter¬
suchung mehr möglich war, daß diese vielmehr nach einem andern Ausgangs¬
punkte zu suchen hatte. Indem er den mythischen Gesichtspunkt für das Ganze
der evangelischen Geschichte durchführte, wies er auf den ganz richtigen Weg.
nämlich nach den Motiven zu suchen, aus welchen die biblischen Sagen nichl
blos, sondern auch die scheinbar historischen Erzählungen sich herausgebildet
haben. Indem er zuerst in ein rein kritisches, parteiloses Verhältniß zu seinem
Gegenstand sich setzte, durchbrach er die dogmatische oder einseitig teleologische
Auffassung des Urchristenthums und bereitete die historische vor, welche nur
durch dieselbe kritische Methode gewonnen werden konnte, mit der man längst
die Probleme der Prosangeschichte zu behandeln gewohnt war. So war das
Werk abschließend zugleich und vorwärts deutend, es ist, wie Strauß selbst mit
Recht sagen konnte, „das geschichtliche Denkmal eines Wendepunktes in der
Entwickelung der neueren Theologie", und dieser Ruhm wird ihm bleiben.
Die Schnelligkeit der Kolonisation weiter Landstriche durch Culturvölker
der alten und der neuen Zeit erregt stets aufs Neue unser gerechtes Erstaunen.
Nicht ohne Selbstgefühl Pflegen wir uns zu sagen, daß unter den modernen
Nationen vor allen die germanischen Stammes es sind, welche das stärkste
Ausbrcitungsstrcben. den erfolgreichsten Trieb der Besitznahme wüsten oder schlecht
bewirthschafteten Bodens kund geben. Und doch, was ist die rasche Germani-
sirung der jetzt deutschen Länder rechts der Elbe, was die reißend schnelle Be¬
setzung der weiten Continente Nordamerikas und Australiens gegen die Eile
und die Energie, mit welcher die Pflanzenwelt den Besitz herrenlosen Bodens
ergreift? Wo immer nur auf der Erde, unter Verhältnissen, welche überhaupt
eine Vegetation gestatten, ein vegetationsleerer Raum gebildet werden möge,
da bekleidet er sich binnen kürzester Frist mit einer Pflanzendecke. Die neuen
Ansiedler sind allerwärts die Nachkommen von Pflanzen anderer Standorte,
keine neuen Erschaffungen. Die Erfahrung lehrt uns dies mit ausnahmsloser
Giltigkeit. für den Anflug junger Birken auf der Stätte eines Waldbrandes
so gut, wie für den Ueberzug von Schimmel, der auf einer feuchten Brodkruste
sich bildet. Der neue Boden wird bevölkert durch die Ankunft zur Weiteren!-
Wickelung gelangender Keime, aus dem Zusammenhang mit dem Mutterstock
gelöster Theile von Individuen anderwärts gewachsener Pflanzen.
Solche vom mütterlichen Organismus sich trennende, der selbständigen
Vegetation fähige Keime sind bei nicht wenigen auch der zusammengesetztest
gebauten Pflanzen unmittelbare Hervorbringungen der ununterbrochen verlau¬
fenden Entwickelung. Die Brutzwiebeln vieler Lilien und Laucharten, die Knollen
der Kartoffeln, die Ausläufer der Erdbeerstauden — sie alle sind in der Ent-
faltung nur wenig von den übrigen Sprossen der Mutterpflanze abweichende
Zweige, alle mit dem Vermögen begabt, nach Abtrennung von dem Stamm¬
gewächs für sich allein sortzuwachsen. Unter den Gewächsen einfacherer Organi-
sation ist die Fortpflanzung durch Weiterentwickelung aus dem Zusammenhange
der Mutterpflanze ohne weitere Vorbereitung sich lösender Theile von ausgedehn¬
tester Verbreitung. Aber ungleich häufiger, als diese Fortpflanzung durch
Brutknospen oder durch Theilung ist unter den complicirter organisirten Ge¬
wächsen diejenige, bei welcher es der Einwirkung eines nur für diese Thätigkeit
bestimmten Organs auf ein anderes eigenthümliches Gebilde bedarf, um das
letztere zur Fortentwickelung auch nach seiner Abtrennung von der Stammpflanze
zu befähigen. Und keinem Typus pflanzlicher Gestaltung, auch nicht dem ein-
fachsten, fehlt diese Form der Fortpflanzung. Die ausnahmslose Nothwendigkeit
des Zusammenwirkens der beiderlei Organe zur Hervorbringung eines neuen
Keimes bietet uns die schlagendste Analogie mit der thierischen Zeugung, und
es verdient diese Vermchrungsweisc der Gewächse mit vollstem Recht die all¬
gemein ihr, beigelegte Bezeichnung der geschlechtlichen.
Wir stehen hier vor einem der tiefsten Geheimnisse der organischen Natur.
Wozu die umständliche, in ihrem Gelingen nur zu häufig von Zufälligkeiten ab¬
hängige geschlechtliche Befruchtung, da doch die Pflanze so oft auch andere
einfachere Mittel und Wege der Fortpflanzung besitzt? Wäre das Ergebniß der
Befruchtung lediglich die Vermehrung der Individuenzahl, so müßte sie uns
bei vielen Pflanzen als eine überflüssige Einrichtung erscheinen. Fern sei uns
der vermessene Versuch, durch bodenlose Vermuthungen die weit gähnende Lücke
unserer Kenntniß auszufüllen. Unsere Aufgabe soll eine bescheidnere sein. Wir
wollen in raschem Ueberblick die wesentlichen Erscheinungen der mannigfaltig
verschiedenen Formen geschlechtlicher Fortpflanzung der Vegetabilien nebenein¬
anderstellen, und so einige allgemeinere Gesichtspunkte für die Betrachtung des
verwickelten Gegenstandes zu gewinnen suchen.
Wir können die Thätigkeit der Organe geschlechtlicher Fortpflanzung der
Gewächse zurückführen auf das Zusammenwirken einer Zelle des befruchtenden
Organes mit einer Zelle des keimbercitenden: auf das Zusammenwirken zweier
der Hohlkörper mit für Flüssigkeiten und Gase durchdringbarer Wänden und
wasserhaltigen, flüssigem und festem Inhalte, aus denen die Pflanzen aufgebaut
sind. Bei den blüthentragenden Pflanzen sind jene Befruchtungswerkzeuge in
Form und innerem Baue von den übrigen nicht allzusehr abweichende Blätter.
Die Anhäufungen solcher Blätter, einer oder beider Arten, und der in Kreisen
sie umstehenden durch Form und Farbe von den Laubblättern verschiedenen
Hüllblätter an den Enden bestimmter Zweige stellen das dar, was wir die
Blüthen der Pflanze zu nennen gewohnt sind. Diejenigen Blätter, welche die
befruchtenden Zellen in sich erzeugen, führen die Namen der Staubblätter, Staub¬
gefäße, Stamina. Bestimmte Zellen der inneren Gewebe dieser Blätter treten
aus dem organischen Zusammenhange mit den übrigen; sie sind, bei der völligen
Ausbildung, der Reise des Staubblattes, frei liegende einzelne Zellen oder
Zellengruppen, denen durch die Entstehung von Oeffnungen in den äußeren,
oberflächlichen Zellschichten des Staubblattes die Möglichkeit gegeben wird, ihre
Bildungsstätte zu verlassen. Mit seltenen Ausnahmen ist der Entwickelungsgang
der Art, daß in dem oberen, anschwellenden Theile des Staubblattes, welcher
Anthere oder Staubbeutel genannt wird, vier parallele Längsreihen von größeren
Zellen sich aussondern; daß dann der Zusammenhalt dieser Zellen unter sich
und mit den übrigen Geweben der Anthere gelockert wird. Darauf entstehen
in jeder der frei gewordenen Zellen durch Theilung ihres Innenraumes vier
Tochterzellen. die nach Verdickung ihrer Wandungen durch Verflüssigung der
äußeren Schichten der Wände frei werden, und nun frei in der Inhallsflüssig-
keit von Hohlräumen der Anthere schwimmen. Diese Flüssigkeit verliert sich mehr
und mehr mit vorschreitender Reifung des Staubblattes. Die Anthere trockn
mehr und mehr aus. Infolge ungleichmäßiger Austrocknung der ihre Ho t-
räume umhüllenden Schichten reißen diese in bestimmter Weise auf. Die >n
den Höhlungen enthaltenen freien Zellen kommen mit der Luft in uumittelb.rrc
Berührung. Diese Zellen, jetzt ein feines Pulver darstellend, heißen Btttthcn-
staub oder Pollen. Die Pollenzelle zeigt zwei deutlich unterschiedene Schichten
ihrer Wand: eine äußere, sprödere, verschiedenartig gefärbte, und eine innere,
dehnbarere, farblose.
Diejenigen Blatlorgane der Blüthe, welche bestimmt sind, die durch die
Befruchtung zur Weiterentwickelung anzuregenden Keime zu erzeugen, die Flug¬
blätter oder Carpelle, vereinigen ihre seitlichen Ränder und bilden so Ho.,t-
räume, deren unterer Theil bedeutend erweitert, deren mittlerer enger, der.»
oberster t'nvpf- oder bartähnlich ausgebreitet zu sein pflegt. Man nennt jenen
bauchigen untern Theil Fruchtknoten oder Germen, den Um überragenden. on>n
einem engen Kanäle durchzogenen Halstheil Griffel oder stylus, die endständige
Ausbreitung desselben Narbe oder Stigma.
Aus der Jnnenwand des Fruchtknotens, und zwar in der Regel aus Ver¬
wachsungsstellen der Seitenränder von Carpeilen, entwickeln sich in die Höhlung
derselben hinein Sprossungen aus Zellgewebe, welche sich in den meisten Fällen
durch das Hervorwachsen krausenähnlicher Ringwulste aus ihrem Grunde mit
einer oder mehrern, am Scheitel offenen Hüllen umkleiden. Diese Sprossen,
die Eychen der Pflanze, sind es. in deren Innerem die Keime neuer Individuen
erzeugt werden. Eine in der Längsachse des Eychens liegende Zelle, sehr selten
mehre solche, nimmt an Größe beträchtlich zu. ihre Nachbarzcllen zusammen¬
drückend und verdrängend-, bei vielen Pflanzen in dem Maße, daß sie den
ganzen von den Eyhüilen umschlossenen Raum, oder doch den größeren oberen
Theil desselben einnimmt. Diese Zelle heißt der Embryosack. Geraume Zeit
vor der Befruchtung, meist lange vor dem Oeffnen der Blume, entstehen in
ihrem der Eymündung zugewendeten Ende, durch Zcllbiidung aus einem Theile
ihres Inhalts, einige — selten mehr als drei — ursprünglich freie, weiterhin
aber der Schcitelwölbung des Embryvsackcs sich fest einschmiegende und an¬
haftende, zartwandige Zellen, die Keimbläschen.
Bei allen Pflanzen wird Pollen in viel größerer Masse gebildet, als zu
befruchtende Eychen. Das Mißverhältnis; der Zahl wird da ganz excessiv, mo
durch Vertheilung der Befruchtuiigsorgcme beiderlei Art an verschiedene Sprossen
oder Individuen das Zusammenbringen der Fvrtpflanzungszellcn lediglich dem
Zufalle überlassen ist: bei der Kiefer nach sehr mäßigem Überschlage wie
1 zu 400,000, bei der Haselnuß wie 1 zu einer Million, dem Taxus wie 1 zu
2 Millionen. Die Ausbildung des Pollens schreitet der der Eychen beträchtlich
voraus; bisweilen um sehr lange Zeiträume: um zwei Monate bei unsern deut¬
schen Eichbäumen; um vierzehn Monate bei mehrern südeuropäischen und nord-
amerikanischen Eichenarten. Die Narbe ist in allen diesen Fällen verspäteter
Entwickelung der Eychen schon bei dem Bersten der Antheren vorhanden, und
auf diese wird der Pollen unmittelbar nach seiner Reife gebracht. Aber seine
weitere Entwickelung erleidet eine lange Verzögerung und Unterbrechung.
Für die Einleitung zur Befruchtung ist es unerläßlich, daß Pollen auf
die Narbe gelange. Diese ist zur Zeit des Berstens der Antheren durch Aus¬
wachsen der Zellen ihrer Oberfläche zu Papillen sammtartig rauh, meistens auch
durch Ausschwitzen einer Flüssigkeit klebrig feucht. Der Bau nur weniger Blü¬
then ist der Art, daß deren Blüthenstaub durch die Mechanik des Aufspringens
der Antheren sofort auf die eigene Narbe gebracht würde. Bei einer großen
Zahl der Pflanzen, deren Blüthen beiderlei Befruchtungsorgane einschließen,
bestehen vielmehr Einrichtungen, weiche die Bestäubung der Narbe durch den
Pollen der männlichen Blüthe unwahrscheinlich, ja unmöglich machen, und schier
die Mehrzahl der blüthentragenden Gewächse ist in Bezug auf die Uebertragung
des Pollens auf die Narbe auf fremde Beihilfe, vorzugsweise auf die von
Jnsecten. welche die Blüthen besuchen, mit unbedingter Nothwendigkeit an¬
gewiesen.
Nach kürzerem oder längerem Verweilen auf der Narbe beginnt die Pollen¬
zelle eine rasche Wachethumslhätigkcit ihrer inneren Haut. Diese stülpt sich an
einer oder mehrern Stellen nach außen, durchbricht die spröde äußere Pollen-
Haut, meistens an bestimmten, vorgebildeten verdünnten Stellen oder Oeffnungen
und tritt als eine cylindrische Röhre, als Pollcnschlauch, aus dieser hervor.
Die Anregung zur Entwickelung von Pollcnschläuchen ist keine besondere Eigen¬
thümlichkeit der Narbe oder der von ihr ausgesonderten Flüssigkeit. Die
gleichen Wachsthumserscheinungen treten häufig ein, wenn Pollenzellen in den
von Blüthen ausgesonderten Honigsaft, oder in Zuckerwasser gebracht werden;
und in nicht wenigen Fällen beginnt der Pollen noch innerhalb der Anthere
Schläuche zu treiben: so bei einigen Orchideen, der Aristolochia und gewissen
Wasserpflanzen.
Die Pollenschläuche, fortdauernd in die Länge wachsend, dringen in den
Griffelkanal, nach Zurücklegung desselben in die Höhle des Fruchtknotens, an
die Anheftungsstellen, endlich bis in die Mündungen der Eychen. Sehr häusig
ist der Weg durch Streifen papillos gewordener Zellen der Außenflächen der
Organe ihnen bezeichnet, an denen hin sie zu wachsen haben, und wo solche
Einrichtungen nicht bestehen, da bürgt die ausnehmend große Zahl der in die
Fruchtknotenhöhle hinabwachsenden Pollenschläuche für das Eintreffen etlicher
derselben in der Mündung von Eychen.' Im Eymunde angelangt, bahnt sich das
weiter wachsende Pollenschlauchende seinen Weg bis zur Außenfläche des Embryo-
sacks. Ist dieser noch von Gewebschicbtcn des Eychens eingehüllt, so durch¬
bricht der Pvllenschlauch zerstörend diese Zellenmassen. An der Embryvsackhaut
endet bei den meisten Pflanzen das Vordringen des Pollenschlauchcs. Er legt
sich derselben dicht an. lastet mehr oder minder fest an ihr, aber er durchbohrt
sie nicht. In einigen wenigen Ausnahmefällen dringt indeß das Pollenschlauchende
bis ins Innere des Embryosackes, indem es in der Scbeitelwölbung desselben
ein enges Loch macht. Das' Ende des Pollcnschlauches bleibt in beiden Fällen
völlig geschloffen, ohne jede wahrnehmbare Oeffnung.
Die Beobachtung zeigt ausnahmslos, daß die Ankunft eines Pollenschlauches
am oder im Embryosacke der Weiterentwickelung eines der Keimbläschen zum
Keime einer neuen Pflanze vorausgeht. Lediglich in solchen Embryosäcken, die
von einem Pollenschläuche erreicht worden sind, tritt in einem der Keimbläschen,
und zwar stets in dem dem Eymunde fernsten, eine Reihenfolge von Zell¬
vermehrungen durch Theilung ein, deren nächstes Ergebniß die Bildung eines
einfach gebauten, cylindrischen Zellstranges ist, des Borkeims. Aus der Zelle
oder der Zellengruppe des unteren Endes des Bvrkeimes, mit welchem dieser
frei in den Raum des Embryvsackes hineinragt, entwickelt sich durch gesteigertes
und complicirteres weiteres Wachsthum ein massiger Körper aus Zellgewebe,
das Embryokügelchen. Dieses ist die Anlage des Stammes des neuen, der
Mutterpflanze ähnlichen Individuum, der in den zum Samen sich umbildenden
Eychen eingeschlossenen Miniaturpflanze, des Keimes oder Embryo, der zur
Weiterentwickelung nach der Lostrennung des Samens aus der Frucht befähigt ist.
Es ist für die Anregung eines der Keimbläschen zur Umwandlung in den
Embryo innerhalb eines weiten Spielraums gleichgiltig, auf welche Stelle des
Embryosackscheitels das befruchtende Pollenschlauchende auftrifft. Insbesondere
steht diese Berührungsstelle in keiner bestimmten Beziehung zu dem Orte, an
welchem das zur Weiterentwickelung gelangende Keimbläschen der Innenfläche
des Embryosackes anhaftet. Es ist geradezu Regel, daß beide Punkte nicht
zusammenfallen; oft sind sie eine beträchtliche Strecke von einander entfernt.
Bei einigen wenigen Pflanzen werden mehre Keimbläschen desselben
Embryosacks durch die Befruchtung zur Weiterentwickelung veranlaßt. Es sind
dies solche, bei denen die Zahl der Keimbläschen ungewöhnlich groß, mehr als
drei ist. Derartige Samen enthalten mehre Embryonen; bis zu fünfen die
?unlcia ever-nten., bis zu achten die Orange. Die Beobachtung zeigt, daß die
Ankunft eines einzigen Pollenschlauches am Embryosacke genügt, eine Mehrzahl
von Keimbläschen zur Umgestaltung in Embryonen zu bestimmen.
Während der Ausbildung des Embryo vergrößern sich Hüllen und innere
Gewebe des Eychens; neue Zellgewebe werden häufig, im Innern des sich sehr
erweiternden Embryosackes, hinzu gebildet; das Eychen wächst zum Samenkorn
heran. Und damit geht die Umbildung des Fruchtknotens zur Frucht Hand in
Hand: das oft überraschend große Wachsthum derselben, die Aenderung ihrer
Beschaffenheit, ihr saftig- oder Holzigwerden.
Für diese Umwandlungen des Eychen zu Samen, des Fruchtknotens zur
Frucht ist indeß das Auftreten eines Embryo im Innern der Eychen kein absolut
nothwendiges Erfordernis). Die Ausbildung tauber, embryonenloser Samen¬
körner, wie auch die tauber, samenloser Früchte sind beide sehr häufige Er¬
scheinungen. Es seien die Corinthen, die Bananen, als Beispiele regelmäßigen
solchen Borkommens genannt. Zwar ist es nur für einige der hierher gehörigen
Fälle festgestellt, daß auch die Anlegung eines Embryo unterbleibt, daß nicht
etwa ein solcher nach kurzer Vegetation wieder abstirbt; — für diese wenigen
Fälle aber auch mit vollster Sicherheit.
Vielfach verschieden von der der blüthentragenden Pflanzen ist die Samen¬
bildung der Nadelhölzer. Die Eychen derselben sind nicht in Höhlungen an
den Rändern eingeschlagener Fruchtblätter eingeschlossen, sondern stehen frei
auf oder an ausgebreiteten Carpellen. In den Pollenzellcn beginnt, nach
ihrer Ausbildung und kurz vor oder während ihres Verständen«, ein Ent-
wickelungsproceß, der zur Bildung einer, in den Innenraum der Zelle ein¬
geschlossenen, ihrer Wand mit dem einen Ende aufsiizcnden kurzen Zellenreihe
mit angeschwollener Endzelle führt. Die Pollenzellcn gelangen durch die weite
Oeffnung der Eyhülle auf den Scheitel des Eychens selbst, und hier entwickeln
sie durch Wachsthum der Endzeile jene Reihe Pollenschläuche, welche die ur¬
sprüngliche Wand der Pollenzelle durchbrechen und in das Gewebe des Eychens
dringen. Noch mannigfaltigere Entwickelungsvorgänge ereignen sich in den
Embryvsäcken, noch bevor Pollenschläuche an der Außenfläche derselben eintreffen.
Die Embryosäckc der Nadelhölzer sind weit häusiger als bei den blüthentragenden
Pflanzen, in demselben Eychen in Mehrzahl vorhanden. Ihre Verbindung mit
dem sie einschließenden Zellgewebe des Eychens ist sehr locker; ihre Wand läßt
deutlich und im ganzen Umfange zwei Schichten unterscheiden, deren äußere der
äußeren Schaale der Pollenkörner ähnelt. Sie füllen sich mit geschlossenem Zell¬
gewebe, und wachsen, unter gleichzeitiger Massenzunahme der sie umhüllenden
und tragenden Theile, zur vollen Größe heran, die sie in den reifen Samen und
reifen Fruchtstand einnehmen. Der Zapfen und die künftigen Samen einer
Fichte oder Kiefer erreichen ihren schließlichen Umfang, noch bevor die Befruch¬
tung in ihrem Inneren erfolgte. Von den Zellen, welche den herangewachsenen
Embryosack ausfüllen, nehmen einige an Größe sehr bedeutend zu. Sie liegen
in dem Ende des Zellenkörpers, welches dem Eymunde zugewendet ist, und dicht
unter der äußersten Zellschicht desselben. Diese großen Zellen sind die so¬
genannten Corpuscula oder die secundären Embryosäcke. In ihren Inneren
bilden sich freie, sphärische Zellen, in größerer Anzahl und durch den ganzen
Raum des Corpusculum vertheilt. Die Pollenschläuche wachsen inzwischen durch
das Gewebe des Eychens bis an die Außenfläche des Embryosackes herab, durch¬
brechen dessen Haut und dringen bis an die Scheitelwölbung der Corpuscula,
oder selbst bis ins Innere derselben. Von da abnimmt eines der vom Pollen¬
schlauchende berührten Keimbläschen rasch an Größe und Concentration des In¬
halts zu. Es wandert, die übrigen zur Seite drängend, nach der unteren
Wölbung des Corpusculum, preßt sich dieser fest ein. und verwandelt sich,
durch wiederholte Theilung mittelst übers Kreuz gestellter Längswände, in eine
Rosette von Zellen, den 'Vorkeim. Diese Zellengruppe streckt sich, ihr Ende
dringt tiefer und tiefer in das den Embryosack ausfüllende Gewebe; seine Zellen
theilen sich dabei durch Querwände. Die einzelnen Längsreihen von Zellen treten
seitlich aus dem Zusammenhange, und aus den Endzellen einer, oder mehrer, oder
aller dieser Reihen entwickeln sich Embryonen. Da nun auch in der Regel
mehre Cvrpuscula desselben Embryosackes befruchtet werden, so enthält der
junge Same eines Nadelbaums stets eine beträchtliche Zahl von Embryonen:
die der Kiefer selten unter acht, die des Wachholders oft über dreißig. Einer
dieser vielen Embryonen pflegt aber durch weit vorauseilende Entwickelung die
anderen zur Seite zu drängen und zur Verkümmerung zu bringen. Der reise
Samen liefert in der Regel nur eine .Keimpflanze.
Die zwischen dem Verständen des Pollens und dem Eindringen der Pollen-
schläuche in die Corpuscula vor sich gehenden Entwickelungen nehmen einen
längeren Zeitraum in Anspruch: bei den Fichten zwei, bei den Kiefern vier¬
zehn Monate.
Die Eigenthümlichkeiten der Samenbildung der Nadelhölzer stellen den
Uebergang dar von derjenigen der blüthentragenden Pflanzen zur Embryobildung
der diesen ähnlichsten kryptogamischen Gewächse. Die ausgiebigste, in vielen
Fällen die einzige Fortpflanzung der Kryptogamen geschieht durch die Ver¬
mittlung einfacher Zellen, deren Entwickelung in allen Stücken der gewöhn¬
lichen des Blüthenstaubes gleicht, und die nach erlangter Ausbildung von der
Mutterpflanze sich trennen, um selbständig zu vegetiren. Gleich den Pollenzellen
entstehen sie durch Umwandlung des inneren Gewebes von Blättern oder Blatt¬
theilen, zu vieren in je einer Mutterzette; gleich jenen zeigen sie eine dickere,
sprödere äußere, und eine zartere, dehnbarere innere Schicht der Wand. Man
belegt diese Zellen mit dem Namen der Sporen. Bei den Kryptogamen,
welche den blüthentragenden Pflanzen am nächsten stehen, sind die Sporen von
zweierlei Größe, deren Volumen um beiläufig das Tausend- bis Zweitausend¬
fache differirt. Der Entwickelungsgang der großen und der kleinen ist der näm¬
liche; nur darin besteht ein Unterschied, daß die großen in geringerer Zahl
angelegt, und daß eine der je in der nämlichen Mutterzelle entstandenen Gruppen
von vier Sporen vor allen übrigen einen großen Vorsprung im Wachsthum
gewinnt; diese übrigen verkümmern und verschwinden endlich, noch bevor der
die Sporen umschließende Hohlraum durch Bersten seiner Wand sich öffnet.
Diese vier erhalten sich in gleichmäßiger Ausbildung bis zur Reife der Sporen¬
frucht bei denjenigen Lycopvdien, welche die Gattungen Selaginclla und Isoötes
bilden; aber auch noch von den vieren verdrängt eine die anderen drei bei dem
Pillcnkraute, der Salvimia. Die Uebereinstimmung einer solchen Sporenfrucht,
deren aus Zellgewebe bestehende Wand eine einzige, kolossale Spore einschließt,
mit den Eychen der Nadelhölzer ist unverkennbar.
Nachdem die beiderlei Sporen ins Freie gelangten, schwillt die innere Haut
der kleinen an; in der Anschwellung erfolgt eine Zellvermehrung von geringer
Lebhaftigkeit, deren Endergebniß die Bildung einer Anzahl freier, ellipsoidischer
Zellchen ist. Der gesammte bildungsfähige Inhalt der Zellchen, von der
Consistenz eines sehr zähen Schleimes ordnet sich zu einem schraubenlinig auf¬
gerollten, der Jnnenwand angelagerten Strange. Dann berstet die Wand des
in Wasser liegenden Zellchens; der in seinem Innern gebildete fadenförmige
Körper tritt hervor, und bewegt sich nun selbständig und frei in der Flüssig¬
keit umher. Man erkennt, daß er bei dieser Bewegung um die Achse der
Schraubenwindungen seines Körpers sich dreht, und daß die Bewegung durch
peitschenschnurähnliche Schwingungen langer Wimpern vermittelt wird, welche
den vorderen Windungen ansitzen. Diese schwärmenden Fäden, die Sperma-
tozoiden, sind die Träger der befruchtenden Kräfte.
In den großen Sporen hat inzwischen die Ausbildung der kcimbcreitenden
Organe stattgefunden. Eine Anschwellung der inneren Haut hat die äußere
an im Voraus bestimmten Stellen zum Auseinandcrwcichcn gebracht. In der
bloß gelegten Wölbung der inneren Haut hat sich ein Körper aus Zellgewebe
gebildet, das Prothallium. Einzelne Zellen des Innern desselben haben an Größe
zugenommen. Die Zellen, welche eine solche vergrößerte Zelle nach außen hin
decken, sind in ihren Bcrührungskanten auseinandergctreten, und haben so
einen auf jene Zelle zuführenden Gang gebildet. Die Mündungszellcn dieses
Ganges erheben sich über die Fläche des Prothallium. Die Uebereinstimmung der
wesentlichen Züge des Baues dieser Organe, der Archegonien, mit den Corpus-
culis der Nadelhölzer liegt auf der Hand. In der großen centralen Zelle des
Archegonium entstanden eine oder zwei freie Zellen, die Keimbläschen.
Nur in solchen großen Sporen, zu welchen die aus den kleinen Sporen
hervorgcbildetcn Spermatozoidcn freien Zutritt haben, entwickelt sich eines der
Keimbläschen zum Embryo. Das Keimbläschen wächst rasch zur Größe der
Centralzelle des Archegonium heran, theilt sich dann wiederholt durch Scheide¬
wände, wird zu einem vielzelligen Körper, der nach bestimmten Richtungen
wachsend die erste Wurzel, das erste Blatt bildet; die umhüllenden Schichten
des Prothallium sprengt und nun die selbständige Vegetation der neuen
Pflanze beginnt.
Die Kryptogamen mit zweierlei Sporen zeigen uns somit die ohne voraus¬
gegangene Befruchtung erfolgte Bildung von der Mutterpflanze sich trennender
Fortpflanzungszellen von zweierlei Art, beide in wesentlich gleicher Weise sich ent¬
wickelnd, deren eine die augenscheinlichste Uebereinstimmung mit den Pollcnzellen,
die andere mit den Embryosäcken der Nadelhölzer und der Blüthen tragenden
Pflanzen bieten. Nach der Abtrennung vom mütterlichen Individuum beginnt
jede solcher Fortpflanzungszellen eine selbständige Vegetation. Ihre Entwickelung
stellt eine vöMg neue Generation dar; und der Abschluß dieser Generation ist
mit der Befruchtung gegeben. Nach dieser hebt die Wiederholung der ersten
Generation an, weiche ohne vorausgegangene Befruchtung Keime der zweiten
Generation bildet. Die Existenz dieser Pflanzenformen wickelt sich in dem stetig
wiederkehrenden Wechsel der beiden Generationen ab. Von diesen Thatsachen
rickwärts schließend, müssen wir die Entwickelung des mehrzelligen Körpers in
dew Pollenkörnern, die des vielzelligen Körpers, der Corpuscula und der Keim¬
bläschen in den Embryosäckcn der Nadelhölzer ebenso als Aeußerungen der
Vegetation einer zweiten, der Befruchtung dienenden, mit der rein vegetativen
regelmäßig wechselnden Generation auffassen, als die Bildung der Pollen-
schläuche und der Keimbläschen der blüthentragenden Pflanzen, obschon bei den
letzteren diese Besruchtuugsgeneration nur andeutungsweise in die Erschei¬
nung tritt.
Diese Schlüsse erhalten die festeste Stütze, wenn wir die Befruchtung der
Schaflhalme, der Farrnkräuter und der Moose ins Auge fassen. Alle diese
Pflanzen bringen nur Sporen-von einerlei Gestalt hervor. Aus der Keimung
dieser Sporen aber entwickelt sich ein Prothallium von großer Ausdehnung.
Unter sichtlicher, bedeutender Massenzunahme wächst das aus der Dehnung und
Zcllvermehrung der Sporenzelle sich entwickelnde Gebilde in einer umfangreichen,
freudig grünen, zahlreiche Würzelchen treibenden Masse heran: kraus und viel-
theilig bei den Schaflhalmen, platt, von rundlicher, am Vorderrande tief ein¬
geschnittener Form bei den Farrnkräutern. Die Schafthalme bringen auf jedem
Prothallium nur Fortpflanzungsorgane je einer Art hervor, die Farrnkräuter
successiv beiderlei. In der Jugend entwickelt das Prothallium der Farrnkräuter
aus seinen Rändern, und vorwiegend aus seiner Unterfläche, halbkugelige
Sprossungen, aus einer Rindenschicht aus platten Zellen, und einer größeren,
centralen Zelle bestehend: Antheridien, die Bildungsstätten von Spermatozvidcn.
Die große, innere Zelle verwandelt sich durch eine Reihe von Zwcitheilungen
in eine Gruppe niedriger, vierseitiger Zellchen. In jeder derselben entsteht,
innerhalb eines freien, abgeplattet ellipsoidischen Mutterzellchens, ein korkzieher-
artig gewundenes Spermatozoid, an den vorderen Windungen mit zahlreichen
schwingenden Wimpern besetzt. Bei der Reife der Antheride werden die Sperma-
tozoiden haltenden Zellchen aus dem berstenden Scheitel der Antheridie durch
den Druck der Zelle der seitlichen Wandungen ausgetrieben. In einen Wasser¬
tropfen gelangend, reißt die Wand des Zellchcns, welches das Spermatozoid
einschließt. Dieses befreit sich, und schießt in reißend schnellen Drehungen in
der Flüssigkeit umher. Erreichen die Prothallien der Farrn ein etwas höheres
Alter, so wachsen sie, die bis dahin eine einfache Lage von Zellen waren, in
der Gegend hinter der Einkerbung des Vorderrandes auch in die Dicke. Es
bildet sich hier ein nach unten vorspringendes Kissen von Zellgewebe, und
auf diesem entstehen keimbereitende Organe, Archegonien. Sie sind zusammen¬
gesetzt aus einer, in das Gewebe des Prothallium eingebetteten Centralzelle,
einer diese umhüllenden Rindenschicht, und einem diese beiden überragenden Cy¬
linder aus vier Längsreihen von Zellen, die, in ihren Berührungskanten aus¬
einanderweichend, einen auf die Centralzelle zu führenden Kanal bilden. In
der Centralzelle des Archegonium entstand schon zuvor eine freie, der Wand
angeschmiegte Zelle, ein Keimbläschen. Bei der Reife bricht der Scheitel des
Archegonium aus, infolge eines von den Zellen seiner Seitenwandungen nach
Innen geübten Druckes. Der Zugang zu der Centralzelle des Archegonium ist
jeyt den Spermatozoiden geöffnet. Die in Masse im Wasser, z. B. in Thau¬
tropfen, die an die Unterfläche des Prothallium sich sammelnden, herumschwür-
menden Spermatozoiden gelangen gelegentlich in den Halskanal, und dann bis
in die Centralzelle des Archegonium. Ihr Eintritt in den Kanal, ihre lebhaften
Bewegungen in der Centralzelle sind direct beobachtet. Nun schließt sich, durch
quere Streckung der Zellen des Grundes der Kanalwandung, die untere Oeff-
nung desselben. Das Keimbläschen schwillt rasch zur Größe der Centralzelle
des Archegonium an; verwandelt sich durch eine Reihe von Scheidewandbildungen
in einen Zellkörpcr, den Embryo, der bald sein erstes Blatt und seine erste
Wurzel entwickelt, das ihn einschließende Gewebe des Proihallium durchbricht,
und nun zur Farrnkrautpflanze sich heranbildet, die alljährlich neue Sporen in
Unzahl ausstreut, um aus diesen ohne Befruchtung aus ih-r entstandenen Fort¬
pflanzungszellen neue Prothallien, und auf diesen neue Befruchtungsorgane zu
bilden. Im Wesentlichen übereinstimmend sind die Geschlechtsorgane und die
Embryoentwickelung der Schachtelhalme beschaffen.
Die Fruchtkapseln der Moose enthalten ein feines, bräunliches Pulver:
die Sporen. Diese Fortpflanzungszellen keimen in ähnlicher Weise wie die der
Farrnträuter, und es entwickelt sich dabei aus ihnen, in ununterbrochener Ve¬
getation, die reichverzwcigte, beblätterte Moospflanze. Sie ist, ihrer langen
Lebensdauer, ihrer mannigfaltigen Gestaltung ungeachtet, die in vieler Beziehung
an diejenige der durch geschlechtliche Befruchtung entstandenen Individuen von
Farrnkräutern oder blüthentragenden Pflanzen erinnert, doch nur ein dem Pro-
thallium der Farreukrciuter entsprechendes Gebilde, insofern sie, die aus unge¬
schlechtlicher Vermehrung entstandene Generation der Species. Geschlechtsorgane
bildet, in deren keimbercitenden durch die Befruchtung die Entwickelung des
Embryo einer anderen Generation angeregt wird, welche zur Frucht sich ent¬
wickelt. Aber ein großer Unterschied zwischen Farrnkräutern und Moosen besteht
darin, daß bei jenen das Prvtballium zwar auch uner selbständigen Legetation,
einer Vermehrung seiner Substanz durch Umbildung von außen her aufgenommener,
dem Organismus bis dahin fremder Stoffe fähig ist; daß aber dieser ersten
Generation im Vergleiche mit der zweiten, aus ihr durch geschlechtliche
Zeugung entstandenen, Blätter und Frucht tragenden Generation nur ein sehr
geringes Maß selbstständiger Vegetation und eigener Massenzunahme zukommt.
Bei den Moosen dagegen ist der Geschlechtsorgane erzeugenden, dem Prvlhallium
entsprechenden Generation das eigentliche Wachsthum, die Nahrungsaufnahme
und die Mehrung der Substanz so gut wie ausschließlich zugetheilt; die zweite
Generation, die Moosfrucht, kann nicht selbständig auf fremdem Boden ge¬
deihen, sondern nur in bleibender organischer Verbindung mit der ersten sich
entwickeln und leben. Die Moosfrucht verhält sich zu der beblätterten Moos-
pflanze wie ein Pfropfreis zum Wildling, wie ein parasitisches Gewächs zu
seiner Nährpflanze.
Die Organe geschlechtlicher Fortpflanzung der Moose werden an den Enden
der blättertragenden Stengel, oder an denen besondern Zweige, in manchen
Fällen verkümmerter, blattwinkclständiger gebildet. Die ersten Entwickelungs¬
zustände der befruchtenden und der keimbereitcnden stimmen in den wesentlichen
Zügen ihres Baues überein: es sind keulenförmige Zellenmassen, aus einer
inneren Längsreihe von Zellen und einer einfachen Rindenschicht bestehend. In
den Antheridien verwandeln sich die oberen Zellen der inneren Reihe durch wie¬
derholte Scheidewandbildungen in einen kleinzelligcn Körper. An jeder Zelle
desselben entsteht ein freiliegendes, rundliches Zellchen, und in diesem bildet sich
Spennatozvid: ein in wenigen Schraubenwindungen gerollter fadenförmiger
Körper, dessen dünneres Vorderende zwei lange Wimpern trägt. Bei der Reife
der Antheridien treten an ihrem Scheitel die Zellen ihrer Rindenschicht auseinander,
die äußerste Schicht der Häute derselben berstet, und die rundlichen Mutterzellen
der Spcrmatozoiden, in einer Schleimmasse eingebettet zu welcher die Scheide«
warte des Innern der Antheridie aufgequollen waren, werden aus dem Risse
ausgetrieben; nicht selten mit großer Gewalt, zollweit spritzend. -
Die keimbcrcitenden Organe der Moose, die Archegvnien. sind Körper aus
Zellgewebe von flaschenförmiger Gestalt. In einer größeren, im Centrum des
oberen Endes des Bauchtheils befindlichen Zelle wird, einige Zeit vor der Be-
fruchtung eine freie kugelige Zelle, ein Keimbläschen erzeugt. In dem Innern
des weit vorgezogenen Halstheils des Archegonium bildet sich ein Kanal, welcher
den Hals seiner ganzen Länge nach durchzieht, in die das! Keimbläschen ent¬
haltende Centralzcile einmündet, und durch Auöeinandcrweichen der Zellen des
Scheitels das Archegonium nach außen sich öffnet. In solcher Weise wird ein
offener Zugang der Spermatozoiden zu der Centralzcile des Archegonium her¬
gestellt.
Nur dann gelangt das Keimbläschen zur Weiterentwickelung, wenw Sper¬
matozoiden zu den Archegonien Zutritt haben. Das Keimbläschen schwillt dann
rasch zur vollen Größe der Centralzcile an; der Bauchtheil des Archegonium
nimmt nach allen Richtungen hin an Masse zu; die Ccntralzelle erweitert sich
fort und fort, und dieser Erweiterung folgt stetig das Wachsthum des .Keimbläschens,
welches durch fortgesetzte Scheidewandbildung in einen zelligen Körper von meist
tculiger Form sich umwandelt: die Anlage der Moosfrucht. Das untere Ende
derselben dringt tiefer und tiefer in das Zellgewebe des Archegonium, endlich
bis in dasjenige des dieses tragenden beblätterten Stengels ein, dieses Gewebe
vor sich her zum Theil verdrängend und zerstörend. Seine Außenfläche verklebt dabei
mit den Wänden der Zellen des Stengels; immer aber bleibt die Grenze zwischen
beiden deutlich erkennbar; mindestens ebenso deutlich als die zwischen Parasit
und Nährpflanze. Der dickere obere Theil der Fruchlanlage entwickelt sich zur
Kapsel, >n welcher durch Vertheilung bestimmter Zellen eine große Anzahl schlie߬
lich frei liegender, auf ungeschlechtlichem Wege entstandene Fvrtpflanzungszcllen,
Sporen, erstehen, die dem bloßen Auge als feiner Staub erscheinen. Der
dünnere untere Theil der Fruchtanlage wird zum Stiel, dessen Verlängerung
die Gewebschichten des Bauchtheils des Archegonium sprengt, welche die Frucht¬
anlage umhüllen. Die Kapsel wird frei, platzt bei der Reife auf, und verstreut
die in ihr entstandenen Sporen. Gelangen diese unter ihrer Entwickelung günstige
Umstände, so beginnt eine zweite Generation. Die Sporen keimen; sie entwickeln
früher oder später wiederum beblätterte Stengel, und auf diesen endlich Ge¬
schlechtsorgane, Archegonien und Antheridien, durch deren Zusammenwirken die
Bildung der aus geschlechtlicher Zeugung entstehenden, selbst, geschlechtslosen
Generation wieder anhebt.
Bei den Moosen ist die vegetative Thätigkeit vorzugsweise der aus den
Sporen entkeimten, die Geschlechtsorgane tragenden Generation zugetheilt; bei
den Algen und Pilzen, von denen geschlechtliche Fortpflanzung bekannt ist, fällt
die gesammte Vegetation der Pflanze in jene Generation. Die Veränderungen,
welche mit de< befruchteten Zelle infolge des Zutrittes der befruchtenden vor
sich gehen, beschränken sich darauf, daß Rcscrvenahrungsstoffe in ihr angehäuft
werden, oder daß ihre Haut einen zusammengesetzteren Bau erhält, oder daß
nach einer Periode der Ruhe ihr bildungsfähiger Inhalt in mehre Keimzellen
sich theilt. Die Einzelheiten des Vorganges sind ziemlich mannigfaltig. Den
Moosen ähnlich verhalten sich die Charen oder Armleuchter — einfach gebaute
aber mit zierlicher Regelmäßigst beblätterte und verzweigte Algen der süßen
oder schwach salzigen Gewässer - insofern ihre Spermatozoiden genau von
der Form derjenigen der Moose sind: korkzieherähnlich gewunden, und zwer
langen schwingenden Wimpern am dünneren Vorderende. Die Archegomen
sind eiförmige Körper, bestehend ans einer inneren, und einer Anzahl parallel
schraubenlinig gewundener, röhrenförmiger Rindenzellen. die über dem Scheitel
der inneren einen engen Zugang zu dieser offen lassen. Bei allen andern Algen
weichen die Spermatozoiden in Beschaffenheit und Gestalt nicht wesentlich von
den ep- oder birnförmigen, der festen Zellhaut entbehrenden, mittelst schwingender
Wimpern frei im Wasser sich bewegenden Zellen ab. welche bei sehr Vielen dieser
einfach gebauten untergetauchten Gewächse als bewegliche Keime die ungeschlecht¬
liche Fortpflanzung vermitteln, den Schwärmsporen. Gleich diesen, sind die
Spermatozoiden eine Umformung des gesammten. oder eines Theiles des plasti¬
schen Inhalts der Zelle, in welcher sie entstehen. Ebenso die Keimbläschen.
Zu diesen unbeweglichen, membranenlosen Jnhaltsmasscn von Zellen erlangen
die beweglichen Spermatozoiden einen Zugang, entweder. indem die feste Haut,
welche jene umschließt, zu dünnflüssiger Galle zerfließt (so bei einigen der grö¬
ßeren Meeresalgen). oder indem die elastische Membran scharfbegrenzte Löcher
an bestimmten Stellen erhält. In einigen Fällen läßt sich mit voller Bestimmt¬
heit beobachten, daß die ganze Masse des Spermatozoids mit der des Keim¬
bläschens verschmilzt: so namentlich bei den relativ großen Spermatozoiden der
Oedogvnien. gemeiner Fadenalgen des süßen Wassers.
Bei einer umfangreichen Gruppe von Süßwasseralgen, den Conjugatcn,
sind die befruchtenden und die zum Bcfruchtctwerdcn bestimmten Zellen im
Aussehen wenig oder gar nicht verschieden. Die von starrer Zellhaut bekleideten
Zellen zweier verschiedener Individuen, die im Wasser zufällig nahe bei einander
liegen, vereinigen ihre Innenräume zu einem einzigen Hohlraume, indem an
den Berührungsstellen Löcher entstehen, und nun fließt der plastische Inhalt
beider Zellen zu einer einzigen Fortvflanzungszellc zusammen. — Diejenigen
Pilze dagegen, von denen mit Sicherheit der Vorgang geschlechtlicher Befruchtung
bekannt ist (es sind schmarotzende Pilze, nächste Verwandte desjenigen, welcher
die Ursache der verheerenden Kartoffelkrankheit ist) ähneln im Mechanismus der
Befruchtung den blüthentragenden Pflanzen. In die Zeile hinein, deren plasti¬
scher Inhalt zum Keimbläschen geballt frei im Mittelraume schwebt, wächst die
Wand durchbohrend ein fadenförmiger Ast einer von außen sich anlegenden
andern Zelle. Sobald als die Spitze dieses Astes das Keimbläschen erreicht
hat. umkleidet sich dieses mit einer festen Membran von complicirter Structur;
die Befruchtung ist vollzogen.' Auch nachher noch ist die Spitze jenes Astes
der befruchtenden Zelle ohne jede sichtbare Oeffnung.
Die Deutung der Vorgänge bei der Befruchtung dieser einfachst gebauten
Gewächse als eine geschlechtliche Zeugung beruht aus Analogienschlüssen, Ein
unverkennbarer Uebergang führt schrittweise von den blüthentragenden Pflanzen
durch die Nadelbäume, die Farrnkräuter zu den Moosen und von diesen zu den
Algen, Für die Kryptogame» mit Sporen von zweierlei Größe (wie die Sela-
ginellcn. das Pillenkraut u, s. w.). sowie sür solche Moose, bei denen jedes
Individuum der beblätterten Pflanze nur einerlei Geschlechtsorgane hervorbringt,
liegen zahlreiche Beobachtungen vor, welche mit der nämlichen Sicherheit, wie
für die Blüthcnpflanzen, auch für diese blüthcnlvse» Gewächse den Nachweis
liefern, daß die weibliche Pflanze, wenn sie von männlichen getrennt vegetirt,
keinen Embryo, keine Frucht zu entwickeln vermag. Je tiefer unsere Erfahrung
eindringt, mit um so ausnahmsloserer Schärfe erhärtet sich dieser Satz, Alle
vermeintlichen Beobachtungen der Embryobildung ohne Mitwirkung der befruch¬
tenden Organe haben sich bei genauerer Untersuchung als Täuschungen erwiesen.
Dieser Beweis der Nothwendigkeit der Befruchtung ist indeß nur ein negativer.
Eine positive Andeutung über die Art der Wirkung der Befruchtung gibt uns
die Bastardzeugung.
Wenn die Narbe einer Blüthenpflanze, bei sorgfältigem Ausschluß des
Blumensiaubcs der eigenen Art, mit dem Pollen einer fremdartigen, aber nicht
allzu weit verschiedenen Form bestäubt wird, so erfolgt in vielen Fällen die
Entwickelung keimfähiger Samen. Zwar schwieriger, und minder reichlich als
bei normaler Befruchtung; aber doch häusig genug. Die Pflanzen, welche
solchen Samen entkeimen, sind Mischlinge. Sie zeigen in ihren Eigenschaften,
namentlich in ihren Formen, eine Vermengung der Eigenschaften der beiden
Stammeltern. Hier zeigt sich uns aufs deutlichste, daß die Befruchtung eine
die Form der Nachkommenschaft bestimmende Kraft übt. Die Vereinigung der
Formen der Stammeltern in der Bastardpflanze unterliegt bestimmten Regeln.
Nickt- nur sind, mit seltenen Ausnahmefällen, die aus derselben Bastardzeugung
hervorgegangenen Mischlinge gleichgestaltet, sondern es gilt das Nämliche auch
von denen, welche aus der Vereinigung der nämlichen Stammarten zu anderer
Zeit und an anderem Orte entstehen. Dabei tritt das höchst merkwürdige Ver¬
hältniß hervor, daß die Bastarde zweier Arten völlig gleich gestaltet sind, möge
nun die eine Art die befruchtende, die andere die keimbereitende Rolle über¬
nommen haben, oder umgekehrt. Wenige Thatsachen sind durch zahlreiche, genaue
und von verschiedenen Forschern wiederholte Versuche so fest gestellt, als diese.
Die Bastarde von Stammeltern. die in ihren Formen in dem Grade ver¬
schieden sind, daß sie als verschiedene Arten der nämlichen Gattung betrachtet
zu werden pflegen, sind minder fruchtbar, als die reinen Arten. Die Schwächung
der Fortpflanzungsfähigkeit beruht in ungenügender Ausbildung des Blüthen¬
staubes. Denn die weiblichen Organe der Bastarde liefern reichlichst keimfähige
Samen, wenn sie mit dem Pollen einer der Stammarien bestäubt werden.
Die Formen aus solcher Zeugung hervorgegangener Nachkömmlinge sind denen
der befruchtenden Stammart mehr genähert; und es vermag die öftere Wieder¬
holung derartiger Befruchtung die Nachkommenschaft endlich der jungen Stamm¬
art völlig gleicbbcschaffcn zu machen, welche eine Reihe von Zeugungen hin¬
durch den Pollen lieferte. Die Sterilität der Bastarde sogenannter reiner Arten
ist indeß nicht entfernt eine absolute, und von nicht wenigen hat die Beobachtung
gezeigt, daß sie durch viele (bis zu zehn) Generationen hindurch sormbeständig
sich fortpflanzen. Bei Pflanzen von mäßiger Verschiedenheit, der Formen und
Eigenschaften, von solcher Differenz, welche zur Unterscheidung von Racen oder
Varietäten Anlaß zu geben pflegt, ist die geschlechtliche Fortpflanzungsfähigkeit
aus der Bereinigung der beiden Formen entstandener Mischlinge nicht blos nicht
vermindert, sondern häusig sichtlich gesteigert.
Wir stehen hier an dem Punkte, von dem aus wir einen Einblick gewinnen
können, nicht in den Zweck der geschlechtlichen Zeugung — nach dem Zwecke
einer Erscheinung hat die Naturforschung nicht zu fragen — wohl aber in ihren
Erfolg. Alle Pflanzen lassen ein Streben erkennen, ihre Formen und Eigen¬
schaften gelegentlich zu ändern, zu variiren. Die Erscheinung tritt bei ver¬
schiedenen Formen mit sehr verschiedener Intensität auf. Ihre Ursachen, ihre
Anlässe sind uns völlig unbekannt. Aber ihre Allgemeinheit ist außer Zweifel.
Die Formenänderungen sind erblich, dafern bei geschlechtlicher Fortpflanzung
der eigene Blüthenstaub mitwirkte. Wäre dieser Trieb der Pflanzen ohne irgend-
ein Correctiv thätig, so würde die Zahl der verschiedenen Formen ins Endlose
sich mehren, und die Unterschiede der Formen würden in demselben Maße minder
hervortretend werden. Dem entgegen wirkt aber die geschlechtliche Zeugung.
In weitester Verbreitung besteht die schon oben angedeutete Einrichtung, daß
die Befruchtung der weiblichen Organe einer Pflanze durch den eigenen Be-
sruchtungsstvff erschwert, selbst unmöglich gemacht ist. Dies bedingt stetig wieder-
kehrende Kreuzungen zwischen verschiedenen, in ihren Eigenschaften mehr oder
weniger verschiedenen Individuen. Die Nachkommenschaft stellt ein Mittel aus
den verschiedenartigen Formen dar, und immer aufs Neue, und zwischen nach
den verschiedensten Richtungen, wenn auch nur wenig, auseinandergehenden
Formen wird dieses Mittel gezogen. So ist es die geschlechtliche Fortpflanzung
welche bewirkt, daß bestimmte Complexe von Pflanzen gemeinsamer Abstammung
und Blutsverwandtschaft uns als gleichartig erscheinen, Auf der sexuellen Zeu¬
gung beruht die Möglichkeit der Fassung des Artcnbegriffs. beruht die Rein¬
haltung der Art.
Die seit dem 20. März aus Schleswig uns zugegangenen Nachrichten ent¬
halten kein im Großen in den Gang des Krieges eingreifendes Ereigniß. Vor
Düppel hat am 17. März sich aus einer dänischen Recognoscirung ein größeres
Gefecht entwickelt, das zu Ungunsten der Dänen ausschlug, wieder einen glän¬
zenden Beweis von der Güte der preußischen Bewaffnung und der Ausbildung
ihrer Infanterie lieferte und einen größern Terrainabschnitt in den Händen
des Belagerers ließ. Die Preußen zählten einen Verlust von 137 Köpfen, die
Dänen mindestens das Dreifache. — Am 28. März haben die zum ersten Mal
in das Feuer gekommenen Truppen des General v. Raven sich in ihrem Streben
nach Nuhm weiter führen lassen, als ihnen geboten war und als ihre geringe
Zahl zuließ, die Preußen verloren 179, die Dänen nur 146 Mann. Die preu¬
ßischen Verluste erreichen diese überwiegende Zahl, weil sie in den Bereich der
dänischen Geschütze, der Schanzen sowohl, als auch des Rolf Krake geriethen.
Die dänische Artillerie hat überhaupt in der letzten Zeit ein besseres Feuer
gezeigt, sie hat die ihr vor Düppel so reichlich gewährte Zeit benutzt, um Arm¬
strongkanonen aus England kommen zu lassen. — Die preußischen Belagerungs¬
arbeiten haben mit der vom 29. zum 30. März aufgeworfenen ersten Parallele
ihren Anfang genommen. Fast sieben Wochen sind zu Vorarbeiten benutzt
worden, von denen eine der bedeutendsten die Anlegung förmlich chaussirter Wege
-und Plätze für die Belagerungsartillerie bildete. Die Wege und das Erdreich
waren so unergründlich, daß bisher die schwere» Geschütze bis an die Achse
einsanken. Auffallen muß es, daß mau die Eisenbahn nicht von Flensburg
bis Düppel auf der Chaussee verlängert hat. Ueberhaupt möchten wir hier
der preußischen Armecleitung den Vorwurf machen, daß sie nicht über den
Ereignissen gestanden und sich nicht diejenigen Mittel angeeignet hat, welche
aus dem Stande der heutigen Industrie für militärische Zwecke dienstbrauchbar
gemacht werden können. In ersterer Beziehung wollen wir nur eins anführen:
die Belagerungsartillerie war nicht in den Festungen bereit. Als Napoleon
1859 in Italien einrückte, wurde gleich der Belagerungstrain eingepackt und
als der Befehl zum Abgänge per Telegraph eintraf, war er über Marseille und
Genua in wenigen Tagen zur Stelle, noch ehe irgendeine Festung berannt
war. In Betreff des zweiten Borwurfs vermissen wir außer der schon erwähnten
Eisenbahn nach Düppel z. B. auch die Eisenbahn nach Norden und die An¬
wendung der Luftballons zur Recognoscirung. welche sich in Amerika so bewährt
hat. die Benutzung des Dampfes zu militärischen Arbeiten u. s. w. Die An¬
lage der erstenParallele hat auf einer größern Entfernung von den Schanzen
stattgefunden als nach dem weiten Borschieben der Vorposten am 28. erwartet
werden sonnte. Mannigfach machen überhaupt die Arbeiten vor Düppel den
Eindruck, als wenn man immer noch nicht an eine schließliche Erstürmung der
Schanzen dächte.
Vor Fridericia haben wir ein kleines und deshalb wirkungsloses Bom¬
bardement erlebt, einem entschiedenen Vorgehen hier scheinen Hemmnisse höherer
Alt entgegengetreten zu sein. In der Verfolgung nach Jütland hinein haben
d'c Oestreicher nicht den zu machenden Ansprüchen genügt. Die Energie der
Oestreicher hat in dem ganzen Kriege sich überhaupt mehr in der Gcsechtsthätig-
keit als in den allgemeinen Leistungen documentirt. —
Die nach Jütland detachirte preußische Kavallerie hat es wohl an der
rechten und weitgreifenden Thätigkeit fehlen lassen, welche allein bei stehenden
Quartieren in Feindes Land gegen Ueberfälle sicherstellt. — Die preußische
Flotte hat nicht wieder von sich hören lassen, trotz der gewiß belebenden Gegen-
wart des Prinzen Admiral in Swinemünde. Deshalb folgen hier einige all¬
gemeine Sätze über die moderne Kriegführung, in denen an früher Gesagtes
angeknüpft wird, die Nutzanwendungen auf die Campagne in Schleswig werden
sich ergeben.
In den Bemerkungen über die gezogenen Schußwaffen wurde ausgesprochen,
daß das Gefecht die doppelte Aufgabe bat. erst die Gegner zu tödten und dann
die Auflösung der Ordnung in dem übrigbleibenden Theil herbeizuführen.
Zur Erfüllung dieser Zwecke sind dem Heere folgende Mittel gegeben: die Waf¬
fen, die Schutzwehren "gegen die Wirkung der feindlichen Waffen ze.; das mora¬
lische Element in der Truppe.
Ueber die Waffen ist das Wesentlichste gesagt. Die Schutzwehren bestehen im
gewöhnlichen Gefecht nur aus den im Terrain gegebenen Gegenständen: vorzüglich
Wasser. Mauerwerk und Erde. Alle drei werden als Schutz gegen Kugeln und
Annäherung verwandt, entweder wie sie zufällig gegeben sind, oder in künst¬
licher Verarbeitung. Es ist die Absicht, sie das nächste Mai in Betracht zu
ziehen, bei Besprechung des Werthes von Festungen.
Das wichtigste der Mittet für den Sieg im Gefecht ist das moralische
Element der Truppe. Dasselbe besteht in der Gcfechtsfreudigkeit. in dem Ver¬
trauen des Soldaten zu sich, zu seinen Führern und zu seinem Feldherrn, und
in dem Glauben an die Gerechtigkeit seiner Sache, sowie in dem Glauben an
seine politischen Leiter.
Das Vertrauen des Soldaten zu'sich selbst beruht vor allen Dingen in
seiner guten Bewaffnung und Ausrüstung. Je mehr Angriffs- und Vertheidigungs¬
fähigkeit seine Waffe hat, je leichter muß sich der Soldat in der Gefahr be¬
wegen. Je mehr seine Ausrüstung seinen Bedürfnissen entspricht, je besser über¬
steht er die Fatiguen u. s. w. In Bezug auf die Waffen ist, wie wir wissen,
in Preußen auf das allerbeste gesorgt; anders steht es hier mit der Ausrüstung.
Am Fuß fehlt dem Soldaten der nothwendige Verschluß und Schutz, der Rock
konnte bequemer sein, der Helm ist eine unnütze Last, das Seitengewehr kann
durch das Bajonnet ersetzt werden, die Patrontaschen sind zu klein und un¬
praktisch angehängt und der Tornister ist schwerer wie nothwendig. — Die zweck¬
mäßigste und einfachste Bekleidung haben wir bei englischen Volunteers gefunden,
einen naturgraucn, wollenen Rock, wie eine Juppe, gleiche Beinkleider und Mütze;
alles weit und bequem. Nur sei bemerkt, daß wir nicht allen Schmuck ent¬
fernen wollen. Der Soldat muß sich in seiner Uniform putzen können, das
wird seinem Leben gegenüber den zahlreichen Fesseln und Mühen ein kleiner
Reiz und der Soldat muß mit einer gewissen Liebe an seiner Kleidung hängen,
damit er gern für deren Erhaltung sorgt. Die Franzosen haben nicht nur dem
nationalen Zuge nach Aeußerlichen nachgegeben, wenn sie in der Bekleidung
vor allen Dingen der Eitelkeit Rechnung trugen, es hat der Schmuck der Sol¬
daten auch einen ethischen Grund. Auch die Lacedämonier gingen bekränzt in
die Schlacht.
Das Vertrauen zu seinen Führern gewinnt der Soldat, wenn dieselben in
jeder Beziehung über ihm stehen, in der geselligen Stellung, in geistiger Bildung
und in militärischer Leistung; die geehrteste Leistung des Führers ist die Tapfer¬
keit und die Sicherheit der Leitung in der Gefahr. Die genannten Eigen¬
schaften basiren vor allen Dingen auf Bildung und dies ist der Grund, daß
in allen Armeen, selbst in der nordamerikanischen Unionsarmec das Bestreben
besteht, den Offizierstand aus den gebildeten Ständen zu ergänzen. Kaiser
Napoleon zeigt denselben Wunsch sehr klar. In den untern Chargen kann
solcher Bedingung nicht immer Rechnung getragen werden, für die obern Stellen
ist es Grundlage einer gesunden Armeeorganisation und läßt sich realisiren,
wenn man durch ein Altersgcsetz und Förderung von Kenntnissen dem gebildeten
und deshalb früher reifen Theil des Ofsizierstandes vorzüglich die höhere Carriere
eröffnet.
Das Vertrauen in den Feldherrn giebt dem Soldaten die Gewißheit. daß
alle seine Leistungen dem großen Kriegszwcck dienen, daß alle Opfer und alle
Anstrengungen nothwendig sind und zu gutem Ende führen. Das giebt Aus¬
dauer in der Gefahr, Sicherheit in der Handlung und Begeisterung im Tode.
Der Feldherr gewinnt dies Vertrauen durch die Klarheit und Bestimmtheit der
Befehle, durch die Sicherheit des eigenen Auftretens, durch die unnachsichtliche
Streng seiner Forderungen neben der gründlichsten Sorge für das Wohlergehen
des Soldaten und vor allen Dingen durch die Größe seiner Gefechtsziele. Der
Feldherr muß geizen mit dem Leben seiner Soldaten, aber wenn er ^s einsehe,
muß es voll und mit dem Zweck geschehen, dem Vaterland in dem «lege auch
reellen Ersatz für das Leben seiner Söhne zu gewähren. In der Größe der
Gefechtsziele'zeigt sich der Genius und der Zauber einer starken Mannest'rast.
Unter Größe der Gefechtsziele aber verstehen wir das qualitativ, nicht das
quantitativ Große. Wenn wir z. B. hören, daß das bei Arms übergegangene
preußische Corps die Ausgabe hatte die dänische Armee gefangen zu nehmen,
so war das freilich auch ein großes Ziel, aber zum Fangen gehören zwei, einer,
w fängt und ein anderer, der sich fangen läßt. — Napoleon konnte 1806
frei aus die Rückzugslinie der Preußen marschiren, er marschirte aber einfach zur
Schlacht, schlug den Gegner und dann hielt er die Ernte. Blücher rückte
1813 bei Belle-Alliance erst in die Schlachtlinie und rang blutig um den Sieg,
dann erst kam die Verfolgung und Gefangennehmung des Gegners. 1813 stellte
sich Wrede dem geschlagenen Napoleon bei Hanau in den Weg und wollte die
Franzosen gefangen nehmen, er wurde geschlagen und mußte selbst Gefangene
hergeben.
Damit der Soldat aber an seine politischen Leiter glaube, ist es noth¬
wendig, daß der Zweck des Krieges jedem Einzelnen klar ist; das erleichtert das
Leben und das Sterben, es hilft über die Fatiguen und die Gefahren
hinweg. In Schleswig z. B. glaubt zur Zeit der wirklich kämpfende Theil der
preußischen Truppen, daß er um die Eroberung Schleswigs für Deutschland
ringt, trotzdem die Negierung dies nicht ausgesprochen hat. Diese Meinung
der Armee wird auch hoffentlich Preußen auf dem deutschen Wege halten, trotz
aller widerstrebenden Interessen. Denn man erblickt bei der gegenwärtigen poli¬
tischen Richtung in der Armee den einzigen festen Halt und man muß des¬
halb unter allen Umständen vermeiden, dieselbe in ihrem innersten Gefühl zu
verletzen. Selbst eine Personalunion Schleswigs mit Dänemark in der wei¬
testen Ausdehnung würde unsres Erachtens den Opfern der Armee gegenüber
nicht gerechtfertigt erscheinen. — Freilich ist von entscheidender Stelle der Aus¬
spruch gethan, daß die Ehre des Heeres nur in seinem unbedingten Gehorsam
bestehe. Aber noch liegt das Jahr 1806 nicht so fern, daß es in Preußen
schon vergessen sein könnte. Gerade in dem stark durchgearbeiteten Grundsatz,
daß der Gehorsam die Ehre der Armee sei. ging dieselbe damals zu Grunde;
eben deshalb fand sich den ehrlosen Handlungen der einzelnen Führer gegenüber
Keiner, der für die wahre Ehre des Heeres einstand, gerade deshalb wurde die
Schwäche der alten Generale auch die Schwäche des Ganzen. Ein wohlgepfleg-
tcs Ehrgefühl ist eine Basis des Sieges und wenn die Ehre höher steht als
der Gehorsam, dürfen wir erwarten, daß trotz schwacher Befehle tüchtige Hand-
lungen aus dem Ganzen hervorgehen werden. Noch ist der rechte Geist nicht
aus der preußischen Armee gewichen, wie sich in Schleswig ergiebt, wo die
wirklich kriegerischen Thaten, der Verlauf der grösiern Gefechte vor Düppel,
nicht Folge der gegebenen Befehle, sondern des von unten her sich geltend¬
machenden Thatendranges sind. — Ist doch auch die Vorgeschriebene Kleidung
dem praktischen Bedürfniß des Einzelnen gewichen.
Je mehr der Geist der Ehre in dem Soldaten gepflegt- ist, je mehr der
Soldat in diesem Geiste mit seinen Führern und mit der Negierung überein¬
stimmt, um so mehr Gefechtsfreudigkeit wird er haben. Die preußische Armee
als positiver und Voller Repräsentant des preußischen Volkes muß in dieser
Beziehung allen andern Armeen gegenüber im Vortheile sein, sobald die Regie¬
rung mit den Interessen des Volkes Hand in Hand geht. Die preußische Armee
bedarf deshalb der Reizmittel die Gefechtsfreudigkeit zu fördern am wenigsten,
hat darauf in einer Ausdehnung Verzichtet wie keine andere.
Während dem französischen Soldaten der Marschallsstab als Lorbeer seiner
Thaten winkt, während der Engländer die Thaten seiner Leute schwer bezahlt,
— die Eroberung einer feindlichen Batterie u. a. ist dort eine wahre Schatz¬
grube für die Leute —, während selbst das aristokratische Oestreich der Tapfer,
keit die höchste Laufbahn eröffnet, kann der preußische Soldat, wie es scheint
nicht einmal denselben Orden mit seinem Offizier erwerben, und noch'immer
zaudert man zu sehr, ihn für kriegerische Leistungen zum Offizier zu machen.
Während Frankreich und nach'dem Beispiel desselben Oestreich die Tapferkeit
seiner Leute als ein positives Verdienst anerkennt und der Handlung auch den
Lohn auf dem Fuße folgen läßt, indem es dem Heerführer das Recht ertheilt,
auf dem Schlachtfeld zu befördern und auszuzeichnen, ist in Preußen die Gnade
des Königs allein entscheidend. Allerdings ist das Füllhorn dieser Gnade
reichlich ausgeschüttet worden. — Im Jahre 1813, als das ganze Volk sich für
den Krieg erhob, hielt man die Gemeinschaftlichkeit der Stände in der Armee
aufrecht, heute glaubt man davon abstrahiren zu können und zieht Schranken
zwischen dem Offizier und den Leuten. Und doch, wie Viel näher müßte sich-
heute die Negierung der Armee im Ganzen und Einzelnen fühlen als damals!
Das moralische Element ist das Band, welches die Armee zu einem ein¬
zigen, lebendigen Körper macht, die Disciplin kann es nicht ersetzen, im Gegen¬
theil, diese muß durch jenes getragen werden. Eine eiserne Disciplin ist im
Kriege ganz unmöglich, wenn sie nicht mit einer unermüdlichen Förderung des
moralischen Elements verbunden ist. Nichts aber zerstört dieses so Vollständig
wie die gründlich Verlorene Schlacht, nichts hebt dasselbe so wie der erfochtene
Sieg. Hierin liegt der Grund, daß die kräftige Verfolgung nach der Schlacht
Von so großen Erfolgen begleitet und von um so größerer Bedeutung ist, je
früher sie eintritt. Und in diesen Erfolgen ist es motivirt. daß an dem Streben
nach einer entscheidenden Schlacht der gute, und an der Entschiedenheit in der
Verfolgung der große Feldherr zu erkennen ist. - In dem Bestreben sich in
festen Plätzen zu vertheidigen, oder seine Kräfte ur der Belagerung derselben
gründlich zu beschäftigen, documentirt sich stets die Schwäche. — Der Angriff
hebt das moralische Element, die Vertheidigung mindert eS und trotzdem der
Vertheidiger in der gedeckten Aufstellung seinen frei herankommenden Gegner
viel besser treffen müßte, wie dieser jenen, so ist doch oft das Umgekehrte der
Fall. Der Angreifer verfehlt seinen gedeckten Gegner viel seltner als dieser ihn.
weil der Angreifer frei in den Tod und'deshalb schärfer und klarer sieht, als
der Vertheidiger, welcher die Gefahr mit jedem Schritt, den der Gegner vor¬
wärts macht/ wachsen und den Gesichtskreis sich verdunkeln sieht. Andrerseits
ist aber nicht zu verkennen, daß eine ruhige Vertheidigung das beste Mittel
gegen einen kühn anstürmenden Feind ist. wie am schlagendsten die Angriffe der
Cavallerie gegen eine ruhige und brave Infanterie beweisen. In der Regel
macht die Cavallerie auf 40-50 Schritt Kehrt vor der Infanterie, wenn diese
nicht feuert; stürmt die Cavallerie trotzdem weiter, und die Infanterie giebt
aus 20 Schritt eine recht gleichmäßige Salve, so drehen sich die Pferde um
und die Masse eilt wo möglich noch rascher von dannen, als sie gekommen.
Die Kriegsgeschichte ist reich an diesen Beispielen. — Die in der neuern Zeit
so berühmt gewordene t'nun, ü-im^Sö hat in den napoleonischen Kriegen oft
genug ihr Beruhigungsmittel in dem wohlgezielten Feuern ihrer Gegner ge¬
funden; zumal die englische Armee hat hierin in Spanien -und zuletzt bei
Waterloo schöne Triumphe gefeiert. Die zwanzigjährigen Kriege am Ende des
vorigen und im Beginn des jetzigen Jahrhunderts hatten überhaupt die Kunst-
stücke aus der Gefechtsführung entfernt und dieselbe auf die Einfachheit ihrer
Natur, nämlich auf das einfache Tödten reducirt. General v. Clausewitz. der
anerkannteste Militärschriftsteller aus jener Zeit, faßt die Schilderung einer
Schlacht deshalb in folgendes, schmuckloses Bild zusammen:
„Man stellt sich in Massen neben und hinter einander geordnet, ruhig hin,
entwickelt verhältnißmäßig nur einen geringen Theil des Ganzen und läßt sich
diesen in einem stundenlangen Feuergesccht ausringen, welches durch einzelne
kleine Stöße von Sturmschritt, Bajonnet- und Cavallericanfall hin und wieder
unterbrochen und etwas hin und her geschoben wird. Hat dieser eine Theil
sein kriegerisches Feuer auf diese Weise nach und nach ausgeströmt und es bleiben
nichts als die Schlacken übrig, so wird er zurückgezogen und von einem andern
ersetzt. Auf diese Weise brennt die Schlacht mit gemäßigtem Element, wie
nasses Pulver, langsam ab und wenn der Schleier der Nacht Ruhe gebietet,
weil niemand mehr sehen kann und sich niemand dem blinden Zufall Preis
geben will, so wird geschätzt, was dem Einen oder dem Andern übrig bleiben
wäg, an Waffen, die noch brauchbar genannt werden können, d. h. die noch
ni>de ganz wie ausgebrannte Vulkane in sich zusammengefallen sind. Es wird
geschätzt, was man an Raum gewonnen und verloren hat und wie es mit der
Sicherheit des Rückens steht; es ziehen sich diese Resultate mit den einzelnen
Eindrücken von Muth und Feigheit, Klugheit und Dummheit, die man bei sich
und seinen Gegnern wahrgenommen zu haben glaubt, in einen einzigen Haupt¬
eindruck zusammen, aus welchem dann der Entschluß entspringt, das Schlachtfeld
zu räumen, oder das Gefecht am andern Morgen zu erneuern."
Das Facii aus den Zahlen der Verluste und aus dem Barometerstände
des moralischen Elements bestimmen l5as nächste Resultat der Schlacht. Glän¬
zend ist- das Resultat, wenn die ganze feindliche Armee einem ausgebrannten
Vulkane gleicht und es nur noch einer kräftigen Verfolgung bedarf, um die
Auflösung des Ganzen zu bewirte», die schließlich den Frieden bringt. Fördern
kann man die Auflösung, wenn man den ersten Erfolgen schon die Richtung
auf die feindliche Rückzugslinie giebt und am Ende der Schlacht auf derselben
steht, oder wenn man die Vernichtung der feindlichen Elitetruppen besonders
gründlich betreibt u. tgi. — Alles dies sind Mittel, wie man sie zu allen
Zeiten angewandt hat.
Wenn wir uns also fragen, wie wird sich das Gefecht mit den gezogenen
Schußwaffen von der frühern Gefechtsführung unterscheiden, so müssen wir
antworten: nur dadurch, daß das Tödten jetzt schon auf weitere Entfernung und
kunstgemäßer stattfindet als früher; Gang und Ziele des Gefechts müssen die¬
selben sein. Factisch finden wir die Schlachten der Neuzeit nicht ganz dem
obigen Muster angepaßt, das liegt aber nicht daran, daß die Kunst eine andere
geworden ist, sondern daran, daß die Künstler andere sind. Es ist ähnlich wie
in der Musik, wo die Technik der Instrumente sich nach allen Richtungen ent¬
wickelt hat, die Handhabung der Instrumente etwas künstlicher geworden ist,
die Gesetze der Kunst in ihrer Ausführung aber dieselben geblieben sind. Unsere
heutige Gefechtsführung gleicht ziemlich der Zukunftsmusik mit ihrem bunten
Turcheinander, zuerst etwa ein zartes Gesäusel der Saiteninstrumente, dann
quälen sich die Trompeten, dazwischen brummt der Baß, erschallen die Pauken,
endlich wüthen alle Instrumente, es entsteht ein furchtbarer Lärm, der manchmal
den Anstrich von Musik hat, aber am Schlüsse haben wir die Empfindung, daß
das Ganze trotz allem Spectcckel wenig war. Der alte Meister Napoleon suchte
sich seinen Gegner zu stellen und wenn er ihm gegenüberstand hing er sich an
ihn und rang mit ihm, bis er ihn unter zwang, dabei war er so kunstgeübt,
daß er in jedem seiner Glieder das Tastvermögen hatte, die Stärken und
Schwächen genau erkannte und demgemäß seine eignen Kräfte disponirte, um
den Gegner so zu Falle zu bringen, daß er womöglich nicht wieder aufstand.
Wir meinen also, daß Napoleon bereits in der Dannewertstellung zum Gefecht
gekommen sein würde und daß wenn er glaubte durch eine Umgehung allein
unmittelbar an den Gegner gelangen zu können, er denselben nicht erst losgelassen
hätte und drei Meilen sott nach Arms marschirt wäre, sondern daß er allenfalls
die Stellung angegriffen, Missunde umsaßt, gestürmt und gleichzeitig unmittelbar
dabei z. 'B, bei Königsburg einen Uebergang versucht hätte.
Also wir sind der Ansicht, daß eine kunstgerecht geführte Schlacht in ihren
großen Zügen zu allen Zeiten dieselbe gewesen ist und daß die Verschiedenheit
nur in den Mitteln liegt, mit denen die Schlacht geführt wurde. Zu den ver¬
schiedenen Mitteln gehören auch die Menschen. Wie heute noch die Nationen
Russe. Oestreicher. Preuße. Franzose und Engländer verschieden in Charakter
und militärischer Leistung sind, so ist es auel das einzelne Volk in seinem Ent¬
wickelungsgang durch die Jahrhunderte und ost durch die Jahrzehnte. Die
Preußen Friedrichs des Großen gingen noch ganz in ihrem Könige aus. während
die Preußen der Neuzeit nach der Selbständigkeit der Individuen drängen; daher
wir damals das Heer in geschlossenen Linien ein den Feind rücken und mit
Kugel und Bajonnet um das Leben ringen sehen, während wir heute dasselbe
in Tirailleurlinien thun. Nur weil es heute Tirailleure sind, weiche jeder für
sich mit aller Intelligenz und mit allen Vortheilen, die das Terrain bietet,
kämpfen, deshalb dauert der Kampf länger, ist die einzelne Armee nicht mehr
ein in eine gewisse Stellung gefügtes und von dem Terrain mehr oder minder
abhängiges Ganze, sondern es bildet eine» lebendigen, beweglichen Körper.
Deshalb ist der Kampf schwieriger, kann nicht gleich der Angriff auf den schwäch¬
sten Punkt des Feindes hingeführt und dort concentrirt werden, sondern es
muß diese Schwäche wohl herausgefühlt werden. Es genügt uicht mehr em
künstlicher Schlachtplan, sondern das stete, lebendige Eingreifen in den Gang
der Schlacht wird nothwendig und weil diese lebendige Wirkung so schwer wird,
muß bei gleich guten Armeen das intelligentere Volk leichter siegen, muß bei
gleicher Intelligenz vor allen Dingen die Zahl den Ausschlag geben, Em Re¬
cept, wie man eine Schlacht führt, kann man ebensowenig geben, als eine
Vorschrift, wie man ein guteo Bild macht. Man kann dem Künstler nur die
Materialien und die Art ihrer Anwendung lehren, das Bild selbst muß leben¬
dig aus seinem Geiste springen, sonst ist er kein Künstler. Ebenso steht es um
den Schlachtenkünstler. Der Gang des Gefechts muß ihm aus der Kenntniß
seiner Gegner und seiner eigenen Truppen, aus der Aufstellung, dem Terrain
und aus dem ganzen Feldzugsplan herausspringen.
Und jetzt sei zum Schluß noch einmal das Zündnadelgewehr erwähnt. Aus
der oben gegebnen Gefechtsschilderung erhellt, wie groß die Gefahr ist, daß die
mit Zündnadelgewehren bewaffnete Infanterie sich rascher verschießt, und zur
„Schlacke" wird, bevor die zur vollen Gluth gekommene Hitze des Gefechts die
ganze Fülle des vorhandenen Metalls, das moralische Element, ganz heraus-
gezogen hat. Deshalb ist es nothwendig, die Patronenökonomie durch die Be¬
schleunigung der Gefechtsführung zu unterstützen. Und hier hat sich der Gebrauch
des Zündnadelgewehrs im Gefecht, seine Feuertaktik von der anderer Gewehre
zu unterscheiden.
Eine Truppe, welche an einem Tage ein lang anhaltendes Feuergefecht ge¬
führt hat. ist für diesen Tag abgenutzt und es ist deshalb unzulässig, eine derart
zurückgezogene Infanterie mit frischen Patronen versehen wieder in das Ge¬
fecht zu bringen. Es kommt also darauf an, daß die Vortheile, welche das
Zündnadelgewehr bietet, im ersten Gange möglichst rasch ausgenutzt werden.
Man bringe deshalb stets mindestens ebensoviele Zündnadelgewehre in lang
anhaltende Gefechte, als der Gegner aufgestellt hat, dann tritt das rascherund
besser schießende Zündnadelgewehr in den Vortheil und ist im Stande seine
Nachtheile zu überwinden. Die Feuertaktik aber des Zündnadelgewehrs unter¬
scheidet sich darin von der der andern Gewehre, daß das Zündnadelgewehr
1) gestattet, ohne Aufenthalt im Gehen geladen zu werden, also eine Beschleuß
nigung des Angriffs zuläßt, 2) im Schnellfeuern ein Mittel darbietet, einen Hagel
von Kugeln auf eine Stelle zu werfen und unter dem moralischen Eindruck
desselben einen Sturm zu unternehmen.
Kaiser Napoleons Meinung über die Art und Weise, wie der Streit um
Schleswig-Holstein zu schlichten sei, liegt jetzt vor. Sie ist enthalten in einer
Paris, den 20. März datirten, an den Vertreter Frankreichs in London, Fürst
de la Tour d'Auvergne gerichteten Note, deren Analyse wir im Folgenden
mittheilen. Es heißt darin zunächst, das Actenstück habe den Zweck, die von
der französischen Regierung bisher befolgte Politik in ihren Grundzügen dar-
zulegen und damit zu gleicher Zeit zu zeigen, daß Frankreich keine Hinter¬
gedanken hege. Dann fährt die Note fort: das londoner Protokoll könne weise
gewesen sein, und Frankreich empfinde große Sympathien für Dänemark; indeß
seien die Hindernisse, welche der Ausführung des londoner Protokolls entgegen¬
stünden, nicht zu verkennen. Als solche Hindernisse sehe das pariser Cabinet
namentlich den Widerstand des deutschen Volkes gegen jene Abmachung, die
Kundgebungen der Herzogtümer gegen dieselbe, die Nichttheilnahme vieler. die
eingeschränkte Theilnahme anderer, die Lossagung noch anderer von den denk'
selen Regierungen von dem Protokoll, weil es anderweiten Vereinbarungen
untergeordnet sei. und die Bestreitung der Giltigkeit desselben von Seiten des
Bundes an. Es handle sich, heißt eel weiter, um einen Streit von Völkern,
die beide von eurem gleich hohen Grade von Nationalgefühl bewegt seien. Was
also ser natürlicher, als in Ermangelung einer allgemein angenommenen Regel
den Wunsch der Bevölkerungen zur Fricdensbasis zu nehmen.
So die Note. Von einer nähern Angabe, wie dieser „Wunsch der Be¬
völkerungen" zu constatiren. von allgemeiner Volksabstimmung. Willenskund-
gebung der Stände u. d. in. ist in derselben nichts zu lesen. Daß ein sutiiÄM
univer^l dem Kaiser das angenehmste Mittel sein würde, ist nicht zu bezweifeln.
Klugerweise aber vermeidet er, es ausdrücklich zu nennen, vermuthlich, um den
deutschen Mächten den ihnen jedenfalls weniger bedenklichen Weg einer Be¬
fragung der Stände offen zu halten. In den Worten „Wunsch der Bevölkerung"
wurde für diese Vorsicht und Mäßigung, wie uns dünkt, der rechte Ausdruck
gefunden, und man darf hoffen, daß wir auf dieser Basis zur Verständigung
gelangen werden. Ja man ' sollte meinen. daß eine Lösung der Frage auf
solchem Wege selbst in dem Falle nicht unmöglich sein würde, wenn Frankreich
schließlich die Volksabstimmung gemeint haben wollte, da dieselbe ja nicht ein
neues Fürstenrecht schaffen, sondern nur ein altes, von Wenigen bestrittenes
als zugleich den Willen und das Interesse des Volkes ausdrückend darstellen würde.
Blicken wir zunächst nach England, so meint zwar das Organ des Grafen
Rechberg, daß man hier mit dem Gedanken Napoleons nicht einverstanden sein
werde. Indeß behaupten ja die englischen Minister und versichern ja die „Times"
und die große Mehrzahl der übrigen londoner Blätter ohne Aufhören und viel¬
leicht in gutem Glauben, daß die Majorität der Schleswig-Holsteiner entschieden
dänisch gesinnt ist. und das große Cityblatt wies erst neulich jedem, der es
nicht besser wußte, überzeugend nach, daß alle Kundgebungen für Herzog Frie¬
drich und das in diesem verkörperte Princip der ganzen und ewigen Trennung
der Herzogthümer von Dänemark nur Kunstproducte einer rührigen Minderheit
sind. Warum also nicht die Mehrheit zu Worte kommen lassen, wo dann alles
viae weiteres Blutvergießen enden, alles in Wohlgefallen sich auflösen würde?
Nußland, von dem Moniteur des östreichischen Ministeriums des Auswärtigen
ebenfalls als dem französischen Projecte feindselig bezeichnet, ist über die Stim¬
mung in den Herzogtümern sicher besser unterrichtet, und so könnte es gegen
den Plan sein, indeß würde ihm. wenn es dies aussprechen wollte, nicht mit
Unrecht grobe Inconsequenz vorzuwerfen sein. In Italien hat es dasselbe
Princip,'welches Napoleon aufstellt, bei einer Revolution anerkannt; weshalb,
so könnte man ihm einhalten, wollte es dieses Princip nicht jetzt bei einem
Erbfolgestreite zulassen, b^i dem auf Seiten des abstimmenden Volkes die Legi-
timität steht? Dänemark ferner sollte in demselben Fall wie England sein,
dessen Zeitungen es mit seiner Ueberzeugung zu speisen Pflegt. Es hat stets
mit der Miene der vcUannten Unschuld'behauptet, daß nur die Ritterschaft,
welche die dänische Freiheit nicht wolle, und die Professoren, welche von Ver¬
größerung des deutschen Vaterlandes auf Kosten harmloser Nachbarn träumten,
ihm gram seien. Weshalb nicht einmal auf eclatante Weise zeigen lassen, daß
lediglich diese paar Dutzend Wühler den langen Brand angesteckt und bis dato
unterhalten haben? In der Tink, es sollte' sich die von Frankreich gebotene
Gelegenheit, denselben gründlich zu löschen, nicht entgehen lassen. Daß die
Herzogthümer damit zufrieden sein müßten, endlich einmal ihr Loos in die eigne
Hand gelegt zu sehen, scheint ausgemacht. Sie haben ja laut genug und lange
genug darnach verlangt.
Von Oestreich dürfte man meinen, daß ihm der französische Plan unlieb,
ja sehr unlieb sein müßte. Es weiß ohne Zweifel besser als seine Mitstrebenden
in dieser Sache, die englischen Friedensfreunde um jeden Preis, was die Schles-
wig-Hvlsteincr wollen. Es will als Gesammtstaat keine Zertrümmerung des
dänischen Gesammtstaats. „Dieser Staat, Graf Oerindur, muß bestehir, ob
die Natur gleich damit zu Ende eile*)." Es erkennt das Recht der Nationali¬
täten nicht an, weil es dies nicht kann, ohne sein eignes Todesurtheil auszu-
sprechen. Es will keine Volksabstimmung über Fürstenrechte, weil diese Procedur
seinen Satelliten in Italien die Kronen definitiv genommen hat, es will endlich
keinen „preußischen Pasallen" zwischen Elbe und Königsau. So sollte man
glauben. Indeß das „Fremdenblatt", das oben angedeutete Mundstück des
Grafen Rechberg, belehrt uns eines Bessern. Er sagt/die französische Note sei
erfreulich, und der deutsche Bund, zu dem Oestreich doch auch noch gehört, könne
damit zufrieden sein. Möglich, daß dies mit etwas säuerlicher Miene geschrieben
wurde, indeß es ist geschrieben und schwarz auf weiß zu lesen. Wir nehmen
die wiener Herren beim Worte, glauben, daß sie sich ausnahmsweise freuen,
die Stimme des Schleswig-holsteinischen Volks über sein und seines Herzogs
Recht baldigst zu vernehmen, und hoffen, daß sie diese officiöse Andeutung dem»
nächst in einer officiellen Note und dann auf der (Konferenz recht deutlich, un¬
eingeschränkt und energisch zu wiederholen belieben werden.
Indem wir schließlich zu Preußen kommen, beschränken wir uns, um nicht
in d. Bl. bereits Gesagtes zu wiederholen, auf die Stellung der gegenwärtigen
Lenker dieses Staates zu dem Gedanken der allgemeinen Abstimmung. In
dieser Beziehung möchte zunächst sicher sein, daß König Wilhelm denselben un¬
gefähr in dem Maße ungern gelten läßt, in dem er den Schleswig-Holstcinern
wohl will. Daß Herr v. Bismarck die Bolksstimmc im Allgemeinen besonders
gern hören sollte, ist auch nicht wohl anzunehmen, schon weil er wissen muß,
daß sie daheim, mit der Entscheidung über sein Verbleiben im Amte betraut,
auch jetzt nach seinen Thaten in den Herzogthümern noch, schwerlich ein ihm
günstiges Wort sprechen würde. Indeß tritt die Nothwendigkeit an Preußen
heran, zu Napoleons Vorschlag ein bestimmtes Verhältniß einzunehmen, und
wenn die N. A. Z, die Meinung des Ministerpräsidenten ausdrückt, so ist be¬
reits eine Verständigung mit dem französischen Plan im Gange.
Hätte denn aber, so fragen wir schließlich, Preußen im Princip eine Be¬
rücksichtigung des „Wunsches der Bevölkerung", selbst wenn dies auf ein gut-
kiÄM rmivei'sel hinaufliefe, von sich zu weisen? Wir meinen, mit nichten. Ja
es liegt bereits ein Präcedcnzfall vor, und zwar gerade in der Schleswig-hol-
steinischen Frage.'
Wir meinen die londoner Friedensverhandlungen im Mai 1848. die wir
hier (nach „Actenstücke zur neuesten Schleswig-holsteinischen «Geschichte" Leipzig,
Engelmann 1851) etwas ausführlicher als es für unsern nächsten Zweck er¬
forderlich ist, darstellen, da die damals aufgetauchten Vorschläge jetzt vermuthlich
in wenig veränderter Form wieder auftauchen werden.
Bald nach dem Treffen bei Schleswig wurden von Dänemark Versuche
gemacht/ einen Waffenstillstand zu erlangen. Dieselben ließen es aber un¬
zweifelhaft, daß man in Kopenhagen nur Zeit gewinnen wollte; denn der vor¬
geschlagene Waffenstillstand sollte nicht länger als drei Wochen dauern. 6i,t
nachdem von Preußen und Dänemark die Vermittelung Englands angenommen
war. kamen Verhandlungen über Friedenspräliminarien zu Stande Premzen
drang darauf, und Dänemark mußte sich, wenn auch mit Widerstreben, daraus
einlassen. >
^-.
In Gesprächen, welche Lord Palmerston in den letzten Tagen des Ayrt
mit dem Vertreter des deutschen Bundes in London, Syndikus Baues ge¬
pflogen, hatte derselbe angedeutet, daß er dem Gesandten Preußens am eng¬
lischen Hof unter anderm 'folgenden Vorschlag als Grundlage eines Überein¬
kommens machen werde.
,„Der nördliche Theil Schleswigs mit seiner dänischen Population bird
bei Dänemark, sür den die deutsche Bevölkerung enthaltenden grogern 5heU
des Herzogthums tritt der Herzog von Schleswig dem deutschen Bunde bei."
'
..DerVorschlag." bemerkt Banks in seinem Bericht an die Bundesversamm¬
lung, „ist der. welcher von der provisorischen Regierung im Westlichen früher
ausgegangen ist. daß nämlich der nördliche Theil von Schleswig an Dänemark
übergehen solle wenn er lieber dort als bei den Herz o gthum er n
bleiben wolle Es wird vorausgesetzt, daß der eure durchweg dänische
Bevölkerung enthaltende nördliche Theil dies vorziehen werde. Nach den späteren
Verhandlungen würde dies Mittel übriglassen, die Grenze durch Befragen d er
Einwohnerselbst odcr wie es sonst geschehen mag, ausfindig zu machen.
Palmerston machte diesen Vcrmittclungsvvrschlag nicht, sondern bot. von
demselben wahrscheinlich ^n einer Unterredung Mit dem dänischen Gesandten
abgebracht, in seinen Depeschen nach Kopenhagen. Berlin und Frankfurt nur
ganz allgemein seine guten Dienste an, wobei er äußerte, daß eine kurze Dar¬
legung der Forderungen von beiden Seiten wünschenswert^ se,n mochte.
Darauf stellte zunächst Dänemark eine Anzahl von Bedingungen auf. welche es
als passende Grundlage für eine Waffenstillstandsconvention angesehen wissen
wollte. Dann folgte Palmerston am 13. Mai mit nachstehenden Propositione»:
1) Die Feindseligkeiten werden sofort zu Wasser und zu Lande eingestellt. 2) Alle
Kriegsgefangene'und d,e ausgebrachten und mit Embargo belegten schiffe
werden beiderseits freigegeben/ 3) Die dänischen Truppen räumen «Schleswig.
4) Die deutschen Truppen räumen Jütland und die Herzogthümer.
Der preußische Gesandte in London. Ritter Bunsen. konnte diesen Vor¬
schlägen nicht beistimmen. In einer Note an Lord Palmerston vom 18. Mai
wiederholte er. daß Deutschland die englische Vermittelung gern annehme, und
sprach den Wunsch aus, daß der Lord/ ähnlich wie bei der Vermittelung in
der Schwcizcrfrage. mit den Waffenstillstandsvorschlägen zugleich Friedens¬
präliminarien verbinden möge. In zwei angeschlossenen Denkschriften
sprach der preußische Gesandte sich zugleich über diese Bedingungen aus. Den
Waffenstillstand anlangend, beantragte er folgende Modificationen des pal-
merstonschen Vorschlags- '
Ä<1 2. Auch die politischen Gefangnen werden freigelassen, alle Gegenstände
öffentlichen oder Privateigenthums werden herausgegeben, die Schiffe nebst ihren
Ladungen in dem Zustand wie vor Beginn des Embargos.
ad 3. Die Dänen haben auch die Insel Alsen und die übrigen zu Schles¬
wig gehörigen Inseln zu räumen.
aä 4. Holstein sann von den Bundestruppen nicht geräumt werden; da¬
gegen erhallen die bereits beorderten Verstärkungsmannschatten den Befehl, nicht
weiter vorzurücken, vorausgesetzt, daß auch die schwedischen Truppen aus Führer
zurückgezogen werden. Führen die Verhandlungen nicht innerhalb eines Monats
zum Abschluß von Präliminarien, so nehmen beide Armeen ihre Stellungen
wieder ein. Die dänische Regierung willigt dans, nids in die Fortdauer der
provisorischen Regierung.
Als Fri e de us beo in g ung en wurden von Bunsen folgende Punkte in
Vorschlag gebracht:
1) Der König von Dänemark nimmt den Beschluß der Einverleibung
Schleswigs in das Königreich Dänemark zurück und erkennt das Recht Holsteins
auf unzertrennliche Verbindung mit Schleswig an. Diese Anerkennung schließt
daS Zugeständniß in sich, daß die vereinten Herzogthümer mit Dänemark nur
durch die Person des Souveräns vereinigt bleiben, so lange als der Manns-
stamm des Hauses Oldenburg in Dänemark herrscht.
2) Im Wege gütlicher Verständigung werden die Bedingungen einer völ¬
ligen Trennung hinsichts der Verwaltung, der Finanzen, der Armee und Flotte
und der öffentlichen Schuld festgestellt.
3) Der König von Dänemark willigt in die Aufnahme des vereinigten
Herzogthums in den deutschen Bund.
Dagegen wird als Gegenstand der Compensation zugestanden, daß ein
Theil von'Nordschleswig, wenn derselbe sich frei und offen zu Gunsten
einer Vereinigung mit Dänemark erklären sollte, von dem vereinten
Schleswig-Holstein ausgeschlossen bleibe und mit Dänemark vereinigt werde,
nachdem derselbe als selbständiges Herzogthum constituirt sei und eine Verfassung
erhalten haben wird, welche, in Uebereinstimmung mit der Seitens des Königs
von Dänemark an Schleswig ertheilten Zusicherung, der deutschen Minorität der
Bevölkerung einen hinlänglichen Schutz ihrer Nationalität gewährt:
Lord Palmerston antwortete aus Bunsens Note am 19. Mai im Wesent¬
lichen Folgendes:
In Betreff der Waffenstillstandsbedingungen wird:
2. eingeräumt, daß auch die politischen Gefangnen frei zu geben seien.
an 3. Die Schiffe und Ladungen werden ohne irgendwelche Beeinträch¬
tigung freigegeben; dagegen wird der Punkt wegen Zurückgabe des von den
dänischen Truppen weggeführten Eigenthums, worüber dem Lord nichts bekannt
geworben, den weiteren Verhandlungen vorbehalten.
ack 3 und 4. England beharrt bei seinem Vorschlag wegen Räumung beider
Herzogthümer. Infolge hiervon ist auch Alsen von den Dänen zu räumen.
Die etwa in Dänemark eingerückten schwedischen Truppen kehren in ihre Het-
malh zurück.
Die von Bunsen vorgeschlagenen Friedensbedingungen eignete sich Lord
Palmerston in allem Wesentlichen an. Es heißt in sei'er Antwortnote, dieselben
würden durch Sir Henry Wyn» der dänischen Regierung zur Annahme empfoh¬
len werden. Indeß giebt der Lord anheim, ob es nicht gerathener sei, die
Scheidung des deutschen und des dänischen Theils von Schleswig „auf Grund
bereits bekannter oder noch zu ermittelnder statistischer Thatsachen (nach Ma߬
gabe der prcivalirenden Nationalität) zu vereinbaren, ohne daß man den schwie¬
rigen Weg der Befragung aller Einwohner solcher Districte einschlägt."
'
Eine sofortige Verständigung über den Abschluß eines Waffenstillstandes
kam nicht zu Stande. Sowohl der dänische als der preußische Gesandte be-
Miete über die von den verschiedenen Parteien gemachten Vorschläge und es
verfloß geraume Zeit, ehe die Verhandlungen in London wieder ernstlich aus¬
genommen wurden. Preußen und der deutsche Bund nahmen die valmerstviftche
Friedensproposition an. Dänemark verwarf sie am 8. Inn, Auch d'e Provi¬
sorische Regierung Schleswig-Holsteins erklärte sich am 22. Man und 10. ^uni
gegen eine Theilung Schleswigs. , .
^^England schlug darauf am 23. Juni eine Alternative vor. die wörtlich
folgendermaßen lautete: -
...-
„Der künftige Zustand des Herzogtums Schleswig soll nach einem der beiden
folgenden Vorschläge festgestellt werden, nach Wahl (elroice) des Komgs-Herzogs
Erstens: Das Herzogthum Schleswig ließe sich in zwei Thule beten.
nach der deutschen oder dänischen Nationalität seiner Bevölkerung. Der sublime
und deutsche Theil würde das südliche Herzogthum genannt werden der mao-
uche oder dänische Theil würde das nördliche Herzogthum genannt. Der ^o'ng
würde sodann in seiner Eigenschaft als Herzog von Südschleswig ein ^mgueo
des deutschen Bundes werden, ebenso wie er es in seiner Eigenschaft als Hnzvg
V"n Holstein ist und Südscbleswig würde gleich wie Holstein ein TbeN ses
deutschen Bundes werden, und die. souveräne Herrschaft über Sudschleswig
würde derselben Successionslinie als die Herrschaft von Holstein zufallen AM
der andern Seite würde Nordschleswig nach seinem Successionsrecbt mit dn
Krone Dänemark vereinigt und die souveräne Herrschaft über dieses Herzogtum
würde untrennbar mit der Krone Dänemark verbunden sein.
Zweitens- Wenn dieses Uebereinkommen nickt für ausführbar erachtet
werden sollte so lasse man das Herzogthum Schleswig ganz und ungetrennr
bleiben, so wie es jetzt ist; es bleibe verwaltet, wie es verwaltet worden ist.
von einer für Schleswig und Holstein gemeinschaftlichen Verwaltung, ferner
sollten auch Provinzialstände da sein, in denen die Vertreter beider Herzogtümer
zusammen nach ihrem gehörigen gegenseitigen Verhältniß versammelt waren
diesem Fall würde der König von Dänemark bleiben, was er letzt Ne. ^ u-
glied des deutschen Bundes in seiner Eigenschaft als Herzog von Holstein abe»
er würde nicht Mitglied des deutschen Bundes werden in seiner Eigenschaft als
Herzog von Schleswig. In diesem Falle würde auch seine Veränderung >in
Successionsrecht in Schleswig eintreten.
.-^^In der Kürze lautete also diese Alternative: entweder wird das Herzogthum
Schleswig nach der prävalirenden Nationalität in eine nördliche und eine süd-
l'che Hälfte getheilt und letztere hat dann die Zugehörigkeit zum deutschen Bunde
und die Erbfolge mit Holstein gemein, oder Schleswig bleibt ungetheilt in
administrativer Verbindung mit Holstein und ohne nähere Verbindung mit dem
deutschen Bunde.
Zu dem zweiten Vorschlag war Lord Palmerston bauptsächlich durch die
Nachricht veranlaßt, daß der König von Dänemark sich bei e,nem Besuck am
schwedischen Hofe in Malmoe dahin geäußert habe, daß von einer TheilungSchleswigs, die man weder in Dänemark noch in den Herzogthümern wolle,durchaus nicht mehr die Rede sein könne, und er vielmehr geneigt sei. die männ¬
liche Erbfolge auch in Dänemark einzuführen, wenn dies in einer ihm zusagen¬
den Weise geschehen könne. Obgleich der König sich über das Nähere nicht
ausgelassen hatte, bezweifelte doch schon damals niemand, daß derselbe dabei an
die eventuelle Succession des Prinzen Christian von Glücksburg gedacht habe,
da der spätere Protokollprinz der einzige Agnat des oldenburgischen Hauses
war, der schnöder Weise die Sacke seines Vaterlandes verläugnet hatte.
Na'cbdem Preußen sich später in kläglicher Zeit bereit erklärt hatte, diese
Aenderung der Succession unter gewissen Bedingungen zu fördern, gewann ein
Auospruch an Bedeutung, den Herr von Schleinitz am 29, Juni in amtlicher
Eigenschaft that. Er sagte: „Der König von Preußen hat zwar in seinem
Schreiben an den Herzog von Augustenburg vom 24. März d. I. das Erbrecht
des Mannsstammes anerkannt, aber er bat sich nicht bestimmt darüber aus¬
gesprochen, wer dann der nächstberechtigte Agnot sei."
Man siebt, wenn man gewisse Artikel der inspirirter preußischen Blätter
und manches Andere, z. B. die neuesten Andeutungen der „Presse" in Betreff
einer Abfindung des Herzogs Friedrich mit diesem Auskunftsmittel vergleicht,
daß Rabbi Allda Recht hatte, wenn er meinte, daß es nichts Neues unter der
Sonne giebt. Fast alles, was man heute für eine Lösung der Schleswig-hol-
steinischen Frage zu Markte bringt, ist im Wesentlichen 1848 schon dagewesen.
Unterm 24. Juni beantwortete Bunsen die Vorschläge Palmcrstons, soweit
sie Friedensbedingungen betrafen, dahin, daß Deutschland hinsichtlich der auf¬
gestellten Alternative in dem ersten Falle nicht von dem Grundsatze abgehen
könne, daß N o,rd sah l es w i g nur nach freier Willenserklärung seiner
Bewohner von dem übrigen Herz-ogthum getrennt werden dürfe.
Also noch einmal die Abstimmung, das Recht des Volkes, über seine Zukunft
selbst zu entscheiden. In dem zweiten Falle aber müsse deutlich erklärt werden,
daß die Herzogtümer nicht nur durch gemeinsame Verwaltung, sondern auch
durch gemeinsame Stände für ewige Zeiten unter sich verbunden und jeder
gemeinsamen Verbindung mit dem Königreiche in einem jetzt oder später einzu¬
führenden Parlamente oder in Generalstaaten entzogen seien. Zugleich sei es
erforderlich, das Von den Herzogtümern behauptete Recht auf agnatische Erb¬
folge in bestimmter Weise anzuerkennen.
Hierauf erwiderte Lord Palmerston am 28. Juni: in der ersten als Friedens¬
basis aufgestellten Alternative werde Deutschland eine Vergrößerung des Bundes¬
gebiets zugesprochen, auf welche es an sich kein Recht habe, während die zweite
eine, wenn auch nicht grundsätzliche, so doch thatsächliche Befriedigung aller
Rechtsansprüche des deutschen Herzogtums enthalte. Es sei deshalb gerecht,
die Wahl zwischen den beiden „gleichbedeutenden Uebereinkommen" dem zunächst
dabei betheiligten König-Herzog allein zu überlassen. Eine definitive Ent¬
scheidung des Erbfolgestreits herbeizuführen, sei bis jetzt keine gebieterische Noth¬
wendigkeit vorhanden, und der Augenblick sei einer Erörterung dieser schwierigen
Frage nicht günstig.'
Wie Preußen denn von seinen Forderungen zurücktrat, gehört nicht hier¬
her. Es war hier in der Hauptsache zu zeigen, daß es eine Heit gab, wo das
berliner Cabinet das jetzt von Frankreich befürwortete Mittel der Lösung der
Schleswig-holsteinischen Frage selbst vorschlug und vertheidigte, und daß es des¬
halb durch seine Vergangenheit nicht abgehalten, sondern vielmehr angehalten
wird, das Princip der Selbstbestimmung der Völker über ihre politische Stel¬
lung anzuerkennen, dem „Wunsch der Bevölkerung" Rechnung zu tragen.
Talent, das an Leichtigkeit. Anmuth und schlagendem Witz mit Lessing wett¬
eiferte, war den Gegnern unendlich voraus; es kam denjenigen, welche mit ihm
anbauten, in der Regel theuer zu stehen. Allein es flochten sich in das ge¬
wandte Spiel seiner „Streitschriften" zugleich die gründlichsten Nachweisungen
ein, durch welche die Position, die er eingenommen, befestigt, Stellen, welche
die Gegner als schwächer erspäht hatten, mit neuen Geschützen bewehrt wurden.
Von allen Seiten flogen die Geschosse. Der alte Rationalismus und Supra-
naturalismus, die hcngsicnbergsche Orthodoxie und die schleiermachersche Gesühls-
theologie. die schellingsche Naturmystik und die altgewordcne hegelsche Schule
— alle suchten sich des unbequemen Feindes zu erwehre», der in keine der
herkömmlichen Kategorien passen wollte; mit allen war ein Gang zu thun, und
mit wahrem Behagen und zugleich aufopfernder Geduld unterzog sich der Kri¬
tiker diesem Geschäft.
Am unfruchtbarsten war natürlich der Streit mit der äußersten Rechten,
obwohl Hengstenberg wenigstens die allgemeine Bedeutung des Straußfeder Werth
richtig herausfühlte und anerkannte, daß Strauß eigentlich nur den Zeitgeist
zum Bewußtsein seiner selbst und der Consequenzen gebracht, die aus seinem
Grundwesen hervorgehen; ihn gelehrt habe, die fremdartigen Bestandtheile ab¬
zustreifen, die ihm aus Mangel an tüchtiger Durchbildung bisher »och bei¬
wohnte». Allein die Polemik wurde vom wissenschaftlichen sofort auf ein ganz
anderes Gebiet getragen, wenn Hengstenberg von Menschen ohne Herzen, von
unheilbaren geistigen Mißgeburten redete, und dem Verfasser des Lebens Jesu
das beichtväterliche Zeugniß ausstellte, er habe nur das Herz eines Leviathans,
das so hart ist wie Stein und so fest wie ein Stück vom untersten Mühl¬
stein. Bald mit erbaulichen Liederverscn bald mit einem Schwalle apokalyp¬
tischer Phrasen rief er das Wehe über die gottlosen Zweifler, welche das Licht
hasse», weil ihre Werke böse sind. Mit den Worten des Jeremias klagte
der bekümmerte Zion.swäcbtcr-. ach, daß ich Wasser genug in meinem Haupte
halte und meine Augen Thränenqucllen wären, daß ich Tag und Nacht be¬
weinen möchte die Erschlagenen in meine»! Volke, denn es sind eitel Ehebrecher
und ein frecher Haufe. Mit der Kritik wird aller Wissenschaft überhaupt,
unsern Denkern und Dichtern. Schiller und Goethe der Krieg erklärt: sie si»d
allzumal vom Samen des Ehebrechers und arbeiten im Dienst des Reichs
der Finsterniß. Selbst im Fetischdienst sei noch mehr religiöser Gehalt, als
im System des Pantheismus, der alles in seinen Molochsarmen erdrücke.
Besonders beliebt war in diesen Kreisen die Zusammenstellung Straußs mit
Judas Ischarioth, ein Vergleich, den der fromme Eschenmayer in Tübingen
aufbrachte. Es war eine Art von Polemik, die als literarisches Curiosum und
als für ihre Urheber bezeichnend, immerhin in der Geschichte aufbewahrt zu
werden verdient.
Ernster hatte es der Vertheidiger des älteren Supranaturalismus, der
Superintendent Steudel, der sich als Straußs Vorgesetzter fühlte, gemeint,
wenn er die Bedeutung des Historischen im Leben Jesu hervorhob, ohne welche
die Thatsache des späteren Christenthums nicht zu erklären sei. Strauß ant¬
wortete, die historische Persönlichkeit Jesu und seine wirkliche Bedeutung habe
er nicht gelciugnet; aber in dem. was er als. Mythus nachweise, habe eine
Kraft und Trost für die Gemüther gelegen. Daß Petrus im Munde des Fisches
eine Münze fand, hätte schwerlich irgendjemand erbaut, wenn es nicht Christus
gewesen, auf den diese Geschichte bezogen wurde. Besonders aber wies er an
der Predigt des Apostels Paulus nach, wie wenig auf die äußerlichen Einzel¬
heiten, die wunderbaren Anekdoten im Leben Jesu ankam. Stellte doch Pau¬
lus seine ganze Predigt einfach auf Christus den Gestorbenen und Auferstan¬
denen; von dessen Wunderthaten aber wußte der Apostel nichts oder wollte
nichts wissen; nirgends gedenkt er ihrer, nirgends gründet er auf sie irgendeine
Lehre. Gegen den Vorwurf aber, daß er das Heilige nicht heilig, sondern in
gleichgültigem und verletzenden Tone behandelt habe, wehrt sich Strauß mit den
Worten: „Ja ich hasse und verachte jenes andächtige, zerknirschte und angst¬
volle Reden in wissenschaftlichen Untersuchungen, welches auf jedem Schritte-
sich und den Leser mit dem Verluste der Seligkeit bedroht, und ich weiß,
warum ich es hasse und verachte. In wissenschaftlichen Dingen erhält der Geist
sich frei, sott also auch freimüthig das Haupt erheben, nicht knechtisch es
senken. Der Ausdruck heilig und Heiliges ist in wissenschaftlichen Dingen ein
Ueberfluß, das Höchste für die Wissenschaft ist objectiv Wahrheit und sub-
jectiv Wahrheitsliebe. Jene ist ihr Heiliges, diese die heilige Behandlung des
Heiligen."
Aber auch die hegelsche Schule wollte, obgleich Hengstenberg von Strauß
die wahren Konsequenzen des hegelschen Systems gezogen sah, nichts mit dem
gefährlichen Buch zu thun haben; sie lehnte die Verantwortung dafür ängstlich
von sich ab und meinte, die philosophische Kritik müsse es sich zur Aufgabe
setzen, einen Gegenstand wirklich zu „begreifen"; das hieß in der Sprache der
hegelschen Fvrmalmänner nichts andres, als daß alle Erzählungen im Leben
Jesu von der übernatürlichen Erzeugung bis zur Auferstehung, nachdem ihre
ideale Wahrheit aufgezeigt, auch als wirkliche Thatsachen anerkannt werden
sollten. Damit war das Geschäft der Kritik zu einer bloßen Scheinoperation
herabgesetzt; es hieß, wie Strauß treffend bemerkte, Erbsen lesen mit dem Vor¬
satz, sie alle gut zu finden. Der hegelschen Schule war der gesunde Menschen¬
verstand abhanden gekommen, sie konnte nicht empfindlicher getroffen werden,
als indem sie vor diese Instanz verwiesen wurde. Behauptete Bruno Bauer,
nothwendig habe die menschliche Natur im Allgemeinen einmal ein absolutes
Individuum hervorbringen müssen, so erwiderte Strauß, nicht von der Gat-
tung Apfelbaum als solcher, sondern immer nur von einem einzelnen Baum
dieser Gattung hoffe man Aepfel zu gewinnen. Der Deduction. es gehöre
zum Begriff der Menschheit, daß einmal ein Urmensch erscheine, in welchem
dieser Begriff erst wirklich werde, hielt Strauß den Einwand entgegen, daß es
dann ebensogut einen Urlöwen, einen Urfisch geben müßte. Und wenn die
Hegelianer weiter meinten, der einzelne Mensch sei immer etwas Unvollkomme¬
nes, damit aber ein Mensch das Wesen der menschlichen Natur rein in sich
darstellen könne, habe er unmittelbar durch den Begriff selbst in die empfäng¬
liche Menschennatur gehest werden müssen, so wußte Strauß diese monströse
Beweisführung durch die andere zu parodiren: auch aller bisherigen Poesie
klebt die Beschränktheit ihres Ursprungs von einzelnen Dichtern an, die Idee
der Poesie verlangt aber eine absolute Verwirklichung, welche nur zu erreichen
ist, wenn sie ohne Vermittlung durch ein dichtendes Individuum unmittelbar
selbst sich Realität giebt. Die Menschenwelt kann nur die reine Empfänglich¬
keit darbieten, und da nun die Empfänglichkeit für ein Gedicht unmittelbar als
Papier vorhanden ist, so muß es nothwendig einmal dahin kommen, daß das
absolute Gedicht durch die Poesie als solche ohne Dazwischenkunft einer mensch¬
lichen Hand auf das empfängliche Papier geschrieben wird.
Mehr Aussicht auf eine Verständigung schien sich wenigstens im Anfange
mit den liberalen Elementen der schleiermacherschen Schule zu zeigen. Zwar
mühte man sich hier ab, die Geschichtlichkeit des urbildlichen Christus, wie ihn
Schleiermacher aufgestellt.hatte, nachzuweisen. Allein man läugnete wenigstens
nicht, daß das Mythische Eingang in die Geschichte Jesu gefunden habe, nur
wurdH dasselbe möglichst eingeschränkt und auf eine schärfere Grenzlinie des
Mythischen und Historischen gedrungen. Der strenge Jnspirationsbegriff war
längst aufgegeben. Die heiligen Schriftsteller sollten zwar inspirirt sein, aber
die Eingebung sollte eine blos partielle sein, auf den religiösen, nicht aber auf
den historischen Theil sich beziehen. Allein wie ließ sich beides trennen, wenn
doch die erzählten wunderhaften Begebenheiten eben zum Beweis für die höhere
Natur Jesu dienen sollten? Offenbar wollte man der Kirche möglichst wenig
Vergeben, aver doch die gröbsten Anstöße wenigstens aus dem Wege räumen.
So Verfuhr man auch mit den Wundern. Man hätte sie am liebsten ganz
beseitigt und kam bei der Auslegung der einzelnen Erzählungen nicht selten
auf die sogenannte natürliche Erklärung, auf die Auskunftsmittel des Rationalis¬
mus zurück. Dem heutigen Zustand der Naturforschung gegenüber getraute
man sich das Wunder nicht mehr einfach als eine Durchbrechung der Natur¬
gesetze durch unmittelbares göttliches Eingreifen aufzufassen; man machte Vielmehr
den ausgedehntesten Gebrauch Von dem Begriff der Herrschaft des Geistes über
die Natur, unterschied einen höheren Naturlauf und einen niederen, und appel-
lirte — so Tholuck an erst künftig zu entdeckende Naturgesetze. Am leichtesten
wurde man mit den Krankcnheilungcn fertig, für welche man Jesus ein beson¬
deres „Talent" zuschrieb und die Analogie des thierischen Magnetismus zu
Hilfe zog. Schwieriger war es schon mit den Besessenen; die Anbeguemung
Jesu an Voiksvorstellungen war hier die Annahme, mit der sich Neander zu
helfen suchte; es habe sich um einen Irrthum gehandelt, dessen Bekämpfung
nicht zu Jesu Beruf gehörte, da er das religiöse Interesse nichts anging. Engels¬
erscheinungen, die wunderhaften Vorgänge bei der Taufe, die Verklärung werden
zu Visionen herabgesetzt, die Verwandlung des Wassers in Wein auf der Hoch¬
zeit zu Kana als Potenzirung des Wassers zu weinartigcr Kraft nach Art des
Mineralwassers gefaßt. Die Speisung der Fünftausend, meint Neander, sei
ja kein reines Schaffen aus dem Nichts, sondern nur eine Vervielfältigung schon
vorhandener Substanzen oder Potenzirung der in denselben wohnenden Kräfte.
So soll überall das Wunder um einen Grad natürlicher, für das vernünftige
Denken annehmbarer gemacht werden, wozu Olshausen noch die unglückliche
Kategorie des „beschleunigten Naturprocesses" erfand. In Betreff der Todten-
erweckungen will Neander es geradezu unentschieden lassen, ob die Erweckten
schon förmlich gestorben oder nur in einem todtenähnlichen Zustand waren. Ja
selbst bei der Auferstehung Jesu rüttelte Hase an der Realität des Todes, da nur
entweder ein Anfang der Fäulniß oder die Verletzung eines zum Leben noth¬
wendigen Organs eine sichere Gewähr des Todes sein könnte, beides aber bei
Jesus sich nicht nachweisen lasse. Was die wirkliche Meinung Hases ist, wird
freilich hinter einem undurchdringlichen Nebel von „Wenn" und „Aber" und
„Vielleicht" versteckt.
Was sind dies nun aber alles für jämmerliche Ausflüchte, um dem Zu-
geständniß zu entgehen, daß uns die Geschichte Jesu durch sagenhafte Züge
entstellt überliefert worden ist? Gerade heraus — ist es die Meinung der
Evangelisten, daß die Versuchung Jesu eine Vision, ein Symbol ist, wenn sie
doch den Satan leibhaftig zu ihm treten lassen? Ist es ihre Mein-ng, daß die
Engel, die sie an Gestalt und Kleidung beschreiben, nur ein Gesicht der An¬
wesenden sind? Ist es ihre Meinung, daß die Wunderthaten, die Jesus ver¬
richtete, nach Naturgesetzen erfolgten, die nur uns zur Zeit noch unbekannt
sind? Ist es ihre Meinung, daß Lazarus. als ihn Jesus erweckte, blos
scheintodt war? ist dies die Meinung des Evangelisten, der bereits die Fäul¬
niß begonnen sein läßt und in der wunderbaren Wiedererweckung einen Haupt¬
beweis für die höhere Abkunft und Macht Jesu erblickt? Wenn aber alles
dies nicht die Meinung des Evangeliums ist. sondern seinem klaren Sinn viel¬
mehr zuwiderläuft, mit welchem Rechte macht dann eine solche Theologie den
Anspruch auf Recktgläubigkeit? Ihr Verfahren ist überall dies, daß sie das
einfache Wort der evangelischen Erzählung umbiegt, verdreht, ihm Gewalt an¬
thut. Es sind die letzten verzweifelten Künste einer Theologie, welche glauben
möchte, aber nicht mehr glauben kann, welche denken möchte, aber sich den ein¬
fachsten Konsequenzen des Denkens scheu entzieht. In Zeiten, wo ein Neues
hereinbricht und siegreich das Alte verdrängt, werden jedesmal Versuche auftauchen,
welche, ohne sich dem Neuen ganz verschließen zu können, zugleich so fest als
möglich sich an das Alte klammern. Ein Denkmal solchen Uebergangszustands
ist diese sogenannte VermittlungstKeologie, welche mit der einen Fußspitze auf
dem alten Dogma, mit der andern auf der modernen Wissenschaft steht und
mit ihren angestrengten Balancirvcrsuchen eben nur beweist, daß sie allen festen
Halt unter sich verloren hat.
Der gewöhnlichste Borwurf gegen Strauß war, daß er die Bedeutung der
Persönlichkeit für das geschichtliche Leben verkannt habe. Die Thatsache der
christlichen Kirche, versuchte Ullmann zu zeigen, sei der sprechendste Beweis gegen
jeden Versuch, ihren Anfang in Mythen aufzulösen. Entweder, so spitzte er
das Dilemma zu, ist Christus von der apostolischen Kirche ersonnen oder die
Kirche von ihm gebildet; entweder ist die Kirche Christus dichtend oder Christus
Kirche bildend gewesen. Jene Annahme ist unbegreiflich, für diese spricht die
Analogie aller Geschichte. Denn wenn auch die Einheit Gottes und des Men¬
schen nicht allein in einem Punkte sich entwickelte, sondern in der ganzen Mensch¬
heit, so findet sie doch ihren Gipfelpunkt, ihre geschichtliche Vollendung in
dem Einen, dem Urbild des wahren Lebens in Gott. Die Kirche muß ein
lebendiges Haupt haben, um ein Organismus zu sein und dieses Haupt ist
Christus. Aehnliches findet auch auf anderen Gebieten des geistigen Lebens
statt. Auch in der Kunst erscheinen von Zeit zu Zeit höbe Genien, in denen
sich ihre ganze Kraft und Schönheit verkörpert, und fast für jede Kunst giebt
es Einen, der eine solche Verkörperung darstellt, so Homer. Sophokles.
Dante. Shakespeare. Rafael, Händel u. s. w., Genien, in welchen in der That
die Fülle der Idee in ein Exemplar ausgegossen erscheint. -
Hatte Ullmann hiermit wenigstens vergleichweise den Begriff des Genius
herbeigezogen, so nahm Strauß seinen Gegner beim Wort, indem er mit diesem
Begriff Ernst machte und Jesus die Stelle eines religiösen Genius anwies?
was er in einer eigenen Schrift: „Vergängliches und Bleibendes im Christen¬
thum" noch näher ausführte. Strauß beabsichtigte mit diesen Monologen eine
Art Gegenstücks zu seinen Streitschriften. Im Bewußtsein, daß sein erstes
Werk wesentlich negativ gewesen, will er genauer nachsehen, ob außer jenem
philosophischen Rest in der Schiußabhandlung aus dem Leben Jesu nichts
übrig bleibe, was noch einen Werth habe für das religiöse Bedürfniß der Gegen¬
wart. Vom jetzigen Standpunkt des Bewußtseins aus soll die religiöse Be¬
deutung der geschichtlichen Persönlichkeit Jesu festgestellt werden. Zu diesem
Zweck wird der Anfang des Christenthums betrachtet als einer jener Knoten¬
punkte der Geschichte, jener Höhen der Menschheit, auf welchen die Individuen
stehen, in denen das Zusammentreffen natürlicher Begabung mit freier Selbst¬
bestimmung ungewöhnliche Kräfte zum Dasein und zur Reife bringt, mittelst
welcher sie auf Mit- und Nachwelt schöpferisch bestimmend einwirken. Ist auf
solche Weise Christus zunächst unter die profane Kategorie des Genius gestellt,
so werden dann die verschiedenen Fächer unterschieden, in welche das geistige
Leben der Menschheit sich auseinanderlegt, wobei dann, indem das religiöse
Gebiet als das centralste und innerlichste von allen aufgezeigt ward, für Jesus
eine Stelle ausgemittelt wurde, die ihn einerseits im Kreese des wahrhaft Mensch¬
lichen hält, andrerseits aber innerhalb dieses Kreises ihm diejenige Stelle an¬
weist, wo Göttliches und Menschliches am unmittelbarsten ineinandergreifen.
Als Stifter der absoluten Religion überragt Jesus alle übrigen Religions--
stifter so weit, daß ein Hinausgehen über ihn für alle Zukunft undenkbar ist.
Denn in ihm ist die Einheit des Menschlichen und Göttlichen zuerst in das
Selbstbewußtsein getreten, und zugleich in so schöpferischer Urträftigkeit, daß
jeder Nachfolgende nur aus dieser Lebensquelle schöpfen kann. So wenig also
die Menschheit jemals ohne Religion sein wird, so wenig wird sie je ohne
Christus sein. Bleibt uns aber Christus, und bleibt er uns als das Höchste,
was wir in religiöser Beziehung kennen und zu denken vermögen, als derjenige,
ohne dessen Gegenwart im Gemüthe keine vollkommene Frömmigkeit möglich
ist; nun so bleibt uns in ihm doch wohl das Wesentliche des Christenthums.
Die wichtigste Berichtigung und Ergänzung zu seinem Leben Jesu hatte
somit Strauß selbst in diesen Monologen gegeben, welche als „friedliche
Blätter" zugleich den Streit in seinem damaligen Stadium abschlossen. Aber
dieser ganze Streit war selbst nur die Einleitung zu der wissenschaftlichen
Bewegung, die sich nun an das Leben Jesu knüpfte. Eine eigentlich wissen¬
schaftliche Förderung konnte der Gegenstand nur von einer genaueren Unter¬
suchung der Quellenschriften gewinnen. Ob man den Begriff des Mythischen
so oder anders bestimmte, von den Wundern die einen natürlich erklärte, die
andern abschwächte, den Jnspirationsbegriff strenger oder laxer faßte, hier der
Kritik ein Zugeständniß machte, ein anderes verweigerte, kam am Ende ganz
auf subjective Gründe hinaus. Erst wenn man bestimmte Anhaltpunkte für
die Entstehung der Evangelien und für ihr gegenseitiges Verhältniß gewonnen
hatte, ließ sich beurtheilen, mit welchem Rechte Strauß das Ganze der evange¬
lischen Geschichte als mythisch aufgelöst hatte. Aber auch nachdem in dieser
Weise die Aufgabe gefaßt war, kam man im Anfang noch nicht über Hypo¬
thesen hinaus. In einem gelehrten schwerfälligen Werke stellte Wilcke die An¬
sicht auf, daß Marcus, dessen Inhalt bekanntlich bis auf wenige Stücke ganz
in dem der beiden andern Synoptiker aufgeht, als der Urevangelist zu betrachten
sei. eine Hypothese, die jedoch durch die Annahme, zu der sie genöthigt war.
daß doch nicht unser jetziger Marcus der Urmarcus sei, ihre eigene Schwäche
eingestehen mußte. Ausgenommen wurde diese Hypothese von Bruno Bauer,
der inzwischen von der orthodoxen Seite der Hegelianer zur äußersten Linken
übergesprungen war und durch solchen gelungenen Sprung sich die Fertigkeit
erwarb, nachmals mit gleichen Füßen wieder ins Kreuzzeitungslager überzu¬
setzen. Es ist komisch anzusehen, wie Bauer, der noch kurz zuvor die über¬
natürliche Erzeugung Jesu gegen Strauß vertheidigt hatte, jetzt den nüchternen
Kritiker vornehm über die Achsel ansah, weil er auf halbem Wege stehen ge¬
blieben sei und noch tief in der Transscendenz stecke. Denn es sei gleichgiltig,
ob man sage, die biblischen Schriften seien inspirirt, oder sie seien in der
Tradition entstanden; beides sei transscendent, beides beeinträchtige die Freiheit
des Individuums. Vielmehr rein aus dem Selbstbewußtsein der Schriftsteller
heraus seien die Evangelien geschrieben, und da nun ausdrücklich von allen
historischen Bedingungen abgesehen wird, so ist dieses „unendliche, absolute
Selbstbewußtsein", — seine Formeln hatte der Hegelianer nicht dahinten gelassen
— nichts als die baare Willkür, und in der That aus reiner Willkür, aus
Aberglauben, Gedankenlosigkeit, absichtlicher Uebertreibung soll der ganze Inhalt
der Evangelien zusammengesetzt sein. Es setzt dem Ganzen die Krone auf, wenn
Bauer in der affectirter Wissenschaftlichkeit noch die Miene annimmt, als sei
selbst die Existenz eines Mannes mit Namen Jesus zweifelhaft.
Gleichzeitig mit Wilcke war auch Weiße auf dle Hypothese des Urevcmge-
listen Marcus gekommen. Damit sollte wenigstens ein sicherer historischer An¬
haltspunkt gegeben sein. Denn im Uevrigen gab Weiße die evangelische Er¬
zählung ziemlich preis. Er erklärte selbst, in den negativen Resultaten wesent¬
lich mit Strauß einverstanden zu sein, und wollte nur zu dem Negativen die
positive Ergänzung hurzufügen. Matthäus, Lucas und auch Johannes kommen
als reflecrirte, cvmpilatorische Arbeiten übel weg. Aber selbst aus Marcus
muß er eine Reihe von Zügen entfernen, um ihm den Werth einer historischen
Quelle zu vindiciren. Bor allem die eigentlichen Mirakel, die eine Durch¬
brechung der Naturgesetze wären, und die nach Weiße alle mißverständlich aus
Jesu Gleichnißrcden entstanden sein sollen. Dagegen wird auf die Heilkraft
Jesu ein besonderes Gewicht gelegt; sie war ein angebornes Talent, von
welchem Jesus täglich Anwendung machte, und zwar wirb es näher als eine
magnetische Wundergabc bezeichnet, die ihm vermöge seiner weltgeschichtlichen
Stellung vor allen übrigen Sterblichen verliehen gewesen sei. Diese magnetische
Gabe wird auch dazu benutzt, um den Glauben der Jünger an die Auferstehung,
die als Thatsache gleichfalls beseitigt wird, erklärlich zu machen. Als abgeschic.
derer Geist sei nämlich Jesus in den Erscheinungen der Jünger wirklich gegen¬
wärtig gewesen; es sei ihm das Vermögen eigen gewesen, auch nach seinem Tode
noch auf seine Jünger und einzelne Andere, die körperlich und geistig dazu dis-
ponirt waren, magisch einzuwirken. Man sieht an diesem Gespcnstcrspuk, daß Weiße
in dem, was er positiv über Strauß hinaus leisten wollte, nicht besonders
glücklich war. Dagegen hat er im Einzelnen treffende kritische Bemerkungen;
namentlich hebt er den Unterschied zwischen dem synoptischen und johanneischen
Christus richtig hervor und macht auf den absichtlichen reflectirten, Charakter
des vierten Evangeliums aufmerksam. Nur entgeht er auch hier wieder den
Consequenzen, auf welche dieses Verhältniß hinteitet. Er unterscheidet nämlich
echte Stücke und unechte Stücke im Johannesevangelium. Zwischen dem er¬
zählenden und dem lehrhaften Theile desselben bestehe ein Unterschied der Dent-
und Anschauungsweise, die sich nur durch die Annahme verschiedener Verfasser
erklären lasse. Da nun die lehrenden Theile offenbare Verwandtschaft mit dem
ersten johanneischen Briefe haben, dessen apostolischer Ursprung angeblich besser
bezeugt ist, so werden diese Theile dem Apostel selbst zugeschrieben, während
die erzählenden Stücke und auch die dialogischen Reden theils wegen ihrer
innern Widersprüche, theils wegen ihres sinnlich-supranaturalistischcn Wunder¬
begriffes von einem späteren Bearbeiter herrühren sollen. Der Apostel Johan¬
nes habe in seinen alten Tagen sich Aufzeichnungen gemacht, theils von eigenen
Betrachtungen über den hingegangener Meister, theils von Reden desselben.
Diese hinterlassenen Stücke habe nach dem Tod des Apostels ein Schüler
theils aus der Erinnerung an seine mündlichen Vorträge, theils aus ander¬
weitiger evangelischer Ueberlieferung zu dem jetzigen Evangelium verarbeitet und
zwar sehr ungeschickt und willkürlich verarbeitet. Da nun aber auch der apo¬
stolische Grundstock vom Ueberarbeiter vielfach verändert sei, und andrerseits
auch im Eingeschvbencn wieder apostolische Bestandtheile sich vorfinden sol¬
len, da ferner doch auch die vom betagten Apostel selbst niedergesehriebenen
Reden Jesu »ach der langen Zeit durch seine eigene Denkweise mitbestimmt,
also nicht unmittelbar authentisch sein sollen, so ergiebt sich leicht, wie wenig
mit dieser künstlichen Hypothese gewonnen wird, die nur aus dem dogmatischen
Motiv, wenigstens einen Theil des Evangeliums als apostolisch zu retten, ent¬
standen ist. Als Weiße von diesen Voraussetzungen daran ging, im Einzelnen
die echten und unechten Bestandtheile zu sondern, passirte es ihm, daß gleich
der Prolog, dieser einheitliche, wohlgeordnete Eingang in das Evangelium in
sieben Stücke zerbröckelte, die abwechselnd von zwei verschiedenen Verfassern her¬
rühren sollten.
Einen anderen, nicht glücklicheren Thcilungsversuch machte Alex. Schweizer,
der von einem Theil der Erzählungen im vierten Evangelium gleichfalls wegen
ihres gesteigerten Wunderbcgriffs und einer niedrigere» Anschauungsweise, die
mit dem sonstigen idealen Charakter des Evangeliums nicht zusammenstimme,
sich zurückgestoßen fand und nun die Entdeckung machte, daß gerade diese
Stücke ihren Schauplatz in Galiläa haben. Daraus folgerte er, daß die
ursprüngliche apostolische Schrift blos die außergaliläischc Wirksamkeit Jesu schil-
dem wollte, und erst von einem späteren Ueberarbeiter die galilaischen Stücke
eingetragen worden seien. Allein wenn es schon schwer denkbar war, daß ein
Galiläer, nämlich der Apostel Johannes, gerade jenes außcrgaliläische Evange¬
lium geschrieben haben sollte, so scheiterte die ganze Hypothese an der nahe
liegenden Wahrnehmung, daß die drei besonders anstößigen Stücke, das Wun¬
der in Kana, die Heilung in die Ferne (von Kana nach Kapernaum) und die
Speisungsgeschichte, um nichts wunderbarer und unbegreiflicher sind als viele
andere Wunder, und daß, wenn die letzteren rationalisirt werden, wie z. B.
mit der Auferweckung des Lazarus geschah, auch die anderen durch eine künst¬
liche und rationalistische Auflegung verwässert werden konnten.
Solche und andere Versuche gingen aus dem Interesse hervor, vom Johannes-
cvangelium so viel als möglich zu retten. Dieses Interesse war nahe genug
gerückt, nachdem die Straußhahn Kritik eben die Glaubwürdigkeit dieses Evange¬
liums aus jedem Punkte angegriffen und dadurch seinen ganzen geschichtlichen
Charakter in ein bedenkliches Licht gestellt hatte. Wie in der Ahnung von
einem noch gewaltigeren Sturme gab man, um durch ein Opfer größeres Un¬
glück abzuwenden, einzelne Stücke des Evangeliums preis, in der Hoffnung,
wenigstens den Kern erhalten zu können. Denn ganz besonders war das
Jvhanncscvangelium der gläubigen und halbgläubigen Theologie an das Herz
gewachsen. Seit Schleiermacher war es ihr Licblingsevangclium. Es stimmte
so gut zu dem urbildlichen Christus, wie Schleiermacher ihn construirt hatte, es
allein gab den vollen Gottmenschen, es allein hatte jenen idealen geistigen
Charakter, in welchen die ganze Lehre des Christenthums sublimirt werden mußte,
um sie der Gegenwart mundrecht zu machen. Je mehr es nun gefährdet war,
um so ängstlicher und erfinderischer die Sorge, es zu retten. Um das Johannes-
cvangclium entbrannte von nun an der lebhafteste Kampf, hier wurden die
entscheidenden Schlachte» geschlagen. Aber um den Kampf mit ganzem Erfolg
führen zu können, genügte es nicht mehr blos das Verhältniß der vier Evange¬
lien unter einander zu untersuchen. Auf diesem Wege gelangte man nie zu
positiven Resultaten. Es mußte vielmehr der Hebel außerhalb angelegt werden,
in der nachapostvliscben Zeit, wo man mit unzweifelhaft geschichtlichen Factoren
operiren konnte. Von hier aus ließ sich dann erst nach rückwärts Schritt für
Schritt das verwirrende Dunkel ausheilen, in das bis jetzt noch das Ganze der
Evangclienliteratnr eingehüllt war. Wie ein Feldherr, der in entlegener Ferne
seine Heere geübt hat, so erschien nun F. Ch. Baur mit den Resultaten, die
er auf dem Feld der uachapostolischcn Literatur erzielt hatte, auf dem Schau¬
platz der Evangelienkritik und führte den Kampf mit solchem Nachdrucke, mit
solcher Unerschrockenheit und Ausdauer, bis er, wie Strauß sagte, zwar nicht
vor den Nichterstühlcn der Theologen, aber vor dem der Wissenschaft zu Gunsten
der Kritik entschieden war.
Reden des Prinzen Albert, Gemahls der Königin von England. Deutsch von
or. Julius Frese. Autorisirtc Ucvcrsctzung. Bremen 1863. Verlag von
Heinrich Strack.
Wir Deutsche haben gerade jetzt Veranlassung zu bedauern, daß der Fürst,
welcher durch fast zwanzig Jahre in der Stille die Politik Englands gemäßigt,
billig, in großem Sinne leiten half, von der Erde geschieden ist. Und wir
meinen, daß man in England die Größe dieses Verlustes dereinst auch in Be¬
treff der großen deutschen Frage dieses Jahres empfinden wird. So lange der
Prinz lebte, waren die Führer der Parteien in ihrem verantwortlichen Amt
immerhin abhängig von einem Willen, der sich bei tiefer Achtung vor dem
Wesen der englischen Verfassung, in der Regel schonend und vorsichtig, bei
wichtigen Gelegenheiten aber mehr als einmal mit Energie geltend gemacht hat.
Zuweilen trug der Stolz englischer Staatsmänner unwillig die Einwirkung,
welche der Prinz in seiner Stellung ausübte; aber nach manchen Kämpfen,
Intriguen und versteckten Angriffen auf seine Person und den „deutschen Ein¬
fluß" hatten sie sich doch gewöhnt, der klaren Logik und dem gesunden Menschen¬
verstand seiner Ansichten Concessionen zu machen. Der ehrliche Eiser Lord
Rüssels fügte sich in aufrichtiger Neigung dem Willen des Prinzen, auch die
schlaue Gewandtheit Lord Palmerstons fand es nach einigen ernsten Erfahrungen
wenigstens nicht gerathen, dem Prinzen offen entgegenzutreten. Und man darf
wohl behaupten, die Verblendung, die jähe Hitze und-ungeschickte Behandlung,
welche die Whigs in der Schleswig-holsteinischen Frage gegen Deutschland gezeigt
haben, wäre ganz unmöglich gewesen, wenn das versöhnende Wesen des Prinzen
dabei noch hätte wirksam sein können.
Die englische Presse hat unter anderem thörichten Geschwätz in den letzten
Monaten sich zuweilen darin gefallen, über einen turor teutouieuZ zu spotten,
der uns überfallen habe. Wir geben ihr mit besserem Selbstgefühl diesen Vor¬
wurf zurück. Wenn der Deutsche einen eigenthümlichen Vorzug unter den
Nationen Europas beanspruchen darf, so ist es gerade der, daß ihn auch der
wärmste Schlag seines Herzens und großer Eiser in Liebe und Haß nicht un-
billig, nicht gewissenlos und nicht unempfänglich gegen die Tüchtigkeit Fremder
macht, selbst wenn diese seine bittersten Feinde sein sollten. Es ist in seinen
Wesen eine heitere, offene Herzlichkeit unvertilgbar, sie ist ihm in den Perioden
der leidenschaftlichsten Aufregung nicht verloren gegangen, sie war in schlechten
Zeiten vielleicht die liebenswürdigste Eigenschaft unserer Natur. Diesen Vorzug
wenigstens besitzt das englische Volk im Ganzen betrachtet, nicht. Die tüchtige,
zuweilen schwerfällige Art zu empfinden ist nicht selten mit einer hartnäckigen
und kurzsichtigen Einseitigkeit des Urtheils verbunden, welches zeitweise die
herrschende Stimmung des Landes in auffallender Weise beschränkt, und mehr
als einmal Staatsmänner, Parlamente und Volk der Straße bis zu einer
gewaltthätigen Einseitigkeit erhitzt hat. in welcher alles Gefühl für Gerechtigkeit
und Wahrheit verloren ging. Wir wissen sehr wohl, auf solche Ausbrüche des
blinden Fanatismus kam jedesmal eine kräftige Reaction, aber die Krisen, in
denen dieser Furor der Teutonen oder Celten dort aufbrach, haben in alter und
neuer Zeit mehr als einmal die Blätter der englischen Geschichte mit Thaten
bezeichnet, auf welche kein Engländer stolz sein wird. Gerade bei solcher Be¬
schaffenheit der englischen Natur war Prinz Albert i» ausgezeichneter Weise
geeignet ein unbefangener Vermittler zu werden. Sein Leben war durch eine
Reihe von Jahren das Band, welches Engländer und Deutsche einander näherte.
Und nur bedauern tief, daß diese Verbindung sowohl für uns, als für das
Volt jenseits des Kanals verloren ist; nicht weil wir von der Politik der eng¬
lischen Regierung freundliche Zuneigung oder gar nationale Opfer unseren
Interessen zu Liebe beanspruchen, denn wir werden, was wir wollen und müssen,
auch ohne ihre guten Dienste durchsetzen. Aber wir halten es für ein Unglück,
daß Deutsche und Engländer aus Jahre hinaus einander mit kalter Abneigung
gegenüberstehen sollen. Und wir wissen nur, daß die Schuld dieser unnöthigen
Entfremdung nicht an uns liegt.
Es ist mehr als einmal gesagt, daß England einst auf die gute Zeit der
Königin Victoria und des Prinzen Albert mit Sehnsucht zurücksehen wird.
Denn das Leben des Prinzen hals für England eine Zeit herbeiführen, wie
sie seit Jahrhunderten als ein idealer Zustand des Staates ersehnt worden
war. eine Zeit, in welcher die Parteien in Schwäche versanken und die innern
Gegensätze ihre Schärfe verloren, weil die Krone höchst aufrichtig und höchst
gewissenhaft die Verfassung beobachtete, eine Zeit, in weicher das helle Licht
der Humanität fast jedem Einzelnen das Leben schöner und besser machte, wo
die gewaltige Zunahme des Reichthums und der nationalen Kraft auch den
Schwachen und Kleinen in früher unerhörter Weise zu gut kam, wo gegen die
starre Orthodoxie, gegen Standeövorurtheile und den Phariscusmus der privi-
legirten Classen eine reinere Sittlichkeit, freie Wissenschaft und eine weitverbreitete
Freude am Dasein in den Kampf traten. An jedem dieser Fortschritte hatte
die Persönlichkeit des Prinzen großen Antheil. Und als nach seinem Tode die
Königin im tiefsten Schmerze aussprach, daß ihrem Leben Glanz und Freude
genommen sei. da beklagte sie zu gleicher Zeit auch ihr Volk, das von jetzt ab
seine segensreiche Thätigkeit entbehren sollte.
Es ist jetzt über ein Jahr, seit die englische Ausgabe der Reden des Prinz-
Gemahls erschien, seit einigen Monaten besitzen wir in guter Ausstattung eine
gelungne Uebersetzung derselben. Und wir erachten es gerade jetzt zeitgemäß,
darauf aufmerksam zu machen und das Buch den Deutschen zu empfehlen.
Es enthält zuerst eine Charakteristik des Fürsten, bei welcher warme Pietät die
Feder geführt hat, darauf in einer einzelnen inneren Frage Bruchstücke aus seinem
Tagebuch, endlich chronologisch geordnet eine Anzahl längerer und kürzerer Reden
und Ansprachen, welche der Prinz bei den verschiedensten Gelegenheiten gehalten
hat. Und diese Reden verdienen wohl mit Theilnahme gelesen zu werden, denn
viele derselben sind Muster vornehmer und sachgemäßer Rede, wie sie einem
Fürsten ziemt, der darauf verzichtet zu glänzen, und der nichts anderes will
als ehrlich, treffend, würdig das Nothwendige und Gute sagen, dies frei¬
lich nicht nur von dem hohen Standpunkt, den ihm seine äußere Stellung
giebt, sondern von den Gesichtspunkten eines kräftigen, die Wahrheit suchenden
Geistes.
Die Seele des deutschen Fürsten, welcher dazu berufen war, die Geschicke
Englands bestimmen zu helfen, war für diese große Aufgabe vortrefflich geeignet.
Wahrhaft, klar, unermüdlich an der eigenen Bildung arbeitend, ein inniges und
heiteres Gemüth, welches sich nach Außen im gemessenen Stolze abzuschließen
wußte, war er als Gemahl der mächtigsten Fürstin der Erde gut ausgerüstet,
der Freund ihres Herzens, Vertrauter. Stütze und Führer zu werden. Er brachte
nach England unsern billigen und unbefangenen Sinn herüber, der sehr geneigt
war, alles Gute und Große der neuen Heimath warm in das Herz zu schließen
und der doch das eigene freie Urtheil niemals gefangen gab. Er war nicht in
der Thätigkeit eines großen Staatsorganismus aufgewachsen, und seine Natur¬
anlage war auch darin deutsch, daß sie ihn den Geschäften gegenüber immer
zunächst zu einem unbestechlichen Beurtheiler machte, und daß in ihm vorzugs¬
weise das Bedürfniß ausgebildet war, durch prüfende Erörterung in das Wesen
der Dinge einzudringen. Gerade diese Eigenschaft war ein Segen für ihn und
seinen Kreis. Stürmischer Ehrgeiz und unruhiger Thatendrang hätte seiner
Stellung zwischen hochfahrenden Parteiführern, über einem gegen das Aus¬
ländische mißtrauischen Volke, wahrscheinlich unüberwindliche Schwierigkeiten in
den Weg gelegt. Er prüfte und wagte sorgfältig ab, hatte er sich aber ent¬
schlossen, so war er fest.
Alle Pflichten ernst und groß zu fassen, nichts klein zu behandeln, wo er sich
hingab nur die Sache im Auge zu haben, war ihm leitender Grundsatz. In
einer unglaublich vielseitigen Thätigkeit mühte er sich bis zur Erschöpfung seiner
Kräfte, überall etwas Ordentliches zu wirken. Fast zahllos sind die humanen
Tendenzen, denen er mit warmer Hingebung diente. Er liebte die Kunst —
seine Sammlung Rafaelscher Handzeichnungen hat für die Kunstgeschichte eine
hohe Bedeutung gewonnen —, er war ein intelligenter Landwirth — seine
Musterfarmen und die Häuser, welche er seinen Arbeitern baute, sind der eng¬
lischen Landwirthschaft epochemachend gewesen. Er nahm innigen Antheil an
jedem socialen Streben, die Lage der arbeitenden Classen zu verbessern, er hatte
eine recht herzliche und unbefangene Freude an feder Art von Menschenkraft
und Tüchtigkeit, er war bei allem fürstlichen Selbstgefühl mit ganzer Seele frei¬
gesinnt, er wurde in seinem Amt der liebevollste Vater, der aufopferndste Gatte,
ein liberaler, hochgesinnter, billigdenkender Staatsmann, ein guter und in
Wahrheit edler Mensch.
Das ist ein schönes Lob und es ist ihm wenigstens nach seinem Tode von
dem Volke, für dessen Wohl zu leben er bemüht war, in tiefer Trauer gezollt
worden.
Und deshalb wollen auch wir dem Uebersetzer und Verleger dankbar sein,
welche einen Theil seines Wesens durch dies Buch dem deutschen Leser nahe
legten.
Vielleicht das höchste Interesse erwecken darin die Zeilen, aus denen das
Verhältniß des Prinzen zur Königin deutlich wird. Wir erinnern uns nicht,
daß die Liebe und Hochachtung von zwer guten Menschen,-denen das Schicksal
wurde, ein großes Reich zu beherrschen, jemals so wahren und ergreifenden
Ausdruck gefunden hat, als in den einfachen Worten, mit denen die Königin
in dem vorliegenden Buche ihre Trauer ausspricht, und der Prinz seine Stel¬
lung zu der Königin charakterisirt. Es wird deshalb in Folgendem zugleich als
Probe der guten Uebersetzung die Verhandlung über den Oberbefehl der eng¬
lischen Armee im Auszuge mitgetheilt.
Die Veröffentlichung dieser Aufzeichnung des Prinzen giebt der Königin
eine passende Gelegenheit, auf das klarste und bündigste auszusprechen, was sie
schon längst gern ausgesprochen hätte. Zu Lebzeiten des Punzen hat es die
Königin oft gedrängt, der Welt zu sagen, welch unermüdliche, sorgsame, treue,
unschätzbare Hilfe bei der Leitung der Staatsgeschäfte sie an ihrem Gemahl
hatte. Schon damals konnte die .Königin es kaum ertragen, über diesen Gegen¬
stand zu schweigen und nicht laut verkünden zu dürfen, wie viel ihre Regierung
ihm verdankte. Und jetzt kann die Königin nicht länger anstehen, auszusprechen,
was sie so lange empfunden hat, und öffentlich zu erklären, einen wie unersetz¬
lichen Verlust der Staat nicht weniger, als sie selbst mit ihrer Familie durch
den Tod des Prinzen erlitten hat.
Wie schwer und traurig die Lage der Königin ist, die so viele Jahre an
solche liebevolle Unterstützung gewöhnt war und nun plötzlich derselben beraubt
ist, läßt sich in seinem ganzen Umfange kaum ermessen. Verlassen und düster,
wie die Königin im tiefsten Herzen fühlt, liegt ihr Lebensweg vor ihr, — ein
Pfad der Pflicht und Mühe, den sie, auf die treue Anhänglichkeit und Liebe
ihres Volkes gestützt, mit Gottes Hilfe zu wandeln gedenkt, aber auf dem ihr
strauchelnder Schritt, wie sie fürchtet, oft genug bekunden wird, daß ihr die
zärtliche und liebevolle Unterstützung fehlt, die sie bei jeder Gelegenheit an
ihrem geliebten Manne zu finden gewohnt war.
Die Umstände, welche die Aufzeichnung des Prinzen veranlaßten, waren
folgende:
Bei dem Tode des General-Adjutanten Sir I. Macdonald (im März 1850)
wurde der Plan angeregt, die beiden Stellen des General-Adjutanten und des
General-Quartiermeisters in eine zu verschmelzen und dem Chef des Stabes zu
übertragen. Der Herzog von Wellington wurde deshalb nach Windsor berufen
und machte dort im Laufe der Verhandlungen den Vorschlag, man solle die
Sache so einrichten, daß der Prinz schließlich sein Nachfolger im Oberbefehl
würde. Auf diesen Vorschlag beziehen sich die nachstehenden Auszüge aus den
Aufzeichnungen des Prinzen.
Schloß Windsor. 3. April 1850.
„Gestern besuchte ich den Herzog von Wellington nach seiner Ankunft im
Schlosse auf seinem Zimmer. Das Gespräch wandte sich bald auf die Frage
wegen der erledigten Stelle des General-Adjutanten. Ich fragte den Hnzog.
was er in der Sache vorhabe. Er erwiderte, er habe einen Brief erhalten,
der die Vereinigung der beiden Stellen des General-Adjutanten und des Ge-
neral-Quarticrmeisters befürworte, und er übergab mir seine Antwort darauf.
Dann fuhr er fort, es sei nöthig, daß wir ein wenig in die Zukunft blickten.
Er sei über achtzig Jahr und trete nächsten Monat in sein zweiundachtzigstes.
Zwar sei er, Gottlob, recht wohl und kräftig und wolle thun, was er könne
aber er könne doch nicht ewig dauern, und im gewöhnlichen Lauf der Dinge
müßten wir uns in nicht gar zu langer Zeit auf einen Wechsel gefaßt machen.
So lange er da sei, versehe er alle Stellen selbst. . . . Die beiden Stellen
eines General-Adjutanten und eines General-QuartiermeisterS zu einer neuen
Stelle, der eines Chefs des Stabes vereinigen, wie das wohl in einigen frem¬
den Armeen geschehe, würde doch nur zwei verschiedene Personen anstellen heißen,
die dasselbe zu thun hätten, und das thue nie gut. Der Chef des Stabes
würde seine amtliche Thätigkeit wieder in ein General-Adjutanten- und ein
General-Quartiermeister-Departement vertheilen müssen; dabei würde nichts ge¬
wonnen. Indeß sehe er doch den größten Vortheil in der Anstellung eines
Chefs des Stabes, wenn es sich nach seinem Tode so einrichten ließe, wie
er's immer gewünscht habe, und wie er's auch jetzt noch für das Beste halte,
nämlich so, daß ich den Oberbefehl über die Armee übernähme.
Er sei überzeugt, ohne einen solchen Chef des Stabes, der vor dem Lande
verantwortlich wäre und die amtlichen Beziehungen zu den andern Departements
der Regierung vermittelte, würde mir das nicht möglich sein. Für diesen Fall
sei er bereit, die Sache schon jetzt in Gang zu bringen, und für den Erfolg
wolle er einstehen. . . .
Ich antwortete dem Herzog, ich würde mich nur sehr schwer entschließen
können, eine so große Verantwortung zu übernehmen. — ich sei nicht sicher,
ob ich dazu passe, da mir militärische Erfahrungen fehlten u. s. w. (worauf
der Herzog erwiderte, mit gutem rechtschaffenen Willen lasse sich viel leisten,
und in dieser Beziehung sei ihm nicht bange) —, ferner hätte ich Bedenken,
ob sich diese Stellung mit meinen andern Pflichten vertrüge; ich übernähme
nicht gern etwas, was ich nicht durchführen könnte, und ich wisse doch noch
nicht, wie viel Zeit und Arbeit die neue Stellung erfordere.
Der Herzog antwortete: gewiß würde sie sowohl,viel Zeit als Arbeit er¬
fordern, weil ohne mein Wissen und Willen nichts geschehen könne, aber das
Detail würde der Chef des Stabes besorgen. Er habe sich das gründlich über¬
legt, und die Sache solle schon gehen. ... Er habe immer den Grundsatz ver¬
theidigt, daß der Souverain den Oberbefehl über die Armee führe, und um die
jetzige Praxis mit dieser Theorie in Einklang zu bringen, habe er über jeden
Punkt gewissenhaft den Befehl der Königin eingeholt, ehe er an die Aus¬
führung ging. Wenn er aber nicht mehr da sei. dann sähe er kein sicheres
Mittel, als daß ich selbst das Kommando übernähme und so den Mangel einer
konstitutionellen Ausführung der Theorie ergänze, der daraus hervorgehe, daß
jetzt eine Frau die Krone trage. Streng constitutionell würde ich allerdings
für meine Handlungen verantwortlich sein, aber vor dem großen Publicum
würde der Chef des Stabes die Verantwortung tragen, und für diese Stelle
müsse man jemand wählen, der in der Armee den größten Namen und das
größte Gewicht habe. Er wiederholte, er halte diese Einrichtung für die beste,
und würde sie sofort ins Leben führen, so gut er könne. . . . Ich bat ihn,
mir Zeit zur Ueberlegung zu lassen.
Am Abend gab die Königin dem Herzog von Wellington in meiner Gegen¬
wart Audienz. Der Herzog begann damit, er wünsche dringend, der Königin
seine Herzensmeinung zu sagen — gleichsam laut zu denken; dann wieder-
holte er, was er mir am Morgen gesagt hatte, und wir besprachen die Sache
weiter. Ich bemerkte, manche Punkte bedürften noch der Erwägung ... Der
Vorschlag sei so lockend für einen jungen Mann, daß ich mich verpflichtet fühlte,
alle Einwendungen auf das gründlichste zu prüfen, damit ich endlich das Rechte
träfe ... Die Königin sei als Frau nicht immer im Stande, die mannig.
fachen Pflichten ihres Amtes zu erfüllen. Zudem habe sie nicht, wie frühere
Fürsten, einen Pnvatsecretär, der für sie arbeite. Der Einzige, der ihr bei der
vielseitigen Arbeit, die ein Herrscher von England zu thun habe, helfe und
helfen könne, sei ich selbst. Es würde mir sehr leid thun, eine Pflicht zu über¬
nehmen, die meine Zeit und Thätigkeit so ganz für ein einziges Departement
erfordere, daß es der Unterstützung Eintrag thäte, die ich un Allgemeinen der
Königin leiste ... Die Königin fügte hinzu, ich arbeitete jetzt schon mehr,
als ihr lieb sei und als nach ihrer Ueberzeugung meine Gesundheit vertrage;
ich gab das nicht zu und erwiderte, im Gegentheil müßten sich die Geschäfte
mit her Zeit vermehren, wenn die Pflichten der Krone gegen das Land voll¬
ständig erfüllt werden sollten, aber es liege mir sehr am Herzen, daß ihr nicht
mehr Arbeit zufalle, als unvermeidlich sei.
Der Herzog schien von meinen Gründen betroffen, und sagte, er habe sie
zwar nicht übersehen, aber ihnen vielleicht nicht das gebührende Gewicht bei¬
gelegt, und er wolle noch weiter darüber nachdenken.
Endlich kamen wir überein, eine befriedigende Lösung dieser Frage sei nur
möglich, wenn wir genau wüßten, welche Pflichten ich zu erfüllen haben würde,
und die Königin beauftragte den Herzog, die nähern Details sowie seine Gründe
schriftlich aufzusetzen, so daß wir darauf unsere Entscheidung gründen könnten.
Der Herzog versprach dies.
Schloß Windsor, 6. April 185V.
Nach reiflichem Nachdenken über den Vorschlag des Herzogs besuchte ich
ihn gestern Morgen auf seinem Zimmer; er hatte seinen Aufsatz fertig und
übergab ihn mir. Nachdem ich ihn gelesen, sagte ich dem Herzog, ich müsse
meine Stellung als ein Ganzes auffassen, und zwar als die des Gemahls und
vertraulichen Rathgebers und Beistandes einer Souveränin. Ihr Wohl und
Interesse müsse Voranstehen, alle andern Erwägungen müßten sich darauf be¬
ziehen und sich unterordnen. Die Frage sei also einfach, ob ich dieser Stellung
— meinen politischen, socialen und moralischen Verpflichtungen — nach allen
Seiten gleichmäßig gerecht werden könnte, wenn ich mich ganz einem besondern
Gebiete widmete, so wichtig dies auch sein möge, und ich fürchtete, die Folge
der Uebernahme des Obercommandos würde die sein, daß ich es nicht konnte.
Es sei ganz richtig und natürlich, daß die Eigenschaft der Königin als Frau
ihr Verhältniß zum Heere abschwäche und daß mir die Pflicht obliege, diesen
Mangel zu ergänzen; auch würde diese Pflicht noch dringender, wenn der Schutz,
den, der Herzog der Krone gewähre, unglücklicherweise einmal fehlen sollte.
Aber ich zweifelte doch, ob sich nicht dasselbe erreichen ließe, ohne daß ich für
den Oberbefehl der Armee besonders verantwortlich würde. Es gebe jetzt keinen
Zweig der Staatsgeschäfte, wo ich nicht die Königin unterstützte u. s. w. . .
Der Herzog erwiderte, er sehe vollständig ein, daß meine Stellung als ein
Ganzes aufgefaßt werden müsse; er fühle, wie außerordentlich schwierig und
delicat sie sei, und er war freundlich genug hinzuzufügen, die Art und Weise,
wie ich sie bisher ausgefüllt, habe seine Billigung, und auch das Publicum
lasse ihr volle Gerechtigkeit widerfahren. Ich bat ihn. mir noch etwas Zeit
zur Ueberlegung zu lassen, da ich erst seinen Aufsatz studiren wolle; ich würde
ihm dann meine Entschließung schriftlich mittheilen.
Zwei Tage nachher schrieb der Prinz dem Herzog einen Brief, dem wir
Folgendes entnehmen:
Die Königin und ich haben Ihren Vorschlag, die Stellen des General-
Adjutanten und des General-Quarticrmeisiers in die eines Chefs des Stabes
zu vereinigen und dabei die künftige Uebertragung des Oberbefehls auf mich in
Aussicht zu nehmen, gründlich erwogen----Die Frage, ob es räthlich ist, daß
ich den Befehl der Armee übernehme, habe ich auf das sorgfältigste geprüft und
bin zu dem Schluß gekommen, daß meine Entscheidung lediglich und ausschlie߬
lich durch die Erwägung geleitet sein muß, ob meine Stellung als Gemahl der
Königin und die Erfüllung der mir in dieser Stellung obliegenden Pflichten
dadurch gehemmt oder gefördert wird.
Diese Stellung ist eine höchst eigenthümliche und delikate. Während eine
Souveränin in sehr vieler Beziehung gegen einen Souverän im Nachtheil ist,
hat doch andrerseits, wenn sie verheirathet ist und ihr Mann seine Pflicht
kennt und thut, ihre Stellung auch manche ausgleichende Vortheile und erweist
sich am Ende sogar stärker als die eines Souveräns. Unter einer Voraus¬
setzung nämlich: ihr Mann muß seine eigene individuelle Existenz Voll¬
ständig in die seiner Frau aufgehen lassen, — darf keine Macht für sich selbst
erstreben. — muß allen Schein der Macht vermeiden, — darf keine abgeson¬
derte Verantwortung vor dem Publicum übernehmen, sondern muh seine Stellung
ganz zu einem Theil der ihrigen machen, muß jede Lücke ausfüllen, die sie als
Frau in der Ausübung ihres königlichen Amtes läßt, muß beständig und sorg¬
sam jeden Theil der Staatsgeschäfte überwachen, damit er ihr rathen und bei¬
stehen kann zu jeder Zeit und in allen den mannigfachen und schwierigen Fragen
und Pflichten, mit denen sie bald in internationaler, bald in politischer, socialer
oder persönlicher Beziehung zu thun hat. Als das natürliche Haupt ihrer
Familie, als Vorstand ihres Hauses, als Leiter ihrer Privatangelegenheiten, als
einziger vertraulicher Rathgeber in der Politik und als ihr einziger Beistand
in d'en Beziehungen zu den Beamten der Regierung ist er außer Gemahl der
Königin auch noch der Vormund der königlichen Kinder, der Privatsecretär der
Souveränin und ihr permanenter Minister.
Wie vertrüge es sich wohl mit dieser Stellung, wenn ich die Leitung und
Verwaltung eines hochwichtigen Zweiges des öffentlichen Dienstes und die da¬
mit verbundene persönliche Verantwortung übernähme, ein Exccutivbeamter der
Krone würde, die Befehle der Königin durch ihre Staatssekretäre entgegen¬
nähme u. s. w.?! Ich bin gewiß, hätte ich einmal die Verantwortung über¬
nommen, so würde ich mich nicht damit begnügen, die wirkliche Arbeit den
Händen eines Andern (des Chefs des Stabes) zu überlassen, sondern ich würde
es für meine Pflicht halten, selbst thätig zu sein. Aber während ich so Pflichten
erfüllte, die gewiß jeder fähige General, welcher Erfahrungen im Felde ge¬
sammelt hat, besser zu erfüllen vermöchte als ich, der ich nicht den Vortheil
dieser Erfahrung habe: würden hochwichtige, die Wohlfahrt der Krone nahe
berührende Pflichten unerfüllt bleiben, die niemand erfüllen kann als ich. Ich
fürchte daher, daß ich den verlockenden Gedanken, den Oberbefehl über die
englische Armee zu übernehmen, von mir weisen muß."
Man muß, sagt Baur, die Periode des Straußfeder Buchs selbst durchlebt
haben, um sich eine Vorstellung von der Bewegung machen zu können, die es
hervorrief. Nicht leicht hat eine Erscheinung so schnell und so allgemein so
großes Aufsehen erregt, und alle Streitkräfte mit so regem Interesse auf den
Kampfplatz gerufen. Das straußsche Leben Jesu war der zündende Funke,
durch welchen der schon lange zusammengehäufte Brennstoffen lichterlohe Flammen
gerieth.
Wir Jüngere, die wir jene Periode nicht selbst erlebt, können wenigstens
aus der polemischen Literatur, die sich an dem Buche entzündete, seine Wirkung
ermessen, und die denkwürdige Bewegung uns vergegenwärtigen, in welcher
Strauß den von allen Seiten gegen ihn erhobenen Kampf aufnahm und fast
allein stehend siegreich durchführte. Den eigentlichen Gegenstand, um den es
sich handelte, hat der ganze Streit im Grunde wenig weiter geführt, aber er
hat dazu gedient, die Ueberlegenheit. welche Strauß den bisherigen Richtungen
gegenüber behauptete, in das volle Licht zu setzen. Schon sein literarisches
Niobe und die Nivbidcn in ihrer literarischen, künstlerischen und mythologischen Be¬
deutung von Dr. K. E. Stark, Leipzig, Engelmann, 1863.
„Der Ursprung des Mythus ist ein idealer", so ohngefähr heißt es in der
Einleitung, „er niht im Gemüthe des Volkes, in der religiösen Hingabe an
eine in der Naturerscheinung »der im Menschenleben sich offenbarende göttliche
Potenz. So wird es immer ein Doppeltes sein, das wir aufzusuchen haben:
die eigenthümlich religiöse Stimmung und das einfache Bild eines Natur-
Vorganges. In diesem Doppelten liegt es zugleich ausgesprochen, daß der
Mythus zunächst in Cultus und Symbol seine Wurzeln hat."
Auf wunderbare Weise zeigt sich dieser Vorgang in der ältesten der grie¬
chischen Mythen, um die es sich hier handelt, der Niobesage. Der durch das
ganze hellenische Alterthum gehende eindringliche Zug, gegenüber der gött¬
lichen Macht an die menschliche Abhängigkeit zu mahnen, ist in ihr zur tief
poetischen, lebendig fruchtbaren Kunstidee geworden, welche, einer stets erneuten
Entwickelung fähig, das liebevoll gepflegte Eigenthum des griechischen Volkes
gewesen ist.
Im Homer schon erinnert Achill den trauernden Pricunos an das Schicksal
der Niobe, „der daheim im elterlichen Hause sechs Töchter und sechs blühende
Söhne dahingestorben sind." Der alte Hesiod, die späteren Lyriker bis auf
Pindar und Sappho haben sich den fruchtbaren Stoff nicht entgehen lassen.
Eines der gewaltigsten, durch Einfachheit der Anlage und Macht des Aus¬
druckes erschütterndsten Dramen soll die Niobe des Aeschylus gewesen sein. Der
alte Tragödiendichter zeigt die Heldin auf dem Grabe ihrer Kinder sitzend, ver¬
hüllten Hauptes, in starren Schmerz versenkt, während die Neigen der Chor-
licdcr an ihr vorüberrauschen. Sophokles, von dessen Niobidentragödie uur
unbedeutende Reste erhalten sind, versetzte seine Niobe aus den Boden von
Theben und zwar wählte er den Augenblick, wo das Verhängnis) die Söhne
und Töchter vor den Augen der Mutter ereilt. Ueber die zarten Verhältnisse
schwärmerischer Jugendneigung im Kreise fürsorglicher Wärterinnen erhebt sich
die tragische Gestalt der „Alldulderin" in göttlicher Hoheit. Die dithyrambische
Dichtung benutzte das Schicksal der Niobe^ „ihr stolzes Reden und ihr Schweigen
im Leid", zu Gesängen und Tänzen des feierlichen Chvrreigens und der hoch-
tragische Charakter des Mythus mühte auch in der Parodie seinen Gegensatz
finden. Die alexandrinischen Dichter nicht minder als die römischen spannen
den Faden fort, bis Ovid einen gewissen Abschluß herbeiführte durch seine voll-
ständige Erzählung von der phrygischen Königstochter, der kinderreichen Gemahlin
des Amphion, die, durch den Fernhintrcffer Apollen und die pfeilfrohc Artemis
um ihres stolzen Rühmens willen zur Kinderlosen gemacht, an dem heimathlichen
Felsen des Sipylos zu Stein erstarrt, in endlos rinnenden Thränenbächen ihren
Verlust beweint.
Wie in der langen Periode des Steigens und des Verfalls griechischer
Dichtung durch so viele Bearbeitungen, nicht minder durch örtliche und ge¬
schichtliche Einflüsse, der ursprüngliche Kern des Mythus sich mit neuen Ideen
erweitert und umkleidet hat, darüber mag der wißbegierige Leser sich in dem
ersten Abschnitt des Buches vollständig unterrichten. Der Zweck dieser Zeilen
kann bei dem Umfang und Jnhaltsreichthum dieses Werkes kein anderer sein,
als eine übersichtliche Erwähnung der darin behandelten Gegenstände nach ihrem
Zusammenhang und ihrer Reihenfolge im Interesse des größeren Publicums.
Wir wenden uns zu dem zweiten Abschnitt, welchem als Schmuck und Erläu¬
terung eine Reihe von Abbildungen beigegeben ist, Wohl geeignet, den Verlauf
einer großen Kunstperiode sich zu vergegenwärtigen.
Der Verfasser beginnt seine archäologischen Untersuchungen mit dem wunder¬
baren, auf der kleinasiatischen Küste anderthalb Stunden vor Magnesia in dem
Sipyiosgcbirge befindlichen Felsgebilde, welches, nahe gesehen, eine durchrissene,
von Quellen überströmte Felswand, aus der Ferne aber in deutlichen Umrissen
eine in Trauer versenkte sitzende Frauengestalt zeigt, von rinnenden Wasser-
güssen überrieselt. Dieses Bild als wirkliche Niobe und zugleich als eines der
ältesten Werke griechischen Geistes und griechischer Auffassung festzustellen, wenn¬
gleich unter dem Einfluß assyrischer Kunstübung entstanden, geht der Verfasser,
wie dies überhaupt der Charakter des Buches ist, an einer ununterbrochenen
Kette von Beweisgründen localer geschichtlicher und künstlerischer Natur vor¬
sichtig von einer Schlußfolge zur andern.
Auf den attischen Boden übertragen, ward der Niobemythus alsbald, nicht
durch die Hand, aber durch die Erfindung des Phidias zum Schmuck an dem
Thronsessel des olympischen Zeus verwendet. In Athen selbst befand sich am
Südostabhang der Akropolis, oberhalb des Dionysostheatcrs in einer Grotte
eine Niobidendarstcllung, deren Pausanias mit genauer örtlicher Bezeichnung
Erwähnung thut und deren Stiftung durch neuere Forschungen an den Namen
des Thrasyllos geknüpft wird. Es sind dies leider verlorene Schätze, so wie
auch jene berühmten Reliefs von Gold und Elfenbein, die seit der Zeit des
Augustus die Thüren des Tempels des Apollo Palatinus schmückten und welche
ursprünglich aus Asien, wahrscheinlich aus Kyme stammten.
Für eine möglichst unbefangene und objective Behandlung der noch jetzt
vorhandenen, in den Niovekreiö gehörigen Kunstdenkmäler aber wählt der Ver¬
fasser den Weg in aufsteigender Linie, „von den Zeichnungen und Malereien
zu den Reliefbildungen, den Ucbcrgangsgattungcn. endlich zu der schwierigen
Betrachtung der Statuen in ihrer Einzelerscheinung wie in ihrer möglichen oder
wahrscheinlichen Gesannntgruppirung," und die gelehrte Ueberschau fördert einen
Reichthum zu Tage, welchem keine Gattung der antiken Kunstübung und kein
Poetisches Moment des Mythos fremd geblieben ist. Eine besonders vielfältige
Behandlung ist dem Nivbemythus in der Gefäß' und Wandmalerei zu Theil
geworden. Das Jugcndbündniß der Leto und Niobe,- die, wie Sappho sang,
„gar liebe Freundinnen waren/' Niobes stolzes Zürnen über die göttliche Ver¬
herrlichung der Gefährtin, die Nivbiden von der Rache der Letokinder getroffen,
Niobe über den. Leichen trauernd, oder auf dem Grabhügel sitzend, sind Ge¬
genstände der verschiedenartigsten Darstellungen geworden. Die erhaltenen Ne°
liefbildungen zeigen sich ihrer Mehrzahl nach als Neste von Grabdenkmalen und
es waren Niobidendarstcllungcn ein häusiger Schmuck aus Sarkophagen, wie
denn die Münchner Glypthothek einen solchen, hier zum ersten Mal veröffentlichten
Schatz zu bewahren hat. , Ein größeres in Abbildung beigegebenes Relief (wahr¬
scheinlich Tempelrelicf) im Jahre 1848 zuerst in der Sammlung des Ritter
Campana ausgestellt, jetzt im kaiserlichen Museum zu Petersburg befindlich,
fesselt durch wunderbare Schönheit und ergreifende Wahrheit der Komposition
und Ausführung. Die Bekanntschaft Mit diesem ausgezeichneten Kunstwerke ver¬
dankt man gleichfalls dem vorliegenden Buche, in welchem es zum erste» Male
zur öffentlichen Kenntniß gebracht ist. Ein anderes Relief, der Villa Albani
zugehörig, stellt sich als frei behandelte Copie dem campanascben zur Seite.
Auch in der Steinschneidekunst wurden einzelne Motive aus größere» Kompo¬
sitionen' mit Vorliebe behandelt; für den Archäologen einer der feinsten und,
interessantesten Gegenstände zur Vergleichung. Als Uebergang von dem Relief
zu den statuarischen Bildungen haben sich merkwürdige Bildwerke des Niobe-
kreiscs in den alten Gräbern bei Kertsch und in Apulien gefunden. Tcrracotten-
statuen, für die Aufstellung an einer Wand, d. h. nur für die Vorderansicht
berechnet, deren eine auf Tafel 5 abgebildet ist. welche sich durch ihre Aehnlich-
kett mit einer christlichen Pieta fast seltsam auszeichnet.
Nach diesem Ueberblick eines Bilderkreises, welcher die ganze Stufenleiter
von dem leidenschaftlichst bewegten Leben bis zur starren Ruhe des Todes vor
unsern Augen entrollt, wendet sich der Verfasser schließlich zu der im Jahre
1L83 zu Rom aufgefundenen Marmorgruppe der Niobidcn, die sich jetzt im
Ufficienpalast zu Florenz befindet.
Wir können uns nicht versagen, hier einen in dem Buche mitgetheilten
Brief des florentinischen Bildhauers Valerio Civil an Antonio Serguidi, den
Gehcimsecrctär des Großherzogs Francesco des Ersten, vom 8. April 1583 an¬
zuführen, welcher sich aus die Auffindung der Statuen in einem Weinberg v,or
dem Thore Se. Giovanni zu Rom und auf den Ankauf derselben durch den
Grosherzog von-Toscana bezieht. „Seine Hoheit weiß bereits." heißt es da,
„daß vierzehn Statuen von guter Künstlerhand gefunden wurden, welche die
Geschichte der Niobe vorstellen. Unter andern ist da eine Gruppe von zwei
Figuren, welche sehr schön sind. Und zu vielen derselben hat man die Köpfe
wiedergefunden und auch Arme. Sie haben alle schöne Köpfe, aber die Haare
sind nicht allzuscköu und nicht sehr vollendet. Ader der Besitzer hat bereits eine
große Meinung davon, soweit ich habe entnehmen tonnen, als ich mit ihm in
die Vigna ging, wo er sie gefunden hat und er läßt fortwährend graben, weil
er noch die ganze Geschichte (ota, ter Ltoiia) zu finden hofft."
Nach dem Bericht über die Entdeckungen mustert der Verfasser die über
alle gewöhnlichen Ansichten hinausgehende Zahl von Wiederholungen einzelner
oder mehrer dieser Statuen, welche fast alle auf dem Boden von Rom ent¬
standen sind. Aus der Geschichte jener florentiner Gruppe, die hier durch die
erstmalige Benutzung interessanter Funkberichte und die ältesten Abbildungen
sicher gestellt wird, lernen wir Exemplare einzelner Statuen kennen, welche an
Kunstwerth die florentinische Gruppe weit übertreffen. Es öffnet sich hier der
Blick auf eine Thätigkeit des Nachbildens berühmter griechischer Originale, von
welcher man bis jetzt kaum eine Ahnung hatte. Das verlorene Original aber
aller dieser Nivbecvpien war immer jene Gruppe, welche nach des Plinius
Bericht einst den Tempel des Apollo Svsianus rü Rom schmückte. Winckelmann
fand in den Niobiden das Ideal der höchsten Schönheit, eine Schönheit, die in
unsern Tagen unbestritten anerkannt und allbekannt ist. Ob Praxiteles oder
Skopas als Urheber dieser Meisterwerke angesehen werden darf, bleibt unent¬
schieden. Für den Verfasser scheint ein größeres Gewicht auf Seiten de-s Skopas
vorzuliegen, doch ist ihm die Verwandtschaft der beiden Künstler in der Wahl
der Gegenstände, in geistiger Auffassung und technischer Vollendung zu bedeutsam,
um die Zweifel der römischen Kunstlichter ohne neue Thatsachen beseitigen zu
wollen. Was die besondere Namensbezeichimng des römischen Apollotempels
betrifft, in welchem dieses Kunstwerk aufgestellt war, so führt der Verfasser sie
auf einen politisch und militärisch im Orient bcrühmr gewordenen Römer,
C. Sosius, zurück, dessen Wirksamkeit zur Zeit von Antonius Allmacht im Orient
seinen Höhenpunkt erreicht hatte. Von ihm ist berichtet, daß er aus Seleucm
die aeterne Apollostatue, das Tcmpelbild des genannten Heiligthums, nach Rom
gebracht habe. Der Verfasser glaubt aus verschiedenen genau erörterten Grün¬
den dies auch von der Nivbidengruppc annehme» zu dürfen, doch würde hier
nicht an das spätere syrische Seleucia zu denken sein, sondern Seleukeia in Kilikien,
an dem Flusse Kalikadnos, das frühere Holmvi, bei welchem zunächst ein altes
Heiligthum des Apollo» Sarpedonius sich befand. Hier, im Bereiche des Tem¬
pels der Kinder der Leto und eines Heros, uuter dessen Gestalt man sich die
Gewalt des in der Jugend rasch dahinraffenden Todes vergegenwärtigte, mochte
wohl eine passende Stelle gewesen sein für die Jdealdarstellung der jugendlichen
Opfer des Götterzvrnes, die Niobiden.
Die Aufstellung dieser Statuengruppe, sei es an ihrem ursprünglichen
Standorte oder in dem Apollotempel zu Rom, ist eine Frage, welche das
innerste Wesen der Kunst berührt und durch ihre vielfachen Ncdenbeziehungen
zugleich ein allgemein culturgeschichtliches Interesse in Anspruch nimmt. Seit
langer Zeit war sie ein Streitpunkt gelehrter Erörterungen. Kaum einer der
namhaften Kunsthistoriker hat sich ihr völlig entzogen. Ob Giebclaufstellung
an der äußern Fronte des Tempels, ob im Innern desselben Anordnung im
Halbkreis, zwischen Säulen, in Hallen oder Nischen — jede dieser Aufstellungen
ist vielfach vertheidigt und bestritten, keine aber bis jetzt als unzweifelhaft er¬
wiesen, angenommen worden.
An diesem Hauptpunkt des Werkes angelangt, lassen wir jedoch den Ver¬
fasser selbst sprechen, der nach eindringlicher Erwähnung der architektonischen
Schwierigkeiten einer Giebelaufstellung S. 223—26 mit folgenden Worten fort¬
fährt: „Wie wir linear einer großen Gleichmäßigkeit der Bewegungen in der
Gruppe der Niobiden begegnen, dazwischen allerdings mehre Knoten- und
Haltpunkte sich finden, endlich ein gewaltiger Höhenpunkt uns vor Augen tritt,
so ist im geistigen Gebiete durch alle Glieder gleichartig ein sehr hoher Grad
des individuellsten Pathos ausgegossen, das seinen Gipfel, aber auch seine Aus¬
gleichung in der Gruppe von der Mutter und dem jüngsten Kinde findet.
Wir leiden und bangen mit jedem Einzelnen und zwar auf seine eigene Weise;
allen ist der Tod so unmittelbar nahe, alle sind von so edler Art, da giebt
es keinen eigentlichen Hauptvorgang, keine theilnehmenden Zuschauer und ruhige
Zeugen; jeder ist Spieler in der gewaltigen Tragödie. Die Tochter im Schoße
der Mutter ist an und für sich nicht bedeutsamer, nicht mehr beklagenswert)
als alle ihre Geschwister. In der Mutter spiegelt sich noch einmal das ganze
gesammte Leid der Reihe ihrer Kinder ab."
„Durchmustern wir die Reihe der uns bekannten Giebeldarstellungen, Wie
verschieden von ihnen allen ist die Niobidcngruppe! Wir haben zunächst und
können nicht haben die im Tempel verehrten Gottheiten; aber wir haben auch
nichts, was sie repräsentirt, nicht heroische Gestalten, die in ihrem Schutze
stehen, für sie kämpfen, kein Symbol, um das sich die Gestalten gruppiren.
Unser wahres Interesse wird nicht geweckt für jene vorauszusetzende göttliche
Macht, nicht für die Vollziehung eines göttlichen Strafgerichtes. für die Macht¬
erweisungen des Apollo, nein, unser Herz schlägt nur für diese in Jugendschöne
und Geistesadel dahinsinkcnde Familie, für diese immer sich steigernden, in
der Mutter sich gipfelnden Seelenkämpfe. Nein, diese Niobiden sind nicht als
Motto, als Ueberschrift, als eine religiös officielle Ermahnung gebildet, nicht
sollen wir erst einen sublimirten Gedanken herausziehen, sie sind nur in ihrer
vollen Wesenheit von ihrem eigenen Standpunkt aus zu verstehen und zu
würdigen. Für jene Stirnseiten der Tempel hat der Grieche keine psycholo¬
gischen feinen Gemälde verwendet, er zeichnet die ruhige Kraft oder den Con¬
flict gewaltiger Kräfte hinein. Aus den Giebelfeldern soll wie aus olympischer
Höhe ein Abglanz der göttlichen Majestät herableuchten und diese weithin
verkünden."
Der Verfasser scheint geneigt eine Aufstellung zwischen Säulen oder in
Hallen anzunehmen, ohne jedoch das letzte Wort der Entscheidung aussprechen
zu wollen.
Der schwierigste der drei großen Abschnitte des Buches ist der letzte, wel¬
cher die Untersuchungen über den Niobemythus in seiner ethnographischen und
inneren Bedeutung enthält. Auf einer Wanderung durch die griechischen Länder
geht der Verfasser den Sagcnspuren der Niobe nach, die sich über ganz Hellas
verbreiten und an einzelnen Punkten abgeschlossene Kreise bilden, welche sowohl
unter sich als auch mit fremden Sagen auf die wunderbarste Weise verknüpft
und gekreuzt, endlich ihren gemeinsamen Schlußpunkt da finden, wo sie ihren
Ursprung haben, an der asiatischen Küste, deren nahe Beziehungen zu Griechen¬
land hierdurch einen neuen Beleg finden.
Es gilt dem Verfasser „den ethnographischen Bereich allseitig auszubeuten,
das ganze Gewebe in einfache Elemente aufzulösen und zugleich den Nachweis
der Verwebung der Sagen aus den historischen Verhältnissen verschiedener Locale
und Stämme, so wie aus der Verwandtschaft der Mythenkreise unter sich zu
führen." Nur aus diese Weise glaubt er endlich den Mythus selbst in seiner
Ursprünglichkeit, in seiner das Volk dunkel aber mächtig beherrschenden Gewalt
erfassen zu können.
Eine nur annäherungsweise befriedigende kurze Uebersicht der gelehrten Unter¬
suchung zu geben, welche die Niobcsage auf ihren vielverschlungenen Pfaden ver¬
folgt, würde vielleicht auch für eine streng fachwissenschaftlich gehaltene Darstellung
nicht ohne Schwierigkeit sein, da die Wendepunkte, welche hier entscheidend sind,
- mehrentheils an locale oder geschichtliche Detailstudien sich knüpfen und aus dem Zu¬
sammenhang ohne Schaden oder Mißverständniß nicht leicht abgelöst werden tonnen.
Der Verfasser zeigt zunächst die Niobe als pelasgische Urgestalt, als Phoroncus-
tochter in Argos. Als Tantalvstind erscheint sie in der messenischen Sage und
durch ihre Verpflanzung nach Theben verknüpft sie den Sagenkreis der Pelo-
piden mit dem des Kadmos. Beziehungen ältester Naturanschauungen, von der
lebenschaffenden Kraft des Wassers, der nahrungverlcihenden, an vergänglicher
Kindcrfülle so reichen Erde verbinden sich in der Gestalt der Niobe mit den
Ueberlieferungen von der ersten menschlichen Cultur und Geistesbildung. Aus
dem Gegensatz göttlicher und menschlicher Natur in ihr ist die erschütternde
Katastrophe ihres Schicksals hergeleitet. Am Sipylos, dem heiligen Götter-
berg, des Zeus Geburtstätte, des Tantalvs Grab, dem Mittelpunkt eines rei¬
chen und weitverbreiteten Cultuslebens, das mit dem griechischen in nächster
Verbindung stand, findet sich der Abschluß dieses großartigen und tiefsinnigen
Lebensbildes Die Naturgewaltige, die Götterentsprossene, die Schönheits-
erfüllte. Geistesbildende, die Ruhmesstolze, Machtsichcre, die Mütterliche, Liebes-
kräftige, im Leid Verharrende, das ist die wirkliche, die wahrhaftige Niobe der
hellenischen Sage, der als Wahrzeichen nichts geblieben ist als der Fels und
die Thränen.
„Wir stehen hiermit vor einem der ältesten und tiefsten Urgedanken des
griechischen Alterthums," sagt der Verfasser am Schlüsse seines Buches, „in
welchem das Gefühl der Pracht und Schönheit der irdischen Welt, specifisch
des Menschen, wie in gleichem Maße nirgend sonst lebendig war, aber auch
um so tiefer der Klageton der Nichtigkeit und Vergänglichkeit sich durchzieht
und welches diesen Zwiespalt nur in jüngerer Zeit und in engeren Kreisen der
orphischen Lehre, wie der-Philosophie der tiefsinnigsten Geister überwindet, in
der Ausschau auf eine über das irdische Leben hinausragende höhere Existenz."
Das Werk, welches auch eine treffliche Ausstattung gefunden hat, sei auch
weiteren Kreisen warm empfohlen.
Nicht zu läugnen war, daß das frische politische Leben, welches mit dem
Einmarsch der Bundestruppen in das Herzogthum Holstein zu Pulsiren begonnen
hatte, mit dem Einrücken der östreichisch-preußischen Streitkräfte einigermaßen
ins Stocken gerathen war. Der Bund, unter dessen Action es erwacht, erwies
sich schwach und schwankend, die Großmächte ließen über ihre Absichten im
Dunkeln, auch die kriegerischen Ereignisse übten einen gewissen lähmenden Ein¬
fluß, indem sie die Aufmerksamkeit wenigstens theilweise ablenkten. Es gab
keinen rechten Gegenstand, der ins Auge zu fassen und willkommen zu heißen
oder zu bekämpfen war. Allenthalben Konfusion. Gerüchte, unbestimmte Hoff¬
nungen und Befürchtungen, Tage, von denen einer immer den vorhergehenden
corrigirte. Allmciiig tauchte das Conferenzprojcct am Gesichtskreis auf, um,
nachdem es sich verschiedene Male proteusartig verwandelt, feste Form anzu¬
nehmen, und damit war der Anstoß und der Gegenstand zu einer neuen Be¬
wegung gegeben, die rasch bedeutende Dimensionen gewann und jetzt daS ganze
Land durchwogt.
Die Diplomaten wolle» uns, so hieß es, ungehört zu halber oder ganzer
Wicdcrauslieferung an Dänemark verurtheilen, wolle» uns nach ihrem, nicht
nach unserm Interesse versandet». Wehren wir uns dagegen mit den Waffen,
die uns allein gelassen sind, beanspruchen wir die Stimme, die uns gebührt,
gebrauchen wir sie vorläufig ohne hohe Erlaubniß.
Den ersten Ausdruck gaben dieser Stimmung die Schleswig-holste mischen
Vereine. Am 29. März fand zu Rendsburg eine Versammlung von Dele-
girten derselben statt, die von 81 Vereinen beschickt war, und zu der sich auch
Schleswiger, namentlich aus der Stadt Schleswig, aus Angeln, Eiderstedt und
Nordfriesiand eingefunden hatten. Dieselbe war noch nicht ganz im rechten
Fahrwasser. Doch waltete durchweg eine tüchtige Gesinnung vor, und wenn
die im Verein vertretenen Parteien in einigen ihrer Ziele von einander ab¬
wichen, so waren dies vergleichsweise unwesentliche Fragen. In der Haupt¬
sache war, man einig. Die Resolution, die man schließlich einstimmig beschloß,
war durchaus correct. Man erklärte Angesichts der bevorstehenden Conferenz,
daß das alte Recht der Herzogthümer, nach welchem sie, eng mit einander ver¬
bunden, von Dänemark vollständig getrennt, unter ihrem eignen Fürsten Friedrich
dem Achten zu lebe» befugt scie», mit dem politischen Glaubensbekenntnis^ der
Versammelten und ihrer Auftraggeber zusammenfalle. Man bezeichnete jede
wider den Willen des Schleswig-holsteinischen Volkes über dessen tünfnges
Schicksal getrvffne Entscheidung im Voraus als nichtig, als Gewaltthat und
Verrath. Man erklärte endlich, solcher Gewaltthat den äußersten Widerstand
entgegensetzen zu wollen.
Zu derselben Zeit begannen von Kiel aus die Vorbereitungen zu einem
Act, der eine größere Bedeutung als die einer Demonstration beanspruchte, ja,
der zwar nicht die Form, doch unzweifelhaft die innere Natur und Kraft eines
Staatsacts hatte, und der, wenn irgend die bisherige, durch ein nichts weniger
als liberales Wahlgesetz constituirte iücrtrciung Holsteins die Wünsche der Be¬
völkerung repräsentirt, der Welt im Voraus kundgeben sollte, was hier zu er¬
warten ist, wenn man dem holsteinischen Volke das Recht der Selbstbestimmung
zugesteht.'
Am 6. April versammelten sich, von mehren hervorragenden Mitgliedern
der holsteinischen Provinzialstände eingeladen, vierzig Abgeordnete im Saale des
akademischen Eonsistoriums (Univcrsitätssenats) zu Kiel und beschlossen nach
kurzer Debatte, die sich fast nur auf Nebendinge bezog, einstimmig eine Decka-
ration der Landesrechte, deren mannhafte, nach keiner Seite hin auswei¬
chende Sprache um so mehr ins Gewicht fällt, wenn man den politischen Charakter
und die Lebensstellung der Mehrzahl der Zusammengetretenen in Anschlag bringt,
und welche künftig, um Kleines mit Großem zu vergleichen, dieselbe Stelle in
der Geschichte einnehmen wird, wie die Deklaration, mit der die Nordamerika-
irischen Kolonien sich einst von England trennten. Insofern verdient das Acten¬
stück auch in d. Bl. aufbewahrt zu werden. Dasselbe erklärt, „gegenüber der zu
London zusammentretender Conferenz europäischer Mächte feierlich was folgt:
Wir legen Verwahrung ein gegen jede Entscheidung, die auf der Conferenz
über das Schicksal der Herzogthümer Schleswig-Holstein, insbesondere über die
Person des Nachfolgers auf dem durch den Tod des Königs-Herzogs Friedrich
des Siebenten erledigten Thron derselben getroffen werden möchte, ohne daß
zuvor die Stimme des Landes über die Erbberechtigung dieses Nachfolgers ver¬
nommen worden ist. Wir erklären vielmehr jede Anerkennung eines solchen,
die von europäischen Mächten erfolgen möchte ohne vorgängige Befragung des
Landes, als für letzteres rechtlich unverbindlich und ungilrig.
Wir erklären ferner hierdurch vor Gott und Menschen als das Recht dieses
Landes:
1) Die Herzogtümer Schleswig-Holstein sind auf ewig unzertrennlich mit¬
einander verbunden, selbständige Staaten,
2) Auf den Thron ist ausschließlich berufen der Mannsstamm des oldcn-
burger Fürstenhauses nach Linealfvlge und Primogenitur.
3) Dem König von Dänemark, Christian dem Neunten, gebührt demnach
keinerlei Recht an dem Thron der Herzogtümer, weil er durch näher berechtigte
Agnaten ausgeschlossen wird, der londoner Tractat vom 8. Mai 18S2 aber,
sowie das dänische Thronfolgegesetz vom 31. Juli 1853 für die Herzogthümer
rechtlich unverbindlich und machtlos sind, jener, weil fremden Mächten keinerlei
Verfügung zusteht über das ihnen nicht zugehörige Land, dieses, weil ihm die
Zustimmung der schleswigschen und holsteinischen Ständeversammlung, der
Agnaten und des deutschen Bundes fehlt.
4) Der nächstbcrcchtigte unter den jetzt lebenden Fürsten des oldenburger
Hauses ist vielmehr nach dem Verzicht seines Vaters der Herzog (ein ungenauer
Ausdruck; es muß Erbprinz oder noch richtiger der bisherige Erbprinz heißen)
Friedrich von Schleswig-Holstein-Svnderburg-Augustenburg, der als Herzog
Friedrich der Achte von Schleswig-Holstein die Regierung anzutreten bereits
erklärt hat. Wir nehmen ferner davon Act, daß die Stimme des Landes hier¬
mit übereinstimmend in zahlreichen Eingaben an die deutsche Bundesversamm¬
lung, sowie in Huldigungsadressen und Deputationen an den Herzog Friedrich
den Achten von Seiten der Schleswig-holsteinischen Ritterschaft (dies wurde in
der Debatte als nicht ganz zutreffend bezeichnet, der Einwand aber als ein
unwesentlicher fallen gelassen), der Landesuniversität, der Geistlichkeit, des Lehrer¬
standes, der Stadt- und Landdistricte Holsteins wie Schleswigs sich unzweideutig
dahin ausgesprochen hat, als den rechtmäßigen Thronerben einzig und allein
den Herzog (bisherigen Erbprinzen) Friedrich von Schleswig-Holstein-Sonderburg-
Augustenburg anzuerkennen und für ihn, als den legitimen Landesherrn, Gut
und Blut einsetzen zu wollen.
Wir legen hierdurch feierlichst Verwahrung ein gegen jedes Arrangement
europäischer Mächte, durch welches den Herzogthümern wider ihren ausgesprochnen
Willen ein unrechtmäßiger Herrscher aufgezwungen und die durch den Tod
Friedrich des Siebenten definitiv gelöste Verbindung mit dem Königreich Däne¬
mark mittelst Gewalt wiederhergestellt werden soll, und werfen aus die Urheber
eines solchen Arrangements die Verantwortlichkeit für die unausbleiblichen Nach¬
theile und Gefahren für Ruhe und Frieden unseres Landes, Deutschlands und
Europas."
Hieran schloß sich die Annahme folgender Motivirung und Instruction:
„Die Herzogthümer Schleswig-Holstein sind, Dank dem Einschreiten der
deutschen Mächte, von dänischer Herrschaft befreit; sie geben sich noch der Hoff¬
nung hin. daß es den deutschen Mächten gelingen werde, durch die dem Landes¬
recht entsprechende definitive Trennung der Herzogthümer von Dänemark die
Grundlage eines dauernden Friedens zu legen.
Der bevorstehende Zusammentritt der Conferenz europäischer Mächte indeß,
auf der über die Mittel zur Beilegung des dänisch-deutschen Conflicts berathen
werden soll, ruft die dringende Befürchtung hervor, daß abermals ein Versuch
gemacht werde, über die Rechte der Herzogthümer Schleswig-Holstein zu ver¬
fügen, ohne daß ihnen Gelegenheit gegeben wäre, durch das Organ ihrer gesetz¬
lichen Vertretung die in den alten Landesrechten sicher begründeten Forderungen
geltend zu machen. Wir sind davon überzeugt, daß auf diesem Wege niemals
ein dauernder Frieden geschlossen werden kann, daß dadurch vielmehr nur der
Keim neuer Zwietracht und fortwährenden Unfriedens gelegt werden wird.
Denn das Volk der Herzogthümer, wie es sich mit seltener Einmütigkeit in
jüngster Zeit öffentlich ausgesprochen hat, wird nimmermehr von dem lassen,
was es als sein Recht erkannt hat: von seinem Rechte auf definitive Trennung
vom Königreich Dänemark und Herstellung eines unabhängigen Staates unter
der Herrschaft seines rechtmäßigen, angestammten Fürsten, des Herzogs Frie¬
drich des Achten von Schleswig.Holstein.
Leider ist trotz wiederholter dringender Bitten von Behörden wie Cor-
porationen die Zusammenberufung der Ständeversammlung des Herzogthums
Holstein nicht zu erreichen gewesen. Für das Herzogthum Schleswig fehlt es
sogar zur Zeit an einer beschlußfähigen Ständeversammlung. So sind denn im
Angesichte der überwältigenden Gefahr für das Vaterland wir, die unterzeichneten
Mitglieder der Ständeversammlung Holsteins, freiwillig zusammengetreten, um
der allgemeinen Rechtsüberzeugung des Volkes Ausdruck zu geben in der bei¬
liegenden Rechtsvcrwahrung. und beauftragen hierdurch aus unsrer Mitte die
Herren Th, Reineke in Altona (Kaufmann und Vicevräsident der Stände),
Professor Dr. Behn in Kiel und Pastor Versmann in Itzehoe*) diese Rechts¬
verwahrung dem durchlauchtigsten deutschen Bunde, dem von diesem etwa zu
der gedachten Conferenz abzuordnenden Gesandten, sowie an sonst ihnen an¬
gemessen erscheinenden Orten in unserm Namen und Auftrag sammt oder son¬
ders, in eigener Person oder durch von ihnen Bevollmächtigte zu dem Zwecke
zu überreichen, damit dieselbe zur Kunde der Conferenz gebracht werde."
Die anwesenden vierzig Abgeordneten repräsentirten etwas mehr als vier
Fünftel der vollzählig versammelten Stände des Herzogthums, die eigentlich
51 Mitglieder zählen sollen, gegenwärtig aber deren nur 49 haben, da zwei
Mandate erledigt sind. Es fällt nämlich die Vertretung Neumünsters aus,
weil der Abgeordnete Renck sich in Algier befindet und dessen Stellvertreter sein
Mandat schon vor längerer Zeit niedergelegt hat, und die Virilstimme ist gleich¬
falls unvertreten, da Levetzow-Ehlersdorf sein Mandat gleichermaßen aufgegeben
und seitdem keine Neuwahl stattgefunden hat. Dazu kommt, daß mehre der
fehlenden Herren nur Krankheits halber oder aus andern nicht mit der Politik
in Verbindung stehenden Ursachen, keineswegs also deshalb der Einladung nicht
entsprochen hatten, weil sie den Schritt ihrer College» im Voraus gemißbilligt.
Man darf mit Sicherheit annehmen, daß von den Nichterschicnenen mindestens
zwei der Declaration ihre Unterschrift gegeben haben würden. Dies würde
42 Stimmen von 49 geben — ein nicht unerheblicher Fortschritt zur Einmüthig-
keit, wenn man sich erinnert, daß bei der letzten Aeußerung der Stände über
die Landesrechte die Zahl derer, welche für das volle Recht einzutreten den
Muth hatten, nur einige Dreißig betrug.
Von den Vierzig waren 4 Geistliche, 5 Besitzer großer Güter, 14 bäuer¬
liche Abgeordnete, Hufner und Parzellisten, 4 Kaufleute und Fabrikanten, nur
4 Juristen.
Von den ritterschaftlichen Abgeordneten und Besitzern adeliger Güter waren
die Grafen Holstein-Waterncversdorf, Rantzau-Nastorf, Reventlow-Wittenberg
und Louis Reventlow (als Stellvertreter des Grafen Rantzau-Seeburg) sowie
der Kammerherr Bülow-Bothccnnp und der Gutsbesitzer Schwerdtfeger auf
Travenort zugegen. Die fehlenden Neun waren: der Baron Scheel-Plessen,
Präsident der Ständeversammlung. Baron Blvme-Heiligenstetten, Reventlow-
Fcirve. Reventlow-Jersbeck, Baudissin-Vorfiel. Brockdorf-Ahlcfeldt. Mesmer-
Salben, Pasidr Bröcker von Unterste und der bäuerliche Abgeordnete Hadje
von Egenbüttel, welcher Pinneberg vertritt,
Scheel-Plessen hatte sich <uncrv,mrteter Weise) mit einer Reise nach Dresden
entschuldigt, so daß Manche hier fast annehmen wollen, er habe sich eine Thür
zur Umkehr und zur Verständigung offen halten wollen, die freilich nach den
Enthüllungen des englischen Blaubuchs nicht mit Bequemlichkeit zu bewerkstelligen
sein möchte. Blomc hatte es nicht für angemessen gehalten, sich bei den Con-
vocanten wegen seines Ausbleibens zu rechtfertigen. Er zog vor, sich im „Ham¬
burger Korrespondenten" vor dem gesammten Publicum zu erklaren, und er
that dies in einer Weise, welche weit weniger für seine diplomatischen Fähig¬
keiten und seine aristokratische Haltung, als für seinen tiefen Aerger Zeugniß
ablegte, das; er, der früher einer der Führer der Stände war, jetzt allen und
jeden Einfluß im Lande verloren hat, und daß in Folge dessen seine bisherigen
Bemühungen, die gute Sache zu verderben, erfolglos geblieben. Es hieß in
diesem merkwürdigen und sehr charakteristischen Erguß eines Schwerverwundeten
Ehrgeizes ungefähr:-er sei nicht gekommen, weil es mit der Versammlung doch
nur „auf eine neue Agitation zu Gunsten des Augusten b urg ers" abgesehen
gewesen, und weil er gewußt, daß seine Warnungen in dieser Beziehung wie
früher fruchtlos sein würden. Dann bezweifelte die Erklärung das alleinige
Erbrecht des „Erbprinzen von Augustenburg" zunächst wegen der „vielen (d. h.
nur von Pernice und den Dänen) gegen seine Ansprüche geltend gemachten
Einwendungen", dann wegen des (ihm vor einige» Wochen von der Kreuzzeitung
ins Gedächtniß zurückgerufenen, beiläufig bemerkt sehr unvorsichtigen) Ausspruchs
Wilhelm Beselers, daß das Haus Augustenburg todt für Schleswig-Holstein sei,
schließlich weil er „kein Primogeniturstatnt kenne, worauf die Augustenburger
ein alleiniges Erbrecht gründen könnten," Weiterhin war der Herr Baron
indeß so gnädig, zu wünschen, daß, wenn es ein solches Recht gäbe, demselben
Anerkennung zu Theil werden möge. Dann schloß die Erklärung mit der ver¬
drießlichen Bemerkung: „durch Versammlungen, Resolutionen, obligates Schwenken
von Fahnen und voreilige Huldigungen kann kein Recht constatirt werden."
Wie bist du gefallen, du schöner Morgenstern! Wir Aelteren erinnern uns
alle des Genusses, den die anmuthige Patente Art die Klinge politischer Fecht¬
kunst zu führen gewährte, in welcher Adolf Blomc den in ähnlicher seiner Weise
auftretenden Olshausen bekämpfte. Und jetzt!
„Des Augustenburgers" — in der That, ein Diplomat und so unhöflich!
Ein exclusiver selbstgenugsamer Aristokrat, und die Berufung auf Wilhelm Be¬
selers Ansicht! Ein gewandter, redefertigcr Politiker und so arm an Muth und
Selbstgefühl, daß er die Flinte ins Korn wirst und, statt in der Versammlung
zu erscheinen, seine Rechtsüberzeugung auszusprechen, für dieselbe durch Gründe
zu werben, sich in die Redaction eines Hamburger Blattes zweiten Ranges
flüchtet. Die Stände haben früher einmal viel, haben mehr auf ihn gegeben,
als er genau besehen verdiente. Zum Dank dafür behandelt er sie jetzt als
demagogische Schreier und Fahnenschwenker. Die Convvcanten sind ihm als
Männer bekannt, die wahrlich nicht Gefahr laufen, sich durch den Druck der
Masse» bestimmen zu lassen, ja, die stets eher zu weit rechts als zu weit links
standen, und er antwortet auf ihre collegialische Einladung damit, daß er sie
mit Jnvcctiven bedient. Sollte da nicht der Schluß gestaltet sein, daß nur das
Bewußtsein, sich verrannt zu haben, mit schwachen Gründen zu fechten, und
allen Einfluß auf die Entscheidung verscherzt zu habe», so unartig werden, so
krampfhaft um sich greifen und so unvorsichtig auftreten ließ? Wir erlauben
uns diesen Schluß und freuen uns, baß die kleine Partei, welche Baron Blome
vertritt, so weit herunter gediehen ist, daß sie sich bei Nichiparteigenossen Weis¬
heit borge», und daß sie versuchen muß, statt mit Beweisen mit Grobheiten
ihre Position zu vertheidigen.
Was der Herr Baron übrigens mit seinen Primvgcniturstatut meint, ist
uns völlig unklar, und selbst von Leuten, welche die Geschichte der Herzog-
thümer und ihres Fürstenhauses bis ins Detail kennen, war Aufklärung dieses
dunkeln Punktes nicht zu erlangen. Es wäre darum schön, wenn der Baron
die Gnade hätte, der Well darüber in seinem Hamburger Moniteur eine recht
hellbrennende Kerze anzuzünden. Aber mit artiger Manier, bitten wir,' und
nichts mehr von „des Augustenburgers". Wir würden andernfalls nur in der
Meinung bestärkt werden, daß es mit der Diplomatie des Herrn v. Hciligcn-
stetten zu Ende geht und daß auch sehr vornehme Leute ungezogen sein könne».
Die Holsteiner aber würden dann noch mitleidiger als jetzt bereits geschieht,
die Achseln zucken und, noch fester überzeugt davon, daß diese feudale Clique
ihre Rolle ausgespielt hat, die ferneren Kundgebungen derselben mit dem Spruch:
„Lasset die Todten ihre Todten begraben" als fortan nicht mehr beachtenswerth
ansehen.
In Betreff der übrigen Fehlenden müssen wir kürzer sein. Reventlvw-
Farve hat wohl nur aus Eigensinn und Vcrfahrenheit noch nicht ins rechte
Lager zu gelangen vermocht. Brvckdorff-Ahlefeldt, wohlgesinnt, war durch Krank¬
heit am Erscheinen verhindert. Reventlow-Jersbcck und Baudissin-Borstel schwan¬
ken (an Scheel-Plessenö Leine), doch beide, wenn ich recht hörte, mehr nach
der Seite der Gerechtigkeit. Mahner-Saldern, ein Junker reinsten Wassers,
hatte sich zwar in Kiel eingefunden, aber nur, um auf dem Perron des Bahn¬
hofs Versuche anzustellen, ob nicht einer seiner Bekannten sich von der Theil¬
nahme an der Bersammlnng abreden lassen möchte. Pastor Bröcker, einer der
wenigen unpatrivtisch gesinnte» Geistlichen Holstein?, war nicht nur nicht ge¬
kommen, sondern hatte auch nach Empfang der Einladung an seinen Stellver-
treter Thamscn, der mit den Vierzig gestimmt hätte, ein Schreiben abgehen
lassen, welches es vermuthlich absichtlich — ungewiß ließ, ob er nach Kiel rei¬
sen werde oder nicht, und so bewirkte, daß Thamse» zu Hause blieb. Hühner
Hadje endlich stand früher unter dem Einfluß Scheeis, des Exminisiers und
dänischen Satrapen in Pinneberg und wurde deshalb von den Kollegen einmal
übel behandelt. Ob er sich zu kommen schämte oder ob jener Einfluß von
Kopenhagen her fortwirkt, ist mir nicht bekannt, auch nicht von Wichtigkeit.
Der gewählte Ausschuß der holsteinischen Stände hatte beschlossen, die
Declaration vom S. April persönlich in London einzubringen und sich ferner
bereit erklärt, die Zustim mungs adresser, welche im Lande vorbereitet
wurden, anzunehmen. Eine solche Zustimmungserklärung erging zunächst von
der Universität. Das akademische Konsistorium (Senat) zu Kiel beschloß
schon am 6. April einstimmig, „als gesetzliche Vertretung der Schleswig-holstei-
nischen Landesuniversität" der „hohen Ständeversammlung" (die Universität
sieht also in der Zusammenkunft vom 5. nicht etwa blos eine private Bespre¬
chung einer Anzahl von Mitgliedern der Stände, sondern die Stände selbst)
seinen Dank und seine Zustimmung zu den gefaßten Beschlüssen ausdrücklich zu
erkennen zu geben und diese Zustimmungserklärung dem Ausschusse mit der
Bitte zu überreichen, von derselben an geeigneter Stelle Gebrauch zu machen.
Tags darauf fand in Neumünster eine Versammlung der holsteinischen
Geistlichkeit statt, zu der sich circa sechzig Pröpste und Pastoren eingestellt
hatten, und welche „durchdrungen von der Ueberzeugung, daß nurdurch Gewährung
und Durchführung des vollen Rechtes der Herzogthümer Schleswig-Holstein ein
dauernder Friede herzustellen sei," und „im Verfolg der unterm 13. Januar
von 115 holsteinischen Geistlichen an die Bundesversammlung beschafften Ein¬
gabe" ein Schriftstück unterzeichneten, , in welchem sie den am 5. April zu Kiel
von den Ständen gefaßten Beschlüssen ihre „volle und unumwundene Zustim-
mung" erklärten und den gemahlten Ausschuß ersuchten, diese Erklärung ge¬
eigneten Ortes zur Geltung zu bringen. Der Bischof des Landes, Herr Koopmann
konnte, durch Amtsgeschäfte abgehalten, erst nach Schluß der Berathung ein¬
treffen, trat aber dann, als neuerdings von der Güte der'durch die patriotische
Partei vertretenen Sache Ueberzeugtcr, der Erklärung der Amtsbruder durch
seine Unterschrift bei.
Wie die Universität und die Geistlichkeit, so regen sich auch die Lehrer
Holsteins, und es läuft eine Adresse zur Unterschrift um, in welcher dieselben
erklären, daß „das ganze Volk, mit Ausnahme einiger meist nicht zurechnungs¬
fähiger oder durch Privatinteressen bestimmter Individuen" in der Declaration
der Abgeordneten vom 3. April „den Ausdruck seines Rechtes findet, und seines
Willens, dieses Recht, wofür auch das' ganze deutsche Volk einsteht, nimmer
aufzugeben." Wie man vernimmt, ist dieses Schriftstück bereits mit zahlreichen
Unterschriften bedeckt.
Von ganz besonderer Wichtigkeit wird endlich der Städtetag sein, wel¬
cher, wie ich höre, nächsten Montag stattfinden wird. Die städtischen Collegicn
Kiels nämlich haben in einer Versammlung, die vor acht Tagen abgehalten
wurde, den, wie mir scheint, sehr praktischen Beschluß gefaßt, an sämmtliche
Communcvertretungen Holsteins (Magistrate und Deputirteucollegien) die Auf¬
forderung ergehen zu lassen, sich am gedachten Tage in Neumünster zu einer
gemeinschaftlichen Berathung einzufinden, um ihre Zustimmung zu der Decla-
ration der Stände in einer Adresse zu erklären, welche dem Ausschuß der Vier¬
zig zu geeignetem Gebrauch übergeben werden soll. Kein Zweifel, daß auch
diese Aufforderung von bestem Erfolg sein wird. Zwar sind in einigen Orten
manche Magistratsstellen noch mit Individuen besetzt, die wo nicht dänisch, doch
unpatriotisch gesinnt sind. In Rendsburg hat der Bürgermeister Wriett sich
geweigert, zu dem angegebenen Zweck eine Versammlung zu berufen. In Plon
sitzt — in der That, sitzen scheint hier das rechte Wort — an der Spitze der
Geschäfte ein gewisser Mordhorst, „träg, gleichgiltig, ein gesinnungsloser Gal¬
lert", wie man mir ihn charakterisierte. Auch in Oldesloe, wo ein Herr Wolf¬
hagen regiert, soll nicht viel guter Wille sein. Doch werden solche Ausnahmen
die Regel nicht sehr stören, und in Rendsburg herrscht in der Bürgerschaft und
im Deputirtencollegium die patriotische Gesinnung beinahe allenthalben.
Viel wird zu einem vollständigen Gelingen des zunächst Beabsichtigten die
Localpressc beitragen, welche sich jetzt si.cißig zu rühren und in gutgeschriebenen
populären Aufsätzen auch den zum großen Theil noch gleichgiltigen kleinen
Mann, den Bauerund Kleinstädter der entlegnen Districte auf sein Recht, welches
zugleich sein Interesse ist, aufmerksam zu machen beginnt. Sehr gute Wirkung
kann und wird endlich die große Volksversammlung thun, welche die schleswig-
holstcinischen Vereine für eine der nächsten Wochen vorbereiten. Mit einem
Worten es ist wieder Plan und Leben in die Sache gekommen, und wenn
Preußen und Frankreich es irgend ernstlich mit der Volksabstimmung meinen,
so wird dieselbe, durch dieses Vorspiel organisirt, ein Resultat geben, wie man
sichs, wenn man nicht mit Idealen, sondern mit irdischen Möglichkeiten rechnet,
nicht viel glänzender wünschen kann.
Mit größern Schwierigkeiten hat Schleswig zu kämpfen, doch scheint wenigstens
Preußen der Bewegung, die auch hier immer weitere Kreise ergreift und sich
zu äußern nöthigt, mehr ein finsteres Gesicht zu machen, als sie ernstlich hemmen
zu wollen. '
Die große Versammlung, die vorgestern in der Stadt Schleswig statt¬
finden sollte, wurde allerdings untersagt. Dieselbe hatte den Zweck, zu berathen,
wie man sich den Holsteinern in ihrer Kundgebung gegenüber dem Congreß am
geeignetsten anschließen könne, und darauf hin einen Beschluß zu fassen. Es
waren circa 260 angesehene Patrioten aus den verschiedensten Theilen des
Landes erschienen. Inzwischen aber hatten die Civilcommissäre den dortigen
Behörden die sehr energisch abgefaßte Weisung zugehen lassen, die Zusammen¬
kunft zu verhindern, weil sie als Stimme des ganzen Herzogthums auftrete
und so der definitiven Entscheidung vorzugreifen Miene mache. Sollte sie
dennoch stattfinden, so würden Mittel ergriffen werden, welche dem gegen¬
wärtigen Kriegszustande entsprächen. Schriftliche Kundgebungen dessen, was
man wünsche, zur Einrcichung an die competenten Stellen seien unverwehrt.
Privatim wurde noch mitgetheilt, Berathungen mit einer kleineren Zahl von
Theilnehmern stände nichts im Wege. Man wird nicht irren, wenn man hinter
dem Verbot den östreichischen, hinter der Milderung den preußischen Civil-
commissär stehen zu sehen meint, und dieselbe Vermuthung wird in Betreff der
hier soeben bekannt werdenden zweiten Weisung an die Beamten Schleswigs
gestattet sein, durch welche denselben unter Androhung sofortiger Entlassung unter¬
sagt wurde, sich am Ständctage in Neumünster zu betheiligen, und der wieder der
Wink folgte, es sei ihnen unbenommen, sich gegenüber den Cvmmissävcn zu äußern,
Solche Berathungen fanden dann statt, und man einigte sich, in denselben
dahin, es sollte ein Ausschuß von 40—SO Personen aus der Mitte der Er¬
schienenen gebildet und bevollmächtigt werden, aus dem ganzen Herzogthum
eine Anzahl angesehner Personen zu bestimmen, welche als Notabeln betrachtet
werden sollen, und unter die auch solche zu nehmen sein würden, welche in
Schleswig nicht erschienen. Diesen solle dann eine Erklärung zur Zustimmung
und Unterschrift vorgelegt werden, die fast wörtlich mit der zusammentrifft,
welche die Stände Holsteins am 5. April beschlossen haben. Näheres vermochte
ich bis jetzt mit Bestimmtheit nicht zu erfahren. Doch verlautet noch Folgendes:
Es sollen 90 von jenen Notabeln zusammentreten, welche die jetzt bekanntlich
durch Mandatnicderlegung von Seiten der Majorität quiescirte fchleswigfche
Ständeversammlung in gewissem Maß zu ersetzen hätten, und von denen sich
vorläufig vierzig constituirt haben. Aus diesen Notabeln soll ein Ausschuß
hervorgehen, der aus drei Personen zu bestehen und sich mit dem Ausschuß der
holsteinischen Stände in Verbindung zu setzen hätte.
Die beabsichtigte große Volksversammlung, die wahrscheinlich in Rendsburg
zusammenkommen wird, kann auch für Schleswig von guten Folgen sein.
Uebrigens rührt sichs da in vielen Gegenden fast kräftiger als in manchen
Strichen Holsteins. Sehr gut sind die Eiderstedtcr und die Nordfricscn über
die Sache klar, wenn auch vielfach noch etwas ängstlich die von Natur schon
scheuen und bedächtigen Angler. In Nordschleswig dagegen herrscht noch viel
Gleichgiltigkeit und noch mehr die von den zurückgebliebenen dänischen Beamten
genährte Meinung, daß es doch im Wesentlichen beim Alten bleiben, und daß
man sich in Gefahr bringen würde, wenn man jetzt mit seiner wahren Ansicht
herausgehen wollte.
Daß der Norden Schleswigs nicht vom Süden getrennt werden will, ist
ebenso gewiß, als daß sein materielles Wohlbefinden seine Hauptwurzeln in der
Verbindung mit Südschleswig, Holstein und Hamburg hat. Stellt man ihm
bei einer etwaigen Abstimmung die Frage etwa so: Wollt ihr mit Südschleswig
und Holstein zusammenbleiben, auch wenn diese sich für Trennung von Däne¬
mark entscheiden? so kann man eines fast einstimmigen Ja ziemlich sicher sein.
Mit viel weniger Zuversicht wäre ein uns günstiges Votum zu erwarten, wenn
man den Leuten die Frage vorlegte: Wollt ihr den Augustenburger oder den
Glücksbnrger. Friedrich oder Christian? Ein ganz bestimmtes Nein aber würde
man von der Majorität der Nordschleswiger zur Antwort bekommen, wenn
Voreiligkeit und Unkenntniß eine Abstimmung für Anschluß an Deutschland
veranlassen wollte. Der Südjüte ist kein Liebhaber von Krieg und Soldaten.
Er glaubt zu wissen, daß wenn er zu Deutschland kommen sollte, seine Söhne
nach Ungarn und Polen und wo sonst noch alles hin in deu Krieg ziehen
müssen, wie jetzt aus Ungarn und Polen und wo sonst noch her Soldaten nach
Nordschleswig geschickt worden sind. Die guten Leute wollen daher mit Vor¬
sicht und Geduld behandelt sein. Doch ist an ihnen nicht zu verzweifeln, und
mit der Zeit brechen wir auch hier Rosen.
Unter dem 4. d. M. sagten wir, daß die Arbeiten vor Düppel den Ein¬
druck machten, als wenn man immer noch nicht an die schließliche Erstürmung
der dortigen Schanzen dächte. Diese Ansicht hat ihre Bestätigung gesunden in
der Mittheilung der Köln. Zeit, über den Versuch bei Ballegaard mit 3 Bri¬
gaden, also mit 18 Bataillonen nach der Insel Alsen überzugehen. Das
Unternehmen ist im ersten Beginnen gescheitert'; zum Glück für die betheiligten
Truppen, denn ein Gelingen konnte zu den Unmöglichkeiten gerechnet werden;
jedes spätere Scheitern aber führte große Verluste herbei. Unmöglich erachten
wir das Unternehmen: 1) weil es davon abhing, daß es nicht verrathen
wurde und dies konnte bei der Größe der Vorbereitungen im feindlichen Lande
und bei der guten dänischen Spionage nicht erwartet werden; 2) weit man
Flußboote (die Pontons) zur Fahrt auf dem Meere bestimmt hatte; 3) weil
die Dänen noch das Meer beherrschen und die Panzerschiffe trotz der SO am
Ufer ausgestellten Geschütze die Boote überfahren konnten; 4) weit selbst nach
glücklich erfolgten Uebergang nur wenige Truppen das Landen hindern konnten;
und endlich 5) weil diese Bataillone keine solche Macht bildeten, welche den
nach Besetzung der Mppelcr Schanzen noch disponibeln Dänen unter allen
Umstanden gewachsen waren, sie also abgeschnitten von allen Hilfsquellen, in
jetziger Jahreszeit sich nicht lange halten konnten.
Solche Pläne sind mit gewissen alten unumstößlichen Wahrheiten des mi¬
litärischen ABC nicht vereinbar. Man darf kühn sein, aber nicht tollkühn.
Will man 18,000 Menschen riskiren, wie hier geschehen, um die Dänen aus
Alsen zu vertreiben, so demonstrirc man einen Uebergang und stürme nach
gründlicher Borbereitung und nach einer energischen Beschießung kühn die
Schanzen, dann gewinnt die preußische Armee nicht nur Düppel, sondern auch
Alsen und was mehr werth ist als das, Ehre. Die ganze Welt fordert jetzt
einen wirklicher? kriegerischen Act, damit sie Vertrauen zu Preußens Kraft fassen
könne. Was bisher geschehen ist, läßt nur Schwäche, trotz des guten Mate¬
rials vermuthen.
Wir haben wiederholt in der Zeitung gelesen, daß Generallieutenant Hin-
dersin, Inspecteur in der Artillerie, von Berlin zur Armee abgegangen sei;
sollte er hingeschickt sein, um die Belagerung mit dem gleichzeitig nachgesandten
Artilleriematerial zu fördern? Hält man in Berlin einen Wechsel der Personen
auf dein Kriegsschauplatz für nothwendig, dann scheint es rathsamer, damit von
Oben anzufangen"). Warum die Angelegenheiten in Schleswig nicht vorwärts
gehen, wollen wir, unsere frühern Besprechungen fortsetzend, rin Folgenden
klarzulegen versuche».
In unserer Mittheilung über die Gefechte war die Ansicht ausgesprochen, daß
das Hervortreten der Belagerungen in den Kriegen ein Beweis der Schwäche
') Wir bescheiden uns, den Erfolg nicht als allein giltige und entscheidende Rechtfertigung
eines militärischen Unternehmens anzurufen, obwohl gerade im Kriege bekanntlich der Schritt
von der Kugel für den ungehorsamen General bis zum Thereflenkreuze ein sehr geringer und
lediglich durch den Erfolg bemessener ist. Wenn aber, wie hier, ein sicherer Erfolg außer der
Berechnung lag. ein Erfolg überhaupt nur unter außerordentlich großen, wahrscheinlich
unverhäitmßmäßigc» Verlusten zu erwarte» stand, die Lage vor Düppel aber offenbar ein
Unternehmen der Verzweiflung nicht rechtfertigt, dann werden die wachgerufenen Bedenken gegen
die Zweckmäßigkeit der Oberleitung in sehr ernster Weise gesteigert.
Uebrigens ist nach allen Nachrichte» das ganze Unternehme», abgesehen von seiner innern
Opportunität, wieder mit jener Schnelligkeit und Sicherheit vorbereitet, die für die Vortreff-
lichkeit des Materials vom Generalstab bis zum einzelnen Grenadier ein vollgiltiges Zeugniß
ablegen. Um so mehr rechtfertigt sich das Bedauern, daß alle diese Kräfte nutzlos verwendet
sind, während die zum Stillschweige» verurtheilte» fünfzig Kanonen in der Parallele vor
Düppel eine gute, wie scheint nöthige Verwendung finden konnte» , und während die 16—18000
Man» I»fa»terie, wenn augenblicklich nicht verwendbar, doch schwerlich eines Uebungsmarschcs
nach Sandberg hin bedürftig erschienen. Der angebornen Farbe der Entschließung ist des
Gedankens Blässe angekränkelt.
der kriegführenden Parteien sei. Diese Schwäche wird hervorgebracht entweder
durch ungenügende Gesammtkraft eines Landes, oder durch den mangelnden
Thatendrang des Feldherrn, oder aber durch den politischen Gedanken, welcher
dem Kriege zum Grunde liegt. So hat Dänemark sich gegen die übermäch¬
tigen Deutschen hinter Befestigungen zurückgezogen; so hat Belgien, das im
Kampfe mit seinen Nachbarn stets die Minderzahl des Heeres auf seiner Seite
haben muß, in die Festung Antwerpen den Schwerpunkt seiner ganzen Macht
gelegt; so haben Volksheere, wie z. B. die Spanier gegen Napoleon den Er¬
sten, die Niederländer gegen Philipp den Zweiten, sich stets vor den wohl-
organisirten Heeren ihrer Gegner in Festungen oder befestigte Städte zurück¬
gezogen. Ebenso treten in Amerika nach den blutigen Schlachten mit den ersterben¬
den Kräften der Confvderirtcn jetzt die Städtevertheidigungen in den Vordergrund.
Die Schwäche der Feldherrn hat vor Düppel wie vor Sewastopol die
Armeen in lange Belagerungen statt in einen frisch unternommenen, aber wohl
überlegten Sturm verwickelt. So sind Düppel und Sebastopol aus Ver¬
schanzungen erst Festungen geworden. Der Entschluß eine Schlacht zu schlagen,
concentrirt das Geschick der Heere und Länder in die Handlungen weniger
Stunden und macht die Zukunft ganz von dem Feldherrn abhängig. Eine Be¬
lagerung aber umfaßt einen Zeitraum von Monaten, wälzt die Verantwortung
der Erfolge auf eine Menge untergeordneter Schultern und hat doch den An¬
strich eines großen Unternehmens. Die Schlacht rechtfertigt sich erst in
dem Erfolge, die Belagerung aber vorweg in der Bedeutung der Festung in.
Dies Verhältniß ist es, was vor allen andern Dingen schwache Feldherrn in
und vor Festungen führt.
Nichts macht aber den Feldherrn und die Kriegführung schwächer als die
Kleinheit des politischen Gedankens, welcher dem Kriege zum Grunde liegt.
Je weniger es die Absicht ist, die feindlich gegenüberstehende Macht zu ver¬
nichten, desto weniger Mittel werden angewandt, desto schwächer sind die
Heere, welche auftreten, desto geringer sind die Resultate, welche man zu er¬
ringen sucht, desto kleinerer Resultate bedarf man auch, um den eigenen Wil¬
len durchzusetzen. — So war der 18S4 begonnene Krieg der Engländer und
Franzosen gegen die Russen durchaus nicht unternommen, um diese gänzlich
niederzuwerfen, sondern nur um Kaiser Nikolaus abzuhalten. Eroberungen in
der Türkei zu machen. Deshalb packte man nicht das russische Heer, wo es
sich fand, sondern suchte einen isolirten Punkt, Sebastopol, aus, der als be¬
deutendste Seestation die Aussicht bot, hoch im Preise zu stehen und bei dem
Streit den Ausschlag zu geben. Nur die Schwäche der ersten Führer und das
Bedürfniß Napoleons, unter allen Umständen Ruhm zu ernten, ließ den Ver¬
lauf der Belagerung zu einem großen Krieg ausarten. — Im Jahre 18S9
War Napoleon weit davon entfernt, sich in einen Kampf um die Existenz Oestreichs
einlassen zu wollen, er wollte sich selbst Ruhm schaffen, dazu war die Unter¬
stützung Italiens und die Nuhmescrhöhung seines Landes und seiner Armee
nothwendig. Die raschen und glänzenden Siege bei Magcnta und Solferino
genügten diesem Zweck. Deshalb und nicht aus Sorge vor dem vielverschriee-
nen Festuugsviereckc machte Napoleon der Dritte am Mincio Halt. Oestreich
konnte er ohne die Einnahme der Festungen zum Frieden zwingen, wenn er,
wie sein großer Dnkel bewiesen, seine Siege nach Deutschland hineintrug, vor
den Festungen aber die sardinische Armee und die verschiedenen italienischen
Neuformationen zurückließ. Ein Krieg nach Deutschland hinein hatte aber zu
viele Consequenzen und forderte sehr viel mehr eigne Anstrengungen als der
französische Kaiser an die Sache wenden wollte. —
Der jetzige Krieg in Schleswig ist ebenfalls nicht unternommen, um
Dänemark niederzuwerfen oder selbst zu schwächen, er sollte nur einen Druck
auf seine Politik ausüben. Daran leidet der ganze Krieg. Anfangs hatte
man erwartet, daß Dänemark einfach Schleswig wie Holstein räumen würde.
Das wäre seinerseits auch entschieden das Klügere gewesen. Als die Dänen zum
„Staunen" des Prinzen Friedrich Karl Stand hielten, wie er von Missuude meldet,
entzog man sich dem großen Gefecht und drückte mit der Uebermacht durch eine
weite Umgehung aus den Gegner. Die Dänen zogen ab, die Verbündeten folgten
und sandten nach einigen Tagen Patrouillen gegen Düppel, ob der Feind nun nicht
Schleswig geräumt hätte. Er hielt wieder Stand. Die Umgehung war hier schwie¬
riger und wollte man ein Resultat, mußte man den Feind hinter, seinen Schan¬
zen aufsuchen. Man entschloß sich zu einer Belagerung und begann jetzt erst
diejenigen Mittel zu sammeln, und zu beschaffen, welche hierzu nothwendig
sind; so entstand eine Unterbrechung des Krieges, welche an sich nicht noth¬
wendig war. — Noch viel mehr, wie bei der Landarmee tritt die Kleinheit der
politischen Motive, welche zum jetzigen Kriege führte», bei der Marine hervor,
von der man Anfangs ganz abgesehen hatte und deren vollste Bereitschaft bei
einem wirklichen Kriege gegen ni«e Seemacht und ein Jnselvolk natürlich eine
erste Bedingung gewesen wäre.
In Schleswig tritt das politische Element aber noch in anderer Weise
hervor. Wenn auch die Oestreicher in ihren Gefechten eine große Entschieden¬
heit entwickelten, so zeigen sie doch für die großen Schritte des Krieges keinerlei
drängendes Element, hier tritt Preußen in den Vordergrund, in der Umgehung
des Danncwerts, im Einrücken in Fiensburg, im Vorgehen gegen Düppel,
im Einmarsch in Jütland und schließlich im Berennen von Fridericia; und
zwar deshalb, weil Preußen überhaupt mehr inneres Interesse am Kriege hat
als Oestreich.
So verwebt sich Politik und Kriegführung unaufhörlich ineinander und
Clausewitz sagt mit Recht, der Krieg ist nur eine Fortsetzung der Politik mit
andern Mitteln. Deshalb haben aber auch die Politiker Unrecht, welche, wie wir
mehrfach in den Zeitungen gelesen haln'n. behaupten, daß aus den Kriegen des
letzten Jahrzehnts hervorgehe, wie die Festungen durch die neue Bewaffnung ze.
ein Bedeutung gewonnen hätten. Richtig ist. daß die Festungen in der Neuzeit
mehr hervorgetreten sind als früher. Aber nur weil die Politik dieser Kriege
schwach war. Je entschiedener und größer die politischen Ziele sind, desto leichter
'se eine energische Kriegführung möglich. Je entschiedener aber der Krieg, desto
mehr Schlacht und desto weniger Belagerungen.
Ein unbekannter Gönner d. Bl. schreibt uns (das Postzeichcn scheint Frank¬
furt zu sein) Folgendes über den Hauptinhalt der Depesche, durch welche die
Preußischen Gesandten bei den Bundesregierungen angewiesen werden, letzteren
die Beschickung der Conferenz zu empfehlen, und welche beiläufig ihren Zweck
erreicht zu haben scheint, indem jetzt nur Bayern noch gegen die Beschickung
sein soll.
Die Depesche ist vom 29. März datirt und sagt nach einem Ueberblick
über den Gang des Conferenzprojects, England habe, indem es die von Däne¬
mark vorgeschlagene Basis der Abmachungen von 1851 und 1852 fallen gelassen,
in richtiger Würdigung der Verhältnisse gehandelt; denn Preußen und Oestreich
hätten diese Abmachungen weder als Basis noch als Ausgangspunkt einer
Conferenz annehmen können, indem sie sofort nach Eintreten der kriegerischen
Maßnahmen und später wiederholt erklärt halten, daß diese Verabredungen
nunmehr hinfällig seien. Dänemark habe auf das Unzweideutigste gezeigt, daß
es auch ferner nur durch Zwang und Gewalt zur Erfüllung jener Uebereinkünfte
angehalten werden könnte" und weder die Pflichten gegen das eigne Land noch
die gegen Deutschland erlaubten, einen Zustand herzustellen, der sich als un¬
haltbar erwiesen habe und dessen Aufrechthaltung stets von Neuem nöthigen
würde, Opfer zu bringen, „ohne für dieselben irgendeine Kompen¬
sation zu erhalten/' Es liege im Interesse des allgemeinen Friedens selbst,
an die Stelle dieses unhaltbaren Zustandes, an welchen man sich früher habe
gebunden halten müssen, von welchem Preußen aber durch Dänemark entbunden
worden sei. einen naturgemäßen zu setze», welcher die Bürgschaften seines Be¬
stehens in sich selber trage. Aufgabe der von England angeregten Conferenz
sei. die Mittel hierzu zu finden und so einen dauernden Frieden zu begründen,
und zwar sei dies die alleinige Aufgabe derselben. Nur zu diesem Zweck könne
Preußen sie annehmen.
Dann sagt H^r. v. Bismarck weiter- der deutsche Bund befinde sich in
gleicher Lage wie Preußen. Hoar habe derselbe an den auf internationalem
Rechte basirten Maßregeln der beiden Großmächte bezüglich Schleswigs sich
noch nicht betheiligt, aber er könne jeden Augenblick in den Fall kommen. wie
in Holstein seine l'undesrechtlichc Competenz.'so auch seine internationalen An¬
sprüche zwangsweise geltend zu machen. Auch in seinem Interesse liege es
daher, die Gefahren zu entfernen, welche aus einer Fortdauer der bisherigen
Zustände immer von neuem entspringen müßten, und nicht minder entspreche
es seinem Interesse, daß die neu zu begründenden Verhältnisse eine völkerrecht¬
liche Sanction erhalten, wie sie die vorgeschlagene Konferenz bezwecke.
„Die speciell bundesrcchtlicbe Competenz in Betreff des Bundeslandes
Holstein/' fährt die Depesche fort, „wird dadurch nicht berührt, bleibt vielmehr
auf jede Weise vorbehalten. Aber der Bund hat es zu jeder Zeit anerkannt,
daß seine Rechte auf Schleswig internationaler Art seien und einer internatio¬
nalen Behandlung sich nicht entziehen."
Dann heißt es gegen den Schluß und dies ist die bedeutsamste Stelle der
Depesche:
„Wir sind überzeugt, daß unsre deutschen Bundesgenossen von der Noth¬
wendigkeit ihrer Theilnahme an den bevorstehenden Verhandlungen durchdrungen
sein werden, und wir können auf Seite des Bundes keinen Grund auffinden,
weshalb er seine Mitwirkung zu Berathungen versagen sollte, welche den von
der einladenden Macht ausgesprochenen Zweck verfolgen. Auch der Umstand,
daß der deutsche Bund dem l on d oner Ver trag von 1832 nicht bei-
getreten ist, während die übrigen Theilnehmer der Konferenz zu
den ursprünglichen Unterzeichnern desselben gehören, wird den
Bund nicht verhindern können, da der Vertrag in der Einladung
gar nicht berührt ist und eine Berathung des Bundes mit den
dabei betheiligten Mächten keine Folgerungen über eine Aner¬
kennung desselben zuläßt. Die Herstellung des Friedens, die Verhütung
weiterer Complicationen, die Vermeidung fernerer größerer Opfer, endlich die
Gewinnung eines Zustandes, bei'welchem alle Rechte und Jnter-
essen Deutschlands und der Herzogthümer (auch das durch das lon¬
doner Protokoll umgestoßene aus einen eigenen Fürsten? — im Fall dies zu
bejahen, träte Preußen von dem Protokoll zurück) vollständig ge¬
wahrt und für die Zukunft gesichert werden, sind Zwecke, zu deren
Erreichung mitzuwirken jede Macht.' und vor allem der Bund, als eine Pflicht
anerkennen muß. Diejenige Negierung würde eine schwere Verantwortung auf
sich nehmen, welche einen dazu dargebotenen Ausweg von vornherein von sich
weisen wollte.
Wir glauben, daß der Bund ebensowenig wie wir selbst und Oestreich die
von Dänemark vorgcschlagne Basis auch nur als Ausgangspunkt der Berathungen
hätte annehmen können. Aber wir zweifeln nicht, daß der Bund ebenso wie
wir selbst und Oestreich die von England ohne eine solche Basis ergangne
Einladung zu Berathungen über die Mittel zur Herstellung des Friedens, wo¬
durch keine Verpflichtung für irgendeine bestimmte Lösung im
Voraus übernommen wird, als annehmbar anerkennen und der Einladung
entsprechen werde." —
„Wenn die Bundesversammlung zunächst im Princip ihre Theilnahme zu¬
sagt, und demgemäß die englische Note beantworten läßt, so wird die Form, in
welcher der Bund auf der Conferenz zu vertreten sein wird, Gegenstand weiterer
Berathung sein können."
Aus dem Schluß dieser preußischen Note ergiebt sich, daß die östreichischen
Gesandten bei den einzelnen Bundesregierungen „in entsprechender Weise" in-
struirt sind. *
Aus Berlin erfährt man noch, daß der König sich wiederholt gegen das
Princip der Integrität der dänischen Monarchie als ein gegen die Legitimität
und insofern auch gegen Preußen gerichtetes ausgesprochen hat.
Die kürzlich erschienenen englischen Blaubücher über die deutsch-dänische Frage
haben ihre Wichtigkeit als Diplomatenschreck von neuem bewährt. Diesmal
ist es Deutschland, welches die Kosten der Ernüchterung trägt, die sie hervor¬
bringen. Aber der Weise soll nicht vergessen, daß eine aufgegebene Täuschung
denselben Werth für uns hat, wie eine gefundene Wahrheit.
Den öffentlichen Kundgebungen in der Schleswig-holsteinischen Angelegen¬
heit lagen zum Theil solche Täuschungen zu Grunde. Wenigstens da war es
der Fall, wo die Demonstrationen des Volkes von der xetitio xrineiM aus¬
gingen, daß es doch die Absicht aller deutschen Regierungen sei, in dieser hoch¬
wichtigen deutschen Frage zunächst deutsch zu handeln. Indeß, wir sind an
mehren Stellen eines Andern belehrt worden. Die Wege der Diplomatie
sind höher als die Wege der Volksmeinung und es ist in alle Wege gut gethan,
sich bei den Anforderungen an die Areopage politischer Weisheit gewisser elemen¬
tarischer Voraussetzungen zu entschlagen, welche dem Maße des ordinären Unter¬
thanenverstandes entnommen sind. Gerade darum aber ist es lehrreich wahr¬
zunehmen, daß sich unter Umständen doch ein Urtheil gewinnen läßt über die
Logik und die Metaphysik der Cabinete. Diesen Fortschritt danken wir den
Blaubüchern und wir sollen sie darum nicht scheel ansehen, daß sie uns so
manches Bittere bringen. Medicinisch wird dem Gerbestoff blutreinigende Wir¬
kung zugeschrieben, vielleicht ist es politisch auch der Fall.
Unter den Bundesmächten nimmt angesichts der Schleswig-holsteinischen
Frage das Königreich Hannover eine hervorragende Stellung ein. Nicht blos
weil seine Nachbarschaft mit Holstein ihm die gegenwärtige Angelegenheit wich¬
tiger macht als andern Staaten, noch auch deshalb allein, weil es durch die
Theilnahme seiner Truppen an der Execution persönlich engagirt ist, sondern
deshalb, weil es die ernstere Discussion der Schleswig-holsteinischen Frage am
Bunde hauptsächlich angeregt hat.
Wir geben nun im Nachfolgenden eine actenmäßige Analyse ^er hannöver-
schen Politik von dem Punkte aus, der durch die Specialeingabe des hannö-
verschen Gesandten vom 23. April 1863 bezeichnet ist, um dadurch eine
Charakteristik dieser Politik zu ermöglichen.
Der hannöversche Antrag verlangte, der Bund solle' erklären:
1) Die Proclamation der dänischen Ztegierung vom 30. März (Incorporation
Schleswigs) sei gesetzlich nichtig.
2) Die dänische Negierung sei aufzufordern, diese Proclamation zurück¬
zunehmen, und innerhalb sechs Monaten die Anzeige über eine endgiltige
Ordnung der Angelegenheit nach Maßgabe der Bundesbcschlüsse vom 11. Febr.
und 12. Aug. 1858 zu erstatten.
3) Daß die Gesetze und Verordnungen, welche von Seiten der dänischen
Negierung in Betreff Holsteins und Lauenburgs ergangen seien und in Wider¬
spruch stünden mit dem Bundcsbeschlusse vom 8. März 1860, gesetzlich null
und mehlig seien, und von der dänischen Regierung verlangt werde, daß sie bei
den Erwägungen einer endgiltigen Ordnung der Verfassung der Herzogthümer
die Nundesbeschlüsse vom 8- März 1860 und 7. Febr. 1861 innehatte. —
4) Hinsichtlich Schleswigs solle er feierlich gegen jeden Versuch protestiren,
dieses Herzogthum in Verfassung und Verwaltung der gemeinschaftlichen An¬
gelegenheiten von Holstein noch mehr zu trennen als durch die Arrangements
von 1851 und 1852 geschehen sei.
5) Er solle die vereinigten Ausschüsse für Holstein und den für die Exe-
cution auffordern, die Mittel in Erwägung zu ziehn und dann in Vorschlag
zu bringen, welche im Falle der Weigerung der dänischen Negierung anzuwenden
sein würden.
Graf Platen spricht bei Gelegenheit der Mittheilung dieses Actenstückes
dem englischen Gesandten Sir Henry Howard die Erwartung aus, er werde
den Geist der Mäßigung anerkennen, den sein Antrag athme, da die Erwähnung
der Bundesexccution vermieden sei. Andere deutsche Regierungen wären ge¬
neigt viel weiter zu gehen und die Wiederherstellung des Le-roh quo imo zu
verlangen, welcher die Union von Schleswig und Holstein einbcgreisen und die
durch den londoner Tractat herbeigeführte Ordnung der Succession in Frage
stellen würde. Er sei aber einem solchen Vernehmen in Rücksicht auf die zu
befürchtende Verwicklung durchaus entgegen. Sein Motiv bei dem Antrage sei,
die ^zecution so lange wie möglich hinzuhalten, damit Zeit gewonnen würde,
die Angelegenheit friedlich beizulegen. Es sollte damit also notorisch ein Ventil
auf dem kochenden Kessel der Bundestagsleidcnschaft angebracht werden.
Howard, der mit dieser Erklärung sehr zufrieden sein konnte, berichtet
indeß an seine Regierung, er habe dem Grafen Platen Mittheilung darüber
gemacht, mit welchem Ernste Lord Russell durch seinen Geschäftsträger in Frank¬
furt in die beiden deutschen Großmächte gedrungen sei, den Bund Von einem
Vorgange in der holsteinischen Execution abzuhalten, mit Rücksicht auf die
Gefahren, in welche der allgemeine europäische Frieden dadurch gebracht werden
Würde. Ebenso habe er ihm Lord Nussells Meinung noch direct ausgesprochen
und die Zusicherung erhalten, dieselbe würde die zarteste Rücksicht erfahren.
„Zu gleicher Zeit" — schreibt Howard — „erinnerte ich den Grafen Platen,
daß er sich in unsern Unterhaltungen immer für die Vermeidung einer Exe¬
kution ausgesprochen habe. Darauf erwiederte er, es würde zwar unmöglich
fein mit derselben zurückzuhalten, falls der König von Dänemark die März¬
verfassung nicht aufhöbe; indessen gebe es ja verschiedene Wege zur Vollziehung
der Execution. Einer von diesen — und zwar derjenige, für welchen Graf
Platen, wie ich ihn verstehen mühte, eingenommen war — bestehe darin, daß
man einen Bundescommissar nach Holstein schicke, dein nur eine Escorte bei-
gegeben würde. Jedenfalls würde er, wenn die Execution nöthig befunden
werden sollte, sein Möglichstes thun, daß sie in einer Form geschähe, die keinen
Conflict herbeiführte.' Ich warf ein, daß bei der starken Empfindlichkeit,
die, in Dänemark gegen die Ansprüche Deutschlands herrsche, das Erscheinen
eines einzigen deutschen Soldaten in Holstein leicht zum Conflicte führen werde,
und daß dies darum besser zu verhüten sei. Se. Excellenz war jedoch der An¬
sicht, der König von Dänemark werde durch eine Execution, wie erste sich vor¬
stellte, nur zur Wiederaufnahme von Unterhandlungen bewogen werden. —
Es nimmt sich seltsam aus, wenn Graf Platen drei Wochen nach dieser
letzten Unterredung, in welcher er seinen Wunsch kundgegeben hatte, daß
die Frage ferner mit Sammthandschuhen statt mit Waffen angefaßt werden
möchte, plötzlich sich gegen Howard, der auf den wahrscheinliche» Widerstand
Dänemarks hinwies, ziemlich kriegerisch äußerte. Howard hatte dabei auf
die Versammlung von Schleswig-Holsteincrn angespielt, welche am 18. Juli in
Hamburg Resolutionen von sehr unbedachter Natur ausgesprochen habe. Platen
läugnete, daß dabei irgendwelche Personen von Bedeutung betheiligt gewesen
seien. Die Versammlung werde zum überwiegenden Theile aus Freunden des
Herzogs v. Augustenburg und aus Hamburgern bestanden haben.
Bis tief in den Herbst, als der Bundcsbeschluß zur Execution bereits große
Fortschritte gemacht hatte, blieb Platen bei dieser löblichen Haltung gegen die
Vorstellungen des englischen Geschäftsträgers, und lieh wiederholt die Be¬
merkung fallen, das „deutsche Volk" sei es müde, von Dänemark an der Nase
herumgeführt zu werden. Kopenhagen sei jetzt der Ort, wo das englische Cabinet
seine Friedensbemühungen anzubringen habe. Er konnte es indessen doch nicht
übers Herz bringen, Hrn. Howard anzudeuten, daß die Procedur zum Behuf
der Execution wenigstens zehn Wochen in Anspruch nehmen würde.
In der nächsten Zeit verkehrte Howard in gewohnter Zudringlichkeit mit
Hrn. Zimmermann, der denn auch nicht blöde gewesen zu sein scheint, den Eng¬
länder mit Notizen zu versehen, welche geeignet waren, ihn rücksichtlich der
Jmpetuosität des militärische Theils der Execution zu beruhigen. Howard
brachte später die von Lord Russell an den Bund gerichtete Vorstellung zu
Gunsten einer Hinausschiebung der Execution zur Sprache. Dies hatte wenigstens
den Erfolg, daß Zimmermann erklärte, er sei keineswegs blind gegen die Ge¬
fahren, welche die Execution möglicherweise auf sich habe, und er würde froh
sein, wenn man aus diese Art darum herum käme; aber das, wozu Dänemark
sich erboten habe, sei nur ein Zehntel von dem, was der Bund verlange.
Deshalb könne die hannöversche Regierung keine Suspension der Vollstreckung
anrathen, ohne sich selbst zu discreditiren. Das Misfallen, welches Zimmer¬
mann hinsichtlich der Anregung der schleswigschen Frage am Bunde aussprach,
entschädigte den englischen Gesandten einigermaßen.
Bei Herrn v. Campe, den er dann in Braunschweig heimsuchte, fand er
friedfertigere Ansichten und das artige Geständniß, daß in Fragen, wo die
deutschen Großmächte engagirt seien, die kleinen Mächte nichts weiter könnten
als ihnen Nachtreter.
Nun erfolgte der Tod Friedrichs des Siebenten. Howard machte daraus die
Nutzanwendung, daß in Rücksicht auf den Thronwechsel und die unzweifelhafte
friedfertige Gesinnung Christians des Neunten die Execution suspendirt werden
müsse. Graf Platen zeigte sich sehr empfänglich gegen diese Anschauungsweise,
welche die hannöversche Regierung dem Bunde empfehlen werde, unter der Be¬
dingung jedoch, daß König Christian die Sanction der Verfassung für Dänemark-
Schleswig nicht vollzöge. An der durch Anerkennung des londoner Trcictates
betreffs der Thronbesteigung des dänischen Königs eingegangenen Verpflichtung
werde Hannover festhalten.
Als einige Tage später Graf Platen sein Bedauern darüber aussprach,
daß König Christian die Verfassung doch vollzogen habe, bemühte sich Howard
ihm klar zu machen, daß die Drohung mit der Bundesexecution die Schuld
davon trüge. Diese habe das dänische Nationalgefühl beleidigt, dem sich der
König nicht habe widersetzen können. Da übrigens der Bund die Thronfolge
Christians voraussichtlich anerkennen werde, so bekäme eine Execution jetzt den
Charakter eines Angriffs auf die Integrität der Monarchie. Hinsichtlich der
„Prätensionen" des Erbprinzen von Augustenburg und der Zulassung des Ver¬
treters Christian des Neunten am Bunde gab Platen die beruhigende Versiche¬
rung, Hannover werde sich den Entschließungen Oestreichs und Preußens con-
form halten.
Noch entschiedener in diesem Sinne äußerte sich Platen kurz nachher: die
Execution müsse statthaben, aber aus dem Grunde, weil der Bund nur
dadurch, daß er die Sache energisch in seine Hand nehme, sie in
das richtige Geleis bringen und die populäre Bewegung in Deutsch¬
land abhalten könne, sich auf diesen Punkt zu richten. Die Bun¬
desexecution schlösse von selbst die Anerkennung der Rechte
Christian des Neunten auf die Herzogthümer in sich. — Uräus-
gefordert fügte Graf Platen hinzu, daß das Votum Hannovers
gegen die Anerkennung der Ansprüche des Prinzen von Augusten¬
burg abgegeben werden würde. Der König von Hannover habe
vom Prinzen die Anzeige seines Regierungsantritts in den
Herzogthümern, die er in Anspruch nehme, erhalten, aber es sei
keine Antwort darauf erfolgt.
Das war am 23. November, zwei Tage nach der ersten großen Volks¬
versammlung in Hannover zu Gunsten Schleswig-Holsteins, welche sich direct
an den König gewendet und sich am andern Tage durch eine gleichartige Pe¬
tition an die Regierung ergänzt hatte.
Howard hatte die Naivetät, in Rücksicht auf diese Kundgebungen dem
Grafen Platen vorzuschlagen, ,/er möge, da der Beitritt Hannovers zum lon¬
doner Tractat im Publicum gänzlich unbekannt zu sein scheine, die wohlmeinenden
Elemente durch diese Eröffnung von der Agitation abmahnen." Ein Rath, der,
wenn er nicht Ironie ist, einen rührenden Einblick in die unergründliche Tiefe
der Loyalität eines Engländers eröffnet. Graf Platen schien jedoch solchen
Glauben in Israel nicht gefunden zu haben. Er erwiderte, diese Mittheilung
werde die revolutionäre Ausartung der gegenwärtigen Agitation, die um jeden
Preis zu verhüten sei, nur beschleunigen. Er wisse allerdings nicht, welche
Antwort der König geben werde, wenn überhaupt eine erfolge, aber sie werde
sich sicherlich auf patriotische Gemeinplätze beschränken. Howard brachte darauf
seine englischen Anschauungen durch die Bemerkung wieder zu Ehren, daß er in
allen solchen Fällen die Vertuschung für gefährlicher halte als die Aufklärung.
Unterm 26. November berichtete dann Howard über die Antwort, welche
der König auf die bekannte Adresse in Herrenhausen ertheilt hatte. Sie war,
wie man sich erinnert, so nichtssagend und zugleich so vielseitig als sie nur
sein konnte, wenn es daraus ankam, eine Demonstration mit guten Worten ab¬
zuspeisen. Der König ließ es bei einer allgemeinen Versicherung seines Inter¬
esses für Schleswig-Holstein bewenden, nahm aber ausdrücklich und so, daß der¬
jenige Theil der Kundgebung, welcher die herkömmliche und stabile Floskel
bildete, zur Hauptsache wurde, von der emphatischen Loyalitätserklärung Act,
die in der Adresse gegeben war. Der auf diese Nebensache gelegte Ton half
die oberflächliche Berührung tragen, die der eigentlichen Frage und dem Gegen¬
stande der Petition zu Theil wurde. Howard merkt besonders an, daß der
König nur der Sucession in Holstein erwähnt, von seinem Verhältnisse zum lon¬
doner Tractat aber gänzlich geschwiegen habe.
Dabei erwähnt er, daß Graf Platen rücksichtlich der Aufforderungen zur
Geldsammlung und zu Rüstungen für Schleswig-Holstein, wie sie damals der
Nationalverein ins Leben rief, ihm die Versicherung gegeben habe, die hannö-
versche Regierung werde allen Werbungen und Waffensammlungen zu diesem
Zwecke entgegentreten. Die Betheuerung, am londoner Tractate festzuhalten,
ward bei dieser Gelegenheit erneuert, doch wurde hinzugefügt, daß man sich der
Verbindlichkeiten für ledig erachten werde, wenn Englands Einfluß es in Dä¬
nemark nicht dahin bringen sollte, daß der Artikel III. des Vertrags (die Ob¬
liegenheiten gegen Holstein und Lauenburg) erfüllt werde.
Howard imputirte dem Grafen auf diese Aeußerung eine Leichtfertigkeit
gegen die Verbindlichkeiten, die Hannover im Uebrigen aus seinen Beitritt zum
Tractate eingegangen sei und fiel auf die nach seiner Ansicht ebenfalls mindestens
unvorsichtige Aeußerung des Freiherrn v. Beust aus, der kein 'Recht gehabt
habe, in der sächsischen Kaminer zu erklären, die Regierung werde sich in der
Suecessionsfrage völlig frei entscheiden. Hinsichtlich dieses Punktes scheute sich
Graf Platen nicht, seinen Collegen durch die wiederholte Versicherung zu des-
avvuiren, Hannover werde sein Votum vertragsmäßig für die Rechte Christian
des Neunten geben. Sachsens hitzigen Vorschlag der „Occupation" Holsteins
theile Hannover nicht, Wohl aber sei es nichts desto weniger für eine sofortige Aus¬
führung der Execution unter Offenhaltung der Suecessionsfrage. Die Execution
sei correct entsprechend dem Bundcsbeschlusse vom 1. October, während »me
Occupation eine weit ernstere Maßregel sein würde. Er gefiel sich darin, her¬
vorzuheben, daß Hannover in dieser Beziehung am Bunde mit Preußen und
Oestreich conform handeln werde; es müsse freilich dahingestellt bleiben, in wie
weit „die drei Höfe" die Majorität erlangten. Die Ausführung der Execution
würde das beste Mittel sein eine ordnungsmäßige Behandlung der Angelegenheit
herbeizuführen. Sie sei daher ganz im Interesse König Christians, da sie das
Recht in den Herzogthümern zu wahren bestimmt und geeignet sei.'
Nach einer hingeworfenen Beschwerde darüber, daß man dem Prätendenten
von Augustenburg den Vortheil lasse, am Bunde durch den schon anderweit
beglaubigten badischen Gesandten vertreten zu sein, während König Christian
eines Wortführers entbehre, richtete er die Frage an Platen: ob die Execution
eingestellt werden würde, wenn die dänische Regierung vor der Erledigung der
Successionsfrage den deutschen Forderungen nachgäbe? Und Graf Platen ant¬
wortete mit einem Ja; denn, sagte er, die Execution sei gegen den Herrn
alö fg-ceo gerichtet.
Es war dem hannöverschen Ministerial-Ehrgefühle auch das nicht zu viel,
daß Howard einige Tage später die Zeitungsannonce denuncirte, in welcher
die Niedersetzung des göttinger Comites zur Sammlung an Beiträgen in Geld
und Material angezeigt war. Platen war sich nicht zu schlecht, dem unverschämten
Frager Auskunft darüber zu geben, daß man nur gegen wirkliche Werbebureaux,
nicht aber gegen bloße Subscriptionen einschreiten könne. Als Howard auch
an den Bestimmungen über die von Hannover aufzustellenden Ncservetruppen
herummäkelte, bedeutete ihn Graf Platen, dies geschähe zu dem Zweck, um
die Bildung von Freicorps mit einer respectabeln Truppenmenge verhindern
zu können!
Wenn wir auch — wozu wir aber durchaus kein Recht haben — annehmen
wollten, Graf Platen hätte dies geäußert blos um den englischen Gesandten
zu beschwichtigen, so ist das schon ein starkes Stück; aber ferner fragen wir:
was würde ein englischer Minister zur Antwort gegeben haben, wenn ihn der
Vertreter irgendwelcher auswärtigen Macht mit dergleichen Inquisitionen behelligt
hätte? Wir meinen, der Frager würde nachmals Gelegenheit gehabt haben,
über die Unannehmlichkeit nachzudenken, die es für solche Gäste hat, daß sich
die Sprechzimmer englischer Minister eine oder mehre Treppen hoch über dem
Niveau befinden, auf welches er sich mit einer gewissen Plötzlichkeit zurück¬
verseht gefühlt haben würde.
Daß Graf Platen die Ausschließung der Bevollmächtigten beider Präten¬
denten dem englischen Freunde als das beste Mittel zur Beruhigung der Ge¬
müther in Deutschland Pries und daß er ihm versicherte, er werde seinerseits
alle verzögernden Formalitäten in Obacht nehmen, ist nur Consequenz. Wovor
hätte sich der Herr Minister des Welfenreichö Hannover auch noch scheuen sollen?
Auf der andern Seite, müssen wir gestehen, fehlt es uns an dem richtigen
Namen für das Verhalten, welches Howard hier beobachtete, der in einem Athem
mit der Verhöhnung des „Schleswig-Holstein-F'icbers" sich dahin äußert, daß er
keineswegs der Ansicht sei, Dänemark habe seine Obliegenheiten erfüllt. Mit
Genugthuung erzählt er, wie Prinz Christian von Augustenburg, der einen
Brief seines Bruders des Herzogs Friedrich überbracht habe, am Hofe König
Georgs des Fünften abgeblitzt sei, und Se. Maj. dagegen die Anzeige von der
Thronbesteigung König Christian des Neunten durch ein, Privattelegramm er¬
wiedert habe, dem, wie er hoffe, eine officielle Antwort baldigst nachfolgen
werde. .
Die Anwesenheit des Herrn v. Könncritz in Hannover gab dem Grafen
Platen neue Gelegenheit, sich gegen Howard mit der Correctheit des Stand-
Punktes der hannöverschen Regierung rühmen zu können. Es muß freilich
dahingestellt bleiben, ob Gras Platen nicht übertrieben hat, wenn er ihm mit¬
theilte, daß er dem sächsischen Geschäftsträger eingeschärft habe, Hannover halte
daran fest, daß es dem londoner Tractat unbedingt und ohne Rücksicht auf die
Bestimmungen von 1831—52 beigetreten sei.
Die einzige Einschränkung bilde die Anspielung auf die Bundcsrcchte in
Holstein und Lauenburg nach dem Grundgesetz von 181S, welche Art. 3 des
Vertrages enthalte. Rücksichtlich des Umstandes, daß Hannover gegen den
östreichisch-preußischen Antrag auf Anerkennung eines dänischen Gesandten für
den König-Herzog von Lauenburg gestimmt habe, erhielt Howard die Auskunft:
Platen hielt es nicht für förderlich einen Bevollmächtigten für eine viertel oder
eine halbe Stimme anzunehmen; man wolle die ganze Entscheidung über die
dänischen Stimmführer bis nach Beantwortung der Successionsfrage vertagen.
Der englische Gesandte giebt darauf der hannöverschen Negierung das
Zeugniß einer Untadelhaftigkcit, die ihr niemand beneiden, die aber die deutsche
Nation in einem feinen Gedächtnisse bewahren wird.
Damals machte Howard wieder einen Ausflug nach Braunschweig; mußte
aber zu seinem Bedauern erfahren, daß Herr v. Campe mittlerweile in An¬
fechtung gefallen und infolge dessen die Instruction des braunschweigischen Bundes-
gcsandten bereits im Sinne der sächsischen Erklärung erfolgt war. Er versäumte
nicht, nochmals Vorstellungen zu machen, und erhielt Audienz beim Herzoge.
Dieser war artig genug, auf die Frage des Engländers zu äußern, daß, wenn
der londoner Tractat ihm vorgelegt worden und er beigetreten wäre, derselbe
auch von ihm beobachtet sein würde. Daß Howard dies nun nicht mehr gut
zu machende Versäumniß in einer Weise bedauert, welche merken läßt, daß
man dadurch die Eitelkeit des Herzogs verletzt haben möchte, ist seine Sache;
daß er aber die Erklärung desselben, er habe in diesem Punkte mit seiner Re¬
gierung und dem Wunsche seines Volkes im Einklang gehandelt, durch die Be¬
merkung paraphrasirt, die Vorstellungen, die er angebracht habe, würden dennoch
nicht verloren sein, ist eine Bemerkung, die einem Engländer seltsam zu Ge¬
sicht steht. Freilich hatte ihm der Herzog gesagt, er werde weder die Anzeige
Seitens Christian des Neunten noch die von Friedrich dem Achten mit einer
Antwort beehren!
Das hannoversche Gouvernement hatte die Genugthuung, am 4. December
eine sehr belobigende Censur von Lord Russell zu erhalten. Platen beeilte sich,
seinem allergnädigsten Herrn mit dieser Erquickung aufzuwarten: König und
Minister waren sehr erbaut davon.
Mitten in diese schöne Harmonie fuhr nun die identische Note Oestreichs
und Preußens an den Bund wie ein Hecht in den Karpfenteich; das Schreck¬
liche dabei war, wie Platen seinem englischen Freunde pünktlich zu verstehen
gab, daß Oestreich und Preußen durch ihren Antrag, nur eine einfache Execu-
tion durchzuführen, ti.e Anhänger des energischeren bayerischen Antrags vor
den Kopf stoßen möchten. Die Rettung erkannte er in einer von den beiden
Großmächten hinzuzufügenden Erklärung, daß allen andern schwebenden Fragen
durch ihren Antrag nicht präjudicirt werden sollte. Howard interpretirt die
Sache so: Hannover sei durchaus geneigt, dem Vorgänge Preußens und'Oest¬
reichs zu gehorchen, Platen wolle jedoch das Odium vermeiden, welches auf
seine Regierung fallen würde, wenn sie neben Mecklenburg allein unter den
übligen deutschen Staaten den Vorschlag der Großmächte adoptirte. Der Herr
Graf erstarkte indeß nach einiger Unruhe zu der Versicherung, es werde am
Ende alles gut werden.
Aus jene von Hannover gewünschte Beruhigungserklärung ließen sich die
beiden Vormächte aber nicht ein, der Erfolg war, d^aß Hannover an die Mächte
erklärte, es werde demnach ihrem Antrage einfach beistimmen. Denn es war
ja einmal Tradition: wo man nicht überspringen kann, da kriecht man durch.
Die Meinung Platens, man werde sich mit einer allgemeinen Reservation sal-
viren können, bekämpfte Howard, da sie, weil damit doch eine Anspielung
auf die Successionsfrage geschehen müsse, nicht in Einklang zu bringen sei mit
den Verpflichtungen gegen den Tractat. Gegen seinen Principal bemerkt aber
der englische Gesandte: wenn dieselbe von Seiten Hannovers dennoch gemacht
würde, so habe dies lediglich den Zweck, der öffentlichen Meinung um den
Bau-/ zu gehen und die große Kluft zwischen Hannover und den übrigen Mittel
Staaten zu verdecken. Die Reservation Hannovers unterblieb indeß laut der
Bundestagsabstimmung vom 7. Dec. Daß es so kam, war Platens Werk,
und der englische Geschäftsträger verfehlt nicht, zu bemerken: „der Graf habe
damit allerdings untreu seinen ursprünglichen Principien und dem Geist der.
eingegangenen Pflichten gemäß gehandelt; aber sein Credit steige, wenn man be¬
denke, daß er trotz so mancher inneren Schwierigkeit und trotz der Scheu vor
UnPopularität im eignen Lande sich nicht gestattet habe, von dem Pfade der
Ehre und Treue abzuirren." So strahlte denn die hannöversche „Correctheit"
in altem jungfräulichen Glänze. Als Folie dieser Tugend darf nicht unerwähnt
bleiben, daß eben damals Baron MünchHausen die Mission als Bundescom-
missar ablehnte, weil die einfache Execution statt der Occupation beschlossen
warben war.
Man kann hiernach die Tiefe des Brusttones ermessen, mit welcher der
König von Hannover feinen Truppen, als er sie vorm Abmärsche „musterte",
die Heldenthaten ihrer Väter ins Gedächtniß rief. Platen, der sich noch immer
der Hoffnung hingab, Münchhausen zu gewinnen, fügte gegen Howard hinzu,
daß derselbe darnach werde instruirt und ausgerüstet werden, um den Herzog
Friedrich von jeder Regierungshandlung in den Herzogthümern abzuhalten.
Als Münchhausen doch bei seiner Ablehnung verharrte, schickte Platen nach einem
Andern und fand ihn. Dr.' Nieper — schreibt Howard — ist mir vorgestellt
als ein Mann von „gemäßigter Gesinnung".
Nach diesen Vorgängen bekam nun Howard Muße, der englischen Regierung
über die „eigentliche Bedeutung" der Schleswig-holsteinischen Agitation in Deutsch«
land und speciell in Hannover seine schätzbaren Erörterungen zu machen. Er
faßte sich ziemlich einfach: „Die Agitation" — schrieb er am 18. December —
ist eine revolutionäre Bewegung und geht von der Partei aus, welche dahin
strebt, die bestehende Ordnung der Dinge umzustürzen. In dieser Absicht hat
sie sich einer Angelegenheit angenommen, welcher die Sympathien einer großen
Menge von Deutschen zugewendet sind, die im Uebrigen den politischen Plänen
dieser Partei feindlich gegenüberstehn, aber zu kurzsichtig sind, um die Gefahren
der Richtung zu ermessenen welche sie hincinwüthcn, und deren Begriffe von
Recht und Unrecht sich in einer seltsamen Confusion zu befinden scheinen. So
war es 1848 und so ist es wieder 1863!" Er registrirt dann mit großer
Seelenruhe den ungeschwächten Fortgang der patriotischen Kundgebungen im
Königreiche und die glücklichen Leistungen des hannöverschen Ministeriums im
Bereiche der Kunst, dem Volke Steine zu geben, wo es um Brod bittet. Am
Ende seines NesuMs macht er die Bemerkung: er sei überzeugt, daß die han-
növersche Regierung nichts zu fürchten habe, wenn sie nur den Grad von Festig¬
keit innehielte, zu welchem sie gediehen sei. Falls jedoch Preußen und Oestreich
vom londoner Tractate abfallen sollten, fürchte er, die hannöversche Negierung
werde, in Rücksicht auf die Stimmung des Landes, es nicht wagen, ihren Weg.
von dem der Großmächte zu trennen. Dies sprach Graf Platen kurz nachher
auch unumwunden aus, versüßte die Pille jedoch mit der erneuten Versicherung,
daß Hannover im andern Falle nicht blos bedingungslos am Vertrage, sondern
auch daran festhalten werde, daß derselbe die Regierung nicht blos Dänemark,
sondern ebenso den übrigen contrahirenden Mächten gegenüber binde.
Ueber das Verhalten Hannovers zu der dänischen Anmaßung, Rendsburg
und Friedrichstadt theilweise zu behaupten, was Howard seinestheils in Ordnung
fand, konnte er Beruhigendes melden. Wie man hannoverischer Seits mit
ausdrücklicher Billigung der Motiven auf die schrittweise Besetzung Holsteins
eingegangen war, „damit die Bildung von Freicorps zwischen den abrückenden
dänischen und den einrückenden deutschen Truppen verhütet werde", so ;eige sich
Platen überhaupt in allen Punkten geneigt, einem ernstlichen Conflicte auszu¬
weichen. Das hannöversche Gouvernement lebe der Hoffnung, die Mission des
Lord Wodehouse in Kopenhagen werde geeignet sein, die Angelegenheit zur
Ruhe zu bringen. Auch die gemäßigteren deutschen Mächte — sagt Howard —
deren Absicht es nicht ist, die dänische Monarchie zu zerreißen, betrachteten die
Bundesexecution nicht blos als einen Druck auf Dänemark und als Mittel, um
Garantien für die Zukunft zu erlangen, sondern zugleich als ein Mittel
der Selbsterhaltung gegenüber d ein V olksgeschrei in D eutschland,
welches gebieterisch von ihnen eine That verlange.
Indessen, auch der Gerechteste kann zu Zeiten ins Straucheln kommen.
Howard hielt nicht mit der Wahrnehmung zurück, daß Platens Ton und Sprache
von damals die Befürchtung verrathe, seine Politik in dieser Angelegenheit
möchte doch zu Falle kommen. Namentlich das stärkere Pochen der Volksstimme,
welches immer sein Ominöses hat für „correcte Minister"; dazu der furchtbare
Aufschwung Bayerns, welches unumwunden auf die Zeitigung der Erbfolgefrage
losstürmte; endlich die bedenklichen Beobachtungen der preußisch-östreichischen
Politik; genug, es waren böse Tage sür die Wetterfahnen, geschweige denn für
den hannöverschen Minister. Und nun sah er sich vollends noch verkannt unter
seinen Collegen. Denn die Mehrzahl der Minister konnte nicht umhin, wider
den Stachel zu locken, als Lord Russell die hannöversche Regierung im Schul¬
meistertone daran erinnerte, daß jeder Abfall vom londoner Tractat als Treu¬
bruch angesehen werden würde, und Howard dem Grafen Platen seine unbedachten
Zusicherungen hierüber vors Gesicht hielt. Der Herr Minister entschuldigte sich
in der Folge auch bei allen Examinationen Howards mit der Vollständigkeit
eines Knaben. Von diesem ihm eingeräumten Rechte machte denn auch Howard
ausgedehnten Gebrauch und verstieg sich zu den unverschämtesten Rathschlägen,
Vorwürfen und Zurechtweisungen, ja er ließ bei Gelegenheit der Nachrichten,
die über den Empfang der deutschen Truppen und ihr Benehmen in Holstein,
sowie über die Proclamationen des Herzogs eintrafen, sogar Drohungen hören.
Nicht diese Anmaßungen noch auch die inneren Bedenken, sondern der Druck
der öffentlichen Meinung und des Widerstandes seiner Collegen im Ministerium
gab dem Grafen den Muth, dem gestrengen englischen Freunde in einer großen
Stunde zu gestehn: „Ultra posse newo odliMwi'." So eifrig auch Platen
hinzufügte, er hoffe es wenigstens noch zu einer mittleren Richtung zu bringen,
die Gespräche mit Hammerstein und Windhorst konnten Howard überzeugen, daß
die Schwenkung nicht zu vermeiden sein würde. Die weitere Sondirung Platens
brachte ihm das fernere Resultat, daß man möglicherweise sogar daran denke,
das Schicksal des südlichen Schleswigs mit dem Holsteins in Verbindung zu
bringen. Howard sah sich genöthigt, jetzt im Kleinen möglichst wieder einzu¬
bringen, was im Großen verloren zu gehen drohte. Er ertheilte dem Betragen
Scheel-Plessens und Blomes die Versicherung seiner Hochachtung und be¬
richtete bei Erwähnung einer absichtsgleichen Beschwerde Russells an den Bund,
daß er bisher jedem, der im Gespräche mit ihm den Ausdruck „Londoner Pro¬
tokoll" und „Protokollkönig" gebraucht habe, tadelnd ins Wort gefallen sei.
Die nächsten Verhöre, die Howard mit dem Grafen Platen anstellte, bezogen
sich auf das Gerücht, daß einige deutsche Staaten gesonnen seien, den Herzog
Friedrich für Holstein anzuerkennen und einzusetzen. Howard schritt bis zu
„gemessnen Rathschlägen" in der Absicht, Platen solle den hannöverschen Bundes-
tagsgesandter aufs bestimmteste mit Instruktionen gegen die sächsisch-bayrischen
Zumuthungen ausrüsten. Allein er mußte erkennen, daß sein Herr Client auf
fremden Füßen fester stand als auf seinen eigenen. Denn Graf Platen wich
diesem Ansinnen aus. Seinem Heldenmuthe kam der Umstand zu Hilfe, daß
die hannöversche Execution und Civilverwaltung nicht in seinem, sondern in
des Bundes Befehl stände. Mit diesem Schilde konnte auch die Forderung
Howards abgelehnt werden, den Herzog Friedrich aus Holstein auszuweisen. Als
auch Russells Depesche vom 31. December, welche den Vorschlag einer Conferenz
der Vertragsmächte unter Beisitz eines Bundesgesandten vorschlug, und welche
an Hannover gerichtet war, vom Grafen Platen auf den Weg alles Fleisches,
d. h. an den Bund verwiesen wurde, belehrte Howard Se. Excellenz folgender
Maßen: „der Bund sei nichts als eine Versammlung deutscher Gesandten, welche
nach den Specialinstructionen der einzelnen Mächte zu handeln hätten, und es
sei herkömmliche Praxis aller Regierungen, ihre Vorschläge für den Bund an
diese einzelnen Cabinete zu richten, um ihre Zustimmung zu erlangen. Und
wenn eine Regierung wie die Großbritanniens an die Hannovers eine in aller
Form der Courtoisie gehaltene Mittheilung solcher Art richte, deren Annahme
die Vermeidung eines europäischen Krieges herbeizuführen geeignet sei, so sei
man zu der Erwartung berechtigt, daß dieselbe nicht durch eine bloße Ver¬
weisung an den Bund zur Seite geschoben, sondern vielmehr zum Gegenstande
ernster Erwägung gemacht werden werde!" In solcher Weise machte der englische
Gesandte dem Minister einer deutschen „Macht" den Standpunkt klar. Graf
Platen machte nicht sofort Gebrauch von dieser Unterweisung. Er ließ sogar ab¬
gerissene Worte fallen, die den Abgrund der Ketzerei, in welch« er gerathen
war, noch deutlicher offenbarten. Er sprach von Nützlichkeit eines Bundeslrieges.
von Revision des londoner Vertrags und dergleichen mehr. Als Howard ihm
härter zusetzte und namentlich auf die Chancen des Verhaltens hinwies, welches
der Bund in Holstein gegen Dänemark beobachten müsse, falls die Anerkennung
Herzog Friedrichs für dieses Herzogthum erfolgte, blieb der Rückfall in die alte
„Correctheit" nicht aus und Platen gab zu, daß Russells Vorschläge „logisch"
seien. Allein die durch die jüngste französische Depesche gestärkte Schlußfolgerung,
daß Hannover diesem Vorschlage zustimmen solle, siel wieder auf steinigen Boden*).
Mit der Majvristrung des Bundes vom 14. Januar durch Oestreich und
Preußen in der schleswigschen Frage und mit dem, was darauf folgte, endigt
die Hauptbedeutung Hannovers in der Schleswig-holsteinischen Angelegenheit. Zu
bemerken ist nur, daß obwohl Hannover gegen den preußisch-östreichischen An¬
trag gestimmt hatte, es den preußischen Truppentransporten durchs Königreich kein
Hinderniß in den Weg legte und daß Graf Platen sich beeilte, dem englischen
Gesandten mitzutheilen, daß die damals landläufige entgegengesetze Behauptung
auf Unwahrheit beruhte. Denn es ist nicht blos gut, gerecht zu sein, sondern
auch es zu scheinen. Diese Maxime lag wahrscheinlich auch der Thatsache zu
Grunde, daß Graf Platen von den damals an die hannöversche Regierung
gerichteten Kundgebungen seitens Herzog Friedrichs „keine Notiz nahm".
Wir schließen an diesem Zeitpunkte unsre Mittheilung, da die englischen
Blaubücher zunächst hier abbrechen. Auch tritt ja Hannover bei den nach¬
folgenden Ereignissen mit dem gesammten Bund in die zweite Linie und in
den Genitivus.
Es muß und darf dem Leser überlassen bleiben, die Resultate selbst zu
ziehn, welche diese mikroskopischen Untersuchungen nach deutscher Gesinnung bei
der zweiten norddeutschen Macht ergeben. Sie dürften vermuthlich sehr gering
sein, wenigstens treten sie in unsern Augen, wenn überhaupt, nur embryonisch
hervor und es muß lediglich der- Zukunft anheimgegeben werden, ob sie sich
entwickeln oder nicht. Desto zahlreicher sind dagegen die Beweise dafür, daß
die Politik der Leine die Nabelschnüre weder durchgerissen hat noch auch durch¬
reißen zu müssen als ihre Aufgabe erachtet, welche das Königreich einstmal mit
England verbunden hat. 'An der peristaltischen Bewegung dieser Politik in
unsrer Frage zeigt sich wenigstens, daß man in Hannover auch bei rein deutschen
Fragen weder die Pflicht noch den Muth fühlt, diese auswärtige Bevormundung
gebührlich abzuweisen*).
Unvergeßlich wird allen, die zu Fr. Chr. Baurs Füßen saßen, die gewaltige
Persönlichkeit des theuren Meisters sein, der vor drei Jahren mitten auf der
Höhe seiner Wirksamkeit der deutschen Wissenschaft entrissen worden ist. Hier
war ein Mann, ein ganzer Mann, dessen bedeutendem Eindruck auch diejenigen
sich nicht entziehen konnten, welche dem kühnen Forschertriebe, der keine Rück¬
sicht kannte als das Interesse der Wahrheit, nicht zu folgen im Stande waren;
daß es nur die Liebe zur Wahrheit, der Ernst, sie zu suchen, war, was sein
ganzes Wesen bestimmte, mußten auch sie anerkennen. Wenn er so in einer
Zeit, da die deutsche Theologie in der Masse ihrer Vertreter einem raschen
Verfall entgegenging, beinahe allein stehend die Würde dieser Wissenschaft und
ihren Zusammenhang mit dem geistigen Besitze der Gegenwart aufrecht hielt,
so konnte man zweifelhaft sein, was größere Verehrung und Bewundrung ab-
nöthigte: die seltene gelehrte Ausrüstung, mit der er auf dem Kampfplatz erschien,
oder die unerschrockene Beharrlichkeit, mit der er die Waffen in dem numerisch
so ungleichen Kampfe führte; der rastlos vorwärts dringende Scharfsinn, mit
welchem er durch bisher pfadlose und verworrene Gebiete Bahn brach, oder die
klare Besonnenheit, die nicht am Kleinen haften blieb, sondern immer aus das
Große gerichtet sich nicht weigerte, wo er bessere Meinung fand, sie der eigenen
einzuverleiben; die wissenschaftliche Ueberlegenheit oder die edle Humanität, die
männliche Tüchtigkeit seines sittlichen Charakters. Dabei waren es nicht äußerliche
Gaben, durch welche er geglänzt und geblendet hätte. Vielmehr war seine Art,
sich zu geben, einfach, schlicht, und es war ihm ganz jener Mangel an Leich¬
tigkeit, jene Sprödigkeit des Naturells eigen, das die schwäbische Heimath so
häusig ihren Söhnen mitzugeben pflegt. ES war nicht leicht durch die spröde
Schale hindurchzudringen zum Kern seines Wesens, das sich nur denjenigen
erschloß, in welchen er gleichfalls den lauteren Trieb, nach Wahrheit zu forschen,
erkannte. Und so hatte auch die Art seines wissenschaftlichen Auftretens nichts
Glänzendes, das sofort die Welt mit dem Eindruck eines Neuen und Epoche¬
machenden überrascht hätte. Vielmehr begann er seine Forschungen geräuschlos,
an einem entlegenen Punkte, in bescheidenen Grenzen, aber Schritt für Schritt
und immer sicherer und kühner ging es nun von hier aus weiter; unter dem
eigenen Suchen, wie unter dem Streit mit den Gegnern wuchsen seinem Geist
die Schwingen, immer freier ward der Blick, immer bedeutender gestalteten sich
die Resultate, die von kleinen Anfängen allmälig über das ganze Gebiet der
urchristlicher Zeit übergriffen, und so sind seine letzten Werke die vollendetsten
nach Inhalt, wie nach Form, und der Tod rief ihn ab, als er eben daran war,
die Gesammtheit seiner Forschungen zu einem die ganze christliche Kirche um¬
fassenden Geschichtswerk abzurunden*).
Es kann nicht unsere Aufgabe sein, Baurs Bedeutung für die neuere
Theologie überhaupt zu schildern und seine wissenschaftliche Wirksamkeit, welche
sich über die verschiedensten Zweige der Dogmen- und Kirchengeschichte, — diese
im weitesten Umfange genommen — erstreckt, im Einzelnen zu verfolgen. Es
ist dies von Anderen in dankbarer Pietät gethan worden.**) Aber auch was
unseren Gegenstand, die Urgeschichte des Christenthums betrifft, wo eben die
größten und eigenthümlichsten Verdienste Bcmrs liegen, so wäre es hier nicht
möglich, alle hierauf bezüglichen Schriften, alle Einzeluntersuchungen, alle Gänge
mit den (Aegnern aufzuzählen und zu charakterisiren, denn es liegt eine ganz
erstaunliche Fülle von Abhandlungen und Werken vor, in welchen Baur seine
Forschungen ausreiste, immer mit neuen Gründen stützte, wiederholter Prüfung
unterwarf und sich mit den Einwürfen der verschiedensten Gegner oder auch
mit den Aufstellungen der eigenen Schüler auseinandersetzte. Wir müssen uns
darauf beschränken, den Gang, den seine Forschungen nahmen, im Allgemeinen
zu verfolgen und die Hauptresultate anzugeben, zu welchen sie ihn leiteten.
Das Interesse von Strauß war ein kritisches; es war im Grund zufällig,
wenn bei der Rechnung irgend ein Nest, ein positiver Niederschlag zurückblieb.
Das Interesse Baurs war von Haus aus ein positiv geschichtliches; die Kritik
war nur Mittel zu diesem Zweck. Hatte Baur auf seinem Wege altgcwurzelte
Vorurtheile zu beseitigen, irrige Meiungen über Autorschaft, Ursprung und
Zeit der kanonischen Schriften umzustoßen, so ging er diesem Geschäft mit allem
Freimuth und Scharfsinn nach. Aber was er seiner angeblichen Autorität ent¬
kleidet hatte, reihte er sofort an der ihm gebührenden Stelle in der urchristlichcu
Entwickelung ein und verwandte es somit als Baustein für die Geschichte dieser
Zeit. Er konnte mit Recht sagen, seine Kritik sei eine conservative, „weil sie
ja nur auf dem einfachen Grundsatz beruht, jedem das Seine zu lassen und
zu geben, aber freilich auch nur das Seine." Für einen Forscher dieser Art
konnte der Ausgangspunkt nur die fest beglaubigte Geschichte sein. Der nächste
Anhalt fand sich in den Hauptbriefen des Apostels Paulus, welche, unbestritten
echt, nicht blos ein Denkmal der Geisicsart ihres Verfassers, sondern zugleich
ein Denkmal ihrer Zeit mit den sie bewegenden Kämpfen und Gegensätzen sind.
In diesen Briefen fand nun Baur, daß das harmonische Verhältniß, welches
man gewöhnlich zwischen dem Apostel Paulus und den Judenchristen, an deren
Spitze die älteren Apostel standen, angenommen hatte, in Wahrheit nicht statt¬
gefunden, daß vielmehr der Gegensatz zwischen den judaistisch beschränkten Urapo-
ftcln und dem universellen Heidenapvstel ein viel tiefer gehender gewesen sei
und wesentlich den Entwickelungsgang der ältesten Kirche bestimmt habe. Die
Geschichte der ältesten Kirche ist die Geschichte des Kampfes zwischen Juden¬
christenthum und Heidcnchristenthum, zwischen Petrinismus und Paulinismus.
Da das Christenthum aus dem Judenthum hervorgegangen ist und mit ihm
im engsten Zusammenhange stand, so lag es in der Natur der Sache, daß es
auf der ersten Stufe seiner Entwicklung selbst noch den Charakter des Juden-
thums an sich trug; es war nur der Glaube an den nicht erst künstigen, sondern
an den bereits erschienenen Messias, was die ersten Christen von ihren bis¬
herigen Glaubensgenossen unterschied. Je enger aber dieser Glaube an das
Judenthum sich anschloß, um so mehr hing ihm auch noch der jüdische Particu-
larismus an; die erste Frage, welche eine Differenz hervorrief, war daher die
nach dem Umfang des christlichen Heilprincips, ob dasselbe nur gebornen Juden,
oder ob und unter welchen Bedingungen es auch gläubigen Heiden zu Theil
werde. Mitten in diesem Kampfe stehend, zeigen uns die paulinischen Briefe
den großen Heidenapostel. Von Paulus erst datirt der universale Charakter
des Christenthums, und die Geschichte der Losreißung des Christenthums vom
Judenthum ist die Geschichte seiner zwei ersten Jahrhunderte. Wie jener Kampf
nun zuerst persönlich von Paulus durchgefochten wurde, welche Phasen er in
der Folge noch durchzumachen hatte, wie er allmälig sich abschwächte, eine ver¬
mittelnde ausgleichende Richtung Platz griff, bis endlich die Gegensätze sich im
katholischen Dogma und in der katholischen Kirche zusammenschlossen — dies
im Einzelnen zu verfolgen, an den Erzeugnissen der urchristlicher Literatur, der
kanonischen sowohl als der nichtkanonischen nachzuweisen und diese somit als
Zeugnisse für die verschiedenen Stadien in jenem Ausglcichungsproceß zu be¬
greifen, dies war nun die Aufgabe, wie sie die geschichtliche Betrachtung der
zwei ersten Jahrhunderte sich gestellt sah.
Diese wesentlich neue Auffassung hatte sich zuerst mit der Apostelgeschichte
auseinanderzusetzen. Denn diese wußte ja nichts von so tief eingreifenden
Gegensätzen; sie schilderte vielmehr das Verhältniß der Urapostel zu Paulus
als das allerfriedlichste, entgcgenkommendste; waren Differenzen vorhanden, so
bestanden sie keineswegs zwischen Paulus und den Uravosteln, sondern zwischen
jenem und unbedeutenden judaisirenden Sekten. Eben auf die Apostelgeschichte
war deshalb früher überhaupt die Anschauung von den ältesten Zuständen der
Kirche gegründet. Aber man konnte dies nur, indem man an den eignen
klaren Zeugnissen des Apostels in seinen Briefen, die uns mitten in seine
Lage, in seine Kämpfe hineinversetzen, vorbeiging. Wie eifrig muß sich der
Apostel für die Anerkennung seiner apostolischen Autorität, für die Grundlagen
seiner Thätigkeit wehren! Wie leidenschaftlich oder auch ironisch tritt er dabei
gegen die „Säulenapostel" und die von ihnen in Anspruch genommene Autorität
auf! Wie wirft der im zweiten Capitel des Briefes an die Galater erwähnte
Vorfall zwischen Petrus und Paulus in Antiochia mit einem Mal ein Licht auf
die Stellung der beiden Parteien, und wie contrastirt das Abkommen mit den
Urapostein zu Jerusalem, wie es im Eingang desselben Capitels erzählt ist,
mit dem sogenannten Apostelconvent in der Apostelgeschichte (Cap. Is), Nach
der Darstellung der letzteren ist es ein förmliches Concil, zu dem hier die
Apostel, die Presbyter, die ganze Gemeinde sich versammeln. Man erörtert die
vorliegende Frage, stimmt ab, faßt Beschlüsse und theilt diese in besondern
Schreiben den kleinasiatischen Gemeinden als Beschluß des heiligen Geistes mit.
Der Galaterbrief weiß nichts von einem solchen Concil, nach ihm ist es eine
bloße Privatbesprechung mit den drei angesehensten Aposteln, denen Paulus
sein Evangelium vorlegt. Nach der Apostelgeschichte sind es blos einzelne
Pharisäische Mitglieder der Gemeinde, welche die Frage der Beschneidung als
Bedingung des messianischen Heils zur Sprache brachten, nach dem Galatcrbrief
besteht die Meinungsverschiedenheit zwischen den Uraposteln und Paulus selbst.
Nach der Apostelgeschichte sind es gerade Petrus und Jacobus. welche die Ini¬
tiative ergreifen und der freisinnigen Praxis des Paulus auf die zuvorkommendste
Weise das Wort reden. Nach dem Galatcrbricf trennen sich beide Parteien,
indem jede auf ihren Grundsätzen beharrt. und nur das äußerliche Ueberein-
kommen getroffen wird, daß Paulus für sich selbst freie Hand erhält, die Mis¬
sion unter den Heiden auf seine Weise zu betreiben. Die eignen Worte des
Apostels sind für uns entscheidend, wie wir uns den historischen Vorgang zu
denken haben. Zwischen den älteren Aposteln, die an der Spitze der jerusale¬
mischen Gemeinde standen, und dem Apostel Paulus handelte es sich also um
die Beschneidung der Heiden als Bedingung ihrer Aufnahme in die Gemeinde,
um den Gegensatz des judenclnistlichcn und paulinischen Christenthums, und der
Streit war damals noch weit entfernt von irgendeiner inneren Ausgleichung.
Beruft sich doch Paulus, wenn er die judcnchristlicben Borurtheilc in den von
ihm gegründeten Gemeinden bekämpft, niemals auf jenes Concordat, das nach
der Apostelgeschichte abgeschlossen worden sein soll, einfach weil es niemals ab¬
geschlossen worden ist. die Erzählung davon vielmehr einer späteren Zeit an¬
gehört, in welcher die freiere Ansicht durchgedrungen war und also auch auf
die Urapostel übertragen werden mußte.
Und von hier aus siel nun ein ganz neues Licht auf die Komposition und
Tendenz der Apostelgeschichte. Offenbar hatte sie an jener Stelle, wo sie durch
die eignen Worte des Paulus genau controlirt werden konnte, nicht den geschicht¬
lichen Hergang erzählt, sondern von einem späteren Standpunkt aus die einstigen
Differenzen vertuscht. Eine genauere Untersuchung der Schrift. — welche
Baur gestützt auf die Vorarbeiten Schneckenburgers vornahm, — zeigte nun,
daß der historische Eharaktcr der Apostelgeschichte überhaupt ein sehr bedingter,
daß sie vielmehr wesentlich als ein im Interesse der Ausgleichung jener Partei-
gcgcnsätze geschriebenes Werk der späteren Zeit aufzufassen sei. wobei jeder der
beiden Standpunkte, der petrinische und der paulinische, etwas von seiner prin¬
cipielle» Schärfe ablassen mühte. Der Verfasser ist ein Pauliner. der den
Heidcnapostel in seiner apostolischen Würde und Wirksamkeit gegen judaistische
Anfeindung vertheidigen will, allein es geschieht dies, wie es das conciliatorische
Interesse der späteren Zeit erforderte, in der Weise, daß die Urapostel selbst
aufgeboten werden, um die Grundsätze des Paulus zu vertheidigen und mit ihrer
apostolischen Autorität zu decken. Das Hauptmittel zu diesem Zweck ist die
durch das Ganze sich ziehende Parallelisirung der beiden Apostel Petrus und
Paulus. Jenem wird der judaisircnde, diesem der specifisch universalistische
Charakter abgestreift. Jener erscheint so viel als möglich wie Paulus, dieser so
viel als möglich wie Petrus. Keine Probe von Gcsetzesgcrechtigkeit wird dem Pau¬
lus erlassen, während die erste Thätigkeit unter den Heiden dem Petrus vin-
dicirt wird. Paulus beobachtet alle möglichen Rücksichten gegen die Urapostel
und gegen das jüdische Volk, sein polemischer Standpunkt gegen das Gesetz ist
spurlos verwischt, während umgekehrt diejenigen Grundsätze, welche Paulus in
seinen Briefen über die Gleichheit der Juden und Christen gegenüber dem
messiamschen Heil entwickelt, überall von den judenchristlichcn Aposteln aus¬
gesprochen und ausgeübt werden. Beide Apostelhäupter werden so einander
näher gerückt, weil es das Interesse der späteren Zeit war, das petrinische und
paulinische Christenthum, welche die Kirche spalteten, während von außen die
Ketzereien immer bedrohlicher auftraten, auf einer neutralen Basis auszugleichen.
Daraus ergab sich auch für den Verfasser der Apostelgeschichte und die Zeit
ihrer Entstehung eine andere Ansicht als die der Tradition. Sie kann nicht
Von Lucas, dem Reisebegleiter des Paulus, verfaßt sein, wenn auch dessen
Aufzeichnungen namentlich für die letzte Reise des Apostels benutzt sein mögen,
sie kann nur der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts angehören, derselben
Zeit, welche auch in sonstigen Schriftdenkmäler dasselbe katholische Interesse verräth.
Aber die historischen Momente, welche sich aus den Briefen des Apostels
Paulus gewinnen ließen, wurden zu Waffen nicht blos gegen die Glaubwürdig¬
keit der Apostelgeschichte, sondern auch gegen die Echtheit eines Theiles der
paulinischen Briefe selbst. Nur in den vier großen Briefen an die Galater.
an die Römer und in den beiden Korintherbricfcn zeigte sich jener Gegensatz
in seiner ursprünglichen Schärfe, nur in ihnen schien sich die ganze Kraft und
Eigenthümlichkeit des großen Hcidcnapostels auszuprägen, nur sie werden darum
für unzweifelhaft echt erklärt. Bereits in abgeschwächter Gestalt erscheinen die
paulinischen Gedanken in den Briefen an die Epheser, Kolosser, Philipper, an
Philemon und an die Thessalonicher. Die Darstellung ist matt, die Lehre von
der Rechtfertigung verflacht, die Absicht mehr auf das Praktische, Erbauliche
gestellt. Dabei hat die Anschauung von der Person Christi schon eine bedeu¬
tende Steigerung erfahren, namentlich die Lehre von der Präexistenz, von der
kosmischen Bedeutung Christi ist weiter entwickelt. Auch in den mehrfachen
Beziehungen auf die Sekten des zweiten Jahrhunderts und in dem hervor¬
tretenden Streben nach Einheit in Lehre und Verfassung verräth sich die spä¬
tere Absassungszeit. Noch bestimmter treten alle diese Merkmale bei den
sogenannten Hirtenbriefen (den Briefen an Timotheus und Titus) auf. Sie
setzen kirchliche Einrichtungen voraus, wie sie erst spät sich entwickelt haben
und führen eine Polemik gegen Irrlehrer, welche ohne Frage die Gnostiker/
religivnsphilosvphische Sekten des zweiten Jahrhunderts, sind.
Je mehre Schriften des neuen Testaments nun von hier aus in den
Bereich der Untersuchung gezogen wurden, und je mehr sich diese über die ganze
christliche Literatur des ersten und zweiten Jahrhunderts ausdehnte, ums» deut¬
licher gab sich der Gegensatz des Judenchristenthums und Hcidcnchristent.bums
als der leitende Faden durch die urchristliche Literatur und damit durch die
urchristliche Geschichte zu erkennen. Der streng judaistischc Standpunkt war uns
noch in der Offenbarung des Johannes, der streng paulinische in den Haupt¬
briefen des Heidenapostels aufbewahrt. Bei weitem die Mehrzahl der kanonischen
Schriften jedoch fiel in die späteren Phasen jenes Entwickelungsgangs, wo von
beiden Seiten das Bedürfniß einer Annäherung und Verständigung sich geltend
machte und stufenweise wirklich zur Ausgleichung in der katholischen Kirche führte.
Und hier war nun der Ort, wo von den gewonnenen Resultaten aus auch
die Kritik der Evangelien wieder aufgenommen werden mußte. Denn auch
den Evangelien mußte in jenem Proceß die ihnen zukommende Stelle aus-
gemittelt werden. Indem sich Baur — allerdings unter der Einwirkung, welche
die freie Kritik des Straußfeder Buchs auf ihn ausübte — jetzt der Evangelien-
kritik zuwandte, stand er von Anfang an auf einem ganz anderen Boden als
seine Vorgänger. Diejenigen Fragen, um welche es sich bis jetzt in erster Linie
gehandelt hatte, wie sich der historische Stoff in den Evangelien zu einander
verhalte, was als geschichtlich, was als ungeschichtlich zu betrachten sei, wurden
von Baur vorläufig zurückgedrängt gegen die Hauptfrage: was wollte und
bezweckte jeder Verfasser mit seiner Darstellung, was ist seine Individualität
und schriftstellerische Eigenthümlichkeit, ist er ein schlichter Referent der evange¬
lischen Geschichte, oder blickt nicht da und dort etwas hervor, was uns tiefer
in die ihn bewegenden Interessen und Motive hineinblicken läßt? Gelänge es.
sagte Baur in diesem Zusammenhang, auch nur einem der Evangelisten das
Geheimniß der Conception seines Evangeliums abzulauschen, so hätte die Kritik
einen festen Punkt, von welchem aus sie einen weiteren Boden gewinnen kann.
Die Kritik fand diesen festen Punkt. Mit jenem fruchtbaren Gedanken
warf sich Baur sogleich auf den Mittelpunkt der Evangelienkritik- er untersuchte
das Jvhannesevangelium, um durch eine Analyse seines Inhalts die Stellung
zu ermitteln, die es in der Geschichte der christlichen Entwickelung einnimmt.
Die Frage nach der Echtheit, nach dem Historischen in diesem Evangelium,
wurde also zurückgestellt gegen die Frage nach der Idee, welche seiner Komposi¬
tion zu Grund liege. .Daß gerade das vierte Evangelium wesentlich lehrhaft
ist und seine Geschichtserzählung innerhalb bestimmter dogmatischer Voraus¬
setzungen sich bewegt, hatte man wohl schon früher zugeben müssen. Aber es
fragte sich nun, ob die aus der Geschichtserzählung hervorblickende Idee nur
als ein verschwindendes Moment der rein geschichtlichen Tendenz anzusehen, oder
ob die Idee so übergreifend über die Erzählung sei, daß sie diese selbst nach
ihr gestaltet habe. Daß nun das Letztere der Fall ist, wird von Baur aufs
geistvollste und überzeugendste nachgewiesen. Die ganze Komposition hat einen
ideellen, absichtvvllen Charakter, der geschichtliche Stoff ist nur der Reflex oder
die versinnlichcnde Hülle des dogmatischen Grundgedankens. Und zwar besteht
nun die durch das Ganze sich durchziehende Idee in dem Gegensatze Jesu als
des in der Welt erschienenen göttlichen Licht- und Lebensprincips zu der jüdischen
Well, in welcher das Princip der Finsterniß und des Unglaubens repräsentirt
ist. Mit dem Eintreten des göttlichen Worts (Logos) in das Fleisch beginnt
der große Kampf zwischen Licht und Finsterniß, Leben und Tod, Geist und
Fleisch, und nun wickelt sich in den Thatsachen des Lebens Jesu dieser Gegen¬
satz als ein von Moment zu Moment fortschreitender Proceß ab, der im letzten
Aufenhalt Jesu zu Jerusalem sich zu seinem dramatischen Höhepunkt erhebt und
in Tod und Auferstehung seinen Abschluß erhält. Unter diesem Gesichtspunkt
steht alles Thatsächliche, was der Evangelist aus der Tradition aufgenommen
oder umgebildet oder frei geschaffen hat. Und von hier aus fällt nun auch
auf die Abweichungen des evangelischen Stoffs von dem der übrigen Evangelien
erst das rechte Licht. Von hier aus läßt sich die relative Glaubwürdigkeit der
einen oder der andern Darstellung beurtheile», jetzt erst ergeben sich für den
geistigen Kreis, aus welchem es hervorgegangen ist, für die Zeit der Abfassung,
für den Verfasser bestimmtere Anhaltpunkte. Und nun treffen alle Momente zu¬
sammen: die Ausbildung der Logoslehre, das Verhältniß zu der schroff juden¬
christlichen Offenbarung des Johannes, die Beziehungen zu den gnostischen Ideen
und zu dem Streit über die Passahfeier, dazu endlich die Beschaffenheit der
äußeren Zeugnisse — alles weist darauf hin, daß das Evangelium nicht von
dem Sohn des Zebedcius geschrieben ist, sondern als letzte und reifste Frucht
des Entwickelungsgangs, welchen das urchristliche Bewußtsein genommen, der
zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts angehört. Von seinem fortgeschrittenen
christlichen Standpunkt aus und in der Ueberzeugung, den wahren Geist des
Christenthums und Christi besser als die noch im Judenthum befangenen älteren
Evangelisten gefaßt zu haben, konnte sich der alexandrinisch gelehrte Verfasser
berechtigt glauben, die evangelische Geschichte umzuändern, Jesus Reden in den
Mund zu legen, die seinem .fortgeschrittenen Standpunkt entsprechen, ja sich
selbst als den Schoß- und Bufenjünger Jesu, wenn nicht ausdrücklich anzugeben,
doch deutlich genug errathen zu lassen.
Von da aus wandte sich dann Baur Schritt für Schritt rückwärts zu den
drei ersten Evangelien. Die Analyse des JohanneSevangeliums hatte gezeigt,
daß ihm gegenüber die synoptischen Evangelien die ursprünglicheren und glaub¬
würdigeren sind. Nur um so mehr kam es nun aber darauf an, nachzusehen,
ob sich nicht auch bei ihnen ein dogmatisches Interesse verrathe, welches auf
ihre Geschichtserzählung Einfluß gewonnen hat. Wie verhielten sie sich, dies
war die Frage, zu dem Grundgcgensatz, der sich durch die Zeit des Urchristen¬
thums hindurchzog, zu dem Gegensatz zwischen dem Judaismus und Paulmis-
, mus, und welche Resultate ließen sich hieraus für ihr Alter und gegenseitiges
Verhältniß gewinnen? Das Ergebniß war, daß das Lucasevangelium eine
bestimmt paulinische Tendenz verfolge, während das des Matthäus der jnoen-
christlichen Anschauung am nächsten stehe und alle Merkmale eines früheren
Ursprungs an sich irage, das Marcusevangelium endlich sich nach der Auswahl
seines Stoffs wie nach seiner ganzen Darstellungsweise als eine secundäre,
ezcerpirende Arbeit von neutralem, vermittelnden Eharatter zu erkennen gebe.
Wie Baur seine Untersuchungen über die paulinischen Briefe und die
Apostelgeschichte ni dem Werke: „Paulus, der Apostel Jesu Christi. Stuttgart
1845" zusammengestellt hat, so seine Forschungen über Johannes und die
Synoptiker in den „Kritischen Untersuchungen über die Evangelien. Tübingen,
1847." Beides sind Baurs kritische Hauptwerke. Mit ihnen war ein neuer
Boden für die Geschichte des Urchristenthums gewonnen. Jenes war sür das
apostolische und nachapostollsche Zeitalter, dieses sür die Evangelienfrage ent¬
scheidend. Ihre Resultate waren der feste Grund, auf welchem die tübinger
Schule weiter arbeitete. Blieb auch im Einzelnen noch vieles dunkel und strei¬
tig, so waren doch zwei principielle Punkte festgestellt, die durch keine Polemik
mehr erschüttert werden konnten. Wie auf zwei festen Grundsäulen ruht unsre
Kenntniß des Urchristenthums auf den beiden von Baur durchgeführten Unter¬
suchungen: einerseits des Verhältnisses der paulimschen Briefe zur Apostelgeschichte
andrerseits des Verhältnisses des Iohannescvangeliumö zu den Synoptikern. Die
historische Methode sah sich aufs glänzendste gerechtfertigt. Es war Plan und
Ordnung in das Chaos gebracht, das Grundgesetz der Entwickelung gefunden
und deren Hauptmomente nachgewiesen. Halte man von der „Tenocnzkritik"
eine auslösende, die Grundlagen unsrer Kirche willkürlich zerstörende Wirkung
befürchtet, so war das Gegentheil eingetroffen. Sie hatte sich als aufbauend
erwiesen, sie war im Stande, eine reiche, gehaltvolle, gesetzmäßig verlaufende
Entwickelung nachzuweisen auf einem Gebiet, das bisher außerhalb der Ge¬
schichte geblieben war. Je folgerichtiger sich eines aus dem anderen ergab,
je enger sich Combination an Combination schloß, um so mehr erhob sich das
Ganze dieser Combinationen zu einer wahrhaft geschichtlichen Gesammtauffassung
des Urchristenthums.
Eine übersichtliche Zusammenstellung der bisherigen Resultate auf dem
Boden der ältesten Kirchengeschichte gab dann Baur in dem Buche: „Das Christen¬
thum und die christliche Kirche der drei ersten Jahrhunderte. Tübingen, 1853."
Es ist die reifste Frucht seiner schriftstellerischen Wirksamkeit, ein echtes Geschichts¬
werk, in welchem „Zusammenhang, Gattung und Einheit in das Ganze ge¬
macht, die bewegenden Kräfte und Principien, deren Product das Resultat
der drei ersten Jahrhunderte ist, in ihrem Unterschied gesondert und in ihrer
gegenseitigen Beziehung verfolgt, alle einzelnen Züge, die zum Charakter einer
in einer so inhaltreichen Bewegung begriffenen Zeit gehören, soviel möglich,
zu einem in sich harmonischen Bild vereinigt" werden sollten; ein echtes
Geschichtswerk auch in dem Sinne, daß nun eine populärere Darstellung, ein
historischer Stil angestrebt, die kritische Begründung auf das Nothwendigste
beschränkt und die Neigung zur Speculation, die den früheren Werken anhaftete,
zurückgedrängt wurde. Abermals that hier Baur einen Schritt vorwärts, in¬
dem er nun den Schlußstein zum Ganzen fügte und den Eintritt des Christen¬
thums in die Weit, die Person Jesu und sein Werk in den Kreis der Dar¬
stellung zog. Da aber Baur an diese zusammenfassende Arbeit erst dann ging,
nachdem seine Untersuchungen durch mitforschende talentvolle Schüler ergänzt
und weiter geführt worden waren, so ist es Zeit, sich dem Kreis dieser jüngeren
Kräfte zuzuwenden und ihren Antheil an der geschichtliche» Durchforschung des
Urchristenthuins zu übersehen.
Selten noch mag ein Fürst so in dem vollen und frischen Glänze der
Popularität vom Tode ereilt worden sein, als der jüngst verstorbene König
von Bayern. Zu der dynastischen Gesinnung, in der das bayrische Volk von
jeher auf das engste mit seinen Regenten verbunden war, zu der Hochachtung
und Belehrung gegen einen persönlich höchst respectabeln Fürsten kam in den
letzten Monaten der Regierung Maximilians des Zweiten noch die freudige
Zustimmung, welche die Haltung des Monarchen in der Schleswig-holsteinischen
Frage in der ganzen Bevölkerung Bayerns fand, eine Haltung, die, so wenig
thatkräftig und fruchtbringend sie auch war, doch gegenüber der Politik anderer
deutschen Regierungen zum mindesten ehrlich und rechtlich, vielleicht sogar
national genannt werden konnte. Der plötzliche Eintritt des Todes endlich war
allenthalben im Lande von so erschütternder Wirkung, daß auch denen, die
sonst wohl geneigt waren, den Maßstab einer besonnenen Kritik an die Hand¬
lungen des Königs zu legen, die Stimmung fehlte, in einem Separatvotum
ihr Urtheil von dem der überwiegenden Mehrheit des Volkes zu trennen. So
fand, wer etwa um die Mitte März durch Bayern reiste, die öffentliche Meinung
überall und fast ungetheilt dem Andenken des Königs günstig. Die Klagen
über seine Arbeitsscheu, seine vielen Reisen außer Landes, den Mißbrauch der
Cabinctsregicrung, die lähmende Unentschlossenheit — alle waren verstummt
und wie keines der ultramontanen und urbajuwarisch gesinnten Blätter daran
dachte, die während früherer Jahre unausgesetzt erhobenen Beschuldigungen über
die Berufung fremder, protestantischer Gelehrten in den Rückblicken auf die
Regierung des Königs auch nur zu erwähnen, so schwiegen auch die paar
Organe der liberalen Partei, welche Bayern besitzt und dickte» in ihrer Be¬
urtheilung des Verstorbenen die Beschwerden zurück, die sie so oft gegen den
Lebenden ins Feld geführt hatten, ja als etwa fünf oder sechs Tage nach des
Königs Tode ein Leitartikel der „Süddeutschen Zeitung" in der gemäßigtesten
Sprache aber ohne jene zarte Rücksicht ein wirkliches Urtheil über Max den
Zweiten aussprach, fühlte man sich selbst in liberalen Kreisen unangenehm be¬
rührt. Unter solchen Umständen ist es nicht leicht, dem verstorbenen König
gerecht zu werden. Man wird gut thun bei der Beurtheilung eines Regenten
nicht das ideale Bild eines Musterfürstcn neben ihn zu halten, sondern ich» mit
andern Fürsten, zunächst mit seinem Vorgänger zu vergleichen. Bei einer solchen
Vergleichung kann Maximilian der Zweite nur gewinnen. Gegen die Regierung
Ludwigs des Ersten gehalten, darf die seinige in der That eine Mustcrrcgicrung
genannt werden. Etwas spät sah König Ludwig ein, daß es ihm unmöglich
sei constitutionell zu regieren und nachdem er früher mit Emphase erklärt hatte, er
möchte kein absoluter Herrscher sein, blieb ihm keine andere Wahl als abzudanken.
Der neue König hatte als Kronprinz mehr als einmal entschieden auf Seite
der Opposition gestanden. Namentlich so abgeschmackten Forderungen seines
Vaters, wie die jetzt fast vergessene, die doch einst so lebhafte Stürme hervor¬
rief, über die Kniebeugung der Protestanten bei kirchlichen Aufzügen der
Katholiken hatte der Kronprinz in der ersten Kammer und im Palais rücksichts¬
los opponire; seinem ganzen Wesen widerstrebten die klerikalen Tendenzen, durch
welche sich sein Vater so lange und so entschieden leiten ließ. Nicht umsonst
hatte er seine Studien in Göttingen und in Berlin gemacht, das Wesen des
Ultramontanismus war seiner sein angelegten Natur ebenso antipathisch als
das specifische Baycrnthum mit seiner plumpen Aufdringlichkeit. Darum ver¬
lebte er, fern von den Hofkreisen der Hauptstadt, wo man ihn nicht verstand,
in der glücklichsten Zurückgezogenheit auf Hohenschwangau eine Reihe von
Jahren, ganz den Anregungen seiner Studien hingegeben und der geistreichen
Unterhaltung mit bedeutenden Männern,^ die er um sich zu versammeln wußte,
denen er, auch wenn sie nicht mehr bei ihm verweilten, in eingehender Corre-
spondenz nahe und eng verbunden blieb.
Aus dieser Muße rief ihn das Jahr 1848 aus den Thron. Aber er war nicht
ganz der Mann für diese stürmischen Zeiten. Es gelang ihm wenigstens nicht, sein
Land durch energische und umsichtige Maßregeln nach innen und außen gekräftigt
durch jene Krisis hindurchzuführen. Die Reaction der fünfziger Jahre war recht
eigentlich nach dem Herzen dieses Fürsten, der von Natur keineswegs liberal war
und wie in manchem andern Lande würde diese Reaction, zu deren Durchführung
der Freiherr v. d. Pfordten ein überaus geschicktes Werkzeug war, in Bayern noch
heute dauern, wenn nicht die Opposition der zweiten Kammer so fest, entschieden
und unermüdet gegen sie gekämpft hätte und wenn nicht diesem Parlamentarischen
Kampfe die drohenden Aussichten des Jahres 1839 zur Hilfe gekommen wären.
Man kann nicht sagen, daß der König mit allen Maßregeln des reaktionären
Ministeriums sympathisirt hätte, namentlich die Gewaltthätigkeiten des Hei߬
spornes in diesem Cabinete, des Grafen Reigersberg. waren oft seinem milden
Sinne zuwider. Aber dieses Ministerium schützte oder gab vor das zu schützen,
was der König unter dem Namen der „Kronrccbte" für ein unantastbares Heilig-
thum der königlichen Würde hielt. So dehnbar aber war dieser Begriff der
„Kronrechte". daß gar manche Maßregel dem König plausibel gemacht werden
konnte, wenn ein so gewandter Staatsmann, wie v. d. Pfordten, sie unter
diesen Gesichtspunkt zu stellen wußte. Man hat dem .Könige „Hang zum
Absolutismus" vorgeworfen. Der Vorwurf mag vielleicht berechtigt sein, aber
um absolutistisch regieren zu können, fehlte Max dem Zweiten vor allem die
Energie und die Zähigkeit des Widerstandes gegen populäre Forderungen. Man
mochte sagen, er war zu schwach, um ein Absolutist aus Ueberzeugung, zu nobel,
um es gegen seine Ueberzeugung zu sein. Und dem nicht ermüdenden Kampfe
und Andringen einer entschiedenen, sich ihres Rechtes bewußten Opposition war
er schlechterdings nicht gewachsen. Wer in solchen Conflicten am längsten aus¬
dauert, darf des Sieges gewiß sein; jeder, der Maximilian den Zweiten kannte,
mochte voraussehen, daß nicht er es war, der durch Ausdauer übermüden würde.
Er ermüdete rasch und vermochte vor allem die Manifestation der Zuneigung des
Volkes nicht zu entbehren; sich geliebt, anerkannt zu sehen, war ihm Bedürfniß.
Es war nicht eine Phrase, wenn er schrieb, daß er Friede haben wolle mit
seinem Volke, der Friede mit seinem Volke,war eine Bedingung der Zufrieden¬
heit und Ruhe seines Lebens. Ihm fehlte jene dämonische Kraft, die sich mit
dem oäizrwt einen Mett.uiwt, über die Reize der Popularität erhaben fühlt und
jene Beschränktheit, welche in der Selbsttäuschung von einer göttlichen Mission
Ersatz für die Liebe eines Volkes findet.
Seit dem Jahre 1839 kann sich Bayern rühmen, auf dem Gebiete legis¬
latorischer Thätigkeit sehr Bedeutendes geschaffen zu haben. Der gute ehrliche
Wille der Minister v. Mulzer und Neumayr sah da keine Hindernisse einer
Vereinigung mit den Wünschen der Gcsetzgebungsausschüsse, wo ihrer Vorgänger
böser Wille solche geschaffen hatte und die parlamentarische Opposition ihrerseits
gab diesen Männern in manchem Punkte nach, den sie gegen jene mit äußerster
Heftigkeit aufrecht erhalten hatte. Aber auch das Zustandekommen dieser Ge¬
setze: der Trennung der Justiz und der Verwaltung, des Strasprocesses, des
Notariats hat seine geheime Geschichte; auch auf diesem Gebiete mußte dies
und jenes Zugeständnis) noch im letzten Augenblicke dem Könige abgerungen
werden, dessen Verweigerung die ganze Gesetzgebungsarbeit illusorisch gemacht
hätte; nur daß es jetzt nicht mehr eine Opposition der Kammern war, die gegen
den König anzukämpfen hatte, sondern daß dieser Kampf den Ministern selbst
nicht erspart blieb, denen jetzt, wie früher der Opposition, die Fiction der „Kron¬
rechte" entgegengehalten wurde. Hauptsächlich aber galt es, die große Unent-
schlossenheit des Königs zu überwinden, welche, es wäre ungerecht dies zu ver¬
schweigen, aus den reinsten Motiven, aus einer übertriebenen, skrupulosen
Gewissenhaftigkeit entsprang. Diese trieb den ängstlich Zweifelnden von einem
Rathgeber zum andern und verzögerte jeden Entschluß. Man weiß jetzt, be¬
sonders seit der Veröffentlichung des Scctionsbefundes. daß das körperliche
Leben dieses Fürsten seit einer langen Reihe von Jahren ein fast unausgesetztes
Leiden war. Dieser Thatsache gegenüber verstummt mancher Vorwurf, der
früher gegen den König ausgesprochen wurde. Keiner schien gerechtfertigter,
als der, daß er niemals mit den Ministern selbst arbeite, sondern ihre Vorträge
nur schriftlich durch den Chef des königl. Sccretariats entgegennehme und be¬
antworte.
Es war ein Glück für Bayern, daß der Mann, der diese einflußreiche
Stellung unter bescheidenem Titel einnahm, ein durchaus ehrenwerther Mann
war; denn es ist kaum zu ermesse», welches Unheil eine solche Cabinetsregierung
im Gefolge hätte haben können. Auch in dieser Frage ist man jetzt geneigt,
den König durch seine leidende Gesundheit für entschuldigt zu halten, wie denn
selbst der Münchner nun seine Entrüstung über die häufige Abwesenheit Maxi¬
milians des Zweiten aus seiner getreuen Hauptstadt bereut und begreift, daß
es einem kranken Manne Bedürfniß war, die lauen Lüste des Südens mit den
Winterstürmen des tückischen Münchener Klimas zu vertauschen.
Es kann keine Frage sein, wie diese Blätter die deutsche Politik des
bayerischen Königs beurtheilen. Maximilian der Zweite hatte eine hohe Mei¬
nung von der Bedeutung des Staates, den die Wittelsbacher regieren. Die
letzten trüben Tage seines Lebens mögen ihm auch hier manche lieb gewordene
Illusion benommen haben. Zwar war ihm die Freude zu Theil geworden,
als der Hort Deutschlands und Schleswig-Holsteins in und selbst außer Bayern
gefeiert zu werden, aber die Einsickt, daß er der Aufgabe nicht gewachsen sei,
die erdrückend groß an ihn herantrat, mag ihn tief gebeugt, mag seinen Tod
beschleunigt haben. Ein trotz alledem ehrendes Zeugniß. Denn wir werden
dem Verstorbenen, auch von unserm Standpunkte aus, die Anerkennung nicht
versagen, daß er ein Herz für Deutschland gehabt hat. daß er sich nicht, wie
mancher andere von denen, die sich deutsche Fürsten nennen, den Ideen und
Forderungen des nationalen Lebens völlig verschloß, daß, wenn auch die Kraft
zur Ausführung mangelte und vielleicht die Einsicht, die zur Wahl besserer
Mittel erforderlich war, der König doch von einem höheren, edleren Streben
beseelt gewesen ist. Sicherlich wäre es nicht ganz gerecht, von ihm das Wort
Steins über Ludwig den Ersten zu wiederholen, „daß seine deutsche Gesinnung
an den blauweißen Grenzpfählen auch ihre Grenze gefunden habe."
Uebrigens dürfen wir auch das nicht vergessen, daß die Anschauungen,
welche die deutsche Politik des Königs Max bestimmten, durchweg mit den
Gesinnungen eines sehr großen, wohl des größten Theils der Bevölkerung
Bayerns im vollsten Einklange standen. Denn es giebt kein Land unter den
Staaten des deutschen Bundes, dessen Bewohner eifriger und zäher festhalten
an ihrer staatlichen Selbständigkeit, als Bayern. Es wird großer, erschütternder
Ereignisse bedürfen, bis dieses Land an der Durchführung der deutschen Ein¬
heitsidee einen thätigen Antheil nimmt.
Wenn König Max in dieser politischen Anschauung an der Spitze seines
Volkes stand, so hat er sich doch nie dazu verstanden, als ein Mittel, die staat¬
liche Selbständigkeit Bayerns aufrecht zu erhalten, auch jene Abschließung gegen
alle die belebenden Einwirkungen des übrigen Deutschlands und seiner geistigen
Bewegungen zu betrachten, welche, zumal in den alten Provinzen Bayerns, so
viele Anhänger und Vertheidiger zählt.
Als die Hauptaufgabe seines Lebens, welche er, wenn auch durch den
Tod frühzeitig abgerufen, doch im Wesentlichen gelöst hat, sah er das Ziel
vor sich, den Strömungen des geistigen Lebens Deutschlands in Bayern
Eingang zu eröffnen, der deutschen Wissenschaft in seinem Lande eine glän¬
zende Stätte zu bereiten. Wie kein jetzt lebender deutscher Fürst mehr als
König Ludwig die Kunst, so hat keiner mehr als sein Sohn die Wissenschaft
gefördert. Aber wie weit verschieden von einander sind die Bestrebungen der
beiden Könige! Bei Ludwig dem Ersten war es die Liebhaberei des reichen
und hochgebildeten Dilettanten, die eine stattliche Reihe bedeutender Kunstwerke,
großentheils zur Zierde der Hauptstadt, alle im Zusammenhange mit der poli'
dischen, kirchlichen, ästhetischen Richtung des Erbauers und Förderers hervorrief.
Von Maximilian dem Zweiten hingegen durfte Döllinger mit Recht sagen: er
habe die Wissenschaft nicht mit dem Auge des Gelehrten und nicht mit dem
des Dilettanten, sondern mit dem Auge des Königs betrachtet. Keine specielle
Liebhaberei fand Begünstigung, sondern die Gesammtheit der Wissenschaften
galt dem Könige als ein untrennbares, unauflöslich zusammengehörendes Ganze
und so erkannte er daß die Förderung der Wissenschaft in dem Sinne, in
dem er sie sich vorgesetzt hatte, nur eine Pflege des ganzen Baumes mersch-
lieber Erkenntniß, nicht eines einzelnen Zweiges sein dürfe. So hat er denn
alle Wissenschaften mit gleichem Interesse in ihren Fortschritten verfolgt und
gefördert und wie königlich diese Unterstützung war, die er der Wissenschaft und
ihren Vertretern zuwandte, das beweisen die Berichte der Münchner Akademie
der Commissionen, die zu bestimmten Zwecken niedergesetzt wurden, deren Ar
beiden in so vielfacher Weise anregend, ergänzend, zum Theil sogar bahnbrechend
geworden sind. Auf keinem Gebiete des menschlichen Wissens ist durch die
Grvszmuth des Königs Max so viel geleistet worden als auf dem der historischen
Wissenschaft. Auch diese Blätter haben schon eine Reihe von bedeutenden
Publicationen besprochen, deren Erscheinen man der Munificenz dieses Fürsten
verdankt und das große Publicum hat gerade diesen Theil der von dem König
veranlaßten und unterstützten Arbeiten naturgemäß mit dem lebhaftesten Inder.
esse aufgenommen. Aber auch bei diesen Arbeiten waren es nicht nur die
großen Geldsummen, die der König anwies, welche die Mit- und Nachwelt zu
Dank verpflichten, sondern mit besonderem Nachdrucke verdient die unausgesetzte
rege Theilnahme, welche er persönlich den Bestrebungen der durch ihn beschäf¬
tigten Gelehrten entgegentrug, hervorgehoben zu werden.
Wer diesem Fürsten jemals begegnet ist, der weiß von der Liebenswürdig¬
keit seines Wesens, von der Fülle seiner Kenntnisse, von dem aufrichtigen Stre
ben nach weiterer geistiger Anregung und Fortbildung zu berichten. Darum
war es auch nicht irgendein äußerer Grund, der ihn bewog, eine Reihe be¬
deutender Männer, Gelehrte, Künstler, Dichter in seine Umgebung zu ziehen,
nicht der oberflächliche Trieb nach Abwechslung und Unterhaltung, nicht leere
Eitelkeit und Ruhmsucht, sondern die hohe Achtung vor wahrer Wissenschaft und
denen, die sie Pflegen, und das Bedürfniß, seinen Geist zu erfrischen und zu
stärken in dem Umgang mit geistreichen, gelehrten Männern.
Der beschränkte Sinn des altbayerischen Schlages hat ihm gerade auf
diesem Gebiete seines Strebens oft Schwierigkeiten und Hindernisse bereitet.
Und nicht immer hat König Max die Kraft besessen, die Männer, denen er
geistig so viel näher stand als dem murrenden Idiotenthum seiner getreuen
Münchener, den Angriffen des xi'vkiuium ont^us gegenüber zu stützen und zu
halten. Dingelstedt, Dönniges, Sybel mußten der Wucht des bajuwarischen
Grimmes als Opfer fallen; aber es hat dem König eine schwere Ueberwindung
gekostet, die ihm vielleicht seine Rathgeber erleichtert haben, indem sie politische
Gegensätze, die unläugbar vorhanden waren, mit geschäftigem Eifer scharfem.
Ein glückliches Familienleben ebenso wie die dem Fremden unglaubliche
Einfachheit seines Hof- und Haushaltes ließ den König, namentlich bei seinem
häufigen Aufenthalte in den schönen Thälern des bayerischen Gebirges, sich
einem schlichten Bürger gleich suhlen. Wenn diese Einfachheit dem Sinne des
Königs und seiner Gemahlin, der Tochter des trefflichen Prinzen Wilhelm von
Preußen, schon an sich entsprach, so ermöglichte andrerseits nur sie die Auf¬
bringung der großen Summen, welche der König für die Wissenschaften be¬
stimmte. Sein Verdienst erscheint nur um so größer und bedeutsamer, indem
man sagen kann, daß seine Unterstützung der Wissenschaft nicht ohne persönliche
Opfer, nicht ohne Entsagung möglich war.
Fassen wir alles zusammen, so lautet unser Urtheil über Max den Zweiten:
er war kein großer, genialer, schöpferischer Geist, kein bedeutender Staatsmann,
keine epochemachende Persönlichkeit. Aber er war ein König, dessen Gedächtniß
Bayern als das eines ehrenwerthen, gewissenhaften Regenten, der stets das
Gute anstrebte, Deutschland als das eines rechtlichen und bundestreuen Fürsten,
wir alle als das eines eifrigen und hochverdienten Beförderers der Wissenschaft
treu in Ehren halten werden in alle Zukunft.
Es ist unbequem in den Stunden blutiger Entscheidung über Zustände zu
urtheilen, welche in den nächsten Tagen vielleicht überwunden und vergessen
sind. Der Sturm auf die Verschanzungen hat endlich begonnen und indem wir
dieses schreiben, wünschen wir innig, er möge so groß angelegt sein und so
energisch durchgeführt werden, daß'er mehr als die.düppler Schanzen in die
Hand der Preußen legt. Denn ein halber Erfolg wäre in diesem Fall kein
Erfolg.
Unterdeß beschränken wir uns auf wenige Worte über die kleinen Ereignisse
vor dem Sturm.
Die Landungsvcrsuche der Dänen haben wieder einmal einen kleinen Er¬
folg gegen preußische Cavallerie gehabt, welcher einen Beweis von Thätigkeit
der Dänen, von Unthätigkeit der Ueberraschten gegeben hat. Die Preußen
scheinen vergessen zu haben, daß für Cave>lieue die Sicherheit wie aller Erfolg
in der Bewegung beruht. Ist dieselbe isolirt, so muß sie, um gegen mögliche
Ueberraschung gesichert zu sein, den Feind durch fortwährende Unternehmungen
selbst unsicher machen und sich durch steten Quartierwechsel den Berechnungen
des Gegners entziehen.
Vor Düppel hatte man sich anscheinend ganz auf die Erfolge der Be¬
lagerungsarbeiten und der Artillerie beschränkt, weil die Dänen durch ihre
Passivität hierin einen endlichen Erfolg sicher stellten. Täglich wurden an
1000 Schuß preußischerseits gethan und dadurch circa 100 Dänen aus dem
Gefecht gesetzt. Die letztem erwiderten ungefähr 100 Schuß und verwundeten
oder tödteten nahe an 10 Mann täglich. Die Erfolge waren verhältnißmägig
gleich, das Resultat mußte also schließlich der Uebermacht gehören. Daß eine
angreifende Armee, daß ein Feldherr so nicht rechnen darf, versteht sick von
selbst. Schon hatte man zu lange gezögert und Zeit verloren. Wir hätten
deshalb auch gewünscht, daß man sich nicht so viele Tage vor dem Sturm auf
das Bombardement von Sonderburg eingelassen hätte. Ein Bombardement
wirkt nur moralisch, zum positiven militärischen Erfolg ^trägt es nicht bei. Läßt
man dem Bombardement also nicht unmittelbar die Aufforderung zur Uebergabe
(wie z. B. bei Fridericia) oder den Sturm folgen, so ist es nahezu nutzlos.
Der frischen That ist im Kriege jede sogenannte Grausamkeit gestattet, wie wir
uns z. B. höchlichst wundern, daß man nicht jeden ergriffenen und überführten
Spion ohne Weiteres hängt; ein experimentirendes Verwüster aber wird
immer das menschliche Gefühl der Unbefangenen gegen sich aufregen.
Die preußische Marine betheiligt sich, seitdem oder obgleich die Grille an
ihrer Spitze segelt, zu sehr an der abwartenden Politik der freien d. h. der
arbeitslosen Hand.
Unsere allgemeinen Besprechungen setzen wir in Folgendem fort.
Die Festungen und Verschanzunge n. — In dem früheren Ausspruch
„nur die Schwäche lasse die Belagerungen in den Kriegen hervortreten" soll
keine Verkennung der Festungen und Verschanzungen liegen; wir wollten damit
darthun, daß der Krieg seiner innersten Natur nach doch nur durch die leben¬
digen Streitkräfte Erfolge schafft, daß die gegnerischen Armeen, je mehr sie zur
Entscheidung drängen, um so mehr die Schia.ehe, den Kampf Mann an Mann
suchen, es um so mehr aus das einfache Todten absehen; daß aber, je mehr die
Entscheidung zurückliegt, je mehr das Tödten vermieden wird, sich um so mehr
Hindernisse zwischen Kugel und Mann aufwerfen. Die Befestigung ist nichts
als ein einzelnes Kriegsmittel, nicht der Krieg selber. Dies Mittel soll etwas
näher beleuchtet werden. —
Die Befestigungen bilden ein Schutzmittel gegen die feindliche Kugel und
gegen die feindliche Annäherung. Das Erstere wird erreicht durch die Stärke
des Walles und der Decken (Gewölbe und Erdlagen); das Andere durch Gräben
und steile, hohe Wände. Von allen kleinern sortificatorischen Hilfsmitteln sehen
wir ab, da sie sich alle Unter obige beide Gesichtspunkte unterordnen lassen und
ebenso leicht zu überwinden wie anzulegen sind. In allen Fällen müssen die
Befestigungen derart angelegt werden, daß sie unser» Schußwaffen die freieste
und sicherste Wirkung gestatten. Also ein tiefer, nasser Graben, ein guter Wall
und eine sichere Wassenwirt'ung, das sind die drei Erfordernisse, die an eine
Befestigung in allen Fällen gestellt werden müssen und umgekehrt kann man
sagen, je einfacher und klarer das Genügen dieser drei Erfordernisse aus einer
Befestigung hervortritt, desto besser, das heißt desto brauchbarer ist sie. —
Die Befestigungen sind entweder Festungen oder Verschanzungen. Die
erstem sind permanente Anlagen, welche ihre Bedeutung in dem Orte finden,
den sie einschließen; die andern sind vorübergehender Art, ihre Bedeutung liegt
uur darin, daß sie Stützpunkte einer militärischen Aufstellung bilden. — Mannig¬
faltig, wie diese Aufstellungen sind, ist auch die Anwendung der Schanzen. Und
wie der Krieg erfolgreicher ist, je mehr das Todten des feindlichen Soldaten die
Hauptsache ist, das Manövriren und Stellungeneinnehmcn zurücktritt, ebenso
und in demselben Verhältniß ist die Verschanzungskunst für die Armee wichtiger,
als die großen Festungen. Die Verschanzungskunst gestattet binnen 24 Stunden
aus jedem Aufenthaltspunkt einer Truppe einen festen Ort zu machen, der sich
unter den Augen des Gegners zur Festung entwickeln kann; eine Festung aber
fordert für alle Zeit die Kräfte des Landes und eine militärische Besatzung. —
Im Interesse des Landes wie der Armee liegt es daher, die Festungen auf ein
Minimum rü der Zahl zu reduciren und die Verschanzungskunst in der Armee
nach Kräften zu erhöhen. —
Die Dänen haben ihre Festungen Rendsburg und Friedrichssiadt und die
in den letzten zehn Jahren mit dem Aufwand großer Kosten befestigte Stellung
des Dannewerts freiwillig geräumt, sind hinter die düppler Schanzen zurück-
zegangen und haben diese in den letzten Wochen zu einer Festung verwandelt.
Die Oestreicher haben 1859 vor Beginn des Krieges aus Piacenza rasch noch
eine Festung gemacht und zu diesem Zweck sogar aus Verona ein reiches Ar-
tilleriematerial herbeigeholt, bei dein angetretenen Rückzug aber wurde Ort und
Material ohne Weiteres aufgegeben. Sewastopols Bedeutung erwuchs 1854
nicht aus den vorhandenen Festungswerken, sondern aus den neuen Schöpfungen
Tettenbvrns. Richmond ist nie eine Festung gewesen und vertheidigt sich nun
schon im dritten Jahre. Im Jahre 1806 verlor Preußen mit den Schlachten
gleich die größten seiner Festungen. Im Jahre 1813 eroberte Preußen seine
Länder wieder, die Festungen aber blieben im Besitz der Franzosen. 1814 und
1815 behielt Napoleon fast alle seine Festungen, verlor aber das Reich und die
Herrschaft.
Was bedeuten also Festungen? — Die Frage beantwortet sich nur durch
den schon erwähnten Satz: „der Krieg ist eine Fortsetzung der Politik." Die
Anlage von Festungen bezweckt die Ueberwindung einer politischen Schwäche,
welche dort fühlbar wird, wo man sie anlegt. Wir wollen dies an den Festungs¬
anlagen der Neuzeit zu beweisen suchen. England bat nur einen Feind, den
es fürchtet, und gegen diesen, Frankreich und seine Landungsarmce, hat es mit
aller Macht seine Südküstcn befestigt. So frei ganz England von Fortificcitionen
ist, dennoch strotzt Portsmouth und seine Umgebungen davon. — Frankreich
hat seinen zu fürchtenden Feind in der Revolution, deren Ursprung in seinen
beiden größten Städten liegt, deshalb sind die beiden einzigen, wirklichen
Festungsbauten der Neuzeit Paris und Lyon. Neben der Revolution respec-
tirt es die englische Flotte und deshalb bat Napoleon dem Hafen von Cher-
bourg seine besondere Aufmerksamkeit in fvrtificatoriscber Beziehung gewidmet.
Italien fängt erst an sich zu constituiren, aber schon jetzt baut es> gegen seinen
das Leben bedrohenden Gegner Oestreich. — Oestreich selbst hat zur Nieder¬
haltung seiner unruhigen Völkerschaften neu gebaut: Verona in Italien, Komorn
in Ungarn und Krakau in seinen polnischen Provinzen. — Deutschland kennt
nur eine Sorge, das ist Frankreich und ihm entgegen bat es Ulm, Rastatt,
Germersheim, Koblenz und Köln als Festungen neu erstehen sehen. Preußen
hat außerdem gebaut Posen zur Niederhaltung der Provinz. Königsberg und
Boyen gegen seinen großen Freund, Nußland. Mit der Sorge vor der Revo¬
lution ist auch der Wunsch rege geworden Berlin zu befestigen. — Rußland
endlich hat gebaut außer den Bergfestungen in Tscherkcssien, in Polen Motum
und Warschau und zwar in kolossalen Maßstab, und das was den Zugang zum
exponirten Petersburg erschwert. — Nordamerika kannte vor dem Bürgerkrieg
nur die englische Flotte als zu fürchtenden Gegner und hatte deshalb allein
seine östlichen Häfen mit Fortisicationcn versehen.
So die neuen Festungen, die ältern stammen aus den Wandlungen früherer
Politik, viele von ihnen haben ihre Bedeutung verloren und werden auf¬
gegeben, and/ren, welche große Städte einschließen oder bedeutende militärische
Etablissements enthalten, ist hierdurch eine innere Bedeutung geblieben, welche
ihr Fortbestehen sichert, und endlich giebt es deren, welche den Ansprüchen der
Neuzeit zu entsprechen scheinen und deshalb renovirt werden.
Wir aber glauben, daß wir in Uebereinstimmung mit dem bisher Gesagten
aussprechen können: Festungen sind ein Luxus und wie dieser immer eine
Leidenschaft der Mächtigen. Man verfolge eine klare und gerechte Politik, führe
einen Krieg nur in vollster Uebereinstimmung mit dem Lande, erhalte sich eine
gute, in der Verschanzuugskunst geübte Armee, dann kann man jedem Feind
entgegengehen und kann jede Stadt zu einer Festung machen; dann gewinnt
jede vorhandene Festung in ihrer Einwohnerschaft an Kraft und verspricht eine
Sündhaftigkeit, wie sie Fortificationen an sich nicht bieten können. Alle unsere
berühmten Vertheidigungen von Festungen haben nur untrer Theilnahme
der Einwohner stattgefunden. Permanente Festungen sind nicht nothwendig;
sie sonnen besser sein als die flüchtig angelegten; aber nicht die Fortificationen,
sondern der Geist, der sie belebt, bildet die Kraft der Festungen.
Die Armee freilich muß den Ansprüchen genügen, welche Güte und Festig¬
keit der eventuell feindlichen Armeen fordern, damit die Entscheidung in der
Schlacht gesichert sei. In Preußen z. B. ein sogenanntes Vvlkshccr einführen
zu wollen. — worunter wir allerdings nicht ein Heer verstehen, dessen Infan¬
terie zweijährige Dienstzeit hat — würde Selbstmord sein, so lange Rußland und
Frankreich noch in ihrer jetzigen Verfassung leben und die Armee als die
alleinigen Stützen ihrer Macht ansehen. Einer in fester Disciplin erzogenen
Armee sind nur ebenso geschulte Feinde ebenbürtig, an ihrer stählernen Kraft
bricht sich jede Begeisterung, die nicht durch Zucht gebändigt ist. Doch davon
ein ander Mal.
Mittelst anzulegender Verschanzungen soll man jede durch die Umstände
geforderte Stellung zu einer festen Position machen, soll man die schwachen
Punkte einer Linie in starke verwandeln und alle Vortheile der Fortification
überall zur Anwendung bringen können. So soll also der Tirailleur in einer
Gefechtslinie sich den Punkt auswählen, welcher ihm den besten Schuß gewährt
und sich dort fortisicatorisch, also z. B. mittelst eines Schützengrabens eingraben,
oder sich durch einen Erdhaufen decken, oder mittelst eines Baumstammes, einer
Laubwand einen gedeckten " Stand verschaffen u. s. w. - - Ist ihm das nicht
gelehrt, so macht er es umgekehrt, er sucht sich den besten Schutz für seine
Person und läßt es darauf ankommen, was ihm in den Schuß kommt. — Ent¬
sprechend ist es im Großen, wenn die Armee die Schanzen nicht gewöhnt ist;
dann sucht man nicht beherrschende, sondern schützende Stellungen, man giebt
mehr auf ein Hinderniß vor der Front als auf ein gutes Schußfeld, man sucht
Positionen statt den Feind. Man sucht seine Basis auf den vorhandenen
Festungen, statt die Orte, welche für den gerade vorliegenden Gefe/Htszweck die
wichtigsten sind, schnell zu befestigen und diese zu vertheidigen. — Man legt
Festungen an, statt jeden Ort nur im Nothfall so weit zu befestigen, als der
Krieg eben fordert.
Die Verschanzungskunst macht die Truppe freier vom Terrain und gestattet
um so viel mehr Berücksichtigung des Feindes, der doch das Object aller Kriegs¬
handlungen sein soll. Dieser Vortheil wird noch dadurch unterstützt, daß die
geübte Schanzkunst dem Soldaten auch die Anleitung giebt sich jede Lage be¬
quemer zu machen, nicht nur durch die größere Sicherstellung, sondern auch
durch eine Art häuslicher Anlagen. Spaten und Axt stoppeln überall eine
Hütte zusammen, schaffen Brennmaterial und Wasser. Je wohnlicher sich der
Soldat einrichten kann, je besser erhält er seine Gesundheit, je länger verträgt
er die Strapatzen ^es Krieges.
Also der Soldat müßte schon zu seiner eignen Erhaltung ebensogut wie
mit Nähnadel und Zwirn, mit Axt und Spaten ausgerüstet sein. Ebenso¬
gut wie die Römer Axt und Spaten dem Soldaten gaben, müßten wir es
thun. Man fordert, daß jeder Soldat in der Schneiderkunst ein wenig geübt
ist, noch viel mehr ist es nothwendig, daß jeder Soldat in der Verschanzungs-
kunst sicher ist.
Bis jetzt hat man diese Kunst allein den Genietruppen anvertraut; bei
der Ausbildung der Infanterie hat man sie oberflächlich behandelt, bei der Aus¬
bildung der Offiziere fast ganz unbeachtet gelassen. Wir behalten uns vor, in
einem nächsten Briefe über die Ausbildung der Truppen uns weiter darüber
auszulösen und dann auch darzulegen, wie wir diese Uebungen verstehen. .
Das neue Leben, welches durch die Conferenz und den französischen Vor¬
schlag, die Wünsche der Bevölkerung zur Friedensbasis zu machen, in unsere
Sache gekommen ist, hat sich in der verflossenen Woche nicht nur erhalten,
sondern in seiner Energie gesteigert und über weitere Kreise ausgebreitet. Alle
Schichten der Bevölkerung sind mehr oder minder davon ergriffen, selbst die
sonst nicht leicht entzündlichen Landleute der südlichen Marschen und Wagriens
scheinen jetzt hier und da Feuer fangen zu wollen.
Durchaus nach Wunsch der Patrioten ist der Städtetag in Neumünster
verlausen. Infolge der von den städtischen Collegien Kiels erlassenen Auf¬
forderung versammelten sich am 12. April Mittags im dortigen Bahnhofshotel
Vertreter von 37 Schleswig-holsteinischen Stadt- und Fleckcncommuncn. Aus
Holstein waren vertreten die Städte Altona, Kiel, Rendsburg, Glückstadt, Hei¬
ligenhasen, Itzehoe, Lütjenburg, Neustadt, Neumünster, Oldesloe, Oldenburg,
Ploen und Segeberg, sowie die (zum Theil sehr großen) Flecken Lunden, Mel¬
dorf, Heide, Crempe. Ahrensboek, Barmstedt, Bramstedt, Elmshorn, Kcllinghusen,
Pinneberg, Preetz, Uetersen, Wcssclburen, Wilster, Wandsbcck und Wedel. Aus
Schleswig hatten die Städte Eckernförde, Schleswig, Husum, Tönning, Garding,
Tondern und der Flecken Bredstedt im Friesenlande die Versammlung beschickt.
Neinfeld in Holstein hatte zwar keinen Vertreter, aber eine zustimmende Erklärung
gesandt. Aus den holsteinischen Städten waren in der Regel ein Mitglied des
Magistrats und einige Mitglieder des Deputirtencollegiums (Stadtverordneten¬
versammlung), aus den Flecken der Vorsteher des Fieckencollegiums nebst einem
Beigeordneten erschienen. Von Rendsburg und Piper waren keine Vertreter
des Magistrats gekommen, sondern nur Abgeordnete des Deputirtencollegiums.
Die Bürgermeister der schleswigschen Städte, welche vorher angemeldet gewesen,
ließen sich mit Hinweis auf das inzwischen ergangene Verbot der Civilcommissäre
entschuldigen.
Die Vertreter Kiels eröffneten die Versammlung und wurden mit dem
Vorsitz betraut. Die Verhandlung begann mit der Uebergabe von Erklärungen
der einzelnen Ortschaften, welche sich entweder an die Declaration der Stände
Holsteins oder, was wesentlich gleichbedeutend, an die am 2. April gefaßten
Beschlüsse der städtischen Collegien Kiels anschlössen, und die man schließlich
dem von den Ständen niedergesetzten Ausschuß zur Überreichung an den Reprä¬
sentanten des deutschen Bundes auf der Conferenz in London zu übergeben beschloß.
An diese Verhandlung knüpfte sich eine kurze Debatte über die Begründung
eines Städtctags als eines ständigen Organs für sämmtliche Stadt- und Fleckens-
cvmmunen des Herzogtums, welches den Zweck haben soll, gemeinschaftliche
Angelegenheiten gemeinsam zu berathen und zu betreiben. Der Nutzen eines
solchen bisher fehlenden Instituts lag so aus der Hand, daß er sofort allgemein
anerkannt wurde, und daß man die Vertreter Kiels durch einmüthigen Beschluß
ersuchte, die Wiederbcrufung des Städtetags für solche Gelegenheiten, welche
dieselbe nothwendig erscheinen ließen, zu übernehmen und ein Reglement für
denselben zu entwerfen. Vorläufig kam man überein, daß die Einberufung
erfolgen müsse, wenn sie von acht Städten verlangt werde. Die Stimmung
der Versammelten war durchweg vortrefflich, und diese erste Vereinigung von
Abgeordneten fast aller städtischen Gemeinden des Landes hat sicherlich die beste
Wirkung aus die Entschlüsse der jetzt wieder Heimgekehrten für die im Anzug
begriffnen Tage der Entscheidung gethan.
Ein anderes Zeichen wiedererwachten politischen Lebens brachte der 13. April,
indem sich an diesem Tage nach vierzehnjähriger Unterbrechung zu Kiel die nicht
zum Corps der Ritterschaft gehörigen Gutsbesitzer zu einer Berathung versam¬
melten. Veranlassung dazu gab die bevorstehende londoner Conferenz, und es
wurde der Beschluß gefaßt, im Anschluß an die Erklärungen der holsteinischen
Ständcmitglieder und der schleswigschen Vertrauensmänner gegen jede Verfügung
über das Recht der Herzogthümer, die ohne Mitwirkung der Repräsentation
derselben getroffen werden sollte, Verwahrung einzulegen. Dieser Beschluß
wurde einstimmig gefaßt. Dann endigte die Verhandlung mit der Wahl einer
neuen Deputation (Ausschuß), die aus den Gutsbesitzern Hirschfeld auf Grvß-
nordsee, Mariens aus Neunordsee und Behüte aus Virkemoor besteht.
Ferner trafen in den letzten Tagen eine ganze Anzahl von Berichten über
feierliche Zustimmungserklärungen von Korporationen und Gemeinden, auch
Dorfcommunen, theils zu den ständischen Beschlüssen vom 5.. theils zu der Er¬
klärung der kieler Stadtvertretung, theils zu der Resolution der rendsburger
Versammlung von Delegirten der Schleswig-holsteinischen Vereine hier ein. So
haben unter andern das brunsbüttelcr Kirchspiels- und Kvogscvllcgium, die Kirch¬
spielsversammlung in Hohenwcstedt, die Amtsversammlung in Trittau, die Dorf¬
schaft Vvrbrügge, das Kirchspiel Stellau und das Kirchspiel Nordermeldorf sich
geäußert. Aehnliche' Erklärungen liegen von den Lehrercollcgien sämmtlicher
Gymnasien Holsteins mit. Ausnahme des plocner vor, und in gleicher Weise
hat das Schullchrerseminar zu Segeberg sich mit der ständischen Rcchtsverwahrung
vom S. einverstanden erklärt. Bei der Adresse des meldorfer Gymnasiums ver¬
missen wir nur den Namen des Conrcctvrs Jungclauscn. Dagegen haben wir
die Freude, zu vernehmen, daß der Director der altonaer Gelehrtenschule, Pro¬
fessor Lundt sich auf feine Pflicht besonnen, seinen dein Dänenkönig „in der
Ueberraschung" geleisteten Eid förmlich zurückgefordert und sich durch Namens-
unterschrift unter die betreffende Zustimmungsadresse seiner College» fortan zum
Rechte des Landes zu stehen verpflichtet hat. Es ist mehr Freude im Himmel
über einen Sünder u. f. w. Wir haben aber die Genugthuung, zu melden,
daß es schon mehr als einen Bekehrten giebt, da auch der Rathsherr Nohlfs
in Segeberg, der ebenfalls den Homagialeid geleistet hatte, sich der Schaar von
Liebhabern der Gerechtigkeit angeschlossen hat, welche sich um die Deklaration
vom S. April gruppirt, und da schon zu einer Zusammenkunft eingeladen wird,
welche sämmtliche „Ueberraschte" zu gemeinsamer Umkehr zu bestimmen versuchen
soll. Schade nur, daß die Herren, von denen die Aufforderung dazu ausging,
nicht den Muth besaßen, sich zu nennen.
Die Landbevölkerung ist, wie angedeutet, im besten Zuge, dem Beispiel
der Städte zu folgen, und man erwartet von allen Seiten zahlreiche Beitritts¬
erklärungen. Die Schullehrer und Pastoren wirken fleißig für Aufklärung in
der Sache, und die kleine Presse der Wochenblätter beginnt mit Aufsähen, die
dem Verständniß dieser Kreise angepaßt sind, einen guten Erfolg verheißende
Agitation. Einer dieser Aufsätze mit dem charakteristischen Titel „Knopf auf den
Beutel!" welcher auf die finanzielle Prägravativn der Herzogthümer durch die
Dänen hinweist und darthut, daß die Schleswig-Holsteiner in den letzten zwölf
Jahren an fünfzig Millionen preußische Thaler auf Nimmerwiederkehr nach
Dänemark wandern sahen, eine „Dänensteuer", welche der Verfasser nicht un¬
geschickt mit der alten Türkensteucr in Deutschland vergleicht, wird besonders
kräftigend auch auf die Stimmung der Nvrdschleswiger eingewirkt haben. Ein
anderer, „der ewige Krieg" überschrieben und bestimmt, dem Volke vorzuhalten,
daß ein Abkommen, welches den Herzogthümern nicht ihr volles Recht, d. h.
die Ausscheidung aus dem Verbände mit Dänemark zugestände, nicht zum
definitiven Frieden, sondern nur zu einem Waffenstillstande führen und so den
Krieg mit seinen Schrecken und Lasten verewigen würde, dürfte in seiner drastischen
Abfassung gleichfalls selbst unter denen gute Dienste thun, welchen das Gewissen,
wie einer dieser Artikel sagt, nicht in der Brust, sondern im Beutel sitzt.
Recht tapfer und fleißig arbeiten namentlich die „Jtzehocer Nachrichten", ein
Journal, welches an zwölftausend Abonnenten zählen soll und bis tief nach
Schleswig hinein die journalistische Speisung ländlicher Gemüther besorgt. Nicht
gerade im besten Deutsch geschrieben, meist etwas weitläufiger als billig — ich
vermuthe, die Mitarbeiter find zum großen Theil Schullehrer und Landpastoren
— geht das Blatt doch immer den rechten Weg und versieht entschieden, was der
Wille und das Interesse der ungeheuren Mehrzahl hier zu Lande ist. Dasselbe
geschieht von Seiten der in weit besserem Stil gehaltenen „Schleswig-Holsteinischen
Zeitung". Ebenfalls recht gut ist der „Altonaer Mercur", der nächst den „Nach¬
richten" die größte Verbreitung in den Herzogthümern hat. Die neue „nord¬
deutsche Zeitung", welche zu Flensburg im Verlag des patriotischen Hcrzbruch
erscheint, hat einen lobenswerthen Anlauf genommen und hat nur den einen
Fehler, daß sie keinen Corrector zu besitzen scheint. Auch die „Schleswig-Hol¬
steinischen Blätter" brachten in den letzten Tagen einige wvhlgeschricbenc Original-
artitcl, doch würde etwas mehr von diesen nicht schaden können. Die neulich
von ihnen dem Publicum vorgesetzte Abgeschmacktheit einer Bcttlcneise nach
Paris bin' ich geneigt als bloßen I-ZP^us clüami des biedern Dvrfpastors, der
sie dem Vernehmen nach verfaßt, anzusehen, und die Aufnahme von Seiten
der Redaction wird vielleicht damit entschuldigt werden dürfen, daß der Ver¬
stand besagter Redaction damals entweder gerade einen Spaziergang machte
oder sich einem Schläfchen überlassen hatte.
In der Hamburger Presse tragen besonders „Das neue Hamburg", ein sehr
gut geschriebenes Journal, und die „Hamburger Zeitung", die bisweilen Artikel
von offenbar wohl unterrichteter Hand bringt, den Krebs der Gerechtigkeit in
unsrer Sache. Die übrigen Blätter des politischen Großträhwinkcl an der
Elbe sind meist flau, wie der Geist ihrer Stadt; die „Börscnhalle" soll zu
Graf Rechberg, die „Nessel", von einem Geistesverwandten des Herrn Braß
redigirt, von dem vielberufenen Feier-Meyer herausgegeben, und längst schon
bei allen Hvlsteincrn des Rechts, sich nach dem Wappcnbild unseres Herzog-
thums zu nennen, verlustig gegangen, zu Herrn v. Bismarck in intimen Be¬
ziehungen stehen. Die „Reform" ist consequent dänisch, der „Freischütz" wie
immer ein bloßes Klatschblatt.
Das vor einiger Zeit als demnächst erscheinend angekündigte feudale Organ
„Das Interim" liegt noch in den Geburtswehen und wird, nachdem man hier
dem vielnamigen Individuum, welches es mit seinem Geist versehen sollte, auf
die Spur gekommen (dasselbe führte bald den dänischen Namen Lund, bald
hieß es Lang, bald wieder anders, und empfing, wie man wissen will, für
Correspondenzen für die „Kreuzzeiiuug" und ein Organ des Grafen Ncchberg
wiederholt beträchtliche Geldsendungen ans Berlin und Wien) in Kiel wenigstens
nicht gut erscheinen können, ohne seiner Redaction Verlegenheiten der unwill¬
kommensten Art zu bereiten.
Das, die wenigen Dänischgesinnten im Lande sich den Kundgebungen für
unser Recht gegenüber ebenfalls regen würden., und daß namentlich die Clique
der fünf oder sechs Grafen und Freiherr,,, die Christian von Dänemark für
unser» Hcrzogsstuhl im Auge haben (man kennt aus den, englischen Blaubuch
Scheck-Plcssens unvorsichtige Erklärung über den eigentlichen Grund dieser Lieb¬
haberei) es an einem Versuch nicht fehlen lasst,, würden, eine Gegendemonstra¬
tion in Scene zu setzen, war zu erwarten. In der That erfuhr man denn
auch vor einigen Tagen, daß Graf Reventlow-Farve mit einigen Standes-
genossen sich bemüht hatte, am vorigen Sonnabend zu Lensahn im südöstlichen
Holstein eine Versammlung von bäuerlichen Gutsbesitzern zu Stande zu bringe»,
in welcher eine Gegenerklärung gegen die Declaratioi, der Stände unterzeichnet
werden sollte, Und wirklich soll es den betreffenden Herrschaften, die sonst all¬
gemein für echtes Vollblut gehalten werden wollen, geglückt sein, zwei oder
gar drei Dutzend Jnseen und Dreschersleute ihrer Gutsbezirke zu überreden,
sich den gnädigen Herren durch Hinmalung ihres Namens „anzuschließen". Der
Gedanke jedoch, mit Hilfe von Vorspiegelungen (man soll den guten dummen
Vaucrknabe» die Erhebung des „AugustenbnrgerS" zum Herzog als gleichbedeutend
mit Wiedereinführung der Leibeigenschaft dargestellt haben) hier zu Lande einen
Ableger der „kleinen, aber mächtigen Partei" zu pflanzen, wird unzweifelhaft
in den Bor» falle». Selbst eine Coalition des Grafen Reventlow-Farve mit
der demokratischen Reform, welche von der mit dieser Adelsgesellschaft wohl¬
bekannten „Schleswig-Holsteinischen Zeitung" für nicht undenkbar gehalten wird,
möchte bei den, gesunden Sinn unseres Volkes keinerlei Gefahr drohen.
Ändcrweite Bestrebungen im dänischen Interesse werden aus Südsehleswig
berichtet. Namentlich soll ein dortiger Gutsbesitzer, ein Herr v. Ladiges in
Hütte», früher Premierleutnant in der dänischen Armee, sich solcher Bestrebungen
schuldig gemacht haben. Noch andere Versuche dieser Art hat bereits die Volks¬
justiz gestraft. Ein hiesiger Tischler hatte sich unterstanden, in Dörfern, der
Umgegend für landesfeindliche Zwecke zu werben, und die Folge war, daß man
ihm sei» Mißfallen durch Einwerfen der Fenster zu erkennen gab. Das in
aufgeregter Zeit besonders thätige Gerücht brachte dann mit dem Erwähnten
und dessen Treiben andere im Geruch dänischer Gesinnung Stehende und unter
diesen namentlich einen hiesigen sehr wohlhabenden Advocaten in Verbindung,
und wieder gab es eine gute Anzahl zerbrochener Fensterscheiben. Es würde
deren vermuthlich noch einige mehr gegeben haben, wenn Kiel einen eigentlichen
Pöbel hätte. Wie die Sachen stehen, genügte die Warnung der Polizei, die
an den Ecken zu lesen ist, und die weißen Binden der Bürger, die sich zu frei¬
willigen Constablern constituirten, um die Ordnung herzustellen.
Wir begreifen die Entrüstung, die sich auf diese Weise Luft machte, voll¬
ständig, und wir würden es selbst begreifen, wenn größerer Schade geschehen
wäre, als dieser, den der Glaser zu heilen im Stande ist. Indeß werfen solche
Ausbrüche immer einen gewissen Makel auf unsere Sache, und da die Gegner
dergleichen zu benutzen Pflegen, um von Einschüchterung zu reden, so ist es gut,
wenn dem Lynchen ein Riegel vorgeschoben wird. Zudem sind die Dänenfreunde
in Kiel so wenig zahlreich, daß man sie auf ein Lindenblatt schreiben könnte,
und für etwaige Aeußerungen ihrer Gesinnung straft sie die allgemeine Ver¬
achtung vorläufig in vollkommen hinreichendem Maße.
Dies gilt auch von Baron BIvme, der, wegen seiner Erklärung gegen die
Stände von allen Seiten und am besten von einem einfachen bäuerlichen Ab¬
geordneten zurecht gewiesen, in einer zweiten Aeußerung sein landesfeindliches
Betragen zu rechtfertigen und als echten unverfälschten Patriotismus darzustellen
versuchte. Nach dieser neuen Expectoration hätte der Baron lediglich das Wohl
des Landes vor Augen, und dies wäre für ihn bedingt durch die Fortdauer
der engen Verbindung Schleswigs mit Holstein. „Es giebt keinen Winkel aus
der Erde," fährt der Patriot von Heiligenstctten emphatisch fort, „der dunkel
genug sein würde, meine Scham zu verbergen, wenn ich je vergessen könnte,
daß Schleswig und Holstein immer dasselbe Schicksal theilen sollen." Und da
er nun fürchtet, daß Schleswig durch die Bestrebungen des „Prätendenten",
dessen Berechtigung ihm übrigens durchaus nicht erwiesen zu sein scheint, von
Holstein abgerissen werden könnte, so würde er „es für eine elende Schwachheit
halten"....
Genug der heuchlerischen Phrasen. Ich gebe mir nicht die Mühe, der¬
gleichen Redensarten zu widerlegen. Es genüge, zu constatiren, daß sie nie¬
mand, als bestenfalls der Baron selbst und sein Anhang.unter den Feudalen
glaubt, und daß auch die Mittheilung über das Primogeniturstatut in der
„Kreuzzeitung". welche das zarte staatsrechtliche Gewissen Blomes in Brillant¬
feuerwerk zu zeigen bestimmt war, kläglich verpuffte, nachdem man entdeckt, daß
der Beweis, der damit gefühlt werden sollte, sich aus eine Auslassung gerade
des wichtigsten Satzes des Statuts gründete.
Wie Juristen eine solche Auslassung nennen, lassen wir hier dahingestellt.
Daß ein solches Manöver unter anständigen Leuten üblich sei, können nur die
Leser des würdigen Blattes behaupten wollen. Hier ist nur eine Stimme
darüber, und die lautet nicht ermuthigend für weitere Versuche, den Schleswig-
Holsteinern Staatsrecht zu lehren,
Am Orte möchte noch sein, gegenüber den beiden blomeschen Reclamen
daran zu erinnern, daß >der Baron in der Versammlung zu Hamburg am
24. November v. I. durchaus kein Bedenken trug, die erste Eingabe der hol¬
steinischen Abgeordneten und Stellvertreter an den Bund mit der Unterschrift
seines Namens zu versehen. In dieser Eingabe aber wurde bereits für jeder¬
mann, der sehen wollte, und namentlich für Diplomatenaugen wie die des
frühern Gesandten deutlich genug das augustenburgische Erbrecht anerkannt und
die Hilfe des Bundes für dasselbe mit in Anspruch genommen. Der Baron
hat sich also durch sein jetziges Auftreten allermindestens einer großen Incon-
sequenz, Andere werden sagen, eines unverzeihlicher Abfalls von seiner Ueber¬
zeugung und seiner Pflicht schuldig gemacht.
Von hier an rechnen wir ihn zu den Todten. Seine Grabschrift aber möge
man aus folgender, jetzt durch alle Blätter des Landes gehenden, vom Ein¬
sender als verbürgt bezeichneten Notiz der „Norddeutschen Zeitung" in Flens-
burg wählen.
„Als die Bundescommissare ihre Landesverwaltung in Holstein eben an¬
getreten hatten, ließ sichs die Bundesversammlung nachträglich noch ein Tele¬
gramm kosten, um die Commissäre zu instruircn, den Herren Blome und
(Scheel-) Plessen keinerlei Amt anzuvertrauen. Als diese Instruction von dem
betreffenden Buudesgliede (richtiger Wohl Bundestagsgesandter) motivirt worden
ist, hat die Bezeichnung „Landesverräther" für jene Ritter von der traurigen
Gestalt ausdrücklich Anwendung gesunden."
Schließlich noch die Notiz, daß auch die freiwillige Anleihe hier in der
Stadt und an mehren Punkten des platten Landes (man nennt vorzüglich die
sonst ziemlich zähe Propstei und Ditmarschen) von Neuem erfreuliche Fortschritte
macht. Hier in Kiel sind jetzt bereits über dreiunddreißigtausend preußische
Thaler gezeichnet, und ich finde in der Liste zwei Namen mit je 1000 Thalern
(Bankier Uhlemann und die Firma Schweffel und Söhne), drei mit je 500, einen
mit 300, zwei mit je 2S0, drei mit je 200, zehn mit je 100 und eine be¬
trächtliche Anzahl mit je 30 bis SO Thalern. Ich bemerke dazu, dass Kiel nur
achtzehntausend Einwohner hat und unter seinen Bürgern zwar manchen wohl¬
habenden, aber keinen im leipziger Sinn des Wortes reichen Mann zählt.
Ich glaube, es giebt bei Ihnen einige, die diese Notiz mit Nutzen für ihren
politischen Ruf lesen könnten. Das größere deutsche Publicum aber wird ein¬
geladen, in den Spiegel zu blicken, der ihm die nachstehende fernere Notiz hinhält:
Gezeichnet bis Mitte März für die freiwilligen Anleihen:
Das unterzeichnete, im Februar d. I. in Hamburg zusammengetretene Comite
hat es sich zur Aufgabe gestellt, die Leiden der Verwundete» und Kranken nach
Kräften zu lindern und denselben diejenigen Erguicknngcn und Bequemlichkeiten zu
verschaffen, welche selbst die vollkommenste Lazarethvcr>valtung nicht gewähren kaun.
Zu zweckmäßiger Ausführung seiner Absichten hat das Conn6 eigene Agenten
in die verschiedenen Städte Schleswigs entsendet, um an Ort und Stelle die Ver¬
wendung der Gaben zu überwachen, und glaubt nach den seither gemachten Er¬
fahrungen mit dieser Einrichtung den Wünschen der Spender am wirksamsten ent¬
sprochen zu haben.
Im Hinblick darauf, wie auf die Lage Hamburgs in nächster Nähe des Kriegs¬
schauplatzes, erlaubt sich deshalb das Comite jetzt, wo in Folge der neuesten Ereig¬
nisse die Bedürfnisse sich wieder gesteigert haben, seine Vermittlung anzubieten Allen
im deutschen Vaterlande, Vereinen wie Privaten, die zur Pflege von Verwundeten
und Kranken durch Liebesgaben beitragen wollen, damit der Zersplitterung vor¬
gebeugt werde und durch Vereinigung der verschiedenen Kruste in einem Mittel¬
punkte die Hilfe sich desto wirksamer und ausreichender gestalte.
Jeder der Unterzeichneten wird zu diesem Zwecke Gaben bereitwilligst entgegen¬
nehmen.
Naturalscndungcn werden an die Herren G. Löning Kaufmann, kleiner
Jungfernstieg 2, erbeten.
Comite M Pflege von Verwundeten und Kranken.
Theodor Schmidt, erster Vorsitzender. Zt. !M. Stomcm ör., zweiter Vorsitzender.
Ad. An^ander. Heinrich Ümsincii. Cvsnr Hodvsswi). Heorn,e F. Horrissen.
H, Hessmrich. Ferdinand Iacrmsvn. I. C. Jauch. Sir,. Ztaujmun». -f. L. Loc-
h>'.ni!r. ß. ». Lind. Iaevli Zweyer. I. E. Zllulzentiecher. Ätlirecht Ü'Soult.
^. M Nei)o. Th. Nenner. Ztndvtnh Schröder, -f. i^d. Schutt. Ad. SoMeer. t^r.
F. Weslenhotz. l)r. Hirsch, Sccretür.
Es ist bemerkenswert!), daß zwar genaue Untersuchungen die Entstehung
der niederländischen Oelmalerei ermittelt haben, daß man aber mit zu wenig
Interesse auf die Bestrebungen geachtet hat, die sich in den italienischen Schulen
zur Erreichung eines gleichen Zieles kundgaben. Die Streitigkeiten zwischen
deutschen und italienischen Forschern über die etwaigen Ansprüche der van
Eycks oder Antonello da Messinas auf Einführung der Oelmalerei in Italien
haben im Ganzen wenig gefördert. Zu schnell hat man als Thatsache betrach¬
tet, daß Italien einem dieser Künstler das Geheimniß in Oel zu malen ver¬
dankt und daß durch sie allein die neue Technik entdeckt worden. Niemand hat
es durchgeführt, die möglichen Ansprüche Dvmenicos, der Peselli oder Alesso
Baldovinettis zu prüfen; wer ja dergleichen versuchte, ist gar bald durch die
Mühseligkeit des Nachforschens und den Mangel an sicheren Nachrichten abge¬
schreckt worden.
Auch liegt ein fesselnder Reiz in der Erzählung, wie Johann van Eyck
Veranlaßt worden ist die Chemie der Malerei zu siudiren. Um den Fortschritt
seiner Erfindung zu begreifen, müssen wir uns die Arbeit, Zeit und Mühe
vergegenwärtigen, die nach dem alten System, das van Eyck zu bessern be¬
absichtigte, aus ein Bild verwendet werden mußte, um es seiner Vollendung
zuzuführen. Der Maler verarbeitete damals kein fertiges Material, sondern
präparirte seine Farben selbst. Die Tafel bestand aus sauber in einander ge¬
fügtem Holz, von ihr verlangte man, daß sie äußeren Stößen widerstand, sich
die ebene Oberfläche bewahrte und vom Wechsel der Witterung unberührt blieb,
nicht geworfen wurde, nicht Unebenheiten, Risse, Flecken erhielt. Eine solche
nicht allzu geglättete Tafel wurde zuerst grundirt, dann ward eine darüber ge¬
spannte Leinewand in die Grundirung hineingeklopft; demnächst die Zeichnung
auf die fo vorbereitete Unterlage mit einschneidenden Umrissen eingetragen, und
zwar nicht nur die allgemeinen Züge des Gegenstandes, sondern auch die
kleinste Detaillirung. Dann begann das Färben des Hintergrundes, des Falten¬
wurfes und die Vergoldung der Heiligenscheine — erst ganz zuletzt wurde mit
der Carnation begonnen. Vom modernen Standpunkt aus sollte man meinen.
daß. um diese herzustellen, der Maler für zahlreiche Nuancen in den Lichtern,
für Mitteltöne und Schatten des Fleisches eigene Farben ausgesucht und ge¬
mischte hätte — keineswegs. Nach dem alten System wurden die gehörig
markirten Umrisse der Fleischtheile mit einem blau- oder grünlichgrauen gleich¬
mäßigen Ton bedeckt, und Licht und Schatten durch Linien hineinschraffirt.
Liebe zur Sache und Ausdauer war für die Modellirung nöthig. um ein gleich¬
förmiges Ganze zu vollenden, Diese Art von Arbeit, welche mühevollem Zeich¬
nen fast ähnlicher war. als unserem Malen, bedürfte einer durchsichtigen Lasur,
um ein natürliches Aussehen zu gewinnen, und zuletzt als Hauptsache des
Ueberzuges durch einen braunen Firniß, welcher die Ähnlichkeit mit der Natur
vollkommen machen sollte. '
Wie unzählige Male das Bild zum Trocknen ausgelegt werden mußte, ehe
es zuletzt gefirnißt werden konnte, wissen nur diejenigen, die das alte Ver¬
fahren kennen. Aber mit dem Firniß schloß dann auch die Arbeit ab. Er
gab dem Ganzen noch die letzte Färbung und diente zugleich als Schutzdecke,
ohne welche das Gemälde vielem Farbenwechsel ausgesetzt und zu leicht vergäng¬
lich gewesen wäre. Dieser letzte Proceß wurde in der freien Luft vorgenommen
und die Tafel dann so lange den Sonnenstrahlen ausgesetzt, bis der Firniß,
eine feste, undurchdringliche Substanz, erhärtet war.
Aber was geschah, wenn bei solcher Operation die Sonne eine schlecht
gefügte Fassung der Tafel beschien oder ein Stück Holz eintrocknete, dessen ein¬
zelne Theile schlechter als die übrigen waren? Dann klaffte die Tafel, dann
warf sich das Holz und die Frucht von oft jahrelangem Fleiß konnte in wenig
Secunden zu Nichte gemacht werden. Nach Vasari wäre dieser Unglücksfall
Johann van Eyck zugestoßen und hätte den Maler veranlaßt, seine Aufmerk-
samkeit auf die chemische Verbesserung der Malerei zu richten.
Hier aber sollen nicht die Neuerungen dargestellt werden, die Johann oder
sein Bruder Hubert van Eyck hervorriefen. Absicht dieser Seiten ist, zu er-
weisen, daß die Bestrebungen der Florentiner. im fünfzehnten Jahrhundert
unabhängig waren von den Verbesserungen der van Eycks und des
Antonello da Messina. Zwei sich deutlich unterscheidende Reihen von Künst¬
lern arbeiteten in verschiedenen Ländern auf dasselbe Ziel hin, ohne daß eine von
der Methode der andern irgend etwas kannte. Der früheste und glänzendste
Erfolg krönte die Arbeiten der Flamländer; die Florentiner dagegen hatten
längere Zeit mit Schwierigkeiten zu kämpfen und erzielten erst in einer späteren
Periode Resultate. In Florenz erwuchs dem Fortschritt der Oelmalerei ein
wesentliches Hinderniß dadurch, daß der Versuch, die neue Methode in Wand-
Malereien einzuführen, gänzlich fehlschlug, und daß die Entmuthigung. die
diesem Mißlingen folgte, auch solche verzagt machte, welche wohl befähigt ge¬
wesen wären, diese Art der Technik auf Tafeln mit Erfolg anzuwenden.
Hier soll zuerst erörtert werden, was die neuesten Untersuchungen über
das Leben der italienischen Maler ermittelt haben, denen die Neuerungen
größtentheils zu verdanken sind. Dann werden die Veränderungen in der
Technik selbst dargestellt.
Es ist allgemein zugestanden, daß sich die van Eycks durch allmälige Ver¬
besserungen folgende Fertigkeiten aneigneten. „Sie mischten die Substanz, die
man sonst nur als künstlichen Firniß zu tsmpei-g, Bildern benutzte, unter die
Farben selbst, milderten die Zähigkeit jenes Firnisses durch bis dahin unbekannte
Mittel und verwandelten ihn aus einem braunen, dunklen und klebrigen in
ein verhältnißmäßig blasses und farbloses Bindemittel."
Diese Annahme ist nicht neu, das Leben der van Eyck ist ausführlich und
erfolgreich beschrieben worden. Von den technischen Mitteln des Antonello da
Messina hingegen kann nicht dasselbe gesagt werden, auch von seinem Leben
liegt noch vieles im Dunkel. Deshalb erbitten wir die Geduld der Leser bei
Erörterung einiger Punkte, die mit der Ausbildung seines Talents und seiner
Künstlerlaufbahn in enger Verbindung stehen. Antonello ist nach übereinstim¬
menden Zeugnissen in den ersten Jahren des fünfzehnten Jahrhunderts zu
Messina geboren, er stammte aus einer Familie, welche sich durch mehre Ge¬
nerationen mit Malerei beschäftigt hatte. Dies ist in Italien durchaus nichts
Ungewöhnliches und es ist uns z. B. bekannt, daß Cosimo Rossellis Vater,
Onkel und Großonkel demselben Beruf gefolgt waren. Aber über die Kunst
der Vorfahren Antonellos wissen wir allerdings nichts Näheres.
Vasari behauptet, Antonello habe in Rom studirt. Dies ist wahrscheinlich
ein Irrthum. Theilt man aber den Jugendjahren des Malers irgendeines jener
tempera Bilder zu. die man noch jetzt im Innern von Sicilien antrifft, so muß
man allerdings auch annehmen, daß er den Vorbildern, die ihm in Mittelitalien
zugänglich waren, nicht fremd geblieben ist. Daß ihn späterhin der Reiz der
niederländischen Methode angezogen hat, wäre natürlich genug, wenn wir be¬
weisen könnten, daß er mit eignen Augen die Pracht schaute, womit Alfonso von
Arragonien sein Hoflager in Palermo umgab; denn Alfonso beschützte Kunst
und Wissenschaft und zeigte seine Vorliebe nicht nur für die Meisterwerke der
großen Florentiner, sondern auch für die besten Erzeugnisse der Niederländer.
Mehr als einmal ward ihm Gelegenheit, die Bilder Fra Filippo Lippis zu
bewundern, die ihm durch die schmeichelhafte, wenn auch nicht immer uneigen¬
nützige Zuvorkommenheit der Medici übersandt wurden, und oft fand er Ver¬
gnügen in dem Ankauf der Tafeln, die von der sorgfältigen Hand van Eycks
oder van der Weytens herstammten. Es ist ferner möglich, daß Antonello mit
dem Hof in Neapel in Verbindung stand, der noch höhere Ansprüche auf Kunst¬
geschmack machte, als der Hof in Palermo. Denn der bedeutendste Fürst dieses
Hauses, Robert der Weise, .trat als Freund und Schutzherr von Cavallini und
Giotto auf und die späteren Fürsten waren stolz auf dieses Mcicenat. Die An¬
nahme, daß sich Antonello an diesen Hof begab, trotz der damals herrschenden
Feindseligkeit zwischen Neapel und Palermo, hat nichts Gewagtes. Schon längst
war es üblich, daß sich Künstler nicht an einen Fürsten oder eine Stadt in
Italien gebunden achteten. Gerade in demselben Zeitabschnitt, von dem wir
jetzt reden, hatte Piero della Francesca zuerst das Portrait des Sigismund
Malatesta, dann das des Friedrich von Montefeltro gemalt, als Günstling zweier
Prinzen, die sich tödtlich haßten und ihr ganzes Leben hindurch feindlich gegen¬
überstanden. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß Antonello in den Jahren
1438—42 nach Neapel und an den Hof Neues von Anjou ging. Verschiedenes
deutet darauf hin. Es ist aber durchaus nicht nothwendig vorauszusetzen, daß
er Jahre lang in dieser südlichen Residenzstadt dem Studium oblag, wo, wie
wir wissen, keine locale Schule von einigem Werth existirte, sondern wo jeder
bedeutende Künstler ein Fremder und erst infolge seines Rufes hingezogen
worden war*).
") Die folgende Anmerkung hat den Zweck, die ganze neapolitanische Malerschule aus der
Kunstgeschichte zu streichen.
In einer langen Legende, in welcher sich eine wuchernde Phantasie kund giebt, wo es
gilt Thatsachen darzustellen, schildert Dominici die Kunst in Neapel. Die Form seines lüge»,
hasten Geschichtswerks ist ermüdender und länger als selbst die Berichte der Bollandisten, wenn
sie über die ersten christlichen Märtyrer erzählen. Ein Buch vou mehren Bänden, in denen
kaum ein Körnchen feststehender Thatsachen zu einem Wust von Fabel» emporwächst. Die
verdienstvollen Arbeiten von Schulz dessen — Denkmäler dem Publicum verschlossen bleiben
werden, so lange sie in ihrer kostspieligen Eingezogenheit beharren — haben Vieles auf den
richtigen Standpunkt zurückgeführt, was Dominici ohne zu erröthen behauptet; aber wir er¬
warte» immer noch den Mann, der die Geschichte erst niederreißt und dann ehrlicher wieder
aufbaut.
Viele von den Meistern, die im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert Neapel ver¬
herrlicht haben sollen, haben lediglich in der Phantasie der Biographen gelebt und sind Ge¬
schöpfe ihrer Einbildungskraft, andere wiederum erlangten ihre Berühmtheit nicht dadurch,
daß sie Neapolitaner waren, sondern hatten sich an andern Orten Italiens einen Name» ge¬
macht, bevor sie an den neapolitanischen Hof eingeladen wurden. So finden wir nach
einander die Pisani und Arnolfo, die als Bildhauer die Gunst des fürstlichen Hauses von
Anjou genossen, Cavallini und Giotto, Simone Martini und die Donzelli, die nach dem
Süden gerufen wurden, um Fresken und andere Bilder zu malen. Alle diese sind entweder
aus Pisa, Sierra oder Florenz gebürtig.
Wenn wir aber der historischen Grundlage zu dem Leben des Simone Rapolctano, des
Colantonio del Fiore, des Zingaro »ut der Donzelli »achspüre», die gewissermaßen als
die Glanzpunkte der neapolitanischen Kunstgeschichte gelten, so ergiebt sich, daß die Geschichte
des Ziugaro mit Begebenheiten aus dem Leben des Andrea solario von Mailand vollständig
verwirrt worden ist, daß ferner sowohl der Geburtsort als die 'Ausbildung der Donzelli nach
Toscanci zu verlegen sind, endlich aber, daß Simone Napoletano und Colantonio del Fiore
niemals cMirt haben.
Der hauptsächlichste sogenannte Beleg für das Vorhandensein eines Simone Napoletano
ist ein Bild von Simone Martini von Sierra,' das in der That in San Lorenzo Maggiore
in Neapel mit dem Namen Simone Martini versehen ist!
Sicher aber ist, daß Antonello selbst die Niederlande besucht hat; denn
seinen Bildern sind deutlich die Spuren eines ausgedehnten Studiums der van
eyckschen, wie auch der memlingschen Werke aufgedrückt, und wir hegen die
feste Ueberzeugung, daß diese Künstler nicht allein persönlich mit dem Sicilianer
bekannt waren, sondern auch durch den Einfluß ihres Unterrichts seinen Stil
bildeten. Er eignete sich so ganz die niederländische Methode des Malens an,
Der Beweis für die Existenz eines Colantonio ist eine Altartafel in San Antonio Abade
mit der Inschrift „Nicholaus Tommasi de Flore" und 1371 datirt, außerdem aber noch ein
Brief, der im Jahr 1524 von einem Architekten Namens Smnmonzio an einen Mark Antonio
Michele in Venedig gerichtet und in Puccinis „Nsmorie al ^.ntcmello liivNvssink" veröffent¬
licht worden ist. Wir brauchen nur Numohrs „Forschungen" nachzuschlagen, um Thl. 2,
S, 1K«> den Namen Nicholaus Tommasi zu lesen, der dort als Meister und Mitglied des
„consilium pwtoniw" von Santa Maria bei Fiore zu Florenz im Jahre 136t> gemeinschaftlich
mit Taddeo Gaddi, Andrea Orcagna und Andern verzeichnet steht. Wir sehen ihn Meister
in der Zunft von Florenz werden. Auch Sacchetti, der Novellenschreiber, erwähnt ihn in
einer seiner interessantesten Erzählungen. Es bedürfte einer so außergewöhnlichen Dreistigkeit
wie die von Dominici, um dem Leser el» Gemälde, das einen anderen Namen trug, als ein
Werk Colantonios darzubieten. Aber einmal ausgesprochen, blieb seine Behauptung unangefochten
und selbst die neueren Gulden bezeichnen das Bild von San Antonio Abade in Neapel als
ein Meisterstück Colantonios.
Wollen wir ferner dem Brief des Smnmonzio, dessen Datum ein Jahrhundert jünger ist
als jener Vorfall, der darin erwähnt wird, überhaupt Glauben schenken, so lernen wir aus
dessen eignen Worten folgendesi „Die Methode Colantonios war die von Flandern. Sie ge¬
fiel ihm in so hohem Maße, daß er eine Reise in die Niederlande beabsichtigte, doch wurde
dieser Plan wieder aufgegeben, als König Ren« ihm auch die kleinsten Details dieser Technik
und die Anwendung derselben offenbarte." — Das lautet sehr abgeschmackt.
Daß Colantouio im Jahr 1371 ein Bild hervorgebracht haben soll, das ein reifes
Talent verräth, und wieder zwischen 1438—42 mit Ren» in Unterhandlung gestanden haben
soll über die Methode der siamlcindischcn Oelmalerei scheint schon auffällig genug; Und Ren»
von Anjou soll gar technischer Rathgeber gewesen sein, so tüchtig, daß er dem Künstler das
Studium der fremden Originale ersetzte!
Der Name Colantouio hat aber noch eine andere Bedeutung. Die Geschichtschreiber der
neapolitanischen Kunst wollen uns überreden, daß dieser Colantonio der Lehrer Antonellos
und daß er es gewesen sei, der den großen Sicilianer mit der Kunst der Oelmalerei vertraut
machte! Der Zeitraum in welchem Colantouio mit König Reus verkehrt haben soll, fällt zu¬
sammen mit den Jahren, in denen an» de» Besuch Antonellos bei van Evck anzunehmen ge¬
wohnt ist. Jedenfalls besitzen wir Oelbilder von Antonello aus dem Jahr 144S. Pflegen
Wohl Lehrer und Schüler denselben Gegenstand zu gleicher Zeit zu lernen, und sollen wir
trotzdem glauben, daß das Verhältniß als Lehrer und Schüler zwischen Beiden unverändert
fortgedauert habe?
Wir wissen also nichts vom Leben des Colantonio — und das Gemälde aus dem Jahr
1371, welches ihm zugeschrieben wird, gehört ihm nicht an. Zuletzt sagt man uns, daß er
der Maler mehrer Bilder ist, die allerdings in niederländischer Methode gearbeitet find und
mindestens der ersten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts angehören, aber sie alle tragen mit
ebensowenig Recht und Grund den Namen Colantonios als das von Nicholans Tommasi.
Ist der Brief von Summuuzia überhaupt echt, so ist möglich, daß jener Maler, der mit Rene
in Beziehung stand Antonello da Messina selbst war, ein Künstler, der übrigens viel eher zu
der Voraussetzung berechtigt, daß er den Reus lehrte, als daß das umgekehrte Verhältniß
stattgefunden habe.
daß seine technische Ausführung im Jahr 1445 selbst die Bilder der Niederländer
weit übertraf, und daß, als er sich später in Venedig niederließ, er der Kunst
der Vivarini und Bellini einen neuen Impuls verlieh. Sie entnahmen ihm
den Gebrauch des Oel-Bindemittel,'er aber lernte von ihnen einiges von der
deutschen kleinlichen Sorgfalt und Trockenheit abstreifen, die er sich ange¬
eignet hatte.
So trugen die van Eyck und Memling durch Antonello von Messina zu
jener Vollkommenheit der Technik bei, welche dem Pinsel eines Titian und
Giorgione unsterbliche Schönheit verlieh.
Aber wie entstand die Oelmalerei der Florentiner? wurde auch in Toscana
der große Umschwung der Malerei durch die Niederländer vermittelt? Ein neuer
Geist in Religion wie in Kunst und Wissenschaft erhob das fünfzehnte Jahr¬
hundert. Katharma von Siena stand fast allein mit dem zärtlich gepflegten Wahn,
sie sei zum Werkzeug erkoren, das Papstthum auf seinen Höhepunkt zu führen,
damit es von Neuem die Böller der Erde leite. Die fromme Begeisterung der
vergangenen Jahre, die Dante und Giotto unvergeßlich machten, war erstorben.
Literatur und Kunst suchten im fünfzehnten Jahrhundert ihre Ideale in den
Tempeln und Marktplätzen des alten Roms und Griechenlands.
In dem Anschauen der Antike verloren, fragte sich wohl der Künstler nach
den Lebensverhältnissen, unter denen solche Schönheit entstanden und Dona-
tello ging so weit, Gestalten und Situationen der hellenischen Zeit nachzubilden.
Die religiös-e Schule Giottos und Duccios erlosch oder flüchtete sich in die
Klöster; und während Angelico feine weiche» und lieblichen Bilder entwarf, trat
neben ihm ein Geschlecht anderer Künstler mit neuen Eigenschaften auf, das
sich zum Ziel setzte, die Natur von ihrer realistischen Seite aufzufassen.
Biblische Gegenstände, die noch immer die Hauptquelle künstlicher Produktionen
bildeten, wurden von diesen Talenten genreartig behandelt und die Anbetung
der Weisen oder der Zug zum Calvarienberg diente ihnen zur Abspiegelung
des tägliche» Lebens von Toscana.
Aber das dazumal herrschende System der teiurM-u Malerei war für eine
leichte Darstellung des Details nicht günstig und infolge dessen entstand wohl
bei Naturalisten und Realisten der florentinischen Schule das Bestreben, ein
Medium ausfindig zu machen, das ihrer Kunstrichtung besser entsprach.
Vasari behauptet freilich, daß diese Versuche erfolglos geblieben seien, er
speist uns mit einer Erzählung ab. nach welcher Domenico Veniziano mit Anto¬
nello Von Messina in Venedig bekannt geworden sei, nachdem dieser aus den
Niederlanden zurückgekehrt war. Dieselben Mittel d. h. Zuvorkommenheit und
Höflichkeit, von denen man glaubt, daß der Sicilianer sie van Eyck gegenüber
gebraucht habe, sollen auch von Domenico angewendet worden sein, um seinem
Freund das Geheimniß des Oelmalens zu entlocken. Unglücklicherweise wird
diese Auffassung zu Schanden gemacht durch kürzlich in Italien angestellte Nach¬
forschungen, Schon seit Gaycs Entdeckungen war bekannt, daß Domenico
Veniziano im Jahre 1438 in Perugia ick'te. Ein Brief dieses Datums an
Piero deMedici beweist, das; der Maler damals schon die florentinische Manier
kannte und genau über die Beschäftigung Fra Filippvs und Angelicos unter¬
richtet war. Dasselbe Schreiben enthält die Bitte, ihm die Ausführung einer
Altartafel für die Medici anzuvertrauen. Auch Vasari hatte schon mitgetheilt,
daß Domenico zu Santa Maria nuova in Florenz Fresken gemalt hatte. Durch
neuere Untersuchungen aber erfahren wir Folgendes: Domenico wurde, wie es
scheint von den Medici, beauftragt, in der eben genannten Kirche zu malen
und arbeitete dort in den Jahren 1439—45. Sein Schüler in dieser Zeit ist
Piero della Francesca. sein Gehilfe Binni ti Lorenzo gewesen. Weder das
Datum seines Altarbildes in Santa Lucia de'Bardi, noch das seines Fresco-
gemäldes auf der Canto de'Carnesecchi in Florenz ist festzustellen, aber im
Jahre 1448 verzierte er zwei Hochzeitstruhen eines Edelmannes, des Marco
Parenti, und im Jahre 1461 am 15. Mai starb er in der von ihm zum Wohn-
ort auserwählten Stadt. — Er starb 1461? — ruft ein Leser Vasaris ver¬
wundert aus!
Vasaris ganzes Werk enthält wohl kaum ein tragischeres Ereigniß. als
die schlechte Behandlung Domcnicos, die ihm von Andrea del Castagno zu
Theil geworden. Ein Capitel umfaßt das Leben der beiden Rivalen und be¬
ginn! schon mit den unheilverkündenden Worte», leine Feder sei fähig einen so
nichtswürdigen Neid und den Charakter eines Mannes zu schildern, der freund¬
schaftliche Gefühle heuchelte, um den Ruf seines Freundes zu untergrabe» und
dessen Lebe» zu gefährden. Lasari beschreibt darauf den Andrea del Castagno
als einen selten begabten Künstler, dessen Talent aber durch eine unbezwingbare
Sucht zu Ränken und Tücken an seiner vollen Entfaltung verhindert wurde.
Als eine Art Einleitung zu der dann folgenden schwarzen That erzählt er, wie
Andrea einen boshaften Jungen verfolgt habe, der ihm die Leiter vom Gerüst
in Santa Maria del Fiore fortgezogen hatte. Schließlich geht er zu dem Wett-
kampf der beiden Maler über, als sie gleichzeitig in Santa Maria nuova be¬
schäftigt waren, wo Domenico in Oel malte und Andrea ihm das Geheimniß
dieser Technik neidete. Andrea begnügte sich nicht mit der Hoffnung, seinem
nur allzu vertrauenden Freund das Geheimniß zu entreißen — er wollte es
auch ausschließlich für sich hesiter; lauerte dem Domenico deshalb eines Abends
auf und erschlug den Nebenbuhler. als er um die Ecke einer Straße bog.
Gleich darauf nach Haus zurückeilend, war er, als der Mord ruchbar wurde,
der Erste, der in rührenden Ausbrüchen des Schmerzes den Tod desselben
Freundes beklagte, welcher durch seine Hand gefallen war. Auch wäre das
Verbrechen unentdeckt geblieben, hätte es nicht Andrea selbst auf seinem Todten-
bette bekannt. Mit aufrichtigem Bedauern berauben wir die italienische Kunst¬
geschichte eines so dramatischen Vorfalls.
Denn nach den neuesten Untersuchungen steht fest, daß Andrea del Castagno
1390 geboren und 1430 in Florenz gewesen ist, wo er in einem oder zwei
Hospitälern Monate lang krank gelegen hat. Daß ihm ferner der Name An-
dreino degli Jmpiccati beigelegt wurde, als er 1435 die Portraits der Verräther
Peruzzi und Albizzi an der Faczade des Palazzo del Potest« entworfen hatte;
daß er 1444 Meister der Barbier- und Chirurgenzunft wurde; im Jahre 1481
in Santa Maria nuova malte; 1436 die Figur des Nicholas von Tolentino
auf eine Wand in Santa Maria del Fiore zeichnete und 14S7 an der Pest starb.
Es ist daher klar, daß er den Domenico nicht getödtet haben kann, da
dieser ihn mehre Jahre überlebte; ebenso einleuchtend ist, daß er sich mit
seinem erdichteten Nebenbuhler in Santa Maria nuova über das Geheimniß
des Oelmalens nicht entzweit haben kann, da sie zu verschiedenen Zeiten an
diesem Ort arbeiteten. Kurz Vasaris Geschichte ist eine Mythe.
Domenico Veniziano konnte auch das Geheimniß der van eyckschen Me¬
thode nicht von Antonello da Messina gelernt haben, da Domenico offenbar
schon vor 1438 von Venedig fortgezogen war, also den Ort zu früh verlassen
hatte, um mit Antonello zusammengetroffen zu sein. Da aber Domenico nichts
von Antonello erfahren, so konnte er das, was ihm selbst unbekannt blieb, nicht
den Castagno gelehrt haben. Castagno seinerseits endlich behielt das alte
System des tLiripttra bei. Somit haben wir wohl hinlänglich bewiesen,
daß, wenn in der ersten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts in Florenz
Neuerungen in der Methode der tvmpvia Malerei stattfanden, diese nicht er¬
weislich von den Niederländern herstammen. Sie könne» lediglich von dem
eignen Erfindungsgeist der Florentiner herrühren. Und es ist sehr wahrscheinlich,
daß dies der Fall war.
Wir behaupten nicht, daß Domenico kein Oel in seine Farben mischte, im
Gegentheil, es ist wahrscheinlich, daß er es that. Seine Auslagen in Santa
Maria nuova sind zum Theil durch den Ankauf von Leinöl verursacht, das
im vierzehnten und noch häufiger im fünfzehnten Jahrhundert zu Wand¬
malereien vielfältig benutzt wurde. Außerdem ist aber auch seine Altartafel in
San Lucia de'Bardi nicht in dem gewöhnlichen tcnnrMÄ und möglicherweise
mit der Technik ausgeführt, welche unter den damaligen Realisten immer mehr
um sich griff. Unter diesen zeichneten sich in Florenz nach Paolo Uccelli, der
sich mehr dem Studium der Perspective als dem der chemischen Bestandtheile
seiner Kunst widmete', wohl besonders die Peselli aus. Ihr Augenmerk war
hauptsächlich aus die getreue Wiedergabe von Naturgegenständen gerichtet, und
ihre Thiere und Landschaften wurden mit derselben Sorgfalt wie der mensch¬
liche Körper behandelt. Leuten dieser Richtung widerstrebte natürlich nach
Vorschrift zu malen, nicht weil dies incorrect sei, sondern weil es ihnen un¬
genügend war.
In der That ist sehr ergötzlich, die alten Manuscripte ans dem vierzehnten
Jahrhundert zu lesen, welche künstlerische Recepte und Vorschriften enthalten.
Man findet »darin die ernsthafte und wichtig behandelte Angabe, wie ein Kleid
— ein Heiligenschein — Goldbrokat — lebendiges und todtes Fleisch ein
Mann mit einer Wunde — alte und junge Gesichter — Wasser mit und ohne
Fische — zu malen seien. So streng und gewissenhaft sind diese Regeln, daß
man sich leicht vorstellen kann, wie von festen conservativen Technikern ein
Neuerungssnchtiger als ein Wesen angesehen wurde, das für die Wohlfahrt der
Malerei weit gefahrbringender sei, als ein Ketzer dem Frieden der alleinselig¬
machenden Kirche. Auch waren diese alten Künstler tief durchdrungen von der
feierlichen Wichtigkeit ihrer Sache. Nicht nur, daß Enthaltsamkeit im Essen
und Trinken geboten war, auch jede Leidenschaft mußte vor der Arbeit unter¬
drückt werden"). Nun, Entwurf und Zeichnung konnten dadurch nur gewinnen.
Aber das Schwerste kam erst, wenn es galt die Farben aufzutragen. Cennini
sagt: „Wenn Du anfängst zu malen, so rufe die heilige Dreieinigkeit an."
Bei dem entschiedenen Streben, nach der Natur und nicht nach überlieferten
Schablonen zu malen, ist es wohl gerechtfertigt vorauszusetzen, daß die Realisten
sich nach neuen Mitteln und neuen Vortheilen sehnten, obgleich auch sie zweifel¬
los vor einem plötzlichen Wechsel des alten Hergebrachten zurückgeschreckt sein
würden. >
Der Gebrauch von gekochtem Oel war in Italien nicht so gewöhnlich als
in den nördlichen Ländern und es fehlt jeglicher Anhaltepunkt, wenn dasselbe
in Italien zum ersten Mal mit dem Firniß vermischt wurde. Aber eine gründ¬
liche Prüfung lehrt uns, daß nicht nur in der vereinzelten Altartafel von San
Lucia de'Bardi, sondern auch in denen der Peselli Abweichungen vom Alten
in dieser Richtung vorkamen; und man kann sich leicht denken, wie bald die
unmittelbaren Vortheile dieser Neuerungen sichtbar werden mußten, namentlich
in dem Ausmalen der Gewänder, des Hintergrundes und des Laubwerks der
Bäume, das durch scharfe Umrisse zu definiren war.
Wir nannten „die Peselli", weil die Lebensfaden von Pesello und Pesellino
eng in einander verschlungen sind. Giuliano d'Arrigo, gewöhnlich Pesello ge-
nannt, wurde 1367 geboren, und später genau mit Agnolv Gaddi befreundet,
in dessen Atelier sich Cennino Cennini jene Angaben erwarb, die er in sein
„I.ibi-o ekelt'^re,«" einflocht. Pesello betheiligte sich an den Concurrenzarbeiten,
die mit der Errichtung der Kuppel von Santa Maria del Fiore ihr Ende er¬
reichten. Zwar siel sein Modell nicht so aus, daß es dem größten Architekten
seines Jahrhunderts den Sieg streitig machte, aber es wurde doch als werthvoll
anerkannt und er selbst zum Stellvertreter Brunelleschis gewählt, im Fall dieser
abwesend oder krank sein sollte. Gleich allen Künstlern seiner Z»it vereinigte
er die meisten Zweige der bildenden Kunst in seiner Werkstatt, die am Corso
degli Adimari lag. und in seinem hohen Alter von seinem Tochtersohn Fran»
cesco Pesellino unbewohnt wurde, der 1423 geboren und später sein Gehilfe
geworden war. Pesellino starb 1457, er überlebte seinen Großvater nur um
zehn Jahre.
Weder dem Raum noch dem Zweck dieses Aufsatzes wäre angemessen, weit¬
läufig über die Berechtigung sich auszulassen, die Giuliano oder Francesco an
die Bilder haben, die kurzweg mit dem Namen „Pesello" belegt werden. Es ge¬
nügt zu bemerken, daß viele davon bei näherer Betrachtung eine von dem der
alten wmxera Malerei abweichende Technik bezeugen. Cenninis Angaben, die
zweifellos nach Giulianos alter Methode zu malen sind, bestimmen sorgfältig
das Maß, nach welchem Farben und Bindemittel zu Schattirungen gemischt
werden müssen. Für Gesichter z. B. ist ein gleiches Gewicht von Farbe und
Eidotter erforderlich, und zwar Dotter von Putereiern für die Gesichter alter
Männer, und Dotter von jungen Landherren für die zartere Haut junger
Frauen.
Man kann wohl annehmen und die Gemälde der Peselli bestätigen es auch
wirklich, daß als sie versuchten die Eidotter durch ein anderes Bindemittel zu
ersetzen, sie dieses zäher und consistenter fanden und es unter die Farben in
gleicher, wenn nicht größerer Quantität mischten; daher der eigenthümliche
Glanz und die Durchsichtigkeit ihrer Bilder. Wir maßen uns nicht an fest¬
zustellen, woraus das neue Bindemittel bestand, aber wir können darin noch
Klebrigkeit und eine Neigung zum Auscinanderfließen erkennen, und eine
Schwierigkeit der Handhabung, so daß das Schraffiren eine Unmöglichkeit
wurde und die Verschmelzung verschiedener Schattirungen außerordentlich schwer
fiel. Das eigentliche Wesen des alten Systems aber war gerade Schraffiren.
Das neue Bindemittel erwies sich als zu zäh dafür, so daß um nun die
nöthige Nundung zu erhalten, Mittcltöne (Halbtöne) über die Lichter gelegt
werden mußten; dann kamen die Schatten über die Mitteltöne in derselben
schwerfälligen Weise — alles aber gleich durchsichtig, so daß man noch heutigen
Tags die stufenartige Auflegung sehen kann und wie die dunkelsten Stellen an
der Oberfläche am meisten hervorragen. An Lasiren war mit einem so zähen
Bindemittel natürlich nicht zu denken und die Werke der Peselli entbehren
daher einer gewissen Geschmeidigkeit in der Behandlung des Stoffs, was besonders
für das Aussehen des Fleisches ungünstig ist
Der alte Firniß, den man zum Abziehen der Oberfläche von beendeten
temM-g. Gemälden benutzte hieß „vvrmW liquiclg,". Mit einem gewissen Quan¬
tum von Lein- oder Nußöl vermengt, hätte er auch zur Sättigung der Farben
dienen können, ebenso wie bei der Mischung mit Eidotter. Das Bindemittel
der Peselli also ist nicht zu bestimmen, Vasari spricht davon, daß Baldorinetti
Eidotter und veruiee liczuiäa zu Wandmalereien nahm. Dies gab eine un¬
geheuer kräftige Mischung, die er anfangs mit vielem Erfolg anwandte; aber
schon nach kurzer Zeit stellte sich heraus, daß eine wesentliche und nutzbringende
Veränderung nicht erlangt sei. Seine Fresken begannen nämlich sehr früh ab¬
zublättern und von der Wand abzufallen; diesem unglücklichen Zufall ist es
auch wohl zuzuschreiben, daß Domenico Ghirlandajo solches Mißtrauen gegen
Firniß aller Art hegte, und daß diese Erfahrung den toscanischen Malern gegen
diese technischen Neuerungen ein Vorurtheil einflößte. Daß wenigstens Fra
Filippo Lippi sich vom Oelfirniß fern hielt und dem alten System treu blieb,
ist ziemlich sicher, so auch daß Domenico Veniziano nicht zu denen gehörte, die
sich entmuthigen ließen, sondern daß er den Weg zu finden hoffte, auf dem
das neue Bindemittel einzuführen sei. Erst seinem Schüler Piero della Fran¬
cesco war es vorbehalten die neue Technik mit Glück anzuwenden.
Indessen verbesserten die Gebrüder Pvllaiuolo die von den Peselli befolgte
Methode um Einiges. So verdankte man ihnen die Einführung des Lasircns
in seinen verschiedensten Abstufungen, und dies läßt uns voraussetzen, daß die
klebrige Natur des früheren Bindemittels modificirt und deshalb leichter zu
handhaben war. Von ihnen vererbte sich dies System auf Verrocchio, der es
seinerseits dem Leonardo hinterließ, bis es unter Piero della Francesca seine
Vollkommenheit erreichte. Letzterer lasirte zwar auch nach Art der Pollaiuoli,
aber in den Schattirungen seiner Carnation, wie z. B. in den Portraits des
Herzogs und der Herzogin von Montefeltro im Usfizi in Florenz, waren die
Fleischfarben mit einer geschmeidigen Mischung getränkt, die in feuchtem Zustand
leicht zu modelliren war und so farblos als erforderlich hergestellt werden
konnte. Die an der Oberfläche hervortretende durchsichtige Substanz der Peselli
hatte sich in eine feste dichte Farbengrundlage verwandelt, die von Außen ihr
Licht erhielt und nicht von dem weißen, durch den aufliegenden Stoff durch¬
schimmernden Grund beleuchtet wurde — dabei glänzend und fett, klar und
hell. Vielleicht erwidert uns ein Vertreter jener Ansicht: daß Italien die Oel-
malerei den Niederländern entlehnt habe, daß Justus von Gent mit Piero in
Urbino zusammengetroffen und ihm dort das Geheimniß der Flamländer verrathen
habe. Aber das Bild, was Justus, dieser Künstler dritten Ranges, für die
Brüderschaft des „Corpus Christi" während seines Aufenthaltes in Urbino
(1462—6S) malte, ist denen der van Eycks um Vieles untergeordnet; und außer¬
dem hatte Piero auch vor dieser Zeit schon in Oel gemalt. Ein Contract für
*
eine Fahne in Arezzo aus dem Jahre 1466 besagt in klaren Ausdrücken, daß
sie „til-vorato u, vllo" sein soll. Von Piero della Francesca aus können wir
das technische Verfahren weiter verfolgen in jenen kreisförmigen Bildern Sig-
noreltis, die wegen ihres dunklen olivenfarbigen Tons in die Augen fallen und
in ihrem Gehalt gänzlich abweichen von allem, was die venetianische Schule
hervorgebracht hat, welche ihre Technik von Antonello da Messina herleitete.
Wir brauchen wohl kaum darauf hinzuweisen, wie verschieden von diesem
Sicilianer die Methode Verrvcchios und Leonardos sich formte.
In kurzer Skizze wurde der Verlauf angegeben, den die Neuerungen der
Oelmalerei in Italien einschlugen, indem wir flüchtig auf die Werke verschiedener
Meister Bezug genommen haben. Eine ausführliche Besprechung und Beschrei¬
bung der Bilder würde gewissermaßen, den Beweis zu unsern Behauptungen
liefern. Wir müssen hier darauf verzichten und hoffen, daß detaillirte Unter¬
suchungen unsere Auffassung rechtfertigen und als sichere Wahrheiten erweise»
Wenn einst die Geschichtswissenschaft genauer als jetzt das innere Leben
des Volkes selbst darzustellen vermag, dann werden die großen Umwandlungen,
welche Gemüth, Idealismus, Wahrheitssinn und praktische Tüchtigkeit der Völker
im Laufe der Zeit erfahren haben, wahrscheinlich für lange Zeiträume wichtiger
erscheinen als Politik, Kriege, Umherfahren und Untergang seiner Regenten.
Denn nicht zu allen Zeiten sind die politischen Ereignisse das Wissenswürdigste.
Wechselnd wie die herrschenden Fehler und Neigungen des Volkes ist auch die
Art, wie es liebt und haßt, wie es den sinnlichen Eindruck in Empfindung in
Gedanken umprägt, verschieden ist in jedem Zeitraum gefärbt, was ihm für
gut, schön, wahr gilt. Und über dieser Verschiedenheit, welche durch das Leben
selbst und den zerstörenden Bildungsstoff hervorgebracht wird, das Bleibende,
Nationales und allgemein Menschliches zu erkennen und den innern Zusammen-
sang in den zahlreichen Umwandlung» nachzuweisen, das ist, so scheint uns,
eine der schönsten Aufgaben des Geschichtschreibers.
Wir sind geneigt vorauszusetzen, das? dieselbe freie und objective Auffassung
der irdischen Gestalten, Formen und Ereignisse, welche uns möglich ist, zu allen
Zeiten möglich war und wir geben uns noch öfter der Ansicht hin, daß unsere
Auffassung der Bilder und Eindrücke, welche uns die Welt cntgegenträgt, zwar
eine mangelhafte, aber innerhalb gewisser Grenzen absolut richtige sei. Nähere
Betrachtung freilich ergiebt, das; auch unsere Auffassung des Lebens überall
eingeengt wird, nicht nur durch die Schranken unserer Sinne, sondern auch
dadurch, daß wir, was in unsere Seele fällt, was wir sehen, hören, erkennen,
immer noch mit einem Zusatz unseres Wesens färben, welcher die Nichtigkeit
unserer Beobachtungen und Schlüsse beeinträchtigt. Und die Wissenschaft kennt
keine größere Plage als die. welche ihr durch unsere unvollkommene Befähigung,
das objectiv Wahre festzustellen, bereitet wird. Jede Betrachtung vergangener
Zeiten lehrt uns freilich, wie große Fortschritte wir im Ganzen darin gemacht
haben und wie getrübt und befangen die Auffassung früherer Zeiten war. Die
Abbildung einer Pflanze an einer Wand von Pompeji, an einem Pergament¬
bild des zwölften Jahrhunderts und in einem Holzschnitt des fünfzehnten Jahr¬
hunderts zeigt eine ganz verschiedene Auffassung ihrer Formen und jede von
diesen Auffassungen erscheint uns fremdartig und unvollkommen, wenn wir auch
aus jeder die Pflanze erkennen. Eine Definition des Aristoteles und eines
modernen deutschen Philosophen unterscheiden sich nicht nur durch- die feine
Schattirung der Begriffe, welche den Wörtern durch die Besonderheit der ver¬
schiedenen Sprachen aufgezwungen wird, sondern auch darin, daß der große
Denker des Alterthums zuweilen durch Hervorhebung anderer Prädicate und
charakteristischer Kennzeichen in das Wesen der Dinge einzudringen sucht, als
uns Modernen sachgemäß dünkt. Und die Verschiedenheit unseres Sehens,
Hörens und Empfindens wird nicht blos dann auffallend, wenn man Jetzt und
Einst oder mehre Völker vergleicht, auch in der Gegenwart sind die Individuen
desselben Volkes einander in der Auffassung des Wahrnehmbaren durch die
Sinne und im Verarbeiten deS Aufgenommenen durch Geist und Gemüth sehr
ungleich. Hier soll nicht von der naheliegenden Verschiedenheit die Rede sein,
welche durch Alter, Temperament, Zufälle hervorgebracht wird, nur von dem
Gegensatz, welcher die Gebildeten und Einfachen, die geistigen Führer und die
Masse des Volkes, die Fortgeschrittener und die Zurückgebliebenen von einander
trennt. Wir empfinden ihn »n Verkehr mit den kleineren Kreisen des Volkes
zuweilen mit Erstaunen und Behagen, nicht selten mit Unwillen und Schmerz.
Wer eine Unterhaltung junger Burschen auf dem Lande anhört, dem klingen
Sprache und Scherze, auch wenn er sie versteht, zuweilen recht fremdartig.
Wenn es Deutsche sind, so wird er hinter den trocknen Späßen, den kurzen
Redensarten und dem vorsichtigen Schrauben eine originelle Arbeit der Seele
entdecken, welche die Reproduction durch die geschriebenen Worte unserer Sprache
fast unmöglich macht. In den Worten ist eine etwas andere Bedeutung, in den
Reden eine etwas andere Seele, als die Gebildeten hineinzulegen Vermögen.
Was uns gar kein Spaß erscheint, wirkt auf die ländlichen Hörer sehr komisch,
wo wir eine längere Redeausführung erwarten, befriedigt ein knappes Sprich¬
wort, ein Bild, vielleicht nur ein Spiel mit Klang und Laut der Worte, für
welches wir wenig Empfänglichkeit haben. Das ist nicht Rohheit, es ist im
Grunde eine andere Form der Bildung, welche die Anspruchsvollen nicht mehr
besitzen, die aber ihren Vorfahren geläufig war.
Wenn uns jemand aus den kleinen Kreisen des Volkes etwas Geschehenes
erzählt, so wird auch, wenn er angeregt und geläufig berichtet, in seiner Rede
eine andere Methode der Darstellung, als wir haben, bemerkbar. Einzelne
Momente des Ereignisses treten stark hervor und sind bereits reichlich mit den
Empfindungen versetzt, welche sie in dem Erzähler hervorgerufen haben; der
wirkliche Zusammenhang der Geschichte tritt wahrscheinlich zurück und der Be¬
richterstatter hat dafür, ohne es zu wissen, eine andere erfunden, dem zu Liebe
sogar das Thatsächliche umgeformt wird. Jeder Verhörrichter weiß, wie schwer
es ist, einen objectiven Thatbestand aus den Erzählungen lebhaft erregter Zeugen
festzustellen, es scheint oft unglaublich, daß der eine, gehört, der andere gesehen
hat, was nicht war, und daß sie nicht beachtet haben, was ruhigem Urtheile
die Hauptsache wäre. Wir nennen in solchem Fall die fremdartige Auffassung
bei einem Kinde aus dem Volke mangelhaft und unverständig, sie ist wieder
nur die nothwendige Folge einer geistigen Organisation, bei welcher die Phan¬
tasie schneller und souveräner zwischen die Wahrnehmungen der Sinne tritt,
als wir für erlaubt halten. Aber es hat viele Jahrhunderte gegeben, wo die
ganze Nation so empfand und so erzählte; und diese vergangene Zeit lebt
noch unter uns in vielen tausend Persönlichkeiten, ja die Mehrzahl des Volkes
hat in seiner geistigen Production noch etwas von diesem Altertümlichen, das
durch unsere Bildung überwunden ist.
Allerdings ist in jeder Schicht unseres Volkes die Einwirkung unserer
Bildung sichtbar. Wer irgend aus den engen Grenzen seines Dialekts heraus¬
tritt, der nimmt mit dem Verständniß unserer Schriftsprache auch unendlich viel
von der geistigen Arbeit unserer Zeit in sich auf. Wer sich vollends übt, Ge¬
drucktes zu lesen, der gewöhnt seinen Geist an die straffere Logik, den reichlicheren
Ausdruck und die durchsichtige Klarheit unseres Denkens. Dann schwindet ihm
die alte volksthümliche Methode, sich die Dinge einzubilden, den Gedanken in
der Hülle eines Bildes zu bewahren, oder sie tritt nur noch gelegentlich in
Stunden des behaglichen Gehenlassens hervor. In diesem Sinne hat das ganze
Volk an unserem Vcrtiefungsproceß Antheil genommen und auch seine Weise
die Welt aufzunehmen und zu reproduciren ist in beständiger Wandlung be¬
griffen.
Wenn man vollends in die Vergangenheit unseres Volkes zurückblickt, so
ist der Unterschied seiner Seelcnarbeit vor und nach Luther sehr groß.
In den letzten Jahrhunderten des Mittelalters war das populärste geistige
Schaffen des deutschen Volkes ein behagliches, oft possenhaftes Spiel mit Bildern
und ihrer Bedeutung. Der Gedanke versteckte sich hinter einem bildlichen Aus-
druck, das Thun wurde durch sinnbildliche Handlungen gekräftigt, der gewöhn¬
liche Scherz war in der Weise Eulenspiegcls, ein Spiel zwischen der eigent¬
lichen und uneigentlichen Bedeutung einer Sache oder Redensart. Einfältig
war, wer sich unbefangen dem Eindruck des Bildes hingab, weise, wer den
geheimen Sinne desselben zu fassen wußte. Und es war ein Lieblingsschcrz des
Volkes, der Einfalt den letzten Erfolg, das beste Recht, den Beifall der Landen¬
den zu geben.
Es wird uns nicht leicht die Wichtigkeit zu begreifen, welche man im
Mittelalter der bildlichen Hülle eines Gedankens, dem symbolischen Ausdruck
einer Handlung beilegte. Wenn wir die kleinen Cirruswölkchen mit einer
Lämmerheerde vergleichen, so sind wir uns bewußt, daß dieser Vergleich auf
nichts beruht, als einer ganz zufälligen Achnlichkeit des Aussehens, die uns nicht
einmal groß erscheint. Was uns ein unwesentlicher Vergleich ist, war aber in
alter Zeit das Wesen der Wolke selbst, die Phantasie des jungen Volkes faßte
in Wahrheit das Wolkenheer als eine Heerde himmlischer Schafe, die Sache
selbst und der bildliche Ausdruck flössen zusammen. Uns ist die bedeutsame
Geberde als Begleiter einer rechtskräftigen Handlung z. B. bei Kauf und Ver¬
kauf nicht mehr Hauptsache, wir üben vielleicht noch den alten Brauch, aber
die Gültigkeit des Geschäftes hängt in der Regel nicht mehr daran, einst war
der Gest, das vorgeschriebene Wort die Hauptsache der Handlung. Uns ist
das gesprochene Gebet nur der Ausdruck innerer Empfindung, die Worte haben
nur insofern Bedeutung, als sie den Sinn unserer Bitten wiedergeben, sie
können jeden Augenblick mit andern vertauscht werden, welche etwa dasselbe
ausdrücken. Im Mittelalter waren die Gebetworte nicht willkürlich und nach
freier Wahl zu bestimmen, sondern die Worte selbst waren das Wirksame, nur
in der überlieferten Aufeinanderfolge hatten sie die Wirkung, von der Mutter
Gottes eine Fürbitte zu erwerben, das Vieh vor bösem Zauber zu beschützen,
die lodernde Flamme von einem Gebäude abzuhalten. Und ein Gebet war
wirksamer als das andere, ein sehr wirksames ein sehr seltener und kostbarer
Erwerb. Auch die Mystik des Mittelalters beruhte in der Regel darauf, daß
ausgesponnene Bilder mit dem Inhalt frommer Lehre zusammenflossen, die
Himmelsleiter, die sieben Felsen der Sünde, das Schifflein einer Heiligen, in
welchem die Seelen bei Hölle und Tod vorüberfahren, werden so empfunden,
daß der Gläubige sich auf dem Felsen stehend, auf den Sprossen der Leiter
heranklimmend, auf Se. Ursula Schifflein fahrend, wirklich und leibhaftig
empfindet.
Als die Reformation den Geist des Volkes von solchem epischen Bann
befreite, war die Wirkung eine gewaltige, dem Volk war plötzlich die Binde
von den Augen genommen, und der Unterschied zwischen Form und Inhalt.
Schein und Wesen wurde wie ein neuer Erwerb von Hunderttausenden erfaßt.
Auch in diesem Sinne ist Luther Reformator des deutschen Volksgemüths
bei allen Confessionen. Nicht nur weil er das Nachdenken und Prüfen der
subtilsten theologischen Lehrsätze bis in die ärmlichste Hütte hineintrug, schon
deshalb, weil zugleich mit der leidenschaftlichen Theilnahme des Volkes an dem
Streit seiner Geistlichen zuerst eine massenhafte Verbreitung gedruckter Schriften
in dem Volke möglich wurde. Seine Reformation vermittelte dem Volk den
Nücherdruck. Seitdem begann in dem ehrlichen, unbefangenen Gemüth des
Volkes das Suchen nach Wahrheit, erst seit dieser Zeit traten die Massen in
die große Culiurbewegung ein.
Wenn aber Luther sich so sehr auf den Buchstaben der Schrift steifte, so
war er auch darin ein echter Sohn des Volkes. Denn die selbständige Thätig-
keit des Individuums konnte zunächst einen festen Halt, ein äußerliches Ge¬
gebenes, woran sie sich klammerte, noch gar nicht entbehren. Das Wort der
Schrift war zwar des magischen Zaubers entkleidet, welchen die religiöse Formel
im Mittelalter gehabt hatte, dafür wurde sie dem Volke der unverbesserliche
von Gott eingegebene Ausdruck für die heiligen Lehren, und mit Subtilität
wurde untersucht, ob der Inhalt des Glaubens, den jemand bekannte, auch
mit dem Wortlaut der heiligen Schrift genau stimmte. Wie Luther um die
Einsetzungswvrte des Abendmahls haderte und zürnte, ebenso hielt aus diesem
Bedürfniß der Mann aus dem Volke, Katholik und Protestant, scharf zum
Wortlaut seiner Lehrbücher, denn das war noch die nationale und gegebene
Weise den Sinn zu begreifen, und deshalb war der trotzige Eigensinn Luthers
gerade das Vvltöthümlichste an dem großen Manne, der noch mit einem Fuß
im Miitelalter stand. Wenn z. B. die katholische Uebertragung des Evange¬
liums vom Zinsgroschen das griechische Wort mit Pfennig statt, wie die Evange¬
lischen, mit Groschen übersetzte, so war dieser Zufall für den Protestanten ein
ernster Beweis von der Unwahrheit der katholischen Lehre, weil aus den Pfennigen
niemals Bild und Ueberschrift eines Fürsten geprägt wurde.
Der Geist war allerdings erweckt und rührte sich kräftig, und die magische
Kraft gegebener Formeln wurde geläugnet. Aber noch lange blieb dem Volk
die lebendige Empfindung für den bildlichen Sinn der Worte, ja auch die
spielende Freude am Klänge derselben, während unsere Schriftsprache in den
Händen der schreibenden Gelehrten sich schnell vergeistigte, für Wohlklang und
sinnliche Bildlichkeit der Worte vielleicht zu sehr die Empfindung verlor. Wenn
der Jesuit zu einem Ketzer aus dem Volke belehrend sagte, beiß der Katechismus
Luthers nicht so gewichtig sei, als die institutionss pied-reif elrristiarmv von
Pater Canisius, so dachte der Mann aus dem Volke bei dem Worte gewichtig
immer noch zunächst an Pfund und Wage, und wenn er ein Schlaukopf war
und zu Eulenspiegelstreichcn aufgelegt, so hatte er sicher die Lacher auf seiner
Seite, wenn er Gewicht und Wagschale aus der Tasche zog und die beiden
Katechismen vor dem geistlichen Herrn gegen einander abwog. Fand sich Luthers
Buch schwerer, so hatte er doch die Worte des Gelehrten widerlegt, obgleich
er und die Zuschauer schon recht gut wußten, daß der geistliche Herr das Wort
nicht in der bildlichen, sondern in der abgezogenen Bedeutung gebraucht hatte.
Zum Beleg für das Gesagte sollen zwei Berichte aus alter Zeit dienen,
in denen die religiöse Ueberzeugung einfacher Menschen sich in ihrer Dialektik
und in ihrem Thun sehr volksmäßig offenbart. Beide Erzähler stehen in Oppo¬
sition gegen die katholische Kirche, an beiden wird die Vertiefung deutlich, welche
die Individuen durch ein selbständiges Denken über die Wahrheiten des Glau¬
bens erlangt haben. Weder Katholiken noch Protestanten mögen in der folgen¬
den Erzählung eine verhüllte Polemik über Glaubenssätze finden. Denn nicht
der Inhalt der Erörterungen, sondern die Art, wie sie geführt wurden, soll
hier zumeist interessiren.
Beide Mittheilungen sind noch nach anderer Richtung merkwürdig. Die
Erstere ist einer kleinen Flugschrift entnommen, welche zu den größten Bücher¬
seltenheiten gehört, und gelehrter Beachtung bis jetzt entgangen scheint. Sie
enthält eine winzige Episode aus der ersten Hälfte des dreißigjährigen Krieges,
und stammt aus Schlesien, der kaiserlichen Landschaft, welche mehr als andere
Provinzen Ferdinand des Zweiten von der Kriegsfurie gelitten hat, ohne daß
es den Beamten und Soldaten des rechtgläubigen Kaisers gelang, die Ketzerei
derselben auszurotten. Im Jahr 1629 war der böhmische Aufstand nieder¬
geschlagen, der Mansfelder. der Braunschweiger, der König von Dänemark be¬
siegt, die Heere Wallensteins hatten die Furcht auch der katholischen ' Stände,
der Franzosen, ja sogar des Papstes erregt, und die hochfliegenden Pläne
Ferdinands wurden durch den drohenden Abfall seiner Bundesgenossen ein wenig
herabgedrückt. Aber in den Ländern seiner Krone arbeiteten die Agenten eifrig,
die Opposition im Glauben niederzuwerfen. Für Schlesien war es das lichten-
steinische Dragoncrregiment, welches die Jesuiten in die protestantischen Städte
und Kirchen einführte, die brutale und grausame Weise der militärischen „Selig-
macher" ist in den Gcbirgsstädten Schlesiens noch heute nicht vergessen. Damals
war unter den Gemeinden, welche sich an den Vorhügeln des Riesengebirges
stattlich heraufgearbeitet hatten, Schweidnitz eine der bedeutendsten, sie war
Hauptstadt eines Fürstenthums, in fruchtbarer Gegend, und ihre Mauern waren
damals noch von einer zahlreichen und wohlhabenden Bürgerschaft besetzt. Wahr¬
scheinlich erschien dort, oder in der Nähe, einige Jahrzehnte nach dem .Kriege
die folgende Flugschrift: Schnfftmäßiges Gespräche. Von einem Buchbinder,
so in der Stadt Schweidnitz wohnhafftig gewesen, den man sonst den kleinen
Pommer genannt, weil er derselben Nation gebürtig gewest, so er Sprachweise
gehalten mit einem Jesuiten. — Zu dienender Nachricht von neuen hervorgesucht.
Gedruckt rü diesem Jahr (etwa 1680) 8. (1 Bogen). -
Wie der kleine Pommer gesprochen, wird hier wortgetreu mit einigen Ver¬
kürzungen und mit schonender Annäherung an die Sprache des neunzehnten
Jahrhunderts berichtet.
Als der Stadt Schweidnitz ihre Kirche genommen worden, war auf dem
Lande draußen ein Dorf, Schwenkfeld genannt, allwo ein Theil der Schweid-
nitzer noch eine Weile in die Kirche gehen konnte. Dort hals ein Buchbinder,
der kleine Pommer genannt, cantoriren und singen. Nun wurden in der Stadt
alle Zünfte auf das Rathhaus gefordert und ihnen anbefohlen, wer in der
Stadt bleiben wollte, der müßte zu dem Jesuiten gehen und sich bei demselben
informiren lassen. Wie das nun oben gemeldeten Buchbinder angesagt wird,
so spricht er: „Was soll ich die Stadt meiden? das thue ich nicht; ich habe
einmal der Stadt geschworen, dabei will ich meine Ehre, Gut und Leben zu¬
setzen und soll mich niemand heraustreiben." — AIs er nun wegen seines
Ungehorsames verklagt wird, so schicken die Herren des Raths zu ihm und
lassen ihn holen; sie reden ihm scharf zu und befehlen ihm: Wenn er in der
Stadt bleiben wollte, so sollte er zu dem Jesuiten gehen und sich informiren
lassen. Er aber spricht: „Wenn ich also gehen muß, er wird mich nicht anders
machen als ich bin. Kann er mich bekehren, so soll er es thun, oder ich will
ihn bekehren. Doch dieweil es meine Herren so haben wollen, so will ich hin¬
gehen und hören, was er sagen wird."
Indem er aus der Rathsstube geht, ist ein abgefallener Seiler mit im
Rathe, der steht auf vom Tische und geht mit ihm heraus und redet mit ihm
auss Vertraulichste, er sollte doch nur dem folgen, was man ihm Gutes rathe,
er, Seiler, hätte vorhin auch gemeint, er wäre auf dem rechten Wege, nunmehro
finde er aber ein ganz andcrMcht, das ihm den Himmel bringen werde. Der Buch¬
binder sagte: „Schweig stille, mein lieber Bruder, du verstehst dich viel besser
darauf ein gut Brunnenscil zu machen, als auf die Religion," und geht fort.
Als er rinn in das Jesuitenhaus kommt, steht ein Junge vor der Stuben¬
thüre, zu dem spricht der Buchbinder: „Ist der Herr Pater zu Hause?" Der
Junge antwortet: „Ja, er ruhet ein wenig." Denn es war im heißen Sommer,
Buchbinder. Sage mich bei ihm an, Junges! Junge. El wartet nur ein
wenig, seine Ruhestunde wird bald aus sein. Buchbinder. Was warten,
ich hab' zu Hause zu thun, sag mich an. Junge. El verzieht nur ein klein
wenig. Buchbinder. Ich kann nicht verziehen, es ist mir scharf befohlen,
hierher zu gehen, sage mich an, oder ich sage mich selber an. — Da ergreift
er die Stubenthüre mit Gewalt und geht hinein.
Der Pater schläft an der hintern Wand auf einem großen Stuhl und
wacht davon auf. der Buchbinder aber bleibt vorn bei der Stubenthür stehen
und sagt nichts. Sie sehen die längste Weile einander an. endlich spricht der
Herr Pater: Was bringst du? Bchbdr. Nichts. Pater. Was willst du?
Bchbdr. Nichts. Pater. Von wannen bist du? Bchbdr. Von meiner
Mutter. Pater. El mein, sei nicht so spitzig. Bchbdr. Nein, Herr Pater,
ich bin mein Lebtag noch niemalen spitzig gewesen, aber allezeit so ein kleines
rundes Männchen, als ihr hier mich sehet. Pater. Ha ha. seid Ihr nicht
der Buchbinder, der kleine Pommer? Bchbdr. Ja Herr, im Winter wie im
Sommer. Pater. Ihr seid eben derjenige, der allezeit die Leute nach dem
Dorf Schwcnkfeld hinausführt? Bchbdr. Nein, mein Herr Pater, ich habe
mein Lebtage Niemanden hinausgeführt, sie sind alle von selbst hinausgegangen.
Pater. El mein, wie kommt es, daß die Leute so närrisch sind, sie haben
ja das Wort Gottes hier in der Stadt und laufen so weit hinaus, ja zuweilen
in so gar unheimlichem Wetter. Bchbdr. Ich weiß wohl die Ursache, ich
darf sie nur nicht sagen. Aber doch wollte ich dem Herrn Pater einen guten
Rath geben, wie es der Herr Pater machen sollte, daß ihm niemand hinauf¬
liefe. Pater. El mein, sagt mir das. Bchbdr. So gehe der Herr Pater
auf künftigen Sonntag nach Schwenkfeld und predige draußen und schicke den
Herrn Pfarrer von Schwenkfeld herein, daß er hier drin predige; es wird dann
niemand hinauslaufen, sondern hier drin bleiben. Pater. El mein, das
habe ich ohnedies gewußt. — Tretet besser heran zu mir. ich habe etwas An¬
deres mit Euch zu rede». Ich habe gehört, daß Ihr Euch so sehr gesperrt
habt zu mir zu kommen und aus Eure Religion getrutzt. derowegen frage ich
Euch, was habt Ihr für Grund in der Religion? Bchbdr. Nur des Lutheri
Katechismus, der ist ein kurzer Extract aus der heiligen Bibel, darinnen alles
begriffen, was zu meiner Seele Seligkeit dienlich wie auch nützlich ist. Pater.
Mein Buchbinder, der ist nicht tüchtig, er ist nicht gewichtig genug, des Canisii
Katechismus ist gewichtiger. Bchbdr. Herr Pater, ich wollte fast wetten, daß
der lutherische gewichtiger sei. denn ich habe alle beide zu Hause gehabt. die¬
weil ich ein Buchbinder bin, katholische, lutherische, calvinische und dergleichen;
sie sind mir alle wohlbekannt, ich will sie bald herholen.
Pater. Nein, wartet bis zu anderer Zeit. Was hältst du von der
Verehrung der Mutter Gottes? Bchbdr. Wir halten viel davon, denn sie ist
aller Ehren werth, aber Ihr betet und ruft sie an als eine Fürsprecherin, die
für Euch bitten konnte, das können wir nicht thun, wir können sie nicht dafür
halten. Pater. Ja, mein Buchbinder. Ihr solltet wissen, daß der arme
Sünder nicht würdig ist sofort ihren Sohn anzukaufen. Wisset Ihr nicht, wie
es bei großen Herren zugeht, wenn ein Unterthan was verschuldet, daß er sich
um einen guten Patron bemühet und bekümmert, der bei dem Herrn wohl an¬
gesehen ist und der ihn versöhnen kann? Bchbdr. Mein Herr Pater, das ist
mit dem Weltlichen nicht zu vergleichen. Denn Christus ruft selber: Kommet
her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, item, wer zu mir kommt
den will ich nicht hinausstoßen. Ist das nicht Versicherung genug, daß ich
mein Bitten und Anliegen ihm selbst vortragen darf? — Ich erinnere mich
des Evcmgelii von der Hochzeit in Galiläa. da war Mangel an Wein, die
Mutter Gottes wollte auch eine Fürbitte thun bei ihrem Sohne und sagte:
Sie haben nicht Wein. Was sagte der Sohn zu ihr? Weib, was hab' ich mit
dir zu schaffen, meine Stunde ist noch nicht gekommen. O sie schwieg gern
still und sagte wider die Diener: Was er euch saget, das thut. Also glaube
ich nicht, daß ihr Fürsprecher was hilft.
Pater. Ich muß weiter fragen: Was hältst du vom Fegefeuer? Bchbdr.
Nichts. Pater. Gar nichts? Bchbdr. Nein, denn in der Bibel finde ich
nichts als von Himmel und Hölle. Ich gedenke an den reichen Mann und
Lazarum. War der reiche Mann nicht ein großer Sünder, ein Verschwender
und Schlampamper? der hätte billig ins Fegefeuer gesollt, er würde auch ohne
Zweifel für Seelenmessen etwas Geld übrig gelassen haben. Der arme Lazarus
war ein blättriger Mensch voller Eiterbeulen, er hätte auch billig ins Fege¬
feuer gesollt, daß er darin rein geworden wäre. Es steht aber im Evangelio:
Der Reiche kam in die Hölle, und der Arme ward getragen von den Engeln
in Abrahams Schooß. Pater. O mein Buchbinder, eine Schwalbe macht
noch keinen Sommer. Bchbdr. O Herr, es sind ihrer noch mehr im Neste.
Pater. Was für welche? Bchbdr. Ich gedenke jetzt an den Schacher am
Kreuze, war das nicht ein Mörder und großer Sünder? der hätte auch billig
ins Fegefeuer gesollt. Aber nachdem er sich an Christum hielt, bekam er diese
tröstliche Antwort: Heut wirst du mit mir im Paradiese sein. Er durfte in
kein Fegefeuer. Derowegen ist auch keins; nur Himmel und Hölle.
Pater. Ja, mein Buchbinder, das ist ein einziges Exempel. Es wird
nicht bald wieder einem widerfahren, daß ihn Christus sogleich in den Himmel
nehmen wird. — Ihr seid nicht recht berichtet, ich will Euch anders lehren.
Aber ich muß mit Euch umgehen wie mit einem ABCschützen. ich muß Euch
einfältig und mit Wenigem weisen, und gebe Euch zur Lehre mit, daß ihr das
Ave Maria fleißig erlernt, daß ihr es könnt, wenn ihr wieder zu mir kommt,
hernach will ich Euch ein Mehres unterrichten. Bchbdr. Herr Pater, das ist
ja gar kein Gebet, sondern ein Gruß. Pater. Nun geht nur nach Hanse
und thut, was ich Euch befohlen habe.
Nun geht der Buchbinder nach Hause und nimmt des Lutheri und Canisii
Katechismum und eine Wagschale unter seinen Mantel und laust bald wieder
hin zum Jesuiten i» die Stube, wo gerade viel Volk zum informiren war.
Als ihn der Pater sieht, fragt er ihn. was er wolle. Der Buchbinder antwortet:
ich will beweisen, daß des Herrn Lutheri Katechismus gewichtiger ist. als des
Canisii. Da nun der Pater zu ihm herangeht und bei der Stubenthür ein
klein Tischlein stand, nimmt er die beiden Bücher und die Wagschale unter
dem Mantel hervor und will sie auflegen. Darauf sagt der Pater: Ich meine
es nicht so. Da antwortet der Buchbinder: Ja, Herr Pater, ich meine es auch
nicht so. Aber der Verstand in dem Katechismus des Herrn Lutheri ist gewich¬
tiger als in dem des Canisii.
Da heißt ihn der Pater fortgehen. Der Buchbinder aber kommt lange
Zeit nicht zu ihm und es wird auch weiter gar nicht nach ihm gefragt.
Es begiebt sich aber, daß der Buchbinder einst von ungefähr dem Pater
auf der Gasse begegnet, da fängt der Buchbinder an: Gott grüße Euch. Herr
Pater. Pater. Gott danke Euch. Bchbdr. Gott grüße Euch, Herr Pater.
Pater. Gott danke Euch. Bchbdr. Gott grüße Euch, Herr Pater. Pater.
Gott danke Euch. Bchbdr. Gott grüße Euch. Herr Pater. Pater. Ihr
seid ein Narr, daß Ihr mich so viel Mal grüßt. Bchbdr. Herr Pater. Ihr
wißt, daß Ihr mir befohlen habt das Ave Maria fleißig zu lernen, das ist ja
auch nur ein Gruß. So denkt doch um Gottes Ehre willen, ich grüße Euch
nur zwei bis drei Mal. und es verdrießt Euch schon. Was wird die Mutter
Gottes nicht für Verdruß haben, wenn sie des Tages immerzu von so viel tausend
Personen gegrüßt wird. Ist das nicht eine Qual und Unruhe, und es steht
doch in der Bibel: die Seelen der Gerechten sollen Ruhe haben. Darum
halte ich nichts davon, daß der Gruß nütze sei. es ist genug, daß sie der Engel
bei ihrem Leben gegrüßt hat. Pater. El. seid Ihr ein Narr, geht von mir
und packt Euch fort.
Es trägt sich aber zu, daß der Buchbinder einmal an einem Sonntage sich
verspätet, das Thor ist zugeschlossen, er kann nicht hinaus nach Schwentfeld in
die Kirche kommen, also geht er in die Stadt zur Kirche und hört des Jesuiten
Predigt an und stellt sich mit Fleiß ihm gegenüber. Als nun der Pater das
Evangelium vom Zinsgroschen vorliest, wo die Worte stehen: „Und sie reichten
ihm einen Groschen dar." und ferner: '..Weh ist das Bild und die Ueberschrift?
— des Kaisers." so liest der Pater in seinem Evangelio: „und sie reichten
ihm einen Pfennig dar/' Das nimmt der Buchbinder genau in Acht. Wie
die Predigt aus ist. wartet der Buchbinder vor der Kirchthür mit Fleiß
auf den Pater, bis er herauskommt. Wie ihn der Pater sieht, redet er ihn
an: Glück zu, mein Buchbinder, seid Ihr einmal in unserer Kirche gewesen.
Bchbdr. Ja Herr Pater, ich muß auch einmal Seine Predigt hören. Pater.
Was habt Ihr denn Gutes gelernt aus unserer Predigt? Bchbdr. Gar viel
Gutes, ich wollte es nicht um vieles Geld geben. Pater. El, was ist das
Gute? Sagt mir es doch bald her. Bchbdr. In Eurem Evangelio steht:
„Und sie reichten ihm einen Pfennig dar," in unserm aber: „und sie reichten
ihm einen Groschen dar." Unser Evangelium ist doch wenigstens elf Pfennige
mehr werth als Eures. Denn Christus frägt weiter: „Weh ist das Bild und
die Ueberschrift? Sie sprachen: des Kaisers." Pater: Ja, mein Buchbinder,
Ihr müßt wissen, das! man zur selben Zeit so große Pfennige machte, welche
man hernach Groschen genannthat. Bchbdr. Nein, Herr Pater, Euer Pfennig
ist falsch, man hat sein Lebtag nicht erfahren noch gehört, daß auf einen Pfennig
des Kaisers Bild und Überschrift wäre geprägt worden." Damit ging der
Pater zornig von ihm, und der Buchbinder in Ruhe und Friede nach Hause.
Diese und noch viel mehr kurzweilige Gespräche, so zum Theil vergessen
sind: hat der selige Buchbinder gehalten, und er ist einzig und allein übrig
geblieben, gut evangelisch bis an sein Ende, und ungefähr zehn Jahre nachher
gestorben.
So weit der Bericht aus der Flugschrift. Der kleine Ketzer mit seiner
Neigung zu Eulcnspicgelstrcichcn. mit schlagfertiger Dialektik und fester Bibel¬
kenntniß ist kein übler Repräsentant des frischen Selbstgefühls, mit welchem das
Volk bis in die Mitte des grausamen Krieges ging. Die hundertfünfzig Jahre
nach der Verwüstung unserer Volkskraft brachten den deutschen Stämmen die
größten innern Wandlungen. Der Pietismus kam in das Land und gab
dem verwilderten Volke an Stelle des theologischen Gezänkes erhöhte Wärme der
religiösen Empfindung, Innigkeit, Weichheit und eine schwärmerische Sehnsucht
nach den Freuden des Jenseits. Und unmittelbar nach ihm brachte das große
Jahrhundert der Aufklärung Kenntnisse, methodische Zucht des Denkens, eine
schärfere und unbefangenere Auffassung der Objecte. Die Wissenschaft erwuchs
zur Lehrerin des Volkes. Das neue Licht warf seine Strahlen allmälig auch
in die enge Behausung der Kleinen, mit anderer Methode als früher begann
das Volk zu sinnen und denken, nicht mehr nach dem Wortlaut der Schrift
wurden die Erscheinungen des Lebens beurtheilt, der gesunde Menschenverstand
fing sclbstt'rästig an Weltliches und Heiliges kritisch zu betrachten, in jedem
Dorf gab es Einzelne, welche den Aberglauben ihrer Nachbarn verlachten, welche
mehr auf die Moral als die Dogmatik der religiösen Ueberlieferungen gaben,
hier und da ein Buch lasen und Wohl gar für keine Beleidigung hielten, wenn
sie Freigeister genannt wurden. So regte sichs im letzten Drittel des Vongen
Jahrhunderts in den meiste» Landschaften Deutschlands. Anders in Oestreich.
Dort war, Wien und wenige andere Städte abgerechnet, dem Volke ein Jahr¬
hundert verschwunden wie ein Traum. Ja man darf sagen, die Selbstthätigkeit
des Volkes hatte seit der Zeit des Matthias Rückschritte gemacht, der Protestan¬
tismus war dort durch kriegerische und geistliche Arbeit unterdrückt worden,
seinen Gegner, den Jesuitenorden hatte die Strafe des eigenen Thuns erreicht,
er war in Äußerlichkeiten und geistlosen Wesen verkommen. Schweigend und
unterwürfig vegetirten die Menschen in den Kronländern unter der schlaffen
Zucht ihrer geistlichen Hirten, wo sich in den Gebirgsthälern die religiöse und
politische Opposition noch hier und da einmal regte, wurde.sie erbarmungslos
Verfolgt; nur wenigen hatte in dem Thalland der Moldau und Donau die
Lehre der Pietät das Herz gehoben, die ganze Aufklärungszeit kam dort dem
Landvolk nur dann zu Gute, wenn etwa einzelne größere Grundbesitzer davon
erfaßt, in ihrem Kreise die neue Humanität praktisch bethätigten. Es wird in
der Zukunft wohl den Oestreichern selbst als ein bedeutsamer Umstand ihrer
Geschichte erscheinen, daß die Masse des Volkes bei ihnen fast ein Jahrhundert
später in die große Culturbewegung eintrat als die übrigen Stämme Deutjch-
lands.
Und doch war durch Feuer und Blut, durch geistliche Gerichte und bürger¬
liche Kerker der Drang nach sclbstkräftigem Denken auch dort nicht ganz unter¬
drückt, aber er barg sich scheu in Heimlichkeit. Auch in Böhmen und Mähren
gab es noch Enkel, welche die Bücher ihrer protestantischer Vorfahren lasen
und in der Stille zu einander über die Macht des römischen Priesters murmelten.
Nicht wenige dieser Nachkömmlinge der alten Hussiten und mährischen Brüder
sind in unserer Zeit aus dem Dunkel hervvrgetaucht, nach mehr als zwei Jahr¬
hunderten erheben sich jetzt wieder Ketzerkirchen in den Provinzen, welche einst
mehr Protestanten als Altgläubige gezählt hatten.
Unter den Gemeinden, welche in den letzten Jahren die Theilnahme der
deutschen Protestanten für sich in Anspruch nahmen, hat kaum eine größere
Aufmerksamkeit erregt, als die kleine evangelische Genossenschaft des Marktes
Oels im brünner Kreise. Ihre Leiden und ihre Ausdauer haben sie zu einem
besonders werthen Schützling des Gustav-Adolphvereins gemacht, seine Unter¬
stützung fördert gerade jetzt den Bau einer Kirche und Schule, und die Ein¬
richtung eines Kirchspiels, welches etwa vierhundert Zugehörige hat. Aus
diesem Ort ist eine handschriftliche Aufzeichnung von Jahr 1782 erhalten, deren
Benutzung in d. Bl. durch Freundesgüte vermittelt wurde. Auch aus dieser
Schrift wird das Wesentliche nach seinem Wortlaut hier mitgetheilt. Wie
unbehilflich die Darstellung ist, es fesselt doch Einiges in Ton und Inhalt.
Der Schreiber hat nichts von der jovialen Laune des Schweidnitzers, aber sein
ganzes Wesen, seine Bibelfestigkeit, die Art, wie er die Wahrheit sucht, das
ganze Treiben in seinem Orte, ja sogar Sprache und Ausdrucksweise zeigen genau
dieselbe Stufe der Entwickelung, welche 1S0 Jahre früher an dem Volke
Schlesiens erkennbar ist. Man soll den Werth einer einzelnen Lebensäußerung
nicht überschätzen, aber wie viel man auch der zufälligen Bildung des Ein¬
zelnen anrechne, es bleibt immer noch in Ton, Farbe und den geschilderten
Zuständen viel übrig, was uns als gemcingiltig und charakteristisch für Land
und Menschen gelten darf.
So aber berichtet der Mähre Gregor Jakubetz aus Markt-Oels über seine
religiösen Kämpfe:
Am Feste Aller Seelen im Fegfeuer des Jahres 1778 wurde von dem
römischen Priester Pater Andreas Krbeczek gepredigt, da ich Georg Jakubetz
unter dem Primatvr Gregor Linhart im Amte stand, und daher an jenem Tage
im Mantel in die Kirche zu dem geistlichen Kartenspiele gehen mußte. Als
dieser Pater Krbeczek zu predigen anfing, da begann er sogleich, gemäß jenem
Kartenspiele — diesen Tag lobend zu erheben, so. daß demselben kein andrer
Tag während des ganzen Jahres gleich käme, an welchem den armen Seelen
aus den Qualen des Fegfeuers geholfen werden könnte, denn dieser Tag sei
allein bestimmt zur Erlösung aus den Leiden und Qualen des Fegfeuers. Ach!
mit welch großer Freude erwarten diesen Tag die armen Seelen in ihrem
Leiden! — Gedenket daher eurer lieben Eltern, Brüder, Schwestern und Bluts¬
verwandten, der heutige Tag und kein anderer ist zu ihrer Erlösung bestimmt.
Ach, gedenket ihrer mit dem Gebete des Herrn und dem Engelsgruße, denn
diese bemitleidenswerthen Seelen warten nicht nur ein Jahr, zwei, drei, vier,
zwanzig, fünfzig Jahre, ach vielleicht warten manche hundert Jahre auf diesen
heutigen Tag, daher gedenket ihrer. — Als dies die Leute hörten, welche
Gottes Wort und das Testament des Herrn nicht kennen, da singen sie an zu
weinen, so, daß ein Lärm in der Kirche entstand und während solcher Er¬
mahnungen gaben sie ihre Groschen auf Fürbitten. Als derselbe Priester seine
Predigt beendete, da brachte ihm der Kirchendiener das Berzeichniß auf die
Kanzel. — Nachdem ich jene Predigt angehört und die durch selbe zum Schluch¬
zen bewogene Menge gesehen hatte, dachte ich mir, daß es da viele Groschen
geben werde. Ich befand mich damals unter einer solchen römischen Macht,
daß ich sogar ihren Rosenkranz in der Hand bei mir führte, durch welchen sie
den Kalmücken gleichen (wie davon zu lesen ist in dem Buche Josefs — Seite
31 und 32 gedruckt in Prag). Als der Priester zu lesen anfing für den und
den Verstorbenen, ließ ick die Kugeln fallen, um zu erfahren, wie viele ihrer
sein werden, und es waren ihrer 112. und als er für selbe darnach zu beten
anfing, zählte ich wieder zurück, und er hatte für 32 abgebetet und verkündigte
gleich darauf, daß wegen Kürze der Zeit die übrigen Fürbitten auf den künftigen
Sonntag verlegt würden. Und er hatte seine Predigt so ausgeführt, daß kein
Tag im ganzen Jahre geeignet sei zur Erlösung der armen Seelen außer diesem
Tage. — Als er aber 112 Groschen bekommen hatte, verschob er ihnen diesen
Tag vom Montage bis zum nächsten Sonntage, obgleich er eben gesagt hatte,
mit welcher Freude die Seelen diesen Tag nicht nur ein Jahr, sondern hundert
Jahre erwarten. Diese Predigt blieb mir in gutem Gedächtniß bis zu der
von dem Herrn Gott bestimmten Zeit.
Darnach kam 1751 eine kaiserliche Verordnung, daß es nicht ferner gestattet
sei. die Fahnen der verschiedenen Handwerksinnungen bei Processionen zu
gebrauchen, namentlich bei dem römischen Frohnleichnamsfeste. Ich kam den
2. Juni am Sonntage früh vor Pfingsten zum Josef Czlubek in dessen Wohnung;
er saß an der Werkstätte bei seiner Arbeit. Ich — Jatubetz — sprach diese
Worte zum Czlubek: „Herr Vater! Alle Pflanzen, die der himmlische Vater
nicht gepflanzet, die werden ausgereutet." Czlubek fragte, warum ich das sage?
Weil die alleinige ewige Wahrheit Herr Jesus sagt Matth. 15. 9. Aber ver¬
geblich dienen sie mir, dieweil sie lehren solche Lehren, die nichts denn Menschen-
gebote sind. So ist auch dieser Feiertag von dem Papst Urban dem Vierten
im Jqhre 1264 der Klosterjungfrau Juliana zu Lieb angeordnet, wie die
„Königin-Kirche" (KralovnÄ eirkev) davon schriebt. Czlubek. Wie lange ist es
bereits? Jakubetz. 517 Jahre.
Im selben Jahre 1781 ließ man in unserm Markte den Weg zum Kreuz
malen, und am selbe» Pfingstsamstage wurde derselbe in die Pfarrkirche ge¬
bracht, und die Fahnen der Innungen wurden aus'der Kirche herausgetragen.
Zu der Zeit war hier als Kaplan Pater Johannes Stanpavß aus Bistritz.
Er schuldete dem Josef Czlubek für zehn Maß Bier 2 Fi. 20 Kr. und schickte
am selben Tage die Hälfte dieses Geldes durch den Kirchendiener Matthäus
Schulak. Als dieser in Czlubeks Haus kam, sagte er: Herr Nachbar, ich bringe
euch von dem Herrn Kaplan die Schuld für das Bier, jedoch nur die Hälfte,
denn um das Geld ist es jetzt eine Noth, immer nimmt es um etwas ab.
Czlubek. Was geht euch ab? Schulak. Wir dürfen am Frohnleichnamsfeste
keine Maienbäume aufstellen und nicht mehr mit den Fahnen herumgehen.
Czlubek. Alle Pflanzen, die der himmlische Vater nicht gepflanzt, werden aus-
gereutet, dieses ist eine Pflanzung der Menschen so muß es vergehen. Schulak
aber sagte: Heute thun wir die Bilder des Kreuzwegs in die Kirche, und die
Zechfahnen tragen wir zur Kirche heraus — dieser Weg wird besser dahin
passen, als jene Fahnen. Czlubek. Er wird gerade eine Kraft besitzen als wie
jene Fahnen. Schulak. Was redet ihr? Czlubek. Warum sollte ich nicht reden,
denn das ist gegen das zweite Gebot Gottes, worin es Gott streng verboten hat.
Schulak. Was ist das verboten? Czlubek. In der heiligen Bibel — du hast
sie ja, lies darin im 2. Buch Mosis, das 20. Capitel, so wirst du es begreifen.
Schulak. Ich habe keine Augengläser. Czlubek. Neulich hast du diese selbst
zu dem kleinen Bündel Alterthümer des Kvristek nicht bedurft und auf die heilige
Schrift siehst du nicht? Da ist es leicht zu ersehen, daß bei euch der Papst in
größerer Ehre steht, als das Gebot Gottes; er hat euch einem Weib zu Lieb
ein Kehl gegründet, und ihr haltet es in größeren Ehren als Gottes Gebote.
Schüiat' erzürnte infolge dieser Worte und vertheidigt«? die römische Kirche
und Czlubek dagegen die evangelische Lehre und so trennten sie sich. Darauf
klagte es Schulak dein Herrn Pfarrer Georg Jajek. Infolge dessen wurde
Czlubek zu dem Pfarrer am Mittwoch nach Pfingsten den 6. Juni gerufen.
Ais er sich dahin begab, ging eben der Priester in die Kirche und als es nach
der Messe war. da sah Czlubek, wie dort das Werk der Anbetung dargebracht
wurde der neuen Malerei d, i. dem Kreuzwege, worüber er sehr ereifert ward
— gemäß deck Gebote und den Worten des h. Paulus: Was hat der Tempel
Gottes für eine Gemeinschaft mit den Götzen? Darauf ging er in das Pfarr¬
haus, und fragte: Ehrwürdiger Herr Pfarrer, aus welcher Ursache haben Sie
neu Mich den Kirchendiener geschickt, um bei Ihnen zu erscheinen? Der Pfarrer.
Ihr seid hier Verklagt, weil ihr nämlich gesprochen hat, daß der Papst das
Frohnleichnamsfest einem Weibe zU Lieb eingesetzt hat. Wo habt ihr das ge¬
hört? Czlubek. Das steht in euren, Buche: Königin-Kirche. Der Pfarrer
nahm das Buch und als er es dort vorfand, sprach er: Ihr habt aber ge¬
sprochen, daß sie des Papstes Geliebte wäre? Czlubek. Das sage ich noch.
Pfarrer. Mensch, was sprechet ihr da? Czlubek. Das spreche ich und werde
es sprechen, daß sie ihm lieber wär, als das Gebot Gottes: denn in dem
Testamente des Herrn stehet: Euere Weiber lasset schweigen unter der Gemeinde,
deM es soll ihnen nicht zugelassen werden, daß sie reden. Pfarrer. Ihr war
es geoffenbctret. Czlubek. Eine solche Offenbarung, stehet in eurer Bibel im
3. Buche Moses, 13. ist eine Ketzerei. Indem sie ihn in keiner Sache
überweisen koünteU, warfen sie selben in den GcMeindctcrker in zwei großen
Eisen.
Derzeit war im RathhaUs Franz Mahner, welcher auch das päpstliche Joch
unterthättig trug Und ihren Erfindungen huldigte. Derselbe wurde von dem
Vorstände angewiesen, aus jene aufzumerken, welche inihümliche Bücher hätten.
Er hatte aufgemerkt; erkannte aber selber aus selben Büchern den Irrthum der
Verführung und die evangelischen Wahrheiten. Es währte vor dem bereits
fast ein Jahr, ehe sie es bei ihm mit Sicherheit wahrnahmen. Dünn fingen
die NöMlinge an Mit ihm zu disputiren gegen das heil'ge Evangelium, bis sie
ihn auch verklagtes bei deM Pfarrer des Marktes Oels, Georg IM. Da er
zU diesem gerufen wurde, sagte der Pfarrer: Ihr Mensch! ich habe Euch ja stets
für einen guten katholischen Christen gehalten, jetzt höre ich von Euch, daß Ihr
irre gehet. Er antwortete: Ehrwürdiger Herr Pfarrer: Ich kam geraden Wegs
in das Pfarrhaus, ich ging ja nicht irre. Der Pfarrer sagt: Ich meine jedoch,
daß ihr im Glauben irret. Wahn er antwortete: Er möge ihm den Irthum
zeigen. Pfarrer. Wie sollet Ihr nicht irren, indem ihr Euch von dem allein-
seligmachenden Glauben trennet? Wayner. Woraus wird diese Alleinselig-
macherei erkannt? Pfarren Unser Glaube ist ja durch Wunder bewahrheitet.
Wayner. Dem schenke ich keinen Glauben, denn was von dergleichen Wundern
gesagt wird, das sind lauter Verführungen; aber dies ist ein Wunder- Als
ich hierher ging, so regnete es und jetzt scheint schön die Sonne. Das ist
Gottes Wunder. Pfarrer antwortete: er möge sich doch nicht von ihnen
trennen und entließ ihn so.
Wayner fuhr sogleich nach Brunn und brachte Bibeln, welche auf kaiser¬
liche Kosten gedruckt wurden, zu uns nach Oels. Ein Bürger Namens
Johann Nemecck sagte, daß das vermaledeite Bibeln seien sammt den Leuten,
welche sie zuführen. Wayner wollte es nicht so hinnehmen, sondern ging mit
Andern in die Pfarre darüber zu klagen. Der Kaplan vertheidigte jedoch den
Nemccek. Da kam die Magd aus der Küche und sprach: El was. sie haben
ja ihren Bischof! (wobei sie auf mich Jakubetz hinzielte) und der Kaplan be¬
jahrte es. — Ich Jakubetz, da ich dies horte, ging sogleich mit in das Pfarr¬
haus und fragte: aus welcher Ursache mich die Magd einen Bischof nenne?
Der Kaplan sagte: Ihr seid es ja! Jakubetz. So ich es bin, so bin ich also
der Bischof und Ihr seid nur ein Kaplan. Saget mir nun: Wie viele Bücher
enthält die Bibel? Und wer war der erste Märtyrer? Aber er wußte nichts,
und schickte sogleich nach dem Ortsvorstand. Ich sagte ihm: er möge beachten,
was jhm aus dem Arrestiren erblühen werde. Der Kaplan antwortete: Wir
werden Euch wohl bald wegschaffen. Jakubetz. Nicht sobald. Kaplan.
Wenn Eurer auch zwanzig wären! Jakubetz. O. wir sind mehr. Kaplan.
Wenn auch dreißig. Jakubetz. Noch mehr. Kaplan. Wenn auch sechzig,
Jakubetz. Immer noch mehr. Der Vorstand führte mich darauf in den Kerker,
wo jetzt bereits zwei waren. Da sing der Satan zu wüthen an.
Denn darnach gingen sechs von uns zimmern, nämlich: Jakob, Franz,
Ignaz und Thomas Pelischek, Georg Michel, und Georg starck — alle Freunde
der Wahrheit Gottes. Aber die Feinde wußten nicht, auf welche Art sie diese
in den Kerker werfen könnten. Da liefen sie hin und her, aber die Furcht
des Herrn kam über sie, denn sie fürchteten, daß wir uns wehren werden-
Da kam man uns zu sagen, daß sie uns die Zimmerjacken wegnehmen wollten.
Da blieb Franz Pelischek zu Hause und dem Jakob Pelischcr mischte der Bier¬
brauer Gift in das Bier, daß es ihm seine Eingeweide herauftrieb. Als sie
nun sahen, daß wir weniger wurden, schickten sie nach zwei Trabanten, und
alle Nachbarn kamen zusammen und versteckten sich in den Häusern, .welche
gegenüber dem Platz lagen, wo wir arbeiteten. Da sielen sie von allen Seiten
auf uns wie auf Missethäter. Das war am Samstage vor dem Himmelfahrts--
feste und warfen auch diese vier in den Gemeindekerker.
Gerade kam auch Franz Wayner von Brünn. sogleich schickten sie nach
diesem, so auch nach dem Anton Kaupy und gaben sie in denselben Kerker.
Jetzt waren wir schon sechs drinnen.
Da herrschte Freude, daß sie uns Ketzer wegführen werden, und sogleich
mußten die Fuhren kommen und wir wurden auf selbe aufgeladen. Das war
ein Schauspiel, Jung und Alt strömte herbei, so daß niemand wähnen möchte,
daß es so viel Volk in Oels gäbe. Als sie uns aber wegführten, da ließ sich
die Gottesstimme stark hören, indem es so donnerte, daß die Erde erbebte und
wir wurden so naß, daß kein Faden auf uns trocken blieb.
Als sie uns nach Kunstadt brachten, gaben sie einem jeden zwei große
Eisenfesseln auf die Füße und ließen uns vier Wochen im Kerker. Dann
ängstigten sie uns. daß sie uns nach Venedig schicken werden"), allein wir
ließen keiner Furcht über uns Herr werden. Sodann ließen sie uns zum Ver¬
hör, wie wir sprechen würden. Allein der Erste, als sie ihn hernahmen, sing
an zu leugnen und willigte ein Katholik zu bleiben, denn er war nicht be¬
festiget in der Wahrheit Gottes. Aber-wir fünfe: Gregor Jakubetz, Franz
Wayner, Josef Czlubek. Ignaz Pelischek und Thomas Pelischek ließen uns
nicht durch ihre Drohungen schrecken; denn Franz Wayner sagte uns, wenn
ihr Andern läugnen werdet, so sage ich von Euch alles heraus.
Als ich, Georg Jakubetz, als erster gerufen wurde, läugnete ich nichts, son¬
dern bekannte frei und sprach: alle Pflanzen, die der himmlische Vater nicht
gepflanzet, werden ausgereutet werden. Und worauf sie mich immerhin ge¬
fragt haben, das beantwortete ich. — Als keiner abtrünnig wurde, trennten
sie uns von einander, damit keiner zum andern könne. Als auch so keiner
von der Wahrheit Gottes abtrat, hieß es. daß wir nach Brunn gebracht
werden und dort lebenslänglich auf dem Spielberge sitzen werden. Darnach
ängstigten sie uns mit neuen Schrecken. Alle Bücher und Schriften wurden
uns und noch mehren Nachbarn zu Hause genommen, und diese Bücher wurden
sammt jenen Nachbarn nach Kunstadt uns .nachgeführt.
Der Pfarrer kam auch und verbarg sich in das Nebenzimmer, aber wir
wußten nichts davon. Er ließ uns durch den Trabanten holen, daß wir zum
Herrn Oberamtmann hinaufkommen sollten. Der Herr Oberamtmann ver¬
kündete uns, daß wir nach Brünn müßten. Allein ich melde Euch noch, daß
Euer Herr Pfarrer hier anwesend ist, und gnädig zu Euch sein will, wenn Ihr
seinen Rath befolgen wollet, er wird nach Brünn zum h. Gubernium schrei¬
ben und Ihr könntet ein jeder wieder zu eurer Wirthschaft heimkehren und er
wird Euch Euern Irrthum beweisen. Wir antworteten darauf sogleich: Das
wünschen wir, daß er uns unsern Irrthum aufweise. Da rief sogleich der
Herr Oberamtmann den Herrn Pfarrer in das Zimmer. Der Pfarrer kam und
sprach zu uns: Seid mir liebe Nachbarn willkommen, sehet, ich kam hierher
gefahren. ich will es vermitteln, daß ihr nach Brunn nicht, müsset, auch will
ich Euch Euern Widerstand verzeihen, und Euch aus Euern Irthümern befreien.
— Da hackte ich Jakubetz zu ihm: Ich werde Euch Euern Irrthum melden, in
welchem Ihr irret. Ihr habt den 2. November gepredigt, daß kein Tag im
ganzen Jahr so glücklich sei, als der Tag, an dem ihr 112 Groschen bekommen
habt und doch durftet Ihr diesen Tag vom Montage bis zum Sonntage verlegen
und mich wundert, daß Ihr erst nach vier Wochen die Geschichte der Fürbitte
erledigt habt. Das ist ein Irrthum. — Darauf sprach Czlubek zum Pfarrer:
Ihr unglücklicher Mensch, was wollt Ihr noch mit diesen Verführungen, daß
Ihr das Volk also zu Eurem Götzendienste nöthiget? Der Pfarrer aber nahm
wahr, daß er uns nicht überwinden werde, und ging davon. Wir aber schrit¬
ten herab und setzten uns auf die Wagen; mit uns aber eine große Begleitung
sammt jenem Ortsrichtcr.
Als sie uns nach Brünn zum Kreisamte in das Landhaus brachten, da
sperrten sie uns gleich ein und verhörten uns; wir haben aber tapfer geant¬
wortet und vertheidigten uns mit jener Bibel, welche auf kaiserliche Kosten ge¬
druckt war. Als sie uns nichts anhaben konnten, da sagte uns das Kreis-
gcricht. wir sollten frei nach Hause gehen und dem Herrn Pfarrer gehorchen.
Aber wir antworteten wieder, daß wir uns an das Testament halten werden.
Und dem Pfarrer bekam es übel, weil er uns kerkern ließ, ohne Ursache dazu
zu haben. Darauf fuhren wir frei nach Hause, aber der Ortsrichter wollte wieder
mit nach Hause fahren. Wir aber sagten ihm, daß er mit uns nicht fahren
könne, indem wir nach Venedig fahren müßten, wie er uns unterwegs vorher
verkündigt hatte. Und er müßte von Brünn zu Fuß nach Hause gehen.
Als wir nach Hause kamen, versammelten wir uns mehre und hielten
Rath unter einander. Wir beriethen uns, daß wir uns an den Kaiser wenden
wollten. Wir schickten daher einen Nachbar, und der war ich, Jakubetz, nach
Wien.
Als ich nach Wien kam, suchte ich gleich einen Agenten Namens Samuel
Nady und ich fand ihn dort, indem wir die Hausnummer seiner Wohnung
wußten. Aber dieser Agent wollte nicht das Memoriale schreiben. Allein ich
erwähnte ihm viele Punkte aus der heiligen Schrift, mit denen wir uns ver¬
theidigten, so daß sie uns nichts anhaben konnten. Sogleich hatte der liebe
Gott sein Herz erweicht, er bekam Muth und schrieb an Se. Majestät den
Kaiser ein Memoriale. Der Kaiser aber unterschrieb sich sogleich selbst auf
diesem Memoriale und es kam zurück nach Brünn zu dem Gubernium, damit
die Männer, welche dieses Memoriale eingereicht hätten, die Zahl der Seelen,
Welche sie angegeben hatten, nachweisen sollen. Es kam daher von Brünn der
Auftrag, daß wir uns daselbst vorstellen sollten. Wir gaben Antwort, ohne
vor ihren harten Worten zu erschrecken, und wir wiesen sogleich die Familien
nach und ncichsidein. noch elf Herrschaften. Darauf mußten wir uns unter¬
schreiben, und es ging wieder zurück nach Wien zu dem Herrn Kaiser. Und
so kam uns gleich darauf das Toleranzpatent, daß uns unsre Religion gestattet
sei und daß wir unsre Lehrer bekommen sollten, wo sich hundert Familien auf¬
finden werden.
Da war eine sehr große Freude und Frohlocken, allein diese Freude ver¬
wandelte sich in ein Herzensleid. Denn es starb bei uns eine Nachbarin Namens
Theresia, Gemahlin des Johann Pohanka. Sie ließen uns dieselbe nirgends
begraben"), außer auf dem Hutweidewege! wir wollten aber nicht anders, als
auf den Zbor — (die Schuttstätte eines einstigen Versammlungsplatzes der
Brüder). — Wir erhielten das Recht und es war jenes Begräbnis; feierlich für
Gott, für uns jedoch sehr beklagenswerth. Als wir den Leichnam auf die
Bahre legten, schickten die katholischen Nachbarn ihr Gesinde, auf der Bahre
und dem Sarge machten sie mit Kreide Kreuze und spotteten unsers Gesanges.
Dann, als wir den Leichnam trugen, da gab es was zu sehen l der Eine
meckerte, der Andere brummte, der Dritte brüllte, der Vierte jauchzete und so
mehr, was und welcher das Aergste machen konnte, denn es kamen mehre
Hunderte des Volkes zusammen. Sie machten sich ein Strohkreuz und banden
es auf eine Stange, machten sich einen Weihwedel von Stroh und besprengten
uns mit Spülicht. Zweimal verschütteten sie uns das Grab, warfen mit
Erdschollen und streckten ihre Zungen aus, ja, brachten sogar das Crucifix uyd
häuften so allen Gram auf uns. Sie luden viele Angriffswaffen, aus den
Thurm stellten sie eine Wache, um Sturm zu läuten, wenn wir mit ihnen
anbinden möchten. Denn zu Schlenov und Cerhov.gaben sie es zu wissen, damit
sie gleich kommen sollten, wenn Sturm geläutet werden würde. Uns gab Gott
jedoch solche Geduld, daß wir niemandem Leid thaten.
Als die Beerdigung vollbracht war, gingen wir zum Herrn Oberamtmann
Klage zu führen. Der Herr Oberamtmann bestrafte die am ärgsten gethan
hatten und es war wieder Friede.
Soweit der Wortlaut der Aufzeichnung. Daß die evangelischen Brüder von
Oels einen Hauptantheil an dern berühmten Toleranzpatent hatten, welches im
Jahre 1781 vom Kaiser Joseph dem Zweiten erlassen wurde, wird auch in
andern kirchlichen Aufzeichnungen der Gegend berichtet, welche melden, daß
Georg Jakubetz auch einer von denen war, welche 1781 in dem Lager von
Turan in der Nähe von Brünn dem Kaiser persönlich ihre flehentlichen Bitten
vortrugen..''
Etwas von dem alten Hussitentrotz, welcher aus dem Bericht zu erkennen
ist. war auch nach dem Patent durch drei Generationen den Ketzern von Oels
nöthig, um sich unter den Angriffen ihrer Gegner zu behaupten. Jetzt erhebt
sich an Stelle des morschen Bethauses. welches sie sich nach 1781 zimmerten,
Mauer und Thurm einer freundlichen Kirche. Auch für die Völker Oestreichs
ist seit dem Jahre 1848 die Sonne einer humanen Bildung aufgegangen, in
deren reinem Licht Katholiken und Protestanten sich allmälig als freie Menschen
Die düppler Schanzen sind mit Sturm genommen. Die Beschießung der
Schanzen war in den letzten Tagen immer umfassender und stärker geworden
und erreichte ihren Höhegrad am 18. April Morgens. Plötzlich um zehn Uhr
schwiegen die Geschütze, die Musik, in den Laufgräben aufgestellt, spielte National¬
lieder und lautlos, ohne einen Schuß zu thun, brachen die preußischen Sturm-
colonnen hervor; vorweg eine Tiraillcurkette. dicht dahinter Pionniere und In¬
fanterie mit den Instrumente» zur Ueberwindung der Hindernisse, dann die
Colonnen selbst, gefolgt von den Reserven. Jeder war für seine Aufgabe ein-
exercirt. jeder sah und kannte seinen Weg, jeder wußte, daß die brennendste
Gefahr ihn begleite, nur ein Ziel war gesteckt und das wuroe erreicht. Gleich¬
zeitig mit dem Sturm fand ein Uebergangsversuch nach Alsen statt.
Die Verluste der preußischen Truppen betragen an Todten und Verwun¬
deten nach den bisherigen Angaben 70 Offiziere, 700 Mann. Dies sind große
Verluste, aber groß ist auch das Resultat: die Dänen verloren und ließen allein
in Preußischen Händen an Todten und Verwundeten 43 Offiziere. 1060 Mann;
an gesunden Gefangenen aber 44 Offiziere. 3145 Mann. Außerdem wurden
200 Geschütze genommen. — Wir müssen diesem militärischen Act unsere vollste
Anerkennung aussprechen. er war gründlich vorbereitet, in allen Anordnungen
durchdacht, wurde würdig durchgeführt und muß jedes Herz, das für Preußen
und Deutschland wahr fühlt in ganzer Seele erfreuen.
Die Vorbereitungen müssen wir loben, weil der Prinz Friedrich Karl den
ganzen Gang des Sturmes vorher durchexerciren ließ und dadurch die Wechsel¬
fälle, die der Kampf bietet und welche das Nesultat schwankend machen, auf
ein Minimum reducirte. Der Prinz trat damit glücklicherweise in Widerspruch
zu den Grundsätzen, welche er in seiner Vorlesung über die Kampfweise der
Franzosen ausgesprochen hat; er meinte damals, der Soldat müsse im Gefecht
vergessen, was er auf dem Uebungsplatz gelernt habe. Schon damals wurde
dieser Ansicht entgegengetreten und der Satz dahin umgedreht, man muß auf
dem Uebungsplatz exerciren, was der Soldat im Gefecht zu thun hat, damit
er hier mit mechanischer Sicherheit richtig handelt.
Durchdacht haben wir die Anordnungen genannt, weil der Sturm die
Spitze der ganzen, die Tage vorher ausfüllenden Thätigkeit gebildet hat, weil
die richtige Tageszeit, mitten aus der Kanonade heraus, bei vollem Licht und
hinreichender Zeit, um das gesteckte Ziel gewiß zu erreichen, gewählt war; weil
man die Gliederung der Truppen durchaus zweckentsprechend geordnet hatte
und weil gleichzeitig die Demonstration bei Sandberg die Kräfte des Geg¬
ners theilte.
Würdig durchgeführt wurde der Sturm, weil man dem Soldaten für
denselben nicht durch allerlei Mittel, nach denen man in verschiedenen Armeen
gar zu gern-greift, z. B. Schnaps, Geldvcrsprcchungen, sondern durch Zurück-
führung auf das eigne Selbst, durch Gottvertrauen und Stählung der innern
Kraft den Muth zu erhöhen suchte; weil nirgends ein Schwanken hervortrat und
überall mit Entschiedenheit gewirkt wurde, bis das höchste Ziel, die vollständige
Vertreibung des Gegners erreicht war; und weil endlich jedermann, vom Ersten
bis zum Letzten seine Schuldigkeit gethan hat. Alle Waffen, Infanterie, Ar¬
tillerie und Pionniere haben gewetteifert das Höchste zu leisten, alle Chargen
haben gezeigt, daß sie die Größe ihrer Pflichten erkannt. Wir haben mit
hoher Genugthuung gelesen, daß auf je zehn Mann der Todten und Ver¬
wundeten ein Offizier kommt. Je größer die Gefahr, desto mehr Ehre ist zu
ernten und desto mehr gehört der Offizier in den Vordergrund. Zeitungs-
correspondentcn haben wiederholentlich über die Jugend der preußischen Lieute¬
nants gespottet, die preußische Verlustliste ist die beste Antwort auf dergleichen
Aussprüche. Nicht die Jahre befähigen zum Amt. sondern die Leistungen. Der
älteste Correspondent zeigt Unreife der Jugend, wenn er nur nach der äußern
Erscheinung das Wesen eines Mannes abschätzt, der jüngste Lieutenant, noch
behaftet mit dem kindlichen Aussehen des Cadetten, nimmt voll seine Stellung
ein, wenn er seine Pflicht thut, im Dienst unermüdlich und der Erste im Feuer.
Doch heut ist keine Zeit zum Schelten über Kleine und Große. Denn
dem, der dies schreibt, ist das Herz noch voll von Erhebung und Rührung über
unsere braven Soldaten. Heut ist Grund zur Freude für alle patriotischen
Deutschen, und wohl hatten die Schleswig-Holsteiner Ursache, über diesen
Sturm zu jubeln. Denn diese Schlacht bei Düppel und die dadurch
veranlaßte Reise des Königs von Preußen zum Schlachtfeld
haben die völlige Befreiung der Herzogthümer von Dänemark zu
einer Ehrensache gemacht für den König selbst, für das Heer und
für jedes Ministerium und jede politische Partei.
Bis zum heutigen Tage sollten die Beitrittserklärungen zu der Declaration
der Stände vom 5. d. M. geschlossen und dem Ausschuß, der sich durch drei
Schleswiger verstärkt hat, zur Uebermittelung an Herrn v. Beust zugesandt
sein. Der Ausschuß geht zu diesem Zweck nach London. Hoffentlich vergißt
er nicht, daß Preußen dort auch einen Vertreter hat, und daß von Preußens
Wohlwollen jetzt mehr abhängt als von dem des Bundes, dessen Ohnmacht man
hier in manchen Kreisen, wie mir scheint, länger als billig für Macht gehalten
hat. Die Zustimmungsadressen in Betreff der ständischen Erklärung sind zahl¬
reich eingegangen. Namentlich Ditmarschen und der Bezirk um Segeberg zeich¬
neten sich durch eifrige Betheiligung auch der ländlichen Bevölkerung aus, und
in mehr als einem Kirchspiel scheinen nicht weniger als alle Mündigen und
selbständigen dem herumgehenden Bogen ihre Namensunterschrift gegeben zu
haben. In dem kleinen Geeststädtchen Segeberg selbst geschah dies von nahe
an fünfhundert Einwohnern. Aus dem Amte Traventhal im südlichen Holstein
wird gemeldet. daß die Zahl der Unterschriften mit der Zahl der mündigen und
selbständigen Männer dieses Districts fast vollständig zusammenfällt. Im Kirch¬
spiel Leetzen bei Segeberg unterschrieben 61 Hufcnbesitzer, d. h. alle bis auf
einen, und man erwartete, daß die übrigen Kirchspiele des Amts das gleiche
Resultat zeigen würden. Im Kirchspiel Kaltenkirchen fand die Rechtsverwahrung
der Stände solchen Anklang, daß sich der Unterschristenbogen binnen drei Tagen
mit 668 Namen bedeckte. Im Dorfe Alveslohe. welches bisher nicht gerade
zu den wärmsten gehörte, unterschrieben 63 Mann, in Beidenfleth, von wo
früher auch nicht viel Erfreuliches zu berichten war, gab sich ebenfalls eine
überraschend große Theilnahme kund, was um so werthvoller ist, als der dortige
Kirchspielsvogt, zu den dänischgesinnten Beamten gehörig, der Agitation nach
Kräften Hindernisse in den Weg zu legen bemüht war. Von andern ländlichen
Gemeinden, die besondern Eifer zeigten, nenne ich nur Quarnstedt bei Kelling-
husen und Nordhastedt, wo die betreffende Adresse von dem gesammten Kirch-
spielscollegium und 160 Bauern unterschrieben wurde.
In den Städten war die Betheiligung an der vaterländischen Sache selbst¬
verständlich weit lebhafter, vorzüglich in Kiel und Rendsburg. Auch Altona
scheint den bequemen Schlafrock des passiven Widerstandes, in welchem man
vorigen Herbst beiläufig nicht blos hier, sondern so ziemlich im ganzen Lande
einzuschlafen im Begriff war. ausgezogen zu haben. Magistratscollegien und
Gymnasium haben sich ausnahmslos der Declaration der Stände angeschlossen.
Bon den Aemtern der Zünfte sind 27 der rendsburger Resolution vom 29. März,
die, wie früher bemerkt, im Wesentlichen dasselbe sagt, wie die Declaration
vom 5. April, beigetreten, und die 37 Sectionsführer des dortigen schleswig-
hvlsteimschen Vereins, die von Haus zu Haus Unterschriften für das rends¬
burger Programm sammelten, haben dem Vernehmen nach fast allgemein bereit¬
willige Hände gefunden, so daß ein glänzendes Ergebniß zu erwarten stand.
Ferner macht die freiwillige Anleihe wie in den Städten so auf dem Lande
noch immer gute Fortschritte, und man darf annehmen, daß Holstein allein
jetzt schon mehr als noch einmal so viel gezeichnet hat, als das ganze übrige
Deutschland.
Endlich ist auch die Versammlung „geschworner" Beamten, welche am
letzten Sonntage zu Neumünster stattfand, über Erwarten gut verlaufen. Mein
letzter Brief zeigt,, daß ich mir von den Herren nicht viel versprach, und Andern
wird es ebenso gegangen sein. Daß die Convocanten ihrer früheren Schwäche
die neue hinzufügten, ihre Namen zu verschweigen, ließ kaum hoffen, daß sich
viele der Eingeladenen einstellen würden. Gleichwohl erschienen am gedachten
Tage im Bahnhofshotel zu Neumünster über 60 der Herren, meist Post- und
Zollbeamte persönlich, und über 200 andere hatten Vollmachten eingeschickt, so
daß mit Ausnahme einiger Pastoren und der Mehrzahl der Oberbeamten alle
bei der Sache Betheiiigte vertreten waren. Die Debatte war ziemlich lebhaft.
Man war darüber einig , daß der geleistete Eid unschädlich zu machen sei, da¬
gegen spaltete sich die Versammlung in Betreff der Art und Weise, wie dies
zu bewirken, in zwei Parteien , und so kam ein einstimmiger Beschluß nicht zu
,
Stande, sondern es wurden zwei Eingaben an König Christian entworfen, von
denen die eine dem größeren, die andere dem geringeren Grade von Entschlossen¬
heit und Vertrauen auf die Zukunft angepaßt war. welcher von den Ver¬
sammelten repräsentirt wurde. Beide Eingaben beginnen mit der Erklärung,
daß die Forderung der Regierung, den Eid binnen drei Tagen zu leisten, eine
Ueberraschung gewesen sei, und daß man seitdem zu der Ueberzeugung gelangt
sei, der Eid habe mit Recht nicht verlangt werden können. Dann aber trennen
sich die Wege. Die eine Eingabe fährt fort: deshalb erachte man sich fortan
der durch den Eid übernommenen Verpflichtung für entbunden. Die andere,
schwächlichere besagt: darum richte man an Se. Majestät die allerunterthänigste
Bitte, derselbe wolle die Betreffenden ihres Eides zu entbinden geruhen.
Die letztere Fassung ist, abgesehen von der Aengstlichkeit, die sie dictirte,
wie sich seitdem herausgestellt hat, auch unpraktisch. Dem Propst Caspers in
Husum wurde auf ein vor mehren Wochen von ihm eingereichtes Gesuch um
Entbindung von seinem Eide aus Kopenhagen der Bescheid zu Theil, daß man
sich nicht veranlaßt finde, seine Bitte zu gewähren, und daß er ja. wenn er
es mit seinem Eide unverträglich finde, in Husum zu bleiben, von dort weg¬
gehen könne. Hierdurch ist meiner Meinung nach die von einem Theile der
..Ueberraschten" gewählte Form der Bitte durchaus hinfällig geworden; denn
die dänische Regierung wird schwerlich den holsteinischen Beamten gewähren,
was sie einem schleswigschen rundweg abgeschlagen hat. und zu bitten ist so¬
mit für die. welche aus der unbequemen Stellung, in die sie gerathen, heraus¬
wollen, reine Zeit-. Papier-. Stempelgebühr- und Portoverschwendung.
Die beiden Erklärungen sollen jedem „Ueberraschten" zur Auswahl nach
seinem Geschmack übersendet und die unterschriebenen Exemplare dann in Neu¬
münster gesammelt werden, von wo man sie den Bundescommissären mit der
Bitte zuschicken will, sie nach Kopenhagen zu übermitteln. Politisch betrachtet,
wird dieses Resultat mit Befriedigung zu betrachten sein. Wenn selbst die. in
deren Augen Vorsicht die erste Tugend des rechtschaffnen Menschen ist, die
Brücke hinter sich verbrennen, muß, wo nicht die Lage unsrer Sache, doch der
Muth des Volkes im Allgemeinen sich beträchtlich gebessert haben.
Inzwischen haben die Preußen durch ihren Sieg bei Düppel unsere Hoffnung
auf einen guten Ausgang mächtig gehoben. Es war unzweifelhaft zu viel ge¬
sagt, wenn man diesen Sieg in der ersten Freude officiell „den glänzendsten
der glänzenden" nannte. Indeß ist er immerhin noch einmal so viel werth,
als alle die viel verherrlichten Erfolge der Oestreicher in diesem Kriege. Er
nahm allen Freunden Preußens einen schweren Alp von der Seele, und er wirft
ein mächtiges Gewicht in die Wagsckale, welche in London den üblen Willen
Englands und Oestreichs aufzulegen bestimmt ist. Man hat in den letzten
Wochen angefangen, zu glauben, daß Preußen Gutes mit uns Vor hat, man
beginnt jetzt mehr wie je zu glauben, daß es auch die Macht besitzt, Gutes
für uns — und das heißt immer auch, Gutes für sich — durchzusetzen. Ob
alles, ist noch immer die Frage, aber die Hoffnung ist doch in den letzten
Tagen ungemein gesteigert worden, daß die Mühen und die Tapferkeit der
Kämpfer von Düppel nicht blos dem Ruhme des preußischen Heeres ein neues
Blatt in seinen Lorbeerkranz geflochten haben, sondern auch uns zum Heile
gereichen werden. Das Selbstgefühl der Armee ist durch Aufpflanzung des
Hohenzollernbanncrs aus den Schanzen vor Sondcrburg bedeutend gesteigert,
und diese Armee ist kein Heer von Landsknechten, mit dem man wie mit Schach¬
figuren spielt, kein Heer von Polaken und Magyaren, welches sich rauft, um
zu raufen und nebenbei ein paar hundert Orden und Medaillen zu verdienen,
fo gern eine gewisse Partei sie auf auch diesen Standpunkt herabgedrückt sehen
mag. Das preußische Volk hat für uns gekämpft, es wird weiter für uns
kämpfen und — so hoffen wir zu Gott — nicht gestatten, daß sein Blut für
nichts oder für Halbheiten, die so viel wie nichts sein würden, geopfert wird.
In solcher Stimmung flaggten und illuminirten, als am 19. die stolze
Siegesbotschaft eintraf, die Bürger unsrer Stadt, und in solcher Erwartung
grüßte Rendsburg vorgestern den zum Heere reisenden König. Die Worte, die
er dort gesprochen, lauteten ermuthigend. Möge er sie wahr machen, ganz
Schleswig-Holstein wird ihn dafür segnen. Jedes Patriotenhcrz wird ihm dafür
angehören für die Zukunft, angehören, wie wenn er der eigne Fürst wäre,
und ich meine Wilhelm der Befreier wäre ein schönerer Beiname für das Buch
der Geschichte als Wilhelm der Eroberer.
Einen sehr guten Eindruck hat es gemacht, daß der König den taktlosen
Dünkel des Eiscnbahndirector Louth in Rendsburg, der sich anschickte ihn mit
einer englischen Rede zu begrüßen, den Rücken zudrehte. Der Haß und die
Verachtung vor englischer Unverschämtheit ist hier wie im ganzen Lande un¬
beschreiblich. Man interpretirte die Geberde des Königs allgemein als gegen
Palmerston und Kollegen gerichtet, und man sah darin zugleich die kategorische
Edeklärung: auf deutschem Boden, Herr, wird deutsch gesprochen — verstanden?
Der bekannte feingebildete und rüstige Verfechter protestantischer Wissenschaft
erfreut hier aufs Neue mit einer Arbeit, welche sich früher von ihm veröffentlichten
Schriften anschließt, insbesondre seinen „Neuen Propheten" und dem „Franz von
Assisi». Auf Grund eingehendster Detailstudien, nicht gewöhnlicher historischer Kenntniß
und des seltnen Vermögens, aus dem beirrenden Wüste röinischkathvlischcr Hciligcn-
legendcn den wahren geschichtlichen Inhalt herauszuschälen, liefert er hier das Lebens¬
bild einer Frau, deren Individualität nach manchen Seiten hin das allgemein
menschliche Interesse nicht minder wie das religiöse zu fesseln vermag. Ein wunder¬
bares Bild entrollt sich in diesem einförmig dahinfließenden Frauenleben vor unsern
Augen. Durch die Schlacken der Unbildung und einer nicht ganz von Krankhaftigkeit
freien Ucberschwnnglichkcit des Empfindens hindurch erkennen wir in ihr ein ur¬
sprüngliches und naives religiöses Bewußtsein. kräftig und schöpferisch auftretend und
unbeirrt von den beengenden Satzungen ihrer Kirche, deren starrgewvrdcnen Formen
die innige und unüberwindliche, fast leidenschaftliche Gluth ihrer Frömmigkeit neues
Leben einzuhauchen vermag. Auch sie gehört zu jenen wunderbaren Erscheinungen
der Zeit vor der Reformation, weiche recht eigentlich religiöse Genies zu nennen
sind und in großartiger, unbewußter Freiheit den dargebotenen Glaubensinhalt erfassen
und gleichsam neu aus sich heraus erzeugen. Anmuthig und rührend sind die kleinen
mädchenhaften Züge, welche zwischendurch hervortreten und der Contrast, welcher
zwischen der weiblichen Beschränktheit ihrer Natur und den großen Wirkungen einer
alles beherrschenden Idee in ihr sich zeigt, ist ganz dazu angethan, auch das psychologische
Interesse lebhaft anzuregen. Dasselbe gilt von den Quellen, aus denen die Lebens¬
beschreibung herausgearbeitet ist. von der wandelbaren Beschaffenheit scheinbar ganz
authentischer Berichte, wie sich z. B. auf S. 52 u. 55 f. ein ganz lehrreicher
Beitrag zur Geschichte religiöser Wundcrbcrichte vorfindet, bei welchem sogar die be¬
kannte Thatsache der Mythen- und Sagenbildung aus mißverstandenen Reden und
Gleichnissen .nicht ohne Beispiel bleibt. Die Darstellung ist. ohne in gelehrte Breite
iU verfallen, eingehend und durchaus auf die Quellen gegründet, denen eine gerechte
Würdigung zu Theil wird. Die folgenden Schlußworte des Werkchens mögen für
dasselbe sprechen:
„Der Bettler von Assisi, Eatcrina und ein Dritter, den der Papst nicht heilig
sprechen darf, sind aus dem Mittelalter die großen Vvltshciligen von Italien ge¬
worden, soweit es sich noch katholisch fühlt, die Heilige von Siena trotz des Geschicks,
das über ihren Orden gekommen ist. Sie hat in demjenigen, was sie wirken und
schaffen wollte, den Widerspruch des Ideals gegen die Wirklichkeit schmerzlich empfunden:
aber die Mutter von Tausend und aber Tausend Seele», wie ein treuer Jünger sie
genannt hat, und sie war es auch noch jenseit ihres irdischen Daseins, hat sie die
ancrschaffmc religiöse Genialität in der kirchlichen Form des Mittelalters verwirklicht
für alle Zeiten zu einer herzerhebenden Anschauung."
Die vorliegende erste Lieferung der kleineren Volksausgabe von dem großen
ursprünglich für Kugiers Handbuch der Kunstgeschichte bestimmte» Atlas macht einen
günstigen Eindruck. Die Abbildungen sind zumeist aus gute» Einzclwcrken copirt
und erfülle» ihre» Zweck, Proben aus den Hauptepochen der Geschichte bildender
Kunst zu geben, in anschaulicher und geschickter Weise. Die ersten 10 Tafeln enthalten
Abbildungen aus der Architektur, Malerei und Plastik von Aegypte», Assyrien, Persien,
Indien und Griechenland bis einschließlich der letzten Epoche griechischer Kunst. Bei
dem immer wachsende» Antheil, den man an dem Kuustlebe» der Gegenwart und
vergangener Zeiten zu nehmen beginnt, wird dieser Atlas als ein brauchbares Hilfs¬
mittel zu betrachte» sein und in diesem Sinne sei er hiermit empfohlen, zumal der
mcdrig' gestellte Preis ihn auch weiteren Kreisen zugänglich zu machen geeignet ist.
Diese zweite Auslage heißt „verbessert und vermehrt". Nathsam wäre gewesen,
vielmehr eine verminderte und verbesserte Auflage zu veranstalten, in welcher die Ueber-
zahl falscher oder halbrichtiger, sowie eine große Menge völlig überflüssiger Erklä¬
rungen cvrngirt, beziehentlich ausgemerzt worden wäre. Res. hat weder Zeit noch
Lust die Fehler, von denen das kleine Buch wimmelt, anzugeben, es wäre nur zu
Nutz und Frommen der „Künstler und Dilettanten", für welche es bestimmt ist, zu
wünschen, daß nicht die offenbarsten und handgreiflichsten Unrichtigkeiten in einer
oft völlig unverständlichen Form unter dem Titel eines „Hilfsmittels" dargeboten
würden.
Der Verfasser, bereits durch eine „Kritik des Materialismus und durch eine
Fichte-Rede bekannt, sucht im Gegenwärtigen die Resultate der deutschen Speculation,
insbesondere den aus dem idealistische» Pantheismus unsrer großen Philosophen hcr-
vvrgcwachsenen Theismus, in der von ihm vertretenen individuellen Ausprägung
dieses Standpunkts einem größeren Publicum zu vermitteln. Daher ist er weniger
auf streng wissenschaftliche Deduction als auf durchsichtige und ansprechende Dar¬
stellung und eine möglichst vollständige Anreißung seines ganzen Systems bedacht
und berücksichtigt die Systeme, an die er sich anlehnt, nur in den äußersten Spitzen.
Dem hcgelschcn wird hierbei so entschieden der Vorzug zu Theil, daß Schellwieus
Ansicht wohl ohne Unbilligkeit eine Modification der hegelschcn zu nennen sei»
dürfte, und dies um so mehr, wenn diejenigen Ausleger Hegels Recht haben, welche,
auf Aussprüche seiner Religionsphilosophie gestützt, ihm de» Glauben a» die Selbst-
bewußthcit des Absoluten oder der „reinen Idee in ihrem Ansichscin" vindiciren.
Denn eben diese Selbstbewußtheit ist es, welche vor allem Schellwien — bei der
entgegengesetzten Auslegung Hegels — diesem gegenüber als wesentlich im Begriffe
des Absoluten enthalten fordern zu müssen glaubt, nack, dem richtigen Grundsatze,
daß alles Hervorgebrachte oder Abgeleitete geringer sei als das Hervorbringende,
mithin alle Entwickelung ursprünglich von oben nach unten gehe; von unten nach
oben, wie in der Entwickelung des endlichen Geistes aus der Natur, nur durch die
Einwirkung des ewig schaffenden absoluten Geistes von oben. Die Bewußtheit des
Absoluten oder Gottes wird so gewonnen, daß Gott zunächst in hegelschcr Weise
dem reinen Sein gleichgesetzt, dann nachgewiesen wird, daß Sein und Bewußtsein
identisch sind! woraus denn, falls die Prämissen wirklich bewiesen wären — was
wir freilich bei der oben angezeigten Haltung des ganzen Buchs kaum erwarten
durften, — in der That die Bewußtheit Gottes folgen würde. Die beträchtlichsten
Abweichungen von Hegel, wenn wir die eben berichtete nicht als solche ansehen,
bestehen in der Annahme ewiger, unentstandencr, und dennoch vom Absoluten ver¬
schiedener, ja beziehentlich ihm entgegengesetzter Einzelwesen oder Monaden, durch
deren Zusammensetzungen und Veränderungen sich der sonst ganz nach hegelschcr
Dialektik verlausende Weltproceß vollzieht, und in der Anerkennung des Guten, der
„Wirkender Freiheit", und des Schönen, der „erscheinenden Freiheit", als sür sich
berechtigter Ideale neben dem Wahren, welches bekanntlich bei Hegel als das einzige
absolute Ziel übrigbleibt. Mit Recht ist als Gegenstand des Wahren das Absolute
selbst bezeichnet, sofern es als „schöpferische Freiheit" der Urquell von Allein ist;
Und wenn wir hinzunehmen, daß die Bezeichnung des Absoluten als „Freiheit"
darauf hinweist, daß dasselbe in seinem tiefsten Grunde von Schellwien als ethischer
Natur aufgefaßt wird, so dürste an der Nichtigkeit seiner Darstellung des zwischen
jenen drei Ideale» zu statuirenden Verhältnisses kaum etwas fehlen. Um so mehr
glauben wir uns zu der Hoffnung berechtigt, daß unser Autor aus dieser letzteren
Abweichung von Hegel weitere Konsequenzen ziehen werde, welche die jetzt noch von
ihm festgehaltene Consequenz des Hcgelthums, daß „alles gut ist; denn es ist nichts
als das Gute", aus seiner Weltanschauung entfernen; ebenso wie wir nicht denken
können, daß sich ihm die Unverträglichkeit seiner Monadologie mit seiner Auffassung
Gottes als eines „schöpferischen" Princips auf die Dauer verbergen werde.
Die in Ur, Z5 der Grenzboten von 28. Aug. vor. Jahres enthaltenen Mit¬
theilungen über die Vergangenheit eines Herrn Paul v. Scydewitz beruhen auf einem
Irrthum, beziehen sich insbesondere nicht auf den Herrn Dr. meel. Paul v. Scyde¬
witz, zur Zeit in London, dem wir, wie wir hiermit ausdrücklich erklären irgend
D. Red.
Das unterzeichnete, im Februar d. I. in Hamburg zusammengetretene Comite
hat es sich zur Aufgabe gestellt, die Leiden der Verwundeten und Kranken nach
Kräften zu lindern und denselben diejenigen Erquickungen und Bequemlichkeiten zu
verschaffen, welche selbst die vollkommenste Lazarcthvcrwaltung nicht gewähren kann.
Zu zweckmäßiger Ausführung seiner Absichten hat das Comitö eigene Agenten
in die verschiedenen Städte Schleswigs entsendet, um an Ort und Stelle die Ver¬
wendung der Gaben zu überwachen, und glaubt nach den seither gemachten Er¬
fahrungen mit dieser Einrichtung den Wünschen der Sperber am wirksamsten ent¬
sprochen zu haben.
Im Hinblick darauf, wie auf die Lage Hamburgs in nächster Nähe des Kriegs¬
schauplatzes, erlaubt sich deshalb das Comite jetzt, wo in Folge der neuesten Ereig¬
nisse die Bedürfnisse sich wieder gesteigert haben, seine Vermittlung anzubieten Allen
im deutschen Vaterlande, Vereinen wie Privaten, die zur Pflege von Verwundeten
und Kranken durch Liebesgaben beitragen wollen, damit der Zersplitterung vor-
gebeugt werde und durch Vereinigung der verschiedenen Kräfte in einem Mittel¬
punkte die Hilfe sich desto wirksamer und ausreichender gestalte.
Jeder der Unterzeichneten wird zu diesem Zwecke Gaben bereitwilligst entgegen¬
nehme».
Naturalscndungcn werden an die Herren G. Löning <K Kaufmann, kleiner
Jungfernstieg 2, erbeten.
Comite zur Pflege von Verwundeten und Kranken.
Theodor Schmidt, erster Vorsitzender. N. M. Stoincm jr., zweiter Vorsitzender.
Ad. Alexander. Heinrich ÄmsmcK. Cüsar Hodessroy. George F. Horrissen.
H. Hellmrich. Ferdmnud Zacobson. I. C. Jauch. 8ig. Ztailsmann. F. L. Loe-
sener. v. Lind. Jacob Meyer. I. E. Mutzenbecher. Albrecht 4)'8wald.
117. Rene. Th. Römer. Rudotnh Schröder. F. Ed. Schutt. Ad. Loettieer. Dr.
F. Meflenhotz. Dr. P. Hirsch, Secretär.
Zur Annahme und Uebermittelung von Beiträgen erklärt sich die Verlags¬
handlung d. Bl. gern bereit.
Wir Modernen sind so sehr gewöhnt, unsere Kenntniß vergangener Zeiten
aus Büchern und schriftlichen Aufzeichnungen zu entnehmen, daß uns jede
andere Art der Ueberlieferung fremdartig und unwesentlich erscheint. In der
That sind die Aufzeichnungen der Menschen, welche vor uns gelebt haben, die
Hauptquelle unsers geschichtlichen Wissens. Zumal wenn sie berichten, was den
Schreibern von ihrer eigenen Zeit und ihrer Vorzeit bekannt war. Wo diese
Niederschriften versagen, wird unsere Kunde spärlich. Wir sind dann auf einige
andere, mit den Sinnen faßbare Ueberreste angewiesen, welche sich aus der
Urzeit bis auf die Gegenwart erhielten, auf alte Bauwerke und wenn wir
noch weiter zurückgehen, auf die Reliquien, welche in Gräbern der Urzeit,
im Schutt der obern Erdschichten hier und da gefunden werden. Wir haben
aber- kein Recht anzunehmen, daß die Buchstabenschrift bis über das Jahr
1000 vor Chr. hinaufreicht; bis etwa zum Jahr 2500 vor Chr. geben uns die
Baudenkmäler des alten Aegyptens und Babylons mit ihrer — nur unvoll¬
ständig zu deutenden — Zeichenschrift einige Kunde. Für die Jahrtausende
vorher entnehmen wir einzelne und unsichere Nachrichten fast nur aus dem
Schutt des Erdbodens. Reste alter Waffen aus Feuerstein, Knochen, einfaches
Hausgeräth haben in schützender Umhüllung des Torfmoors oder in trockenen
Höhlen dem Untergang widerstanden. Erst in neuester Zeit ist die Wissenschaft
zu dem Bekenntniß genöthigt worden, daß auch in Mitteleuropa schon das
Menschengeschlecht hauste, lange bevor die letzte große Umwälzung der Erde
(Sündfluth) stattfand, in einer Zeit, wo noch der Tiger in den Wäldern Frank¬
reichs seine Beute packte und eine vorsündfluthliche Hyäne über den Gräbern
der Menschengeschlechter heulte. Man hat menschliches Gebein und Geräth
gefunden, vermischt mit den Knochen fremdartiger und ausgestorbener Thier¬
gattungen, unter Umständen, welche unzweifelhaft machen, daß Menschen und
Thiere zu gleicher Zeit gelebt haben. Wann? vermögen wir nicht zu bestim¬
men, aber die Geologie macht wahrscheinlich, daß die ältesten Spuren des
Menschengeschlechts in Europa in eine Urzeit zurückführen, deren Entfernung
von der Gegenwart nach Zehntausenden unsrer Jahre geschätzt werden müßte.
So ist unser Wissen aus vergangener Zeit zuerst abhängig von schriftlichen
Aufzeichnungen, dann von Bauwerken, zuletzt von erhaltenem Gebein.
Und doch giebt es in jedem lebenden Volke außer diesen Ueberlieferungen
noch andere, welche bei geschickter Benutzung überraschende Aufschlüsse über
solche Zeiten geben sonnen, aus welchen keine schriftlichen Denkmäler erhalten
sind. Dies sind die mündlichen Traditionen des Volkes selbst, seine Gewohn¬
heiten. Sitten, seine Sprache. Erst in der Wellen Zeit hat man begriffen, wie
wichtig das gegenwärtige Volksleben für Kenntniß weitabliegender Zeiten wer¬
den kann. Erst seit etwa fünfzig Jahren hat man begonnen, diese lebendigen
Traditionen systematisch für die Geschichtswissenschaft zu verwerthen, und sie
werfen seitdem ein Helles Licht auf Vieles, was in keinem alten Schriftstück,
keinem massigen Steinbau, keinem Höhlcngrab bewahrt ist. Es ist eine Ehre
verdeutschen Altertumswissenschaft, zuerst auf diese lebenden Volkserinnerungen
hingewiesen zu haben, es ist noch jetzt ihr Verdienst, dieselben am tiefsinnigsten
zu verwerthen. Vor andern die Erinnerungen und Habe unsres Volkes für
Kenntniß der deutschen Vorzeit.
Allerdings würde sehr enttäuscht werden, wer aus den Erinnerungen, welche
noch im deutschen Volke leben, eine politische Geschichte auch nur der nächsten
Vergangenheit zusammenfügen wollte. Denn es ist merkwürdig, wie schnell im
Volke Kenntniß und Interesse an seiner politischen Vergangenheit schwindet.
Wer unsre Landleute, so weit sie von der modernen Literatur keine Kenntniß
haben, über den dreißigjährigen Krieg, über Luther und die Reformation aus¬
fragen wollte, der würde vielleicht einzelne Anekdoten herausholen, welche zu¬
fällig in dem Gedächtniß der Landschaft gehaftet haben. Auch diese von zweifel¬
hafter Glaubwürdigkeit, Er würde aber vergebens die wichtigsten Begebenheiten
jener Jahrhunderte aufsuchen und er würde das Erhaltene schwerlich in einen
verständlichen Zusammenhang bringen können. Von den 1S00 Jahren deutscher
Geschichte vor Luther aber ist kaum ein historischer Name, eine Begebenheit
in der Ueberlieferung des Volkes lebendig gebliebe». In dem thüringischen
Landvolk wird man noch hier und da eine dunkle Erinnerung an die Hussiten¬
kriege finden; man wird den Namen Karl des Großen und des Hohenstaufen-
kaisers Barbarossa in märchenhafter und phantastischer Umhüllung entdecken;
außerdem eine Anekdote vom harten Landgrafen, vom sächsischen Prinzenraub,
einige Legenden von der heiligen Elisabeth, dem sagenhaften Sprung Ludwig
des Springers, vielleicht eine unsichere Spur des Heidenbekehrers Bonifacius.
Und erst nähere Betrachtung würde ergeben, ob nicht selbst diese dürftigen
Erinnerungen in den letzten Jahrhunderten durch Pfarrer. Schullehrer, Flug¬
schriften, Kalender und Puppenspiele wieder in das Volk gekommen sind.
Aber wenn befremdet, wie mangelhaft das Gedächtniß des Volkes Namen,
Ereignisse und Zustände früherer Geschlechter bewahrt, so ist noch» auffallender die
Treue, womit dasselbe alle Erinnerungen hegt, welche entweder seinem Gemüthe
wohlthun, oder mit einöln praktischen Interesse verbunden sind. Die Dauer¬
einzelner Dialekteigenthümlichkeiten, Sitten und Gebräuche zählt mehr als
anderthalb Jahrtausende. Die Festbräuche der Johannisnacht wurden schon ge-,
feiert, bevor Armin die römischen Legionen im teutoburger Walde vernichtete.
Einige abergläubische Gewohnheiten unserer Landleute stammen noch aus einer
Urzeit des Menschengeschlechts, in welche keine geschichtliche Kunde einen Licht
Strahl wirft. So z. B. ist das Ausspucken und Ausstrecken der Zunge zur Ab¬
wehr mißgünstigen Zaubers allen indogermanischen Völkern gemein, es war
schon ein uralter Aberglaube, als der Grieche Phidias das Gorgonenhaupt
auf den Brustpanzer der Göttin Athene meißelte, es war viele Jahrtausende
alt, als über dem Thore des Grimmensteins das Steinbild mit herausgcstreckter
Zunge eingefügt wurde, welches man vor einigen Jahren zu Gotha unter
altem Geröll auffand. Einzelne Segensspruche gegen Verletzungen, Krankheiten,
das Alpdrücken sind nicht nur den Deutschen, als mehrtausendjähriger Besitz,
mit Celten und Slaven gemein, sie finden sich zuweilen mit wörtlicher Ueber¬
einstimmung der Formeln schon in den ältesten Religionsbüchern der Inder.
Sie waren offenbar schon ehrwürdige Recepte der Heilkunde, bevor sich Inder.
Celten, Germanen in den Hochebenen Asiens von einander sonderten. Es ist
eine alte thüringische Aufzeichnung, welche uns — in der berühmten merseburger
Handschrift — einige dieser heilkräftigen Segensspruche noch aus der Heidenzeit
unserer Landschaft bewahrt.
Die Treue, mit welcher das Volk seine Ueberlieferungen bewahrte, hing
natürlich von der Wichtigkeit ab, welche es ihnen beilegte. Bis in die neue Zeit
war die Bedeutung dieser Erinnerungen zumal auf dem Lande so groß, daß
man wohl sagen darf, der größte Theil des innern Lebens verlief dem Volke
in ihnen. Die Volkslieder und Märchen der Spinnstube waren seine Poesie,
in welcher Schmerz und Jubel. Klage und Sehnsucht, jede Stimmung der
bewegten Seele reichen Ausdruck fand, einen Ausdruck, dessen Einfachheit, Schön¬
heit und herzrührende Einfalt noch wir oft bewundern. Die Localsagen ver¬
traten dem Dorfe die Geschichte des Ortes.. In dem dunklen Wasser ist ein
verzaubertes Schloß versunken, auf den Steinen der alten Burg zeigte sich eine
weiße Frau, in dem Berge liegt ein Schatz, der von einem feurigen Hunde
oder Drachen bewacht wird, in der Felsenhöhle haust ein Geschlecht kleiner
Zwerge, auf der Dorfflur gebt ein feuriger Mann UM, der bei Lebzeiten den
Nachbarn die Grenzsteine verrückt hat, in dem alten Hause wohnt ein Kobold,
in dem Teiche oder Bache ein Nix. das sind die gewöhnlichen Localsagen inner-
halb der Dorfgrenze.
Auch der Glaube an Vorbedeutungen, an böse und heilsame Einwirkungen
der Natur auf den Menschen, alles was uns jetzt Aberglaube geworden ist.
hatte für das Volk die höchste Wichtigkeit. Ob am frühen Morgen vor dem
Wanderer ein Hase aufsprang, ein Schwein den Weg kreuzte, auf welcher Seite
die Schafheerde weidete, das bezeichnete mit vielem Andern Glück oder Unglück
des Tages. Fast die ganze Heilkunst des Volkes beruhte auf einer Unzahl
märchenhafter Vorstellungen von den Wirkungen, welche einzelne Bestandtheile
der Thiere und Pflanzen hätten. Für jedes Ereignis; des Lebens gab es Sprüche,
Segen, Gebete, Beschwörungen von geheimnißvoller Kraft.
Aber auch Sitte und Brauch des gesellschaftlichen Verkehrs, Genuß und
Vergnügen waren bis auf die Neuzeit unserem Landvolk durch stehende Ge¬
bräuche geweiht. Aufzüge. Festspiele, das ganze Ceremoniel der Begrüßung,
des Einladens, des Gerichthaltens, alle Dorffeierlichkeiten waren überliefertes
Herkommen. Fest und mit Selbstgefühl bewegte sich der Landmann in solchem
Brauche. Und sieht man näher zu, so entdeckt man sehr bald, daß diese
Sprüche, Redensarten, Festbräuchc ebenfalls nichts Zufälliges sind, sondern daß
sie zum großen Theil auf uralten Culturzuständen beruhn, von welchen sie uns
eine letzte, unschätzbare Erinnerung bewahren, wie sehr sie auch in der Gegen¬
wart ihrer alten Bedeutung entkleidet, aus Sinn in Unsinn, aus Glauben in
Aberglauben verkehrt sind.
Aber außer diesem idealen Besitz des Volkes enthält jede Landschaft in der
Gegenwart einen anderen Kreis von alten Eigenthümlichkeiten, welche für die
Wissenschaft von Bedeutung sind. Denn die Namen der Dörfer, die uralten
Namen der Ackerstücke in der Dorfflur, die Einth eilung der Flur, welche
nach den alten Volksstämmen verschieden ist, die Bauart der Dörfer, die Cor.
struction der Häuser, ja sogar der Bau der Kirchthürme. die Formen der Kreuze
auf dem Gottesacker verrathen oft uralte Verschiedenheit, und berechtigen
zu Schlüssen auf die älteste Geschichte der' Landschaft, auf Ursprung und
Stammeseigcnheit*). Dasselbe lehrt in vielen Fällen die Tracht der Dorfleute,
namentlich aus älterer Zeit, die Geräthschaften des Hauses und des Ackers.
Nicht geringern Werth haben die ältesten Familiennamen der Menschen in ein¬
zelnen Dörfern, und die Hausmarken am Giebel des Dorfhauses, die frühesten
unterscheidenden Zeichen der Familien, aus denen im Mittelalter sich mehre der
ältesten Wappenzeichen adliger Geschlechter geformt haben.
Aber auch der Dialekt einer Landschaft ist für die Wissenschaft von hoher
Wichtigkeit. Unsere Schriftsprache, welche sich aus der sächsischen Kanzlei des
fünfzehnten Jahrhunderts entwickelt hat. durch Luther und seine Bibelübersetzung
zu einem gemeinsamen Besitz aller Deutschen wurde, ist noch verhältnißmäßig
arm, sie ist nach dreihundertjähriger literarischer Ausbildung immer noch nicht
bequem für den Ausdruck jeder Gemüthstimmung, nicht einmal ausreichend zur
Bezeichnung aller Eindrücke, welche uns durch die Sinne zugeführt werden.
Noch wächst in Deutschland jeder Gebildete aus dem Dialekt seiner Heimath
herauf. Bei bequemem Ausdruck, in Stunden des herzlichen Wohlbehagens
dringen noch gern Dialektklänge und eigenthümliche Wertformen in unsere Rede.
Viele schöne alte Wortstamme, Ncdebilder, sprichwörtliche Redensarten sind nur
in den Dialekten erhalten. Es kann z. B. einen deutschen Schriftsteller zur
Verzweiflung bringen, eine deutsche Küche, ihre Speisen, Gebäck. Geräth in all¬
gemein gütigen Wörtern der Schriftsprache zu schildern, oder den behaglichen
Verlauf einer Unterredung und die Scherze und Wortspiele in e,mer Bauernstube
zu berichten. Besonders merkwürdig sind in jedem Dialekt die technischen
Ausdrücke einzelner Bcrufsclasscn. die Sprache der Köhler, Holzfäller. Jäger,
Steinarbeiter und Bergleute, der Ackerbauer und Hirten. Jeder deutsche Dialekt
aber hat eine Fülle von Eigenthümlichkeiten, welche sich aus bestimmte Gesetze
zurückführen, sowohl in der Aussprache, als in Biegung und Bildung der
Wörter, jeder hat sein eigenes uraltes Sprachgut. dessen Kenntniß zum Ver¬
stehen alter schriftlicher Aufzeichnungen unentbehrlich ist. und die höchsten Lebens-
gesetze unserer Sprache und ihre Wandlungen begreisen hilft. Mit gutem
Grunde hat man deshalb in Deutschland die Dialekte der einzelnen Landschaften
einer wissenschaftlichen Behandlung unterzogen, ihre eigenthümlichen Wörter
und Formen werden gesammelt und erklärt, ihre Neigungen. Regeln und
Bildungen, was sie unterscheidet und was ihr mit andern Dialekten gemein ist.
wird dargestellt. Der thüringische Dialekt, in der Mitte zwischen Ober- und
Niederdeutschen einer der lehrreichsten, sehr alt und fest, mit originellen Besonder¬
heiten, hat bis auf die Gegenwart eine genügende wissenschaftliche Behandlung
nicht gesunden. Und dieser Umstand ist in unsrer Sprachwissenschaft seit Jahren
als ein Mangel fühlbar gewesen.
So haben die noch jetzt im Volk lebenden Erinnerungen aus alter Zeit
Bedeutung auch für die ernste Wissenschaft: Volkslieder. Räthsel und Kinder-
rcime, Märchen und Sagen, Aberglaube. Sitte und gesellschaftlicher Brauch,
alte Einrichtungen der Dörfer und Fluren, zuletzt der Dialekt.
Wer diese Traditionen alter Zeit aus der Landschaft Thüringen zwischen
Werra und Saale näher betrachtet, der erkennt überall, daß es ein alter deut¬
scher Stamm ist, welcher seit der Urzeit dieses Leben gehegt hat. Und dies
wird hier nur deshalb erwähnt, weil vor Kurzem ein namhafter.Gelehrter die
Grundlage des thüringischen Volksthums für eine slavische erklärt bat, ein
Irrthum dessen Widerlegung aus der Geschichte, Sprache und noch lebenden
Voltserinnerungcn nicht schwer ist. Allerdings sind' in der Völkerwanderung
und den darauf folgenden Jahrhunderten auch Slaven über die Saale gedrun¬
gen, und haben eine nicht ganz unbedeutende Zahl thüringischer Orte gegrün¬
det, wo sie im Laufe des Mittelalters allmälig unter der deutschen Bevölkerung
verschwanden. Aber wir vermögen noch häufig aus Dorfraum und anderen
Traditionen zu erkennen, welche einzelne Orte dies waren. Und im Vergleich
der gesammten Erinnerungen Thüringens mit benachbarten Landschaften z. B.
in Reuß, dem Voigtlonde, einen kleinen östlichen Grenzbczirk Meiningens zeigen
noch heut sehr deutlich den Unterschied in Volksthum und alten Traditionen
zwischen den colonisirten Slavenstrichen am Ostrande und zwischen dem deut¬
schen Stamm der Landschaft selbst.
In vielen Fällen nämlich erkennen wir aus dem Inhalt der heimischen
Dvrfsagen und Märchen Thüringens, so wie aus Gebräuchen und Aberglauben,
daß sie noch aus der deutschen Heidenzeit stammen, in andern Fällen haben
wir historische Zeugnisse dafür. Einige der deutschen Götternamen, welche uns
schon die späteren Römer überliefert haben, leben noch jetzt in Bergnamen und
Sagen der Thüringer fort. Dieselbe» Geschichten von Kobolden, welche der
Landmann an der Orla und Apfelstädt noch heut erzählt, finden sich in süd¬
deutschen Klostcrannalen an> der Zeit Karl des Großen, als bedenkliche Spuk¬
geschichten fast mit denselben Worten. Einzelne Volkslieder, welche bis zur
Neuzeit auch in Thüringen gelebt haben, sind, rote wir sicher nachweisen können,
schon zur Heidenzeit bei weit auseinanderwvhnenden deutschen Stämmen am
Heerdfeuer von wandernden Sängern gesungen worden z. B. das Räthseilied,
weiches auch in Thüringen noch nicht verklungen ist: ,
„Was ist weißer als der Schnee? Was ist grüner als der Klee?" —
Ja die erste uns bewahrte Aufzeichnung eines epischen Liedes aus der deut¬
schen Heldensage — das Bruchstück Hildebrand und Hadubrand — ist wahr¬
scheinlich in Thüringen niedergeschrieben, und zeigt die halb niederdeutschen
Dialetttlänge unserer Landschaft, mehr als vierhundert Jahre vor der Zeit,
in welcher Walter von der Vogelweide durch die Straßen von Eisenach schritt.
Und der gute Vogel Storch verrichtete seine verdienstliche Arbeit, die klei¬
nen Kinder der Thüringer aus dem Zauberbrunnen zu holen, schon lange,
bevor der Heidenbckehrende Mönch Bonifacius den ersten Axthieb in die bei¬
ligen Eichen bei Gcorgenthal that. Das ganze Gemüthsleben, alle Sagen.
Märchen. Sprüchwörter sind in Thüringen so urdeutsch, daß man sich eher
darüber wundern mag, wie die slavischen eingesprengten Kolonien so geringe
Spuren in dem geistigen Besitz des Stammes zurückgelassen haben. Damit
ist nicht gesagt, daß die Bewohner Thüringens in die Bewegung der neueren
Zeit als ein mit andern Landsleuten unvermischter Stamm getreten sind.
Wie die Hessen im Westen haben außer den Slaven auch die Bayem und
vielleicht schon die Burgunder im Südosten Einwirkungen auf Sprache, Sage
und Sitte geübt, welche sich noch jetzt zuweilen abschätzen läßt. Und was
wichtiger ist. die Franken haben vom Süden, ihre Orte mit —heim und
—Hausen, niedersächsische Völker vom Norden her ihre Colonien häufig in
die Landschaft gesetzt. Aber das Uebergewicht der heimischen Art war zu
jeder Zeit so überwiegend, daß es das Fremde mehr nach sich umformte, als
Von ihm beeinflußt wurde. Der beste Beweis dafür ist aus der Geschichte
des thüringischen Dialekts zu entnehmen, dessen Literatur durch elf Jahrhun¬
derte reicht, während einzelne Namen und Wörter in weit ältere Zeit zurück¬
gehen.
Allerdings stammt nicht der ganze Vorrath thüringischer Volkserinnerungen
aus vorgeschichtlicher Zeit. Jedes Jahrhundert hat Neues zu dem Alten ge¬
fügt, das Alte dem Neuen angepaßt oder darüber vergessen. Denn die schöpfe¬
rische Kraft des Volkes stand nicht still. Zu den uralten Tanzweisen kamen
fromme Melodien aus den Kreuzzügen, Lieder der deutschen Landsknechte,
welche unter Karl von Bourbon den Papst in Rom gefangen nahmen, Sol¬
datenlieder des dreißigjährigen Krieges, ja noch Gesänge ehrbarer Schulmeister
aus der Rvccocozeit. Auch an der vorhandenen Habe machte jedes lebende
Geschlecht seine kleinen Aenderungen. Der glückliche Märchenheld, welcher durch
seine Tapferkeit und Schlauheit, oder durch Gunst der Geister die schöne Prin¬
zessin von einem Riesen oder Ungeheuer befreite und des Königs Eidam wurde,
er war zur Zeit Karl des Großen ein Fremdling gewesen, der durch Blutrache
aus seinem Stamm vertrieben als wandernder Recke abenteuerte. Als das
Geschlecht fahrender Helden aus der Erinnerung des Volkes schwand, verwan¬
delte er sich in einen fahrenden Spielmann, wie sie zur Zeit der Sachsen-
kaiser und Hohenstaufen durch die Gaue zogen. Als die Städte erstarkten,
und der junge Handwerksgesell auf der Landstraße umherzog, mußte sich der¬
selbe Held des Märchens gefallen lassen, vielleicht ein lustiges Schnciderlein zu
werden. Als im vorigen Jahrhundert die stehenden Heere der Fürsten auf¬
kamen und dem gedrückten Volk der waghalsige Deserteur eine poetische Figur
wurde, trat zuweilen sogar ein solcher an die Stelle des ursprünglichen Helden.
Dasselbe Märchen zeigt in einzelnen Fällen noch jetzt hier den einen, dort den
andern dieser Helden.
So ist allerdings auch der Sagenstvsf in langsamer Umwandlung. Aber
in dieser Umbildung hat sich fast immer ein Kern alter Ueberlieferung erhalten,
der für das geübte Auge nicht schwer zu erkennen ist.
Viele dieser alten Ueberlieferungen sind allerdings in der Gegenwart ge¬
schwunden, aber sie dauern in den Aufzeichnungen früherer Zeiten: in Chroniken.
Ortsbeschreibungen, Dorfacten. Wer den Dialekt einer Landschaft genau dar¬
stellen will, wird auf die gestimmte Ältere Literatur der Landschaft Rücksicht
nehmen müssen. Alte Localsagen sind häufig in Annalen und Chroniken als ge¬
schichtliche Ereignisse berichtet, verklungene Volkslieder werden durch Drucke des
. 15.—18. Jahrhunderts bewahrt, ureigene Gebräuche, Sitten, Aberglaube finden
sich in gedruckten und handschriftlichen Ortsbeschreibungen; für die alten Namen
der Orte und Familien sind die Urkunden des Mittelalters ein reichlich fließen¬
der Quell. Alles, was auf solchem Wege uns geblieben, ist neben das noch
Lebendige zu stellen.
Unter den sagenhaften Ueberlieferungen thüringischer Dörfer haben einige
in neuer Zeit große Verbreitung und sowohl wissenschaftliche als dichterische
Verwerthung gefunden, welche eine verdunkelte Kunde von den alten Heiden-
göttcrn enthalten, denen einst auf dem Kiffhciuser, dem Hörselberg, dem Insel-
berg und Donnershaug die Opferfeuer flammten.
Die Grundlage alles Glaubens war den heidnischen Germanen, wie jedem
jungen Volk, das tiefe Abhängigkeitsgefühl von ungeheuren Gewalten, welche
den Naiurlauf der Erde und des Himmelsgewölbes, aber auch Leben und Schicksal
der Menschen beherrschen. Dies Uebermenschliche, Fremde, welches sich bald
furchtbar, bald segenspendend äußert, vermögen Phantasie und Gemüth eines
jungen Volkes aber nur dadurch zu fassen, daß sie alles Jmponirende und Un¬
verständliche in der Natur, ja in den Ereignissen des eigenen Lebens zu menschen¬
ähnlichen Persönlichkeiten umbilden. Der Blitz wird die geschleuderte Waffe
eines Gottes, dessen Streitwagen donnernd über das Himmelsgewölbe rollt,
die ziehenden Wolken verwandeln sich in eine Heerde Rinder oder Schafe, welche
die nährende Himmelsmilch auf die Erde rinnen lassen. Der Gott, welcher
das Schicksal der Menschen lenkt, wird aufgefaßt als der oberste Häuptling und
Ahnherr des Stammes, die allnährcnde Erde selbst wird gedeutet als die große
Mutter alles Lebendigen. Jede dieser Göttcrpersönlichkciten wird als eine
menschenähnliche Gestalt begriffen, jede erhält eine Geschichte, wie der Mensch,
alle treten zu einander in menschliche Beziehungen, freundliche und feind¬
liche. Unter den verdämmerten und. durch den Widerwillen der christlichen
Priester unterdrückten Namen und Gestalten der deutschen Götter sind vor
andern — auch in Thüringen — zwei für uns erkennbar. Der höchste, ge¬
waltige Herr der Menschen und des irdischen Lebens, Wuotan, und die
allsorgende Erdmutter, deren Wesen und Cultur schon Tacitus so eingehend
schildert. Name der großen Göttin war bei den Scandinaviern Frigga, auch
den deutschen Stämmen ist dieser Name nicht fremd, und er findet sich, nach
den Lautgesehen umgewandelt, auch hier und da in thüringischen Sagen
als Frau Frecke. Daneben aber führte die Erdmutter der einzelnen deutschen
Völtergruvpen verschiedene Namen, welche zum Theil Eigenschaften derselben
bezeichnen. Davon sind in Thüringen drei nachzuweisen: Hulda, Frau Holla
(die gnädige); dann Berchta (die glänzende); endlich Harcho^).
Diese beiden höchsten Götter, Herr und Herrin, wurden nach zwei Haupt¬
richtungen aufgefaßt. Sie regierten das Menschenleben als die Gebieter des
Volkes und sie regierten das Leben der Natur, nicht ebenso mächtig wie die
Schicksale der Einzelnen. Als Naturgötter hatten sie für ihr Volk vom Ur-
beginn der Zeit bis zum Weltende einen unaufhörlichen Kampf gegen feindliche
Dämonen, zerstörungslustige Ungeheuer, zu bestehen.
' Denn das Leben des Deutschen unter rauhem nordischen Himmel wurde,
durch Sommer und Winter zweitheilig. Alljährlich sah er im Frühjahr die
Lebenskraft erwachen, alljährlich im Herbst dahinschwinden. Wenn der Saft
der Bäume aus der Tiefe heraufstieg, begann der Kampf, der Sieg, die Sommer¬
herrschaft der Mcnschcngötter. Wenn im Herbst die Blätter zur Erde sanken,
wichen die Götter vor den andringenden Ricsengewalten des Reifes und Schnees
in die Tiefen ihrer Haine, in das Innere der heiligen Berge zurück. In den
Bergen warteten sie, bis ihre Zeit wieder kam. Sehr zahlreich sind
die thüringischen Localsagen, welche von den Wundern der Berge zu berichten
wissen. Ein Sterblicher, der durch glücklichen Zufall eindringt, betritt weite
Hallen, er sieht schlafende Männer, er hört wiehernde Rosse u. s. w. Am
berühmtesten von allen diesen Bergsagcn ist die des Kiffhäusers. Der greise
König, welcher dort am Secirtisch sit.it, den Sterblichen müde frägt, ob die
Naben noch um den Berg fliegen, sagt, daß er harren müsse, bis der dürre
Baum draußen grünen werde, dem das Mittelalter am Kiffhäuser den Namen
Friedrich Barbarossa gegeben hat, ist der alle Götterfürst Wuotan. Die Raben
. sind bei allen Germanenstämmen seine heiligen Bögel, und ähnliche Sage
hängt noch heut an vielleicht zwanzig verschiedenen Bergen Deutschlands.
Wie sich aber am Kiffhäuser die Erinnerung an den hoben Gott, der das
Frühjahr erwartet, bewahrte, so am Hörselberg dieselbe Erinnerung an die große
Naturgöttin. Dort wohnt Frau Hulda, welche gelehrte Mönche des Mittel¬
alters mit dem lateinischen Götternamen Frau Benus versahen und sehr mi߬
trauisch betrachteten. Bei dieser Umbildung des Namens hat die Göttin auch
einige von den Eigenschaften der Benus angenommen. Sie lockt sterbliche
Männer in den Berg. In dem alten Volksliede vom Ritter Tannhäuser wird
uns berichtet, wie der Ritter sich durch Anrufung der Jungfrau Maria von
der Göttin löst, aber von dem harten Papst verworfen, auf den Christenhimmel
verzichtet und wieder zur Heideugöttin zurückkehrt.
Wenn das deutsche Volk seine höchsten Götter im Berge Hausen ließ, so
ist ihm auch eigenthümlich, daß es dieselben Gestalten als Menschenbeherrscher
im Lande umherziehend dachte, wie sie von Ort zu Ort schweben, Leben und
Tod ihres Volkes weihend. Auch hier bewahrt Thüringen zwei Sagenkreise in
schöner Vollständigkeit.
Zunächst die Erinnerung an Wuotan, den gewaltigen Schlachtengott. Er
selbst in der Heidenzeit eine riesige Greisengestalt in dunklem Mantel, mit
herabhängendem Hut, auf weißem Rosse durch die Lüfte reitend, hinter ihm
sein kriegerisches Gcistergefolge, die Schlachtjungfrauen, welche die Seelen ge¬
fallener Krieger von der Wahlstatt in des Gottes Behausung geleiten, und die
Geister der gefallenen Helden, so brauste der Geisterzug in Zeiten der Noth
und Gefahr, vor Krieg und Schlachten durch die Lüfte, dann flogen die Ra¬
ben des Gottes um sein Haupt, seine Kriegshunde heulten, die Rosse schnoben
Feuer, die Wipfel der Bäume bogen sich; dann warf sich der sterbliche Mensch
auf das Antlitz, mit Halloh und Sturmesbrausen durchfuhr Wuotans Herr die
Gaue, der Göttervater weihte den Kampf seines Volkes, lor die Sieger und
die er durch den Tod zu sich Heraufziehen wollte. Aus der Bezeichnung Wodans
Heer hat das Volk im Mittelalter das wüthende Heer gemacht, die wilde Jagd.
Der große Asengott ist in einen Jäger verwandelt, er hat hier und da sogar
die Namen eines Menschen erhalten, aber die Lebendigkeit, mit welcher unser
'Volk noch heut die Sagen vom wilden Jäger bewahrt, ist ein Beweis, wie
mächtig und großartig der Eindruck war, den der reisige Zug des Asengottes
einst machte. Noch braust der Zug nach der Meinung der Landleute über die
Fichten des thüringer Waldes, beim Hörselberg weiß man, daß die wilde
Jagd dort aus und einzieht, man sieht Noßtapfen vor der Höhle des Berges
und hört drinnen Trimmen und Getümmel.
Aber nicht nur im Kriegssturm durchfuhren die Götter die Landschaft,
auch friedlich durchzogen sie die Dörfer. Höfe und Fluren, um die Arbeit ih¬
res Volkes zu segnen. Diese friedlichen Umzüge waren die großen Feste der
Landschaft, schon den Römern siel das festliche Umherziehen der Götterwagen
und Bilder durch die Landschaften auf, die christliche Kirche des Mittelalters,
ängstlich bemüht, das Heidnische zu vertilgen, das Unvertilgbare aber eng mit
sich zu verbinden, bewahrte lange dieselbe heidnische Gewohnheit. An Stelle
des 'Fahrzeuges und Bildes der Göttermutter wurde das Bild der Jungfrau
Maria, oder eines vornehmen Heiligen durch Stadt und Dorf und rings um
die Grenzen der Flur in festlicher Procession getragen. Diese Festzuge um die
Grenzen erhielten sich auch in dem protestantischen Thüringen bis in das vorige
Jahrhundert. In einer Handschrift der Kirche von Seebergen z. B. ist die
Schilderung solcher Grenzfahrt erhalten.
In der Heidenzeit war es vornehmlich die weibliche Göttin, welche mütter¬
lich bei ihrem Volle zum Renten sah, Lob« und Strafe vertheilte. Am feier¬
lichsten war ihr Zug in den heiligen zwölf Nächten des Winters (vom 2S. De¬
cember bis S. Januar), der größten Fcstzeivdes deutschen Heidenthums. Dann
schritt die Göttin unsichtbar durch die Dörfer, betrat die Häuser, prüfte die
Ordnung der Hausfrauen, die Zucht der Kinder, den Fleiß der Spinnerin, sie
berührte die Fruchtbäume des Gartens, das Vieh im Stalle. Dann mußte
das Haus festlich gerüstet sein, der Flachs am Rocken abgesponnen, sonst ver¬
wirrte die Göttin der säumigen Spinnerin den Rocken. Dann wurden die Obst¬
bäume geschüttelt, damit sie aus dem Winterschlaf erwachten, wenn die Göttin
kam, sie trugen sonst im Sommer keine Frucht. Noch am Ende des vorigen
Jahrhunderts war in Buttstedt der Gebrauch, alle Obstbäume vor dem Dreikönigs¬
tage zu schütteln und dabei zu rufen: „Schlafe nicht, Bäumchen, Frau Holle
kommt." Aber auch im Sommer zog die Göttin durch Feld und Flur ihres
Volkes, und die Landleute erkennen noch heut den Strich, den Frau Holle durch
das Getreidefeld gezogen ist, denn da stehen die Halme höher und lustiger.
Wie einig und hold die Göttin als Familienmutter des Volkes aufgefaßt
wurde, davon geben eine große Anzahl thüringische Sagen Kunde.
Und noch zahlreicher sind die in Sagen erhaltenen Nachrichten von den
kleinen Geistern, welche um Heerd und Stall, in Flur und Wald, im Wasser
und auf Bergen wohnten. Fast zahllos sind die Geschichten von Zwergen und
Riesen, von Feen und Elben, von Hausgeistern, Kobolden. — welche in
Thüringen die Besonderheit haben, in feuerrother Tracht zu erscheinen — und
Heimchen, von Nixen, Gespenstern u. s. w.
Und diese Ueberreste alten Volksglaubens dienen nicht nur. das Verständniß
der Mythen und des religiösen Lebens unserer Urahnen zu öffnen, sie stützen auch
nach manchen andern Richtungen unser geschichtliches Wissen. Zuweilen auf
einer Seite, wo man solche Hilfe nicht erwartet.
Und deshalb sei hier als Beleg für das Gesagte an ein kleines historisches
Problem Thüringens erinnert, welches in den letzten Jahren vielfach besprochen
wurde, und doch eine befriedigende Lösung noch nicht gefunden hat, an den
Rennstieg des Waldes. An ihm hängt etwas Räthselhaftes. und es wäre
immerhin möglich, daß eingehende Untersuchungen zu Resultaten kämen, welche
ein allgemeines Interesse haben.
Der Rennstieg, ein Bergpfad von 43 Stunden Länge, welcher auf dem
Kauri des thüringer Waldes von der Werra bis zur Saale, vom sagenreichen
Hörselberg bis zum Kulm bei Blankcnstcin führt, gehört zu den ehrwürdigen
Erinnerungen der Landschaft, er wird in Urkunden des spätern Mittelalters
mehr als einmal genannt und Jahrhunderte bevor sein Name in Urkunden er¬
scheint, z. B. im Jahr 1039 und 1227 als Straße oder als gerodeter Stieg
erwähnt. Seine Anlage fällt also in eine Zeit, aus welcher uns geschichtliche
Nachrichten nur spärlich oder gar nicht überliefert sind. Seine Linie ist sicher immer
dieselbe geblieben, er ist nur in kurzen Strecken, und wohl erst in neuer Zeit
bepflanzt worden,, dem Forstmann, dem Bewohner der nächsten Thäler gehört
er zu den werthen Eigenheiten des schonen Waldes, an welchem sein ganzes
Herz hängt. Es war ein unglücklicher Versuch, ihn als alten Handelsweg oder
als Heerstraße zu deuten. Wir kennen ziemlich genau den Lauf der ältesten
Straßen, welche quer über den Wald nach Thüringen und zwischen Wald und
Harz vom Rhein und Main zu Saale und Elbe führten, der Rennstieg gehört
nicht zu ihnen. Und wie sollte er für Kaufleute und Waaren angelegt sein, in
unheimlicher, menschenleerer Waldödc, Naubanfällcn weit mehr als jeder andere
Weg ausgesetzt, an einzelnen Stellen für Waarentransporte überhaupt nicht
Passirbar. Selbst der Ausdauer römischer Legionen war ein sechs bis achttägiger
Marsch ohne Reiterei und Gepäck durch feindliche Wälder und Felsen, ein mi߬
liches und verzweifeltes Unternehmen. Und wohin sollte ein solcher Weg füh¬
ren? wieder in Waldwüste» und Schluchten des Vvigtlandcs und des Erz¬
gebirges. Endlich, wie konnte ein solcher Pfad, irgend einmal in der Urzeit
für eine Unternehmung ausgeholzt, unversehrt durch Jahrtausende dauern? Seit
im Mittelalter der erste Dämmerschein historischer Kunde durch die dichten
Gipfel seiner Bäume brach, zur Zeit der Karolinger, da lag die Löuba, so hieß
damals wenigstens ein Theil des gothaischen Waldgebirges, als eine Wildniß
da, mit den ersten christlichen Kirchen und Kapellen an ihrem Saum. Und
daß sich seit den Sachsen- und Frankenkaisern die aufstrebenden Dynasten, welche
allmälig die Landeshoheit über den Wald erhielten, nicht freundnachbarlich ge¬
einigt haben, eine ziemlich unnütze breite Straße über das Gebirge auszuhauen,
wird jedem klar, der die Verhältnisse mittelalterlicher Herrscher ins Auge faßt.
Seine Entstehung muß in eine Zeit fallen, wo eine größere Volkskraft sich
dabei thätig erweisen konnte, und in dieser Zeit mußte die Anlage ein wichtiges
und nothwendiges Unternehmen sein.
Straßen und Pfades welche den Namen Rainweg, Rennweg, Neensteig
führten, gab es mehre, zumal auf fränkischem Grunde, und es lag nahe,
dieselben als alte Grenzwege — von Rain, Grenzsaum — aufzufassen,
welche Dörfer, Gaue, oder Völkerschaften von einander getrennt haben. Daß
auch der größte und berühmteste dieser Wege der Rennstieg des Waldes
im Ganzen betrachtet, die Südgrenze Thüringens und die Völkerscheide der
Thüringer und Franken bezeichnet hat, ist unzweifelhaft. Er mag schon in der
Urzeit Hermunduren von Kalten und wieder Markomannen von Burgundern
getrennt haben, er ist auch, seit wir geschichtliche Nachrichten besitzen, bei Ab¬
markung der Landeshoheiten als vorhandene Länderscheide immer wieder be¬
nutzt worden.
Aber das Wort Nennstieg heißt nicht Grenzweg. Denn es lautet in den
ältesten Urkunden, z, B. vom I. 1330 und 1445, immer Rinnestig, und die¬
ses Wort ist gemäß den Sprachgesetzen des alten fränkischen und thüringischen
Dialekts gar nicht mit Nain zusammengesetzt, sondern mit riam, Rinne, der
allen Bezeichnung jedes Wasserlaufs*). Der Rennstieg ist in seiner ganzen
Länge die Scheide für die Quellen und Backe des Gebirges, welche auf der
einen Seite nach Thüringen, auf der andern nack Franken hinabfließen, und
in einem alten Bericht über ihn wird noch als charakteristisch hervorgehoben,
daß auf beiden Seiten desselben fast aller hundert Schritt Brunnen liegen,
welche nach entgegengesetzten Seiten ihr Wasser ergießen.
Nun wissen Nur aber, daß die Quellen, die „Häupter der Ströme", den
heidnischen Deutschen, ebenso wie Römern und Griechen etwas Heiliges'
waren, vor allem auf Bergeshöhen, an denen die Wasserwolken hingen, die
allnährende Fluth in die Thäler der Menschen herabrann. Auf der Wasser¬
scheide des Gebirges schwebte» die Götter der Menschen entlang, den Völkern
Fruchtbarkeit und Lebenskraft herniedersendend. Denn die Götter selbst waren
vor andern Orten im Gebirge heimisch, die Berge und Quellen wäre» ihre
Wohnsitze, und auf den Berggipfeln waren die heiligsten Cultusstätten, auf
denen die Opferfeuer flammten. Auf den Berge» des thüringer Waldes lassen
sich noch jetzt trotz aller Umformung der Namen und Plätze eine so große Menge
von mythischen Erinnerungen nachweisen, wie vielleicht auf gleichem Raum in
keinem andern Gebirge Deutschlands^).
") Nur wenige Namen auf der kurzen gothaischen Strecke zwischen Inselberg und Damcrs-
haug seien als Beispiel angeführt. Dort, wo Bonifacius nach der Politik der ^belehrenden
Kirche die ersten christliche» Cultusstcitte» anlegte, muß am Saum des Waldes ein alter
Mittelpunkt des thüringischen Voltsthumcs gewesen sein. Denn gedrängt dauern die bedeut«
samen Namen, die meisten angeführten schon in der Vcrlcihungsurkundc für Ludwig den
Bärtigen vom Jahre 1039: Oistbinn (Volksbrunnen — .Inriv<!rA (Berg des Juri) — >Va,uni>-
brued (Wancnbrücke — Ostsi-wisa, (Wiese der Ostara) — llcrrllliestig (Weg der Horche). —
Dazu Folbach, Hellbcrg, Hünenbcrg, Tatenberg — Jnselsberg (mit dem dreizehnten Jahr¬
hundert öfter: (IZnsenlzsrx, llnnendsi'x, ^nsisböi',; von -asi, die Asen) also Götterberg, die
spätere Herleitung des Bergnamcns von dem kleinen Bach Emse l>rnisa) ist nur ein Versuch
den unverständlich gewordene» Namen zu deuten. Endlich Donnershaug Hügel des Donar.
Die Zahl läßt sich oh»e Mühe vermehren.
.Aus der angeführte» Urkunde ist leider nicht sicher zu entnehmen, ob der „Stieg der
Harchc" ein Pfad ist, welcher zum Ncnnsticg — der pis,dös, —- führte, oder der Rcnnstieg selbst.
Deshalb ist die Annahme wohlberechtigt, daß der Rcnnstieg ursprünglich
ein Pfad der heiligen Wasserscheide und ein Cultusweg der Thüringer gewesen
sei, auf welchem an großen Festen der Götterwagen fortgezogen wurde und
schon zur Zeit des Tacitus die heidnischen Vorfahren Martin Luthers das
Opfcrmesscr zuckten, und über den niedergebrannten Holzstoß sprangen.
Der Name Rcnnstieg aber war kein alter, diesem Bergpfad allein zustehen¬
der Eigenname, sondern eine durch Mitteldeutschland reichende Bezeichnung für
Wege der Wasserscheide, es ist daher natürlich, daß er nur zufällig gebraucht
wird. Hatte der Rennstieg Thüringens damals einen oder mehre alte Eigen¬
namen, so waren diese zuverlässig aus heidnischem Cultus hervorgegangen und
im frühen Mittelalter den geistlichen Schreibern der Urkunden und Annalen
so anstößig, daß sie so viel möglich vermieden, die teuflischen Worte zu ge¬
brauchen.
Wenn aber auch die Anlage des Weges in den mythischen Vorstellungen
der Ureinwohner wurzelt, so ist doch seine Auffassung als Grcnzweg deshalb
kein Irrthum. Ja sie erhält erst dadurch die rechte Bestätigung. Denn gerade
weil das Volk das göttliche Leben seiner Bäche und Ströme in der Quelle
sucht, wird auch die gefaßte Quelle, der Brunnen, gern als Grenze des Ortes
wie des Volk'es aufgefaßt. Das gilt schon in der Ebene, es ist vollends ge¬
boten bei Höhenzügen und Gebirgen, wo Mutter Erde selbst jedem sichtbar ent¬
scheidet, welchem Lande sie die Wasserfluth zusenden will. Deshalb gehören
Gebirgskämme überall zu den ältesten und festesten Grenzen, und deshalb dürfen
wir mit Sicherheit annehmen, daß der Nennstieg auch Voltsgrenzc gewesen ist
seit die Deutschen in getrennten Stämmen Berge und Thäler Mitteleuropas
besetzten. Wir wissen, daß der Nennstieg nicht in jeder Periode der ältesten
Zeit auch Landesgrenze war; schon als die Hermunduren mit den Calder um
Salzquellen im jetzigen Franken kämpften, hatten sie ihn an seinem Westende
übersprungen, mehr als einmal dehnten sie sich bis an den Mai», ja bis
an die römische Südgrenze aus, aber als sie von Burgundern und später von
den Franken zurückgedrängt wurden, wahrte der heilige Weg der Wasserscheide
seine alte Bedeutung, und er hat sie im Ganzen genommen bis zur Gegen¬
wart behalten.
Was hier angedeutet, nicht ausgeführt wurde, das würde reichliche Stütze
und Begrenzung finden, wenn wir möglichst vollständig unterrichtet wären über
die örtlichen Ueberlieferungen, welche nicht nur in Urkunden und alten Auf¬
zeichnungen, sondern auch im Munde des Volles erhalten sind, wenn die Namen
der Berge, Waldstücke, Fluren, Quelle» genau untersucht würden, wenn von
den mystischen Sage», welche in den Waldvrten selbst noch etwa leben, Zu¬
verlässiges aufgezeichnet würde. Dann konnten wir nicht wenige der alten
Götternamen in Ortsbezeichnungen, in Sagen und Märchen wiederfinden, wir
könnten erkennen, welche Culte die herrschenden waren, und es wäre uns ein
Schluß erlaubt sogar aus diesen Ueberlieferungen auf die deutschen Stämme,
welche neben den Thüringern, dem Ueberrest der Hermunduren das Land colo-
nisirt haben, wir dürften neben Franken, Sachsen und den Slaven an der Ost¬
grenze vielleicht auch die räthselhafte Verbindung der Angeln und Mariner mit
den Thüringern erkennen.
Allerdings ist bei solchem Suchen und den Folgerungen aus dem Ge¬
fundenen Vorsicht nöthig. Man wäre guter Resultate durchaus sicher, wenn die
Bevölkerung der einzelnen Ortschaften sich in der Hauptsache unvermischt mit
Nachbarn und Fremden erhalten hätte. Selbstverständlich ist dies nicht der Fall.
Wer die Kirchen- und Flurbücher des sechzehnten Jahrhunderts an den gegen¬
wärtigen Bestand thüringischer Dörfer hält, der wird finden, daß in den letzten
dreihundert Jahren die Familiennamen durch Aussterben, Abzug und Zuzug
sehr verändert sind, und daß im Ganzen nur eine kleine Minderzahl der Fa¬
milien dem Bevölkerungswechsel widerstand. Freilich sieht man auch aus den
Heimathsscheinen, welche schon vor 1600 üblich und zuweilen bei Dorfacten
erhalten sind, daß der Austausch der Bevölkerung fast ausschließlich zwischen
Nachbargemeinden stattfindet. Einzug von Ausländern ist bis auf unser Jahr¬
hundert so selten, daß er hier wenig in Betracht kommt. Deshalb kann man
die Lieder und Märchen, mythologische Erinnerungen und abergläubische Vor¬
stellungen und Bräuche, welche vorzugsweise persönliche Habe sind, nur selten
mit Sicherheit als alten Besitz eines bestimmten Dorfes auffassen. Dagegen
widerstehen locale Sagen und eigenthümliche Dorfgebräuche zäher dem allmäligen
Wechsel der Familien, und eisenfest dauerten bis zur neuen Zeit die Flurnamen.
Beschaffenheit und Theile der Dorfflur und einzelne agrarische Besonderheiten*).
!^Jn unsern Tagen oder verfällt der größte Theil dieser Erinnerungen unauf¬
haltbaren Untergänge. Die alten Volkslieder bilden nur noch die kleinere Hälfte
dessen, was die Töchter des Dorfes i» den Spinnstuben oder beim Spazier¬
gange mit dem langen Strickstrumpf zu singen wissen, Text und Melodien wer¬
den durch das Eindringen moderner Schnörkel sehr unsicher. Noch schlimmer
steht es mit den Märchen, sie sind schon jetzt fast nur noch Eigenthum weniger
alter Leute, gar nicht mehr in jedem Dorfe zu finden, alljährlich räumt der Tod
unter diesen Kundigen auf, und man kann mit Sicherheit vorhersagen, daß in
wenig Jahren der große Märchen- und Sagcnschatz, der noch vor sechzig Jah¬
ren auf dem Lande lebte, ganz verloren sein wird. Dem jüngern Geschlecht
scheint nicht nur durch neueren Bildungsstoff, Kalendergeschichten und Local-
blätter, die Freude an den alten Zaubergeschichten vermindert, man möchte
auch glauben, daß jenes besondere Talent des Bewahrens und Erzählens, wel¬
ches alte Landleute besitzen, den Kindern dieses Jahrhunderts durchaus fehlt;
denn jeder, der sich einmal die Mühe gegeben hat, aus dem Munde des Vol¬
kes zu sammeln, erfährt, daß das Geschichten Wissen und Erzählen eine besondere
sehr interessante Begabung einzelner Männer und Frauen offenbart. Das Er¬
zählen früherer Generationen war eine poetische Arbeit, behagliches Mitempfinden
der erzählten Begebenheit, das Auge des Erzählers wird lebhaft, die Rede läuft
in einem erhöhten Tonfall, die Worte bleiben, bei wiederholtem Bericht des¬
selben Märchens zum größten Theil dieselben, aber auch neue Redewendungen
treten mit großer Sicherheit ohne Stocken auf, man erkennt, daß es nicht blos
ein Hersagen überlieferten Stoffes aus treuem Gedächtniß ist, sondern zu¬
gleich ein treues Nachschaffen eines innern Bildes ist, welches fest in der Seele
steht. Und es wird nicht schwer, vor einem guten Märchenerzähler zu be¬
greifen, wie sich große epische Gedichte von Geschlecht zu Geschlecht fortpflanzten,
in jenen Jahrhunderten, welche die Heldengesänge des Volkes noch nicht aus
Büchern lasen. Auch der Umfang dessen, was einzelne Erzählertalente be¬
wahren, ist auffallend, man kann zuweilen das Besitzthum eines Erzählers aus
viele hundert Geschichten schätzen, die er alle treu und fest auseinanderzu-
halten weiß.
Reichlicher haben sich die alten heidnischen Ueberlieferungen erhalten, welche
lateinisch, und von den Wort Girr (bayrisch Giere») nicht selten uso, Ecke, Zipfel, darf man
zweifeln, ob es in deutscher Verwandtschaft unterzubringen, oder von «in-nu abzuleiten ist.
Diese Anlehnung an fremde Maße ist aber um so auffallender, da unsere Flurcinthei»
lung uralt ist, da sie über den größten Theil Deutschlands reicht, da diese Bezeichnungen sehr
fest im Volte wurzeln und keine andern gleichbedeutenden neben thuen stehe». Haben uns
gelehrte Mönche diese Namen hinterlassen? oder stammen sie aus den Verordnungen, durch
welche Karl der Große die Dreifelderwirthschaft nicht eingeführt, aber zu größerer Ordnung und
Gleichmäßigkeit geregelt haben mag?
als Aberglaube von dem Arzt, dem Geistlichen, dem Richter verurtheilt wer¬
den müssen. Gerade auf diesem Gebiet macht unsere menschenfreundliche Auf¬
klärung die ernste Erfahrung, daß die originelle Poesie im Volke viel schneller
durch unsere Cultur beseitigt wird, als die alterthümlichen Vorstellungen, von
denen irgendein praktischer Nutzen erwartet wird. Hier kann, wer zu suchen
versteht, überreiche Erndte halten. Noch begrüßt das Landvolk Gothas bei
einem ausgebrochenen Feuer die Ankunft des Landesherrn mit besonderem Ver¬
trauen, weil dieser von seinen Vorfahren her das Geheimniß des Feuersegens
geerbt hat, durch welchen er der Flamme Halt gebieten kann. Freilich muß er
aber, sobald der Zauber gesprochen ist, schleunig von der Brandstätte zurück¬
weichen, weil die Flammen ihn dann selbst fordern und lohnend auf ihn zu¬
fahren.. Der Glaube an Hexen, an verborgene Schätze, an Gespenster und
Hausgeister, an Vorzeichen, an gute und schädliche Tage, ein weites Gebiet ge¬
heimen Glaubens und Meinens entzieht sich allerdings sehr scheu dem Urtheil
der Gebildeten, Daß es im Rückzug begriffen ist, wird am klarsten bei einem
Vergleich mit früherer Zeit. Vor hundert Jahre» war ein Dorfpfarrer auf¬
geklärt, wenn er nicht an den geheimnißvollen Hund mit glühenden Augen
glaubte, der in der Erde auf seinem Schatze saß. Jetzt ist wohl in jedem
Dorf eine Anzahl tüchtiger Wirthe, welche das Schatzgräber für unnütze Ar¬
beit hält.
Schlechter steht es mit den Volksgebrnuchen, bei denen ein festes Ceremo-
niell, eine kleine dramatische Action, Masken und Wechselreden Brauch waren
bei Jahresfesten, Familienfesten, geselligen Freuden. Auch hier hat die Ein¬
wirkung der Zeit und das Bestreben des jüngeren Geschlechtes modisch zu wer¬
den , das Meiste zerweht. Noch am Ende des siebzehnten Jahrhunderts kannte
man in thüringischen Dörfern uralte Waffentanze der jungen Burschen mit ih¬
ren Melodien, leine Kenntniß davon ist uns geblieben. Die dramatischen Auf¬
züge der zwölf Nächte oder des Dreikönigsfestes, die Oster- und Johcmnisfest-
lichkeiten. die Maibäume, die jheimischen Erntegebräuche sind zum Theil
verschwunden, zum Theil haben sie sich völlig modernisirt. Doch ist in den
Dörfern, welche dem Stadtverkehr fern liegen, auch davon noch sehr Alter¬
thümliches zu finden. Für einen anderen Kreis von Dorfeinrichtungen, auf welchen
erst seit kurzem die Wissenschaft wirkt, die alte Flureintheilung, ist gerade in
diesen Jahren für dieses Land die Zeit des Sammelns gekommen. Sobald die
Auflösung der geschlossenen Dorffluren und der Dreifelderwirthschaft vollendet
ist und die neue Zusammenlegung geschlossene Einzelgüter geschaffen hat, wer¬
den die alten Namen der Dorsflur, die kleinen Sagen, welche daran hängen
und die frühere Bodentheilung schnell vergessen werden. Auch ihr äußeres Aus¬
sehen werden die thüringischen Dörfer schnell ändern. Getöse von den engen
Dorfgassen werden sich in wenig Jahrzehnten Einzelhöfe erheben, und wer in
hundert Jahren vom großen Seeberg über Thal und Hügel schaut, der wird
wahrscheinlich auf eine sehr veränderte Landschaft schauen, denn überall im
Felde werden sich einzelne Hofstätten mit Baumgruppen und kleinen Obst-
Pflanzungen erheben. Unterdes, ist sehr zu wünschen, daß unter den Beamten,
welche mit der neuen Auftheilung der Dorffluren beschäftigt sind, eine Persön¬
lichkeit sich finde, welche eine genaue Kenntniß der alten Flurverhältnisse auch für
die Wissenschaft verwerthet, wie dies in andern deutschen Landschaften bereits
geschehen ist*).
Außer dieser volksmäßigen Habe muß aber noch an ein anderes Besitz-
thum unserer Dörfer erinnert werden, welches zwar nicht für die Urzeit, wohl
aber für die letzten Jahrhunderte thüringischer Geschichte Wichtigkeit hat. In
vielen Gemeinden des Herzogthums sind Urkunden, Dorsacten. alte Kirchen-
bücher und Flurbücher oder Aufzeichnungen Einzelner im Pfarr- und Dorf¬
archiv erhalten, leider meist ungeordnet und verwüstet. Für die localen Tra¬
ditionen sowohl als für die Culturgeschichte ist Einzelnes davon sehr werthvoll,
und es ist dringend zu wünschen, daß es einer Sorglosigkeit entrissen werde,
welche ihm noch immer Verderben droht. lLinc Durchmusterung dieser Dorf-
traditioncn ist eine mühevolle und zeitraubende Arbeit, aber sie kann sehr wohl
durch vereinte Kraft Mehrer bewirkt werden, welche nach denselben Gesichts¬
punkten ihre Auswahl treffen. Nicht nur für die Geschichte und Statistik des
Ortes, auch für Sitte, Sage. Brauch der Gegend liegt darin noch viel Un¬
bekanntes vergraben.
Aus der Uebersicht, welche hier gegeben wurde, erhellt, wie umfangreich
das Gebiet ist, welches dem unterrichteten Sammler geöffnet ist. In der That kann
die Stoffmenge nur durch das Zusammenarbeiten Mehrer bewältigt werden.
Viele würden bei dem Sammeln der einzelnen örtlichen Ueberlieferungen thätig
sein können, einige Gelehrte würden die Verarbeitung des aufgesammelten Ma¬
terials übernehmen müssen
Wenn aber eine solche patriotische Arbeit zum Nutzen unserer Wissenschaft
unternommen wird, so ist in jeder Hinsicht wünschenswerth, daß sie sich nicht
auf das Herzogthum Gotha allein beschränke, sondern das ganze Gebiet des
alten Thüringens zwischen Saale und Werra. Harz und Wald umfasse, erst
dadurch wird möglich, einen Einblick in die poetische Habe, das Sprachgut und
die nationalen Besonderheiten des thüringischen Stammes zu erhalten, die
fremden Volkselemente, welche sich ihm gemischt haben, hie und da nachzu-
weisen. Erst dadurch würde das Originale und Charakteristische des centralen
Volksstammes erkannt werden, welcher früh in getrennte Territorien zersplittert
wurde und doch bis in die neueste Zeit' ein starkes Gefühl seiner innern Ein¬
heit und Zusammengehörigkeit bewahrt hat. Die localen Sammlungen müssen
über die ganze Landschaft ausgedehnt und die für das Verarbeite» des Mate¬
rials geeigneten Kräfte aus ganz Thüringen gewählt werden.
Ja, der beste Gewinn wird sich erst dann ergeben, wenn man das Terrain
für die Sammlungen noch weiter ausdehnt. Die Thüringer sind mit den Nord-
franken seit einem Jahrtausend aufs innigste verhüllte», nicht nur an der Wald¬
grenze sind sie in einander geflossen, die Thüringer sind bis tief in das Frän¬
kische hineingedrungen und die Franken haben Thüringen mit zahlreichen An¬
siedelungen durchsetzt. Im Gegensatz beider Nationalität sowohl als in der
gemeinsamen volkstümlichen Habe ist die nahe Verwandtschaft beider Stämme
sehr deutlich. Sie bilden für wissenschaftliche Behandlung ihrer Alterthümer in
der That eine Einheit, wie etwa für den Astronomen ein, Doppelstern. Das
fränkische Gebiet, welches zu diesem Zweck aufzunehmen ist, umfaßt die sächsi¬
schen Herzogthümer Meiningen und Coburg, Schleusingen und Sust mit Aus¬
schluß eines kleinern östlichen Grenzstrichs des Herzogthums Meiningen, welcher
slavische Unterlage hal. Und es würden dabei die hessischen Enclaven: Schmal-
kalden u. s. w. besondere Beachtung verdienen. In der räumlich kleinern Land¬
schaft Nvrdfranten ist das Interesse an diesen Ueberresten alter Zeit fast leb¬
hafter und thätiger gewesen als in Thüringen. Eine Menge Vorarbeiten sind
dort gethan und tüchtige Mitarbeiter wären zu gewinnen.
Für die Methode endlich, nach welcher das Sammeln und Verarbeiten
angelegt werden möchte, hat sich anderswo folgender Weg als zweckmäßig er¬
wiesen. Wer irgend mit dem Volk in sicherer Verbindung steht, vermag als
Sammler die wichtigsten Dienste zu leisten, vor andern Geistliche, Schullehrer,
Forstbeamte und solche, welche selbst in einem thüringischen Dorfe aufgewachsen
sind. Für diese Sammler werde eine kurze Instruction ausgearbeitet, welche
genau darstellt, was und wie gesammelt werden muß. Das einlaufende Mate¬
rial wird nach den einzelnen Fächern geordnet, Märchen und Sagen, Volks¬
lieder, Räthsel und Kinderrcime; Feste, Spiele und Gebräuche, Aberglauben,
Namen der Dörfer, Flurstücke, Familien, Eintheilung der Dorfflur, Antiqui¬
täten. Und wenn man die Dialekte hineinziehen will' Sammlungen von Pro¬
vinzialismen und Sprüchwörter des Volkes. Jede dieser Abtheilungen wird
einem Bearbeiter übergeben, welche selbständig die gelehrte Arbeit besorgen,
nachdem sie sich unter einander über die Hauptgesichtspunkte geeinigt haben.
Das ganze Unternehmen könnte von dem Ausschuß eines zu bildenden Vereins
eingeleitet werden, als Mirglied des Vereins mare jeder willkommen, der ent¬
weder als Sammler thätig sein will, oder als Abonnent die Möglichkeit einer
Herausgabe fördert. Die Herausgeber würden etwa folgende Gesichtspunkte
festzuhalten haben: 1) alle unnütze Weitläufigkeit im Abdruck des Materials
wird vermieden, 2) das Material wird möglichst vollständig »ach dein gegen¬
wärtigen Standpunkt der Wissenschaft verarbeitet, 3) vor allem wird das
Interesse der Wissenschaft ins Auge gefaßt. Die beste und anziehendste Lectüre
wird ein solches Werk gerade dann, wenn es eine ernste wissenschaftliche Leistung
in allgemein verständlicher Sprache wird.
Lange Zeit wollte Baur nichts davon hören, daß er der Stifter und
Meister einer neuen „Schule" sein sollte. Es widerstrebte ihm der Neben¬
begriff der Partei, der Coterie, der sich gern an diesen Ausdruck hängt. Ganz
besonders aber protestirte er gegen jene, wie er meinte, zweideutige Ehre, weil
er sich nicht denken konnte, daß an den von ihm befolgten Grundsätzen etwas
Neues sei, er sich vielmehr bewußt war, daß wenn auch die Resultate neu
waren, sie doch mittelst einer kritischen Methode gewonnen wurden, welche der
Wissenschaft überhaupt gemeinsam ist. Allein es zeigte sich wirklich, daß in
theologischen Dingen die freimüthige Anwendung der sonst giltigen kritischen
Principien nicht die Regel, sondern die Ausnahme war; es blieb ein besondrer
durch Baur unmittelbar angeregter Kreis, der sich die geschichtliche Erforschung
des Urchristenthums zu seiner besondrer Aufgabe machte, und durch dessen
Resultate von our an auch die anderen Leistungen auf diesem Gebiet wesentlich
veranlaßt waren. Später befreundete sich auch der Meister mit jener Bezcich.
mung. obwohl er eine solidarische Einheit der tübinger Schule selbstverständ.
lich zurückwies, und es berührte ihn schmerzlich, wenn Einzelne, die er mit
größter Anerkennung aus dem von ihm gelegten Grunde weiter bauen sah, jede
Gemeinschaft mit dem verpöntem Namen mit ängstlichem Eifer von sich fern¬
zuhalten suchten und sich auf ihre norddeutsche Grenzlinie beriefen. Eine seiner
letzten und vollendetsten Schriften führt den Namen: Die tübinger Schule
(2. Aufl. 1860) und ist deren Rechtfertigung gewidmet. Mit schweren Waffe»
zieht er darin zu Feld gegen die vornehme Affectation einer neugläubigen Theo-
logie. welche in voreiliger Freude die tübinger Schule zu den Todten geworfen
und ihr bereits die Leichenrede gehalten hatte. In bündigster Weise war hier
der Beweis von der Berechtigung und Lebensfähigkeit einer Geschichtsanschauung
geliefert, welche freilich nicht an Namen und Ort, und nicht an einzelne Per¬
sonen gebunden ist. In dem siegreichen Bewußtsein von der Wahrhaftigkeit
und Unerschütterlichkeit seiner wissenschaftlichen Grundsätze konnte Baur in einem
Moment, da die ganze „Schule" nur noch auf seinem ergrauten Haupte zu ruhen
schien, ausrufen: „und doch, wenn es erlaubt ist. das Wort des Apostels hier
anzuwenden, sage auch ich in meinem und meiner Gesinnungsgenossen Namen:
eos «nos»,z«7xovrks, Xttt Zöov ^es^to (als Absterbende und siehe, wir leben!) Gelee
dies auch ferner von allen, in welchen der echte Geist der Schule, trotz aller
hemmenden Verhältnisse und beschränkten Vorurtheile, mit welchen fortgehend
zu kämpfen ist. frisch und kräftig fortlebt und, auf welchem Gebiete des Forschens
und Denkens es auch sei. offen und frei sich ausspricht." Wie ein letztes Ver-
mächtniß klingen diese Worte, die der ehrwürdige Gelehrte zwei Jahre vor
seinem Tod niedergeschrieben hat.
Eine frische, freie Luft wehte in den dreißiger Jahren und noch am An¬
fang des folgenden Decenniums an der tübinger Hochschule. Sie durfte sich
damals eines seltenen Zusammentreffens geistvoller, lehrender und lernender
Kräfte rühmen. Unter der Einwirkung einer anregenden Zeitphilosophie, und
geschwellt von dem Hauch der damals überall in Deutschland vorwärts dringen¬
den öffentlichen Meinung entwickelte sich hier ein regsames und fruchtbares
wissenschaftliches Leben, das dann freilich theils unter der steigenden Ungunst,
welche besonders die theologische Freisinnigkeit von oben her zu erfahren hatte,
theils verdrängt durch die in den Vordergrund tretenden politischen Interessen,
sich auf immer beschränktere Kreise zusammenzog. Jene Philosophie war die
hegelsche. Aber die geistreichen, kecken, auch die Form meisterhaft handhabenden
Köpfe, welche in dieser Philosophie gebildet waren, gingen darauf aus, ihr
alles scholastische Formelwesen abzustreifen, ihre lebendigen Gedanken umzusetzen
in eine allgemein verständliche Sprache, sie praktisch zu Verwerthen und auf
die verschiedensten Gebiete des geistigen Lebens anzuwenden. Der Schulstaub
wurde gründlich abgeschüttelt, und je freier man sich Von den Fesseln des
Systems fühlte, um so klarer wurden die Ziele, die man in Wissenschaft und
Kirche, in Kunst und Staat verfolgte. Bei aller Freiheit der Bewegung war
dann dem ganzen Kreis eine Humanität, ein feiner Takt der Bildung eigen,
welche durchaus vor jenen Exccntncitäten und Mißbildungen bewahrte, von
denen anderwärts die linke Seite der hcgelschen Schule nicht frei blieb. In
diesem Sinne wirkten die für das größere Publicum berechneten „Jahrbücher
der Gegenwart", welche A. Schwegler von 1844—1847 leitete, und die vor¬
zugsweise zeitgeschichtlichen und ästhetischen Gegenständen gewidmet waren, erstere
in hervorragender Weise von Schwegler und Zeller, letztere von Bischer, Strauß,
Reinhold Kostim besprochen. Für die theologische Kritik bildeten den Sammel¬
punkt die „chilenischen Jahrbücher", weiche Eduard Zeller im Jahre 1842
begründete und erst allein, dann in Verbindung mit Baur sechszehn Jai>rc
lang fortführte. Sie waren das eigentliche Organ der tübinger Schule. Hiev
wurden alle jene Einzeluntersuchungen über die Evangelien, über die Gegen¬
sätze und die Literatur des nachapostviischen Zeitalters niedergelegt, ausweichen
die späteren umfassenden Arbeiten, kritischen oder historischen Inhalts beruhten;
hier wurden jene Fragen einer immer wiederholten Prüfung unterworfen, die
Streitpunkte unter den Freunden erörtert, der Kampf mit den Gegnern geführt.
Unter den Mitarbeitern standen in erster Linie neben Baur und Zeller selbst:
A. Schwegler, K. Eh. Planck. Karl Kostim, später A. Hilgenfcld und Vvlckmar.
Die vielseitigste und wohl gediegenste straft war E. Zeller, der Baur
selbst am nächsten stand und durch eine Reihe von Abhandlungen, besonders
über die Offenbarung, über das Johanncsevangclium, über die äußeren Zeug¬
nisse für die Evangelien, über das LucaScvangclium und die Apostelgeschichte
wesentlich zur genaueren Begründung der baurschen Ansichten beitrug. Ins¬
besondere sind seine Untersuchungen über die Apostelgeschichte, die er in einer
eigenen Schrift «.18S4) zusammenfaßte, für diesen Gegenstand abschließend ge¬
worden. Schwarz nennt dieses Buch „vielleicht die reifste Frucht der baurschen
Kritik, das gediegenste Wert der ganzen Schule". Zeller ist zugleich derjenige,
welcher auch, nachdem er genöthigt war sich einem andern Felde zuzuwenden,
gleichwohl jenen Studien am treuesten geblieben und fort und fort für die Ver¬
breitung und Anerkennung der Ansichten der kritisch-historischen Schule thätig
ist. Von Kostim wäre seine Entwickelung mehrer ncutestamentlicher Lehr¬
begriffe, seine Abhandlung über die Pseudonyme Literatur der ältesten Kirche
und insbesondere sein größeres Werk: Ursprung und Composition der synop¬
tischen Evangelien (1853) hervorzuheben; allein wir verzichten selbstverständlich
darauf, die Menge der Einzeluntersuchungen, auch der hervorragenderen zu ver¬
zeichnen, und wenden uns vielmehr den ersten Versuchen einer geschichtlichen
Zusammenfassung der gewonnenen Resultate zu.
Diese Versuche wurden von den Schülern früher begonnen als von Vaur,
der es auch sonst geschehen ließ, daß die Jünger in die Oeffentlichkeit voraus¬
eilten gleichsam als Plänkler, denen er erst mit dem schweren Geschütz nach¬
rückte. Am wenigsten hätte er an eine zusammenhängende Geschichtserzählung
sich gewagt, bevor er das ganze Feld selbständig durchgeackert hatte. Als der
Muthigste wagte sich Ä. Schwegler vor, der seiner Monographie über den
Montanismus (1841Z fünf Jahre darauf sein „NachavostolischcS Zeitalter in
den Hauptmomenten seiner Entwickelung" folgen ließ. Schwegler war der ent¬
schlossenste, geistig bedeutendste unter den Jüngern; mit dein nachdrücklichsten
wissenschaftlichen Ernst ging bei ihm ein durchdringender Scharfsinn, eine Leich¬
tigkeit der Combinationsgabe und Darstellung Hand in Hand, welche es tief
bedauern lassen, das; er durch äußeren Druck diesen Studien entfremdet andern
Forschungen zugetrieben wurde, welche seine ungewöhnliche Arbeitskraft allzufrüh
aufrieben. Er zuerst faßte die bisherigen Einzeluntersuchungen als ein Ganzes
zusammen. Eine geschichtliche Darstellung, sagt er, findet nur in dem organi¬
schen Zusammenhang, in welchen sie das Einzelne mit dem Ganzen zu sehen
weiß, ihre genügende Bewährung. Das Einzelne an und für sich bleibt immer
schwankend und streitig: nur in seiner Verbindung zu einem größeren Ganzen,
dessen Glieder sich gegenseitig Heden und tragen, gewinnt es festeren Halt und
sicheren Boden. Schwegler ging aus von der Wahrnehmung, daß der Gegen
sah des Judenchristenthums und des .Paulinismus nicht blos das apostolische
Zeitalter im engeren Sinn, sondern den ganzen Zeitraum der werdenden katho-
lischen Kirche bis zum Schluß des zweiten Jahrhunderts beherrschte. Folglich
— dies ist die nächste Schlußfolgerung — sind die Schriften des neuen Testa¬
ments, welche die Verschiedenen aufeinanderfolgenden Stadien dieser Entwicke¬
lungsgeschichte bezeichnen, nicht in die drei Jahrzehnte des apostolischen Zeit¬
altern zusammenzuwerfen, sondern über die ganze nachapostolische Periode als
fortlaufende Kette von Documenten auszubreiten. Das ursprüngliche Christen¬
thum war wesentlich Jndenchristenthnm oder EdivnitiSmus, und die Geschichte
der ersten zwei Jahrhunderte ist nichts als die allmälige Entwickelung des
Ebionitismus zum Katholicismus. Das treibende Moment dieses Processes
aber ist der Pauliuiömus, unter dessen sollicitirender Einwirkung das Jnden¬
christenthnm i» einer Neilw von Entwickelungsstufen zum Katholicismus wurde,
und zwar so, daß die ersten Vermittclungsvorschläge vom Panlinismus, als
der illegitimen Partei, die sich erst mit Mühe Anerkennung zu erringen hatte,
ausgingen. Bon diesem obersten Gesichtspunkt aus werde» nun die kanonischen
und die außerkanonischen Schriften eingereiht in den Entwickelungsgang der
werdenden Kirche, nud zwar verläuft zunächst daS Jndenchristenthnm selbst in
einer dreifachen Abstufung vom reinen Jildenchristcnthnm durch verschiedene
Bermittelungöanbahnungcn zur Neutralität und zum Friedensschluß. Parallel
mit dieser ebiouitischcn Reihe läuft daun eine paulinische, in der gleichfalls ein
ähnlicher Stufengang vom reinen PauliuiSmus zur katholischen Vermittlung
nachgewiesen wird. Ist es nun zunächst die römische Kirche, welche in dieser
doppelten Entwickelungsreihe zum Abschluß gelangt, so kommt neben ihr noch
besonders die kleinasiatische Kirche in Betracht, welche im Allgemeinen demselben
Ziele zusteuert, al,er während das Princip der römischen Entwickelungen ein
echt römisches, nämlich ein politisch-kirchliches ist, mehr von einem speculativ-
theologischen Interesse bestimmt wird. Die NeinasiaNsche Kirche widerstrebte,
wie sich namentlich an den Pcchahstreitigt'eilen zeigt, dem römischen Princip
der Centralisation. Allein es wiederholte sich hier gewissermaßen die Stellung
des alten Roms zum alten Griechenland, jener Kampf, in welchem die straffe
Einheit des ersteren über die unpraktische und machtlose Zersplitterung des letz¬
teren einen so entscheidenden Sieg davontrug. Auch jetzt wieder war der Erfolg
der gleiche: Rom handelte, während die Orientalen sich begnügten zu Protestiren.
Es lag etwas Blendendes, Imponirendes in dem kühnen Ausbau Schweg-
lers, aber zugleich an vielen Stellen etwas gewaltsam Construirendes, das leb¬
haften Widerspruch hervorrief und noch mancher genauerer Untersuchungen be¬
dürfte, welche den verschiedenen Gliedern in jenem Entwickelungsgang vielfach
eine andere Stellung anwiesen. Insbesondere aber wurde dies als eine Lücke
empfunden , daß der Paulinismus als etwas völlig Neues im Grunde außer¬
halb des Urchristenthums stand, und zwischen Jesus und Paulus somit eine
unausgefüllte Kluft blieb. Hier griff zuerst Planck mit seiner Abhandlung:
Judenthum und Urchristenthum (1847) ein, indem er zu zeigen suchte, daß
das, was das Wesen des Paulinismus ausmache, auch schon im Urchristen¬
thum gelegen und nicht erst in Paulus, sondern auch schon in Jesus hervor¬
getreten sei. Nur der Unterschied sei zwischen Jesus und Paulus, daß der
Paulinismus für das Bewußtsein ausgesprochen habe, was an sich schon that¬
sächlich im Urchristenthum gesagt war. Einen andern Bermittlungsweg schlug
Kostim ein in der Abhandlung: Zur Geschichte des Urchristenthums (1850).
Nach ihm waren sowohl der Paulinismus als der Ebionitismus von jeher Ex¬
treme, welche nur zweimal, in den letzten Jahren des Apostels Paulus und
dann im zweiten Jahrhundert bei dem Streit zwischen dem Ebionitismus und
der Gnosis in heftigen Conflict mit einander kamen. In der Mehrzahl dagegen
herrschte von Anfang an ein mittleres, praktisches Interesse vor, aus welchem
endlich mit Ausscheidung der Extreme die katholische Kirche hervorging. In
den schärfsten Gegensatz zu Schwegler setzte sich Ritschl (Entstehung der alt-
katholischen Kirche, 1850). Nach dem Vorgange Georgiis setzte er das eigent¬
liche Christenthum in den Paulinismus, der aber unter dem Einfluß des Juden¬
christenthums allmälig seine doctrinäre Schroffheit verloren, in andern Beziehungen
wieder eine Ergänzung und festere Normen erhalten habe und so zum Katho¬
licismus geworden sei. Um' einen einheitlichen Anfang für die Entwickelung
zu erhalten, ging Ritschl auf Jesus selbst zurück, in welchem er zwei Momente
unterschied, seine Lehre und seine Persönlichkeit; jene verlangte die Erfüllung
des Gesetzes, diese führte als die Selbstdarstellung des Gesetzes über dasselbe
hinaus; letzteres wurde die Grundlage des Paulinismus, während die juden¬
christlichen Urapostel sich einseitig an die Lehre hielten. In der zweiten um¬
gearbeiteten Auflage seines Werks (1857) führte Ritschl seinen Grundgedanken
noch schärfer aus,-daß das katholische Christenthum nur eine Abwandlung des
Paulinismus sei, lenkte aber durch das sichtliche Bestreben, die Gegensätze mög-
lichst zu verwischen, wieder in die breite Straße der herkömmlichen Theo¬
logie ein, während Vaur in seinem „Christenthum der drei ersten Jahrhun¬
derte" im Wesentlichen die schwegleriscbe Auffassung adoptirte, aber freilich
in gereifter Form und berichtigt durch die seitherigen Fortschritte der Wissen¬
schaft.
^. Neben diesen Versuchen einer geschichtlichen Zusammenfassung der gewon¬
nenen Resultate gingen die Einzeluntersuchungen fortwährend her. Eben durch
jene wurden die Lücken aufgedeckt, welche noch vorhanden waren und zu weiterer
Forschung aufforderten. In dieser Beziehung stellte sich bald ein Mangel an
der bisherigen Evangelienkritik heraus, dessen Einsicht die Untersuchung auf
ein neues Gebiet lenkte. Zwar nach einer Richtung hin hatte Baur und seine
nächsten Schüler die Evangelienkritik zum Abschluß gebracht, nämlich sofern es
sich darum handelte, die Tendenz der einzelnen Schriftsteller nachzuweisen, die
dogmatischen Motive aufzufinden, von welchen sie bei ihren Eompositivnen ge¬
leitet waren. Nur hatte er des Guten eher zuviel als zu wenig gethan; jener
Gesichtspunkt wurde vo» ihm, wie eS bei neuen Entdeckungen der Fall zusein
pflegt, mit einer gewissen Einseitigkeit geltend gemacht, das dogmatisch Absicht¬
liche war unstreitig überspannt, das Naive, rein Stoffliche in den evangelischen
Berichten zu sehr verkannt, überall die Absicht ausgewittert, wo in einzelnen
Fällen auch bloßer Zufall, schriftstellerische Willkür, einfache Entlehnung aus
andren Quellen stattfinden konnte. Ganz besonders war es nun der letztere
Punkt, nämlich die Herleitung des evangelischen Erzählungsstoffs aus älteren
Quellen, der noch genauer zu erörtern war. Anstatt des dogmatischen Inter¬
esses etat jetzt das literarische Interesse ni den Vordergrund. Nachdem der
dogmatische Charakter der Evangelien ans Licht gebracht, sollte auch eine be¬
stimmtere Ansicht über Ort und Zeit, über ihre Quellen und Entstehung ge¬
wonnen werden, und wenn nun eine solche Untersuchung über die äußeren
Verhältnisse an sich etwas Untergeordnetes schien, so lenkte sie doch gewisser¬
maßen wieder mehr zum Ausgangspunkt, zur evangelischen Geschichte selbst
zurück. Denn erst wenn man in die Entstehungsweise der Evangelien genauer
hineinsah, war von hier aus ein Schluß aus den ältesten Stoff der Ueberlie¬
ferung und damit auf daS Thatsächliche, was ihren Belichten zu Grund liegt,
möglich.
Es war zuerst Ewald, der wieder auf die Voranstellung des literarischen
Gesichtspunkts drang, aber freilich selbst nur wenig brauchbares Material in
dieser Beziehung zu Tage förderte. In seiner erklärten Absicht, den Urheber
der „Tendenzkritik" zu vernichten, schüttete er daS Kind mit dem Bade aus
und ignorirte die dogmatischen Momente ganz. Seine Hypothese war, daß
eine große Zahl von Evangclienschriftcn den unsrigen vorausgegangen seien,
deren Spuren er nun stückweise in unsern Evangelien aufsuchte. Durch ein
rein atomistisches Verfahren wurden die Evangelien in einzelne Stücke zerhackt,
in deren Zusammensetzung das ganze schriftstellerische Geschäft ihrer Verfasser
bestanden haben sollte. Dabei artete der versuchte Nachweis der stilistischen
Eigenthümlichkeiten und Feinheiten, die er in jedem der acht Urevangelien zu
erkennen glaubte, in eine kindische Spielerei aus; das Ganze war ein labyrin¬
thisches Gewirr von verschrobenen Hypothesen, die aber selbstverständlich im ge¬
spreizten Tone der Unfehlbarkeit und unter dem Erguß giftiger Persönlichkeiten
vorgetragen wurden. An dem befremdenden Eindruck, den die^se Ewaldscbcn
Phantasien machten, kannte man recht deutlich abnehmen, wie weit die alte
Hypvthesenperiodc durch die eindringenden Forschungen Baues schon zurück¬
gedrängt war. Auch die literarische Seite der Evangelienkritik versprach nur
dann einen wirklichen Erfolg, wenn man auf dein von Baur eröffneten Weg
der Analyse der einzelnen Evangelien weiter ging. Diesen Weg schlugen nun
namentlich Kostim, Hilgenfeld und Volckmar ein und erzielten auf ihm bleibende
Resultate.
Kostim insbesondere hat mit seiner Schrift: Der „Ursprung und die Kom¬
position der synoptischen Evangelien" ein Muster von gründlicher und besonnener
' Untersuchung gegeben. Mit wahrem Bienenflciße ging er den Spuren von den
Quellen nach, aus welchen der Stoff unsrer Evangelien geschöpft ist, und kam
hierbei auf Schlüsse, welche die baurschcn Ansichten nicht unbedeutend modi-
ficirten. so glaubte er nachweisen zu können, daß, obwohl Matthäus die
Hauptquelle der evangelischen Geschichte und Lehre bleibe, doch auch dem Marcus
und Lucas sich eine geschichtliche Seite abgewinnen und ihre Beiträge zu einer
vollständigeren Auffassung der Lebre Jesu sich nutzbar machen lassen. Und
während Baur alle Evangelien tief in das zweite Jahrhundert herabgerückt
hatte, setzte er die Entstehung des Matthäus und Lucas noch in das erste Jahr¬
hundert, die des Marcus in das erste Jahrzehnt des zweiten'Jahrhunderts.
Hilgenfeld. welcher nach dem Aufhören der theologischen Jahrbücher in seiner
„Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie" der freien Forschung eine neue Stätte
eröffnete, verbreitete sich in einer großen Reihe werthvoller Monographien über
das ganze Gebiet der urchristlicher Literatur, wobei er theils den Zusammen¬
hang der kanonischen Evangelien mit den außerkanvnischcn, theils ihr gegen«
heiliges schriftstellerisches Abhängigkeitsverhältniß näher zu bestimmen suchte.
Noch angelegentlicher als Kostim ging er darauf aus. überall da zu vermitteln
und auszugleichen, wo Baur, wie er meinte, „dem Glauben allzu tiefe Wunden
geschlagen hatte". So wies er die drei synoptischen Evangelien sämmtlich noch
dem ersten Jahrhundert zu. schwächte den Gegensatz zwischen Paulus und den
Urapostel» ab, erkannte mehre von den kleineren paulinischen Briefen wieder
dem Heidcnapostel zu und setzte auch das Johanuesevangelium ein paar Jah»
zehnte früher als Baur (etwa 120—140 nach Ehr.), konnte aber gleichwohl
nickt dem Vorwurf entgehen, den Stifter der tübinger Schule noch überboten
zu haben, indem er nämlich das vierte Evangelium als cur Erzeugnis; der
gnostischen Speculation auffaßte und nachwies, wie erst durch das Einmünden
der gnostischen Richtung in die judcnchristliche und paulinische Entwickelung die
katholische Einigung zu Stande gekommen sei.
Ein besonders lebhafter Streit entbrannte in diesem letzten Stadium der
Evangelienkritik innerhalb der Schule über die Stellung des Marcusevangeliums.
Baur hatte es um seines neutralen ausgleichenden Charakters willen als das
letzte der drei synoptischen Evangelien nachgewiesen. Kostim stimmte bei, nahm
aber zugleich el» älteres Marcuscvangelium an, das die Grundlage aller Evange-
lienschriftcn gewesen sei. Hilgenfeld setzte es zwischen Matthäus und Lucas.
rechtfertigte also die Stellung, die es in unserem Kanon einnimmt. Dagegen griff
nun Vvlckmar (wie auch Ritschl und neuestens Schenkel) auf die wilckesche
Hypothese des Marcus als Urevangelisten zurück und suchte diese Ansicht mit
großem Aufwand von Scharfsinn, gleichwohl auf wenig überzeugende Weise neu
zu begründen. Das Marcuscvangelium ist nach dieser Kritik, welche sich selt¬
samerweise als die „absolute, völlig positive und damit ebenso kirchengemäße"
nennt, ein christliches Tcndenzepos, von einem Pauliner im Gegensatz zur juden-
chnstlichen Offenbarung verfaßt, und in gleicher Weise sind auch die anderen
Evangelien reine Tcndcnzschriftcn, welche durch die weiteren Parteikämpfe und
Streitigkeiten der Gemeinde veranlaßt find. Hier ist also alles Absicht und
Berechnung. Nicht einmal die Neben Jesu werden als ursprünglich anerkannt
und das sonst für das älteste geltende Matthäusevangelium zu dem Wert eines
aufgeklärten Judenchristen aus der trajanischcu Zeit, zu einer Combination ans
Marcus und Lucas in der Art einer Evangelier.harmonie gemacht.
Diese Debatten über die gegenseitige Stellung der drei ersten Evangelien
welchen andere gleichfalls minutiös sich verzweigende Forschungen zur Seite
gingen, bezeichneten unstreitig eine gewisse Erschöpfung. Nicht als ob die von
Baur begründete Geschichtsauffassung nun durch deu Zwiespalt der über einzelne
Fragen zwischen den Schülern entstand, zur Erklärung der urchristlicher Ent¬
wicklung sich unfähig erwiesen, durch die eigenen Widersprüche sich selbst auf¬
gehoben hätte. Der Grund ist Vielmehr der, daß die Hauptresultate im Großes
und Ganzen jetzt feststanden, und die erneuerte Durchforschung immer wieder
nur auf die alten Gründe zurückkommen mußte, während dann — gleichsam
in der Peripherie — allerdings eine Menge kleinerer Fragen offen blieb, über
Welche nack, der Beschaffenheit der Quellen der Streit endlos fortdauern konnte
und immer wieder neue Combinationen empvrtricb. Indem die Forsibuug mit
demselben Eifer, mit welchem früher jene grundlegenden Fragen, das Verhältniß
der Apostelgeschichte zu den paulinischen Briefen, und das Verhältniß des vierten
Evangelium zu der Offenbarung einerseits, zu den Synoptikern andererseits erörtert
worden waren, jetzt jenem unabsehbare» Feld von untergeordneten Punkten sich
zuwandte, stand sie allerdings in Gefahr, sich in ein nutzloses Detail zu ver¬
graben und dafür die Hauptsache, nämlich die Beziehung der Evangelienkritik
auf den Anfangspunkt des Christenthums aus den klugen zu verlieren. War
die Evangelienkritik in den letzten zwanzig Jahren „unläugbar etwas ins Kraut
geschossen", so kam es darauf an, sie einer vorurtheilslosen Revision zu unter¬
werfen, und ihre Ergebnisse darauf anzusehen, welchen Gewinn denn die auf¬
gehäufte Gelehrsamkeit der Kenntniß der Person und Schicksale, der Lehre und
Zwecke Jesu zuführen. Eben dies ist nun das Verdienst, weiches sich Strauß
in seinem neuen Leben Jesu erworben hat, indem er dem geschichtlich aufbauenden
Werte eine Einleitung vorausschickt, worin er sich mit den seit seinem ersten
Leben Jesu ans Licht getretenen Forschungen auseinandersetzt. Kein anderer
war so befähigt, die Betheiligten an das zu errinnern, um was es sich eigentlich
handelt, sie „aus dem Umkreis in den Mittelpunkt zurückzurufen", als eben
Strauß, der an den Arbeiten der tüvinger Schule nicht selbst Theil genommen
hat, aber ihnen Schrill für Schritt aufs sorgfältigste gefolgt ist, der ebenso
von den andern neidlos zu lernen als selbständig weiter zu suchen beflissen
war, dessen sicherer verständiger Tact ebenso alles Uebertreibende und Kleinliche
auszuscheiden, als das, was probehaltig erfunden wurde, auf die Hauptsache
zurückzübeziehen verstand. Und nun ist es keine geringe Genugthuung, daß
durch die sorgsam abwägende Methode von Strauß die Resultate der baurschen
Evangelienkritik im Wesentlichen bestätigt werden, allerdings unter jenen Mo-
dificationen, die namentlich Kostim anbahnte, und Strauß noch weiter begründet.
Das Tendenzmäßige ist überall gemildert, der freien schriftstellerischen Composition
ein größerer Spielraum gelassen, allen Evangelien ein verhältnißmäßiger An¬
spruch auf Geschichtlichkeit zuerkannt. Aber nicht nur eignet sich Strauß die
baurscbe Kritik des Jvhannesevangcliums vollständig an, sondern auch bezüglich
des Verhältnisses der Synoptiker tritt er auf Baurs Seite, indem er das
Matthäusevangclium als das ursprünglichste, das Marcuscvangelium als das
späteste betrachtet. Strauß hat — alles Excentrische, alles was bloße Ver¬
muthung ist, bei Seite lassend — die einfachen großen Grundzüge der Evan¬
gelienkritik wiederhergestellt. Und es that Noth, daß der gelehrte Wald gelichtet
und wieder eine Aussicht ins Freie gewonnen wurde. Denn nur so auf das
Nothwendige und annähernd sicher Festgestellte beschränkt, sind die Ergebnisse
der neueren Kritik fähig, als dauerhafte Grundlagen der Geschichtschreibung
zu dienen; so allein sind sie auch fähig, zum Gemeingut der Gebildeten und
Denkenden zu werden, die sich über die Anfänge des Christenthums ein eigenes
Urtheil bilden wollen.
Wir versuchen es in einer Reihe weiterer Ausführungen, das, was die
neuere Wissenschaft über die Entstehung unsres Kanon, über die Bildung
und den Charakter der Evangelien festgestellt hat, den Lesern dieser Blätter
mitzutheilen, woran sich dann eine Uebersicht über die für die Geschichte
Jesu und die erste Entwicklung der christlichen Kirche gewonnenen Resultate
reihen soll.
Wer würde es wohl den Wienern verübeln, daß sie über ihre anfänglichen
Erfolge in Schleswig hoch aufjubelten und ein wenig in das große Horn stießen?
Hatten sie doch seit den ruhmreichen Tagen Nadetzkys nur eine selten unter¬
brochene Reihe von Niederlagen ^ sowohl auf dem Schlachtfelde, als auf dein
Tische der Diplomaten und vor der Rednerbühne der Landtage erlitten. Monte-
bello, Magenta, Palestro und Svlferino, das trotzige Zurückweisen der sclnncr-
lingschen Versöhnungsversuche in Ungarn und Kroatien, das höhnende Nessuno
aus Jstrien und Dalmatien, das Ausbleiben der Czechen aus den wichtigsten
Verhandlungen des Reichstages und vieles Andere war unseren Gutgesinnten
ärgerlich und bitter gewesen und hatte ihren Rücken gebeugt. Endlich wurde ein
Erfolg errungen! Man jubelte und übersah, daß durch diesen Erfolg die alte
Scharte noch keineswegs ausgewetzt, geschweige irgendein Leiden deS Staates
beseitigt worden war. und daß man diesen Erfolg über einen zwar muthigen,
aber in Wahrheit doch nur armseligen und der Wehrkraft, welche Oestreich ent¬
falten kann, gar nicht gewachsenen Gegner erfochten hatte. Es soll damit die
Tapferkeit, mit welcher die sogenannte eiserne Brigade (auch diese Benennung
ist ein Selbstlob) am KönigSberge, sowie Hessen und Belgien-Infanterie
bei Ocversee und Beile gefochten oder nach unserem bezeichnenden Lieblings-
ausdrücke „sich gerauft" haben, keineswegs in Abrede gestellt werden. Denn
i» der That hatten es die östreichischen Truppen in allen diesen Gefechten immer
mit der Mehrzahl zu thun und erlitten darum ganz unverhältnißmäßige Verluste.
Aber daß solches geschah, daran waren eben nur die Grundregeln der alther¬
gebrachten und nur etwa von Radetzky und einigen andern Heerführern bei
Seite geworfenen östreichischen Taktik schuld, nach welcher immer nur eine mehr
oder minder schwache Abtheilung an den Feind geschickt, alles Uebnge aber
theils zur Besetzung unbedeutender Punkte verwendet, theils in einer unzähl¬
baren Reihe taktischer und strategischer Reserven aufgestellt, mithin zersplittert
und gelähmt wird. Dieser Erbfehler der östreichischen Kriegsführung macht sich
immer wieder geltend und wenn auch der commandirende General hiervon frei
ist, so wird er doch die nachtheiligen Folgen dieser Gewohnheit empfinden, da
seine Untergebenen gewiß darnach verfahren.
Aber immerhin hatte man einen Erfolg "für sich, man hatte sogar einige
sichtbare Zeichen dieses Erfolges erlangt, die Oestreicher hatten nicht etwa eine
Kanone wie weiland bei Magenta"), sondern mehre Kanonen, metallene und
eiserne, gezogene und ungezogene erobert! — Was lag also näher, als eine
feierliche und möglichst bemerkbare Ueberführung und Schaustellung dieser
Geschütze und anderweitigen Trophäen? Ob der Gedanke hierzu von Wien,
wo man im verflossenen Jahre der Regulirung des Paradeplatzes wegen sogar
auf mehre Paraden hatte verzichten müssen und daher nach irgendeinem mili¬
tärischen Dccvrations- und Spcctakelstück doppeltes Verlangen hegen mußte,
oder von Hr. v. Gab lenz ausgegangen, welcher Glanztableaux nicht abgeneigt
sein soll, ist von keinem Belang, da die Sache auf jeden Fall geschehen wäre.
Indessen hat die Ausführung der Idee manche Lächerlichkeit im Gefolge gehabt
und ist über die Grenzen des erlaubten Siegerstolzes ausgedehnt worden.
General v. Gablenz hatte die Uebersendung der dänischen Trophäen mit
gutem Schick und Sinn ins Werk zu setzen gewußt. Acht Kanonen verschiedenen
Kalibers, darunter ein gezogenes Feldgeschütz und ein Vierundachtzigpfündcr,
wurden sofort unter der Escorte des Hauptmannes Eder (des Mannes mit
dem neunfach durchlöcherten Mantel) und zwölf mit Medaillen decorirter Sol¬
daten auf der Eisenbahn von Rendsburg nach Oestreich abgesendet. Daß man
hierbei nicht die absolut Ausgezeichnetsten des ganzen Corps auswählte, son¬
dern jeder Waffengattung und jedem Regimente einen Decorirten entnahm,
mochte Vieles für sich haben. Wenigstens wurde allen Streitigkeiten und Klagen
der verschiedenen Abtheilungen vorgebeugt. — Ohne besonderes Aufsehen fuhren
die „Decorirten" mit ihren Trophäen durch Preußen.
Aber in Wien waren die Vorbereitungen, Erwartung und Lärm nur um
desto größer. Kaum war die Nachricht von der Absendung der Trophäe» nach
Wien gelangt, als auch schon Tag für Tag Neugierige auf den Nordbahnhof
eilten, um die Ankunft des „Zuges mit den dänischen Kanonen" abzuwarten.
Aber die Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt, denn außer der ohnedem
durch den Ausenthalt in allen größeren Zwischenstationen sehr verzögerten Fahrt
der Geschütze wurde zuletzi auch noch eine Brücke in der Nähe von Ollmütz
beschädigt, was eine abermalige Verzögerung von zwei Tagen veranlaßte. End¬
lich kamen sie an.--
Dem in Oestreich althergebrachten Gebrauche, den Soldaten lange vor der
rechten Zeit ausrücken und nutzlos warten zu lassen, wurde auch hier gehuldigt.
Es war ein eisig kalter ^ebruarmvrgen und die Abholung den Trophäen war
auf zehn Uhr festgesetzt worden. Gleichwohl mußte eine Artillerieabteilung
mit einer Musikabtheilung sich schon um sechs Uhr auf den, Bahnhöfe einfinden.
Daselbst wurde ein Dejeuner servirt, an welchem jedoch nur die Decorirten,
diese aber in recht ausgiebiger Weise teilnahmen. Es stachen daher, als der
Triumphzug endlich begann, die Decorirten, denen man es zum Theil deutlich
ansah, das; sie „stark gefrühstückt" halten, auffallend von den Leuten der sie
begleitenden Truppe ab. Denn die Letzteren, vor Kälte und Hunger bleich.
Hüpfleu von einem Beine auf das andere und schlugen die Hände aneinander,
um sich nur etwas zu erwärmen. Die Geschütze und Wagen waren mit grünem
Tannenreisig, bunten Pavlerstrcife» und künstlichen Blumen in keineswegs ge¬
schmackvoller Weise bedeckt. Auch waren einige hölzerne Tafeln mit verschiedenen
Inschriften angebracht. Selbstverständlich fehlte es dem Zuge nicht an zahl¬
reicher Begleitung aus allen Ständen. Ein sinnreicher, von Begeisterung über¬
sprudelnder.Kopf hatte gar den Einfall, man solle die dänischen Trophäen gegen
ein Eutreic von zehn Neukreuzern in irgend einem öffentliche» Locale zur Be¬
sichtigung ausstellen und mit dem Erlös dieser Ausstellung die Verwundeten
beschenken. Indessen ließen sich nur zwei Journale zur Aufnahme dieses Vor¬
schlages bereit finden. Bon dem Bahnhofe wurden die Geschütze durch die
Leopoldstadt und innere Stadt nach den Hvfstallnngen gebracht, dort am nächsten
Tage von dem Hofe besichtigt und hierauf durch drei Tage dem großen Pul'unum
zum Anschauen preisgegeben.
Mit der Ueberführung dieser Geschütze in das Artilleriearsenal endete die
erste Abtheilung der Siegesfeier.
Die Ankunft der ersten Verwundeten bot eine gute Gelegenheit, dem
Decorationsstücke eine rührende Scene folgen zu lassen. Obgleich die Ankunft
dieser verwundeten schon um zwei Uhr Nachmittags erfolgte, »rußten dieselben
doch vis sechs Uhr auf dem Bahnhöfe verbleiben, um die Ankunft „allerhöchster
und höchster Herrschaften" zu erwarten. Hatte man auch meistens solche Leute
ausgesucht, denen eigentlich nichts mehr fehlte, so befanden sich doch einige
wirtlich Leidende unter ihnen. Man denke sich die Lage derselben, die nach
einer lange» Eisenbahnfahrt sich gewiß vor allem Andern nach Ruhe und Be¬
quemlichkeit schule», vielleicht auch Hunger und Durst empfanden, nunmehr
aber sich zu der Besichtigung vorbereiten »rußten! Einige Säle des Bahnhofes
Waren in der Eile in Krankensäle umgewandelt und Betten in dieselben geschafft
morden. Aber es waren eben uur Decorationen, auf welche sich die Leidenden
fast nur scheinbar legen durften, jeden Augenblick gestört durch die ab und zu¬
gehenden Adjutanten, Kammerherren, Evan6ausscbüsse, Lakaien und andere ge¬
schäftig sich Umhertreibende. Equipage um Equipage, meist Staatstarossen langten
vor dem Bahnhofe an, um welchen eine sein große Menge von Polizeisoldaten Spalier
gebildet hatte. Auch die Lakaien und Kutscher trugen die Fcsttagslivrec. Immer
zahlreicher wurde die Schaar der „patriotischen Wohlthäter", welche sich —
selbstverständlich in größter Galla und mit allen ihren Orden geziert in zwei
genau nach den Vorschriften der Hofetiquette formirter Gruppen aufstellten.
Endlich — nach sechs Uhr — erfolgte die Ankunft der „Allerhöchsten", und die
Parade, diesen Namen verdiente die ganze'Scene eher als den eines Kranken¬
besuches, nahm ihren Anfang. Die fast ganz Gesunden waren neben dem Ein¬
gange des Saales ausgestellt und mußten die üblichen militärischen Honneurs
erweisen, die noch in der Reconvalescenz Befindlichen saßen auf ihren Betten,
von welchen sie auf einen Wink des vorangehenden dienstthuenden Adjutanten
wie durch einen elektrischen Schlag getroffen in die Höhe schnellten und auf
einen zweiten Wink sich wieder scheinbar der Ruhe überließen, die schwerer
Bciwundetcn aber mußten einige sichtbare Versuche machen, sich aufzurichten
oder mußten wenigstens eine Hand in die Höhe strecken, .gleichsam als ob die
Freude über den beglückenden Besuch sie zur Aufbietung ihrer letzten Kräfte ge¬
trieben hätte. Alle aver mußten in das obligate dreimalige „Vivat" einstimmen
und bei der nun folgenden Einzclbesichtignng auf die etwaige Frage »ach ihrem
Befinden mit dem ihnen vorher eingeprägten „D a ille ge h v rs a nöt, sehr gut"
antworten, wenn auch der auf ihren Mienen ausgeprägte Schmerz ihre Worte
gewaltig Lügen strafte. Nun kam ein Hvflakai. welcher den Verwundeten,
einem wie dem andern aus seiner großen Tasche eine genau vorgezählte Partie
Cigarren einhändigte. Es war ein Glück, daß diese kaiserlichen Cigarren keine
kaiserlich - östreichischen, sondern gute Havanna-Cigarren waren.
Nun machten auch »och die ,,patriotische» Wohlthäter", die in dem Gefolge
befindlichen Generäle, Hofbeamte und andere die Runde, wobei es natürlich,
an einer Fluth von Frage» »icht fehlte. Besonders Wißbegierige betasteten
auch wohl einen oder den andern Verwundeten. Endlich suchten sich die Wohl¬
thäter ihre Schützlinge aus, wobei jedoch thunlichst die Leichtverwundeten aus¬
gewählt wurden. Die Schwerverletzten wurden ganz einfach i» das Spital ge¬
schickt. Darauf setzte sich der Zug in Bewegung, natürlich wieder möglichst
affectvoll. Je ein Wohlthäter oder eine Wohlthäterin an der Seite el»es der
verwundeten Krieger und hintendrein — wieder nach den A»ort»ungen des
Ceremonienmeisters geordnet — die festlich geschmückte Schaar der begleitenden
Herren und Damen. Abermalige Verbeugungen und Vivatrufc u»d die Wohl¬
thäter u»d Wohlthäterinnen stiegen mit ihren Pflegebefohlenen in die — wie¬
der nach der Rangordnung ihrer Besitzer vorfahrenden — Equipagen und fuh-
ren unter großem Jubel der staunenden Volksmenge nach ihren Behausungen,
wo die Verwundeten möglichst rasch der Obsorge irgendeines — Hausbedienter
oder auch wohl an das nächstbeste Spital übergeben wurden! Der Mohr hatte
seine Schuldigkeit gethan und konnte gehn.
Es kamen noch zwei Kanvnentransporte und mehre Abtheilungen Ver¬
wundeter. Aber die eine Sendung eiserner Kanonen wurde in Wien gar nicht
abgeladen und die andere wurde ohne altes Aufsehen und Gepränge von einer
Artillerieabtheilung übernommen und durch die Stadt in das Arsenal geführt,
ungeachtet sich dabei einige weit schönere und sehenswürdigere Stücke als bei
dem ersten Transporte befanden. Und um die neuen Verwundeten kümmerte
sich vollends gar niemand. Dieselben wurden in die Spitäler gebracht und
nur einige wirkliche Wohlthäter, welche ihre Wohlthaten ohne Aufsehen übten
und keinem patriotischen Hilfscomitö (ein Comite, welches sich schon 1839 ge¬
bildet hat, und viele nach Beachtung strebende Mitglieder hat) angehörten,
nahmen Verwundete in ihre eigene Pflege.
Noch war das Abgeschmackteste zurück. In unsern Adel ist, zumal .seit
unsere Diplomaten auf große Effecte in Deutschland bedacht sind, ein auffallen¬
des Verlangen nach prunkhaften Aufzügen und kostspieligen Festen gekommen.
Vermählungsfeste, Mvnumententhüllungen u. tgi. konnten für den Augenblick
nicht geboten werden, da es an Anlässen fehlte, Dantscste für verliehene Ver¬
fassung und Empfangsfeierlichkeiten waren unthunlich und eine Aufführung des
im vorigen Jahre zum Besten der armen Weber dreimal wiederholten Ka-
russels, wobei nebenbei bemerkt die wiener Juweliere, Friseure und Seiden¬
händler — einige Hunderttausende und die armen Weber beinahe zehntausend
Gulden gewannen, konnte auf keinen Anklang rechnen. Und man brauchte
doch ein recht glänzendes Fest. Da hatte man, wenn man etwas für die
Verwundeten thun wollte, noch die beste Entschuldigung dafür, daß man einen
fast wahnsinnigen Luxus entfaltete und damit die immer lauter werdenden
Klagen der Bevölkerung über die zunehmende Geschästssiockung und allgemeine
Verarmung widerlegte!
Geniale Erfindung schlug zum Vortheil der Verwundeten einen gro߬
artigen Maskenball vor und diese Idee fand bei unserer Aristokratie
Anklang. Es ist allerdings eine seltsame Idee, für Verwundete zu tanzen und
so dem Wohlthätigkeitssinne durch die Bewegung der Füße Ausdruck zu geben,
aber einerseits sind derlei Vorgänge in dem vergnügungssüchtigen Wien nicht
neu und dann heiligt ja nach einer Lehre, die sich bei uns immer noch hoher Gunst
erfreut auch der Zweck die Mittel. — Aber die Ausführung dieser Idee über¬
schritt leider das Maß des Erlaubten.
Es wurde nur eine bestimmte Zahl von Karten (et 8 si.) ausgegeben und
da fabelhafte Gerüchte über den Luxus und das Schöne, das man bei dieser
Festlichkeit erblicken würde, in Umlauf gesetzt waren, so bemächtigte sich die Spe-
culation der Sache, so daß zuletzt die Karten um den drei- und vierfachen
Preis verkauft wurden, wobei nicht die Verwundeten, sondern einige Kellner
und Börscnagenten des letzten Ranges gewannen.
Der sehr geräumige aber höchst einfache Redoutensaal erschien allzu schmuck¬
los, man begann denselben zu decoriren. Blumen, Teppiche, Spiegel u. s. w.
wurden in Menge verwendet, waremaver nichts Neues. Vielleicht mochte den Fest-
arrangcurs etwas wie „Kriegstanz" oder „Waffenhalle" vorschweben, sie glaub¬
ten den Saal recht sinnig durch die Anbringung kriegerischer Embleme auszu¬
schmücken. Die dänischen Trophäen schienen sich besonders dazu zu eignen.
Man begnügte sich aber nicht damit, etwa in jeder Ecke eine Kanone aufzu¬
pflanzen oder aus einigen Säbeln, Bajonneten und Flinten eine hergebrachte
Pyramide zusammenzustellen, sondern mau ging so weit, selbst Nüstungs- und
Monturstücke, die man theils in Magazinen erbeutet, theils den Gefangenen
abgenommen, ja selbst auf dem Schlachtfelde aufgelesen hatte, zu verwenden!
Tschakos, in deren Innerem vielleicht noch etwas Kopfhaar eines dänischen
Jnfanteristen klebte, Patrontaschen, von welchen vielleicht erst das Blut abge¬
wischt werden mußte, Röcke. in welche sich die Phantasie nothwendig die ster¬
benden und im Blut erfrorenen dänischen Dragoner denken mußte, diese
und ähnliche Dinge waren die Verzierungen des Saales, in welchem sich
die Blüte der östreichischen Geburth- und Geldaristokratie amüsirte!---
Der Indianer, welcher sich bei seinen Festen mit den Skalps seiner Feinde
schmückt und der Malaye, welcher um die abgeschnittenen Köpfe seiner Schlacht-
opfer herumtanzt, werden fortan alt Unrecht von uns „Kannibalen und Bar¬
baren" gescholten.---Indessen scheint doch ein gewisses Gefühl des Un¬
schicklichen, welches man begangen, über einen Theil der Ballgäste gekommen
zu sein, denn als das Fest am 19. April (dem Geburtstage des gütigen
Ferdinand!) wirklich stattfand, zeigte sich eine verhältnißmäßig geringe Theil¬
nahme und Fröhlichkeit, ein großer Theil der Versammelten verließ den Saal
noch vor der Beendigung des Festes.
Vielleicht ist dies die letzte dramatische Activ», welche in diesem Genre
geliefert wurde, zumal da die bisherige Selbstüberschätzung durch die neuesten
Erfolge gegen die düppeler Schanzen auf das richtige Maß gestimmt werden
dürfte! —
Die Nachrichten, welche in der vergangenen Woche von unserm Kriegs¬
schauplatze zugegangen sind, enthalten die bedeutende Zeitung von dem allseitigen
Zurückweichen der Dänen und der Räumung Fridericias. Das große Uebergewicht
der preußischen Artillerie, welches sich vor Düppel dargethan hat, würde eine
Vertheidigung Fridericias zu einer Grausamkeit gegen die Bewohner und die
Besatzung gemacht haben. Wir können die Maßregel nur für richtig erklären
und uns freuen, daß die Regierung in Kopenhagen erst so spät zu der Erkenntniß
kommt, wie überhaupt die Annahme des Kampfes gegen die Uebermacht ein
Fehler war. Dänemark konnte sich immer nur auf sein Recht, nie auf seine
Kraft stützen; als es das erstere in seinem politischen Handeln aufgab, opferte
es die letztere. — Für ein besonderes Glück muß Preußen ansehen, daß Däne¬
mark nicht dem östreichischen Heerführer die Möglichkeit gegeben bat. vor Fride-
ricia eine größere Energie der Belagerung zu entwickeln, als dies vor Düppel
geschehen. Und Deutschland ist zum wärmsten Dank an die politischen Leiter
in Kopenhagen verpflichtet, daß sie den vernünftigen Rathschlägen der Generale,
Düppel zu räumen, keine Folge gaben, und dadurch die preußische Heerführung
noch in der letzten Stunde veranlaßten, durch eine glänzende und blutige Waffen-
that die preußische Regierung an das Schicksal Schleswig-Holsteins zu fesseln.
Wie wenig geneigt man im Hauptquartier von Gravenstein zu großen mili¬
tärischen Acten ist, beweist die Ruhe, welche dem Sturme folgt. Statt unter
dem Eindruck des Sieges neue Erfolge zu erstreben und Alsen zu nehmen,
wird dem Gegner Gelegenheit gegeben sich ungefährdet zurückzuziehen. Wahr¬
lich nicht die Größe der . Ziele bei den preußischen Truppenführern, sondern
die zu großen Zielen führende Leistungsfähigkeit der preußischen Truppen fordert
unsere Anerkennung. Wir dürfen aus allem, was wir bis jetzt von unsern
preußischen Landsleuten in Schleswig gesehen und erfahren haben, schließen,
daß die preußische Armee gut fundamentirt ist und daß die Ausbildung der
Truppen den Anforderungen des Krieges entspricht. Es ist dies ein Urtheil,
das auch die Blätter des Auslandes in derselben Ausdehnung fällen und das
gerade jetzt, wo die Militärfrage die brennende Frage für Preußen ist. jedem
gebildeten Deutschen zur Pflicht macht, sich nähere Kenntniß von der Art der
Ausbildung der preußischen Soldaten zu verschaffen. Wir wollen heute ver-
suchen, so gut es geht, für die Infanterie ein Bild hiervon zu geben und
dann in unserm nächsten Schreiben die Frage beantworten, wie weit eine Ver¬
minderung der Dienstzeiten der preußischen Armee zulässig ist, ohne eine Ver¬
minderung der Tüchtigkeit herbeizuführen.
Die Ausbildung der Truppen umfaßt folgende drei Gebiete: die Technik,
die Disciplin und den kriegerischen Geist.
Unter Technik versteht man den ganzen militärischen Mechanismus, bestehend
in dem Gebrauch der Waffen, in der Kunst zu marschiren, zu reiten und zu
fahren, in der elementaren taktischen Formenlehre, in der Verschanzungskunst
u. f. w. soweit jeder Soldat desselben bedarf, um in allen Lagen des Krieges
zur Erfüllung seiner Pflichten befähigt zu sein. — Zur Disciplin wird gerech¬
net nicht nur der unbedingte Gehorsam, sondern auch die Gewöhnung der ge¬
stimmten Körper- und Geisteskräfte, sich einfachem Befehl sofort zu spannen und
hinzugeben und endlich die treueste Erfüllung der Pflichten bis zum letzten
Blutstropfen — Der kriegerische Geist äußert sich in der Lust zur körperlichen
Leistung, in der Freude an der Gefahr und in der Einfachheit und Klarheit
des jedem Unternehmen gesteckten Zieles.
Als das wichtigste dieser drei Gebiete wird gemeiniglich das erstere, die
Technik, angesehen und deshalb lesen wir so häufig die Ansicht, daß die mili¬
tärischen Uebungen schon in der Schule beginnen müßten, damit man die Dienst¬
zeit im stehenden Heere abkürzen könne. Demnächst wird die größte Bedeutung
dem kriegerischen Geiste zugeschrieben und die Begeisterung höher im Werthe
gestellt, als das militärische Pflichtgefühl. Die Disciplin des Exercierplatzes
und der Garnison glaubt man wohl noch am ersten für den Krieg entbehren
und durch Nützlichkeitsprincip, durch Ueberzeugung des Untergebenen, durch
Begeisterung u. f. w. ersetzen zu können. Wenn man diese Urtheile an der
Erfahrung prüft, so stellt sich die Sache anders.
Eine gute Disciplin ist der entschieden wichtigste Ausbildungszweig. Die
Geschichte lehrt, daß disciplinirte Truppen zu allen Zeiten die mit den besten
Waffen versehenen und in deren Handhabung vorzüglich bewanderten, aber un-
disciplinirtcn Truppen besiegt haben. Dies zeigt am vollständigsten der Kampf
europäischer Cavallerie gegen die in jeder Beziehung vorzügliche aber zügellose
orientalische Reiterei. Dies lehrt der polnische Rcvolutionskrieg im Jahre 1831,
wo die damalige russisch-polnische jArmce zur Jnsurrection übertrat und ihren
Untergang nicht den Leistungen ihrer Gegner, sondern der Auflösung in den
eignen Reihen verdankte. Auch der große Aufstand in Ostindien gewährt die¬
selbe Lehre, die eingebornen Regimenter verlieren mit dem Verlassen der eng--
lischen Reihen die Kraft, die sie vorher gegen ihre eignen Landsleute gehabt
hatten, sie behalten ihre Technik, ihr kriegerischer Geist ^vird noch gesteigert —
Haß gegen fremde Unterdrücker — aber ihre Disciplin erschlafft; dies große
Uebergewicht, welches aus der bessern Disciplin erwächst, tritt in der neuesten
Zeit nirgend mehr hervor als bei dem jetzigen Kriege in Nordamerika. Die
Heere der Conföderirten verdanken ihre Erfolge gegen die viel größere, mit weit
intelligenteren Bestandtheilen versehene und mit ungleich größeren Hilfsmitteln
ausgestattete Unionsarmee nur ihrer bessern Disciplin; einer Disciplin, die
allerdings nicht der Zucht eines stehenden Heeres, sondern den in politischer
Hinsicht bedenklichen bürgerlichen Verhältnissen der Südstaaten ihren Ursprung
verdankt. Die Kunst des Befehlens ist unter Aristokraten und Sklavenhaltern
stets geübt und diese Kunst bildet die Basis der Disciplin. So viel vermag
guter Befehl, daß eine Truppe dann gut werden kann, wenn ihre untern Befehls¬
haberstellen gut besetzt sind, wenn der Rahmen nnr fest ist. So konnte Napoleon
1813 und 1814 stets neue Heere hervorzaubern und mit ganz jungen Truppen
große Resultate erlangen, weil er aus den verlorenen Armeen die Offiziere und
Unteroffiziere für seine Massen von jungen Conseribirten rettete. Freilich ist
eine mehr auf Vorzüglichkeit des Befehls, als auf Gewohnheitsdisciplin der
Gehorchenden basirte Truppe sehr theuer, denn sie consumirt viele Mannschaft,
und unsicher, denn ihre Leistungen werden durch den Verlust verhältnißmäßig
weniger Befehlenden völlig vernichtet. Solche Heere sind also doch nur ein
Nothvehelf.
Bei sonst gleich guter Ausbildung ist nach den Lehren der Geschichte die¬
jenige Truppe die beste, welche am meisten in der Hand der Vorgesetzten liegt,
deren Leitung also am meisten gesichert ist. Diesen Gedanken nahm Friedrich
Wilhelm der Erste, der Gründer der heutigen preußischen Armee, als leitend
für seine Schöpfnngc» an. In der sogenannten Gamasche, in der Parade¬
dressur erkannte er das Mittel, den Vorgesetzten zum unumschränkten Herrn
von Körper und Geist seines Untergebenen zu machen und die Siege der berliner
Wachtparade unter Friedrich dem Großen bestätigten die Richtigkeit seiner Theorie
und ließen diese im ganzen gebildeten Europa zur Anwendung kommen.
In der preußischen Armee aber machte man später aus dem Mittel den
Zweck, tödtete dadurch den Geist und führte den Untergang im Jahre 1806
herbei. Die neu geschaffene Armee aber blieb weit mehr, als man jetzt hier
und da annimmt, der alten Erfahrung treu, und gerade der Werth der preu¬
ßischen Disciplin'bestätigte sich in den Kriegen 1813—15. — In dem langen,
darauf folgenden Frieden entwickelte sich wieder eine so scharfe Exercir- und
Paradeschule, wie sie je vorher bestanden, in einseitiger Tüchtigkeit, aber immer
geistloser und pedantischer. Mit dem Absterben der in der Schule des Unglücks
und des Krieges hart gewordenen Charaktere aus den Reihen der Comman¬
deure aber nahm auch die Schärfe der Exercirdisciplin immer mehr ab, ohne daß
ein anderes Bildungselement ergänzend eintrat, und sie wäre verloren ge¬
gangen, wenn nicht der jetzige König Wilhelm der Erste sie als cvmmandircnder
General des 3. und des Garde-Corps in jener Zeit gepflegt und unter seiner
Regierung wieder überall wach gerufen hätte. —
Glücklicherweise rief das Jahr 1848 neues politisches Leben hervor und
schuf Kriegsbildcr, aus denen die preußische Armee, ohne selbst bittere Erfahrungen
zu machen, lernen konnte, daß die freie Thätigkeit des zum Charakter entwickelten
Soldaten eine bedeutende militärische Leistungsfähigkeit besitze, welche jede Armee
ausbeuten müsse, um im Wettkampf bestehen zu können. Ohne die rege Theil¬
nahme des Prinzen Friedrich Karl für diese Richtung wäre sie aber nicht
zu der Geltung gekommen, die ihr jetzt zu Theil geworden ist. So hat sich in
der preußischen Armee aus alten Traditionen und neuer Intelligenz ein Modus
der Ausbildung entwickelt, der für die Infanterie sich in der Pflege von drei
Dicnstzweigen darstellt: 1) In der Paradedressur. 2) dem Schießen und 3) dem
Turnen und Fechten. — Auf die erstere wird die meiste Zeit verwendet, dann
folgt das Schießen und endlich der dritte Zweig, die Verwerthung der indivi¬
duellen Intelligenz und Thatkraft, das jüngste Kind der Zeit. Diese drei Dienst¬
zweige repräsentiren im Ganzen betrachtet die Disciplin, die Technik und den
kriegerischen Geist. — Wie sie jetzt in der preußischen Infanterie zu einander
stehen, soll kurz gesagt werden.
Das Hochhalten der Paradedrcssur hat der preußischen Armee ihre Kriegs¬
tüchtigkeit im langen Frieden erhalten. Der furchtbare Zwang bei den aller-
einfachsten Bewegungen des Körpers, wie z. B. das Strecken der Fußspitzen,
der Stelzenmarsch, die steife Kopfhaltung, die normale Winkelstellung der Arme
u. tgi. nöthigt den Soldaten, sobald er im Dienste ist, Körper und Geist in
der allerschärfsten Spannung zu erhalten. Keinen Augenblick darf der Ge¬
danke wo anders verweilen, sonst ist es unmöglich alle die kleinen Vorschriften
des Dienstes zu erfüllen, sonst wird die Gleichmäßigkeit in den Leistungen des
Ganzen gestört. — Dieser Zwang giebt den Soldaten ganz in die Hand des
Vorgesetzten, lehrt ihn jeden Dienst als eine Summe von einzelnen Pflichten
zu erfassen und in allen Mühseligkeiten leicht zu ertragen. — Auf der andern
Seite gewährt die Künstlichkeit des Dienstbetriebs dem Vorgesetzten das Mittel,
sein Uebergewicht mehr geltend zu machen, in dem Anziehen und Nachlassen
der Schärfen die Autorität zu üben, zu strafen und zu belohnen und selbst aus
dem Exercierplatz eine Anstrengung der Kräfte in einen kurzen Zeitraum der¬
artig zu concentriren. wie es nur selten der Krieg thut. Wer den Zauber
empfunden hat, den ein genialer Exerciermeister durch die Präcision des Com-
mandos, die Schärfe des Sehens, selbst des kleinsten Fehlers, durch die An¬
spannung der Kräfte bis zum höchsten Maße und das Nuhclassen in dem Mo¬
ment, wo dies Maß erreicht ist u. tgi., auszuüben versteht, der wird in unser
Urtheil einstimmen, daß es keine vollkommenere Kunst der Unterjochung des
Untergebenen giebt, als diese Exercicrkunst.
Neben diesem Exercieren, Dritten genannt, gehört zur Paradedressur noch
die größte Penibilitär im Anzüge und in dem Putzzustand. Diese nöthigt den
Soldaten auf seine Kleider, Ausrüstungsgegenstände und Waffen eine stete «sorge
zu wenden, die acht nur bei den genährten, geringen Mitteln überhaupt
nothwendig ist, sondern auch allein die stete Verwendbarkeit des Mannes sicher
stellt und eine Garantie giebt, daß mitten in allen Mühseligkeiten des Krieges
der Soldat immer noch eine Verpflichtung fühlt, über dieselben zu wachen.
Andrerseits fordert ein guter Anzug und tadellose Ausrüstung und Bewaffnung
der Leute eine so unausgesetzte Beschäftigung des Vorgesetzten damit, de>v eme
stete Beaufsichtigung der' Leute nothwendig wird und hieraus ein neues Band
der Disciplin erwächst. — Noch steht dieser Zweig der Ausbildung im Vor¬
dergrund.
Die Ausbildung des preußischen Jnfanteristen im Schießen ist eine sehr
gründliche, jeder Mann thut jährlich 100 Schuß nach der Scheibe und es wer¬
den alle Mittel angewandt, um seine Lust, c>n gutes Resultat zu erreichen, zu
reizen. Ucbngens bestätigt sich gerade hier, daß um so mehr geleistet wird,
je mehr die Vorschriften bis in das Detail beobachtet werden und je weniger
eine Berücksichtigung der Individualitäten dabei stattfindet.
In das Turnen und Fechten ist, wie gesagt, erst durch die lebhafte Auf¬
merksamkeit, welche der Prinz Friedrich Karl bei den ihm untergebenen Trup-
pcntheilen ihnen gewidmet hat, ein allgemeineres Leben und Interesse gekom¬
men und der große Fleiß, welcher von den jüngern Offizieren darauf verwen¬
det worden ist. hat in vielen Garnisonen ganz überraschend gute Resultate her¬
vorgerufen. Wir haben Leistungen ganzer Compagnien im lleberschrciten von
Mauern, Gräben und Gewässern gesehen, welche den Stempel der entwickelten
Kraft und selbst der Lust an der Gefahr an sich trugen und den Beweis liefer¬
ten, daß wirklich kriegerischer Geist entwickelt war. Der freie und rasche Sturm
der düppeler Schanzen beweist, daß der Lohn solcher Ausbildung nicht auf
sich warten läßt. — Aber in dieser Schlacht, wie in der gesammten kriegerischen
Thätigkeit des preußischen Soldaten macht sich auch ein Geist geltend, der nicht
Folge der soldatischen Erziehung, sondern das Resultat der Mischung aller
Stände, der allgemeinen Wehrpflicht ist. Der kriegerische Geist des preußischen
Soldaten erhält'Weihe und Adel durch das Element der Bildung, das in sei¬
nen Reihen wohnt.
Und wenn hier über die gegenwärtige Ausbildung der preußischen Armee,
zunächst der Infanterie, ein kurzes Urtheil abgegeben werden soll, so ist es
folgendes: die Methode der Disciplin und Dressur ist ebenso tüchtig, als noth¬
wendig. Aber neben ihr ist die anderweitige Ausbildung des Soldaten bis auf
die Neuzeit nicht im Gleichmaß entwickelt worden. Und diese Einseitigkeit wird
nicht, wie man gern annimmt, an der Mannschaft fühlbar, sondern an den
Vorgesetzten.
Denn es ist nicht zu lciugnen. so gut die Ausbildung in den vorstehend
behandelten Gegenständen ist. un Gebiet der Militärtechnik wird doch im Ganzen
nur ein geringes Maß angestrebt. Auf diesem Gebiet wird allein dem Schießen
eine größere, durch die ganze Armee gleichmäßige Aufmerksamkeit geschenkt. Die
Parade-Exercitien sind für die Arbeiten des Krieges von verhältnißmäßig geringer
technischer Bedeutung, da in dem Gefecht die Infanterie blos in den allerein-
fachsten Formen verwandt wird. Dagegen sind die Uebungen im Gebrauch von
Truppenmassen und großen Tiraillenrlinien. im Marschire'n, im Fcldbicnst und
in der Verschanzungskunst auf ein Minimum zurückgeführt und würden, wenn sie
reell betrieben werden, doch reiche Gelegenheit bieten, auch die Disciplin durch
Geltcndmachen der Intelligenz der Führer zu entwickeln. Dem größer» Betriebe
dieser Zweige steht der Mangel des Terrains entgegen, ein Mangel, der die
Truppen in den fruchtbaren Gegenden mir ihre» Uebungen, außer in den
wenigen Tagen der Manöver, ganz allein auf die Exercierplatze beschränkt. —-
Für die Ausbildung des gemeinen Mannes ist dieser Uebelstand weniger fühlbar,
da er vollständig in der Hand seinem vorgesetzten arbeitet, und der intelli¬
genten Leitung des letztern überall zu folgen im Stande ist, aber für die Aus¬
bildung des vorgesetzten fällt er außerordentlich ins Gewicht. Die durchaus
formelle Ausbildung der Truppen läßt auch die Offiziere mit ihren ganzen An¬
schauungen nicht über dieselbe hinweg kommen, macht die höchsten Stellen zu
lebendige» Repräsentanten der Ganiasche und entfernt das belebende Element
des kriegerischen Geistes gerade dort, von wo es ausgehen und die Armee
anregen soll. Wie jetzt im Kriege, so auch im Frieden ist der in der Blüthe
seiner Jahre stehende, durch die Erfahrung gereifte und in der Kriegskunst unter¬
richtete Hauptmann oder Rittmeister der Träger der Intelligenz und der Leistung
in der preußischen Armee. In der Einförmigkeit seines Lebens, in der mangelnden
Anerkennung aller die Paradcdrcssur überschreitenden Bestrebungen und in >der
Gewalt der von obenher auch ihn ganz unterjochenden Gamasche aber wird er
mehr oder minder abgenutzt und tritt, wenn nicht vorher verabschiedet, in dieser
Verfassung in die höhern Chargen. Eine Ergänzung dieser letztem findet
außerdem noch aus dem Generalstab und der Adjutantur statt, aus zwei Branchen,
welche in langjähriger Beschäftigung am grünen Tisch meist dem Dienst fremd
werden, und dann bei dem Rücktritt in die Armee die Gamasche entweder
nicht verstehe» und an ihrer Handhabung scheitern, oder aber sie nur in ihrer
Aeußerlichkeit auffassen und die allergrößten Kleinigkeitskrämer werden. Die
Gamasche, deren Handhabung wir als ein ausgezeichnetes Mittel zu unbedingter
Unterwerfung des Untergebenen unter den Willen des Vorgesetzten erkannt
haben, tödtet in ihrer übertriebenen Anwendung auch den Geist der Borgesetzten
und zerstört damit die Möglichkeit einer guten Leitung.
Ein General, der im vollen Sinne des Worts an der Spitze seiner
Truppen steht, kann sich leider nur sehr selten in der preußischen Armee bilden.
Das ist ein Uebelstand der laut eine Besserung des Ausbildungsmodus in der¬
selben fordert und zwar in der Art, daß neben der Ausbildung des gemeinen
Mannes auch die des Offiziers und zumal des Generals angestrebt wird, sowie
daß neben der Gamasche dem General ein Feld der Thätigkeit eröffnet und ihm
die Möglichkeit gegeben wird, seine entwickeltere» Kenntnisse und Erfahrungen
geltend zu machen. — Das ist nur möglich durch die andauernde Concentri-
rung von Truppen in einem große» Terrain, welches frei betreten und benutzt
werden kann d. h. durch Errichtung von Lagern und dazu gehörigen Manövrir-
feld. — Mit der Einführung der' Lager halten wir auch eine Verminderung
der Dienstzeit der Mannschaften der Infanterie. Artillerie und Pioniere für
zulässig, ohne dieselbe nicht. Warum, das soll nächstens entwickelt werden.
Der Protestantismus befindet sich der Sammlung ncutestamentlicher Schrif¬
ten gegenüber in einer eigenthümlichen Stellung. Als die Reformatoren die
katholische Hierarchie in ihrem Nerv angriffen und die Tradition, auf welche
sie sich stützt, verwarfen, hielten sie sich im Gegensatz gegen die Tradition um
so fester an die heilige Schrift. Sie beriefen sich damit auf das ursprüngliche
Christenthum gegenüber seinen späteren Ausartungen. In den von Aposteln
und Apostclschülcrn verfaßten Schriften des neuen Testamentes sahen sie die
älteste unverfälschte christliche Lehre fixirt. Hier nahmen sie ihre feste Position
zur Bestreitung des römischen Kirchcnthums. Die Reformatoren ahnten noch
nicht, daß sie den Kampf gegen die Tradition mit einer Waffe führten, welche
ihnen die Tradition selbst lieferte. Ihnen stand —- vereinzelte Zweifel ab¬
gerechnet, welche noch keine weitere Folge hatten — die Echtheit und der gött¬
liche Ursprung jener Schriften schlechthin fest. Erst als ein entwickelteres kri¬
tisches Bewußtsein die Frage aufwarf: worauf gründet sich denn die Voraus¬
setzung, daß diese Schriften von Gott eingegeben und apostolischen Ursprungs
sind? kam jener Widerspruch offen zu Tage. Denn auf diese Frage gab es
keine andere Autwort, als daß die Schriften des neutestamentlichen Kanon zu
einer bestimmten Zeit den Vätern der katholischen Kirche als heilig und aposto.
tisch galten, denselben Vätern, deren Urtheil doch in andern Fällen keineswegs
unangefochten blieb. Diese selbst beriefen sich auf noch ältere Väter, aus deren
Ueberlieferung sie schöpften, und indem in.in diese Zeugnisse verfolgte, welche
sich bald in indirecte Zeugnisse verliefen, kam man auf einen Punkt, wo die
schriftliche Bezeugung überhaupt aufhörte und nur noch die mündliche Tradition
übrig blieb als Mittelglied zwischen dem angeblich apostolischen Ursprung einer
Schrift und ihrer apostolischen Geltung in der Kirche. Worauf anders grün¬
det sich also jener Anspruch als auf die Tradition? Ja noch mehr; ging man
dem allmäligen Anwachsen dieser Schriftsammlung nach, so fand sich, daß die
Tradition, d. h. die sich bildende Kirche großentheils diese Schriften erst erzeugt
hat. Sie war das Erste, schon vorher Vorhandene; erst in ihr und theilweise
zum Zweck ihrer, Ausbildung und Befestigung sind die Bücher des Kanon ent¬
standen. Der Protestantismus stifte sich also auf ein Princip, das mit der
Tradition, welche er bekämpfte, selbst stehen oder fallen mußte. Er hielt sich
an einen Theil der Tradition, um die ganze Tradition damit zu beseitigen.
Kein Wunder, daß, je folgerichtiger die Grundsähe des Protestantismus sich
entwickelten, unausweichlich auch die Schriften des neuen Testaments selbst in
den Bereich der kritischen Untersuchung gezogen wurden. Mochten'die Einen
wehklagen, daß dem Protestantismus damit seine feste Grundlage geraubt
werde, so konnten die Anderen mit größeren Rechte darauf sich berufen, das?
diese Untersuchung nur die legitime Fortsetzung des protestantischen Gedankens
ist. und daß es um den Protestantismus übel bestellt wäre, wenn mau ihn auf
einen Grund bauen wollte, welcher der wissenschaftlichen Forschung nicht
Stand hält.
Oberflächlich betrachtet scheint es freilich ein frevelhaftes Beginnen der
Uebcrkritik, an einer Ansicht rütteln zu wollen, welche dnrch den einstimmigen
Glauben von sechzehn Jahrhunderten bestätigt und geheiligt ist und überdies
fast das einzige Band der christlichen Gemeinschaft dnrch alle Verschiedenheiten
der Bekenntnisse hindurch zu bilden scheint. Allein eine durch Alter ehrwürdige
Ueberlieferung ist damit noch nicht eine zuverlässige Ueberlieferung, und was
auf historischem Wege entstanden ist, muß sich auch gefallen lassen, mit den
Mitteln historischer Kritik geprüft zu werden. Eben die Entstehungsgeschichte
des Kanon") aber läßt sich wenigstens noch so weit nachweisen. daß dadurch —
noch abgesehen von allen Einzelfragen der Kritik — die dogmatische Geltung,
welche derselbe in der katholischen und protestantischen Kirche erhalten hat, be¬
deutend erschüttert werden muß. Keineswegs nämlich ist der Kanon als ein
fertiges Ganzes aus der apostolischen Zeit übergegangen in die nachapostvlische;
sondern, wie der Begriff des Kanon erst weit später sich gebildet hat, so sind
auch die Grenzen dessen, was als kanonisch gelten sollte, mehre Jahrhunderte
hindurch schwankend geblieben. Der Kanon hat seine Geschichte, er hat sich
langsam und nicht ohne vielfachen Widerspruch gebildet. Lange Zeit war es
streitig, ob diese oder jene Schrift wirklich apostolischen Ursprungs sei. noch im
dritten Jahrhundert unterschied man Schriften, welche nach allgemeiner Ueber¬
einstimmung echt, und solche, welche „bestritten" waren. Noch sind uns einige
Schriften erhalten, welche eine Zeit lang als kanonisch galten und erst später
ausgeschieden wurden, und wiederum kam es vor. daß Schriften, deren Be¬
zeugung eine sehr alte und zuverlässige ist. einer späteren Zeit verdächtig wur¬
den. Eine Reihe von Evangelien und Apostelgeschichten, welche später ver-
schwanden, finden wir in der Ältesten Kirche da und dort im Gebrauch; noch
in der Mitte des zweiten Jahrhunderts treffen wir kirchliche Schriftsteller, welche
andere Evangelien benutzen als die unsrigen, und welche solche Schriften noch
nicht kennen, die jetzt in unsrem Kanon sich befinden. Erst am Ende des
zweiten Jahrhunderts — also welcher Abstand von der angeblichen Abfassung
— finden wir den Kanon zu einem gewissen Abschluß gediehen, bei Schrift-
stellern, welche, auf die Befestigung der kirchlichen Einheit bedacht, auch die lite-
rarische Ueberlieferung fixirten. Erst jetzt begann man jenen Schriften den
Charakter göttlicher Eingebung beizulegen, den man bisher den prophetischen
Büchern des alten Testaments zuschrieb. Jetzt erst stellte man dem alten Testa¬
ment ein neues Testament zur Seite. Bei Irenäus, dem Bischof zu Lugdunum
(Lyon), finden sich zuerst die Begriffe von Inspiration und Kanonicität. Aber
selbst dieser am Schluß des zweiten Jahrhunderts stehende Kirchenvater legt
noch so wenig Gewicht auf die Schrift, daß er meint, der christliche Glaube
wäre nicht gefährdet, wenn auch von den Aposteln keine Schriften vererbt
worden wären, da die apostolischen Schriften durch die Tradition ersetzt werden
könnten. So sehr überwog damals noch die lebendige Ueberlieferung. Erst in
dem Maße, als diese sich zu rrübcn oder zu erlöschen begann, als das Ver¬
lange» einer festeren Eonsiituirung der Kirche auch in dogmatischer Beziehung
erwachte und gegenüber den Ketzern eine wirksamere Waffe nöthig schien, als
die haltlose Berufung auf die Tradition, zeigte sich auch das Bedürfniß eines
geschlossenen Kreises schriftlicher Ueberlieferungen und zwar gesetzgebender, höchst
beglaubigter, von Gott eingegebener Glaubensurlündcn.
Dogmatische, kirchliche Motive waren es also, welche zum Abschluß des
Kanons führten. Dogmatische Motive waren es auch in der Regel, welche
den Schwankungen zu Grunde lagen, bevor der Kanon zum Abschluß kam.
Durchaus sehen wir die Kritik unter der Herrschaft der Dogmatik stehen. Nicht
die Kirchenlehre wird nach dein Kanonischen, sondern das Kanonische nach der
Kirchenlehre bemessen. Ein schlagendes Beispiel hierfür ist das Schicksal, wel¬
ches die Offenbarung des Johannes gehabt hat. Keine Schrift ist, selbst wenn
ihr hohes Alter nicht aus ihrem Inhalt sich erweisen ließe, durch bessere und
ältere Zeugnisse als Apostclschrift beglaubigt als diese. So weit sich die Spuren
der christlichen Literatur überhaupt zurückverfolgen lassen, treffen wir auf die
Offenbarung, und mit Papias, dem in der Kirchengeschichte des Eusebius er¬
wähnten Bischof von Hierapolis, der noch „ein Hörer des Johannes" war,
reichen die Zeugnisse bis in die Zeit des Apostels selbst hinauf. Allein in
dem Maße, als die schroff judenchristliche Denkweise, aus welcher diese fana¬
tische Zornesschnft heraus geschrieben ist, in der Kirche überwunden wurde,
nahm auch das Interesse an ihr ab. Je bedenklicher die Lehre vom tausend¬
jährigen Reich einer späteren Zeit erschien, um so verdächtiger wurde auch das
Buch, auf welches sie sich stützte, und als auf Grund jener Lehre sich Sekten
bildeten,' welche die Kirche von sich ausschloß, wurde der Offenbarung geradezu
der apostolische Ursprung abgesprochen. Wie konnte eine Schrift, welche dem
jetzigen Bewußtsein der Kirche so wenig entsprach, von einem Jünger des Herrn
verfaßt sein? Schon damals machte ein Kirchenlehrer in Alexandria auf die
grundsätzliche Verschiedenheit zwischen der Offenbarung und dem Evangelium
des Johannes aufmerksam, die unmöglich von einem und demselben Verfasser
herrühren könnten. Aber es waren nur dogmatische, nicht kritische Bedenken,
welche ihm die Augen für diese Verschiedenheit öffneten, sonst hätte er nicht
aus der Echtheit des Evangeliums auf die Uuechtheit der Offenbarung, sondern
umgekehrt aus der Echtheit der Offenbarung auf die Uuechtheit des Evangeliums
schließen müssen. Eine Schrift, welche zweifellos zu den ältesten unsres Kanons
gehört, wurde so allmälig in die Reihe der zweifelhaften, ja der unechten
herabgedrückt, und diese Zweifel kamen im Grund nie mehr völlig zur Nuhe,
eben weil die Kirche sich immer weiter entfernte vom Standpunkt jener juden-
clmstlichen Vision. — Ein umgekehrtes Beispiel haben wir am zweiten Petrus¬
brief. Wie dort eine alte Schrift aus dogmatischen Gründen mit der Zeit immer
ungünstiger behandelt wird, so wird hier aus dogmatischen Gründen eine sehr junge
Schrift in kurzer Zeit fast ohne Widerspruch dem Kanon einverleibt. Der
zweite Petrusbrief ist gegen das Ende des zweiten Jahrhunderts im Interesse
einer völligen Verschmelzung des paulinischen und petrinischcn Christenthums,
des Glaubens und der Werke geschrieben, und noch bei den Kirchenlehrern
am Ende des zweiten und zu Anfang des dritten Jahrhunderts, bei Irenäus,
Tertullian, Cyprian findet sich keine Spur von ihm. Bei Origenes taucht er
zum ersten Mal aus. Dieser sowohl als Eusebius führen ihn als „bestritten" auf;
gleichwohl hatte schon damals die Kirche sich für seinen Gebrauch entschieden,
und die späteren Kirchenlehrer gebrauchen ihn ohne Bedenken als Schrift des
Apostels Petrus, wennauch Einzelne noch privatim bescheidene Zweifel äußern.
Die praktische Brauchbarkeit und das Interesse, auch Briefe von Petrus im
Kanon zu haben, in welchem Paulus so reichlich vertreten ist, entschied über die
Bedenken der Kritik. Diese Beispiele mögen genügen, um zu zeigen, auf welchen
Gründen das Urtheil der Kirche, ob eine Schrift apostolisch sei oder nicht, beruhte.
Nichts beweist mehr, wie schwankend, unfertig der Kanon während der
ersten zwei Jahrhunderte war, als die Menge von Schriften, welche von den
ältesten Vätern als inspirirte Glaubcnsurkunden benutzt wurden und allmälig
aus dem Gebrauch der Kirche verschwanden. So wird der Hirte des Hermas,
eine rives erhaltene judenchristliche Schrift, von Irenäus, als kanonisch citirt.
von anderen Vätern wenigstens als Schrift von vollständiger dogmatischer
Beweiskraft benutzt. Tertullian betrachtet ihn in einer früheren Schrift gleich¬
falls als ein Buch von kirchlicher Autorität; in einer späteren dagegen fällt er,
weil die Autorität des Hermas einem seiner Lehrsätze entgegengehalten wird,
mit leidenschaftlicher Bitterkeit über das, wie er sagt, apokryphe und gefälschte
Büchlein her. Gleichwohl finden wir es noch bei Clemens von Alexandrie»
und Origenes, also bis in die Mitte des dritten Jahrhunderts im Gebrauch,
und erst um diese Zeit ward es ganz aus dem Kanon verbannt. Das verloren
gegangene Hebräcrevangelium, in welchem man die älteste Evangelienschrist, unsrem
Matthäus verwandt, vermuthet, war beiden sogenannten apostolischen Väter», bei
Justinus und Hegcsippus im Gebrauch; später wurde es unter die Apokryphen ge¬
setzt , doch finden wir es noch von Clemens von Alexandrien und Origenes mit
benutzt. Das Evangelium des Petrus, gleichfalls verloren gegangen, war
sogar »och im fünften Jahrhundert in morgenländischen Gemeinden im Ge¬
brauch. Die Briefe des Barnabas und des römischen Clemens gelten noch dem
Clemens von Alexandria als apostolische Schriften. Die Predigt des Petrus,
von Eusebius und Hieronymus unter die Apokryphen gestellt, wird noch von
Origenes wenigstens als ein Buch behandelt, dessen Unechtheit fraglich ist. Die
Offenbarung des Petrus wird noch in einem, dem Ende des zweiten Jahr¬
hunderts angehörigen Verzeichnis;, das nach seinem ersten Herausgeber der
muratorische Kanon genannt wird, der des Johannes als gleich kanonisch zur
Seite gestellt. Und so finden sich überhaupt Nachrichten von einer Menge von
Evangelien, Apostelgeschichten, Offenbarungen und Briefen, die erst allmälig
aus dem kirchlichen Gebrauch verdrängt wurden.
Setzt man die Zerstörung Jerusalems als den Endpunkt des apostolischen
Zeitalters, so sind es nur fünf Schriften, von welchen man zuverlässig be¬
haupten kann, daß sie vor jenem Zeitpunkt geschrieben sind: die aus bestimm¬
ten persönlichen Veranlassungen geschriebenen vier Briefe des Apostels Paulus
(an die Römer, Galater und Korinther) und die Offenbarung des Johannes,
deren Abfassung im Jahre 69 aus ihrem Inhalt evident ist. Ueberhaupt wird
man sich das Erwachen einer eigentlichen schriftstellerischen Thätigkeit nicht zu
frühe vorstellen dürfen. Weder in erbaulicher noch in dogmatischer Beziehung
lag hierfür in jener Zeit eine Veranlassung vor, und ebensowenig kann von
einem frühzeitigen Interesse, historische Aufzeichnungen zu machen, die Rede
sein. Für die Zwecke der Erbauung genügten die Schriften des alten Bundes,
die wir in der That bei der ältesten Gemeinde als einzige Religionsbücher im
Gebrauch finden. Die Dogmatik der ersten Bekenner concentrirte sich auf den
einen Satz, daß Jesus der verheißene Messias ist, und in Bezug auf das Leben
des Erlösers genügte das, was sich in der Ueberlieferung von Mund zu Mund
fortpflanzte. Diese Tradition schriftlich zu fixiren. lag um so ferner, je mehr
das irdische Leben Jesu für das religiöse Bewußtsein der Gemeinde zurückstand
gegen sein künftiges Wiedererscheinen. Die Augen waren nach vorwärts gerich¬
tet, nach dem Moment der Erfüllung, nach dem Kommen Jesu auf den Wolken
dos Himmels, womit erst seiner Messianitcit das vvllgiltige Siegel aufgedrückt
werden sollte. Erst als mit dieser Erwartung eine immer größere Frist ver¬
floß und das Wiederkommen des Messias geistig gedeutet wurde — eine Um¬
wandlung, welche sich in einigen neutestamentlichen Schriften deutlich verfolgen
läßt — kam man dazu, sich auf das'Diesseits zu besinnen, wieder nach rück¬
wärts zu blicken und das inzwischen undeutlich gewordene, sagenhaft aus¬
geschmückte Bild von dem irdischen Leben Jesu durch die Schrift zu fixiren.
Und erst als infolge des Kampfes zwischen dem Paulinismus und dem Urchristen¬
tum das Band lockerer wurde, welches Christenthum und Judenthum bis
dahin verknüpfte, empfand man das Bedürfniß neuer Lehrschriften, welche das
Bewußtsein der neuen Kirche aussprachen und eine Reihe fortlaufender Docu-
mente für die allmälige Entwickelung der katholischen Lehre bilden.
Wenn wir die Spuren der urchristlicher Literatur, so weit es möglich ist,
von ihrer späteren Fizirung im Kanon nach rückwärts verfolgen, so ist das
letzte, also älteste Zeugniß, auf welches wir stoßen, die Mittheilungen, welche
Eusebius in seiner Kirchengeschichte über jenen Papias macht, der in der ersten
Hälfte drs zweiten Jahrhunderts Bischof von Hierapolis war und einer schroff
judcnchristlichcn Richtung angehörte, so daß die Zeit des Eusebius über ihn
als einen beschränkten, schwachsinnigen Kopf die Achseln zuckte. Dieser Papias,
der noch el» Hörer des Apostels Johannes gewesen sein soll, erkennt nun zu¬
nächst die Offenbarung desselben als eine echte inspirirte Schrift an. Bon Evange¬
lien kennt er das aramäische Hcvräcrevangelium, ferner das Matthäuscvange-
lium „mit verschiedenen Bearbeitungen in der griechischen Sy.räche", endlich ein
Marcnscvangelium, das er aber auf eine Weise beschreibt, daß es unmöglich
unser kanonisches Evangelium sein kann. Die paulinischen Briefe und das
paulinische Lucasevangclium ignorirt er, offenbar weil er als strenger Juden-
christ sie verwirft. Bon der Apostelgeschichte und vom Johannesevangelinm
ebensowenig eine Spur. Dagegen fand Eusebius bei ihm noch den ersten
Johannes- und den ersten Petrusbrief benutzt Der phrygische Bischof kennt
also eine Anzahl apostolischer Schriften, aber bemerkenswert!) ist nun, daß von
einer kanonischen Geltung derselben als Norm des Glaubens und Quelle der
Lehre noch gar keine Rede ist. Im Gegentheil erklär, er ausdrücklich, für seine
„Auslegung der Herrnsprüche", die er in fünf Büchern verfaßte, weit weniger
die Schriften, als die mündliche Ueberlieferung benutzt zu haben. Nicht aus
den Schriften der apostolischen Männer, sondern aus ihren mündlichen Aus¬
sagen, welche er nach den Mittheilungen glaubwürdiger Kirchenaltesicn sorgfältig
zu sammeln beflissen war, schöpfte er seine Aussprüche des Herrn. Dreierlei
also lehrt uns dieses älteste Zeugniß aus der ersten Hälfte des zweiten Jahr¬
hunderts - 1) daß die mündliche Ueberlieferung damals noch in höherer Geltung
stand als die schriftliche Aufzeichnung, 2) daß die Bildung des Kanon damals
noch in der ersten Kindheit lag, 3) daß mit der Geschichte des Kanon zugleich
die Kritik des Kanon Hand in Hand geht; denn eine Kritik, wenn auch rein
dogmatische Kritik ist es, wenn der schroffe Jndcnchrist an den längst vor¬
handenen paulinischen Briefen vorübergeht.
Auf die entgegengesetzte, streng paulinische. Seite führt uns die Sammlung
christlicher Schriften, welche dem zu den Gnostikern, einer vielverzweigten
religionöphilvsophischen Richtung, gerechneten Marcion (gegen die Mitte des
zweiten Jahrhunderts) als echt, d. h. als echter Ausdruck des Christenthums,
wie er es verstand, und darum auch apostolischen Ursprungs galten. Marcion
schließt das Matthäus- und das Marcuscvaugelium grundsätzlich aus; er erkennt
nur ein Evangelium an, das des Lucas, aber nicht, ohne auch dieses zuvor
von allen nichtpaulinischcn Stücken gereinigt zu haben. Außerdem besteht sein
Kanon nur noch aus einer Sammlung von zehn paulinischen Schriften. Die
Offenbarung des Johannes verwirft er als Schuft eines judcnchristlichcu Ur-
apostels. Die Apostelgeschichte und die Hirtenbriefe kennt er noch nickt, da
diese erst gegen die marcionitische Gnosis gerichtet sind. Daß er den Hcbräcr-
brief nicht kennt, der ganz in-seiner Richtung gelegen mare, ist ein Beweis,
daß derselbe damals mindestens noch keine Anerkennung und Verbreitung ge¬
funden hatte. Ebenso darf man aus seinem Stillschweigen über das Johanncs-
evangelinm schließen, daß dieses noch nicht vorhanden war, da es sich sonst
noch besser als das des Lucas für seine juristische Auffassung des Christenthums
dargeboten hätte.
Einer der wichtigsten Schriftsteller für die Geschichte des Kanon ist der
Märtyrer Justinus (nach der Mitte des zweiten Jahrhunderts) von dem uns
noch mehre Schriften erhalten sind. Mit ihm treten nur wieder auf die andere,
die judenchristliche Seite. Nach seinen Citaten zu schließen, ist seine Haupt¬
quelle für die Geschichte Jesu das Matthäusevangelium. außerdem kennt er
auch den Lucas. Zweifelhafter ist schon, ob er den Marcus benutzte, und vom
Johannescvangelium findet sich bei ihm gleichfalls noch leine sichere Spur.
Allein auch die Anführungen, die er aus jenen Evangelien macht, lassen schließen,
daß dieselben noch nicht völlig in der uns vorliegenden Gestalt vorhanden
waren, sowie außerdem noch die Benutzung eines andern, ohne Zweifel des Hebräer¬
evangeliums, bei Justin wahrscheinlich ist. Auch dies ist bezeichnend, daß er
die Evangelien gewöhnlich unter dem Titel „Denkwürdigkeiten der Apostel" an¬
führt. Schon dies weist darauf hin, daß mit dem officiellen Namen auch ihr
kanonischer Charakter damals noch nicht festgestellt war, wie denn wirklich der
Begriff der heiligen Schrift bei ihm noch auf das alte Testament beschränkt ist,
und er geradezu behauptet, daß man sonst nirgcndswohcr über Gott und die
wahre Religion etwas lernen könne, als allein von den alttestamentlichen Pro¬
pheten, die vom heiligen Geist beseelt die Wahrheit lehren. Außerdem erkennt
er noch die Offenbarung des Johannes als echt an. während die paulinischen
Briefe bei ihm noch ebenso ausgeschlossen sind, wie bei Papias.
In der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts läßt dann die Spannung des
Gegensatzes nach. Das Lucas- und Johannesevangelium, wie die paulinischen
Briefe finden Eingang bei den Judenchristen, wie umgekehrt sich der Paulinis¬
mus zu Zugeständnissen genöthigt sieht. Mit dem Auftauchen der katholischen
Bestrebungen geht die allmälige Bildung eines Gesammtkanons Hand in Hand,
und das Evangelium und die apostolische Briefsammlung werden von nun an
die beiden Grundbestandtheile des neuen Testaments. Jetzt erst wird auch der
Begriff der heiligen Schrift auf die neutestamentlichen Bücher angewandt. Um
das Jahr 170 wird zum ersten Mal die Apostelgeschichte, die recht eigentlich im
Sinn der katholischen Ausgleichung verfaßt ist, erwähnt. Zwar finden sich in
dieser Zeit immer noch außerkanonische Schriften, wie z. B. die Evangelien
des Jacobus und des Petrus benutzt, und der bekannte heidnische Gegner der
Christen, Celsus (etwa 165—170) macht ihnen »och das Schwanken in der
Zahl ihrer kirchlichen Evangelien zum Vorwurf. Aber am Ende des Jahr¬
hunderts werden diese allmälig durch die kanonischen beseitigt, und zwar sind
es jetzt die mit monarchischer Gewalt an der Spitze der Gemeinden stehenden
Bischöfe, deren Autorität auch für den Gebrauch der heiligen Schriften ent¬
scheidet. Das Aufkommen der ketzerischen Sekten, die sich gleichfalls auf die
Schrift beriefen, war hierzu die Hauptveranlassung. Um ihnen wirksamer zu
begegnen, spitzte sich das Institut des Episkopats immer monarchischer zu. An
den Episkopat, d. h. an die bischöfliche Nachfolge knüpfte man sofort die Tradi¬
tion, an die Tradition die Kirchenlehre, und der Kirchenlehre gab man zur
festen, unverrückbaren Unterlage ?me Reihe schriftlicher Urkunden, den neu¬
testamentlichen Kanon.
So erscheint' denn mit den Kirchenlehrern am Ende des zweiten und zu
Anfang des dritten Jahrhunderts unser Kanon wenigstens insofern abgeschlossen,
als gegen die beiden Hauptbestandtheile der Schrift innerhall) der Kirche kein
principieller Widerspruch mehr erhoben wird, und bei Irenäus (geht. um 200)
findet sich auch der dogmatische Begriff des Kanon im Wesentlichen so vor, wie
er seitdem überhaupt in der Kirche giltig blieb. Gleichwohl fehlt es noch lange
Zeit nicht an Schwankungen, Zweifeln und einzelnen Lücken. So muß z. B.
Irenäus gestehen, daß die Echtheit des Johannesevangeliums zu seiner Zeit
noch keineswegs unbestritten feststeht, während er selbst den Brief des Judas,
den Jacobus-, den zweiten Petrus- und dritten Johannesbrief noch nicht kennt
und andrerseits noch den Hirten des Hermas als kanonisch gebraucht. So ver¬
wirft Tertullian (geht. um 220) den Hebräerbrief und kennt den Jacobusbrief
noch nicht. Der schon erwähnte muratorischc Kanon, welcher derselben Zeit
angehört, verwirft den Hebräer- und Epheserbricf. kennt die Briefe des Petrus
und Jacobus nicht, nennt neben der Offenbarung des Johannes auch noch die
des Petrus und empfiehlt wenigstens für den Privatgebrauch den Hirten des
Hermas. Die Verwerfung des Hcbräerbriefs blieb noch lange der abcndländisclven
Kirche eigenthümlich, während mit dem Anfang des dritten Jahrhunderts die
Verwerfung der Offenbarung des Johannes in der römischen Kirche beginnt.
In der morgenländischen Kirche zeigen die Schriften des Clemens von Alczan-
drien (geht. nach 211) die Grenzen des Kanonischen noch durchaus fliehend, und
es war ein Hauptbcstreben seines Nachfolgers, des Origenes (geht. 254), diese
Schwankungen zu beseitigen. Von ihm rührt die Unterscheidung der gangbaren
neutest'amentlieben Schriften in unbestrittene und bcsirittenc her, wobei aus¬
drücklich blos die thatsächliche Verbreitung und Anerkennung der Schriften den
Maßstab jener Cintheilung bilden sollte. Allein der Mangel einer scharfen
Grenzlinie zwischen bestrittenen und äußerkanvnischcn Schriften, der noch bei
Origenes sich zeigt, läßt erkennen, wie wenig im Grunde mit dieser Unter-
scheidung gewonnen war. Indem man jetzt die Schriften des Kanon in un¬
bestrittene und bestrittene eintheilte, war damit nichts gesagt, als daß eine An¬
zahl Schriften, wenn auch nicht ohne Widerspruch, doch mit Widerspruch, ja
trotz des Widerspruchs dasselbe seien, was die andern, nämlich apostolische,
kanonische Schriften. Man hatte jetzt eine bequeme Kategorie, in die man
solche Schriften unterbrachte, deren apostolischer Ursprung gar zu wenig bezeugt
war und die man gleichwohl im Kanon behalten wollte. Anstatt jene Zweifel
weiter zu verfolgen, war man vielmehr im Voraus geneigt, eine Schrift als
apostolisch aufzunehmen, wenn nur ihr Inhalt nicht anstößig war, vielmehr
dem kirchlichen Interesse diente.
Derselbe Kanon findet sich auch im Wesentlichen bei dem ersten Kirchen-
gcschichtschreiber Eusebius von Cäsarea (geht. 340) vor. Allein er bezeichnet
insofern einen weiteren Schritt auf der Bahn zur Fixirung des Kanons, als
er neben den unbestrittenen und bestrittenen noch eine dritte Abtheilung, „unechte"
Schriften, unterscheidet. Die bestrittenen sind die Briefe des Jacobus und
Judas, der zweite Petrus- und der zweite und dritte Johannesbrief. Zu den
Unechten rechnet er u. a. den Hirten des Hermas, die Offenbarung des Petrus,
den Brief des Barnabas, das Hebräerevangelium. Die unechten sind also
solche, bei welchen der Widerspruch so sehr überwog, daß sie im Grunde gar
nicht mehr in Betracht kamen. Aber sind schon die unechten, die doch wieder
von den Schriften rein ketzerischer Erfindung unterschieden werden, doch nur
eine Abart der bestrittenen, so ist überhaupt die Grenzlinie zwischen allen drei
Classen noch fließend. So schwankt die Offenbarung des Johannes zwischen
den unbestrittenen und unechten hin und her; so ist der Hebräerbrief einmal
zu den unbestrittenen, ein ander Mal zu den bestrittenen. der Jacobus- und der
Judasbrief das eine Mal zu den bestrittenen, das andere Mal zu den unechten ge-
rechnet. Ueberhaupt finden wir bei Eusebius nicht ein sicheres kritisches Urtheil,
sondern blos die Constatirung des Zustands, in welchem sich der Kanon zu
seiner Zeit befand, allerdings auf einem Punkte, wo die Grenzen sich nun fester
zogen, indem vom jetzt an allgemein die von Eusebius als bestritten angeführten
Schriften als Apokryphen dem Kanon einverleibt werden, die Unterabtheilung
der unechten ausgeschieden wird und so unser jetziger Kanon zu Stande kommt.
Von untergeordneten Schwankungen abgesehen, setzte sich nur noch gegen
die Offenbarung des Johannes im Morgenland, gegen den Hebräerbrief im
Abendland der Widerspruch fort, der dann im fünften Jahrhundert vollends
verschwindet. Die Kritik war nun zum Schweigen gebracht. Lange Jahrhun¬
derte erfreute sich die Kirche ungestörter Ruhe vor diesem ungebetenen Gast.
Im Gefolge der humanistischen Bestrebungen klopfte er zum ersten Mal wieder
an die Thüre. Die Kirchenversammlung von Trient (1546) fand sich dadurch
veranlaßt, die neuerdings wieder angegriffenen Bücher, die Offenbarung des
Johannes, den Ebräer- und einige andere Briefe nochmals feierlich in den
Kanon aufzunehmen. Es war, wie Hilgenfeld mit Recht bemerkt, bezeichnend,
daß der neuere Katholicismus gerade bei der Lostrennung des Protestantis¬
mus mit einer endgiltigen Entscheidung über den Kanon hervortrat und dem
Schwanken der altkatholischcn Kirche ein Ende bereitete. Die Schriftforschung
war hier für alle Zeit gebunden. Eine freie Bewegung der Schriftforschung
ließ sich hinfort nur auf Seiten des Protestantismus erwarten, der zwar nach
den ersten freimüthigen Anläufen Luthers sich in die Fesseln des starren Glauvens-
satzes von der unmittelbaren göttlichen Eingebung sämmtlicher neutestamentlicher
Schriften bannte, aber auf die Dauer diese unnatürlichen Fesseln nicht ertragen
konnte.
Dr. Ed. Winkebman», Geschichte Kaiser Friedrich des Zweiten und seiner Reiche
1212 - 1235. Berlin, 1863.
Auf wenige historische Personen mag das oft citirte Wort aus Schillers
Prolog zum Wallenstein in solchem Maße Anwendung finden als auf Kaiser
Friedrich den Zweiten. Dreht sich bei der Beurtheilung anderer Männer der
Streit theils um die Berechtigung der von ihnen vertretenen Principien, theils
um ein Mehr oder Weniger ihrer persönlichen Tüchtigkeit, so schneidet er hier
viel tiefer. Nicht blos als einen auf falschem Wege Begriffenen, als einen Un¬
gläubigen, einen Despoten u. dergl. in., sondern als den raffinirtesten und
fühllosestcn Heuchler, als einen Mann der Lüge durch und durch, stellt die eine
Auffassung den Kaiser dar, während nach der andern sein Charakter, in einer
edle» Freiheit von dem dunklen Hintergrunde einer in Aberglauben und wilder
Leidenschaft verkommenen Zeit sich absehend, fast ideale Züge annimmt. Meist
ist es der Standpunkt des eifernden Kirchenthums auf der einen, des religiösen
und auch wohl politischen Liberalismus auf der anderen Seite, die zu so
extremen Ansichten über den denkwürdigen Kaiser geführt haben. In mäßigeren
Entfernungen von einander pflegen sich die Urtheile zu halten, die aus natio¬
nalen Gesichtspunkten gefällt werden und sich vor allem mit dem Werthe von
Friedrichs Erscheinung für das deutsche Volt zu thun machen. Den Sympathien,
die ihm hier sein Kampf gegen die römische Kirchengewalt zuzuführen geeignet
ist, tritt die Erwägung entgegen, daß nicht in deutschem Interesse dieser Kampf
stattgefunden, daß vielmehr dies Interesse von Friedrich hinter universalistischen
oder italienischen Entwürfen fortwährend ebenso zurückgesetzt, als durch die Be¬
strebungen der Curie gefährdet morden sei. Eben jene weitreichenden Entwürfe
sind ihm aber auch wieder zum Ruhm angerechnet worden, sofern sie ein Aus¬
fluß der mittelalterlichen Kaiscridee, diese Kaisecidec aber zur Verherrlichung
und Entwickelung der deutschen Nation im Mittelalter von höchster Wichtigkeit
gewesen. Daß übrigens die Beurtheilung, welche der Charakter und die Politik
der gleichzeitige» Päpste finde», auf das innigste zusammenhängt mit der ge¬
wonnenen Ansicht über Friedrich, daß i» der Regel, je helleres Licht auf Friedrich
fällt, desto dunklere Schatte» auf einen Gregor den Neunte» oder Innocenz
deu Vierten geworfen werden, versteht sich fast von selbst. Und das Alles be¬
trifft einen Zeitraum, in welche», keineswegs die uns zu Gebote stehende Quellen-
literatur angeschuldigt werden kann, sie lasse durch ihre Aermlichkeit allen mög¬
lichen subjectiven Auffassungen freien Spielraum. Gleichzeitige Chroniken und
sonstige Geschichtsbücher, Briefe und Manifeste, Denkmäler der Gesetzgebung
und Urkunden im enger» Sinne liegen uns vor i» einer Fülle und Mannig¬
faltigkeit, von welcher eine Vorstellung zu gewinnen ein Blick in die berühmte
Sammlung Huillard-Breholles oder in Böhmcrs Regestenwerk hinreicht. Wohl
aber sind einem großen Theile dieser Literatur auf das stärkste die Spuren der
Gegensätze eingeprägt, in denen sich Friedrichs Lebe» und Wirken bewegte.
Die Mächte, die sich durch Friedrichs Thätigkeit in ihrem Innersten gefährdet
sahen, sprechen da noch heute zu uns mit aller der Leidenschaftlichkeit, welche
eben der tödtliche Kampf erwecken mußte. Und blicken wir auf Friedrichs eigene
Aeußerungen und seine wichtigsten Handlungen, so finden wir in diese» selbst
das scheinbar Entgegengesetzteste und Unverträglichsie mit einander vereinigt.
Ais Schützling der römischen Curie seine Laufbahn beginnend, tritt er nach¬
mals in einen Kampf mit dieser Curie ein, gründlicher und radicaler als er
irgendeinem der früheren Kaiser in den Sinn gekommen. Ohne äußere Nöthigung,
in voller Freiwilligkeit, legt er ein Kreuzzugsgelübde ab, schiebt dann die Voll¬
ziehung desselben weiter und weiter hinaus, bis er darüber dem päpstlichen
Banne verfällt, führt aber eben nun, unter dem Banne des Papstes und allem
Widersprüche desselben zum Trotz, das Unternehmen, freilich in sehr nüchterner
und mangelhafter Weise, aus, um sogleich nachher den Angriff gegen seine
unteritalienischen Besitzungen, zu welchem der Papst in Europa das Kreuz hatte
predigen lassen, wesentlich mit saracenischen Truppen zunickzuwcisen. Ein Mann
von reichster Bildung, ein Gönner und Beschützer der unteritalischen Maho-
medaner, zeigt er sich in seiner Gesetzgebung als den entschlossensten und grau¬
samsten Feind der Ketzer. Diese Gesetzgebung hat, soweit sie sieh aus das
unteritalische Königreich Friedrichs erstreckt, in unseren Tagen die höchste Aufmerk¬
samkeit aus sich gezogen, als der wundcrwürdigste Versuch, einen despotisch regier¬
baren Staat von einer bureaukratischen Ordnung, einem Cvmpetenzumsange, einem
Reichthume an Aufgaben und Gesichtspunkten zu begründen, wie ihn das christ¬
liche Abendland bis dahin sich nicht hatte träumen lassen. In Deutschland da¬
gegen findet die Entwickelung der großen Territorialgewalten, vor denen dort
die Kaisergewait zu vergehen und alle politische Einheit in ein regellos-Parti-
cularistischcs Wesen sich aufzulösen droht, bei Friedrich Unterstützung und Vor¬
schub. Von deu verschiedensten Culturelemcnteu, deren Zusammenfluh den ge¬
waltigen Gährungsproceß seiner Zeit hervorbrachte und besonders an dem Orte
seiner Erziehung, in Sicilien, in stärkstem Maße sich geltend machte, erscheint
Friedrich berührt; Abendländisches und Morgenländischcs, Christliches und Maho-
mcdanisches ist ihm angeflogen; sein eigenstes Wesen indeß scheint weder dem
Einen noch dem Andern zu gehören, sondern in einer Atmosphäre geistiger
Freiheit zu leben, wie sie in einem solchen Aufeinandertreffen des Mannig-
saltigsten nicht vielen Einzelnen zu Theil wird; ja gegenüber den Unsittlichkeiten
und Zügellosigkeiten seiner Gegner, für welche diese in ihrer Aufgabe, die Sache
Gottes und der Kirche zu verfechten, ihre Rechtfertigung finden mochten, scheint
er diejenige Gleichgiltigkeit gegen sittliche Rücksichten gewonnen zu haben, welche
den Beginn der Emancipation von positiv religiösen Ueberzeugungen so häusig
begleitet. Nichtsdestoweniger weiß er nicht blos vortrefflich sittliche Hebel gegen
seine kirchlichen Widersacher in Bewegung zu setzen, sondern neben seinen maho-
medanischen Kriegern, neben seinen im römischen Rechte gebildeten Staats- und
Kanzleimännern, neben seinen morgen- und abendländischen Gelehrten und Künst¬
lern widmen ihm auch Männer wie Hermann v. Salza eine aufrichtige Hin¬
gebung, Männer, deren christlichem Glauben und Wandel auch die erbittertsten
Gegner des Kaisers ihre höchste Anerkennung zu verweigern außer Stande
waren. Man sieht, wie Mannigfaltiges hier mit einander in Einklang gebracht,
wie sorgfältig das Eine geprüft und auf ein gewisses Maß gesetzt werden muß.
um zu dem Andern in das rechte Verhältniß zu kommen; man begreift, wie
erst jenseits der rein thatsächlichen Kritik das Schwerste beginnt: den Punkt zu
finden, von wo aus sich alle diese verschiedenen Züge zu einem einheitlichen
Charakterbilde sammeln lassen.
Leicht wird freilich diese Aufgabe, wenn man mit der energischen Einseitig¬
keit verfährt, mit welcher, vor achtzehn Jahren, Konstantin Hvflcr zu Weile
gegangen ist. Hauptsächlich an die dem Kaiser ungünstigsten Quellen sich haltend,
vermag er ohne Mühe ein Bild aus einem Gusse zu liefern. Hatte Raumer
mit vorsichtiger Hand ein Gemälde entworfen, in welchem Manches noch un¬
bestimmt gelassen, doch mit Liebe diejenigen Züge ausgeführt wurden, die dem
Kaiser und seinem Schicksale eine schöne menschliche Theilnahme zuzuwenden
geeignet waren, so zeichnet Höfler mit derben Strichen einen von Grund aus
verdorbenen und verderblichen Charakter, dem gegenüber die ihn bekämpfenden
Mächte, zum mindesten die kirchlichen, sich fast allenthalben in ihrem Rechte
befinden. Wenig anders ist der Eindruck, welche der, um Durchforschung des
deutschen Mittelalters so hochverdiente Böhmer durch die gedrängte Schilderung
Friedrichs hervorbringt, die er dem Rcgestenwerke vorausschickt. Derartigem
Auffassungen ist nun, in neuerer Zeit, vorzüglich Schirrmachcr entgegengetreten.
In mancher Beziehung sich anschließend an das, was für die Geschichte von
Friedrichs hohenstaufischen Vorgängern durch Otto Adel geleistet worden, nimmt
er den Kaiser nicht blos in Schutz gegen allerhand Vorwürfe seiner hierarchischen
Gegner und deckt die Blößen dieser Letzter» auf; vielmehr sucht er auch, zumal
im 2. Bande, auf positive Weise die Einheit in Friedrichs mannigfachen Be¬
strebungen herzustellen durch Nachweisung gewisser großer und wohlberechtigter
Gedanken, in denen die scheinbaren Widersprüche eine würdige Lösung empfangen.
In vielen Punkten erhalten seine Ansichten eine tüchtige Unterstützung durch die
geistreiche Skizze von Friedrichs politisch-kirchlicher Stellung und Anschauung,
welche Nitzsch in Sybcls historischer Zeitschrift (1860) gegeben. Hier wie dort
wird Friedrichs bittere-Feindschaft gegen die Curie auf der einen, gegen die
Ketzer aus der andern Seite in Einklang mit einander gebracht durch Bezeichnung
eines Standpunktes, auf ivclchem Friedlich dem Papste sich frei gegenübergestellt,
keineswegs aber den Grenzen des bestehenden Kirchenthums entrückt gefühlt
habe; hier wie dort wird die Verschiedenheit zwischen Friedrichs finnischer Ver¬
waltung und seinen Anordnungen in Deutschland erklärt aus einem hohen Sinne
sür die Verschiedenheit der in beiden Ländern obwaltenden Verhältnisse und
einer feinen Geschicktheit, sie demgemäß in verschiedener Art einem einheitlichen
Zwecke dienen zu lassen. Namentlich wird auch die mittelalterliche Kaiscridee
hoch gehalten und insofern der Glanz von Friedrichs Namen gewahrt gegen
etwanige Beeinträchtigungen von Gesichtspunkten aus, wie sie vorzüglich^ durch
Sybels Schrift über die deutsche Nation und das Kaiserreich mit so vielem
Nachdrucke geltend gemacht worden sind. So steht Friedrich, wenn auch nicht
ohne Schwächen, doch als ein überlegener und zugleich feiner Geist in einer
wildbewegten Zeit, als ein Geist von reichster Befähigung und Bildung, voll
Erhabenheit in seinen Zielpunkte» und voll Verständnisses da für das praktisch
Nothwendige oder Zweckmäßige; und in entschiedenster Weise wird ihm das
Recht vindicirt, sich bei Bekämpfung seiner Widersacher an große sittliche Motive
in den Seelen seiner Zeitgenossen zu wenden und dieselben für seine Angelegen¬
heiten in Thätigkeit zu bringen.
Das vorliegende Buch Winkelmanns macht, nach einer Aeußerung der
Borrede, nicht den Anspruch, eine vollständige Geschichte Friedrichs des Zweiten
in der Zeit seines aufsteigenden Gestirns zu sein, sondern will nur Beiträge
zu derselben liefern. Zum Theil >se es eine Überarbeitung früher herausgegebener
Abhandlungen; überhaupt aber hat es mehr die pünktliche Durchforschung ein¬
zelner Partieen zur Aufgabe, ohne daß jedoch die Bedeutung derselben für
die Herstellung eines Gcsammtbilbcs von Friedrichs des Zweiten Charakter,
Stellung und Thätigkeit aus den Augen gelassen würde. Dabei zeigt sich über¬
all im vollsten Lichte der gewissenhafte Fleiß, die Gründlichkeit und Genauigkeit
der Forschung, die man an dem Verfasser schon früher, aus jenen Abhandlungen,
kennen gelernt hat. Ein Verzeichnis; der wichtigeren Quellenschriften und Hilfs¬
mittel geht voraus, unter Beifügung kurzer Bemerkungen zur Charakteristik
der ersteren, zur Zurückführung derselben auf die Elemente, aus denen sie ent¬
standen u. f. w.; auch mehre der, den einzelnen Abschnitten angehängten Bei¬
lagen haben es hauptsächlich mit Quellenkritik zu thu». Das Werk selbst
beginnt >ni der merkwürdigen Fahrt des siebzehnjährigen Friedrich von Sicilien nach
Deutschland zur Gewinnung der .Nrone, zu welcher Innocenz der Dritte, von
seinem früheren Schützlinge, dem welsischen Otto dem Vierten, aufs äußerste
bedrängt, de» jungen Hohenstaufen berufen hatte; es schließt im Jahre 123S,
am Vorabende des großen Todeskampfes zwischen Friedrich und den lombar¬
dischen Städten, mit welchem der Kampf des Kaisers gegen die Curie sich aufs
innigste zu verflechten bestimmt war. Sollte man angeben, welche von den
bisherigen Bearbeitungen der Geschichte Friedrichs des Zweiten es sei, der die
Resultate von Winkelmanns Forschung am meisten entsprechen, so würde man
SchirrmacherS Buch zu nennen haben; aber auch ihn, gegenüber verhält sich
Winkelmann durchaus selbständig, wie denn auch seine Beschäftigung mit dem
Gegenstande schon vor dem Erscheinen des schirrnmchcrschen Werkes begonnen
hat und in manchen Stücken die Abhandlungen W's. bereits von sah. selbst,
in dem 2. Theile von dessen Buche, berücksichtigt worden sind. Faßt man die
einzelnen, wichtigeren Punkte zusammen, in denen sah. und W. von einander
abweichen, so wird man sich veranlaßt seben, dem von sah. entworfenen Bilde
des Kaisers einige Schatten zuzufügen; von der bei Seb. mitunter hervor¬
tretenden apologetischen Tendenz zeigt sich W, in seiner ruhigen Untersuchung
des Einzelnen frei. Nur scheint auch er im Eingange die Bedeutung des
Politischen Betrugs, den Friedrich bald nach seiner Gelangung zur römisch-
deutschen Königskrone dem Papste dadurch spielte, das? er gegen die berechtigten
Erwartungen der Curie auch die Sicilianische Krone auf seinem Haupte behielt,
viel zu sehr abzuschwächen. Wenn Friedrich, nach vollführtem Betrüge, den
Papst durch eine Unterscheidung zwischen (modern ausgedrückt) Personal- und
Realunion zu beruhigen suchte, so macht W., nach unserer Meinung, sich mit
diesem Unterschied viel zu viel zu thun (als ob derselbe in jener Zeit und unter
den obwaltenden Verhältnissen irgendeine wirkliche Erheblichkeit gehabt hätte!)
und daß, nachdem die Curie in diesem Punkte getäuscht und die römische Kaiser¬
krone mit der sicilischen auf einem Haupte vereinigt war. jeder politisch tüchtige
Papst sich von Haus aus auf halben Kriegsfuß zu Friedrich gesetzt fühlen
mußte, bleibt unerörtert. Weiterhin aber wird deutlich zu erkennen gegeben,
daß der Gedanke des Kaisers, im Jahre 1226 den Kampf mit den Lombarden
aufzunehmen, in seiner Ausführung fast nothwendig den Bruch mit dem Papste
bereits damals hätte herbeiführe» müssen und daher zu den Krcuzzugsverpflich-
tungcn, die der Kaiser dem Papste gegenüber auf sich genommen, in schlechtem
Verhältnisse stand. Bedeutsamer noch fallt, für die Beurtheilung von Friedrichs
Persönlichkeit, ins Gewicht, daß in der vielumstrittencn Frage über die Ermor¬
dung des Herzogs Ludwig von Bayern (S. 39») W. die Ansicht Böhmers
theilt, die Schuld Friedrichs sei hier mehr als muthmaßlich (gebe es dock
ähnliche Blutflecke in seinem Leben!); mindestens ebenso bedeutsam, daß W.
gegen Schirrmaehcr und Nitzsch die Zeugnisse der morgenländischen Schriftsteller
über Friedrichs religiösen Jndifferentismus aufrecht erhält; die grausamen Ketzer-
Verfolgungen, die unter Friedrich stattfanden, erscheinen demnach, soweit die
Sache ihn anging, nur als Ausfluß kalter politischer Berechnung. — So
würde denn die Vorstellung, die wir aus Winkelmanns Erörterungen von dem
Kaiser gewinnen, sich in Manchem von der durch Schirrmacher gegebenen ent¬
fernen, und zwar nicht der grellen Schilderung Höflers, wohl aber der in
scharfen Striche» ausgeführten Charakteristik annähern, die Huillard-Breholles
in der iirtrociuetion zu der Ilikchoi'in «liplom-nim, gegeben. Mag nun aber auch
Einzelnes noch streitig bleiben, — keinenfalls wird künftighin jemand an der,
von einem befriedigenden Abschlüsse noch sehr entfernten Arbeit, Friedrich und
seine Zeit uns zum richtigen und vollen Verständnisse zu bringen, sich betheiligen
dürfen, ohne auf die Leistungen des Verfassers eingehend Rücksicht zu nehme»;
und lebhaft ist zu wünschen, daß dieser seine fleißigen und gewissenhaften
Studien auf die, auch von Schirrmacher noch nicht beschriebenen letzten Ab-
schnitte von Friedrichs Leben ausdehne, welche mit den furchtbaren Bewegungen
und tragischen Katastrophen, die sie in sich schließen, der Forschung wie der
Darstellung sehr eigenthümliche Schwierigkeiten darbieten.
Zur Feier des dreihundertjährigen Geburtstags Shakespeares sind denn
nun die sieben historischen Stücke des Dichters (von Richard dem Zweiten bis
Richard dem Dritten) in Weimar zur Darstellung gekommen, deren zusammen¬
hängende Vorführung das von Dingelstedt ausgegebene Programm in Aussicht
gestellt hatte.
Zur Shakespcarefeier! Wenn wir Deutschen unserer augenblicklichen poli¬
tischen Stimmung gegen England hätten nachgeben wollen, wie dieselbe durch
die niederträchtige, manchmal an Wahnsinn streifende Haltung der englischen
Presse gegen Deutschland hervorgerufen und berechtigt ist- es wäre in der That
jetzt nicht die Zeit gewesen einen englischen Schriftsteller, und wäre er von
höchster Bedeutung, durch deutsche Feste zu feiern. Aber es ist eine schöne
Eigenthümlichkeit unsers Volks, daß es auch in Zeiten nationaler Erregung die
Besonnenheit nicht verliert, sondern den Blick für alles Große und Schöne sich
frei erhält und unbefangen von der leidenschaftlichen Aufwallung des Augen¬
blicks. So gerecht unsere Klage über die engherzige Verbissenheit der britischen
Politiker, so begründet unser Zorn gegen die ungerechte Herabwürdigung und
Beschimpfung unserer nationalen Sache ist, wie wir solche jetzt von England
erfahren: so hat diese augenblickliche Entfremdung uns doch mit Recht nicht ab¬
gehalten, den großen englischen Dichter mit den gebührenden Ehren zu feiern.
Die Größe des Mannes an sich schon würde diese Huldigung rechtfertigen, eine
Größe, welche bleibt, während die leidenschaftliche Abwendung zweier stamm¬
verwandten Völker von einander bald wieder ruhiger Erwägung und der Macht
gemeinsamer Interessen weichen wird. Aber bei Shakespeare kommt noch ein
besonderer Grund hinzu: er gehört beiden Völkern, England und Deutschland
gemeinschaftlich an, ja in manchem Sinne haben wir beinahe ein höheres An-
recht auf ihn. In seinen Schauspielen spricht zu uns die Tiefe des Gedankens,
die Innigkeit der Empfindung, die nicht englisch, nicht deutsch, sondern ein
gemeinsames Erdtheil des germanischen Stammes ist. Wie hätten unsere großen
Dichter sich an Shakespeare emporranken können, wenn er uns fremd gegen¬
überstände und nicht vielmehr dem deutschen Volksgeiste in seinem innersten
Wesen homogen wäre?
Aber was wir von ihm empfangen an Anregung, Vorbild und Leitung
— den Dank dafür haben wir Shakespeare durch die eifrigsten Bemühungen
reichlich abgestattet. Deutscher Fleiß, deutsche Gelehrsamkeit, deutsche Be¬
geisterung haben seinen Text hergestellt, seine Dunkelheiten erläutert, seine Schön¬
heit erkannt und gepriesen und sür seine Anerkennung und Verbreitung die
wirksamste Propaganda gemacht.
"
So war es denn gerechtfertigt, wenn Deutschland den Geburtstag dieses
Genius wie den Geburtstag eines seiner Söhne feierte. Unter allen Shakc-
spcarefciern in Deutschland aber (die französische wurde verboten, die englische
scheint sich hauptsächlich durch geschmacklose Massenhaftigkeit ausgezeichnet zu
haben) war die in Weimar wohl die großartigste und würdigste. Sieben histo¬
rische Schauspiele Shakespeares wurden vom 23. April an in der Festwoche
vorgeführt. Ein Theil derselben wurde jetzt zum ersten Male gegeben, jeden¬
falls aber war die unmittelbare Aufeinanderfolge und Aneinanderreihung ein
noch nie dagewesener Versuch. Sämmtliche Stücke wurden in einer Bearbei¬
tung des Generalintendanten der weimarischen Bühne, Franz Dingelstedt, zur
Darstellung gebracht.
Die Leser d. Bl. werden sich vielleicht noch des Referats erinnern, welches
vor einigen Monaten über die vier ersten Stücke, die damals allein, gleichsam
zur Probe, aufgeführt worden waren, in den Grenzboten gegeben wurde.
Hieran reihe sich uun ein kurzer Bericht über die Einrichtung und Darstellung
der drei letzten Stücke der Hevtalogie (Heinrich der Sechste, 1/und 2. Theil.
Richard der Dritte) zur Ergänzung jenes frühern Referats.
Es muß zunächst bemerkt werden, daß in der dingelstedlischen Bearbeitung
der erste Theil der Trilogie König Heinrich der Sechste weggelassen ist. Es fehlt
also die Zeit der unglücklichen Kriege Frankreichs mit England und die ganze
Geschichte der Jungfrau Von Orleans. In welcher Weise dieser später doch
Erwähnung gethan wird, werden wir nachher sehen, sowie den Ort bezeichnen,
wohin die einzige Hauptscene, welche von diesem Theil in die Bearbeitung auf¬
genommen worden ist, versetzt wurde. Im Ganzen kann man sich mit dieser
Streichung einverstanden erklären. Zwar verlieren wir damit die köstlichen
Scenen zwischen Talbot und seinem jugendlichen heldenhaften Sohn, welche
von einem Hauch heroischer Vaterlandsliebe durchweht sind; es entgeht uns die
wichtige Scene zwischen Mortimer im Gefängniß und Plantagenet. dem späteren
Herzog Nork, worin die Exposition der Ansprüche des letzteren aus die Krone
gegeben wird.
tlrou heest, that, .1 ire> issue Uavs,
^.na tlrat mz^ tainting vorä8 av warrant äsatb.
Ilion art mzs bsir: dirs rsst, ^visb ldee Mtlrsr:
IZut z^et dö v^r^ in du^ stuÄious os.ro.
Aber auf der andern Seite würde es einem deutschen Publicum auch nicht
möglich sein, die Darstellung der Pucelle, wie sie Shakespeare giebt, nach
Schillers glänzender Apotheose dieser Gestalt ohne Verletzung des Gefühls zu
ertragen. Zwar hat die romantische Schule gefunden, daß der von Schiller
„aufgewandte Farbenzaubcr denn doch nicht so glänzend ist, als man sichs
denken könnte" (eines der naiv unsinnigsten Apophthcgmen, die mir im Gebiete
der Aesthetik und sonst je vorgekommen sind): aber das deutsche Volk hält an
der von Schiller gezeichneten idealen Gestalt fest und würde in Shakespeares
Gemälde nichts als eine parteiische Verunglimpfung und Herabsetzung der
Heldin erkennen. Ueberdies ist dieser 'erste Theil in so hohem Grade dissolut
und auseinandergehend, daß etwas für unsere Bühne Brauchbares daraus
wohl kaum zu machen sein dürfte. Und so ist denn, wie gesagt, die Streichung
dieser ganzen Partie im Ganzen zu billigen. Es bleiben daher nur zwei
Theile von Shakespeare für Dingelstedt übrig, von denen der erste, am 28. April
aufgeführt, mit der 1. Scene des 2. Theils (im Original) beginnt und mit
dem 1. Auftritt des dritten schließt. Folgen wir nun im Großen und Ganzen
zunächst dieser Darstellung des ersten Theils der dingelstedtischen Bearbeitung.
Dieselbe beginnt, wie gesagt, mit der Scene, in welcher Suffolk Königin
Margarethe, die er für Heinrich geworben, dem König als Gemahlin zuführt.
Schon hier trat »eben einer sehr guten Jnscenirung das höchst angemessene
Spiel des Königs (Herr Grans) hervor, dessen zärtliche Weichheit die ver¬
derbliche Schwäche, die das Reich zu Grunde richten muß, vorausahnen ließ.
Herr Grans hielt diesen richtig getroffenen Grundton mit Consecjucnz durch das
ganze Stück fest, wobei auch die sorgfältig gewählte Maske mit den schlichten
langen Haaren zur Illusion mithalf. Schon hier hat der Bearbeiter zur Ex¬
position einiges zugesetzt, indem er der Königin bei jeder bedeutenden Person
des Hoff, die ihr vorgestellt wird. eine boshaft charakterisirende Bemerkung über
dieselbe in den Mund legt. Es folgte dann die Besprechung der Lords über
die Lage deS Landes, und schon hier muß ich die Kunst anerkennen, mit welcher
Winchester (Herr Lehseld) Maske und Mimik gestaltete, eine Anerkennung, die
ihm durch das ganze Stück gebührte. Nur seine Sprache, von Natur oder
durch Gewöhnung zu schmetternd, möge er beherrschen: er hat das Zeug zu
einem bedeutenden Schauspieler. Auf die Exposition, die dann Hort in einem
Monolog von seinen Ansprüchen und Planen macht, und den Auftritt zwischen
Gloster und seiner Frau, die seinen Ehrgeiz zu wecken sucht (Frl. Knaufs spielte
diese und die Bußescene mit Verständniß und Liebe), folgt nun eine gänzlich
von Dingelstedt componirte Scene, die an die Stelle der weggelassenen Zauber¬
scene (Shakespeare I, 4) getreten ist. Hume und Bessie Burke. Betrüger und
Betrügerin, bringen der Herzogin die Antworten des höllischen Geistes auf die
von ihr gestellten Fragen: die Handschrift Eleonorens mit den sie compromit-
tirendcn Fragen nach dem Geschick des Königs u. s. w. behaupten die Gauner
verbrannt zu haben, verkaufen dieselbe aber an die Feinde der Herzogin. Alles
dies ist in der Darstellung, großentheils auch in der Sache Arbeit Dingelstcdts.
recht geschickt erfunden, wenn man einmal das Princip zugiebt, jedenfalls aber,
sollte ich denken, noch bedeutend zu kürzen. In der sich anschließenden Scene
der Bittsteller zeigte sich Suffolk (Herr Dahn) erfreulich: ebenso Margarethe
(Frau Hettstcdt), in welcher überhaupt die wcimarische Bühne eine sehr tüchtige
Kraft besitzt. Jetzt folgte als 5. Scene des 1. Auszugs die erste des 2. Aus¬
zugs bei Shakespeare. Diese Streitscene ging vortrefflich. Daran war von
Dingelstedt zurückgreifend I, 3 gereiht: die ersten Angriffe gegen Gloster ver¬
setzen diesen in Wuth, die derselbe (Herr Milde, der für seine maßvolle Dar¬
stellung überhaupt alles Lob verdient) mit tiefem Eindruck durch die Weise mar-
kirte. wie er sich zur Mäßigung zwang und auf einige Minuten den Saal
verließ. Nun aber beginnen wieder die Interpolationen. Zuerst die Fächer¬
scene. In Shakespeare läßt die Königin den Fächer fallen, und da die Herzogin
von Gloster denselben ans ihren Befehl nicht aufhebt, giebt sie ihr einfach eine
Ohrfeige. Einfach, aber heutzutage allerdings schwierig auf der Bühne aus¬
zuführen: wir stehen da wieder an der berühmten, von Lessing discutirten
Frage von der Ohrfeige des Essex. Was thun? Könnte nicht die Königin statt
der effectiven Ohrfeige mit der Ecke des Taschentuchs Eleonore schlagend be¬
rühren und dadurch ebensogut ihre Rache entflamme»? Dingelstedt hat eine
andere Fassung gewählt. Auf die Aufforderung der Königin den Fächer auf¬
zuheben entgegnet bei ihm Eleonore, indem sie mit tiefer Verbeugung derselben
ihren eignen überreicht, ungefähr:
nehmt meinen, Majestät!
Der eure ist zu schlecht ihn aufzuheben,
in bitterer Anspielung auf die Armuth ihres väterlichen Hauses. Ob aber
diese moralische Ohrfeige, der Königin applicirt, nicht am Ende-schlimmer als
eine physische auf den Wangen der Herzogin brennt, möchte ich beinahe be¬
zweifeln. Daran schließt sich nun, als Rache für die Königin, die Anklage
gegen Eleonore als Zauberin, welche durch ihre eigene Handschrift überführt
mit den Worten: „Ich lüge niemals!" sich schuldig bekennt. Und hier hat
Dingelstedt auch Gelegenheit gefunden, das mit dem 1. Theil Weggelassene
wenigstens erzählend beiläufig anzuführen, indem an die Anklage gegen die
*
Herzogin die Erinnerung an die Erzzauberin Johanna von Orleans und ihre
Thaten sich anknüpft. Damit schließt der erste Auszug, der also in seinem
letzten Theil zu umfangreichen Einschiebungen Urias; gegeben hat.
Der zweite Aufzug beginnt mit der aus Theil I (Act II, Se. 4) herüber-
gcnommenen Rosenscene, woran sich dann wieder, wenn ich nicht irre, II, 2
aus dem zweiten Theil mit ihrer verzweifelten Genealogie anschloß: doch er¬
läuterte Uork (Herr Schmidt) durch guten Vortrag die bunt'ein Wege dieses
erbrechtlichen Exposes, so weit dies überhaupt möglich. Für uns fern Lebende
bleibt diese Deduction, wenn wir sie ohne gelehrte Kenntniß von deren In¬
halt blos von der Bühne herabtönen hören, immer eine crux. Es folgte nun
die Gerichtsscene gegen Eleonore, bei der die samische Anordnung wieder alles
Lob und größte Anerkennung verdiente. Tiefe Bühne, in der Mitte etwa durch
rothe Schranken abgeschnitten, vor diesen links der Zauberer Hume und die
Hexe Burke, rechts Eleonore: hinter den Schranken in der Mitte das Gericht,
präsidire von Winchester, der König und Margarethe links. Gloster rechts.
Diese Anordnung war von vortrefflicher malerischer Wirkung und dem Hervor¬
treten jedes Theils der dramatischen Handlung äußerst förderlu!?. Aber in dem
Inhalt der Scene selbst hat Dingelstedt eine modernisirende Motivirung ein-
geschoben. Bei Shakespeare wird Eleonore (lor z^on irro nor« modi^ dorn)
wegen ihrer edlen Geburt zu öffentlicher Buße und Verbannung verurtheilt,
während die gemeinen Theilnehmer ihres Verbrechens dem Tode überliefert wer¬
den. Shakespeare findet diese Ungleichheit des Rechts so natürlich, daß er kein
Wort der Erklärung hinzuzusetzen sich gemüßigt ficht. Der Bearbeiter trägt
unseren geläuterten Rechtsbegriffen so weit Rechnung, daß Eleonore die mil¬
dere Strafe erhält, weil sie: >
edler von Geburt und minder schuldig,
und läßt dann auch noch den Zauberer über diese Ungleichheit vor dem Gesetz in
Wuth gerathen und dem ganzen Hof beleidigende Wahrheiten ins Gesicht wer¬
fen. Möglich, daß ein modernes Publicum dergleichen Eonccssionen an unsere
Rechtsanschauung billigt: aber doch sollte ich meinen, daß wer einmal sich ent¬
schließt ein shakespcarcscheö Stück, ein Stück, welches im fünfzehnten Jahr¬
hundert spielt, mit anzusehen, auch die Resignation besitzen müsse, auf wenige
Stunden von dem Bewußtsein constitutioneller Staatsbürgerrechte abzusehen und
in den Geist der Zeiten sich versetzen zu lassen, in welchen die ganze Handlung
des Stücks mit allen ihren Bedingungen und Voraussetzungen ruht. — Nach
dem Gericht öffnen sich die Schranken, Gloster giebt seinen Stab ab und der
Act schließt mit der Buße Eleonorens. Auch hier ist sehr viel geändert, ein¬
geschaltet, erweitert: zugleich aber hat diese Scene Dingelstedt mit wahrhaft
künstlerischem Sinn ausgestattet. Er läßt Eleonore von einem Volkshaufen,
der vortrefflich eingeübt die niedere Leidenschaft des Pöbels, gesunkene Größe
zu verhöhnen, zu wirkungsvollster Darstellung bringt, umschwärmen und endlich
aus der Halle auf die Straße drängen, ein Auftritt von ergreifendster Wir¬
kung , der allein schon Dingelstedts Talent und Verdienst zu begründen im
Stande wäre. In der ersten Scene des dritten Acts (auch bei Shakespeare III, 1),
der Verhaftungssccnc Glosters. führte der Darsteller des Königs die Nnent-
sckiedenhcit und Schwäche dieses Charakters mit großer Kunst vor die Augen.
Die im 1. Theil projectirte (und also mit weggefallene) Verlobung des Königs
mit der Prinzessin von Armagnac wird in dieser Scene historisch erwähnt,
wie wir oben in eine andere die Geschichte der Jungfrau von Orleans erzählend
hereinziehen sahen. In der darauf folgenden Berathung über Glosters Tod
finde ich besonders den feinen Zug hervorzuheben, daß die Königin, die erst
ein stärkeres Wort für die Unentschiedenheit ihres Gemahls gebrauchen will,
endlich, wie man sieht, die härtere Bezeichnung hinunterkämpfcnd, mit dem
Ausdruck! der König ist zu zart — widerwillig sich begnügt. Bei der Sendung
Uvrks nach Irland ist wieder eine moderne Interpolation eingetreten, wenn
Uork erklärt, er wolle „den mächtigsten Hebel, das Volk" in Bewegung setzen.
Ich brauche Dingelstedt nicht erst zu sagen, daß diese Ehrfurcht vor tem Volk
weder die Anschauung des fünfzehnten Jahrhunderts noch ganz insbesondere die
Shakespeares gewesen ist. Gegenüber solcher Modernisirung bleiben Sätze wie:
Der irische Kanal mein Rubicon
wenigstens im Stile des Ganze». Die Scene, welche sich daran reiht, in wel¬
cher die Ermordung Glosters zu Tage kommt, war in Einrichtung und Spiel
vortrefflich. Im Hintergrund öffnete sich ein Vorhang und zeigte die Leiche
des Protectors; zur Rechten (immer vom Zuschauer aus) tobte durch die zeit¬
weilig geöffnete Thüre der Aufruhr herein, der König (Herr Grans) ermannt
sich zur Verbannung Suffolks und sinkt wieder in sich zusammen (recht gut
dargestellt) und Winchester — dies ist nun ein Zusatz Dingelstedts zu dem
stummen Abgehen desselben bei Shakespeare — flieht, von Gcwissensauale»
ergriffen. Der Act schließt dann mit Margarethens und Suffolks Abschied
(Shakespeare III, 2) und der Sterbcsccne des Kardinals Winchester (III, 3).
Hier zeigte sich Herr Lehfeld besonders wacker. Dingelstedt führt den Cardinal
nicht wie Shakespeare gleich liegend vor (jedenfalls aus ren, technisch scenischem
Grund) sondern läßt ihn halb wahnsinnig hereinstürzen. Auf die Worte des
Königs:
Lord Cardinal, denkst du an ewges Heil,
So heb die Hand zum Zeichen deiner Hoffnung —
machte Herr Lehfeld einen krampfhaften Versuch die Arme zu erheben, aber das
Schuldbewußtsein drückt sie ihm nieder, und er stürzt in sich zusammen. Die
Scene schließt mit der Aufforderung des Königs:
Ein Vaterunser für die arme Seele!
wie Dingelstedt sehr passend den Ausdruck Shakespeares: ana Ist us all de>
in«cuta.lion! übertragen hat.
Der vierte Act beginnt mit den Volksscenen unter Cade. welche Rolle an
Herrn Dessoir einen vortrefflichen Vertreter fand. Wer ihn als Falstaff gesehen
und nun jetzt wieder sah, mußte erfreut gestehen, daß dieser Schauspieler nicht
sich selbst, sondern seine Rollen spielt. Welch ein unbedeutender, nichtswürdiger
Strolch ist sein Cade und doch wie komisch, sogar unsere Theilnahme fesselnd!
Das Arrangement der Scene in seiner Buntheit und Lebendigkeit bot wieder
ein sehr erfreuliches Bild. An die Stelle von Suffvlks Ermordung durch die
Seeräuber, die mit Recht gestrichen ist, hat Dingelstedt einen sehr langen Brief
desselben gesetzt, den d.le Königin vorliest: eine schon a xrioii in Betreff der
Zweckmäßigkeit anzuzweifelnde dramatische Einrichtung, die, wie mir schien, sich
auch auf der Bühne nicht bewährte. Die Decoration London mit der Themse,
welche den eindringenden Cade umrahmte, war sehr hübsch. Den Abfall des
schwankenden Volkshaufenö von Cade glaubt Dingelstedt durch eine voraus¬
gehende Unzufriedenheit mit dem Führer motivirc» zu müssen, während bei
Shakespeare d.le reine Wetterwendischteit, die er dem Volke überhaupt zuschreibt,
es ist, die diesen Uebergang bewerkstelligt. In demselben Sinn ist Folgendes
verändert. Buckingham setzt auf CadeS Kopf einen Preis und bei Shakespeare
machen sich auch sofort bona, dicke einige auf den Preis zu verdienen: Dingel¬
stedt aber läßt diese Verfolger durch den Ausspruch eines andern aufhalten:
Ein tüchtig Volk spielt nicht die Polizei.
Das ist zwar sachlich wahr: aber diesem ganz verständigen Liberalismus fehlt
nur für das fünfzehnte Jahrbundert die poetische Wahrheit, von Shake¬
speares Herzensmeinung noch ganz abgesehen. Der Aufzug schließt mit der An¬
kunft der Boten Uorks, die seinen Heranzug und seine Kronprätentionen
melden.
Die erste Scene des 5. Acts ist die letzte des ganzen zweiten Theils bei
Shakespeare. Es ist so arrangirt, daß uns nicht eigentlich Kämpfe, sondern
die Resultate derselben, Flucht und Verfolgung, vorgeführt werden, wobei ich
nur erinnern will, daß das Blut an der Binde CliffordS doch wohl besser weg¬
bleibt. Dergleichen allzu realistische Wahrheit verletzt uns in Deutschland,
während sie den Romanen gefällt, wie ich denn einst in der Gesellschaft der
Ristori einen Schauspieler die Weste aufreiße» und in seinem rothen Blute
öd. h. einer rothen Flanelljacke) wühlen sah. Die erste Scene des dritten Theils
bei Shakespeare bildet die letzte des 5. Auszugs bei Dingelstedt: Zusammen¬
treffen beider Parteien im Parlamentshaus und endlicher Vergleich, daß Heinrich
lebenslänglich herrschen, Apel folgen soll, wogegen denn Margarethe für ihren
Sohn Protest erhebt. Das Schlußbild war ein wohlgefügtes, reich geordnet.
Ueber den 2. Theil Heinrichs des Sechsten (in Dingelstedts Eintheilung)
kann ich kürzer sein. Derselbe beginnt mit der Berathung der V>"ks über die
wieder zu ergreifende Offensive (Shakespeare III. Theil, 1, 2): in dieser Scene
will ich nur anmerken, daß Dingelstedt dem Richard das aus der neueren fran¬
zösischen Geschichte bekannte Urtheil über die Herzogin von Berrh umgemodelt
zu einem Lob auf Margarethe in den Mund legt:
Der einzige Mann im Hause Lancaster.
Daran schließen sich die Scenen in der Reihenfolge wie bei Shakespeare: Rui-
lcmd wird getödtet, dann kommt Aort, es folgt die ergreifende Scene seines
Schmerzes und seiner Verhöhnung und dann sein Tod, wobei Margaretha die
Worte der Prophezeihung, wie sie sich in der Bearbeitung gestaltet haben:
Vor Thoren nehme sich der Thor in Acht!
im Hinblick auf das über dem Thor Korks aufzusteckende Haupt des Herzogs
wiederholt.
Der folgende Aufzug beginnt mit einer kurzen Rast des yorkschcn Heeres
aus dem Marsch (Shakespeare II, 1). Diese Lagerung war wieder erfreulich
arrangirt: nur dürste doch wohl das Heer auf die laut mitgetheilten Trauer¬
botschaften von Aorts Tod und Warwicks Niederlage nicht in seiner Ruhe ver¬
harren, sondern seine Theilnahme in lebhafter Bewegung an den Tag geben.
In der folgenden Scene, wo das königliche Heer mit den Aorts vor der Stadt
Nork zusammentrifft, ist mir aufgefallen, daß als endlich beide Theile zum
Kampf aufbrechen,
Louucl trampet«! let our dlooä/ dolcmrs wavo —
sie nicht, wie man von gegenüberstehenden Feinden erwarten könnte, unmittel¬
bar auf einander stürzen, sondern zunächst nach verschiedenen Seiten abgehen.
Wäre es nicht besser, den Kampf auf der Bühne beginnen und sich in die
Coulissen drängen zu lassen? Dann würde ich die Scene eine Weile offen und
leer lassen, um der Phantasie des Hörers Raum zu geben, sich bei den hinter
den Coulissen ertönender Trompeten die Schlacht vorzustellen; so folgte dann
die Niederlage, die sich jetzt, allerdings ganz nach Shakespeares Angabe selbst,
unmittelbar an die Scene des Abmarsches anschließt. Shakespeare durfte eben
der jugendlich frischen Einbildungskraft seiner Zuschauer mehr zumuthen, als
wir einem heutigen Publicum. Die folgende Scene war eine vortreffliche
(Shakespeare II, 5). 'Dingelstedt hat mit großem Geschick die Scenen mit
dem auftretenden Sohn, der seinen Vater, und dem Äater, der seinen Sohn
getödtet. als Erzählung gestaltet und dem Monolog des Königs zugefügt.
Und diesen Monolog, eine Perle shatespearescher Poesie, sprach Herr Grans
in der ganzen träumerischen Weichheit, mit zum Himmel gerichteten Augen,
mitten im Schlachtgctobe, welches über sein Geschick entscheiden soll, mit großem
Verständniß, recht brav und wirkungsvoll. Es folgt dann die Flucht der König¬
lichen und Cliffords Tod, endlich die Verleihung der Herzogthümer an Richard
und Georg. Die Bitte um Vertauschung, die Richard bei Shakespeare einfach
mit'den Worten motivirt:
lor ttlostör's Zulcsäom is toe» ominous
hat Dingelstedt durch einige zugesetzte Verse etwa des Inhalts. zwei Gloster
seien schon um Hochverrath gestraft worden, commentirt und auf die Weigerung
der Bitte ihm noch tie Worte in den Mund gelegt: „Ich habe dich gewarnt!"
Ich bin zweifelhaft, ol> diese weitgehende Offenheit den Intentionen des Dichters
und dem Charakter Richards entspricht, wobei ich gleich beiläufig anmerken will,
daß der Vertreter dieser Rolle seine „bei Seite" zu machenden Bemerkungen
und Selbstbekenntnisse, wie mir schien, viel zu hörbar für die Umstehenden
machte. Den Schluß des Acts aber, daß Richard während des Fallens des
Vorhangs dem todten Clifford das Haupt abschlägt, möchten wir Dingelstedt
bitten wieder fallen zu lassen. Diese Schauspiele enthalten wahrhaftig des Grä߬
lichen genug und so viel, daß hier eher eine Minderung als eine Mehrung an
der Stelle zu sein scheint.
Der dritte Auszug beginnt mit dem Fang des Königs (Shakespeare III, 1).
Träumerisch, in der Hand ein Buch, betritt er das ihm feindliche Land: die
Feder, die er in die Luft bläst, das Symbol der Veränderlichkeit des Volks,
nimmt er, ganz passend und ungezwungen, von dem Hut des einen Jägers.
Es folgt dann die Scene mit Lady Grey und Richards Monolog. Nun aber
folgen Auftritte, die gänzlich umgestaltet sind. Die ganzen Vorgänge in
Frankreich, die bei Shakespeare'(III, Z) dramatische Handlung find, hat Dingel¬
stedt als solche gestrichen und in Erzählung verwandelt. Statt der Vorgänge
am französischen Hof ist von Dingclstcdr dann eine ganze große Scene am
Meeresstrand bei Dover eingelegt, wo Margarethe Warwick durch die Mit¬
theilung von der compromittircnden Leichtfertigkeit des Königs und durch Ver¬
lobung ihres Sohnes mit seiner Tochter (auch über ihre eigne Hand sei ja einst
verfügt worden, sagt sie) von Eduard abwendet und auf ihre Seite herüber¬
zieht. Wenn ich von dein von mir festgehaltenen Princip absehe, so muß das
Wirt'ungsreiche dieser fast ganz dem Bearbeiter gehörenden Scene anerkannt
werden: nur die Worte, welche Dingelstedt Margarethen noch i» den Mund
legt, um Warwick zu gewinnen, daß sie immlich gen bereit sei, die Herrschaft
ihm zu überlassen, sie sei ein Weib und habe lange sich nach einer Stütze ge¬
sehnt — diese Worie erscheinen mir von sehr zweifelhafter poetischer Wahrheit.
Ist Margarethe wirklich herrschensmüdeOder heuchelt sie diese Gesinnung?
Keins von beiden scheint ihrem Charakter zu entsprechen. Die samische Ein¬
richtung war wieder vortrefflich: das zur Begrüßung herandrängende Volk in
seiner Bewegung und dann, als Warwick allein sein will und es zurückweist,
das murrende Zurückweichen desselben — alles war sehr gut gedacht und
geübt.
Auch der Anfang des vierten Acts entspricht dem shakespeareschein die
Hofscene mit der Botschaft von Frankreich und Warwick. Die folgende Scene
dagegen bringt wieder große Umgestaltungen des shakespeareschcn Textes, Dingel-
stedt läßt die Sachen so verlaufen: Margarethe dringt zu den Zelten Warwicks
König Eduard gefangen und erzählt die Art der Gefangennehmung in aus¬
führlicher Weise, während dieselbe bei Shakespeare sehr knapp und confus
dramatisch vorgeführt wird. Endlich erhebt sich noch zwischen der Königin und
Warwick ein Streit, weil der letztere den König in ritterliche Haft giebt, während
die Königin ihn getödtet wissen will. Alles dies gehört in dieser Form dem
Bearbeiter an. Der letzte Auftritt des Acts (Shakespeare IV. 6), welcher
im Tower spielt, ist, wie ich denke, wesentlich erweitert und, wie mir scheint,
etwas zu lang geworden: jedenfalls sind die Reden des jungen Riclunvnd Zu¬
satz des Bearbeiters. Die Frage des Kindes an Heinrich: „Bist du ein König?"
ist in ihrer pointirter Naivetät von großer Wirkung,
Für die erste Scene des fünften Auszugs sind IV, 7 und 8 mit V, 1 des
Originals zusammengezogen: Eduard verhandelt mit Warwick, Nachricht von
Heinrichs Gefangennahme, Zuzug Verschiedener und Wicderabfall von Clarence.
(Beiläufig will ich bemerken, das; mir die Aenderung der „hastigen Deutschen",
wie Schlegel I>g,8t^ (jcrmMs übersetzt hat, in „rohe Deutsche", wie ich wenig¬
stens zu verstehen geglaubt habe, nicht glücklich scheint). Die folgenden Scenen
bringen den Tod Warwicks und die Gefangennehmung der Königin: übrigens
ist auch hier vieles umgestaltet und anders geordnet, sowie dann bei der Er¬
mordung des Prinzen Eduard der Schmerz und die Verzweiflung der Mutter
viel weiter ausgemalt ist. Der Prinz stirbt mit den Worten: „Lieb Mütterlein,
gute Nacht" und Margarethe verfällt in eine Art von Wahnsinn und begleitet
die Leiche, die Träger bittend, Eduard nicht zu wecken. Das alles ist sehr
modern und sticht gegen die Kraft der shatespeareschen historischen Tragödie
auffallend ab. Hieran schließt Dingelstedt gleich die letzte Scene des Originals
und läßt erst dann die Ermordung Heinrichs durch Moster folgen; auch hat er
dieser Ermordung eine Einleitung vorgesetzt, in welcher Heinrich einen Traum
erzählt, der seinem Sohne, wie er denkt, Glück bedeuten soll: der Zuschauer,
welcher den Tod des Prinzen kennt, faßt den Sinn des zweideutigen Wahr¬
zeichens in seiner wahren unglückseligen Bedeutung. Aber sollen wir hier nicht
wieder einmal nach der Berechtigung, ja selbst nur nach der Zweckmäßigkeit der
Aenderung fragen? Ist der Eingang der Scenen, wie ihn Shakespeare hat:
6ova äa/, mzs tora. Vfbat! at z^our book so dg,ra?
H,z?, in^ goocl tora: mz-^ tora, I suoulä hö.^ latlier.
gerade' durch den Mangel aller Einleitung, durch den unvorbereiteter, abrupten
Eintritt in die Handlung, durch dieses tragische in unzZjg,» roh lApors nicht
von einer so gewaltigen, intensiven Wirkung, daß keine Aenderung, kein Zu¬
satz im Stande ist dieselbe zu übcrgipfeln?
In Richard dem Dritten hat die Bearbeitung Dingelstedts das von Shake¬
speare Gegebene ziemlich intact gelassen: doch wird einiges dieser Art zu er¬
wähnen sein, und im Uebrigen möchte ich das Stück gerne mit einigen dramatur¬
gischen Bemerkungen begleiten. I, 2 die Werbung um Anna, deren nächste
Angehörige Gloster umgebracht, spielte Herr Lehfcld sehr gut, wie er denn
überhaupt seine Rolle geistvoll auffaßte und mit großer Kraft durchführte: in Hein¬
rich dem Sechsten schien er nur in demselben Charakter nicht immer das schöne
Maß innezuhalten, welches das Allzuviel nach allen Seiten hin ausschließt,
und welches allerdings gerade von kräftigen Talenten leicht überschritten wird.
— Aber trotz der vortrefflichen Leistung Lehfelds in dieser Scene, welche durch
die Darstellerin der Anna (Frl. Knaufs) sehr wacker unterstützt wurde, — ich
muß gestehen, das Gelingen dieser Werbung wird auch das tüchtigste Spiel
niemals wahrscheinlich machen können: der Zuhörer wird immer ungläubig diese
Wandelung anstaunen, und alle Kunst Shakespeares und der Darsteller wird die
Unnatürlichkeit des Borgangs nicht vergessen machen. H,Il<zuNrel0 domus äcii'ung,t
Homerus: auch Shakespeare ist nicht ohne einiges, was man anders wünschen
möchte.
Den zweiten Act beginnt Dingelstedt mit I. 3 des gewöhnlichen Textes.
Daß in der Scene, wo Margarethe zwischen die streitenden Gegner tritt
(Shakespeare I, 3), bei der Aufführung die wirkungsvollen Reden Margarethens
aus dem Hintergrund weggelassen sind, sie vielmehr dort schweigend verharrt
und erst mit ihrem Vortreten spricht:
Hört mich, Piraten, die ihr hadcrnd zankt u. s. w.
vermag ich nicht zu billigen; denn wenn auch die durch die Zwischenreden Mar¬
garethens entstehenden Pausen in den, Disput der auf dem Proscenium Stehen¬
den einige Schwierigkeit bieten, so ist diese doch nicht so unüberwindlich, daß
man darüber jene vortrefflichen Reden aufgeben möchte, die wie die Stimme
der Nemesis in den Hader hineintönen. Sehr gut, wenn ich recht gehört
habe, mit einer sehr passenden Aenderung der schlegelschen Uebersetzung, wurde
die schwierige Stelle I. 3 gesprochen, wo Anna mitten in ihrem Fluche von
Gloster unterbrochen wird:
^bon rg,F ok Iwnour! tvou äetestoä —
Margaret.
liiebarä!
Ha?
.1 va.II thes not.
,s erz^ et>os infra;^ edeln lor >1 6i<z kinnt^,
^IKat tkov. llaclst oall'ä ins all tliese bitter nnmos.
Wii^, so .1 alia; but loolc'et lor no repl^.
0! Ist me malco etre perioä to eurse.
is alone me ^na suas in — Na-rZkret.
Dieses echt shakespearesche tragische Spielen mit Worten wurde, wie gesagt, zu
vortrefflichem Ausdruck gebracht. Richard haucht zähneknirschend den Fluch
Margarethens (in aller Leidenschaft und Rachsucht zu voller Geltung erhoben
durch Frau Hettstedt) und als er das passende Stichwort erlauscht, wirst er
höhnisch den Namen Margarethens hinein, den ganzen Fluch auf ihr eigenes
Haupt abzuleiten.
Zu der Scene der Ermordung des Clarence habe ich zwei Bemerkungen
zu machen. Der eine Mörder wird einen Augenblick von Gewissensbissen er¬
griffen, doch Pflegen dieselben bei ihm nicht länger zu dauern, wie er selbst
sagt, „als bis etwa einer zwanzig zählt." Dingelstedt setzt dafür: „so lange
einer an einem Vaterunser betet" und läßt den Mörder in tiefer Ironie das
stille Vaterunser, um die Zeit der Gewissensregung zu vertreiben, gleich selbst
beten. Das ist so geistreich erfunden und wirkungsreich, daß man fast wünschen
möchte, Shakespeare hätte so geschrieben. Sehr sinnreich erschien mir in dem¬
selben Auftritt ein scenisches Arrangement. Als es zur Ausführung der Tödtung
kommt, ruft der eine Mörder: I.ont< blliunä ^vu, tora, und der andere
tödtet ihn. Ich habe diese Aufforderung immer so verstanden, als ob die
Mörder ihre blutige That nicht wagten, so lange sie Clarence anschaut, als ob
sie sein Auge scheuten. In Weimar dagegen schlich der eine Mörder sich hinter
Clarence, der vorn stehen bleibende rief gleichsam warnend jene Worte, und als
sich nun Clarence »ach jenein umdreht, giebt er sich dem Mordstreich des vor
ihm Stehenden vertheidigungslos Preis.
In der folgenden Scene, wo die Botschaft von dem Tod des Clarence an
den Hof gelangt, würde ich die Fürbitte Stanleys sür seinen Diener nicht
streichen. Sie scheint ein Iiors-ä'vöuvrö, ist es aber nicht; mit ihrer Weglassung
fällt vielmehr die Motivirung für die Verse
Wer bat süe Clarence? u. s. w.
hinweg. In dem Auftritt, wo die alte York Gloster den Segen ertheilt, und
dieser seine höhnischen Zusätze zu demselben macht,*
Amen!
Und laß als guten alten Mann mich sterben!
Das ist das Hauptziel eines Muttersegens:
Mich wundert, daß Ihr' Gnaden das vergaß —
bin ich doch kaum zweifelhaft, daß unmittelbar nach Amen! schon mit den
Werten „Und laß" das Bciseitesprechcn zu beginnen hat, da die Ironie
schon in dieser Zeile zu sehr auf der Hand liegt, um verkannt werden zu
können.
Der dritte Act bei Dingelstedt beginnt mit der ,wieder sehr veränderten
Volksheere. Ich übergehe andere theilweise sehr nothwendige Umgestaltungen
und erwähne nur, daß Dingelstedt die bei Shakespeare allerdings etwas brüske
Entfernung des Bischofs, den Gloster nach den Erdbeeren ausschickt, mit den
Worten zu motiviren sucht:
Die Bischofsmütz' sitzt mir zu hoch im Rath.
Sollte aber Gloster nicht vielmehr mit seinem Erdbecrverlaugen seine völlige
Unbefangenheit, die Milde und Heiterkeit, von der gleich nachher die Rede ist,
heuchlerisch haben bemerken lassen wollen, um dann desto unvermutheter hervor¬
zubrechen? Die letzte Scene des Auszugs (Shakespeare III, 4), die Komödie,
wo Lord Buckingham als Vormund der Bürger Gloster die Krone anbietet und
dieser sie sich scheinbar aufdringen läßt, war vortrefflich arrangirt. Man sah
Richard betend zwischen zwei Bischöfen vor einem Altar mit hohen Kerzen: mit
seinem Gebetbuch trat er vor und hielt seine heuchlerische Rede. Beim Abgang
der Abgeordneten sinkt er wieder auf die Kniee. Und das spielte nun Herr
Lehfeld sehr sinnig. Wie er kniend und anscheinend im Gebetbuch lesend der
Deputation nachblickt, dann das Buch zuschlägt und mit frivoler Miene und
Bewegung den Sinn der Komödie darlegt, ist sehr lobenswert!).
Aus dem vierten Act will ich nur die effektvolle Klagescene der drei Frauen
(IV, 4), Margaretha, Elisabeth und Herzogin York (Frau Hettstedt, Frl. Bu߬
ler, Fr. Stör) anerkennend hervorheben.
Eine ziemlich unnöthige Interpolation ist, wie mir scheint, die von Dingel¬
stedt zu Anfang des ö. Akts gemachte. Er läßt dort melden, daß die Prin¬
zessin Elisabeth, deren Hand die mütterliche Schwäche der .Königin Elisabeth
dem Gloster versprochen, dies abgelehnt habe und !>iichmond ihre Hand zu
reichen bereit sei. Das Versprechen der Königin Elisabeth (Shakespeare IV, 4)
klingt allerdings seltsam genug: sie will dem Mörder ihrer Kinder die Hand
ihrer Tochter geben. Aber schon in der folgenden Scene giebt die Botschaft
an Richmond:
Sag ihm, die Königin woll' ihre Tochter
Elisabeth ihm herzlich gern vermählen —
eine Stelle, welche die Bearbeitung freilich, wenn ich mich recht entsinne, wegläßt
— vollkommene Aufklärung, was es mit jenem ersten Versprechen auffiel? hat:
entweder ist die Königin sofort bei ruhiger Ueberlegung von >ihrem ehrgeizigen
Plan zurückgekommen oder sie hat die Einwilligung zu jener Heirat!) überhaupt
nur zum Schein gegeben, um dem Tyrannen gegenüber Zeit zu gewinnen und
sich dessen Rache nicht auszusetzen.
V, 3 ist Papier und Tinte, welche Richard verlangt, von der Bearbeitung
in einen Becher Wein verwandelt, den er fordert, dann aber ohne zu kosten
hinstellen läßt und erst nach der Erscheinung der Geister zur Stärkung hinunter¬
stürze. Die Zelte Richards und Richmvnds, welche in Berlin nebeneinander
stehen, erscheinen in Weimar nach einander: es ist einleuchtend, daß beide Me¬
thoden etwas für sich haben, obgleich der Grad der weimarischen Aufstellung
vielleicht nur die geringere Breite der Bühne ist. Die Gcistercrscheinungen selbst
hat man vielfach zu zahlreich und daher durch Wiederholung monoton finden
wollen; aber Shakespeare mußte wohl, was er that, wenn er an das Ende
dieser durch blutige Greuel verwirrenden Laufbahn eine Scene setzte, die durch
Erscheinung der einzelnen Opfer (Prinz Eduard, Heinrich der Sechste, Cla-
rence :c.) das Ganze unmittelbar vor der Katastrophe noch einmal gleichsam
in einem Rcsumv zusammenfaßt und so den Spruch der poetischen Gerechtig¬
keit aufs klarste motivirt. Das Spiel Sehfelds in dieser Scene war sehr ver¬
dienstlich: das sich selbst vrientirende Herumblicken beim Erwachen, die Ver¬
änderung der Gesichtszüge beim Monolog, die körperliche Schwäche in Folge
des geistigen Schreckens, das Straucheln und das letzte Sichzusammenraffen des
gewaltigen SünderLeistcs, der mit aller Energie das Gefühl unterdrückt —
dies alles bildet einen würdigen Schlußstein in dem schönen Gebäude dieser
Festaufführungen.
Und hiermit schließe auch ich diesen zweiten Bericht und fasse mein Ge-
sammturthcil noch einmal kurz zusammen. Die Methode Dingelstedts bei der
Bearbeitung dieser Stücke erscheint mir zu gewaltsam. Es wird viel gestrichen,
umgestellt, verändert; aber das alles ist theils nothwendig durch die Bühnen¬
zweckmäßigkeit geboten, theils leicht zu entschuldigen. Die Interpolationen da¬
gegen, die Einschiebungen eigner Dichtung in Shakespeare, welche in den letz¬
ten Stücken in immer weiterem Umfang sich geltend machen, sind einem Genius
wie Shakespeare gegenüber, so sinnig sie theilweise auch an sich sein mögen,
unbedingt zu verwerfen. Aber trotz dieser Ausstellung bleibt das Verdienst
Dingelstedts. durch seine Bearbeitung manche dieser Stücke zuerst zugänglich ge¬
macht und alle in einer Reihenfolge zuerst dargestellt zu haben, i» seiner Gel¬
tung ungeschmälert. Er hat den Weg zu immer ausgedehnterer Bekanntschaft
mit Shakespeare auch für die Fernerstehenden geebnet: die großen Züge der
shakcspcareschen Tragödie, die markige Handlung, das ergreifende Schicksal,
die tiefe Idee dieser unvergleichlichen Dramen werden auf einen immer weiteren
Kreis von Hörern wirken können. So kann man denn nur wünschen, daß
möglichst viele deutsche Bühnen mit Eiser und Liebe diese» Versuch nachzumachen
sich beeifern, daß die Schauspieler mit gleicher Hingebung wie die weimarischen,
deren ausdauernde Begeisterung volle Anerkennung verdient, sich der Ausführung
dieser hohen Aufgabe widmen, und daß sie dabei einen Führer zur Seite haben
Die letzten militärischen Ereignisse haben nur einen demonstrativen Charak¬
ter und sollen die Möglichkeit eines Waffenstillstandes mit Aufgabe der dänischen
Blokade herbeiführen. Gefechte werden nirgends mehr geliefert, der Drang nach
Entscheidung, welcher den Krieg belebt, ist jetzt gänzlich verschwunden. Alles
wendet sich dem Frieden zu. Auch wir können uns mit der großen preußischen
Militärfriedensfrage, nämlich mit der nothwendigen Dauer der Dienstzeit be¬
schäftigen.
Die Wichtigkeit der preußischen Heerverfassung für Deutschland hat der
Krieg in Schleswig klar genug gezeigt, und jeder Patriot wird in den Wunsch
einstimmen, daß der preußische Soldat auf der Höhe der Ausbildung stehen
bleibt, welche er jetzt erlangt hat, damit er befähigt bleibe zu siegen, nicht
nur gegen ein Volksheer, wie das dänische, sondern auch gegen eine in sich
fest fundamentirte, im Kriege gestählte Armee wie z. B. die französische.
In dem letzten Briefe ist ausgesprochen, daß von den Ausbildungsgebieten
des Soldaten die Disciplin das wichtigste ist und daß diese also, bei der Frage,
wie lange der Soldat dienen soll, um ein kriegsbrauchbarer Soldat zu werden,
den Ausschlag geben muß; vorausgesetzt, daß es möglich ist in derselben Zeit
den Anforderungen der Technik und des militärische» Geistes zu genügen.
Die Disciplin, das eiserne Band, welches den Soldaten scheiden soll nicht
nur von wichtigen Rechten seines frühern Lebens, von seinen Anschauungen,
seiner Familie, allem, was ihn im bürgerlichen Leben bestimmt, sondern welches ihn
auch unaufhörlich zwingt, sich selbst zu überwinden'in allen seinen Bedürfnissen
wie Hunger, Durst und Ermüdung und in seinen Gefühlen wie Furcht. Haß
und Liebe, und welches den Vorgesetzten zum alleinigen Bestimmer seines ge¬
stimmten Handelns und Strebens macht, diese Disciplin ist eine so furchtbare
Macht und widerspricht dergestalt dem gegenwärtigen Drang nach individueller
Freiheit, daß sie eine geraume Zeit erfordert, ehe sie im Soldaten heimisch ge¬
worden ist, so heimisch, daß er bei jeder Gelegenheit, wo er aus dem bürger¬
lichen Leben wieder in die Reihen eines Truppenthcils tritt, sich in der Truppe
wieder fest, sicher, im Gehorsam frei fühlt. — Die Disciplin soll den Sol¬
daten dergestalt in die Hand des Vorgesetzten arbeiten, daß er nicht nur dessen
Befehle ausführt, sondern auch mit Fröhlichkeit und allen Kräften seines Kör-
Pers und seiner Seele die Vollkommenheit der Ausführung erstrebt. Das mili¬
tärische Gesetz muß ihn dergestalt erfaßt haben, daß die Freiheit ihm nur im
Gesetz möglich ist. Nach dieser Richtung hat die Disciplin dieselbe Aufgabe
wie der Staat selbst. Und je mehr der Staat diese Aufgabe zu erfüllen weiß,
desto kürzerer Dienstzeit bedarf es, um den Soldaten in der Disciplin heimisch
zu machen. — Je kleiner der Staat, desto schlechter die Disciplin in der Truppe;
denn je kleiner der Staat, desto mehr kommt individueller Einfluß zur Geltung,
desto mehr machen sich augenblickliche Bedürfnisse gegenüber der Unwandelbarkeit
des Gesetzes geltend, desto weniger Respect hat der Einzelne vor der unwider¬
stehlichen Gewalt des Gesammtwillens, der sich in Recht und Gesetz ausdrückt.
Je kleiner der Staat, um so länger müßte also die Dienstzeit sein. In Deutsch¬
land gilt beinahe die umgekehrte Regel.
Je mehr das Gesetz allein, allgewaltig, unerschüttert, in einem Staat regiert,
um so naturgemäßer ist in der Truppe die Disciplin entwickelt und um so
kürzer kann die Dienstzeit sein. Hieraus erklärt sich die Kraft der Heere in
den Republiken der alten Zeit, so lange sie aus den freien Bürgern formirt
wurden. Hieraus entspringt die Möglichkeit jeden Engländer augenblicklich und
im gefährlichsten Moment zum Wahrer des Gesetzes, zum Constabler zu machen.
Aus dem Werthe, welchen der Engländer auf die Erfüllung des Gesetzes legt,
erklärt sich auch die Strenge der Diöciplinargcsetze in der englischen Armee.
Aber auch je mehr Autorität die Verfassung eines Landes einzelnen Ständen
gewährt, und je mehr diese Stände die Führerschaft in der Armee inne haben,
um so leichter handhabt sich die Disciplin in der Truppe, und um so besser ist
die letztere. Aus diesem Grunde sind die mecklenburgischen Truppen vor allen
andern kleinen deutschen Kontingenten so tüchtig. Darin -liegt auch die Kraft
des englischen Heeres und der Armee der Cvnföderirten in Nordamerika.
Je mehr in einem Staate das Gesetz nur der Ausfluß eines Einzelwillens
ist. um so schwieriger ist die Handhabung der Disciplin in der Truppe, um
so länger muß die Dienstzeit sein, und um so mehr muß das Interesse des
Soldaten mit dem des Herrschers verbunden werden. Frankreich bietet in dieser
Beziehung ein reiches Feld des Vergleiches, sowohl in seiner jetzigen Heeres-
verfassung als in denen vergangener Regierungen.
Wenn in jedem Bürger das Gesetz der Gemeinschaft seinen Vertreter findet,
und wenn jeder Soldat sich mit dieser Gemeinschaft eins fühlt, dann ist der
bewaffnete Bürger ein guter, ein disciplinirter Soldat. Die Nichtigkeit diefer
Behauptung lehrt uns der Kampf der alten deutschen Reichsstädte, vor allen
andern geschichtlichen Begebenheiten aber der Kampf der reformieren Religivns-
hecre. Hugenotten und Puritaner haben Heere hervorgezaubert, die zu den best-
disciplinirten der Welt zählen müssen.
Also jede staatliche Verfassung fordert ihre eigne Militärorganisation, von
der politischen Entwickelung des Volkes hängt in großem Maße die Zeitdauer
ab, welche der Soldat bedarf, um disciplinirt zu werden.
Der preußische Staat ist im Uebergange von einem Staat des Einzel-
willens zu einem Verfassungsstaat begriffen. Zu keiner Zeit vielleicht war die
Achtung vor dem Bestehenden so unsicher, der Streit um die Gesetze selbst so
umfangreich, laut und erbittert, die politischen Parteien so egoistisch, und die
Ehrfurcht vor dem Gesetz und der Handhabung desselben so sehr erschüttert.
Und es wird längere Zeit dauern, bis darin wieder Festigkeit eintritt, bis
die Freiheit selbst auch Subordination verleiht und der Einzelne die Pflichten
für das Ganze fest und warm im Herzen trägt. Und deshalb bedarf der Preuße
gerade jetzt, unrein brauchbarer Soldat zu werden, einer gründlichen Zucht in
der Disciplin, und deshalb darf gerade jetzt in den nach dieser Richtung ge¬
stellten Forderungen nicht nachgelassen werden.
Von allen stehenden' Heeren, welche den Anspruch machen eine eigene
kriegerische Kraft zu sein, hat das preußische die kürzeste Dienstzeit bei der Fahne.
Preußen kann diesen Vorzug genießen, weil in Folge der Vertretung aller
Stände die meiste Zucht in seineu Reihen wohnt. Eine Erfahrung, daß in
Folge übermäßiger Disciplin ein Vertuöchern des Organismus eintrete und der
Soldat bei seinem Rücktritt in das Civckverhältniß also die individuelle Schwung¬
kraft verloren habe, ist am gemeinen Soldaten nicht, selbst nicht an der Mehr¬
zahl der zwölf Jahre gedienten Unterofficiere gemacht worden. Ob eine ge¬
nügende Zucht vorhanden ist, hat die Erfahrung noch nicht lehren tonnen, da
die preußische Armee seil dem Jahre 1813 keinen Krieg mit einem ebenbürtigen
Feind geführt und die vollen Anforderungen des Krieges auf ihren Märschen
nicht gefunden hat. Die Ausdauer in dem jetzigen Wintertricg und der schöne,
aber schon im ersten Anlauf vom Erfolg getragene Sturm lassen hoffen, daß
das vorhandene Quantum Disciplin hinreicht. — Beispiele, daß die Zucht zu
gering gewesen sei, hat die Linieninfanterie in den aufgeregten Zeiten, welche
der Julirevolution 1830 folgten, nicht erlebt, wohl aber 1848 und 49. In
der Landwehr sind in beiden Perioden sowohl, als auch außerdem bei einzelnen
Gelegenheiten Excesse vorgekommen, die den, Beweis eines Mangels an Zucht
in dieser Truppe geliefert haben. Die Zahl der Lanbwehrexcesse ist in den
Jahren 1830—60 immer mehr gewachsen. — Den Grund zu diesen*verschiedenen
Ereignissen haben wir zu suchen einmal in der veränderten Dienstzeit und dann
in der Verschiedenheit der Güte des Nahmens d. h. der Vorgesetzten.
Bis zum Jahre 1831 diente die Mannschaft der Infanterie drei Jahre im
stehenden Heere. Die bei der geringen Starke der Linie nicht zur Einstellung
kommenden zahlreichen Mannschaften, welche zur Completirung der Landwehr
durchaus nothwendig waren, wurden als Landwehrrekruten in sechswöchent¬
licher Dienstzeit ausgebildet. — Bei der mobilen Armee.1831 wurde kein Man¬
gel an Disciplin, wohl aber an Technik empfunden, rend um wirklich unterrich¬
tete Soldaten zu haben, führte man in der Linieninfanterie mit Ausnahme
der Garde unter Bcibehalt der bisherigen Gcsammtkvpfstärke die zweijährige
Dienstzeit ein. Der Technik wurde hiermit ein größerer Werth beigelegt als
der Disciplin, und dieser Umstand trug dazu bei, daß im Jahre 1848 sich die
Linie theilweise, die Landwehr häufig zuchtlos zeigte. Diese Erfahrung führte
wieder zu einer längeren Dienstzeit und zu einer Entfernung der Landwehr aus
dem Theil der Truppen, welche bestimmt sind in das Feld zu rücken und den
Forderungen des Krieges am meisten zu entsprechen. Von einer zweiundeinhalb-
jährigen Dienstzeit ging man zur dreijährigen über und verdoppelte die Zahl
der Liuienbataillvne.
Daß sich gegen die Kriegstüchtigkeit der Landwehr mit jedem Jahre mehr
das Urtheil des Soldaten vom Fach richtete, war natürlich, und ist nicht aus
Parteibefangenheit zu erklären. Denn der Befehl in dieser Truppe wurde all-
mälig schlechter, je mehr die Charaktere in den Reihen der Landwehrcommandeure
abnahmen. Der lange Friede und der Mangel an Reibung, welchen die heu¬
tige Ausbildung der Disciplin in den obern Chargen herbeiführt, haben schon
dem Linienofsizier die Straffheit verringert. Die nivellirende Thätigkeit der
heutigen Cultur hat den Laudwehroffizier noch ungeeigneter zur Handhabung
der Disciplin gemacht wie er an sich war. — Charaktere, Befehl und Zucht
wurden im Allgemeinen schlaffer und war deshalb die Landwehr als Feldtruppe
weniger brauchbar. Die Reorganisation der preußischen Armee ist an sich
betrachtet nicht eine Maßregel der Willkür, sondern eine Frucht der natürlichen
Entwickelung.
Die Ereignisse haben also allmälig dahin geführt, daß bei der jetzigen
Ausbiidungsweise eine dreijährige Zeit nothwendig ist, um einen disciplinirten
Soldaten zu machen. Die jetzigen Ersahrungen im Kriege in Schleswig füh¬
ren entschieden zu demselben Resultat. Allerdings, glänzende Tapferkeit, eine
hervorstechende militärische Haltung sind unabhängig von der soldatischen
Zucht; die besonders belobten Soldaten finden wir deshalb unter den Rekruten
sowohl, als unter den ältesten Reservisten. Die stetige Vciffung aber, die
Ausdauer in der Gefahr sowohl, als auch in den Mühen des Dienstes, die
Gefechtdisciplin, das Eingehen in die Befehle des Vorgesetzten finden wir
überall vertreten durch die drei und mehr Jahre gedient habenden Leute. sta¬
tistisch weist sich die Richtigkeit dieser Behauptung unzweifelhaft nach in der
viel geringeren Zahl Kugeln, welche der alte Soldat im Verhältniß zum Re¬
kruten verschießt, und in der Zahl von Unglücksfällen, welche die jungen Ar¬
tilleristen in der Handhabung der Munition herbeigeführt haben. Außerdem
zeigt sich dasselbe in der Ausdauer bei Märschen, bei Arbeiten und zumal im
Wachdienst.
Wenn aber durch Erfahrungen bewiesen ist, daß bei der jetzigen Methode
der Ausbildung die Disciplin eine mindestens dreijährige Dienstzeit erfordert,
so ist damit noch nicht gesagt, daß diese Dienstzeit überhaupt unvermeidlich ist.
Will man die Dienstzeit aus nationalökonomischen Rücksichten vermindern, so
»ruß die Ausbildung verbessert werden, so bedarf es der schärfern Ausbildung
von Charakteren nnter den Vorgesetzten, eines anhaltenderen Verkehrs zwischen
Vorgesetzten und Untergebenen und einer größeren Anforderung an die Leistungs¬
fähigkeit des Soldaten und der kürzern Dienstzeit als bisher.
Die schärferen Charaktere unter dem Offizierstandc werden vor allen Din¬
gen durch Reibung entwickelt. Man mache den Offizier selbständiger, gebe ihm
militärisch einen größern Wirkungskreis als der Cz'ercierplatz bietet, zumal für
die Generalität, löse das Band der Disciplin nnter Offiziere», sobald sie nicht
im Dienst sind, und »räche die Generalität durch ein Altersgesetz jünger und
unduldsamer.
Die Aufstellung großer ^ager wird diese Aufgaben durchgehend leichter
lösen lassen, als das die Offiziere aller Classen im Privatleben isolirende Gar-
nisonlebcn.
Noch mehr fördert das Lagerleben den nähern Umgang des Vorgesetzten
mit dem genieinen Soldaten, nicht den vertrauliche», sondern den erziehenden
und durch die Aufsicht bildenden. Die Anforderungen des Vorgesehen, als
auch die Sorge desselben für das Wohl des Untergebenen machen sich im Lager
unausgesetzt geltend. — Zeit und Raum gestatten im Lager auch größere An¬
forderungen zu machen und die erhöhte Leistungsfähigkeit des Soldaten zu ent¬
wickeln.
Doch darf diese Methode bei verkürzter Dienstzeit nicht nur auf das Lager
beschränkt werden, sonder» muß Vom ersten Tage des Eintritts der Rekruten an
geübt werden. In dieser Beziehung empfiehlt sich die schon vor einigen Jah¬
re» in diesem Blatte von anderer Seite vorgeschlagene Formation jedes Jahr¬
gangs von Rekruten in einen besondern Truppentheil.
Also 500 Rekruten stellt man mit ca. 100 Offizieren, Unteroffizieren und
Gefreiten in ein Bataillon zusammen und beginnt am 1. October ihre Aus¬
bildung in einem offnen Ort, am 1. April rückt das Bataillon in eine Festung,
versieht hier den Dienst und lernt das, was die Garnisoneinrichtungen und die
Festung bietet, im Exercieren, Schießen, Turnen. Fechten, im Festungsdienst,
Schanzenbau, Stürmen von Werken u. tgi. Im Herbst geben diese Bataillone
die zum Garnisondienst nothwendigen Mannschaften, betheiligen sich mit dem
Rest an den Manövern und bilden dann die Garnison der Festungen bis zum
nächsten 1. April, an welchem Tage sie nach einjähriger Dienstzeit ins Lager
rücken und nun mit großen Exercitien, dem Bau von Hütten, Lagern und Ver-
schanzungen, mit Märschen und mit dem Studium im Terrain mit und ohne
Kugel beschäftigt werden. Ein Manöver mit wechselnden Quartieren bildet dann
den Schluß der Dienstzeit, führt das Bataillon wieder an den Ort zurück,' wo
es formirt war und wo der zweijährige Kreislauf von Neuem beginnt. —
Die technische Ausbildung der Artillerie und der Pionniere wird in analoger
Weise sich ebenso vollständig erreichen lassen, wie dies unzweifelhaft bei der
Infanterie der Fall ist. Die Mannschaften aber, welche reiten und fahren
lernen müssen, bedürfen erfahrungsmäßig einer längern Dienstzeit, und bei diesen
ist eine dreijährige eben nur hinreichend.
Der kriegerische Geist wird im Lagerleben und in einer schärfer auf den
Kriegszwcck zielenden Ausbildung entschieden Mehrgewinnen, als in der jetzigen
Erziehungsweise des Soldaten.
Also wer für Preußen das Heer in seinem jetzigen guten Stande erhalten
*
und die Dienstzeit abkürzen will, der muß für dieses Land, welches die Zukunft
Deutschlands in sich trägt, erstreben:
Zunächst eine Verfassung, die in dem Gemeindeladen, wie in dem der Land¬
schaften und der Stacttsregicrung dem Einzelnen den Sinn für Gesetzlichkeit
und Zucht nach jeder Richtung entwickelt.
Dann eine militärische Ausbildung, welche den Soldaten scharf anfaßt und
ihn schon im Frieden mit Allem vertraut macht, was der Krieg in seiner ganzen
Gewalt von ihm fordert.
Den Eingang des Buches bildet ein Ueberblick des bisher für die frühere
Frankengcschichte Geleisteten. Was die französischen Schriftsteller betrifft, so ist die
interessante, neuerlich oft besprochene Art, wie sich seit Jahrhunderten die politische
Stellung und Ansicht der historischen Forscher in ihrer Auffassung der merovimuschen
und vormerovingischen Frankengcschichte abspiegelt, auch hier hervorgehoben , was
aber soll man sagen, wenn Aug. Thierry nur in einer Anmertungszcile, als ein
Nachtreter Guizots, Fauriel (soviel wir gefunden) gar nicht erwähnt, und Guizot
selbst unter Anderm zur Rede gesetzt wird, weil er beim Anblick der immerwährenden
Kämpfe der Germanen nicht gemerkt, daß die Germanen, aus einer Menge kleinerer
Stämme bestehend, in diesen Kämpfen „mit aller Macht der ihnen innewohnenden
Kraft" nach einer Einheit gerungen, durch welche sie „ihre Macht und Sclbstüudig-
kcit bethätigen konnten" (S. 37). Weil kurzer und noch oberflächlicher sind die
deutschen Forscher behandelt (die neuern — abgesehen von Eichhorn, Savigny und
Jac. Grimm, die schon vorher Erwähnung gefunden — in folgender Auswahl und
Reihenfolge! Mannert. Friedrich Roth und Paul Noth, Pertz — wegen seines
Schriftchens über die Hausmciier — Löbell, Manz). Darauf folgt ein Abschnitt
über das gallische Land und seine Bewohner unter römischer Herrschaft — zuerst eine
Zusammenstellung der gewöhnlichen Notizen über die Gallier, ihre Herkunft. Tracht.
Götterlehre :c., dann eine Erzählung ihrer Unterwerfung durch die Römer, von der
man gar nicht absieht, was sie. in solcher Ausführlichkeit, in einer Merovinger-
geschichte soll; was nachher von dem Zustande Galliens unter der Kaiserherrschaft.
der Verwaltungsorganisation ze, gesagt ist, würde schon eher am Platze sein, wenn
nur weiterhin, wo die Rede auf das mcrovingische Reich selbst kommt, die Bedeu¬
tung jener Dinge süe dieses Reich irgendeine wirkliche Erörterung fände. Ausgehend
von der gewöhnlichen Ansicht, das; das fränkische Volk entstanden sei aus einem
Bunde von Völkerschaften, dessen Mittelpunkt die Sigambern gebildei, berichtet nun
der Verfasser die Kämpfe Cäsars und anderer römischer Feldherr» gegen diese Sigam¬
bern und mehre in Zusammenhang mit ihnen erscheinende Völkerschaften, bis end¬
lich (S. 137) ziemlich plötzlich der fränkische Name hervortritt. Ueber die entschei¬
denden Fragen gebt der Verfasser ohne allzuviel eigene Untersuchung hinweg-, daß
die Sachsen zur Zuk des Marcvmannenkriegcs (aus dem Holsteinischen) über die
Elbe setzten und die kleineren Völkerschaften jenseits derselben nöthigten, bei dem
mächtigen Stamme der Sigambern Schutz zu suchen, dafür genügt im Wesentlichen
ein Citat aus Leos Universalgeschichte. In ermüdcndee Breite, meist ganz äußer¬
lich, sind darauf die Händel der Franken und Römer im vierten nud fünften Jahr¬
hundert berichtet; wo der Versuch gemacht wird, Kritik zu üben oder auf innere
Volkszustände einzugehen, ist der Erfolg selten glücklich. Marchomer und Suno.
so vermuthet der Verfasser (S. 172, 182). hätten ihre Herrschaft verloren, als sie
das salische Gesetz einführen wollten. S. 18» zeigt sich der Verfasser geneigt den
Mcrowech als eine historische Person zu nehmen, nennt ihn aber S. 187 als den
'Stammvater der fränkischen, aus der Merume hervorgegangenen Königsfamilie,
während doch die Herleitung der mervvingischen Franken aus der Meruwc ans einer
Erklärung des mcrovingischcn Namens beruht, die keinen historischen Merowech an¬
erkennen will. Von den Ansichten des Verfassers über die politische Entwickelung der
Merowingerzeit sind schon manche der S. 107 vorausgeschickte Worte („die Macht
des Königthums ward näher bestimmt, die Magistratnren gcwnnncn festere Formen,
indem der Kampf alles abstreifte, was mit den gleichberechtigten Factoren im Con¬
flict gerathen war, da höchstens nur der obersten iGewalt eine Ausschreitung nach¬
gesehen wurde") eigenthümliche Erwartungen zu errege» geeignet .... Von da an,
wo Gregor von Tours Frankengcschichte reichhaltiger wird, bietet das Buch in
breitem Strome wesentlich das von diesem und den Byzantinern Berichtete, mit¬
unter kritische Betrachtungen oder politische Reflexionen einstreuend, wie. beispiels-
halber, S. 193, 323. Ueber die Mischungen und Gegensätze der romanischen und
germanischen Nationalität auf gallischen! Boden wird Vielerlei gesagt; zu wirklicher
Klarheit über diese Verhältnisse, zu kommen, wird man aber durch einige Seiten
eines thicrryschcn Wertes besser in Stand gesetzt werden. Den Schluß des Bandes
bildet ein Abschnitt über den Culturzustand Galliens in der behandelten Periode.
Es ist darin hauptsächlich von der Entwickelung der Sprache (der ersten Ansätze des
Französischen) und von kirchlichen Angelegenheiten die Rede. Daß der Verfasser sich
auf den ersteren Punkt näher einläßt, ist dankenswert!,, warum er aber für Worte
wie matin», ragindurgi, saeilztzro u> s. w, an den von Mone und Leo gegebenen
keltischen Herleitungen festhält und die Ableitungen Grimms und Müllenhoffs aus
deutschen Wurzeln bei Seite läßt, verstehen wir um so weniger, da er doch sonst
auf Wahrung des deutschen Gesichtspunktes sehr bedacht ist. Nimmt man zu alle-
dem noch den Stil des Verfassers — (S. 198 heißt es: „Nicht ist zu lüugnen, daß
sich diese praktische Idee bei Chlvdowich mit dem Ideale von einem großen, aus¬
gebreiteten, fränkischen Reiche mischte, und dies war der zweite Grund, der ihn
veranlaßte, gegen den Syagrins und sodann gegen die übrigen gallisches Land be¬
sitzenden Fürsten loszubrechen. Daß. die natürliche Beschaffenheit Galliens zur Aus¬
führung dieses Planes eine weit geeignetere sei, als das getheilte Land der West-
gothen zur Behauptung ihrer Herrschaft zwischen beiden Seiten der Pyrenäen sich
später erwies, sah Chlvdowich wohl ein. Das gallische Land, von der Natur dnrch
natürliche Grenzen von den übrigen Ländern geschieden u. s. w.) — so erkennt man,
daß dem Verfasser nach verschiedenen Beziehungen für Abfassung des 2. Theiles eine
andere Ausrüstung zu wünschen ist, als er sie in diesem eisten gezeigt hat.
Das erste Capitel des neuen Bandes dieser ebenso ergötzlichen als für die Ge¬
schichte der letzten Jahrzehnte vor 1848 lehrreichen Selbstbiographie ist ein Seiten-
stück zu Fritz Reuters „Fcstnngstid". Es erzählt die Erlebnisse des Verfassers während
seiner Einkerkerung in der Hausvvgtei und später ans der Festung Colberg. Ein
ferneres berichtet über das Jahr der Freilassung, namentlich über Ruges Aufenthalt
in Jena, wo er vorzüglich mit Luden. Reinhold Schmid und Göttling verkehrte,
und von wo er mehre hübsche Anekdoten, unter andern auch von Goethe mittheilt.
Eine der letzteren sei hier nacherzählt. Der Jmprovisator Wolff, der Goethe regel¬
mäßig den Hof machte, besuchte ihn einmal am 27. August. Er findet den Olym¬
pier mit verdrießlicher Miene im Zimmer auf und abgehend. Von Zeit zu Zeit
trinkt er ein Glas Wein aus .einer Flasche, die im Fenster steht. Wolff, als guter
Höfling ziemlich vertraut mit ihm, nimmt sich die Freiheit zu bemerken: Excellenz
seien ungehalten, was wohl die Schuld trage. Goethe erwidern „Ich hab's wohl
Ursach; es ist nun schon elf Uhr, und noch hat sich keine Seele sehen lassen, mir
Glück zu wünschen." — Wolff: „Da irren Ew. Excellenz doch wohl. Es ist so
heule der Siebcnundzwaiizigstc und Ihr Geburtstag erst morgen." — „Wie," ruft
Goethe aus, „sollte ich mich da denn umsonst betrunken haben?" — Das letzte
Capitel führt uns zunächst nach Halle, wo Rüge an Niemeyer einen Freund hatte
und an Echtcrmeyer einen neuen gewann, der später sein Mitkämpfer für die neuen
Ideen wurde, welche die „Hallischen Jahrbücher" verfochten, und wo er sich in
Louise Düsfer eine treffliche Gattin erwarb. Dann begleiten wir das junge Paar
ans einer Reise durch Süddeutschland und Italien und zurück nach Wien. Auch in
diese»» Bande sprudelt aller Orten — die Seiten über die italienische Reise aus-
genommen, die merkwürdig trocken und langweilig sind — der liebenswürdige
Humor, für den wir dein Verfasser gern alle die Wunderlichkeiten vergeben, die er,
aus Politik zu sprechen koinniend, in Fülle zu Tage fördert. Ruge nennt sich einen
„Ungebrochnen"', richtiger ist, ihn als unverbesserlich zu bezeichnen, unverbesserlich,
weil ihm aller Sinn für die Wirklichkeit abgeht, weil er sich nur in dem meta¬
physischen Reich des Gedankens, i» dem Wolkcnkutucksheim seines Leibdichtcrs Aristo-
Phcmes, wohl fühlt. Der reale Staat, die reale Wissenschaft, die Wunder der Kunst
und drr Natur sogar, die uns Italien bietet, lassen ihn gleichgültig. Geschichte,
Volkswirthschnft. Naturwissenschaft lehren ihn nichts, wenn die Thatsachen, die sie
ihm entgegenhalten, gegen den „Begriff" verstoßen. Er haßt geradezu die Wirklich'
keit, und nicht die oder jene Staatsform, die oder jene Religion sind ihm zuwider,
sondern Staat und Kirche selbst stoßen ihn als „irdische und überirdische Phantasien
der Asiaten" ab, und „die volle Herrenlosigkeit, das ohne Staat und Kirche sich
selbst regierende Volk" ist das Ideal, dem er nachstrebt und dem jeder Andere nach¬
zustreben hat, wenn er von ihm nicht für einen Tropf gehalten werden will. Rüge
ist Burschenschafter gewesen und er ists im Grunde noch heute. Er nimmt nichts
von dem zurück, was er damals, als er den Namen „Jüngling" führte, geredet
und getrieben hat. Er ist fest überzeugt, daß die guten Jungen, die sich damals zur
Anfertigung des wahren Staats verschworen, Recht gehabt haben, und daß die Zukunft
seine Ideale verwirklichen wird. Er betrachtet sich als einen Reformator der Welt,
dem es nur jetzt noch nicht gelungen, die Blinden sehend zu machen und die Mohren
weiß zu waschen. Er erkennt die Thatsache nicht an, daß Mohren das Recht besitzen,
schwarz zu sein.
Das würde sich, aus dem Ganzen herausgeschält, sehr unerfreulich ausnehmen,
aber gerade diese Eigenschaft macht ihn einerseits im eminenten Sinne offenherzig
und wahrhaft über sich selbst, andrerseits zum Humoristen. In der unerschütter¬
lichen Ueberzeugung, daß er immer Recht hat, immer Recht gehabt hat, unter¬
scheidet er sich wesentlich von den meisten andern Antobiographen. Zunächst durch
seine vollkommene Naivetät. Nie fällt ihm ein, sich schöner zu machen, als er ge¬
wesen;.denn er weiß, daß er nicht schöner sein konnte. Nie verschweigt er, was
Andere als gegen den Anstand verstoßend verhüllen; denn er empfindet nicht, daß
es damit nicht richtig stand, er denkt und fühlt eben noch heute als Sechziger,
wie er als Zwanzigjähriger dachte. Eine solche Stabilität hat ihre zwei Seiten:
sie erscheint uns als Verstocktheit und erfüllt uns dann wieder als treues Hangen
n» Idealen der Jugend mit Rührung. Zuletzt aber lachen wir über sie, selbst wenn der
Verfasser uns erzählt, daß er sich einmal alles Ernstes überlegt habe, ob es zweckentsprechend,
ein gegebnes Ehrenwort zu halten. Wir lachen um so herzlicher, als wir allmälig
entdecken, daß dieser Weltstürmer, dieser feurige Idealist, der mit seinen reformato¬
rischen Plänen noch ein gutes Stück über Karl Moors Ansichten von Wcltvcrbesscrung
hinausgeht, eigentlich ein ehrlicher Pedant ist. Daß er dies nicht weiß, daß er deshalb
sich unausgesetzt selbst ironiflrt, ist sein Humor, soweit er eine Selbstbiographie schreibt.
Daneben versteht er eine Unzahl lustiger Geschichten von Andern zu erzählen, immer
aber wirkt er am meisten auf unsre Lachnervcn, wenn er die eignen Thorheiten als
Weisheit vorträgt. Wir werden dann inne, daß dieser philosophische Eulenspiegel
wie Saul über alles Volk um eine Kopflänge über die ganze Welt kleiner Thoren
hervorragt, die ihn umgiebt und über die er sich lustig macht. In der jetzigen
Welt' steht er wohl einsam da, der ewige Burschenschafter mit seinen ewig grünen
Phantasien. Die „Freiheit, die ich meine" ist nicht unsre Freiheit. Wir arbeiten nicht
für das Woikentukucköheun, welches den jungen Herren der zwanziger Jahre als
politisches Ideal vorschwebte, nicht für die abstracte Freiheit, sondern für klare erreich¬
bare Ziele, für den freien deutschen Staat, der nicht für ein Volk vou Denkern
und Poeten, sondern für Menschen, wie sie in Wirklichkeit sind, zu schaffen sein wird.
Möge es Ruge vergönnt sein, uns recht bald einen neuen Band zu liefern.
Sein Buch verdient von Allen gelesen zu werden, und wir dürfen hoffen, daß es
von Vielen mit dein Genusse gelesen werden wird, welchen uns seine Lectüre
verschaffte.
In dem ersten Artikel des Heftes l!>. werden auf Wunsch des Verfassers folgende
Druckfehler in den daselbst vorkommenden Namen angezeigt! Seite 209, Zeile 2
von oben ist statt Harcho zu lesen: Harchc. — Seite 212, Zeile 8 von unten
statt Necnsteig zu lesen: Neunsteig. Seite 213, Zeile 14 von unten ist zu lesen:
Inselsberg und Donnershang. — Ebendaselbst, Zeile !» von unter ist zu
lesen: '1'urideig (Berg des Tun). — Seite 214, Zeile 3 vou unten ist zu lesen:
mythischen. — Seite 218, Zeile 3 von unten ist zu lesen: August Mcitzcn.
Wenn man die gehobene Stimmung erwägt, die infolge des ruhmvollen
Tages von Düppel das Preußische Volk ohne Unterschied der Parteien ergriffen hat,
so kann man sich der Hoffnung nicht entschlagen, daß diesmal die gerechten For¬
derungen der Nation Befriedigung finden werden. Es ist nach der Erstürmung der
dänischen Schanzen im Sundewitt augenscheinlich, daß jede halbe Lösung einer
vollständigen Niederlage Preußens gleichkäme, und daß eine solche einen Rück¬
schlag auf das Selbstgefühl der Nation ausüben müßte, der sich in allen Rich¬
tungen des öffentlichen Lebens in nachtheiligster Weise geltend machen würde.
Auch sprechen manche Symptome dafür, daß die preußische Politik den durchaus
unbefriedigender Standpunkt, den sie noch Anfangs April, wie die von der
Kölnischen Zeitung veröffentlichten Actenstücke beweisen, einnahm, gegenwärtig als
antiquirt betrachtet. Ob sie schon den festen Entschluß gefaßt hat, die völlige Tren¬
nung der Herzogtümer von Dänemark als unverrückbares Ziel ihrer Bemühungen
hinzustellen, oder ob sie auch jetzt noch an die Möglichkeit glaubt, auf den Grund¬
lagen einer möglichst lockern Verbindung Dänemarks mit den Herzogtümern
eine Befriedigung der gerechten Forderungen dieser zu erzielen, das wissen wir
zwar nicht, glauben aber doch, daß die Unmöglichkeit der Vermittelung der
unvereinbarer Gegensätze auch in solchen.Kreisen erkannt wird, die, sei es aus
welcher Ursache es wolle, bisher sich gescheut haben, der preußischen Politik offen
ein dem Ernst der preußischen Kriegführung entsprechendes Ziel zu stecken.
Wenigstens darüber wird kein Zweifel herrschen, daß die Ansicht, welche in
der Erhaltung der Integrität der dänischen Monarchie ein dem preußischen
Interesse entsprechendes Resultat sieht, an leitender Stelle kaum noch eine
beachtenswerte Vertretung findet, daß also, wenn dennoch die Unabhängig¬
keit der Herzogtümer noch nicht mit voller Bestimmtheit als einzig mögliche
Bedingung des Friedens zwischen Deutschland und Dänemark aufgestellt wird,
dies nicht seinen Grund darin haben kann, daß von den Leitern der preußischen
Politik das Ziel als nicht wünschenswert!) angesehen wird, sondern nur in der
Furcht vor den Gefahren, die das Einschlagen einer entschiedenen Politik, welche
die Brücken zum Rückzug hinter sich abbricht, für Preußens politische Stellung
mit sich führen könnte. Man hegt, so scheint es, die Besorgnis;, daß ein un¬
bedingtes Vertreten der Schleswig-holsteinischen Selbständigkeit eine Koalition
heraufbeschwören könnte, der Preußen möglicher Weise isolirt und auf seine
eignen Kräfte beschränkt die Spitze zu bieten haben würde.
Diese Besorgniß entbehrt aber in jeder Beziehung der Begründung. Zunächst
ist es klar, daß Preußen einer etwa sich bildenden Koalition nicht isolirt gegen¬
überstehen würde. Es würde aus den Beistand Deutschlands rechnen können,
nicht etwa blos des schwerfälligen officiellen Deutschlands, wie es die Welt als
frankfurter Bundesversammlung kenn, sondern der gesammten deutschen Nation,
die unbedingt Preußen jede Forderung zugestehen würde, die dieses zum Zwecke
einer energischen Kriegführung und Politik zu stellen hätte. Mag immerhin
selbst in einigen liberalen Kreisen Deutschlands die Borussovhobie auch in dem
gegenwärtigen schicksalsvollen Augenblicke die Stimme des Patriotismus und der
gesunden Vernunft gewaltsam unterdrücken —, wenn Preußen das richtige
Wort gesprochen haben wird, wird es das Volk und die Regierungen fort¬
reißen und allen kleinlichen Eifersüchteleien Stillschweigen auferlegen. Daß
aber Preußen an der Spitze Deutschlands eine Koalition, die schon bei ihrem
Entstehen die Keime des Zerfalles in sich tragen würde, nicht zu scheue»
braucht, darüber herrscht wo1)l in Preußen, und wie wir glauben in Deutsch¬
land nur eine Stimme.
Somit ist also eine Jsolirung Preußens unter keinerlei Umständen zu
fürchten, und es könnte in der Gewißheit', die Gesammtkraft Deutschlands auf
seiner Seite zu haben, der Bildung jeder Koalition mit Nuhe entgegensehen.
Wir glauben aber auch ferner die Behauptung wagen zu dürfen, daß die Ge¬
fahr einer Koalition gegen Preußen, wenn überhaupt vorhanden, jedenfalls im
weiten Felde liegt. Einen wirtlichen Eifer, Dänemark aus seiner bedrohten
Lage zu reißen, hat bis jetzt nur England bewiesen. Ob dieser Eifer auf einer
vernünftigen Auffassung der Verhältnisse, oder auf einer fixen politischen Idee
beruht, ist gleichgültig, die Thatsache steht fest, daß England seinen ganzen
diplomatischen Apparat aufgeboten hat, um den Zerfall der dänischen Monarchie
zu hindern. Eine ganz andere Frage ist es, ob es die Neigung hat, seine
diplomatischen Anstrengungen auch mit den Waffen in der Hand zu unterstützen.
Wäre dies unbedingt der Fall, so würde es unerklärlich sein, daß es nicht be¬
reits im März eine Flotte in die Ostsee geschickt hat, daß es den Fall der
düppcler Schanzen ruhig bat geschehen lassen, ohne auch uur Miene zu machen,
die wichtigste Stellung des befreundeten Staates mit wirksameren Mitteln als
russischen Noten zu stützen. Es läßt die Haltung Englands, so weit sie über¬
haupt eine Erklärung zuläßt, sich nur so erklären, daß England ein isolirtes
Vorgehen gegen Deutschland scheut, daß es aber im Verein mit den andern
Großmächten, besonders mit Frankreich, im äußersten ihm selbst sehr uncrwünsch-
ten Falle sich auch zu einer bewaffneten Demonstration, vielleicht gar zur be¬
waffneten Unterstützung Dänemarks entschließen würde. Also nicht von England,
sondern von den Mächten, die es zu einem Kreuzzuge für Dänemark pressen
möchte, wird es abhängen, ob Deutschland in standhafter Verfolgung seiner
Ansprüche eine» materiellen Widerstand fremder Großmächte zu überwinden
haben wird.
Daß Nußland seine gegenwärtigen Verlegenheiten nicht durch einen muth¬
willig heraufbeschworenen Krieg mit Deutschland vermehren wird, bedarf kaum
der Erwähnung, Nußland wird gute Wünsche für Dänemark haben und zu¬
frieden sein, wenn es wider sein Erwarten auf diplomatischem Wege etwas für
den Schützling der europäischen Politik erreicht; darauf aber wird sich seine
Hilfsleistung beschränken. Alles kommt also darauf an, welche Stellung Frank¬
reich im weiteren Verlauf des Conflictes einnehmen -wird. Welches die ver¬
borgenen, tiefsten Gedanken des Kaisers der Franzosen über die brennende
Tagesfrage sind, vermag allerdings niemand zu sagen; es dürfte überhaupt
sehr zweifelhaft sein, ob Napoleon, der gewohnt ist nach den Umständen zu
handeln, und der dabei in seltenem Maße die Gabe besitzt, die Ums-ante zu
seinem Vortheile zu lenken, bereits einen festen Entschluß gefaßt hat, oder ob
er nicht vielmehr beabsichtigt, seine Stellung zu der Frage von der Gestaltung
der allgemeinen europäischen Verhältnisse abhängig zu machen. So viel steht
indessen fest, daß seine bisher eingeschlagene Politik zwar eine zurückhaltende,
aber keineswegs eine den deutschen Ansprüche» unbedingt ungünstige ist, insofern
in der Schleswig-holsteinischen Frage ein Princip zur Sprache kommt, welches
er nicht verletzen lassen kann, ohne die Grundlagen seiner Macht zu untergraben.
Napoleon kann sich über manche Schranken hinwegsetzen, die selbst einer alt-
begründeten Staatsgewalt unüberwindlich sind; dagegen kann er nicbt seine
Hand dazu biete», el» Recht zu zerstöre», aus dem seine Macht ihren Rechts-
titel ableitete, das Recht der freien Selbstbestimmung eines Volles, wobei es
übrigens gleichgiltig ist. ob dies Recht durch allgemeine Comitien, oder ob es
durch bereits bestehende Nepräsentativversammlungen ausgeübt wird.
Als Napoleon zum erste» Male den Gedanken aussprach, daß-die londoner
Abmachungen hinfällig seien, und daß in den Herzogthümern ohne eine Be¬
fragung und Berücksichtigung ihrer eigenen Wünsche ein dauernder Zustand nicht
hergestellt werden könnte, gab ma» sich vielfach übereilt der Hoffnung hin. daß
mit diesem Zugeständnisse seinerseits die Frage der Herzogthümer bereits gelöst
sei. Dabei vergaß man nur eine» Umstand: daß in gleichem Maße wie Napo¬
leon ein Beschützer des Princips der nationalen Selbstbestimmung ist. die eine
der im Kriege mit Dänemark begriffenen Mächte mit eben diesem Princip einen
unversöhnlichen Kampf aus Tod und ^eben führt. Preußen allerdings kann ohne
jede Gefahr für seine politische Existenz die schließliche Entscheidung der Frage.
*
deren Lösung seine siegreichen Waffen vorbereitet haben, dem Willen der Be¬
teiligten überlassen; Oestreich befindet sich nicht in dieser glücklichen Lage. Auf
die Anerkennung Oestreichs hat nur das Recht der Legitimität zu rechnen, und
— die vollendete Thatsache. Aber die förmliche Sanctionirung des Princips
der nationalen'Selbstbestimmung als höchsten Gesetzes der geschichtlichen Ent¬
wickelung, eines Princips, das, einmal durch den europäischen Consensus an¬
erkannt, kein höheres Ziel als die völlige Auflösung des Kaiserstaats verfolgen
würde, ist von Oestreich nicht zu erwarten. Es ist daher vollkommen der Lage
der Dinge entsprechend, daß der Fortschritt Oestreichs in der Schleswig-holsteinischen
Angelegenheit, der uns von Wien aus gemeldet wird, wenn eine derartige
Wendung, was wir bis jetzt noch sehr bezweifeln, wirklich stattgefunden hat,
nicht die nationale Seite der Frage berücksichtigt, sondern die Entscheidung des
wiener Cabinets von der Entscheidung über das Recht der Erbfolge abhängig
macht.
Die Verlegenheit Oestreichs ist nicht gering. Aber sie ist selbstverschuldet.
Hätten die deutschen Großmächte die Waffen ergriffen für das von ganz Deutsch¬
land und den Stimmen der Herzogthümer anerkannte Recht des Herzogs Frie¬
drich, so würde der Erfolg der deutschen Waffen auch ohne weiteres die Lösung .
der Schleswig-holsteinischen Frage gewesen sein. Oestreich hat diesen Standpunkt
nicht eingenommen, weil ihm die Integrität Dänemarks wichtiger war, als das
Loos der Herzogthümer. Daß ein glücklicher Verlauf des Krieges nicht gestatten
würde, dieses Kampfesziel.festzuhalten, das sah die östreichische Diplomatie in
ihrer eingebildeten Selbstgefälligkeit und in dem Mangel an Voraussicht, der
sie gegenwärtig kennzeichnet, nicht ein. Weshalb Preußen, wenn auch nicht
ohne bedeutende Nestrictionen, doch im Wesentlichen der östreichischen Auffassung
sich angeschlossen hat, ob es nur durch eine Accommodation die Mitwirkung
Oestreichs sich hat sichern wollen, oder ob es deshalb ohne ein bestimmtes Ziel
in den Kampf gegangen ist, um dasselbe als natürliches Resultat aus dem Ver¬
lauf der Begebenheiten sich entwickeln zu lassen: darüber wird erst die Zukunft
mit ihren dereinstigen Enthüllungen ein sicheres Urtheil fällen können. Jeden¬
falls befand die preußische Politik sich in der verhältnißmäßig vortheilhaften
Lage, daß jeder Erfolg der preußischen Waffen sie in der Richtung der natio¬
nalen Wünsche, deren Erfüllung in dem Interesse Preußens lag, weiter drängen
mußte, daß also ein von den Verhältnissen abgcnöthigtcs Aufgeben des ur¬
sprünglich, sei es zum Schein, sei es aus Unklarheit oder Unentschlossenheit.
eingenommenen Standpunktes vom Gesichtspunkte einer wahrhaft preußischen
Politik aus betrachtet, nicht als eine Niederlage, sondern als ein Erfolg der
preußischen Politik anzusehen ist. Insofern also konnte die preußische Negierung
unbedenklich ohne Programm oder mit einem unvollkommenen Programm zur
Action schreiten, als sie wissen konnte, daß aus einem glücklichen Erfolge der
Action sich von selbst das richtige Programm ergeben mußte. Für Oestreich
liegen aber die Verhältnisse so, daß es sich entweder des offnen Preisgebens
der deutschen Sache schuldig machen, oder einer Lösung zustimmen muß, der
es bisher aus übel angebrachter Eifersucht gegen Preußen ernstlich widerstrebt
hat. Nachdem es lange Zeit hindurch jedem militärischen Erfolge, ja jeder
Ausdehnung der kriegerische» Operationen durch die zum Ueberdruß und man
mochte fast sagen mit einer gewissen Zudringlichkeit wiederholte und gewiß auf¬
richtig gemeinte Erklärung, daß es nach wie vor an der Integrität der dänischen
Monarchie festhalte, die Spitze abzubrechen gesucht hat, kann es sich nicht länger
die Thatsache verbergen, daß das Festhalten dieses Standpunktes eine Unmöglich¬
keit geworden ist; nicht als ob es schon zur Unterstützung der nationalen Wünsche
bereit wäre, aber es muß ihnen, und sollte es auch nur zum Schein sein,
Rechnung tragen. Denn allerdings vermögen wir in der Erklärung, daß eine
Prüfung der rechtlichen Seiten der Erbfvlgefragc unumgänglich sei (falls sie
wirklich gegeben ist) zunächst nur einen Schein zu sehen. Wer soll die Rechts¬
frage prüfen? Die Conferenz, deren Glieder noch der einen oder der andern
Seite Partei sind? Und welches Votum wird Oestreich in diesem hohen Gerichts¬
hof abgeben? Wer der Conferenz mehr überlassen will, als die Negistnrung
einer vollendeten Thatsache, der will überhaupt keine That, er will nur den
Schein einer That. Er will weiter nichts als die Verantwortung für seine
eignen antinationalen Gelüste dem gesammten Europa zuschieben.
Dennoch sehen wir jedes Zugeständniß Oestreichs, auch das widerwilligstc
und unaufrichtigste, als einen Fortschritt der nationalen Sache an, voraus¬
gesetzt, daß Preußen sich seinerseits von allen Bedenklichkeiten freigemacht hat^
und entschlossen ist Oestreich bei seinen Zugeständnissen nicht nur festzuhalte»,
sondern es auch weiter auf der Bahn derselben zu drängen, allerdings auf die
Gefahr hin. das Bündniß mit Oestreich .ganz zu lösen; was indessen ein
geringerer Schaden wäre, als durch Festhalten an demselben die Sache, für die
unsere Krieger gekämpft und geblutet haben, ganz zu verderben. Gelingt es
der preußischen Diplomatie. Oestreich zu einer wirtlich deutschen Politik zu
drängen, so wird sie einen Beweis großer Geschicklichkeit geben; entschließt sie
siel', im Fall des Mißlingens die Sache der Herzogthümer ausschließlich im Verein
mit Deutschland zu vertreten, so wird sie damit einen Muth und eine That¬
kraft beweisen, die für Preußen um so heilsamer sein wird, je weniger man sie
>in Allgemeinen erwartet hat. Dazu scheint vor allem nöthig, daß Preußen
offen den Standpunkt einnimmt, den es bisher nur officiös und daher noch
nicht bindend angedeutet hat. Es darf die Zukunft der Herzogthümer nicht
wehr der Hoffnung überlassen, daß jedes ungenügende Programm an Däne¬
marks Hartnäckigkeit scheitern wird, und daß Dänemark somit selbst in den
Augen Europas dafür verantwortlich wirb, wenn Preußen, nachdem alle Ver-
mittelungsvcrsnche in Folge des Widerstandes des kopenhagener Cabinets sich
als fruchtlos erwiesen haben,, gewissermaßen gezwungen als letztes Mittel der
Lösung die Trennung der Herzogthümer von Dänemark fordert.
Die Aufgabe. Oestreich zum Einnehmen des richtigen Standpunkts zu
nöthigen, nachdem einmal die Action gegen Dänemark von dem EinVerständ¬
niß mit Oestreich abhängig gemacht worden ist, haben wir nie für eine leichte
gehalten. Sie ist dadurch noch verwickelter geworden, daß es zugleich gilt,
Frankreich durch Eingehen auf seinen Wunsch in Betreff der Befragung der
Herzogtümer in einer neutralen Stellung zu erhalten. Soll Preußen Oestreich
zu Gefallen diesen Plan bekämpfen? Dies hieße zugleich Frankreich, dessen
Sympathien eben nicht deutsch sind, auf Dänemarks Seite drängen und Oestreich
einen Borwand bieten, in Rücksicht auf die immer ungünstiger sich gestaltende
europäische Konstellation, ganz wieder auf den alten Jntcgritätsstandpunkt zu¬
rückzusinken.
Es scheint uns unter diesen Umständen nur ein Weg befriedigende und
verhältnißmäßig sichere Resultate zu versprechen: Preußen muß ungesäumt die
Erbfolgefrage in Betreff Holsteins der Entscheidung des Bundes anheimgeben.
Will Oestreich nicht für den Herzog Friedrich stimmen, so mag es sich über¬
stimmen lassen. Es ist damit ein Rechtstitel gewonnen, der Oestreich der pein¬
lichen Nothwendigkeit überhebt, die Souveränität des Nationalwillens aner¬
kennen zu müssen. Ist die Rechtsfrage für Holstein und damit auch indirect,
wenn auch ohne Verbindlichkeit für Europa, für Schleswig entschieden, so sind
offenbar die Bedenklichkeiten bedeutend vermindert, die eine feierliche Manife¬
station des Volkswillens für Oestreich haben würde, und dasselbe wäre in der
Lage, das Votum der Bevölkerung, welches nur eine bereits von ihm aner¬
kannte Thatsache bestätigen würde, als einen Ausdruck der Loyalität anzusehen,
ohne damit irgendwie das Princip der nationalen Selbstbestimmung aner¬
kennen zu müssen. Daß Oestreich ein solcher Ausgang nicht erwünscht wäre,
daß es vielmehr am liebsten in dem alten Fahrwasser bliebe, ist uns allerdings
wahrscheinlich; aber darauf kommt es gar nicht an. Den Kreis, in dem
Oestreich seit Jahren sich fruchtlos herumdreht, wird es freiwillig nicht ver¬
lassen. Aber die Lage ist günstig, es dazu zu nöthigen. Das erfordert unser
Interesse, und wie wir denken das Interesse Oestreichs selbst, für das vielleicht
nirgend ein geringeres Verständniß herrscht, als in Wien.
Sollte ein festes Auftreten Preußens die Konferenz sprengen, so haben
wir keine Ursache, das Bedauern zu theilen, welches die englischen Staats¬
männer in diesem Falle empfinden würden. Sollte es Napoleon gelingen, die
Konferenz in einen Congreß zu verwandeln, so würden wir auch in diesem
Ereigniß keine Gefahr sehen, unter der Voraussetzung, daß Preußen in der
nächsten Zeit uns darüber außer Zweifel setzt, daß es seine Interessen erkannt
hat, und nach dieser Erkenntniß zu handeln entschlossen ist. Geschieht dies
nicht, so ist eine Lösung der Frage unmöglich, die schwerste europäische Ver¬
wickelung aber gewiß.
Wir bemerken noch einmal ausdrücklich, daß mir uns betreffs einer Ein¬
wirkung auf Oestreich keinen unbedingten Erwartungen hingeben. Wir haben
unsere Hoffnung niemals auf Oestreich gesetzt. Da aber einmal die Sache im
Verein mit Oestreich unternommen worden ist, so muß dieses in der Wahl der
einzuschlagenden Mittel so weit als die Sache, für die wir kämpfen, es gestattet,
berücksichtigt werden. Dazu kommt, daß gerade eine erHöhle Thätigkeit des
Bundes, die von Preußen auszugehen hat, das beste Mittel ist. Oestreich fest¬
zuhalten: durch Deutschland muß auf Oestreich gewirkt werde»! Vermag
Oestreich aber trotz aller Rücksichten, die Preußen auf seine Lage nimmt, nicht,
sich zu einer deutschen Politik zu entschließen, dann möge man es seinem Schick¬
sal und der Freundschaft Englands überlassen. Preußen würde diese Lösung
seiner Alliancen bedauern, aber es würde ihr mit Nuhe entgegensehen können.
Vorausgesetzt, daß die Anwendung seiner Kraft in der Schleswig-holsteinischen
Frage ihm das Recht zu dem höchsten Gute eines Staates, dem Selbstver¬
trauen, giebt.
„Es ist das ruhmreiche Geschick des nachgelassenen Ruhmes des Grafen
Camillo von Cavour, daß er um so größer erscheint, je mehr er vom Glänze
der Wahrheit erleuchtet wird" — so beginnt Prof. Nicomcde Bianchl in Turin
seinen trefflichen Aufsatz über Cavour in der Il.loi»tu eontempoiirnku, der eine
große Menge bisher unbekannter und wichtiger Documente ans Licht bringt.
Und er hat Recht. Je mehr die Stimmen persönlichen Hasses und persönlicher
Gunst vor dem geschlossenen Grabe verstummen, und die Ereignisse, bei denen
er eine so hervorragende Rolle gespielt, in die historische Perspective treten, in
um so klareren und großartigeren Zügen tritt uns das Bild des größten Staats¬
mannes der Gegenwart entgegen. Allerdings ist die Zeit noch nicht gekommen,
um eine allen Ansprüchen genügende Biographie, vor Allem eine vollständige
Darstellung seiner' öffentlichen Thätigkeit zu geben. Noch würde eine un¬
beschränkte Benutzung aller auf ihn bezüglichen, in Familien- wie in Staats-
archiven aufbewahrten Documente mannigfache öffentliche wie Privatinteressen
auf die unverantwortlichste Weise verletzen. Nichts desto weniger sind im Lause
der letzten vier Jahre bereits eine Menge von Schriften über Cavour erschienen.
Lebensbeschreibungen — allerdings meist ziemlich oberflächlich und lückenhaft —
Skizzen und Erinnerungen, Briefe von ihm und an ihn, diplomatische Acten¬
stücke ze. sind in Italien und Frankreich, in England und Amerika (weniger in
Deutschland), veröffentlicht worden"). Vielleicht wäre eine Zusammenstellung
des darin niedergelegten Materials jetzt schon zweckmäßig und verdienstlich.
Jedenfalls ist bereits hinlängliches Material vorhanden, um ein in allen wesent¬
lichen Zügen treues Bild seines Lebens wie seines Charakters entwerfen zu können.
Das Letztere ist der Zweck der folgenden Seiten. De.r Verfasser, welchem es
vergönnt war, noch eine Zeit lang Zeuge der Wirksamkeit des großen Mannes
im Vaterlande desselben zu sein, bekennt sich dazu, wenn auch nicht zu den
unbedingten Verehrern, doch zu den warmen Bewunderern desselben zu gehören.
Nichtsdestoweniger hat er sich aufrichtig bemüht, das Bild seines Helden aus
dem ihm zugänglichen Material mit voller Unparteilichkeit, kiire irs, et swäio
zu entwerfen. —
Einer alten Fcnnilientraditivn zufolge soll Camillo Benso ti Cavour väter¬
licherseits von einem deutschen, in den Kreuzzügen mit Kaiser Friedrich Roth¬
bart nach Piemont gelangten Ritter abstammen. Seine Mutter war eine
Genferin und übte wie ihre beiden Schwestern einen nicht geringen Einfluß
aus die Entwickelung des Kindes. Cavour selbst fühlte schon früh eine beson¬
dere Vorliebe für britische Sitte und Lebensauffassung, die er bei seinem wie¬
derholten Aufenthalt in England aus eigner Anschauung kennen lernte. So
haben gewissermaßen die vier Hauptculturvölker Europas Antheil an dem großen
Staatsmann^ wenn ihn auch die Italiener mit gerechtfertigten Stolze den
Ihrigen nennen.
Schon in Cavours äußerem Wesen trat diese Mischung zu Tage. Dem
südlichen, funkelnden Glänze des dunkeln Auges, der sprudelnden Lebhaftig-
keit seiner Worte stand, zumal in der späteren Zeit seines Lebens, in anderen
Augenblicken eine ruhige Würde, die sich bis zur marmornen Kälte steigern
konnte, und eine sichere, gehaltene Gemessenheit der Rede gegenüber. So
feurig sein Temperament, so leicht erregbar sein Blut war, verlor er doch nie
ganz die Herrschaft über sich selbst; die Lebhaftigkeit ging nie in Leidenschaft¬
lichkeit über. Originell in Allem, war er es auch in seinen äußeren Manieren,
sei es. daß er in der Kammer, nachdem alle seine politischen Gegner ihren
Kocher erschöpft hatten, sich erhob und, mit wenigstens einer Hand in der
Tasche, meist ein feines, oft sarkastisches Lächeln auf den Lippen, aufstand,
um einen nach dem andern zu widerlegen und niederzuwerfen; sei es, daß er
sich in lebhaftem Gespräche in einer eigenthümlichen Weise die Hände rieb,
welche so bekannt war, daß ganz Turm zu sagen pflegte: „Die Sachen stehen
gut, Cavour reibt sich die Hände"; sei es. daß er mit fast in türkischer Weise
gekreuzten Beinen auf dem Valcon seines Hauses saß. um frische Luft zu
schöpfen, oder mit den Händen auf dem Rücken durch die kahlen Reisfelder
von Leri spazierte, mit Behagen an Turin und das unruhige Treiben der
Hauptstadt denkend, dem er auf kurze Zeit entflohen war.
Wie die Nationalitäten, schienen auch die Stände sich in ihm zu begegnen.
Schon in früher Jugend um seiner weltmännischen Manieren willen an den Hof
gezogen, in der Gesellschaft durch die Liebenswürdigkeit und Anmuth seines
Wesens Alle entzückend, hatte er doch auf der andern Seite von seinen Feinden
unter dem Adel Porwürfe über sein allzubürgerlich-derbes Wesen zu hören,
wahrscheinlich, weil er Grundsätze und männliche Unabhängigkeit höher als
Hvfetiquetle und gesellschaftliche Convenienz achtete. Er beging das große
Unrecht, „die Welt" gelegentlich fühlen zu lassen, daß er sie kannte und wenig
schätzte. Er war außerdem eine viel zu entschieden ausgeprägte Persönlichkeit,
um flachen Dutzendmenschen zu gefallen; viel zu offen und rücksichtslos, um
nicht oft nach Rechts wie nacb Links bin Anstoß zu geben. Er war zu stolz.
?u energisch, zu selbstvcrtrauend. um zu jenen glatten diplomatischen Naturen
zu gehören, die sich durch alle Schwierigkeiten hindurchzuwinden wissen, ohne
irgendwo Aergerniß zu geben. Und doch war er im Grunde wohlwollend;
sei» Witz war keine bittere Satire, kein beißender Spott, der absichtlich den
Stachel in der Wunde läßt; mit einem raschen Worte warf er wie im Bor-
übergehn ein Helles Streiflicht auf die Dummheit und eitle Aufgeblasenheit,
wo sie sich hervorwagten, und wandte ihnen lächelnd den Rücken, mit Dante
denkend:
Nur t.i cui'gr 6i Im', >rin guna» e MLSU,.
Streng gegen die Ideen, war er doch nachsichtig im Urtheil über die Menschen,
dle Zeitgenossen sowohl wie die Borfahren. Auch als allmächtiger Minister
war er leutselig, jedem zugänglich, über alles gern Auskunft gebend; nur
durfte man ihm nicht mit leeren Höflichkeitsphrasen kommen, die er mit einem
ironischen Lächeln abschnitt, oder mit endlosen Klagen, die eine ungeduldige
Handbewegung verkürzten, oder mit geschwätzigen Abschweifungen, die ihn ernst,
zurückhaltend und einsilbig machten. In den Salons, die er freilich in seinen
späteren Jahren nur selten besuchte, war er sehr gesprächig, voll heitern Hu¬
mors, und eilte gern von Gruppe zu Gruppe, die Sprachen mit Leichtigkeit
wechselnd, der französischen und italienischen — den abscheulichen piemontesischen
Dialekt nicht ausgenommen — als zweier Muttersprachen mächtig, das Eng¬
lische geläufig, das Deutsche sehr gebrochen redend. Wie scharf sein Urtheil,
wie kaustisch sein Witz, wie groß sein Freimuth gewesen, bekunden seine Briefe.
Unumwunden sagt er gerade heraus, was er denkt, ohne Ansehn der Person.
Es gab keinen, mochte er noch so hochgestellt sein, den er nicht mit seinem
Maße gemessen, an dem er nicht seinen Witz geübt hätte. Der Witz ist eine
gefährliche, zweischneidige Waffe, die leicht auch den. der sie führt, verwundet;
aber Cavour, obwohl ihm das Wort stets natürlich und ungesucht auf die Lippe
trat, verstand es doch immer so einzurichten,.daß die doppelte Schärfe nur den
Gegner traf, in der Kammer und in der Presse wie im gesellschaftliche» Zirkel.
Im Kreise seiner Freunde war er durch Laune und Munterkeit stets das be¬
lebende Element, zumal in seiner früheren Zeit, wo die Anmuth seines Geistes
sogar den ihm zunächst Stehenden die große politische Kapacität verbarg, die
unter dieser leichten Hülle versteckt lag. Er verstand die große Kunst, auch im
Gespräche allen alles zu sein; mit einem außerordentlichen AccvmmodationS-
vermögen begabt, wußte er ebensogut mit seinen kleinen Cousinen von ihrer
Mädchenschule und seinen Bauern von ihrer Ernte zu plaudern, wie mit den
Diplomaten von den Geheimnissen der Cabinete oder den Salondamen von
den Mysterien der Gesellschaft. Er hatte den Grundsatz, sich nie zu lang¬
weilen, und was mehr war, er verstand ihn zu befolgen, indem er sich jeder¬
mann verständlich zu machen, auf jedermanns Ideen einzugehn, jeden auf
sein Steckenpferd zu setzen und so aus jedem einen Funken herauszulocken wußte.
In seiner Ausdrucksweise und seinem Benehmen war nichts Gezwungenes und Er¬
künsteltes, sondern alles einfach und natürlich: keine kalte Herablassung und
conventionelle Höflichkeit, sondern das reine Interesse an allem Menschlichen.
Mit der Zeit freilich ging eine Veränderung in seinem Wesen vor.
Die eigenthümliche Frische, der charakteristische Humor schwinden auch jetzt
noch nicht aus seinen Reden wie aus seinen Briefen; aber es war. als ob
das einnehmende Lächeln, die milde Heiterkeit nur noch auf der Oberfläche
schwebten, und zuweilen konnte sein Antlitz auch den strengen, ehernen Aus¬
druck annehmen, welchen eine unerschütterliche Willenskraft, ein unbeugsamer
Entschluß bei fortwährender innerer Beschäftigung mit ernsten gewichtigen
Dingen den Zügen aufdrückt. Aber auch damals noch war und blieb er.
wie immer, der Freund seiner Freunde, keinen vergessend, der ihm je nahe
gestanden, aber freilich auch nie, um einen Freund oder Gesinnungsgenossen
zu begünstigen und so dem Wohle des Ganzen zu nahe zu treten. Mit
Recht konnte er von sich sagen (Brief an ig. Marina vom 2. Oct. 1859) „ich
bin gewohnt, Beleidigungen vielleicht allzuleicht zu vergessen, aber Freundschafts¬
beweise schwinden nie aus meinem Gedächtniß und meinem Herzen." — Die
Seinen liebte er herzlich; mit seinem ältern Bruder, dem als Statistiker und
Nationalvt'onomen nicht unbekannten Marquis Gustav Cavour*), lebte er stets
im besten Einvernehmen, obwohl ihre politischen Ansichten keineswegs dieselbe»
waren. Wie er seine Nichte, die Gräfin Alfieri, schätzte und wie er von ihr
geliebt wurde, bezeugt ihr Bericht über seine letzten Tage (de la Rive, Cavour,
Bd. II. S. 232—51). Der Verlust seines ältesten Neffen, der den Heldentod
bei Goito starb, bewegte sein Herz so tief und schmerzlich, als ob er das eigne
Kind begraben hätte. Wenn- er selbst sich dennoch die Freuden des Familien¬
lebens versagte, so war es, weil sein Vaterland seine Braut und seine Gattin
war, in deren Dienste ihm für eine andere keine Muße und kein Herz mehr
übrigblieb.
Cavours geistige wie seine körperliche Konstitution war eine durchaus ge¬
sunde, er war eine der glücklich organisirten Naturen, bei denen die Harmonie,
die der Mensch oft erst nach schwerem Ringen, öfters gar nicht erreicht, schon
von vornherein wenigstens vorgebildet erscheint. Er kannte keine eingebildeten
Seelenleiden, keine düsteren Zweiselsqualen, kein Mißtrauen gegen sich selbst
und seine Ideale. Jede unklare Gefühlsschwärmerei lag ihm fern: so weit auch
dus Adlerauge seines Geistes den weiten Horizont umfaßte bis zu den erst sich
bildenden Gestalten der fernen Zukunft, so war doch sein Blick wie sein Thun,
wo es zu handeln galt, stets aus das Nächste gerichtet. Was der Augenblick
erschuf, wußte er zu nützen; er baute mit dem Material, das er unter den
Händen hatte, während er doch zugleich eifrig bemüht war, besseres für die Zu¬
kunft vorzubereiten. Das Kleinste war ihm nicht zu klein, es zu benutzen- er
tadelte mit Recht diejenigen, welche ihr Spiel verloren, weil sie die kleinen
Karten nicht genug achteten. Aber er kannte ebensowenig eine unbegrenzte
Ehrfurcht gegen die großen. Das Ziel klar vor Augen, der Mittel sich be¬
wußt, mit scharfem Blicke wählend, von keinem Vorurtheil, aber auch von
keiner ängstlichen Rücksicht behindert, unbeugsam im Entschluß, aber ohne jenen
ungeduldigen Enthusiasmus, der jede andere Bewegung zum Ziele als den Flug
durch die Lust verschmäht und deshalb so oft mit versengten Jtarusflügel »och
weit vom Ziele zu Boden sinkt — war er stets sicher zu erreichen, was er er¬
strebte. Mit kaltem Blute die Chancen vorher berechnend, hatte er doch zu-
gleich den Glauben ein sich und seinen Stern, der Leuten von starker, gewal¬
tiger Willenskraft eigen zu sein Pflegt. Er liebte es gerade auf sein Ziel lvs-
zugehn: via i'vetu, via eerts. war sein Wahlspruch; aber er wußte , wenn es noth
that, auch auf dem diplomatischen Umwege trefflich vorwärts zu kommen. Er
wollte nur, was er für recht erkannt hatte; was er aber einmal begonnen,
führte er durch bis zum Ende. In unserer schwächlichen Zeit, in der Genu߬
sucht, Bequemlichkeitsliebe, Gefühlsseligen, Wortheidenthum und feige Rück¬
sichtnahme jeder Art aller Energie und Ausdauer des Willens wie jedem ent-
schiednen Handeln überhaupt den Tod zu drohen scheinen, stand er mit seinen
unerschütterlichen, durch keine Widerwärtigkeit zu beugenden Entschlüssen, seiner
nie ermattenden, nie verzagenden Thätigkeit als eine vereinzelte, die Zeit¬
genossen „um eines Hauptes Länge" überragende Erscheinung. Und doch lag in
dieser Unbeugsamkeit nichts Finsteres, nichts Unduldsames. Nie ließ sich auf
ihn anwenden, was Frau von Stael von Napoleon sagt, daß man an ihm
kein menschliches Gefühl wahrnehme, wodurch man auf ihn einwirken könne.
Aber freilich, eine Eigenschaft fehlte ihm ganz, die den Dichter schafft und dem
Manne des praktischen Lebens tausend Streiche spielt, die liebliche, lose Tochter
Jovis, sein Schooßkind, die Phantasie. Er besaß von dieser lollv <1u log-is,
wie er sie zu nennen Pflegte, nicht genug, um für seine kleinen Neffen das
einfachste Mährchen zu ersinnen. Deshalb hatte er auch gar wenig Sinn für
die Poesie, ja für die belletristische Literatur im Allgemeinen, Die Kunst war
ihm, wie es scheint, ein Buch mit sieben Siegeln. Wie man seine Zeit damit
hinbringen könne, sich am Anschauen der Schönheit zu weiden, war diesem
thatendurstiger Geiste unbegreiflich. Deshalb blieb er auch den Naturschön¬
heiten gegenüber kalt und zog es vor, in den öden und kahlen Sumpfgegen¬
den von Leri in Ostpiemvnt seinen Reis zu baue» und großartige industrielle
Unternehmungen ins Werk zu setzen, statt in dem prächtigen Parke des schönen
Santena (seiner Villa bei Turin) zu träume».
Selbst seine mangelhafte allgemeine Bildung zu vecvollkommncn, fehlte
ihm später Zeit und Lust. Aber wenn es darauf ankam , wenn es ihm zur
Erreichung seiner Zwecke nothwendig erschien, überwand er auch in dieser Hin¬
sicht, von einem ausgezeichneten Gedächtnisse unterstützt, in unglaublich kurzer
Zeit die größten Schwierigkeiten. Als er durch seine unabhängige Gesinnung
und mißliebige Urtheile über Personen und Ereignisse des Tages in Ungnade
gefallen, noch als Jüngling die militärische Laufbahn verließ und sich der Be¬
wirthschaftung der Familiengüter anzunehmen beschloß, waren ihm Vermögens¬
verwaltung, Ackerbau und Gewerbetrieb und alles, was damit zusammen¬
hängt, böhmische Dörfer. Nach wenigen Jahren fand er nicht nnr nicht viele
seines Gleichen in Lezng auf seine durchweg durch Selbststudium erworbenen
theoretischen Kenntnisse, sondern er war anch einer der tüchtigsten Landwirthe
und Industriellen geworden, der durch wohlberechnete Unternehmungen und
rationelle Experimente seinem Laterlande wesentliche Dienste leistete, während
er zugleich sein und der Seinigen Vermögen vergrößerte. Was er that, das
that er ganz. quod agis, war einer seiner Lieblingssprüche. Aber wäh¬
rend er ganz in die Geheimnisse der künstlichen Düngerfabrikation vertieft schien,
scheint er doch nie den Gedanken an seine künftige politische Laufbahn außer
Augen gelassen zu haben. Aus dem Studium der Privatökonomie wuchs das
der Nationalökonomie hervor, der einzigen „moralischen" Wissenschaft, die er
selbst gründlich getrieben zu haben erklärt. In unglaublich kurzer Zeit hatte
er die Theorien der größten Meister kennen gelernt, sich mit den bedeutendsten
Nationalökonomen Frankreichs und Englands in Verbindung gesellt, in beiden
Ländern die schwierigsten Fragen praktisch studirt und sich über alles ein klares,
scharfes, oft originelles Urtheil gebildet. Als er 1862 ins Ministerium trat,
sah er sich alsbald genöthigt, außer Handel und Ackerbau auch die Marine zu
übernehmen, bisher für ihn vollständig eine toi'rü incognita. Wenige Monate,
und er war auf diesem Terrain so zu Hause, wie ein Laie es möglicherweise
sein kann.
Cavours Thätigkeit war unermüdlich, seine Arbeitskraft schien unerschöpflich.
Um der Geschäflslast zu genügen, die auf ihm ruhte, während er fast neun
Jahre lang am Staatsruder saß und oft außer der Präsidentschaft mehre der
wichtigsten Ministerportcsenilles in seiner Person vereinigte, stand er jeden Morgen
bald nach vier Uhr auf, obgleich er erst gegen Mitternacht sein Lager suchte.
Von fünf bis neun Uhr war seine Zeit Privatangelegenheiten, Studien und
Bittstellern gewidmet, von zehn bis ein Uhr den Bureauarbciten, Depeschen
und officiellen Audienzen; von eins bis vier Uhr den Kammersilzungen, Minister¬
konseils .'c.. der Abend wiederum der häuslichen Arbeit mit ein- bis zweistündiger
Unterbrechung durch das Theater oder den — übrigens in dieser Zeit seltenen
— Besuch eines Gcsellschaftssalons. Oft in bedrängter, kritischer Lage, von
gefährlichen Feinden und noch gefährlicheren falschen Freunden umgeben, oft
nur aus sich selbst Rath, Trost und Hoffnung schöpfend, trug er mit heiterem
Muthe und riesenhafter Kraft diese ungeheure Last von Arbeit, Sorge und
Verantwortlichkeit, bis seine treffliche Konstitution endlich doch unter dem Ueber¬
maß zusammenbrach.
Sein Muth war unerschütterlich. „Ich habe in meinem kleinem Finger
mehr Muth, als manche meiner Gegner im ganzen Körper", rief er einst selbst
aus. Er besaß sowohl die Gattung des Muthes, welche, aus einer gesunden
und kräftigen Konstitution hervorgehend, der Gefahr gleichsam instiucimäßig
kühn entgegentritt, wie den Muth der Reflexion, der in sich selbst den besten
Schul) gegen die Gefahr und die beste Garantie für den Erfolg erkennt. Alle
Drohungen, an denen es weder von mazzinistischer noch von klerikaler Seite
-mangelte, verfehlten vollständig ihre Wirkung. Für Wahngebilde der Furcht hatte
er weder Sinn noch Muße; die möglichen Folgen seiner Thaten war er stets
mit vollem Bewußtsein bereit zu tragen.
Als Privatmann hat Cavour wohl nie viele Feinde gehabt. Gesellig,
frohsinnig, warmherzig, ohne Haß und Neid, glänzend ohne Prunk, freigebig
ohne Ostentation, offen und freimüthig, voll unerschöpflichen Humors, war er
bei allen, die ihn näher kannten, von jeher hochbeliebt: Ganzanders als öffent¬
licher Charakter. Cavour hatte nicht das Glück, wie Garibaldi, gleich einem
begeisterten Jünglinge einfach dem Zuge des Herzens folgend, die bewundernden
Blicke der ganzen Welt auf sich ziehen zu können. Auf stürmischem Meere, an
gefährlichen Klippen und Sandbänken vorüber, durch die wilde Brandung
mußte er das schwache Staatsschiff oft bei ungünstigem Winde mühselig lenken,
häufig genug Wider seinen Willen zu trägeren Stillliegen oder Laviren ge¬
zwungen. Als er es, fast über alle und jede Erwartung mit reicher Beute be¬
laden, in einen trefflichen Hafen, nahe dem letzten Ziele gebracht, traten auf
einmal hundert unberufene Tadler auf und wollten zeigen, wie sich der Steuer¬
mann unredlicher Mittel bedient, unnöthige Umwege gemacht, wie er die Mann¬
schaft ganz überflüssiger Weise geplagt und hingehalten habe.
Rüstow und die Männer der Actionspartci verwerfen Cavour und sein
System, weil er Italien nicht rcvvlutionirt, nicht eingesehen habe, daß die
Sturmglocke, welche das ganze Boll zum Aufstand rief, das einzige Mittel ge¬
wesen sei, das den Sieg gegen die vereinigte Macht der Kirche, der Neactions-
partei, Oestreichs und Frankreichs garantirt haben würde. Die Klerikalen und
Legitimisten verfehmen ihn als den Erzrevolutivnär, den gefährlichsten Gegner
der altehrwürdigen Mächte in Staat und Kirche. Sie haben wohl das größere
Recht. Beide extremen Parteien fallen gleichmäßig über ihn her, weil er Recht
und Gerechtigkeit mißachtet, schnöder Gewaltthätigkeiten sich schuldig gemacht;
weil er, ein echter Schüler Macchiavellis, ohne Scrupel Freunde und Grund¬
sätze der Erreichung seines Zweckes geopfert habe. Ja selbst aus den Reihen
seiner eignen Partei, des Centrums, wurde mancher vergiftete Pfeil auf den
Führer abgeschossen. Und trotz aller dieser zahllosen erbitterten Gegner war
Cavours Macht in seinem Baterlande so groß geworden, daß einst jemand mit
Recht ausrufen konnte: „Wir haben eine Presse, eine Kammer, eine Regierung,
und dieses alles heißt Cavour!"
Cavour war seinen politischen Grundsätzen nach ein Mann der rechten
Mitte, wie er selbst auszusprechen liebte, ehe ihm Gelegenheit geboten war,
sein politisches Glaubensbekenntnis; in Thaten niederzulegen, „Ich bin im
.jul-re Milieu, „d, h. ich halte mich nicht in einer gleichmäßigen und klugen
Entfernung von den extremen Meinungen, die sich um die Herrschaft streiten,
gewissermaßen in der Mitte dieser Meinungen, um daraus zu schöpfen,
was mir als eine mißliche Anwendung, als eine unmittelbar zu verwirklichende
Wahrheit erscheint." Dann liegt klar ausgesprochen, was ihn von den fran¬
zösischen Doktrinärs (obgleich er dieselben, zumal den Herzog von Broglie,
persönlich sehr hochschätzte) und den ^U8t<z-niueo>,8 unserer Tage, den Alt-
liberalen, unterscheidet. Seine Staatskunst besteht nie in einem ängstlichen
Vermeiden beider Extreme. Eine Politik der Neutralität und der freien Hand,
Bezeichnungen, die nur erfunden wurden ^ die Rathlosigkeit oder die Angst vor
jedem entschiednen und selbstbewußten Handeln zu verbergen, mußte einem eben¬
so energischen wie seines Zieles klar bewußten Manne durchaus fern liegen.
Wenn er einmal das Ziel als ein erstrebenswerthcs und erreichbares erkannt
hatte, scheute er kein Hinderniß auf dem Wege, und da es ihm nur um das
Wohl des Vaterlandes, nicht um den Sieg einer Partei oder gar einer Clique
zu thun war, so begrüßte er freudig jeden als Bundesgenossen, der dasselbe
Ziel verfolgte. Die in Deutschland neuerdings beliebte Theorie, daß die gute
Sache zur schlechten werde, sobald auch unsere politischen Gegner sie zu der
ihrigen machen, war ihm lächerlich. Er verschmähte keine Partei, wenn sie sich
mit ihm um die Nationalfahne schaaren wollte, alles wurde in seiner Hand
zum Werkzeug für den großen Zweck. Deshalb bediente er sich ebensowohl
Garibaldis, des italienischen Nationalvercins, ja der revolutionären Propaganda,
wie er nach der Niederlage von Custozza das conservative Ministerium Pinclli
unterstützte und wiederum dessen Gegner und Nachfolger Gioberti vertheidigte,
sobald derselbe, von seinen phantastisch-idealen Träumen zurückkommend, auf die
rechte Bahn einlenkte. So schützte er nach Novara Azeglio gegen die Linke
und Rattazzi gegen die Rechte, — selbst dann, wenn er ihre Politik im Ein¬
zelnen nicht billigte — mit echt constitutionellen Tact, so lange keine Aussicht
war, sie durch bessere zu ersetzen, oder eine Ministerkrisis dem Vaterlande Ge¬
fahr gebracht haben würde. Persönliche Bedenklichkeiten, Sympathien und
Antipathien kamen dabei gar nicbt in Betracht. „In der Politik giebt es nichts
Abgeschmackteres als den Groll" wiederholte er öfters, und schrieb einst, als es
sich um ein Bündniß mit Farini (dem späteren Dictator der Emilia) handelte,
welcher bisher zu Azeglio gehalten hatte: „Diejenigen, welche es verschmähen,
sich mit Männern auszusöhnen, mit denen sie zu anderen Zeiten in politischem
Streit und Kampf lebten, verstehen weder von der Politik der Parteien, noch
von der parlamentarischen Geschichte irgend etwas*)".
Auf der anderen Seite war er stets auf den Abfall früherer politischer und
persönlicher Freunde gefaßt. Als er seine berühmte Schwenkung vom rechten
zum linken Centrum, oder nach neudeutschcr Terminologie von der altlibcralen
zur Fortschrittspartei machte und von seinen alten Freunden, zumal den savoyi-
schen Deputaten deshalb, aufs heftigste angegriffen ward, sprach er im Parla¬
mente die bedeutungsvollen Worte: 0in, messieurs, ,je sais que lorsciu'on
entre clans ig. vie politicius on clef tomps gnssi äitüciles, on etoit s'gttenclre
kwx plus g'noctes cleeeptions. ^is suis prvpgre. pusse-je renoncer ^
tons mes genis (l'eukgnee, änsse-je voir mes erung.issg.necs los plus intimes
trtwLkormöos on eiwemis g.aus.rü6s, jo vo kaillirai pas A, mon <i«voir: jg.eng.is
je it'kdalläoimsriü Jos Principes ele liberte auxmivls j'gi vous'ma eg.rriöre,
et guxqusls j'gi ete säete toute eng vie! — Und wenn es ihm die Mazzinisten
nicht verzeihen konnten, daß er nicht allen bestehenden Mächten den Krieg er¬
klärte, um „durch die unwiderstehliche Jugendkraft des revolutionirten Volkes"
Italien zu befreien, zu einen und zu regencnren, ja das; er sogar ihren un¬
sinnigen Pulsader energisch entgegentrat; — wenn auf der andern Seite seine
alten Freunde vom rechten Centrum sich scheu von ihm zurückzogen und die
fanatische Priesterpartei ihn excommunicirte, als er die Unabhängigkeit des
Staates von der Kirche und die religiöse Freiheit furchtlos proclamirte, als er
später gar die Erbschaft der vertriebenen Herzöge aus den Händen ihrer Völker
annahm, in den Kirchenstaat einfiel und mit den Nothhemden gemeinsame Sache
machte; wenn man ihn von den verschiedensten Seiten her des Macchiavellis-
mus und der Heuchelei zieh, wenn man ihn eine Proteusnatur nannte: so
verstanden es diese kleinen Seelen eben nicht oder konnten es ihm nicht vergeben,
daß er sich von keiner Parteischavlonc knechten und sein Handeln weder durch
politische Schlagwörter »och durch das Ansehen der Person bestimmen ließ.
Cavour war allerdings kein Principienreiter wie weiland Heinrich der Zwei¬
undsiebzigste, das war bei einem Manne von so hellem praktischen Verstände
unmöglich. Aber er war eine viel zu fest und großartig angelegte Natur, um
sich entweder von dem herrschenden Winde treiben oder zu einer Politik klein¬
licher Auskunftsmittel verdammen zu lassen. Das Ziel verlor er nie aus den
Augen: war der Wind ungünstig, so lavirte er; war es Sturm, so legte er
im nächsten Nothhafen bei; richtete sich der Sturm gegen ihn allein, so über¬
ließ er das Steuer Anderen, damit seine Persönlichkeit der Erreichung des
hohen Zieles nicht hinderlich entgegentrete.
Und welches war dies hohe Ziel? Es war ohne Zweifel die Idee, welche
ihn erfüllte, sobald er selbständig zu denken und zu empfinden gelernt hatte,
und die ihn noch auf seinem Sterbebette nicht verließ, die Idee. Italien un¬
abhängig und einig zu macheu und es in moralischer und intellectueller Bil¬
dung auf gleiche Stufe mit den ersten Nationen der Welt zu heben. Beides
betrachtete er als unzertrennlich. In einem Briefe, den er schrieb, als die ersten
Reformen Pius des Neunten, die Hoffnungen der italienischen Patrioten zu
beleben ansingen, heißt es: . . . Dorre, si nous äesirvns iivee Wut ä'^räenr
ac 1'Jolle, si iwus ävelä-rens e^ne äeviurt cette Arairäe c^ue-
stiou, toutes los MLstious Mi peurraieirt nous äiviser cloiveirt s'eMeei-, et
tous les ivterets particuliers se taire, e'est noir ssulement Mu ac voir
uotie piitrie Florieuse et puisL^nee, rriais surtout pour ^u'olle puisse
s'elsver blos 1'eelrelle cle I'intelligence et an äeveloWemeirt moi^l M8<^u'!in
mvea.u <1iZ8 rmtious les I>1u.s eivilisees. Man hat vielfach behauptet — und
so auch Rüstow in seinem Buche — Cavours Ideen hätten sich vor Villafranca
nie über ein vergrößertes Piemont „bis zur Adria" erstreckt. Aber wie er
sich schon in seinen Jünglingsjahren als künstigen Minister des Königreichs
Italien sah*), so ließen sich aus Gesprächen, Briefen, Reden und Zeitungs¬
artikeln noch hundert Zeugnisse anführen, daß das Programm von Plombleres
nur ein Schritt zum Ziele, keineswegs das Ziel selbst war.
-Aber dies Programm von Plombisres selbst, das allerdings schon das
Versprechen der Abtretung Savoyens und Nizzas enthielt, ist Cavours schwerstes
und unverzeihlichstes Verbrechen in den Augen der exaltirten Jtaliamssimi. Daß die
Ereignisse von 1848 und 49 das „l'lwlig, tÄlÄ dir se" als eine alberne Renom¬
misterei dargethan, daß nur mit Frankreichs Hilfe die Unabhängigkeit von Oestreich
zu erringen und daß diese Hilfe eben nur um jenen Preis zusahen war, lassen
sie nicht als Entschuldigung gelten. Savoyen. durch die Centralkette der Alpen
von Italien geschieden, gehört durch seine Lage wie seine Sprache zu Frank¬
reich. Nizza, obwohl auch mindestens halbfranzösisch, zu bewilligen, mochte
dem Patrioten schwer genug werden, aber der große Preis war das Opfer
wohl werth. Auch gab er seine Einwilligung nur unter der Bedingung, daß
die Einwohner damit einverstanden seien; von einem Verschachern des Volkes
nach Art des londoner Vertrags von 18S2 war er weit entfernt. Als Gari-
baldi „dem nicht die Hand reichen wollte, der ihn zum Fremden in Italien
gemacht hatte", bewies die Art, wie Cavour seine heftigen und unparlamen¬
tarischen Angriffe in der Kammer ertrug und erwiderte, ebensosehr seine
geistige Ueberlegenheit wie seinen großherzigen Patriotismus. Man hat be¬
haupten wollen, er habe, trotz seiner entschiedenen Versicherung des Gegentheils,
Napoleon sür eine gewisse Eventualität auch bereits die Insel Sardinien, viel¬
leicht gar auch einen Theil Liguriens verheißen; Garibaldi und Mazzini sollen
eine Abschrift des Vertrages besessen haben. Warum ist sie nie zu Tage ge¬
kommen, obwohl Cavour das Gerücht davon als eine Absurdität behandelte?
Welche Gründe hatten Garibaldi und zumal Mazzini, ihren Gegner so zu schonen?
Die Sache ist innerlich wie äußerlich so unwahrscheinlich, daß sie, so lange nicht
bessere Beweise beigebracht werden, als Verleumdung bezeichnet werden muß.
Daß Camillo Cavour Italien liebte, muß sogar Nüstvw anerkennen. Aber
er siebt in ihm nur den Bureaukraten und Diplomaten, den Mann der Con-
sorterie, der. großartiger Anschauungen unfähig, ohne Vertrauen in die Volks¬
kraft wie in die Principien des Rechts und der Freiheit, mit kleinen Mittelchen
und Schlichen sein Ziel habe erreichen und ganz Italien in die picmvntesische
Zwangsjacke stecken wollen. Sein zur Schau getragener Liberalismus, behaupten
Andere, sei bloßer Schein, bloßes Mittel zum Zwecke gewesen, während ein
Dritter in persönlichem Ehrgeiz das Motiv seiner ganzen politischen Thätigkeit
findet. Und doch ist Cavours ganzes Leben eine Widerlegung dieser Vorwürfe.
Alles Kleinliche, Engherzige und Maschinenmäßige war ihm verhaßt, ebenso
verhaßt freilich auch alles Unpraktische, Grvßprcchlerischc und Utopische. Er
war ein entschiedener Freund des Selfgovernment und sah in der Aufhebung
aller unnützen Bevormundung der Individuen wie der Corporationen einen
Haupthebel zur Beförderung der Nativnalwohlfcchrt und des rationellen Fort¬
schrittes in materieller wie in moralischer Hinsicht. „Die Negierung," sagte er,
„ist verpflichtet, durch liberale Gesetze die individuelle Initiative und das gemein¬
same Handeln der unter ihrer Verwaltung Stehenden zu begünstigen. Ohne
Nachtheil kann sich ihr Wirkungskreis nicht darüber hinaus erstrecken." — Selbst
die Beamten- sollten einen möglichst weiten Spielraum der vorgesetzten Behörde
gegenüber behalten, die unnütze Gamaschentnöpferei, kleinliche Controle und
endlose Schreiberei gewisser bnrcaukratischcr Musterstaaten war ihm im hohen
Grade zuwider. „Das Reglement macht aus dem Beamten einen Dummkopf,"
schrieb er. „das ist der Grund, weshalb ich es als Minister nicht liebe. Der
Buchstabe ködert, aber der Gcrst macht lebendig."
„Diese Ideen" (die der Freiheit und Unabhängigkeit), schrieb er als junger
Mann, „bilden einen Theil meiner Existenz. „Ich werde sie bekennen und
festhalten, so lange ich einen Funken Lebenskraft in mir fühle." Als einst
Leon Faucher ur seiner Gegenwart behauptete, mit den liberalen Principien
der Oppositionsmänner sei es alsbald vorüber, wenn sie zur Negierung ge¬
langten, protestirte er auf das lebhafteste. Und in der That, er hatte das
Recht dazu. In den schwierigsten Zeiten, von einer fanatischen Opposition ge°
drängt, während von Außen die Vernichtung drohte, hat er jeder Versuchung,
die ihm oft genug nahe gelegt wurde, vom Parlamente die Suspension der
constitutionellen Garantien zu verlangen, widerstanden und hat es unverhohlen
ausgesprochen: „Wenn man die Verfassung nicht die,Früchte der Freiheit tragen
läßt, die sie hervorbringen soll, so wird sie alles Ansehen verlieren und damit
das Ansehen der Nation selbst verloren gehen."
Und ehrgeizig? — „I'in'iseir 1^ irrig. rLMtÄiiioiik, xerisoir II mio vorn«,
ins. «i tüecio ig xgtricr itgligirg, — Mein Ruf, mein Name mögen zu Grunde
gehen, wenn nur das italienische Vaterland zu Stande kommt, rief er aus,
als er an einem der schwierigsten und bedenklichsten Wendepunkte seines großen
Werkes stand. — Und als er, in drei Tagen um drei Jahr gealtert, nach der
grausamen Enttäuschung von Villafranca das Staatsruder freiwillig anderen
Händen übergeben hatte, weil er einsah, daß es Zeiten gebe, wo der Staats¬
mann im Interesse der Sache, der er diene, sich selbst in Schatten stellen
müsse, schrieb er von Leri aus an La Farina: „Ich habe Patriotismus genug,
um, wenn nicht als Führer, auch als gemeiner Soldat zu kämpfen," Und
wenn sein König und sein Volk bald wieder in ihm den Einzigen sahen, der
das Staatsschiff glücklich durch die drohende Brandung führen könne, wenn
er selbst, sich seiner Kraft stolz bewußt, nicht zögerte, sich an das Steuer zu
setzen, wer will das Ehrgeiz nennen?
Ein anderes persönliches Motiv seiner politischen Handlungen haben ihm
selbst seine erbittertsten Gegner nicht vorzuwerfen gewagt. Von Nepotismus,
Bereicherung seiner Familie oder gar seiner selbst war keine Rede. Sein be¬
deutendes Privatvermögen hatte sick, wie nach seinem Tode zu Tage kam,
während der neun Jahre seines Ministeriums um 300,000 Franken vermindert.
Abgesehen von seiner persönlichen Freigebigkeit gegen alle Nothleidenden und
Bedürftigen hielt er für den Minister des künftigen Königreichs Italien Aus¬
gaben für geboten, die er den erschöpften Finanzen Piemonts nicht zu-
muthen wollte. —
Besser begründet scheint der Vorwurf der Doppelzüngigkeit, der sich be¬
sonders auf Cavours Benehmen gegen Oestreich vor dem Ausbruch des lom¬
bardischen Krieges und auf die Abläugnung des Vertrages von Plombiöres
stützt. Wenn er mit Klagen über Vertragsverletzungen, feindseliges Betragen
und Drohungen seitens Oestreichs Europa in Athem hielt, so mochten die
wiener Staatsmänner allerdings nicht ohne Grund ausrufen: (Zuis entern
Lirg-eelros av Lvclitionö queröntös? — und wenn er sein Versprechen, nie einen
Fußbreit italienischen Bodens abzutreten, damit rechtfertigen wollte, daß
Savoyen französisch sei, und er Nizza — mit Recht oder Unrecht — nie für
italienisch gehalten habe, so ist darin eine gewisse jesuitische Spitzfindigkeit nicht
zu verkennen. Wenn wir aber auch in beide» Fällen Cavours Benehmen vor
dem Richterstuhle der Moral nicht rechtfertigen wollen, so war er doch — und
wohl mit Recht — überzeugt, daß, wenn er die volle Wahrheit gesagt hätte,
er das große Werk, dem er seit einer Reihe von Jahren alle Kräfte gewidmet,
kurz vor der Vollendung der Gefahr vollständiger Vernichtung ausgesetzt haben
würde. Lieber aber setzte er ja seinen persönlichen Ruf als das Wohl des
Vaterlandes auf das Spiel. In seiner Natur war solche Doppelzüngigkeit nicht
begründet. Selbst in der Politik sehen wir ihn sonst immer gerade ausgehen,
alle diplomatischen Rücksichten aus den Augen setzend, alles seinem Ziele
opfernd, selbst seine Sympathien und sein Herz. Aber fein berechnend, die
Menschen und noch besser die Situationen durchschauert, verstand er zugleich
sich in die Umstände zu fügen, zu rechter Zeit zu weichen und vorzudringen.
Daß er ohne Scrupel gewesen sei, ist nur halbwahr, daß ihm die Großmuth
gefehlt habe, ganz falsch. Er hatte nichts Byzantinisches an sich, wie Petru-
celli della Gadeira behauptet, und ihn einen Bindestrich zwischen Peel und
Macchiavelli zu nennen, wie derselbe Publicist es thut, ist eben nichts als eine
geistreich klingende Redensart. Allerdings gehörte Sir Robert Peel zu Cavours
Lieblingshelden; die Entschiedenheit des großen britischen Staatsmannes, seine
Klarheit, seine Kühnheit, mit der eignen Partei zu brechen, als er sie hinter
den legitimen und nothwendigen Forderungen der Zeit zurückbleiben sah und
zwar gerade um der Handelsfreiheit willen, die Cavours Steckenpferd war,
machten ihm denselben besonders theuer.
Ein Vorbild und Muster für ihn unter den großen Staatsmännern der
neueren Zeit zu finden, ist überhaupt mißlich, weil Cavour eben durch und
durch Original war. Viele Züge erinnern an den älteren Pitt, andere noch
entschiedener an den Freiherrn v. Stein, und doch steht er in mancher Hin¬
sicht wieder zu dem einen wie dem andern in einem entschiednen Gegensatz.
De la Rive vergleicht ihn mit Fox; aber auch dieser Vergleich hält nur Stich,
so lange man mehr den Menschen als den Staatsmann im Auge hat. Charak¬
teristisch für ihn ist es, daß er seine Ideale, zu denen auch der große Pitt ge¬
hörte, in den Reihen der Tories.fand, während er doch übrigens ganz mit den
politischen Grundsätzen der Whigs harmonirte. Ader er war nie Parteimann
in dem Sinne, daß er alles Große und Gute nur in den Reihen der eignen
Partei gesucht hätte, wenn er auch auf der andern Seite trefflich verstand, der
Parteidisciplin sich unterzuordnen und dieselbe, als er selbst Führer wurde, in
den Reihen der Seinen aufrecht zu halten.
Nichts ist bezeichnender für Cavours Eigenthümlichkeit als seine Sprache
und Ausdrucksweise in seinen Ivurnalartikeln, Kammerrcdcn und diplomatischen
Noten. Auf Niemanden paßt der buffonsche Spruch: 1«z se^lo e'sse, 1'Iromme
besser als auf ihn. Er gehörte zu den Rednern, welche die Tribüne enthüllt,
nicht zu denen, welche sie schafft. Und doch war er keineswegs, was man ge¬
wöhnlich ein großes Rednertalent nennt. Seine scharfe Metallstimme ohne
große Modulation, ohne alle Weichheit, der Mangel an aller Phantasie, an allem
Schwung, feine Antipathie gegen alle Schönrednerei und alles Wortgeklingel,
ja eine gewisse, freilich bald überwundene Schwerfälligkeit des Ausdrucks, waren
nicht geeignet, die Zuhörer für seine Argumente zu bestechen, während die ge¬
bietende und percmptorische Form seiner Rede, das sarkastische Lächeln, die
scharfen und kurzen Abweisungen der Gegner nach allen Seiten hin verletzten.
Eine Rede um der Rede willen, um einen oratorischen Triumph zu feiern, war
bei Cavour undenkbar. Hier wie überall galt es ihm einen bestimmten, greif-
baren Zweck zu erreichen. „Die Rede war für ihn kein Paradedegcn, sondern
eine ernste, scharfe Waffe. Aber wie verstand er sie zu handhaben! Mit seiner
durch nichts zu trübenden Klarheit des Geistes, mit einem kolossalen Gedächt¬
niß, mit durchdringendem Scharfblick und stets mit vollster Kenntniß des Gegen¬
standes und der in Betracht kommenden Thatsachen ausgerüstet, reihte er die
schlagendsten Argumente in prägnanter, conciser Form, in einfacher, ungekünstel¬
ter Sprache, doch nicht ohne die Würze eines gesunden Humors, aneinander,
dem Gegner mit scharfen, hageldicht fallenden Hieben gerade auf den Leib
gehend, ohne alle Finten und Listen, und ihn erbarmungslos in die Enge
treibend, bis der Sieg entschieden war. Dieselbe Schärfe der Logik, dieselbe
durchsichtige Klarheit des Gedankens, dieselbe Mannigfaltigkeit der Argumente,
nach Petruccllis Ausdruck „fein zugespitzt und doch wuchtig eindringend, und
einander drängend", bewundern wir in seinen diplomatischen Noten und poli¬
tischen Denkschriften. Hier, wie immer, ist er das gerade Gegentheil von
einem Pedanten, selbstvertrauend, rasch und kühn im Ausdruck wie in der
Sprache, hier wie überall behauptet er das Schlachtfeld, über die Gegner min¬
destens einen moralischen Triumph davontragend.
Der politische Scharfblick und die genaue Kenntniß der Umstände und der
handelnden Personen, im Verein mit einer seltenen Vorurteilslosigkeit, welche
ihm zu seinen rednerischen und diplomatischen Triumphen verhalfen, potenzirten
sich in seinem Urtheile über die Entwickelung der Verhältnisse des eignen Vater¬
landes wie der allgemeinen Weltlage zur prophetischen Sehergabe. Wir haben
erwähnt, wie er sich als junger Mann bereits als Minister des Königreichs
Italien erblickte. Als die Abschaffung der Korngesetze noch sehr zweifelhaft war,
verkündete er den nahen Sieg des Freihandels in England und erblickte darin
den Keim des unvermeidlichen Todes für das Prohibitiv- und Schutzzollsystem
der Cvntinentalstaaten. So prophezeite er dem guizvtschcn Regiment und System
schon 1847 den nahen Sturz; so sah er wochenlang vor der Präsidentenwahl
schon Louis Napoleon als künftigen Kaiser von Frankreich") und rief im März
1856, zwei Jahre vor den Verabredungen von Plombiöres: In drei Jahren
werden wir einen tüchtigen Krieg haben!
„Wohl muß man anerkennen, daß Cavour aus jenem edleren Thone ge¬
formt war, aus dem die Herren der Welt hervorgegangen sind. Mit den
glänzenden Eigenschaften begabt, vor denen die Menschheit sich beugt, war er
mit den einfachen Anlagen begabt, ohne welche die anderen unfruchtbar bleiben.
Arbeitsam, ausdauernd, von seinem Werke leidenschaftlich durchdrungen, keinen
Tag, keinen Augenblick daran verzagend, besaß er zugleich die Kunst zu über¬
zeugen, hinzureißen und Vertrauen einzuflößen, durch die Art. wie er es forderte.
Er besaß das, was einen großen Politiker schafft und vervollkommnet: über¬
legten Eifer,'unermüdliche Thätigkeit, durchdringenden Verstand, den günstigen
Zeitpunkt, Kenntniß seiner Zeit, eine Fülle von Hilfsquellen, vorurtheilsfreien
Geist, ein von jedem Hasse freies Herz. Zum Kampfe erzogen und für die
Freiheit geboren, war er überdies von dem stolzen Geschlechte der Unklugen,
welche sich dem Glücke kühn mit der Gewißheit anvertrauen, daß es sich nicht
so undankbar erweisen könne, ihnen untreu zu sein" <de la Rive, I. 37—38).
— Wenn wir dieser Schilderung noch ein Wort hinzufügen dürften, so würde
es sein: Er war in jedem Zoll ein Mann. Das möchten wir zumal denen ent¬
gegenhalten, die einen diplomatischen Ränkeschmied aus ihm machen. Wer un¬
befangen sein politisches Thun betrachtete, wie der, welker persönlich mit ihm
verkehrte, mußte es empfinden. Es war ein ganzer Mann, ein Mann aus
einem Gusse, dem Stahl vergleichbar zwar biegsam und elastisch, aber auch eben¬
so hart und treu wie dieser. Und was auch der Herr Oberstbrigadier und
Ritter Nüstow sagen möge, das freie Italien ist in erster Linie sein Werk:
„Victor Emanuel und Garibaldi sind zwei mächtige Arbeiter an dem Werke,
das doch das Werk Cavours bleibt. Wenn Italien heute zu dem Range einer
Nation erhoben wurde, so verdankt es dies dem Manne, der Europa hin¬
reichendes Vertrauen, um die Freiheit seines Vaterlandes zu erlangen und
genügende Achtung einzuflößen wußte, um Stärkeren gegenüber die Würde des
Schwächeren unangetastet zu erhalten. Der, welcher am Tage nach 1848 die
Freiheit, am Tage nach Novara die Unabhängigkeit, am Tage nach dem pariser
Frieden den Krieg und am Tage nach Villafranca die Einheit hoffte; der, welcher
die Kühnheit, seine Pläne zu verkünden, die Kunst, sie aufzudringen und den
Muth besaß, sie zu erfüllen; der, welcher durch die Nation regierte, der die
Revolution ohne Gewaltanwendung zermalmte und der die Reaction in Schranken
hielt, ohne das monarchische Prestige zu schwächen; der. welcher als ein mit
seiner Aufgabe eng verknüpfter Arbeiter keinen Augenblick der Ruhe kennt und
an der Mühe starb: dieser ist wohl der große Arbeiter. Cavour konnte, wie
Jedermann fühlt, nicht ersetzt werden; aber er hat Nachfolger gefunden, und
dies ist die glänzendste Huldigung,' welche sein Land seinem Genie dargebracht
hat. Er gehört nicht zu jenen stolzen Egoisten, die nichts überlebt als ihr
eigener Ruhm. Sein Leben war kurz, aber in zehn Jahren hatte er sein Vater¬
land gegründet." (De la Rive, Cavour II, 255—56.)
Freilich, seine stolze Hoffnung, Italien seine natürliche Hauptstadt und
zwar auf dem Wege der Güte, nicht der Eroberung (col me/xi moriüi, non
weree ig. eouciuist:^) zu verschaffen, und sich dann von der politischen Bühne
in die stille Ländlichkeit von Leri zurückziehe» zu können, ward nicht erfüllt.
Aber sein unerschütterliches vertrauen aus den endlichen Sieg der guten Sache
verließ ihn auch im Tode nicht, die letzten Worte des Sterbenden waren: 'I'ullo
v salvo: alles ist sicher!
Wir schließen mit einer andern Aeußerung des Grafen auf seinem Sterbe¬
bette, als er zum letzten Male im Kreise der nächstbefreundeten die politische
Lage Europas an seinem noch immer hellen Geist vorüberziehen ließ: „Dieser
deutsche Bund ist eine Anomalie; er wird sich auflösen, und die deutsche Ein¬
heit wird gegründet werden, aber das Haus Habsburg wird sich nicht ändern.
Was werden die in ihren Entschlüssen so langsamen Preußen machen? Sie
werden fünfzig Jahre brauchen, um das zu vollbringen, was wir in drei
Jahren gethan haben." —
Ob eine Schrift von einem Apostel verfaßt ist oder nicht, ist eine rein
historische Frage, welche theils durch äußere historische Zeugnisse, theils nach
ihrem Inhalt zur Entscheidung zu bringen ist. Wenn die Ueberlieferung eine
Schrift als echt bezeugt, so heißt dies zunächst nichts anderes, als daß dieselbe
zu einer gewissen Zeit als apostolisch gegolten hat, — ob mit Recht oder Un¬
recht, dies ist eben die Frage, um die es sich handelt.
Wie es nun mit den historischen Zeugnissen steht, wissen wir bereits aus
der Geschichte des Kanon. Sind die neutestamentlichen Schriften apostolischen
Ursprungs, so müssen sie größtentheils vor dem Jahre 70, zum mindesten furze
Zeit darauf verfaßt sein. Welchen Werth hätte es nun. wenn wir gleichzeitige
Zeugnisse für das Vorhandensein jener Schriften besäßen? Aber eben an diesen
gleichzeitigen Zeugnissen fehlt es durchaus. Zwischen der Zeit ihres angeblichen
Ursprungs und der Zeit, da sie zum ersten Mal genannt werden, sehen wir acht
Decennien, bei manchen einen noch größeren Zeitraum verfließen, während
dessen wir ohne alle sichere Kunde von ihnen sind. Nun ist zwar der Umstand,
daß eine Schrift nicht erwähnt ist, noch kein Beweis, daß sie noch gar nicht
vorhanden war. Der Zufall kann mit im Spiel sein; auch kam es ja vor,
daß Schriften, die unzweifelhaft schon vorhanden waren, aus dogmatischen
Gründen ignorirt wurden. Die mündliche Tradition konnte ferner immerhin
eine irrthumlose sein, auch wenn die allmälige Fixirung des Kanons wesentlich
unter dogmatischen Einflüssen zu Stande kam. Indessen ist schon der Umstand
bedenklich, daß die Aufnahme einer Schrift in den Kanon identisch war mit
der Behauptung ihres apostolischen Ursprungs. Dieselben Motive, welche für
jene entschieden, lagen also auch diesem Urtheil zu Grunde. Und wenn nun
dieses Urtheil aus inneren Gründen verdächtig ist, wenn z. B. der Inhalt einer
Schrift auf spätere Verhältnisse weist oder nicht übereinstimmt mit dem, was
wir sonst in zuverlässiger Weise über ihren angeblichen Verfasser wissen, so fällt
dann allerdings auch die Wahrnehmung, daß die neutestamentlichen Schriften
so spät erst bezeugt sind, schwer ins Gewicht. Denn je länger der Abstand
zwischen dem angeblichen Ursprung einer Schrift und ihrer Bezeugung durch
kirchliche Schriftsteller ist, um so leichter können sich in dir Tradition unwissent¬
liche Irrthümer oder absichtliche Unterschiebungen eingeschlichen haben. Erinnern
wir uns dann weiter der allgemeinen literarischen Verhältnisse jener Zeit, ver¬
gegenwärtigen wir uns die Zwecke, welche die christlichen Parteien bei ihrer
schriftstellerischen Thätigkeit verfolgten, gelingt es uns in die Motive einzudringen,
welche das Zurückdatiren der religiösen Schriften, ihre Zurückführung auf einen
apostolischen Namen begünstigen mußten, so sind es alle diese Momente zu¬
sammengenommen, welche erst einen näheren Einblick in die eigenthümliche
Erscheinung ermöglichen, welche die Pseudonyme Literatur der ältesten Kirche
darbietet").
Es ist daran erinnert worden, daß selbst in neueren Zeiten absichtliche
Unterschiebungen oder unwissentliche literarische Irrthümer nicht gar so selten
sind. Kurz nach der Hinrichtung des Königs Karl des Ersten von England, im
Jahre 1649, erschien unter dem Titel „Königsbild" eine Denkschrift, welche
der König während seiner Gefangenschaft verfaßt haben sollte. Sie war von
einem Bischof geschrieben, zu dem Zweck, im Volt ein günstiges Andenken an
den König zu erwecke», welchen Zweck ihre ungeheure Verbreitung auch erreichte.
Zwar wurde ihre Unechtheit sofort von Milton dargethan, aber noch nach fünfzig
Jahren nahm man es dem Deisten Toland übel, daß er die Echtheit der Schrift
bestritt. Toland zog auch von dieser Unterschiebung bereits die Anwendung auf
die urchristliche Literatur. „Wenn ich ernstlich erwäge," sagt er, „wie alles
dies in unserer Mitte sich zugetragen hat, binnen vierzig Jahren, in einer Zeit
großer Gelehrsamkeit und Bildung, wo beide Parteien so genau über ihre gegen¬
seitigen Handlungen wachten, , so kann ich mich nicht länger wundern, wie so
viele untergeschobene Schriften unter dem Namen Christi, seiner Apostel und
anderer großen Personen haben veröffentlicht werden können in den christlichen
Urzeiten, wo es von so großer Bedeutung war, daß dieselben Glauben fanden,
wo die Betrügereien auf allen Seiten so häusig waren und zugleich der Verkehr
noch bei weitem nicht so allgemein war wie jetzt." Andere Beispiele liegen
unserer Zelt noch näher. Ein bekanntes Lied von Goethe (wie Feld und An)
hat sich in die Gedichtsammlung von I. G. Jacobi eingeschlichen. Fichtes
Kritik aller Offenbarung wurde in ihrer ersten anonymen Ausgabe allgemein
Kant zugeschrieben. In die Sammlung der hegelschen Werke ist eine Abhand¬
lung von Schelling und eine von F. v. Meyer gekommen. Neuerdings noch
haben die MÄtinecis i-vz^Ich Friedrichs des Großen zahlreiche Federn in Be¬
wegung gesetzt. Oder ist es nöthig noch an die ossianischcn Gesänge, an den
Briefwechsel Goethes mit einem Kinde, an die Bernsteinhexe zu erinnern?
In unserem Zeitalter der literarischen Oeffentlichkeit und des literarischen
Interesses wird nun freilich selten ein Betrug oder Irrthum lange unentdeckt
bleiben können. Anders im Alterthum. Dort fehlte es durchaus an den uns
jetzt zu Gebot stehenden Hilfsmitteln, um literarische Streitigkeiten zu entscheiden,
selbst wenn dieselben aufgeworfen wurden. Aber auch dies war höchst selten
der Fall. Dem Alterthum mangelte der Geist der Kritik, das rein historische
Interesse. Selbst in der hellsten Zeit des classischen Alterthums waren Unter¬
schiebungen möglich, die uns heute unglaublich scheinen, und je näher wir
dann der christlichen Welt kommen, um so mehr wird eS geradezu Mode, be¬
rühmten Namen der Vorzeit neueste Erzeugnisse anzudichten, eben erst entstandene
Schriften unter der Autorität eines Platon, eines Pythagoras, eines Orpheus
in die Welt zu schicken. Es lag diese Tendenz in der ganzen Zeit. Niemand
findet etwas Arges daran, niemand erhebt Widerspruch oder äußert Zweifel,
jeder meme vielmehr auf Treu und Glauben hin, was ihm, unter welchem
Titel immer, entgegengebracht wird. Juden und Heiden wetteifern in solchen
Unterschiebungen, und die ältesten Väter der christlichen Kirche stützen sich nicht
nur auf, dieselben, wo es in ihrem Sinne liegt, sondern sie setzen das Geschäft
fort, in ihrem Interesse, für ihre Zwecke.
Im zweiten Jahrhundert vor Christus stellte ein alexandrinischer Jude,
Namens Aristobul, um das Judenthum durch die Heidenwelt bezeugt sein zu
lassen, Aussprüche griechischer Dichter zusammen, die er aufs unverschämteste
gefälscht hatte. Aber gefeierte Kirchenlehrer, wie Clemens von Alexandrien und
Eusebius, nehmen durchaus keinen Anstoß daran, das, Orpheus von Abraham,
von Moses und den zehn Geboten, daß Homer von der Heiligung des Sab¬
bathes redet, sondern stützen sich auf diese untergeschobenen Beweisstellen. — So
sind die sogenannten sibyllinischen Weissagungen nichts als eine mit der Zeit
immer fortwachsende Sammlung der ungeheuerlichsten Unterschiebungen. Die
alte Sibylle, diese mythische Gestalt aus den Zeiten des trojanischen Kriegs,
mußte die spätesten Erzeugnisse, wie Neros Muttermord, den Ausbruch des
Vesuvs unter Titus u. s. w. geweissagt haben, und die Christen schritten dazu
fort, ihr eine Reihe mcssianischer Weissagungen in den Mund zu legen. Die
Sibylle weissagt aufs genaueste alle Lebensschicksale Jesu, seine Wunder, sein
Wandeln auf dem See, die Speisung der Fünftausend, die Kreuzigung und
die Auferstehung', und dem Heiden Celsus gegenüber, der die Sibyllenoratel
für gefälscht erklärt, hält selbst ein Origenes deren Echtheit aufrecht. — Clemens
von Alexandrien bezweifelt es nicht, daß Zoroaster in der Schlacht gefallen,
nach einiger Zeit wieder ins Leben zurückgekehrt und daß die Schrift echt sei,
worin er erzählt, was er im Todtenreich gesehen. — Das Buch Henoch, eine
Nachahmung des Buchs Daniel, das frühestens im Jahrhundert vor Christus
entstanden ist, wird vom Verfasser des im neuen Testament befindlichen Briefs
Juda, von Tertullian u. A. gläubig als ein Buch des Baders von Methusalah
und Urgroßvaters von Noah betrachtet.
An den sibyllinischen Weissagungen sehen wir bereits, wie auch die Christen
das gegebene Beispiel sich zu Nutz machten und nicht blos Untergeschobenes
glaubten, sondern auch um des Glaubens willen unterschoben. Schon in den
ältesten Zeilen falschem sie ohne Weiteres in ihrem Interesse die griechische
Uebersetzung des alten Testaments, und die Väter des zweiten Jahrhunderts
stützen sich auf die Beweiskraft dieser gefälschten Stellen. Dabei entgeht ihnen
nicht, daß diese Interpolationen im hebräischen Urtext fehlen, aber sie sind so
naiv, den Stil umzudrehen und die Juden zu beschuldigen, daß sie die frag¬
lichen Stellen aus ihren Bibeln ausgemerzt hätten. Waren diese Fälschungen
dazu bestimmt, schon durch das Judenthum die christlichen Heilswahrheiten be¬
zeugt werden zu lassen (wozu freilich die allegorische Auslegung ein ungefähr¬
licheres und bald beliebteres Mittel war als grobe Interpolation), so dienten
andere dazu, gegenüber der Heidenwelt, besonders, gegenüber ,der heidnischen
Staatsgewalt, dem Christenthum frühzeitig eine günstige Position zu verschaffen
und vorläufig zu fingiren. So wurde ein der christlichen Sache günstiger Be¬
richt verbreitet, welchen Pilatus über die letzten Schicksale Jesu an den Kaiser
Tiberius erstattet haben sollte. So wurden den römischen Kaisern mehre Er¬
lasse zu Gunsten der Christen angedichtet, die von Justin, Tertullian, Eusebius
als echt mitgetheilt werden. — Der noch erhaltene Briefwechsel zwischen Jesus
und dem Fürsten Abgar von Edessa (worin sich Jesus auf Stellen des Jo-
hannesevangeliums als bereits geschrieben beruft!) wird ebenfalls von Eusebius
in gutem Glauben mitgetheilt. Die romanhaften Schriften, die man auf Cle¬
mens, den ersten Bischof von Rom zurückdatirte, wurden nicht blos Von Ori-
genes als echt benutzt, sondern gingen zum Theil über die ganze spätere Tra¬
dition, und bilden sogar, was die fabelhafte Geschichte des Petrus und die
Ausbildung der Hierarchie betrifft, eine wesentliche Grundlage der römischen
Kirche.
Noch fehlt uns eine umfassende Schilderung jenes phantastisch aufgeregten,
allem Wunderbaren im Voraus geneigten Zeitalters. Die ungewöhnlichen
Weltverhältnisse, die Berührungen des Morgenlands und Abendlands, die
Vermischung der Religionen, die Flucht aus den abgestorbenen Formen der
alten Welt in die Ahnung, eines Neuen, Besseren erzeugten eine Fülle von
abenteuerlichen Erscheinungen: es war die Zeit der falschen Propheten, der
Wunderthäter, der Magier und Zauberer. Das Christenthum mitten in diesen
Zersetzungsproceß der alten Welt hineingestellt, hervorkeimend aus den Ruinen
der inhaltlos gewordenen Bildungen, folgte in der Richtung auf das Wunder¬
bare durchaus diesem Zug der Zeit. Niemals hat die Sage üppiger gewundert,
als in der ältesten Periode des Christenthums. Die ganze Literatur ist voll
von Legenden und Fabeln. Ueberall Märtyrerwunber, Visionen, Krankenhci-
lungen, Todtcnerweckungen, eingetroffene Weissagungen. Und diejenigen Schrift¬
steller . welche allen diesen Legenden den naivsten Glauben entgegentragen,
sind dieselben, auf deren Zeugnissen die Echtheit der neutestamentlichen Schrif¬
ten beruht. Wird man uns zumuthen. dieselben Väter, die den krassesten Aber¬
glauben ihrer Zeit theilen und verbreiten, doch in dieser einen Beziehung als
kritische Autoritäten zu verehren?
Derselbe Irenäus. der unsere vier kanonischen Evangelien bezeugt, belehrt
uns auch über den Grund, warum es gerade vier Evangelien geben müsse:
die Kirche ist in der ganzen Welt verbreitet, die Welt hat vier Weltgegenden
— also ist es schicklich, daß es auch vier Evangelien giebt. Das Evangelium
ist der Lebenswind für die Menschen, nun giebt es aus Erden vier Hauptwinde
— also auch vier Evangelien. Das Wort Gottes thront auf Cherubim, die
Cherubim haben vier Gestalten, also hat uns das Wort Gottes auch ein viel¬
gestaltiges Evangelium gegeben. Natürlich wäre dieser Kirchenvater, wenn zu
seiner Zeit die Tradition aus dem vorhandenen Reichthum von Evangelien sich
für eine Drei- oder Fünf- oder Sieben-Zahl von Evangelien entschieden hätte,
gleichfalls um Gründe von derselben Beweiskraft nicht verlegen gewesen. Der¬
selbe Irenäus, der uns die Echtheit des Johannesevangeliums bezeugt, erzählt
als mündliche kleinasiatische Ueberlieferung, der Apostel Johannes habe Folgen-
"
des als ein Wort des Herrn angeführt: „Tage werden kommen, da werden
Neben wachsen, jede mit 10,000 Schößlingen, und an jedem Schößling 10,000
Aeste, und an jedem Ast 10,000 Zweige, und an jedem Zweig 10,000 Trauben,
und an jeder Traube 10,000 Beeren, gleicherweise wird ein Weizenkorn 10.000
Aehren geben und jede Aehre 10.000 Körner, und jedes Korn 10 Pfund Weißes
reines Semmelmehl und die übrigen Früchte und Kräuter nach Verhältniß."
Irenäus glaubte an dieses durch den Apostel Johannes vermittelte Herrnwort,
enorm die Lehre vom tausendjährigen Reich in krassester Weise versinnbildlicht
ist — gewiß kein Beweis, daß er den eigenthümlich geistigen Gehalt des Jo-
hanncscvangcliums zu würdigen und überhaupt ein kritisches Urtheil abzugeben
befähigt war. Derselbe Tertullian, der ebenfalls für die Echtheit dieses Evan¬
geliums zeugt, glaubt zugleich fest an die Wahrheit der Legende, daß der
Apostel Johannes in brennendes Oel gestürzt wurde, unversehrt daraus hervor¬
ging und daraus nach der Insel Palaos verbannt wurde, und so ist keine Le¬
gende wunderhast und unglaublich genug, die bei diesen Bädern der Kirche
nicht willig Glauben fände. Alles darf man bei ihnen eher suchen, als kriti¬
schen Sinn und Sicherheit gegen Betrug und Täuschung. Ihr Interesse war
ein dem kritischen geradezu entgegengesetztes. Sie nahmen an, was ihnen er¬
baulich schien. Warum sollten sie die wunderhaften Legenden nicht glauben
und verbreiten, die ihnen eine Bestätigung der Wundernacht des Christenthums
waren, und warum sollten sie eine Schrift nicht für apostolisch halten, die als
solche in Umlauf gesetzt wurde, und deren Inhalt keinen Anstoß gab!
Bald verband sich mit dem erbaulichen Moment ein kirchliches. In dem
Kampf gegen die ketzerischen Sekten, welche im zweiten Jahrhundert so mächtig
um sich griffen, zog man alles an sich heran, was zur Grundlage für die sich
bildende rechtgläubige Kirche dienen konnte, man sah sich nach Schriften um.
die sich zur Widerlegung der Ketzer eigneten, und man war im Voraus geneigt,
Schriften, die sich für apostolisch ausgaben, auch für solche zu halten, sobald sie
nur eine Beziehung zu den dogmatischen Interessen der Gegenwart hatten.
Man wendet nun freilich ein, es sei ganz undenkbar, daß neutestament-
liche Schriften untergeschoben wurden. Denn es sei weder anzunehmen, daß die
Verfasser derselben sich solche Täuschung zu Schulden kommen ließen, noch daß
sie damit in der Kirche Glauben gefunden hätten; ja das Christenthum würde
damit selbst zu einem Erzeugniß der Täuschung und des Betrugs. Letzteres ist
eine grelle Uebertreibung, eine offenbare Umdrehung des wirklichen Sachverhalts.
Das Christenthum war früher vorhanden, als die Schriften, welche dasselbe
im Lauf seiner Entwicklung erst aus sich heraus erzeugte, und seine Lebens¬
kraft' hängt sicherlich 'nicht davon ab, ob eine Schrift diesen oder jenen zum
Verfasser hat, oder ob sie ein paar Jahrzehnte früher oder später geschrieben ist.
Ueberdies ist eine Anzahl der neutestamentlichen Schriften von der Wissenschaft-
liehen Kritik ihren traditionellen Verfassern nicht abgesprochen worden, sondern
es sind gerade von diesen echten Schriften aus die Mittel für die Orientirung
auf dem übrigen Gebiet des Kanon gesucht worden. Mit dem anderen Ein¬
wand, daß die Kirche solche Täuschungen sich nicht habe gefallen lassen, sind
wir bereits im Reinen. Wir kennen die kritische Zuverlässigkeit, den histori¬
schen Tact der gelehrtesten Väter, und es fehlt ja nicht an zahlreichen Bei¬
spielen dafür, daß unzweifelhaft untergeschobene Schriften, die später als unecht
verworfen wurden, früher und zwar sehr bald nach ihrer Abfassung in weiten
Kreisen für echt angesehen wurden. Was aber endlich die moralische Unmög¬
lichkeit solcher Unterschiebungen betrifft, so ist es durchaus verkehrt, die Be¬
griffe unsrer heutigen Moral auf jene Zeiten und Verhältnisse anzuwenden.
Jede Zeit will nach ihrem eigenen Maßstab gemessen werden. Nun ist es nach
unsern Begriffen freilich eine grobe Täuschung, wenn ein Verfasser seiner Schrift
den Namen eines Anderen vorsetzte Allein eben dieser Maßstab ist der schrift¬
stellerischen Thätigkeit jener Zeit etwas völlig Fremdes. Der Begriff des geistigen
Eigenthums war noch ganz unentwickelt, das Persönliche, Individuelle trat
durchaus zurück gegen den Inhalt einer Schrift; um diesen allein war es zu
thun, und um ihm im Interesse der Sacke größere Autorität zu geben, schickte
man sie unter dem Namen einer bedeutenden, hochgeltenden Persönlichkeit in
die Welt. Dieser Name sollte nickt mißbraucht, sonder» im Gegentheil geehrt
werden, wie denn der Verfasser der noch vorhandenen Schrift: Thaten des
Paulus und derThetla. über seinen Betrug zur Rede gestellt, erklärte, er habe
aus Liebe zum Apostel diesen als Verfasser auf dem Titel genannt. Man war
überzeugt, im Geist und Sinn jener Männer zu reden; man hatte kein Arg
bei der Unterstellung, daß dieselben, wenn sie heute in diesen bestimmten Ver¬
hältnissen lebten, in solchem Sinn ihre gewichtige Stimme erheben und an
den Kämpfen der Zeit sich betheiligen würden. Eben dieser Art von Unter¬
schiebungen hatte das classische Alterthum, insbesondere aber die jüdische Lite¬
ratur vorgearbeitet. Nicht blos apokryphische Bücher, wie das vierte Buch
Esra, das Buch Henoch sind auf diese Weise entstanden, sondern von einer
Reihe in unserm alttestamentlichen Kanon befindlicher Schriften, vom Prediger,
von den Sprüchwörtern Salomos, vom Buch der Weisheit, von vielen aus
David lautenden Psalmen, von den Weissagungen Daniels, vom zweiten Theil
des Jesaias ist heute nachgewiesen, daß sie nicht von ihren angeblichen Ver¬
fassern herrühren,' ohne daß man dabei an Fälschung und Betrug denkt. So
sollte denn auch bei vielen unserer neutestamentlicken Schriften die Angabe
ihres apostolischen Ursprungs nur dazu dienen, ihren Inhalt als apostolisch zu
empfehlen, weil man damit sicher war, ihrer Tendenz, die man als eine echt
christliche und kirchliche wußte, in weiten Kreisen Eingang zu verschaffen. Dabei
konnte es geschehen, daß schon vorhandene Schriften blos überarbeitet und
wieder überarbeitet, die ursprünglichen Verfasser aber ungeachtet der späteren
Veränderungen auf dem Titel belassen wurden. Dieser Fall ist zum Beispiel
bei den drei ersten Evangelien denkbar, deren Überschriften im Griechischen ja
bekanntlich auch gar nicht lauten: Evangelium des Matthäus, des Lukas,
sondern nacb Matthäus, nach Lukas u, s, w., eine Bezeichnung, in welcher
sich eben die Spur späterer Bearbeitungen deutlich erhalten hat. Eine Spruch-
sammlung, welche zum Apostel Matthäus hinaufreicht, mag den Grundstock
der Evangelienlitcratur gebildet haben, aus welchem neben anderen Verzweigun¬
gen durch mehrfache Ueberarbeitung unser jetziges Evangelium dieses Namens
hervorging. Die Apostelgeschichte besteht sichtlich aus mehren ungleichartigen
Theilen, die erst später zu einem Ganzen zusammengeschmolzen worden sind.
So ist namentlich im zweiten Theile der Reisebericht eines Begleiters des
Apostels Paulus benutzt. Da nun ein Lukas als Begleiter des Paulus ge¬
nannt wird, schrieb man ihm, mit Recht oder Unrecht, die Abfassung dieses
Berichts zu, und dieser Name blieb dann auch sür den späteren compilatori-
schen Verfasser der Apostelgeschichte. Und da nun derselbe Verfasser mit Be¬
nutzung älterer Evangelien auch ein neues paulinisches Evangelium schrieb,
wurde diesem gleichfalls der Name des Lukas vorgesetzt. So mag der Ver¬
sasser unsrer dritten, nach Markus benannten Evangelienschrift neben Matthäus
und Lukas noch ein weiteres, dem Markus zugeschriebenes Evangelium benutzt
haben, dessen Name dann auf die spätere Schrift übertragen wurde.
Aber auch wenn solche Anknüpfungspunkte nicht vorhanden waren, hat
dies Zurückdatiren einer späteren Schrift in den apostolischen Kreis hinaus
nichts, was in jener Zeit irgendwie auffallend oder gar in sittlicher Beziehung
anstößig sein konnte. Ein in der alezandrinischcn Religionsphilosophie gebilde¬
ter Christ arbeitet den Evangelienstoss nach seinen Ideen um; er thut es in dem
Bewußtsein, im Gegensatz zu den älteren Evangelien erst den wahren Sinn
des Christenthums erschaut zu haben und erfüllt von der Mission, das Erschaute
der Welt bekannt zu machen; dabei versetzt er sich in den Geist des Lieblings¬
jüngers Jesu, er schreibt gleichsam eine neue Vision im Sinne der fortgeschritte¬
nen Entwicklung des Christenthums, wie der Dichter der Offenbarung in seiner
Vision die judenchristlichen Ideen niedergelegt hatte. Der Verfasser des vierten
Evangeliums bevorzugt sichtlich den Apostel Johannes und rückt dasselbe ge¬
flissentlich in den Kreis der johanneischen Tradition; doch sagt er nirgends, daß
er der Apostel Johannes selbst sei, wie er denn vielmehr überall von diesem
in der dritten Person redet, ja sich ausdrücklich von ihm unterscheidet. Erst
später schritt man, wie der unechte Anhang des Evangeliums beweist, dazu
fort, den Verfasser ausdrücklich sich als den Apostel selbst bezeugen zu lassen.
Ganz besonders aber war es nun in der nachapostolischen Kirche ein prak¬
tischer Zweck, der diese Unterschiebungen begünstigte. Die meisten Briefe, welche
unter dem Namen von Aposteln Aufnahme in unsern Kanon gefunden haben,
sind mitten aus den Interessen der sich bildenden Kirche geschrieben. Es galt
— und dies waren die gewöhnlichsten Falle — die Auseinandersetzung zwischen
Paulinern und Petrinern, Aus^leichungsvvrschläge, die von beiden Seiten ge¬
macht wurden . Warnung vor einer Ueberspannung der vorhandenen Gegensätze,
Abwehr extremer ketzerischer Meinungen, und nun griff man in die Urgemcinde
zurück, beschwor ein apostolisches Haupt dieser oder jener Partei und ließ dieses
ein Wort des Friedens oder des Streits reden, um die Ideen, welche jetzt die
angemessenen zu sein schienen, in Umlauf zu bringen. Die Namen der Apostel
wurden also gewählt als eine arglose Empfehlung der Lehren und Einrichtungen
der Kirche. So sind die petrinischen Briefe entstanden, um das spätere mit
dem Paulinismus ausgesöhnte Christenthum auf das Haupt des Judcn-
christenthums zurückzuführen. Indem man dabei nur die Schärfe der paulini-
schen Begriffe vermied, war man sicher, bei den Judenchristen am leichtesten
Eingang zu finden, wenn man ihnen die Autorität ihres Apostelfürsten für die
neue Friedcnsrichtung vorhielt. So ist der Jatobusbricf geschrieben als ein auf
die Autorität dieses Säulenapostel zurückgeführter Protest gegen die Lehre oeS
Heidenapostels, jedoch mit jenen Concessionen, zu welchen um die Mitte des
zweiten Jahrhunderts bei der großen Verbreitung, welche die neue Lehre in
der Heidenwelt inzwischen gefunden hatte, auch das Judenchristenthum sich
herbeilassen mußte. So sind die Hirtenbriefe auf den Namen des Apostels Pau¬
lus getauft worden, um die kirchlichen Einrichtungen der spätern Zeit, wie die
Polemik gegen die gnostische Settircrei mit seiner Autorität zu versehen. Und
so weisen uns auch die anderen Briefe, welche mit Unrecht den Namen des
Apostels Paulus tragen, auf Verhältnisse, die jener Gegensatz, der sein Leben
bewegte und seine vier echten uns noch erhaltenen Briefe ausfüllt, bereits nach¬
gelassen, eine friedliche, ausgleichende Tendenz Platz gegriffen hatte, aber
auch auf diese das Siegel der apostolischen Autorität gedrückt werden sollte.
Wir müssen uns also an die Vorstellung gewöhnen, daß eine Reihe von
neutestamentlichen Schriften nicht von denjenigen Aposteln und Apostelschülcrn
herrührt, welche die kirchliche Tradition auf ihre Titel gesetzt hat. Aber der
Verlust ist ein scheinbarer, er wird reichlich dadurch aufgewogen, daß diese
Schriften dafür der Geschichte gewonnen werden. Es liegt wenig daran, ob
sie diesen oder jenen zum Verfasser haben; weit wichtiger ist es, aus welcher
geistigen Anschauung heraus, in welcher Atmosphäre sie geschrieben sind, welche
Tendenz sie verfolgen, welche Verhältnisse sie widerspiegeln. Die glänzenden
Aufschriften, die ihnen aufgeklebt sind, verschwinden, aber ihr Inhalt wird um
so verständlicher und werthvoller. Wir müsse» ans authentische Briefe der Ur-
apostel verzichten, aber gewinnen dafür authentische Documente für die nach¬
apostolische Zeit, und auch die urapostolische Zeit wird uns erst dann geschieht-
lich Verständlich, wenn wir dasjenige ausscheiden, was spätere Anschauungen
und Interessen in sie hineingetragen haben. Erst durch die geschichtliche Be¬
trachtung wird das neue Testament zu einer getreuen und zuverlässigen Urkunde
des ältesten Christenthums. Aber auch der moralische Gehalt, der religiöse
Werth jener Schriften kann nicht darunter leiden, wenn sie zum Theil andere
Berfasser haben, als die katholische Tradition ihnen zuschreibt. Einen inneren
Werth haben sie ja dadurch nicht, daß sie von Aposteln herrühren; es ist ein
rein äußerlicher Vorzug, der gar nichts zu thun hat mit ihrer geistigen Rang¬
ordnung oder mit ihrer sittlichen Wirkung. Das Verhältniß des vierten Evan¬
geliums zur Offenbarung, welche die Tradition beide dem Apostel Johannes
zuschreibt, ist hiefür der sprechendste Beleg. Ist uns diese das Werk eines ech¬
ten Jüngers Jesu, jenes die Schrift eines namenlosen Mannes des zweiten
Jahrhunderts, so vermag uns diese Verschiedenheit des Ursprungs nicht in
unsrem Urtheil über den geistigen Werth beider zu beirren. Obwohl von
einem Apostel geschrieben, vertritt die Offenbarung eine Stufe des christlichen
Bewußtseins, welche dem Judenthum noch am nächsten stehend, sehr bald in
der Kirche antiquirt war und heute nur noch historische Bedeutung hat, wäh¬
rend uns im Evangelium, dessen unbekannter Verfasser mindestens ein Jahr¬
hundert vom Tode Jesu entfernt ist, die reifste Frucht der urchristlicher Ent¬
wicklung, und eine tiefere geistigere Auffassung des Christenthums entgegentritt,
als in allen anderen Schriften, welche uns der Kanon des neuen Testaments
aufbewahrt hat.
Die geschlossene Waffenruhe hat die kriegerischen Ereignisse in Schleswig
vorläufig beendigt. Es ist sehr zweifelhaft, ob die Konferenzen auch nach
verlängerter Waffenruhe zum Frieden führen, und wir werden nach einigen
Wochen oder Monaten wahrscheinlich von Neuem über Kriegsereignisse zu be¬
richten haben; was wir mit größerer Freude thun würden, wenn dem preußi-
schen Obercommando gelungen wäre, bis jetzt die Dänen mehr zu beschädigen,
als geschehen. —
Wir hatten im Anschluß an die im jetzigen Kriege gesammelten Erfahrungen
die Ausbildung der preußischen Infanterie besprochen. Es ist vielleicht Man¬
chem aufgefallen, daß dabei der Kampfwcise der Franzosen gar keine Erwähnung
geschah, die doch als Ideal dessen angesehen wird, was eine militärische
Ausbildung erreichen tan» und erstreben muß. Allein diese Kampfweise ist eben
eine echt französische, sie kann von andern Völkern wohl abkonterfeit, aber nicht
in ihrem Wesen angenommen werden und kann deshalb auch nicht von uns
mit Vortheil gegen unsere Feinde verwandt werden. Der Soldat, wie jeder
Mensch, leistet am meisten durch die höchste Entwickelung der eigensten Natur
und nicht durch Aufpfropfen fremder Elemente. Einen Beleg zu dieser Behaup¬
tung gewährt der blutige Kampf, welcher der Wegnahme der Düppler Schan¬
zen im Terrain bis zum Brückenkopf folgte. Die preußischen Truppen, welche
durchgehends einen Unterricht im Bajonnetiren genossen und für den Kampf
Mann gegen Mann nur das Bajonnet als Waffe kennen gelernt haben, sind
nicht einen Moment in Zweifel gewesen, in obigem Gefecht, gerade wie vor
fünfzig Jahren, das Gewehr umzudrehen und mit dem Kolben auf den Gegner
loszuschlagen. Der Franzose aber bleibt dem Bajonnet zu allen Zeiten treu.
Wem der Sieg angehört, ob dem Bajonnet oder dem Kolben wird vielleicht die
Zukunft lehren, gewiß ist, daß im Jahr 1813 der Kolben, besser fluschte.
Deshalb bleibt doch das Bajonnetiren ebenso wie das Turnen ein sehr guter
Uebungszweig, um den Einzelnen gewandt und auch mit der Gefahr vertraut
zu machen.
Nicht die Kampfweise der Franzosen hat ihnen in Italien und in der
Krim den Sieg verschafft, sondern der in dieser Kampfweise echt fran¬
zösisch zum Ausdruck gekommene Grundsatz, daß die Leistung des Ganzen
unendlich gesteigert wird durch die vollste Entwicklung der Thatkraft des
Einzelnen. Das ist eine Wahrheit, welche die politische Entwicklung der
Völker der Neuzeit in die Kriegsgeschichte eingeführt hat und die, je nach¬
dem sie in verschiedenen Verfassungen sich anders ausdrückt, auch je nach
der Individualität der Völker eine andere Kampfwcise fordert. Der Franzose
ist im Allgemeinen ebenso intelligent wie eitel und stellt die Ehre Frankreichs
ebenso hoch wie seine eigene. Die vorwiegenden Eigenschaften des Deutschen
sind Fleiß und Gründlichkeit, verbunden mit einiger Gleichgiltigkeit gegen die
staatlichen Verhältnisse, so lange diese ihn nicht incommodiren. Diesen ver¬
schiedenen Eigenschaften beider Völker muß Rechnung getragen werden in
der Organisation, in der Art der Ausbildung und in der Kampfweise der
entsprechenden Armeen. Wir haben es hier nur mit der letztem zu thun
und wollen deshalb dos Charakteristische derselben hier näher feststellen, dem
Einzelnen den Vergleich und die Bestätigung obiger Behauptung anheim¬
stellend.
Die Erfolge der französischen Waffen werden besonders zugeschrieben:
1) Einer vorzüglichen Armeeleitnng. 2) Einer jeden Einzelnen belebenden
Thatkraft. 3) Der Kampstüchtigkeit im Einzelgcfecht.
Die Güte der Armeelcitung hat in der Krim wie in Italien sich nicht
nur in den militärischen Bewegungen, sondern auch in der Sorge sür das
Wohl der Soldaten geltend gemacht und ist basirt auf guten militärischen In¬
stitutionen und einer vorzüglichen Durchbildung des französischen Gcneralstabes.
In dieser Beziehung ist der Gegensatz gegen alle andern Armeen sehr bedeutend,
wie ein einfacher Vergleich darthut. Am entsprechendsten dem bisherigen Ge-
dankengange dieser Briefe würde ein Vergleich mit den preußischen Einrichtungen
sein, aber das ist unmöglich, weil die preußische Armee jeder festen Organisa¬
tion, jedes Reglements, jeder Instruction in dieser Beziehung entbehrt. Eine
Unmasse von Einzelbestimmungcn sind vorhanden, aber keine organisatorischen,
die leitenden Gesetze fehlen, und die Folge davon ist Unselbständigkeit der Be¬
hörden. In dem jetzigen kleinen und ganz localen Kriege hat sich dieser Uebel¬
stand gewiß geltend gemacht, und vielleicht steht eine Abhilfe bevor, ebenso wie
diese in England dem Krimkriege folgte. In Oestreich haben die Erfahrungen
des italienischen Krieges in dieser Beziehung nicht zu so raschem Resultate ge¬
führt, weit die Oeffentlichkeit nicht scharf genug die treibenden Segel bläht wie
in England.
Während in Frankreich alle Zweige der militärischen Befehlserthcilung so¬
wohl als der Verwaltung sich im Kriegsminister gipfeln, hatte England beim Be¬
ginn des Krimlncgs zwei Kriegsminister mit getrenntem Ressort, ein Arinee-
commando und ein Feldzcugmcistcramt, welche sich nunmehr in ein Armcecommando
und einen Kriegsminister reducirt haben, deren Geschäfte sich derart theilen, daß
bei dem erstern sich die gesammte Befehlscrtheilung, incl. Jurisdiction concentrirt,
während in dem Kriegsministerium die eigentliche Verwaltung und die Gesetz¬
gebung ruht. Die Einheit der französischen Einrichtung sichert eine viel raschere
und richtigere Erledigung aller Geschäfte und hat in der-Krim sich trefflich be¬
währt und die Nachtheile der damaligen englischen Organisation sehr klar ge¬
legt. — Die jetzt in England eingeführte Theilung der Gewalten hat den
Vorzug, daß im Frieden die ihrer Natur nach conservative militärische Macht
von den Wandelbartciten der Politik unberührter bleibt und nicht mit jedem
neuen Ministerium andere Ansichten als leitend aufgestellt werden, im Kriege aber
bedarf es voller Einheit der beiden obern Stellen, wenn nicht Stockungen in die
Lebensadern kommen sollen, welche die Armee mit dem Vaterland verbinden.
, Aber nicht nur in den obersten Behörden ist in Frankreich die Einheit der
Verwaltung und der Befehlsertheilung herbeigeführt, sondern auch in allen
Fällen, wo beide Zweige sich berühren. Die sämmtliche Militärverwaltung ist
militärisch organisüt, hat militärischen Rang und ist den militärischen Behör¬
den direct untergeordnet. Bei den Truppcncommandos haben die denselben
beigegebenen Verwaltungsbehörden ihren Vorgesetzten nicht nur in dem betreffen¬
den General, sondern auch in dessen Chef des Generalstabs. — Eine ähnlich
strenge Verbindung herrscht in Rußland, am entferntesten steht sich Verwaltung
und Besehlsertheilung in der englischen Armee, nicht nur weil die Geldsragen
bei dem Ministerium rcssvrtircn, sondern weil auch die meisten Beamten nur
contractlich und nur für das einzelne Geschäft mit der Truppe verbunden sind.
In der festen Verbindung allein ist das Wohl der Truppe gesichert, im ein¬
zelnen Geschäft giebt allemal das Interesse des Unternehmers den Ausschlag,
wie die Welt nicht nur aus den englischen Untersuchungen über die Armee-
administration in der Krim, sondern aus den noch viel schlimmern nordameri¬
kanischen Verhandlungen in der Neuzeit erfahren hat. Die französische Armee-
lcitung fördert das Wohl des Einzelnen mit unausgesetzter Thätigkeit und
Energie. — Ader nicht nur in materieller, sondern auch in geistiger Beziehung
ist die französische Armeeleitung durch ihre Organisation musterhaft und Er¬
folge sichernd. Kein Land hat einen so reichen und für seine Geschäfte so durch¬
gebildeten Generalstab wie Frankreich.
Dieser nimmt alle für die Armeeleitung direct bestimmten Stellen neben
der Generalität ein und wird nur durch solche Offiziere ergänzt, welche die
Generalstabsschule durchgemacht haben. In dieselbe werden wieder nur diejenigen
aufgenommen, welche in der polytechnischen „oder der Artillerie" oder der Schule
von Se. Cyr sich ausgezeichnet haben. Jeder aber, der diesen Anforderungen
entspricht, findet Aufnahme in der Gencralstabsschule, und wenn auch hier seine
Leistungen genügen, leite er in das bevorzugte Corps des Generalstabes und
darf eine an Thaten und Auszeichnungen reiche Laufbahn erwarten. Hier,
wie in alle» französischen Heercseinrichtungen ist der Franzose seines Glückes
Schmied.
Die Oestreichs haben auch eine Gencralstabsschule, aber der Generalstab
bildet nur ein einseitig militärisch-technisches Institut, und nicht ihm, nicht
dem Studium und der Leistung, sondern der bevorzugten Geburt gehört die
höhere Carriere, nicht dem vorgebildeten Generalstab, sondern der auf persön¬
lichen Beziehungen basirten Adjutantur gehört der Vorrang in der Armee¬
leitung. Auch Rußland, England und Preußen haben Vorbercitungsstadien
für den Generalstab, aber in keinem dieser Länder erwächst dem Einzelnen aus
der Vorstufe ein Recht zu weiteren Borschrciten.
Ferner aber wird in keiner Armee, wie schon gesagt, die Thatkraft des
Einzelnen dergestalt zur Leistung aufgefordert wie in der französischen. Hier hat
jedes Bataillon seine Elite, die Garde bildet eine solche für die Armee. Jeder
tann jede Stellung in der Armee erreichen, der Leistung folgt als ein Recht,
nicht als eine Gnade die Anerkennung. Das Gesetz regulirt das gewöhnliche
wie das extraordinaire Avancement, bestimmt die Stufen, welche jeder erklim¬
men muß, um weiter zu schreiten, und setzt genau das Jahr fest, in welchem
seine Laufbahn beendigt ist. — Die Folge davon ist eine Unabhängigkeit der
Charaktere, wie sie keine andere Armee aufzuweisen hat, und die auf dem
Schlachtfeld Thaten hervorruft, welche die Bewunderung der Welt in Italien,
wie in der Krim gefunden haben.
-Auf dieser Emancipation der Individuen beruht auch die Fechtart der Fran¬
zosen, welche ihnen die schönen Siege in der Neuzeit verschafft hat. Eine ge¬
bildete und tüchtige Armeeleitung stattet dort den Soldaten zu allen Zeiten und
für alle Fälle reich und gut aus, führt ihn zur entscheidenden Schlacht und
überläßt dann die Entscheidung den Einzelnen. Sie kann dies allerdings thun,
weil in jedem Einzelnen der Trieb liegt, der Aufgabe des Ganzen zu genügen.
— Aber in dieser Vertheilung der Aufgabe auf die vielen Einzelnen liegt auch
die große Schwäche und Gefahr der französischen Fecktart. Ebenso wie das
Ganze durch die Stärke, Energie, Furie der Einzelnen den Sieg erringt,
ebenso ist es möglich, das Ganze durch die Schwächen der Einzelnen zu be¬
siegen; und dann mag es ein Sieg werden über einen Complex von tausend
Schwächen.
Wie die radical-demokratische Regierungsform die unruhigste und von den
Impulsen des Moments abhängigste ist, was Frankreich wiederholt gelehrt hat
und was Nordamerika heute lehrt, ebenso ist die Kampfweisc der Franzosen
die gefährlichste und den Erfolg einem ebenbürtigen Gegner gegenüber am
wenigsten sichernde. Die vorzügliche Organisation der französischen Armee¬
leitung und die Gesetzlichkeit der innern Zustände kann und muß jede Armee
nachahmen, die Kampsweise aber überlasse man den Franzosen und trete dieser
mit unserer zuchtvollen und in dem Ganzen aufgehenden Kraft des Einzelnen
gegenüber. Die Erfahrung lehrt, daß keine Armee so wenig eine verlorene
Schlacht verträgt, wie die französische, weil sie mit dem moralischen Element
des Einzelnen den ganzen innern Halt verliert.
Schon in einem der ersten Briefe ist ausgesprochen, daß die stürmischen
Tirailleurlinien der Franzosen einen gefährlichen Gegner in dem ruhigen Linear¬
feuer der Engländer gefunden haben, einen mindestens ebenbürtigen Gegner
bietet eine ruhig feuernde deutsche Schützenlinie. Wenn die Armeeleitung der
Preußen nur einigermaßen der französischen gleicht, wird die preußische mit dein
Zündnadelgewehr bewaffnete, sehr gut schießende Schützenlinie den vordrängen¬
den Franzosen rasch abkühlen und ans das zurückweisen, was im Leben allein
Erfolge sichert, auf die Ausdauer, und in dieser leistet die in die 'Hand des
Vorgesetzten gearbeitete Truppe mehr als die aus lauter einzelnen Elementen
bestehende. In der Ausdauer hat der Deutsche immer den Franzosen besiegt.
— In Schleswig hat man in einer Sache den Franzosen nachgeahmt, im Ab¬
legen der Tornister vor der Action; man hat dadurch nach dem Uebergang bei
Arms den Truppen einen Halt von zwei Tagen auferlegt, um die Tornister
nachzufahren. Hoffentlich hat man an dieser einen Erfahrung für ewige Zeiten
genug. Dieses Tornistcrablegcn ist eine Ausartung der in der französischen
Armee jetzt geltenden Berücksichtigung des Individuums, es ist nicht gut, daß
gerade dies kränkliche Detail bei dem preußischen Heerführer Nachahmung
fand; denn es zeigt, wie wenig der Geist französischer Kriegführung erkannt wird.
Napoleon der Erste, der seine Franzosen gewiß kannte und die Fähigkeit seiner
Infanterie für das Einzelgefecht vollständig ausnutzte, hielt dem jetzt herrschen¬
den System ganz entgegengesetzt bei der Ausbildung und Uebung streng dar¬
auf, daß der Soldat in Formen gezwängt wurde, in Formen, welche im Ge¬
fecht nur selten zur Anwendung kommen sollten. Die Friedensübungcn dienten
nur dazu, die durch den Krieg zu selbständig gewordenen Soldaten wieder in
die Hand des Vorgesetzten zu bringen. Die Franzosen haben heute noch diese
Formen in ihren Exercitien beibehalten, behandeln sie aber mehr als Zeitaus¬
füllung, nie als Erziehungsmittel, und in Folge dessen sind sie werthlos ge¬
worden.
Die dem Prinzen Friedrich Karl zugeschriebene Brochure über die Kampf¬
weise der Franzose» schließt sich dieser modernen französischen Richtung an und
verurtheilt den Exercierplatz vorweg, sie behauptet, der General müsse, sobald
er ins Gefecht komme, das Reglement vergessen. Der Verfasser hätte sagen
sollen, daß der General bei dem Gebrauch der Infanterie zwar die Streitkräfte
durch, möglichste Geltendmachung aller individuellen Fähigkeiten möglichst hoch
steigern soll, — daß er aber stets bestrebt sein muß, so viel wie möglich regle-
mentarischc Formen aufrecht zu erhalten, um die Leitung der Einzelnen in der
Hand zu behalten.
Es ist interessant, daß in der preußischen Armee gerade der Prinz Friedrich
Karl der demokratischen Richtung für die militärische Kämpfweise das Wort redet,
nicht autz inneren Sympathien, sondern nur, weil er die fortreißende Gewalt dieser
Richtung erkannt hat. Wäre ihm Quelle und letzter Grund dieses französischen
Systems deutlich geworden, so würde er vielleicht in den entgegengesetzten
Fehler verfallen sein und den Werth der französischen Kampsweise verachtet
haben. Das kann aber keinenfalls gewünscht werden.
Mögen die preußischen Führer von den Franzosen die Kraft der indivi¬
duellen Freiheit ehren lernen, und mögen sie diese Kraft vergrößern, indem sie
dieselbe innerhalb gesunder und fester Formen zur Geltung bringen. Sollen
die Preußen den Franzosen im Kampfe gegenübertreten, so dürfen sie gegen
die wildanstürmende Kraft getrost die bewußte Ordnung einsetzen, der letzter»
muß schließlich der Sieg bleiben; denn gefährlich ist der preußischen Armee
durchaus .nicht die französische Kampfweise, sondern die französische musterhafte
Armeeleitung.
Wie die Mehrzahl der vom Verfasser über Personen und Vorgänge des deut¬
schen Mittelalters gelieferten Arbeiten, wie namentlich seine Charakteristik Kaiser Frie¬
drichs des Zweiten, ist auch dieses Buch nicht das Ergebniß unbefangener Forschung,
sondern in der 'Hauptsache eine Partcischrift zu Gunsten einer specifisch östreichischen
und katholischen Auffassung der Geschichte, die in diesem Fall nur insofern eine ge¬
wisse Berechtigung hat, als sie ein Protest gegen die Anmaßung der Czechen ist, die
das deutsche Element gegenwärtig in so überaus abgeschmackter Weise höhnt und
befehdet. Daß die hussitische Bewegung nicht das war, als was sie uns noch vor
dreißig Jahren dargestellt wurde, und als was gewisse Quart'öpfe in Böhmen sie
der Welt noch heute anpreisen möchten, ist nachgerade bekannt, und wenn der Verfasser
zu dieser Erkenntniß der einen und andern werthvollen neuen Beitrag liefert, die Unreife
und Unklarheit des Urhebers der Bewegung an neuen Beispielen darthut, so verdient er
unsern Dank. Wenn er aber weiter geht und von seiner Darstellung hofft, sie
werde uns Huß künftig nicht mehr als einen die Wahrheit suchenden und für die
Wahrheit gestorbenen Mann ehren, vielmehr das costnitzcr Urtheil gerecht erscheinen
lassen, da Huß eigentlich nur als czechischcr Agitator, „dem der Zweck das Mittel
heiligte," verbrannt worden, so mag er das seinen katholischen Gesinnungsgenossen
vortragen, wir weisen ihn damit einfach zurück. Dadurch, daß die Präger Refor¬
mation sich mit slavischem Parteitreibcn verunreinigte, verliert sie für uns noch keines¬
wegs ihren echtdeutschcn Grundzug, und war Huß mit den Seinen ungerecht gegen
die- Deutschen, so werden uns Höfler und die Seinen mit allen ihren Argumenten
doch niemals beweisen, daß er deshalb kein Reformator war.
Das Shakespeare-Jubiläum hat auch in
Deutschland eine ziemliche Anzahl von Federn veranlaßt, sich über den großen Bühnen¬
dichter vernehmen zu lassen, doch möchten mir nicht sagen, daß sich unter diesen
Gclegenhcitsschriftcn viel von Werth befände. Ein Herr A. Cvrrodi hat „Lebens¬
weisheit aus seinen (Shakespeares) Werken gesammelt" und dieselbe alphabetisch ge¬
ordnet herausgegeben. Ein„Herr A. Ahne bietet unter dein Titel „Shakespeare-
Blüthen" ein ähnliches Sammelsurium vorzüglich der Jugend als Festgabe dar. Ein
Herr N. Alberti hat ein „Shntcspeare-Album" zusammengelesen und die betreffenden
Stellen „systematisch" unter Überschriften wie „Menschenschicksale und Stimmungen",
„die Frauen", „Religiöse Weltanschauung" u. s. w. geordnet, or. A. Beet ver¬
öffentlicht bei Fleischmann in München eine biographische Studie über Shakespeare,
in der er gute Kenntnisse der einschlagenden Literatur und warme Empfindung für
die Schönheiten des Dichters bekundet, und die überhaupt zu den bessern der hier
zusammengefaßten Schriften gehört, obwohl wir es nicht recht begreifen, wenn der
Verfasser es als eine Schande anzusehen scheint, daß Shakespeare nicht immer als
„Gentleman" (soll hier heißen: in behaglichen Verhältnissen) leben konnte. Recht
gut liest sich ferner der Vortrag C. G. Lemckcs über „Shakespeare in seinem
Verhältniß zu Deutschland". Eine ähnliche Tendenz verfolgt Krcyßig mit seiner
gehaltvollen Rede „Ueber die sittliche und volksthümliche Berechtigung des
Shakespeare-Cultus", in welcher er im ersten Theil nachweist, wie viel wir
Deutschen Shakespeare, dem „Vater des deutschen Dramas" danken, und wie andrer¬
seits Shakespeare in einer Reihe trefflicher Leistungen, welche deutscher Geschmack,
Scharfsinn und Fleiß und deutsches Talent seit hundert Jahren zu Tage gefördert
hat, zu verjüngtem Leben und fvrtzcugender Wirksamkeit auferstanden ist. Seit
1762 sind in Deutschland fünfzehn selbständige Übersetzungen sämmtlicher Werke
des Dichters, zum Theil in zahlreichen Auflagen erschienen. Von derselben Zeit
an zieht sich das Shakespeare-Studium wie ein Familienkennzeichen durch die Bildungs-
geschichte fast unsrer sämmtlichen Classiker hindurch. Unser nationales Drama ist
unter Shakespeares belebendem und bestimmenden Einfluß erwachsen, und für England
selbst ist seit der Uebersetzung von Schlegels dramatischen Vorlesungen und seit Cole-
ridges Vorlesungen über Shakespeare die deutsche Auffassung des Dichters maßgebend
geworden. Im zweiten Theil beantwortet der Redner die Frage nach der volks-
thümlich-sittlichen Berechtigung dieses poetischen Cultus dahin. daß der Grundzug, der
durch die Charaktere Shakespeares geht, sie zu Idealen und Musterbildern gerade für
unser Volk und unsre Zeit macht. Allem Schein und Flitter ein abgesagter Feind,
faßt der Dichter „das höchste Ideal der Schönheit und Güte nicht sowohl in der Form
des beschaulichen, selbstgenügsamen Seins, als vielmehr in der der unablässig wir¬
kenden Kraft. Er weiß eben nichts von jenen „edlen" Naturen, die mit dem zah¬
len, was sie sind, und es den „gemeinen" Geschöpfen überlassen, mit dem zu
zahlen, was sie thun. Seine Heiden erheben sich nicht in die Sphäre des Gedan¬
kens, um die Pflichten und die Noth der Erde sich wcgzntänschcn, sondern um für
ihre Ueberwindung neue Kraft zu gewinnen. Ihre Größe ist die des mit seinem
Leben eintretenden Streiters, nicht die der in selbstgenügsamen Behagen thronenden
Majestät, und wenn die Sonne des Ruhmes und des Glückes für sie aufgeht, so
spiegeln sich ihre Strahlen in den Tropfen ihres Schweißes, wenn nicht ihrer Thränen
und ihres Blutes/' Und so ist der große britische Dichter nicht blos als eine Art
geistigen Leckerbissens sür die Inhaber einer höhern ästhetischen Bildung zu reserviren,
sondern er wäre auch für das gesummte Volk, von dessen Thaten wir die Vollendung
hoher und schwerer nationaler Aufgabe» erwarten, ein mächtig fluthcndcr Quell ver¬
jüngender und umgestaltender Lebensweisheit. Gutes hat endlich auch Rutscher
mit seiner Schrift „Shakespeare in seinen ho eh sten Chei r a ktergebild e n"
(Dresden, Meinhold und Söhne) beigesteuert, eine Erläuterung von fünfzehn Charakteren
(Coriolan, Richard der Dritte. Shylock, Lady Macbeth, Falstaff, Othello. Jago,
Lear, Edgar im König Lear, Mcrcutiv, Macbeth, Desdemona, Porzia und Cordelia)
mit der wir zwar nicht durchgehendes übereinstimmen. die aber doch manches Wahre
und Tiefe enthält. Die Sprache des Verfassers hält sich im Ganzen freier von
Schulausdrückcn, als in früheren Arbeiten, dagegen fällt bei einem Buche, welches
doch für ein größeres Publicum bestimmt ist, unbequem auf, daß wiederholt die
Bekanntschaft des Lesers mit früheren Werken vorausgesetzt wird, die doch uur von
einem kleineren Kreise mit einigem Fug erwartet werden kann.
die seit Anfang dieses Jahres wie die früheren Auflagen lieferungsweise
erscheint, liegt jetzt der erste Band vor, welcher von Heft eins bis zehn gebildet wird
und die Artikel A bis Arad enthält. Die Welt ist seit Erscheinen der vorigen Aus¬
lage in allen Beziehungen beträchtlich anders und in sehr vielen klüger und reicher
geworden, und die Redaction hat diesen Aenderungen, diesen Fortschritten der Mensch¬
heit an Wissen und Besitz mit einem Fleiß und einer Sorgfalt Berücksichtigung an-
gedeihen lassen, die aller Anerkennung werth sind und wenig zu wünschen übrig lassen.
Viele Artikel sind gänzlich umgestaltet, andere durch Zuwachs neuen Stoffs be¬
deutend' reichhaltiger geworden, und so nimmt die den ersten Band der neuen Auf¬
lage bildende Reihenfolge von Begriffen und Namen nicht weniger als dreiundzwanzig
Druckbogen mehr in Anspruch als in der zehnten Auslage, wo der erste Band mit
Atlas endigte. Ganz vorzüglich hat die Länder- und Völkerkunde gewonnen,, auf
welchem Gebiet besonders die Artikel Afrika, Aegypten, Amerika, Amur, Alsen,
Angeln und Apcnradc wesentlich vermehrt und verbessert erscheinen. Nicht weniger
das Bereich der Naturniisscnschaften und der Technologie, und auch die geschichtlichen
und biographischen Artikel sind gebührend durchgesehen .und umgestaltet. Zudem
wir die neue Auflage hiermit bestens empfohlen haben wollen, knüpfen wir daran
die Anzeige, daß das „Neue Konversationslexikon" welches, von Hermann
I, Meyer herausgegeben, von H, Krause redigirt, zu Hildburghausen im Verlag
des bibliographischen Instituts in zweiter Auflage erscheint, und in seiner Art eben¬
falls warme Empfehlung verdient, uns in den sieben ersten Bänden «der letzte ent¬
hält die Artikel! Französische Literatur bis Grau) vorliegt.
Im 4. Artikel des londoner Tractats behalten sich die Contrahenten vor,
den Vertrag zur Kenntniß anderer Mächte zu bringen und diese zum Beitritt
einzuladen. Man begreift, welche Willigkeit gerade dieser Punkt für Däne¬
mark haben mußte. Im ganzen Vertrage ist selbstverständlich nicht davon die
Rede, daß durch denselben ein Recht etablirt werde. Es handelt sich eingestan¬
dener Maßen nur um Fixirung des Verhaltens der Mächte rücksichtlich der
Eventualität, daß nach dem Tode König Friedrichs des Siebenten diejenige
Successionsveränderung in Kraft träte, zu welcher der dänische König sich eines-
theils mit dem Kronprinzen und mit den nächste» Cognatcn, anderntheils mit
dem Kaiser von Rußland (als dem Chef der älteren holsteiü-gottorsischen Linie)
verständigt habe. Die im Tractat vorausgeschickte Anerkennung „des Principes
der Integrität der dänischen Monarchie" und die um ihretwillen stipulirte
Thronbesteigung Christians von Glücksburg hätte eine Rechtsverbindlichkeit nur
durch die drei nothwendigen Factoren 1) des Verzichtes der Näherberechtigten.
2) der Anerkennung durch den deutschen Bund und 3) der Ratification durch
die Stände der Monarchie erlangen können. Die Verbindlichkeit der Bei¬
bringung dieser drei Nechtserfordernisse nahm der König von Dänemark auf sich.
Daß er die Nothwendigkeit derselben anerkannte, beweist sein Eifer, sie zu erlangen.
Es ist bekannt, wie dies geschah. Der erste Punkt wurde unvollständig
erreicht. Man ging dänischer Seits nur darauf aus, sich Derer officiell zu ver¬
sichern, von welchen man wußte, daß sie einwilligen würden. Hinsichtlich der
Herzogthümer begnügte man sich mit dem Taschenspielerstückchen, die augusteu-
burgischen Ansprüche auf Grund der erzwungenen Expropriation der Familien¬
güter und der persönlichen Verzichtleistung des damaligen Chefs der Familie
zu cscamotiren. Von den Ständen der Monarchie wurden nur die dänischen
der Discussion der für alle gleich wichtigen, aber nur von ihnen zu billigenden
Successionsordnung gewürdigt.
Es galt nun drittens, sich des deutschen Bundes zu bemächtigen, dessen
Rechte hinsichtlich Holsteins und Lauenburgs der Artikel III des Tractats aus¬
drücklich gewahrt hatte.
Eine Zeit lang hat unter den contrahirenden Mächten und vorwiegend
zwischen England und Dänemark die Berathung geschwebt, ob man den Bund
als solchen zur Anerkennung des Vertrags auffordern sollte. Man täuschte sich
jedoch nicht über die ungünstigen Chancen dieses Unternehmens, und so ent¬
schloß sich Dänemark, die Angelegenheit auch dem Bunde gegenüber europäisch
zu behandeln, d. h. nicht die Conföderation als solche, sondern einzelne hervor¬
ragende Glieder derselben darauf anzureden.
Durch eine Circulardepesche an ihre Vertreter 6. ä. 9. Sept. 1852*)
setzte die dänische Negierung die Contrahenten von diesem Entschluß in Kennt¬
niß. Wir erfahren aus derselbe», daß die von Dänemark befürwortete Collectiv¬
en, ladung im Namen der londoner Conferenz an die nichtbetheil-igten Mächte
die Billigung der Contrahenten überhaupt und nicht blos hinsichtlich des deut¬
schen Bundes nicht gefunden hatte. Dänemark macht statt dessen den Vorschlag,
die Tractatmächtc sollten sich bequemen, einzeln von sich aus an die andern
Staaten, deren Beitritt erwünscht sei, Einladungsschreiben zu erlassen, die dem
dänischen möglichst gleichartig wären. Dieser Depesche ist außer Formularen
der dänischen Einladungsnote sowie der Accessions- und der Acceptationsformel
das Verzeichnis; derjenigen Mächte beigefügt, welche zum Beitritt aufgefordert
werden sollen. „Der deutsche Bund" — so sagt die Depesche — „fehlt des¬
halb in dieser Liste, weil bis jetzt anzunehmen ist, daß die contrahirenden
Mächte rüÄsichtüch der Einladung dieses politischen Körpers weniger einhellig
, sein würden. Nach Mittheilungen des Gesandten in London scheint so viel
gewiß, daß die britische Regierung, welche eine einfache Notifikation für hin¬
reichend hält, sich nicht dazu entschließen wird, eine Einladung zum Beitritt
an den deutschen Bund zu richten. Auch wenn jedoch England nicht die einzige
unter den Signaturmächten wäre, welch'e die Frage in dieser Weise betrachte,
so würde der König aus Willfährigkeit gegen die beiden deutschen Großmächte
sich dennoch keineswegs weigern, eine formelle Einladung an den Bund zu
erlassen, wenn jene, beiden Mächte (Preußen und Oestreich) in dem Wunsche
nach diesem Verfahren übereinstimmten." Da diese gemeinschaftliche Pression
Oestreichs und Preußens nicht erfolgt zu sei» scheint und die in diesem Falle
von Dänemark verlangte Garantie für die Zustimmung des Bundes ebenso¬
wenig gegeben wurde, so konnte Dänemark nur bei dem angedeuteten Modus
verharren. Eine Nechtscvncession vom Bunde zu erlangen gab man auf.
Konnten neben und aus dem Bunde recht viele Beitrittserklärungen einzelner
Mächte beigebracht werden, so mochte die factische Gutheißung des Geschehenen
das mangelnde Recht ersetzen.
Die Liste weist folgende Fürsten auf: König von Bayern, König der Bel¬
gier. König beider Sicilien, Königin von Spanien, König von Griechenland,
König von Hannover, König der Niederlande, Königin von Portugal, König
von Sardinien, König von Sachsen, König von Würtemberg, Kurfürst von
Hessen. Großherzog von Baden, Großherzog,von Hessen-Darmstadt, Großherzog
von Mecklenburg-Schwerin, Großherzog von Mecklenburg-Strelitz, Großherzog
von Oldenburg, Großherzog von Sachsen-Weimar, Großherzog von Toskana.
(Nach dem Alphabet der französischen Namen.) Man sieht, hinsichtlich Deutsch¬
lands ließ sich das dänische Cabinet von der Ansicht leiten, daß auch in solchen
Dingen „die Menge bringen muß" was sich durch das Gewicht der Einzelnen
nicht erreichen läßt.
Alle außerdeutschen Fürsten nun, an welche die Aufforderung erging, er¬
klärten den Beitritt zum londoner Arrangement stritte in der von Dänemark
gewünschten Form.
Die eingeladenen deutschen Bundesfürsten dagegen verhielte» sich bekannter
Maßen verschieden gegen diese Anforderung. Wir fragen: wie hätten die¬
selben nach Pflicht und Recht antworten müssen?
Offenbar lag in dem Verfahren Dänemarks schon äußerlich betrachtet etwas
Verfängliches, nämlich die Absicht, einzelne Bundesglieder durch einen directe»
Vertrag mit einer außerdeutschen Macht dem Ganzen des Bundes gegenüber
zu isoliren. Da ferner die ganze Angelegenheit die Zukunft eines Bundes¬
landes betraf, so hätte man aus diesem wie aus jenem Grunde ganz besonders
an der Gemeinschaft festhalte» und nicht aus der Sphäre der Kompetenz der
Conföderation als solcher sich entfernen sollen. Solche directe Beziehungen ein¬
zelner Bundesglieder unter einander und um so mehr gegenüber außerdeutschen
Mächten stehen rechtlich unter bestimmter Controle des Bundestags; sie konnten
also nur sehr eingeschränkte Giltigkeit haben. Ein Umstand darf weder ver¬
gessen, noch geringgeschätzt werben: der Versuch Dänemarks, in dieser Angelegen¬
heit von Macht zu — Salon. vorn — Macht zu unterhandeln, lieferte jeden¬
falls eine Reihe von Präcedenzfällen für gelegentlich wieder aufzunehmende
Transactionen mit dem Bunde, bei denen man sich der Rücksicht auf die beson¬
dere staatsrechtliche Beziehung der Herzogthümer zu demselben einschlagen
könnte. Dieser Vortheil wenigstens konnte gewonnen werden, wenn Däne¬
mark „im Kleinen anfing, da im Großen nichts zu erreichen war."
Sonach kann kein Zweifel darüber sein, daß die einzig richtige und bundes-
pflichtgcmäße Erklärung der Einzelnen die Ablehnung des einseitigen Beitritts
und die Provocation auf den Bund gewesen wäre. Indem wir daran gehen, das
wirkliche Verhalten der betreffenden deutschen Regierungen an diesem Maßstabe
zu messen, geschieht es nicht blos, um alte Sünden oder Schwächen neu zu be¬
leuchten, sondern vielmehr, um darzulegen, wie das durch jene Aeußerungen
geschaffene Präjudiz dem neuen Stande der Frage gegenüber Stich gehalten
hat, oder nicht. Wir betrachten daher die Gesinnungsdocumcnte der einzelnen
Bunocsfürsten rücksichtlich der Regierungsansprüche Herzog Friedrichs des Achten
von Schleswig-Holstein in Verbindung mit den Erklärungen auf die dänische
Einladung zur Anerkennung des Tractats. Die späteren Kundgebungen sind theils
die praktische Ratification theils die Aufhebung, jedenfalls aber die authentische
Interpretation und Kritik der früheren. Hinsichtlich der leitenden Motive muß
wenigstens so viel vorausgeschickt werden: kein Bundesfürst, der Zeuge der
Manipulationen Dänemarks in den Herzogthümern vor 1849 gewesen war,
konnte borg, naiv annehmen, daß nach den Arrangements von 1832 und 1853
ein vertragsmäßiges System beobachtet werden würde. Niemand konnte glau¬
ben, durch seine Anerkennung der neuen dänischen Successionsvrdnung ein
solches System zu stärken und zu fördern. Man stärkte und forderte damit je
nach dem Belang der eigenen politischen Bedeutung nur die königlich dänischen
Prätensionen als solche.
Wir registriren nun in der folgenden Statistik die deutschen Bundesregie¬
rungen zunächst insoweit sie zum londoner Tractat durch die Einladung zum
Beitritt in directe Beziehung getreten sind und zwar nach dem Grade der
Correctheit ihres Verhaltens, wie wir dasselbe oben angedeutet haben, und fügen
daran, was nach den besten Quellen über directe und indirecte Erklä¬
rungen in Betreff der Anerkennung Herzog Friedrichs. vorliegt und verlautet.
Rücksichtlich des Verhaltens zum Tractat unterscheiden sich drei Kategorien:
1) diejenigen, welche eine bindende Erklärung ihrerseits mit Hinweis auf die
ausschließliche Competenz des Bundes mit oder ohne Umschweif von der Hand
weisen. 2) Diejenigen, welche unter bundespflichtmäßigem oder anderweiten
Vorbehalt anerkannten. 3) Diejenigen, welche schlechthin in aller Form ihren
Beitritt erklärten.
Die erste Steile gebührt Baden. Auf die Einladung zur Anerkennung des
Tractates erklärte Baron Rüdt im Namen des Regenten ä. c1. Karlsruhe,
26. Januar 1833: „er erkenne zwar die generösen Motive der contrahirenden
Mächte an, vermöge jedoch als Glied des deutschen Bundes dem Tractat nicht
einseitig beizutreten, da dies gegen das Princip der Solidarität verstoßen würde,
welches die Grundlage desselben sei. und da die Successionsfrage laut Artikel VI.
der wiener Schlußacte der Competenz desselben zugehöre." Die dänische Ent¬
gegnung darauf 6. et. 4. März 1853 lautete: „Der König bedaure die Ent-
schließung. auf welche der Regent sich beschränken zu müssen geglaubt habe,
um so lebhafter, weil er die Anschauungen der badischen Negierung hinsichtlich
der Heranziehung der wiener Schlußacte bei der vorliegenden Frage nicht theilen
könne/' Unterm 23. Dec. 1863 hat der Großherzog auf die Notifikation vom
Regierungsantritt Herzog Friedrichs denselben unbedingt anerkannt.
Bayern erließ als Antwort ein Schreiben des Freiherrn v. d. Pfordten
6. 6. 22. Dec. 1852. ungefähr dieses Inhalts: „der König habe mit gebühren¬
dem Interesse von dem Documente Kenntniß genommen, glaube aber dem Bunde
nicht vorgreifen zu müssen in den Entscheidungen, welche derselbe in dieser
Angelegenheit treffen könne. (Hinweis auf Artikel VI der Schlußacte.) Schlie߬
lich heißt es: „es sei notorisch, daß bis jetzt alle Fragen des öffentlichen Rech¬
tes, welche aus der Union Schleswigs mit Holstein hervorgegangen wären,
der Kompetenz des Bundestages anheimgegeben und von demselben entschieden
worden seien." — Bayern erhielt durch Minister Blohme ein Antwortschreiben
ä. ä. Kopenhagen, 8. Januar 1853, worin das Bedauern des Königs von
Dänemark über den Entschluß des Königs von Bayern ausgedrückt war, „ein
Bedauern, welches um so legitimer sei, als Se. Majestät weder die Stichhal¬
tigkeit der zur Motivirung angezogenen Gründe noch ihre Beziehung zur vor¬
liegenden Frage anzuerkennen wüßte." — Es ist bekannt, daß sich Bayern
durch diese Aeußerungen nicht hat irre machen lassen. Zum neuen Stand der Frage
hat es seine Stellung durch den Brief des Königs Max it. et. 26. Dec. 1863 an
Herzog Friedrich bezeichnet. In demselben erklärte der König: „Ich bin entschlossen,
alles aufzubieten, um die Rechte, deren Wahrung dem Bunde unter den gegen¬
wärtigen Verhältnissen obliegt, und namentlich Ihre rechtlich begründeten Erb¬
ansprüche zur Geltung zu bringen." Als Ergänzung und respective Bestätigung
dienen die anderweiten Aeußerungen des verstorbenen Königs und speciell das
bekannte Handschreiben an den Minister v. Schrenck. Das Verhalten Bayerns
unterscheidet sich von dem Badens nur dadurch, daß Bayern die Anerkennung
des Herzogs nicht einseitig ausgesprochen, sondern in dieser Sache ebenfalls
auf den Bund provocirt hat. —
Weimar erklärte sich durch ein Schreiben des Ministers v. Wcchdorf ä. ä.
31. Dec. 1852 nach vorausgeschickter Entschuldigung für die durch Krankheit
des Großherzogs herbeigeführte Verzögerung der Antwort: „daß Se. königliche
Hoheit zwar dankbar sei für die ihm gemachte Mittheilung, daß er es jedoch
vorziehe, seine Erklärung rücksichtlich einer Frage, welche, wie behauptet wer¬
den müsse, ihrer Natur nach vor die deutsche Bundesversammlung gehöre, nicht
eher abzugeben, als bis der Bund seine Entscheidung getroffen habe. Zu
gleicher Zeit reservire sich der Großherzog die SuccessivnSansprüche des ernesti-
nischen Hauses Sachsen auf Lauenburg und protestirc gegen alles, was ge¬
eignet sei. die Natur dieser gerechten Prätensionen zu beeinträchtigen." — Die
dänische Gegenäußerung, welche unterm 4. März 1853 erfolgte, sah von Be¬
urtheilung des Motivs der „für den Augenblick" ausgesprochenen Weigerung ach,
und erklärte rücksichtlich des weiteren Bedenkens: „obgleich der Vertrag vom
8. Mai 1852 in den Augen der königlich dänischen Regierung das kostbarste
Unterpfand für die Erhaltung des gegenwärtigen Besitzstandes der Monarchie
biete, könne die großherzogliche Regierung gleichwohl nicht verkennen. aufweiche
anderweite ältere Verträge die dänische Krone ihre Titel auf den ungestörten
und dauernden Besitz sA, la poWtZSLirm trlmquMe vt. perpLwellc;) des Herzog-
thums Lauenburg gründe." — Den Herzog Friedrich den Achten hat der Gro߬
herzog durch formelles Schreiben vom 10. Dec. 18K3 anerkannt.
Die nächste Stelle nehmen die beiden Mecklenburg ein. Es ist bisher
wenig davon gesprochen worden, daß sie überhaupt in der Sache von Däne¬
mark angeredet worden sind. Daß es geschah ist wohl dem Umstand des
„großherzoglichen" Titels und der „königlichen Hoheit" zuzuschreiben, welche für
die dänische Negierung den termiirus ack quem bei ihren Hausirungen bezeichnet
hat. Die beiden Souveräne dürfen sich dieser Verborgenheit nicht schämen.
Sie haben sich in der Tractatfrage durchaus correct gehalten. Auch die Wahl
identischer Noten als der derberen Form ist höchst löblich. Diese — von
Mecklenburg-Schwerin durch Graf Bülow d. <I. 10. Januar 18S3; von
Mecklenburg-Strelitz durch Bernstorff ä. et. 13, Januar 1853 erlassenen Erklä¬
rungen besagen: „Bei gewissenhafter Prüfung des Titels, unter welchem der
Großherzog sich berufen halten darf, an dieser Acte von europäischer Bedeutung
teilzunehmen, hat Seine königliche Hoheit in erster Linie seine Stellung als
Glied des deutschen Bundes in Erwägung ziehen zu müssen geglaubt. Diese
Stellung scheint für ihn die Pflicht zu involviren, sich nicht durch eine ein-
seitige Erklärung in einer Angelegenheit auszusprechen, welche die Gesammt¬
heit des Bundes angeht u. s. w. Jedes isolirte Vorgehen würde Se. könig¬
liche Hoheit als eine Abweichung (<1c;par,ion) vom Principe der Solidarität
betrachten, welche die unwandelbare Regel für die Haltung der großherzoglichen
Regierung in allen politischen Fragen bildet, die das Gesammtinteresse des
Bundes berühren können." Am Schlüsse das Bedauern, aus diesen Gründen
die wohlwollenden Intentionen der Signaturmächte nicht erwidern zu können.
— Dänemark scheint es entweder unter seiner Würde oder überflüssig erachtet
zu haben, eine Gegenerklärung an die beiden Mecklenburg zu erlassen. Wenig¬
stens liegt darüber kein öffentliches Document vor. Auf der andern Seite muß
beklagt werden, daß die Großherzoge neuerdings zögern, ihrem negativen Ver¬
halten von damals jetzt die positive Ergänzung in der Anerkennungsfrage zu
geben. Ueber Strelitz ist uns in dieser Beziehung nichts bekannt. Von Schwe¬
rin jedoch wird glaubwürdig behauptet, daß der Groschcrzog von der Recht¬
mäßigkeit der Erbansprüche des Herzogs Friedrich überzeugt sei. Dies würde
bei dem Adstimmungsmodus der 14. Curie, welche die beiden Staaten aus¬
machen, entscheidend sein können. Sie stimmen nämlich in der Weise wechselnd,
daß bei den ersten zwei Fällen Schwerin, bei dem dritten Falle Strelitz den
Ausschlag giebt. Eine Meinungsverschiedenheit ist bei den beiden Höfen am
Bunde noch nicht begegnet. Die mecklenburgischen Kundgebungen im Ausschüsse
sind allerdings bisher nicbt sehr vcriraucncrwcckend gewesen.
Beim Großherzogthum Hessen, welches zunächst in Frage kommt, ist das
Verhältniß umgekehrt: der Behandlung der Accessionsfrage fehlt trotz ihrer Nich¬
tigkeit der Werth der Entschiedenheit, welchen die Haltung in der Anerkennungs¬
frage besitzt. Baron v. Dalwigk schrieb ä. d. Darmstadt 24. Januar 1853 „er
müsse sich für jetzt auf die Erklärung beschränken, daß Se. königl. Hoheit auf Grund
des IV. Artikels der wiener Mnister-Conferenzen vom 13. Mai 1820 die An¬
gelegenheit als einen Gegenstand der Berathung des gesammten Bundes be¬
trachte; 'eine Anschauung, welche die großh. Regierung wünschen, lasse den
möglichen Entschließungen des Bundestags nicht vorzugreifen." — Dänemark
erklärte darauf unterm 4. März wieder sein naives Unverständnis;. — In Be¬
treff der Ancrkennungsfrage ist der Ausgangspunkt Hessen-Darmstadts in dem
Schreiben des Großherzogs an Herzog Friedrich ä. et. 9. Den. 1863 bezeichnet,
worin es heißt: „er werde es als die glücklichste Lösung dieser mit Recht ganz
Deutschland bewegenden Frage ansehen, wenn die Herzogtümer unter ihrem
eigenen legitimen Souverän ganz von der Krone Dänemark getrennt würden.
Der Entscheidung des deutschen Bundes wolle er jedoch nicht vorgreifen."
Dieser Erklärung hat sich die großherzogliche Regierung bisher durchweg con-
form gehalten.
Die Haltung der königlich Sächsischen ilicgierung dem londoner Trac-
tat gegenüber war eine eigenthümlich zweiseitige. Bei allen einzelnen Staaten
war die Alternative offenbar diese: entweder man mußte die Stellung zum
Bunde in erster Linie betonen und dann die Anerkennung einfach aus man¬
gelnder Competenz ablehnen, oder man mußte rein europäisch handeln, den
Bund außer Acht lassen und zustimmen auf die Gefahr hin. wie viel oder wie
wenig dies auf sich haben würde. Sachsen nahm eine halb europäische, halb
bundesstaatliche Stellung mit entschieden dynastischem Accent, indem es sich
folgendermaßen durch Schreiben des Freiherr» v. Beust ä. ä. 9. Decbr. 1852,
erklärte: „In Kenntniß gesetzt von den Vereinbarungen der Mächte, sowie'
Von den Bestimmungen, welche denselben die Dauer gewährleisten solle», er¬
kennt der König die Weisheit der Gesichtspunkte und die Sorge für die großen
Politischen Interessen Europas mit Wohlgefallen an, welche die hohen Kontra¬
henten bei dieser Gelegenheit aufs neue bezeugt haben. Beseelt von diese» Empfin¬
dungen giebt sich Se. Maj. gern dem von seinen hohen Alliirten bekundeten
Wunsche hin und vertraut, daß die wohlbegründeten Interessen seines könig¬
lichen Hauses denselben kein Hinderniß bereiten. Da diese Interessen vornehm¬
lich in den eventuellen Succcssionsrechten des albertinischcn Hauses Sachsen
auf das Herzogthum Lauenburg für den Fall beruhen, daß Braunschweig-Lune-
bürg, welches sich 1697 im Besitze jenes Herzogtums befand, ausstirbt, so
handelt es sich allerdings nur um eventuelle Rechte, die aber vom londoner
Vertrag nicht alterirt werden können. Unter dieser Voraussetzung, unter Reser¬
vation dieser Rechte und ohne übrigens den Entschlüssen vorgreifen zu wollen,
welche der deutsche Bund durch das Organ des Bundestages in dieser Frage
zu fassen veranlaßt werden könnte, zögert die königliche Regierung nicht, dem
londoner Tractate und einer Combination ihren Beifall zu geben, welche dazu
dient, die Integrität der dänischen Monarchie und den allgemeinen Frieden zu
erhalten." Noch etwas Stricker äußerte sich Freiherr v. Beust in einer Mit¬
theilung an den sächsischen Bundestagsgesandter ü. ü. 30. Novb. 1832: . . .
„Da die hohe Bedeutung, welche der durch den londoner Vertrag vom 8. Mai
d. I. getroffenen Regelung der für die Erhaltung des europäischen Friedens¬
standes so einflußreichen dänischen Thronfolge beizulegen ist, hierorts keines¬
wegs verkannt wird, so wird die von der hiesigen Regierung begehrte Beitritts¬
erklärung bereitwilligst, jedoch unter verwahrender Erwähnung der dem könig¬
lichen Hause S. zustehenden bereits bei den Bundestagsverhandlungen vom
Jahre 1846 reservirten eventuellen Successionsrechte auf das Herzogthum Lauen¬
burg abgegeben werden." — Die dänische Antwort <1. et. 4. März war fast
gleichlautend mit der an Sachsen-Weimar hinsichtlich der Ansprüche, welche sich
die albertinische Linie Sachsen auf Lauenburg „beilege", schloß aber damit,
daß man sich zu den wohlwollenden Eröffnungen der königlichen Regierung in
der Hauptsache aufrichtig Glück wünsche. — Es ist sattsam bekannt, daß sich
Dänemark in der Tragweite dieser Aeußerungen des dresdner Hofes verrechnet
hat. Die neueren Erklärungen König Johanns aus die Adressen und Depu¬
tationen in Leipzig und Dresden sowie die officiellen Eröffnungen des Freiherrn
v. Beust in der sächsischen II. Kammer weisen aus, daß Sachsen sich infolge
der dänischen Vertragsbrüche nicht mehr an den londoner Tractat gebunden er¬
achtet; ferner geht daraus hervor das Streben nach völliger Wahrung der Rechte
Deutschlands an den Herzogthümern und des Rechtes der Herzogthümer
gegen Dänemark zwar ohne directe öffentliche Kundgebung in der Successions¬
frage, aber mit entschiedener Hinneigung zur Förderung Herzog Friedrichs am
Bunde.
Die königlich Würt e in b ergische Regierung erklärte durch Schreiben
des Ministers v. Neurath ä. 6. Stuttgart 23. November 1832: „daß es nicht in den
Absichten Würtembergs läge gegen den Tractat Einwendungen zu machen !t. und
daß die Regierung des Königs demzufolge ihren Beitritt ausspräche." — Da¬
gegen besagt die Erklärung des Ministers der auswärtigen Angelegenheiten
v. Hügel im Namen der Negierung in der würtembergischen Kammer vom
31. Decb. 1863: „die Staatsregierung erachte sich von den durch Beitritt zum
londoner „Protokoll" übernommenen Verbindlichkeiten entbunden; sie betrachte
den Herzog Friedrich aus dem Hause Augustenburg als zur Erbfolge in Schleswig-
Holstein berechtigt." —
In besonderer Lage befand und befindet sich Oldenburg. Die jüngere
gottorsische Linie ist direct betheiligt bei jeder Successionsfrage in Dänemark
und folglich auch hier. Zwar hat der Rechtssinn des Großherzogs bekanntlich
die Rolle von der Hand gewiesen, welche ihm selber an Stelle des glücks-
burger Prinzen bei dem ganzen Arrangement angesonnen worden war; allein
die Haltung des kaiserlich russischen Hofes und die Pression, welche die Folge
derselben war, hatte ihn dennoch von vornherein in eine unklare Stellung ver¬
wiesen. Es liegen über das Verhalten Oldenburgs zum londoner Tractat mehre
Actenstücke vor. Zunächst die Erklärung auf die Einladung zum Beitritt. Sie er¬
folgte durch ein Schreiben des Herrn v. Rössing an den außerordentlichen däni¬
schen Gesandten Baron Dirckinck-Holmfcld 6. ä. Oldenburg 10. Decb. 1862.
Darin heißt es: „Se. königliche Hoheit verkenne die großen Schwierigkeiten
nicht, welche eine eventuelle Succession in Dänemark und den Herzogtümern
habe. Er spreche nicht blos seine aufrichtigen Wünsche aus, daß der Tractat
dazu dienen möge, diese Schwierigkeiten zu ebnen, sondern er erkläre sich zu¬
gleich bereit, hierzu beizutragen, indem er für sich und seine Descendenten be¬
treffs der Erbfolge zu Gunsten des Prinzen Christian von Schleswig-Holstein-
Sonderburg-Glücksburg und dessen männlicher Nachkommen aus der Ehe mit
der Prinzessin Louise von Hessen verzichte, für den Fall, daß Prinz Christian
den dänischen Thron besteige und so lange als seine Nachkommen denselben
innehaben würden. Dies geschieht mit Beziehung auf den Tractat von Kopen¬
hagen von 11. April 1767 zwischen Rußland und Dänemark und auf den von
Tsarkoe-Scio vom 21. Mai 1773." In dem vertraulichen Begleitschreiben,
welches Baron Rössing mit dieser Note an Dirckinck-Holmfeld schickte, drückt
derselbe sein Bedauern darüber aus, daß die Verhandlungen, welche beide
Minister über die RenunciationSsrage gepflogen hätten, nicht zu dem erwünschten
Ziele gediehen seien. Um so größere Genugthuung werde es dem kopenhagener
Cabinete sein, diesen Zweck nunmehr erreicht zu sehen. „Und mehr noch:" —
so fährt das Schriftstück fort — „in dem Wunsche nach einem neuen Beweis von
seinem Verlangen, dem König von Dänemark persönlich gefällig, (peiLoiuzIIömout
U8'i-«g,ti<z) zu sein, erkläre sich Se. königliche Hoheit der Großherzog bereit, für
den Fall, daß die beifolgende Form des Verzichtes nicht für hinlänglich ange¬
sehen werden sollte, auf eine andere Fassung einzugehn, welche vielleicht der
Wichtigkeit der Sache angemessener wäre, sei es ein Specialdvcument oder sei
es ein Protokoll, dessen Entwurf der Großherzog dem dänischen Minister über¬
lasse. Er würde sich nur ^reserviren, dasselbe zuvor dem Cabinet von Se. Peters¬
burg zu unterbreiten." Man kam dahin überein, die Form der Nenunciations-
acte zu wählen, welche der inzwischen zur Regierung gelangte neue Großherzog
Nikolaus Friedrich Peter mit Beziehung auf den Verzicht seines Vaters unterm
28. März 1854 ausstellte. Um die Solemnisirung des Verzichtes voll zu machen,
erfolgte hierzu eine officielle Note, unter demselben Datum, in welcher der
regierende Großherzog durch Baron v. Rössing sich bereit erklärte, die wegen
damaliger Minderjährigkeit seines Bruders, des Herzogs Anton Günther Frie¬
drich Eiimar unterbliebene Unterschrist desselben bei dessen eintretender Volljährig¬
keit so weit thunlich zu veranlassen, sowie auch „auf Wunsch des Königs von
Dänemark seine doim ottreiis. eintreten zu lassen, um seuren Herrn Vetter, den
Prinzen Konstantin Friedrich Peter von Oldenburg, kaiserliche Hoheit, zu ver¬
mögen, oben erwähnter Verzichtsacte beizutreten." —- Das Jahr vorher ist
aber zwischen Oldenburg und Dänemark über die Opportunität der Verhand¬
lung des ganzen Gegenstandes am Bunde discutirt worden. Wir besitzen dar¬
über ein lehrreiches Document in einem officiellen Schreiben des Baron
v. Rössing an Dirckinck-Holmfeldt ä. <Z. Eutin, 29. Juni 1853. Es ist zunächst
Antwort auf eine dänische Aufforderung hinsichtlich des Antrags am Bunde.
In dieser Beziehung theilt der Minister mir, daß der oldenburgische Bundes¬
gesandte angewiesen sei, eventuell am Präsidium von der Note v. 10. Decb.
vertraulich Gebrauch zu machen und hinsichtlich der Motive mündliche Erläute¬
rungen zu geben. Hierauf schließt die Note: ,,Indem die großherzvgliche Re¬
gierung auf solche Weise den Wünschen der hohen königlich dänischen Regierung
entspricht, kann dieselbe nicht umhin, den schon früher geäußerten Wunsch zu
wiederholen, daß die in Rede stehende Angelegenheit überall nicht zur Verhand¬
lung ror dem Bundestage kommen möge." Mehr konnte man billiger und un¬
billiger Weise dänischer Seits nicht verlangen und hiernach werden die jüngsten
Mystifikationen in Betreff der Pläne Oldenburgs zu reduciren sein. Weitere
officielle Kundgebungen.sind unsres Wissens nicht bekannt geworden. Rücksichtlich
der Anertennungsfrage kann sonach im besten Kalte nur erwartet werden, daß
Oldenburg sich der Sturme enthält.
Die königlich Hannöversche Regierung hielt sich bei der Einladung zur An¬
nahme des londoner Tractates weder mit irgendwelcher Motivirung noch mit einer
Erwähnung des Bundes aus, sondern in vollem europäischen Souveränetätsgefühl
füllte sie einfach das dänische Acccssionsfvrmular mit dem Datum des „18. Decb.
im Jahr der Gnade 1852" aus. Bestem Vernehmen nach bat Baron v. Sehele,
welcher das Actenstück vollzog, nachmals sehr unangenehme, hier nicht wieder
zugehende Titulaturen von Seiten Sr. Maj. des Königs erhalten, weil er ihn
„zur schlimmsten That seines Lebens verführt hätte". Andere Zeiten, andere
Sitten. Gegenwärtig und Angesichts des neuen Standes der Frage bewegt
man sich bekanntlich am hannöverschen Hofe in .anderer Anschauung. Die
officiellen Auslassungen der Regierung und des Königs auf Volksvcrsammlungs-
adressen, Deputationen und Kammerinterpellativnen sprechen zwar das leb-
hafteste Interesse für die Herzogthümer und die Versicherung aus, daß die
Rechte derselben beim Könige „in guten Händen seien". Andererseits jedoch
finden sich namentlich im diplomatischen Verkehr mit England die unzweideu¬
tigsten Erklärungen des entschiedenen Festhaltens am londoner Tractate und
an der Erbfolge Christian des Neunten — Divergenzen, in Betreff deren der
Unbefangene in Versuchung kommt, mit Shakespeare „einen Gelehrten zu
fragen". In jüngster Zeit erfährt man, daß mit Hilfe des Herrn Barons
Blome-Heiligenstedten und des Herrn v. Scheel-Plessen am dortigen Hofe
Intriguen auf Grund der Anschauung spielen sollen, daß die Bewegung in den
Herzogthümern doch nur als Revolution zu betrachten sei. Im Zusammen¬
hang mit dieser Meinung ist von einem positiven Arrangement gesprochen wor¬
den, welches am hannöverschen Hofe Anklang hätte, von diesem.nämlich: unter
Voraussehung einer billigen Personalunion den Herzog Karl v. Glücksburg,
ältesten Bruder des Protvkollkönigs, zum Statthalter in Schleswig-Holstein
zu empfehlen. Freilich steht jene Auffassung in eigenthümlichem Contrast zu
der Theilnahme an der Bundcsexecution in Holstein und zu dem Kriege der
Großmächte in Schleswig, und was das angedeutete Auskunftsmittel betrifft,
so liegt ein übles Prognostikon in dem Umstände, daß Herzog Karl sich nebst
seiner Familie für das Successionsrecht Herzog Friedrichs des Achten erklärt
hat. Zum mindesten als ein ungünstiger Zufall muß es ferner angesehen
werden, daß der junge Blome. alni-ge ä'Mizii'tZS bei der hannöverschen Ge¬
sandtschaft in London, unter Protection seines Chefs. des Grafen Kielmannsegge.
als entschieden im dänischen Sinne thätig bezeichnet wird. Rücksichtlich des
Positiven Hintergrunds für die Gedankenrichtung des hannöverschen Cavinets
wird es nicht müssig sein, an den Plan zu erinnern, die jüngst consirmirte
Prinzessin Friederike von Hannover mit dem Kronprinzen .von Dänemark zu ver¬
loben. Im Jahre 1848 bediente sich die eiderdänische Partei in Kopenhagen
>in Hinblick auf eine mögliche skandinavische Union des Ausdrucks. Schleswig
als „Morgengabe" Dänemarks an Schweden in die Union mitzubringen. Sollte
vielleicht der Einfluß Hannovers in der Hcrzogthümerfrage das Interesse einer
>tre Mitgift bei der präsumtiven Verwandtschaft der wölfischen und der Protokoll-
dänischen Dynastie haben? — Es ist sehr zu wünschen, daß die Intentionen der
königlichen Regierung sich recht bald aufklären; abc<mit negativen Erklärungen.
Ablehnungen, Entrüstungen über Verleumdung :c. wird es kaum mehr gethan
sein. Man wird sich zu positiven Schritten bequemen müssen, um die ungünstigen
Vorurtheile, die nun einmal entstanden sind, niederzuschlagen. Zur Bestärkung
dürfte gelegentlich auch darauf hinzuweisen sein, daß der Protolollstandpunkt
immer etwas Verfängliches haben würde für einen Staat, welcher seiner¬
seits ebenfalls mit Successivnserwartung schwanger geht. Daß dem „Prä¬
tendenten von Augustenburg" die ordinäre Schicklichkeit einer Antwort auf
*
seine Erlasse von dieser Seite nicht zu Theil geworden ist, muß zur Vervoll¬
ständigung erwähnt werden.
Der Kurfürst von Hessen hat in gleicher Weise wie Hannover rücksicht¬
lich des Tractates das summarische Verfahren der schlichten Unterschreibung des
dänischen Zettels beobachtet. Sie erfolgte unterm .16. Decb. ebenfalls „im Jahr
der Gnade" 1852. Der jetzige Stand der dynastischen Frage ist zur Zeit von
Sr. königlichen Hoheit noch ignorirt worden. Vereinzelte mündliche Aeußerun¬
gen der stets mehr leidenden als leitenden Staatsmänner in Kassel werden
günstig gedeutet; aber hieraus einen Schluß auf das schließliche Verhalten des
Kurfürsten ziehen zu wollen, wäre äußerst verwegen, da von einer eigentlich
konstitutionellen Stellung des Ministeriums zu demselben nicht die Rede ist.
Der Kurfürst erscheint vielmehr absolut unberechenbar. Der einzige Antrieb
seines politischen Denkens ist die Selbsterhaltung. Primitives Mistrauen bildet
ihm den ersten und einzigen Gesichtspunkt. Infolge dessen steigert sich seine Vor¬
sicht in der Regel zu einer Weitsichtigkeit,, in welcher ihm kluge und geschulte
Kopfe nicht zu folgen vermögen. Oestreichs oft verheißenen Schutze traut er
nicht, und Preußen ist ihm vom „Feldjäger" her im übelsten Gedächtniß. Aber
auch die kleinen Könige sieht er scheel an. Das Einzige, woran man sich bei
ihm in einem Calcül betreffs der Schleswig-holsteinischen Erbfolge etwa würde
halten können, ist der Umstand, daß er in der Fiction lebt, er befinde sich in
gleicher politischer Lage mit Havnover. Es wird versichert, daß er gern auf
dem Wege nachfolgen würde, welchen Hannover einschlägt. Sonach läßt sich
bei ihm in Betreff der Anerkennung Herzog Friedrichs des Achten auf nicht
mehr als auf eine Wahrscheinlichkeit der UnWahrscheinlichkeit schließen.
Mit Luxemburg-Li in b urg, für welches die Beitrittserklärung des Königs
der Niederlande et. et. 20. Decb. 1832 als mit bindend zu betrachten ist, schließt
die Reihe derjenigen Bundesstaaten, welche im ersten Stadium der Frage in
directes Vernehmen mit Dänemark getreten waren.
In eingeschränkten Sinne gilt dies jedoch ferner von den drei nachfolgen¬
den. Als der londoner Vertrag den übrigen Souveränen Europas sowie den
Vereinigten Staaten von Amerika notificirt wurde, gaben die meisten derselben
hierauf ihre Genugthuung zu erkennen. Anhalt-Dessau. Sachsen-Altenburg
und Sa es her-Me i n in gen ergriffen jedoch die Gelegenheit, um gegen Däne¬
mark direct die Verwahrung ihrer eventuellen Ansprüche auf Lauenburg auszu¬
drücken, welche sie mehrfach bereits am Bunde zur Geltung gebracht hatten.
Sie erhielten darauf von Dänemark eine Antwort derjenige» identisch, welche
auf die Erklärungen der königlich sächsischen und großherzoglich weimarischen
Regierung erfolgt war.
Wir vervollständigen zunächst die XII. Curie: Altenburg hat direct in der
Anerkennungsfrage keine officielle Erklärung gegeben, jedoch geht aus ander-
weiten schriftlichen Aeußerungen der Regierung hervor, daß man für die An¬
erkennung des Herzogs Friedrich stimmt. — Meiningen hat den Herzog
durch officielles Schreiben et. et. 30. November 1863 anerkannt. Ebenso Ko-
burg-Gotha unterm 6. Decbr.
In der XIII. Curie hat Braunschweig de.i Herzog Friedrich am Bunde
anerkannt. Dies schließt die Anerkennung von Seiten des übrigens günstig
gesinnten Nassau, des College» in der Curie, der Wirkung nacb mit ein,, da
Braunschweig die Stimme führt.
Die XIV. Curie. Mecklenburg-Schwerin und Straub, ist oben abgehandelt.
Die XV. Curie bildet außer Oldenburg: 1. Anhalt: Die oben berührte
Rechtsverwahrung wurde am 18. November 1863 durch einen Protest gegen das
londoner „Protokoll" (sie) ergänzt. Das nahe eigene Interesse an der Erb-
fvlgefrage scheint die Möglichkeit eines Rückschrittes auszuschließen. Auf die
Notification des Regierungsantrittes durch Herzog Friedrich hat sich der Herr
Minister Sintcnis in zwei Schreiben günstig geäußert. Zweifel sind nur aus¬
gesprochen worden rücksichtlich der Ebenbürtigkeit und in Betreff einiger Par¬
zellen Holsteins. Bei der Abstimmung für Execution wurde seiner Zeit die
Erbfolgefrage sehr entschieden vorbehalten.
Der Fürst von Schwärze, urg-so ndersh ause n hat laut directen Schrei¬
bens nicht blos seinen Bundestagsgesandter angewiesen gegen den Tractat und für
die Anerkennung des Herzogs zu stimmen, sondern bat auch durch Minister
Kayser die formelle Anerkennung schriftlich ausgesprochen.
Für Sichw arzdurg-Und sist abd ist durch den Herrn Minister v. Bertrab
erklärt, daß in Betreff der Ancrkennungsfrage die Abmachung der weimarischen
Ministerconfcrenzen maßgebend sein und die Anerkennung erfolgen würde. ..falls
nicht etwa annoch ganz unbekannte Actenstücke zum Vorschein kämen".
Der Stimmantheil der Curiatgenossen wird nach Neunteln gerechnet, und
zwar hat Oldenburg vier Neuntel. Anhalt (Dessau) zwei Neuntel. Scbwarzburg-
Sondershauseu ein Neuntel. Schwarzburg-Rudolstadt ebenfalls ein Neuntel.
Wenn daher eine der schwarzburgischen Regierungen Oldenburg, falls dasselbe
überhaupt stimmt, beitritt. so bat dieses die Majorität in der Curie. Wahr¬
scheinlicher ist die Vereinigung beider schwarzburgischer Stimmen mit Anhalt,
welches dann den günstigen Ausschlag ergäbe, da bisher diese Vereinigung stets
die Curlatstimme ausmachte. Seit die anhält-bernburgische Stimme erledigt
ist. fehlt es. wie es scheint, an einer Vereinbarung darüber, wie es künftig
zu halten ist. Man nimmt an. daß das bisherige Verhältniß beibehalten wird.
In der XVI. Curie hat zunächst L i e es tenstein seine Intentionen in der
Anerkennungsfrage bisher noch nicht verlauten zu lassen geruht. — Dagegen ist
Reuß ältere Linie nach Briefen der Frau Fürstin Caroline et. et. 2,8. und
30. December der Anerkennung durchaus geneigt. Außerdem dient zum Anhalt.
daß — laut Angabe des Früheren v. Reuse — Reuß ältere Linie stets einhellig
mit Sachsen gestimmt hat. — Reuß jüngere Linie hat den Herzog Friedrich
durch formelles Schreiben des Fürsten vom 7. Dent. 1863 anerkannt. — Die
Gesinnung Lippe-Schaumburgs ist leider noch nichtpräcis zu Tage getreten.
Aus gelegentlichen Aeußerungen an hervorragender Stelle wird indeß entnommen,
daß sich der Fürst lebhaft für 1>le Herzogthümer interessirt, für welche er 1849
die Waffen getragen hat. Daneben ist jedoch betont worden, daß rücksichtlich
der Erbansprüche in Holstein unterschiede» werden müsse zwischen dem eigent¬
lichen Lande Holstein einerseits und den weiland großfürstlichen sowie den
schauenburgischen Antheilen andrerseits. Was die letzteren angeht, so ist die
schätzbare Bemerkung nicht vorenthalten worden, „daß sich zahlreiche Actenstücke
darüber im bückeburger Archive befänden". — Lip p e-D een v it hat ebenfalls
seinen Standpunkt noch nicht endgiltig formulirt, doch ist officiös die beruhigende
Versicherung gegeben worden, „daß man gegen Herzog Friedrich leine feindliche
Stellung einnehmen würde." — Waldeck hingegen hat den Herzog direct aner¬
kannt. — Für Hessen-Homburg hat sich der Landgraf laut Schreiben vom
7. Decb. 1863 entschieden zu Gunsten des Herzogs ausgesprochen. Außerdem
wurde officiell durch Schreiben v. 6. Jan. 1864 erklärt, daß „der Landgraf
im vollen Einverständnis; sein würde, wenn die zeitige interimistische Vundes-
verwaltung (in Holstein) baldigst durch die Herstellung einer definitiven und
rechtmäßigen Landesverwaltung ersetzt werde". Es ist schade, daß wahrschein¬
lich zwingende Rücksichten des Hessen - homburgischcn Eurialstils die bestimmte
Bezeichnung dessen, was man hierunter versteht, verboten haben. Die An¬
sprüche des Herzogs werden aber anderweit als die ,,nächstberechtigten" bezeich¬
net. Ein zweites Schreiben des Souveräns an Herzog Friedrich „wünscht auf¬
richtig das völlige Gelingen der so gerechten Sache, welche mit dem Wohl und
der Ehre Deutschlands so nahe verbunden ist". Wenn also das Votum Hom¬
burgs in allen Fällen auf Grund dieser obigen Gesinnungsdvcumcnte erfolgt
ist, so ist die Anerkennung am Bunde befürwortet worden, ein Umstand, der
um so denkwürdiger wäre, als der Landgraf 60 Jahr lang in östreichischen Dien¬
sten gestanden hat. In Anbetracht dieses nahen Verhältnisses zum wiener Hofe
möchte der Pessimismus Entschuldigung finden, welcher die homburgische Stimm¬
führung dennoch mit einiger Aengstlichkeit zu betrachten versucht sein sollte. —
Der Modus der Abstimmung in der XVI. Curie giebt jedem der fürstlichen
Höfe eine gleiche Quote, und das Curiatvotum wird sonach per majorsm be¬
stimmt. Wenn einer der sieben Höfe keine Instruction gegeben hat, so kann
Stimmengleichheit eintreten; in diesem Falle hat der betreffende Gesandte der
Majorität am Bunde beizutreten. Ist diese nicht vorhanden, dann soll die
Curiatstimme auf die Weise gebildet werden, daß das vowm ÄLeisivum nach
der Reihenfolge der einzelnen Staaten unter diesen alternirt.
Was endlich die siebzehnte „Machtgruppe" anlangt, so ist zu beklagen,
daß „das Charakterbild der Städtecurie zur Zeit noch in der Geschichte schwankt".
Lübeck soll für die Anerkennung des Herzogs instruirt gehabt haben; doch ein
ganz sicheres Urtheil läßt sich noch nicht fällen. In Frankfurt überwiegt, wie
es scheint, unter den Vätern die günstige Meinung Entschiedener ist Bremen
gesinnt, welches überhaupt weitaus am klarsten auf den Nechtsstandpunkt ge¬
treten ist. Aber Hain bürg ist noch nicht mit sich im Klaren. Gleichviel, ob
die Nähe des Kriegsschauplatzes und die damit zusammenhängende Vorsicht oder
tiefgeheime Rücksichten der hohen Politik oder endlich die Wirkung eines zarten
Platonischen Verhältnisses zu Oestreich das Hinderniß bildet: der „Staat" zögert,
eine bestimmte Haltung in der Frage einzunehmen. Dies ist darum zufällig
von politischer Bedeutung, we>l im Falle der Stimmengleichheit innerhalb der
Curie Hamburg in diesem Jahre den Ausschlag giebt.
Von einer Constatirung der Kundgebungen der beiden Vormächte sehen
wir ab aus zwei Gründen: erstens haben dieselben von vornherein den ganzen
Conflict lediglich aus Gesichtspunkten ihrer europäischen Großmachtstellung ge-
handhabt und sich sonach neben den Bund gestellt; zweitens wird die eigent¬
liche Meinung ihrer officiellen und officiösen Kundgebungen seit dem Beginne
des Krieges im Frischer discutirt. Wir wollen nur kurz daran erinnern, daß
Oestreich rücksichtlich der Erbfvlgefrage seinem schließlichen Votum allerdings in
Positiver Weise dadurch präjudicirt hat, daß es bemüht gewesen ist, die An¬
sprüche des Herzogs Friedrich durch Haranguirung anderer möglicher Präten¬
denten zu neutralisiren. Dies ist mit Oldenburg der Fall gewesen, und auch in
Petersburg soll in diesem Sinne geworben worden sein. Die Versuche waren
bisher ebensowenig von Erfolg gekrönt wie der erste, welcher nach dieser Rich¬
tung gemacht wurde, indem man den älteren Herzog von Glücksburg als Be¬
werber in Aussicht nahm. Seit das Gespenst der ..Landesbefragung" aufgetaucht
ist, würde es der rechbergschen Politik vermuthlich angenehm sei», die Frage
wieder aus der gefährlichen „nationalen" Sphäre in das leichtsinniger Weise
gemiedene Geleis der Legitimität zurückzuschieben; allein dazu dürfte es zu
spät sein.
So wenig directe officielle Kundgebungen von Seiten Preußens auch be¬
kannt sind, so viel geht aus ihnen hervor, daß es die östreichische Auffassung der
Frage entschieden nicht theilt. Es darf gehofft werden, daß die Parole, mit
welcher Preußen in den Krieg ging, eine bloße Maske war. welche die Rück-
sieht auf die europäischen Großmächte ihm aufzwang, und ihm die einzig und allein
ermöglichte, Oestreich in der Sache mit zu engagiren. Wenn aus den jetzigen
Conferenzen mehr oder minder bestimmte Anträge Preußens und Oestreichs zum
Vorschein kommen, so wird man nie vergessen dürfen, daß dieselben nur der
diplomatische Durchschnitt zweier Standpunkte sind, welche in der Schleswig-
holsteinischen Frage von Haus aus und naturgemäß himmelweit von einander
abweichen.
Auf einen interessanten Mangel in Betreff der Gesinnungsdocumente der
Bundesstaaten muß wenigstens kurz aufmerksam gemacht' werden. Keine ein¬
zige Erklärung auf die dänische Mittheilung des londoner Tractates gebt von
deutsch-nationalem Gesichtspunkte aus. Das Aeußerste sind selbst bei den Besten
lediglich bundcsrcchtliche Bedenken; niemand deutet auch nur an, daß es sich
um eine Frage handelt, welche die Stellung zweier Völker zu einander betrifft,
die je ihr eigenes ursprüngliches Recht und ihren selbständigen Willen habe».
Dies zu berücksichtigen wurde versäumt, nachdem der Bund kurz vorher einen
Krieg mit Dänemark geführt hatte, der mit dem ganzen Applomb nationaler
Leidenschaft begonnen worden war.
Die Bilanz der obigen Gesinnungsinventur, deren Pvstirung bis Mitte
März dieses Jahres als g/nau constatirt gelten darf, ist leicht zu ziehen.
Sie erweist rücksichtlich der Anerkennung, Herzog Friedrichs allerdings eine
Majorität im Princip. Wir fürchten indeß, die Nutzanwendung wird entweder
gar nicht mehr oder aber zu einer Zeit gemacht werden, wo dieselbe von keiner
directen politischen Bedeutung mehr ist, sondern höchstens den Werth der Be¬
stätigung eines kalt, aecomM, schlimmstens den des Protestes gegen ein solches
daher dürfte. Unsre Uebersicht beansprucht daher nur das Interesse eines
urkundlichen Anhalts zur Controle der künftigen Stimmführungen der einzelnen
Staaten am Bunde.
Wir fahren mit dem Dampfroß sechs bis sieben Meilen in der Stunde,
wir senden unsere Briefe auf Dräthen fast mit der Schnelle des Blitzes um
die halbe Erde. Merkwürdiges, was auf dem entlegensten Punkt Asiens oder
Amerikas gethan oder erduldet wird, wälzt sich in dem schnellen Strom der Te>-
gesprcsse als Neuigkeit durch alle civilisirten Länder, Könige und Nachtwächter
lesen in derselben Stunde, daß wenige Stunden vorher der Vicekönig von
Aegypten eine Fahrt auf dem Nil gemacht, oder daß auf der Höhe von Lissa¬
bon ein Schiff mit Mann und Maus untergegangen ist. Was mit uns lebt,
was um uns gesucht, dringt so mannigfaltig durch jede Oeffnung unseres
Hauses, in unsere vielbeschäftigte Seele, daß mir jedem neuen Ereigniß nur
ein gewisses bescheidenes Maß von Erstaune» und Ueberraschung zu gön¬
nen im Stande sind. Es geschieht so viel Neues unter der Sonne, und mir
genießen das Neueste so reichlich, daß auch der wichtigste Fund, die größte Ent¬
deckung kaum noch im Stande sind, die allgemeine Theilnahme auf längere
Zeit und ausschließlich in Anspruch zu nehmen. Und es wird dem jüngeren
Geschlecht bereits schwer sich in die Zustände unserer Väter und Großväter
zurückzudenken, wo man von Frankfurt bis Berlin acht bis zehn Tage reiste,
und wo ein Liebender in München, der an seine Geliebte in Danzig schrieb,
vier Wochen warten mußte, ehe er erfuhr, wie Befinden und Liebe vor vier¬
zehn Tagen gewesen waren.
Unvergleichlich größer sind die Kreise geworden, in welche das Jnteicsse
des Einzelnen hineinreicht, und sehr viel massenhafter die Eindrücke, welche
die Außenwelt dem Einzelnen in die Seele sendet. Es ist möglich, daß die
Zukunft unser Leben ähnlich betrachten wird, wie wir die Zeit der Großväter,
als ein Dasein verhältnißmäßiger Stille und Isolirtheit. auffallend durch die
Dürftigkeit der Bilder, welche wir verarbeiten. Denn es ist sehr wahrschein¬
lich, daß Erfindungen und Cultur in schnell steigender Progression sich erwei¬
tern, und wir haben keinen Grund anzunehmen, daß es für unsere Fähigkeit
Eindrücke zu verarbeiten überhaupt eine bestimmbare Grenze giebt.
Unrerdeß ist uns Lebenden unverwehrt, unser Dasein gegenüber dem engeren
Leben unserer Vorfahren als ein reiches zu betrachten und mit Selbstgefühl an
die Zustände früherer Zeit zu halten.
Es ist leicht begreiflich, daß im Jahr 1787 das Neue lebhafter auf die
Menschen einwirkte, weil es seltener kam, daß es länger in den Seelen nach¬
klang, daß man dem Neuen weniger Widerstand entgegenzusehen hatte, und
daß in solcher Zeit auch das Kleine höhere Wichtigkeit erhielt. Aber es ist
lehrreich, daß nicht alles Neue deshalb stärker ergriff, weil es selten kam, und
daß es nach vielen Richtungen oft deshalb nicht häufiger kam, weil es keinen
genügenden Antheil für sich zu gewinnen wußte. Und grade bei den Neuig¬
keiten, welche uns obenan stehen, den politischen, ist sichtbar, wie erst nach und
nach durch das verstärkte Eindringen des Fremden in das Stillleben des Deut¬
schen die Empfänglichfeit dafür gekräftigt wurde.
In den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zogen in eine
größere Stadt des innern Deutschlands allerdings jeden Tag Neuigkeiten aus
der Fremde; deun das Posthorn blies bereits täglich durch die Straßen, aber
nicht jeden Tag durch dasselbe Thor. Indeß erhielt man doch seine Post heut
von München, morgen von Dresden, den nächsten Tag vielleicht von Hamburg.
Auch hatte fast jede größere Stadt-ihre Zeitung, aber auch diese kleinen Blätter
wurden in der Regel nur dreimal wöchentlich ausgegeben, und die Anzeige¬
blätter des Ortes, welche seit etwa sechszig Jahren eingerichtet waren, an
vielen Orten nur wöchentlich einmal., Und diese regelmäßigen Boten aus der
Welt deckten im Ganzen das Bedürfniß -jener Zeit ausreichend. Zwar wurde
viel über die schlechten Straßen und die langsamen Posten des Reiches geklagt,
aber Warenverkehr und Geschäfte, Credit und Kundschaft waren darauf ein¬
gerichtet, die Abonnenten der meisten Blätter scheinen nicht so zahlreich gewesen
zu sein, daß diese einen wesentlichen Ertrag gewährten, und die Zahl derer,
welche politische Nachrichten aus andern Gegenden Deutschlands und aus frem¬
den Ländern mit dauerndem Interesse lasen, war verhältnißmäßig gering. Und
Solche suchten immer noch aus einzelnen Hauptstädten geschriebene Zeitungen
zu erhalten, deren Abfassung bis gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts
ein Industriezweig war, der jetzt etwa in den lithographirten Korrespondenzen,
den Circularen einiger großen Handelshäuser und hier und da in Diplomaten¬
briefen fortdauert oder neu eingerichtet wird.
Dagegen war nach andern Richtungen der unverwüstliche Trieb der Seele,
neue Nahrung einzunehmen, lebhafter angeregt als jetzt. Die Neuigkeiten der
Stadt selbst und des Privatlebens darin beschäftigten große und kleine Leute
so ernsthaft, ja leidenschaftlich, daß es uns gar nicht leicht wird, diese thätige
Aufnahme zu begreifen. Der Klatsch war unaufhörlich erbittert und bösartig,
und das Gek'lätsch unserer kleinen Residenzen ist dagegen gehalten voll gro߬
artiger Duldsamkeit mit fremde» Schwäche». Jedermann wurde heftig durch
solches Persönliche afficirt; was man mit angenehmem Schauder vom lieben
Nächsten hörte, trug man mit dem größten Eifer weiter. Und es war Freun¬
despflicht dergleichen den Angegriffenen selbst mitzutheilen. Wie schwer üble
Nachrede überwunden wurde, erkennen wir aus zahlreiche» biographischen Auf¬
zeichnungen jener Zeit. Die Klage über Verleumdung, über Mißgunst und
neidische Intrigue» kehrt immer wieder, und die Versicherungen der Klagenden,
daß sie dieselben christlich und unbeirrt ertrugen, läßt jedenfalls merken, wie
verdienstlich ihnen ihre Festigkeit erschien. Außer den mündlichen Angriffen
wurden auch geschriebene, oft in Versen, herumgetragen, zuweilen gedruckt, sie
waren natürlich anonym, aber da die ganze Stadt mit lebhaftem Interesse den
Verfasser suchte, gelang es ihm doch selten unbekannt zu bleiben. Mehr als
einmal wurde die Obrigkeit gegen dergleichen Pamphlete zu Hilfe gerufen, und
noch damals waren strenge Edicte des Rathes nicht ungewöhnlich, in denen
die Verfasser und Verbreiter von „Libellen" kräftig betraut wurden. Denn ein
strenger Rath und hohe Obrigkeit waren selbst darin äußerst empfindlich, auch
die höchsten Autoritäten hatten viel von geheimer Schriftstellern zu leiden, sie
nimmt in der Literatur des vorigen Jahrhunderts — namentlich in Preußen —
vielen Raum ein, und während die Klatschschnften auf größere Regenten als
Bücher, häusig in Romansonn, ausgegeben werden, halten sich die Angrisse
auf kleinere Autoritäten in dem bescheideneren Format der Flugschriften. Mehr
als einmal gaben solche anonyme Anfälle Veranlassung zu ernsthaften Händeln
innerhalb einer Stadtgemeinde, ja kaiserliche Commissäre wurden abgesandt, um
die Verbreiter der „unwahrhaftigcn, injuriöscn, chrabschneiderischen" Pasquille
zu ermitteln und zu strafen.
Aber auch wo ein öffentliches Urtheil über einen Mitbürger oder eure
Autorität unbefangene Würdigung erstrebt, ist sichtbar, wie schwer die innere
Freiheit und Unparteilichkeit dem Schreiber wird, die conventionelle Höflichkeit
und die Vorsicht des Verfassers wird nicht selten unangenehm gestört durch eine
hypochondrische, kleinliche, vielleicht boshafte Ausfassung des lieben Nächsten.
Denn man war zwar furchtsam und rücksichtsvoll auch im Verkehr, ängstlich be¬
dacht, jedem seinen gebührenden Antheil von Artigkeit zu ertheilen, aber man
war ebenso reizbar, höchst empfindlich, und besaß in der Regel nicht den sichern
Maßstab für den Werth eines Mannes, welchen feste Selbstachtung verleiht.
In anderer Weise als jetzt wurde die Stadt auch durch das Neue beschäf¬
tigt, das sich der Schaulust etwa anbot. Immer noch waren Hinrichtungen
eine große Angelegenheit, noch wurden die Bilder schwerer Verbrecher in Kupfer
gestochen und mit ihrem Lebenslauf, den erbaulichen Betrachtungen der Seel¬
sorger und warnenden Gedichten eifrig gekauft. Ein Seehund, ein Neger oder
Albino, Kamtschadale und Indianer, und was jetzt in unsern Meßbuden nur
geringe Beachtung findet, wurde mit Erfolg einzeln auf öffentlichem Platz aus¬
gestellt. Ein Elephant, die erste Giraffe, das erste Rhinoceros machten ein un¬
geheures Aufsehen, sie wurden ebenfalls durch Bilderbogen und kleine Flug¬
schriften empfohlen. Und allerlei brodlose Künste, ein Mann, der mit abge¬
richteten Kanarienvögeln umherzog, ein anderer, der nur durch Handbewegungen
ein Schattenspiel an der Wand hervorzubringen wußte, dazwischen Bauchredner,
Feuerfresser und andere fahrende Leute gaben den besten Gesellschaften der
Stadt für längere Zeit Unterhaltung.
Die alten festlichen Aufzüge und Schaustellungen der Städter selbst waren
allerdings sehr verkümmert, ihnen war die Zeit der seidenen Strümpfe, des
Reifrocks und Puters sehr ungünstig. Die Schaugefechte der alten Fechter¬
banden waren kurz vorher zu Ende gegangen, die Schützenfeste seit dem großen
deutschen Kriege eingeschrumpft, nur einzelne Handwerke, die Fleischer. Fischer
unternahmen noch zuweilen einen öffentlichen Aufzug. in hergebrachten Costüm
mit Lade und Handwertszeichcn, und ni seltenen Fällen noch mit einem alten
Tanz. Dagegen war das Schauspiel eine beliebte Ergötzlichkeit auch des Volkes
geworden, aber wo nicht Fürsten eine stehende Bühne unterstützten, wurde
diese — zwei bis drei wohlhabende Städte ausgenommen — immer nur aus
einzelne Monate durch Wandertruppen ausgeschlagen.
Von allem, was die Gelehrten des,vorigen Jahrhunderts beschäftigte, war
die Naturwissenschaft am meisten populär. Sie hatte seit hundert Jabren in
großartiger Thätigkeit aus.die Bildung des Volkes gewirkt, sie hatte den Kampf
gegen Aberglauben und gegen Autoritätsglauben begonnen, hatte die Völker
richtiger sehen und beobachten gelehrt, sie zumeist hatte auch dem Laien die
Wißbegierde aufgeregt; nicht wenige kleine Zeitschriften waren bemüht neue
Entdeckungen auch in weitere Kreise zutragen, Sammlungen von Naturgegen-
ständen wurden häufig angelegt. Die Alchemie hatte ihre Gläubigen verloren,
und die Adepten von Profession waren im Aussterben, aber in den Retorten
und Schmelztiegeln wurden auch von Privatleuten häufig zur Freude ihres
Kreises chemische Processe dargestellt, das cartesianische Teufelchen. der Herons-
brunnen, die Laterna magica, das Kaleidoskop und andere physikalische Schau¬
stücke waren in gebildeten Familien heimisch und wurden immer wieder bewun¬
dert und erklärt.
Keine Entdeckung aber, welche man der Wissenschaft verdankte, hatte seit
Menschengedenken das Publicum so aufgeregt, als die Erfindung des Luft¬
ballons. Fünf Jahre vor 1787 hatte Cavallo die ersten Papierballons und
Seifenblasen steigen lassen, im I. 1783 erhoben sich die ersten Montgvlficren
und Charlicren in die Luft. Die Fortschritte der neuen Entdeckung, welche
seit dieser Zeit hohe Erwartungen mehr getäuscht als erfüllt hat, glichen einem
Wunder. Schon im Januar 1785 flog der kecke Franzose Blanchard über den
Kanal, zwei Jahre darauf erfand derselbe den Fallschirm, durch welchen der
Mensch, wie man annahm, aus der größten Höhe gefahrlos durch die Lüfte
auf die Erde herabgleiten konnte. Die kühnsten Träume der Phantasie waren
plötzlich durch die Wirklichkeit übertroffen. Auf der deutschen Erde kroch die
Schneckenpost im Tage etwa vier bis fünf Meilen durch die Schlagbäume und
Grenzzeichen, zahlloser Souveränctäten, jetzt flog der Wagende in geflochtener
Gondel höher als der Adler über Wolken, Meer und Berge. Man erwartete
von der neuen Erfindung die größte Ausbeute für die Wissenschaft, die stärkste
Revolution in dem Verkehrsleben der Erde. Das Poetische der Idee, das Er¬
staunliche des Anblicks, der edle Triumph wissenschaftlicher Entdeckung hoben
die Seelen nicht nur der Gebildeten; das ganze Volk nahm fast leidcnschaft-
llichcn Antheil an dem neuen Funde des Menschengeschlechts. In die Seelen
Unzähliger kam es wie das Ahnen einer Befreiung vpn hundert beengenden
Schranken der Erde, wie das Vorgefühl einer totalen Umwandlung des mensch¬
lichen Lebens. Es war ein Sehnen, das unmittelbar darauf durch ganz andere
Kämpfe, Untersuchungen und Erfindungen zur Wahrheit werden sollte. Damals
aber wurde der unternehmende Mann, welcher sich mit Erfolg dem Wagniß
der neuen Entdeckung aussetzte, wie ein Held und Reformator angestaunt.
Und es ist deshalb nicht nur unterhaltend, auch lehrreich zu sehen, wie
eine solche Luftfahrt aus dem engen Horizont einer deutschen Reichsstadt von
den Zeitgenossen aufgefaßt wurde. Ueber die Auffahrt des glücklichen Aben¬
teurers Blanchard zu Nürnberg im Jahre 1787 ist uns eine hübsche Flugschrift
erhalten: Ausführliche Beschreibung der achtundzwanzigsten Luftreise, welche
Herr Blanchard den 12. Nvvemb. 1787 zu Nürnberg unternahm und glücklich
Vollzog. Mit 4 Kupfertafeln begleitet. Verfaßt und verlegt von Johann Mayer,
Schriftstechcr und Kupferdrucker in Regensburg 1787. 4. Aus dem Titel be¬
findet sich noch Blanchards Silhouette von Lorbeer und Rosen umgeben, mit
der Unterschrift: I.« Ms eelew« ^öroulrute. Die vier Kupfertafeln stellen dar:
die Ausfahrt selbst mit der staunenden Volksmenge, die triumphirende Rück¬
fahrt des Ballons auf dein Wagen, die Maschinen zur Füllung und den Fall¬
schirm, endlich sogar den Grundriß des Platzes, von welchem die Luftfahrt
ausging. — Aus dieser Flugschrift wird hier die Hauptsache mit den Worten
des aufmerksamen Beobachters mitgetheilt.
Herr Blanchard reiste nach seiner zu Straßburg vollzogenen sechsundzwan-
zigsten Luftreise durch Nur'nberg nach Leipzig, um seine Siebenundzwanzigste
Luftauffahrt alldort zu unternehmen. Viele vornehme Einwohner Nürnbergs
schlugen ihm vor, nach seiner Auffahrt zu Leipzig zurückzukommen, um die acht-
undzwanzigste Luftreise in Nürnberg zu vollziehen; er versprachs, und während
seinem Aufenthalt zu Leipzig wurde eine Subscription eröffnet. Es wurde der
Preis der Plätze u vier, zwei und einen Laubthaler angesetzt und endlich der
6. November zur Ausfahrt bestimmt. Herr Blanchard kam den Is. October
von Leipzig in Nürnberg an, auch traf sein mit allen Füll- und Luftfahrt-
geräthschasten beladener, und für dieselben besonders zugerichteter Wagen ein,
welcher auf der Stadtheuwagc gewogen und 43 Centner schwer befunden wurde.
Von alle den boshaften Erdichtungen und schändlichen Verleumdungen, welche
wider Herrn Blanchard ausgestreut wurden, will ich nichts sagen. Ohne mich weder
an das übertriebene Lob. noch den niedern Tadel zu kehren, womit Herr Blanchard
auf allen Seiten umringt war. nahm ich. von einigen meiner Freunde aufge¬
muntert, mir vor, eine ausführliche Geschichte und getreue Zeichnungen von
allen Begebenheiten der achtundzwanzigsten aörvstatischen Reise herauszugeben.
Auf dem Ncucnbau wurde eine Hütte von Brettern errichtet, worin während
drei Wochen, nämlich bis zum 11. November, der mit atmosphärischer Luft auf¬
geblasene Ballon und alle andern zur Luftschifferei gehörigen Instrumente für
12 und 24 Kreuzer zu sehen waren.
Auch wurde auf dein sogenannten Judenbühl außerhalb der Schanzen
zwischen dem Lauster und Vestner Thore ein zur Ausfahrt bequemer Platz aus¬
ersehen, auf demselben eine etwa 36 Fuß hohe und auf jeder Seite ins Viereck
40 Fuß breite Hütte ohne Dach, oder ein Verschlag errichtet, und um dieselbe
ein ziemlicher Raum für die Subscnbcntcn einzufangen angeordnet. Zu An¬
fang des November wurden die Plätze für die Subscribenten erweitert, die
Preise erniedrigt) und die Auffahrt selbst auf den 12. November festgesetzt.
Nun bezahlte man auf dem ersten Platz zwei, aus dem zweiten einen Laub-
'thaler, aus dem dritten Platz einen Gulden und auf dem vierten vierundzwan¬
zig Kreuzer.
Es ergingen von Seiten der hohen Obrigkeit zur Sicherheit der Stadt
und der Fremden vortreffliche Verordnungen, sowie auch von Seiten der Entre¬
preneurs für die Bequemlichkeit und das Vergnügen des Publicums alle nur
ersinnliche Sorgfalt getragen ward. Dennoch gab es boshafte Menschen, welche
ausstreuten, daß die Auffahrt später oder wohl gar nicht für sich gehen würde;
daß die Lebensmitttel in unerhörten Preisen wären; ja, was noch mehr ist.
daß des Herrn Marggrascn von Anspach-Bayreuth Durchlaucht die Anstalten
am Tage der Auffahrt durchs Militär würde ruiniren lassen; alles dies ge¬
schah blos um die Fremden abzuhalten, die Stadt um den davon zu ziehenden
Nutzen und Ruhm wegen ihrer löblichen Anstalten zu bringen und Herrn Blan-
chard und seine Freunde furchtsam und lächerlich zu machen. Die Kabale ge¬
lang nicht; und ich kann versichern, daß nicht nur der ohnehin bestimmte Preis
der VicluaKen gar nicht erhöhet, sondern die täglich zur Stadt gebrachten im
Ueberfluß, und wohlfeiler, als sonst zu haben waren. Zur Sicherheit und zum
Vergnügen der Fremden wurden von sehr vielen Einwohnern neue Laternen
an die Häuser angemacht, Pcchpfannen ausgehängt, der so bekannte Kristkindels-
Markt ausgeschlagen, und auch bei Nacht erleuchtet: die Wachen wurden ver¬
doppelt, und von der Stadt besoldete Personen aus verschiedene Pläze beordert.
Kurz zu sagen; ein hoher Magistrat und löbliche Bürgerschaft rechtfertigten
durch vortreffliche Policey-Anstalten zum Vergnügen der Fremden, gute Bewir¬
thung und höfliches Betragen, gegen jedermann, die sowohl von In- als
Ausländern von denselben gehegte Meinung, vollkommen.
Endlich kam der 12. November heran, es war ein festlicher Tag. Schon
ein paar Tage vorher wurde beschlossen keine Rathssession zu halten, welches
sich niemand zu erinnern weiß. Die mehrsten Gewölber und Läden wurden
nur früh oder gar nicht eröffnet. Bey den drei Kirchen zu Se. Se. Se. Lorenz,
Sebald und Egidicn wurden starke Wachen postirt, die beständig mit Patrouil¬
liren abwechselten, und drei Thore blieben ganz verschlossen.
Schon um Thoraufschluß begab sich eine Menge Menschen aus den Ort
des Schauspieles, auf welchem in gewisser Entfernung viele Hütten und Zelte
errichtet wurden, worin alle Sorten von Getränken und Speisen zu haben
waren, in einigen derselben befanden sich auch Musikanten, und alles schien
eine große Feyerlichkeit anzukündigen.
Als gegen neun Uhr durch drei Böller das Zeichen zum Füllen des Ballons
gegeben wurde, befanden sich schon viele tausend Menschen auf dem Judenbühl,
und nun kamen durch den Hcroldsbcrgcr Schanz-Posten und durch jenen beim
Schmausen-Garten ein solcher Strom von Fußgängern, reutenden und fahren¬
den Personen auf den Plaz zu, daß derselbe bis zum letzten Signal ein un¬
absehbares Feld von Menschen Vorstellte.
Die Rankende und Kutschen wurden durch rankende Dragoner an weit ent¬
fernte, für dieselben bestimmte Pläze angewiesen. Um zehn Uhr geschah das
zweite Signal mit zwei Böllern, gegen elf Uhr aber das dritte, zum Zeichen
daß der Ballon gefüllt sey, mit einem Böllerschuß. Ausser diesem, auf dem
Plaza sich befindlichen Volke, welches sicher 50—60.000 Seelen betrug, befand
sich noch eine Menge von Vielen taufenden in und auf der Vestung, Pastcyen,
Mauern und den darüberragenden Häusern, Thürmen, Schanzen. Gartenhäusern,
ja sogar auf den an den Gartenmauern errichteten Bühnen n. s. w. und dennoch
herrschte unter diesem unzählbaren Menschenhaufen eine bewundernswürdige
Ordnung und Stille; kein Mensch drängte den andern, denn noch so viel Per¬
sonen hätten auf diesem herrlichen Plaze Raum genug gehabt.
Die Witterung war erwünscht, die Luft bewegte sich kaum zum Bemerken
südwestlich. Der Himmel war gegen Morgen und Mittag fast gar nicht, gegen
Abend etwas mehr, gegen Mitternacht aber ziemlich bewölkt.
Herr Blancha-rd war bey dem Füllen des Ballons so thätig, und eilte um
nachzusehen mit einer solchen Munterkeit umher, als ob er bei der vergnügtesten
Gesellschaft im Tanz begriffen wäre. Man sagt, er wäre Morgens ein Uhr
schon auf den Platz hinaufgegangen, um zu Visitiren, herzurichten, die Massen
Spiauteros") abzuwägen u. s. w.. und alles in euren solchen Stand zu setzen,
daß er aufs erste Signal zum Füllen in völliger Bereitschaft dazu seyn könnte,
welches er auch pünktlich beobachtete, so daß alle zusehenden Subscribenten
sogleich für seine gute Sache eingenommen wurden. Er stieg mit aller Gegen¬
wart des Geistes, welche ihn nie zu verlassen scheint, getrost nach höhern
Regionen auf.
Man sagt, er habe, wie er vor jeder Auffahrt zu thun Pflege, den Tag
vorher communicirt.
Bis Herr Blanchard sich zur Abreise fertig machte und seine Gondel be¬
stieg, warteten aller Augen auf das Aufsteigen des schon seit einer halben
Stunde etwas über den Verschlag herausstehenden Ballons. Nun bewegte sich
die große Maschine um elf Uhr sechsundzwanzig Minuten aufwärts und zugleich
geschahen zum Zeichen der Abfahrt vier Böllerschüsse schnell auf einander, worein
sich Trompeten und Paukenschall mischte.
Majestätisch und sanftschncll war des Aöronauten Emporschweben über den
Verschlag heraus; er winkte das an seine Gondel befestigte Seil loszulassen,
und erlitt dabey nicht die geringste Erschütterung. Mit bangem Entzücken und
frohem Staunen über dies herrliche Schauspiel, war eine solche feyerliche Stille
verbunden, als ob kein lebendiges Geschöpfe auf dem großen Plaze sich be¬
funden hätte. So wie bei der schönsten Witterung der Rauch, als eine Säule
emporsteigt, so gerade stieg auch die von des Tages Heile erleuchtete, und durch¬
sichtig scheinende Kugel mit dem nach sich ziehenden Luftschiffer auf. Von der
Höhe eines Thurmes warf er Papiere aus die Zuschauer herab.
Als Herr Blanchard im Aufsteigen ein Sandsäckchcn -ausleerte, um höher
zu steigen, bemerkten einige Personen mit mir, daß er öfters die Seile des
Rehes auf eine Seite zu anzog, welches uns auf die Gedanken brachte, ob er
nicht etwa dadurch dem Ballon eine Richtung geben könnte, dieweil sein Ballon
vom Aufsteigen an bis zum Niederlassen den Weg eines umgekehrten Frage¬
zeichens z machte. Vielleicht ists aber eine bloße Muthmaßung, und seine
Wendung dem höhern uns vielleicht entgegengesehen Luftzuge zuzuschreiben.
Gleich darauf salutirte er mit zwo Fahnen die ihm Nachsehenden und die
Stadt; worauf ein allgemeines lauttönendes Vivatrufen und Händeklatschen
entstund. Herr Blanchard stieg noch immer gerade in die Höhe, wandte sich
etwas südwestwnrts gegen die Vestung, als ob er über die Stadt wegfliegen
wollte, drehte sich aber immer mehr nach Westen, und endlich Westnordwests
nach dem Dorfe Thon zu, so eine halbe Stunde vom Orte der Auffahrt ent¬
fernt ist. Hier war er etwa zwölf Minuten in der Luft und schien nur so
groß als eine mittelmäßige Schießscheibe zu seyn; auch hatte er nun die größte
Höhe erreicht und stund nach der Nürnberger Postzeitung 800 Klafter oder
4800 Fuß über der Meeresfläche.
Von dieser gewaltigen Höhe ließ der muthige Luftsegler den Fallschirm mit
dem Hündchen herab, welcher so langsam herniedersank, daß darüber über fünf
Minuten verflossen, bis das aeronautische Thierchen bei Thon an der Erlanger
Straße auf ein Saumfeld wohlbehalten zur Erde kam.
Als Herr Blanchard so gerade aufstieg, bewegte sich kein Mensch von der
Stelle, sobald er sich aber seitwärts wandte, bewegte sich die ganze Masse
von Menschen als ein Ameisenhaufen, erst langsam nach der Seite seiner Rich¬
tung zu, und in ein paar Minuten hernach lief alles was kauften konnte. Es
ging zu Pferd und zu Fuß über Hecken und Gräben, über Felder und Wiesen,
wie man's ansah. Nichts war den Fußgängern, insonderheit dem Weibsvolk
hinderlicher als die Krautfelder und die sich noch befindlichen hohen starken
Toback-Stengel, es gab ein beständiges Gelächter, weil alles im Laufen über
sich sah, und folglich viele drollige Fälle, Stösse und Wendungen sich ereig¬
neten; denn es sah just aus, als ob die Einwohner einer volkreichen Stadt
Vor einem großen Unglück flohen, und wer einmal im Strom war, der mußte
entweder mit fortlauffen oder sich derb zerstoßen lassen.
Während dieser lächerlichen Jagd dem Dorfe Thon zu. ereignete sichs. daß
ein Haas aufgejagt wurde, und ungeachtet aller seiner Eilfertigkeit und listigen
Wendungen, gelang es ihm doch nicht das Freye zu erreichen, der Jäger waren
zuviel, das arme Thier wurde erhascht, und da ein jeder an dieser merkwür¬
digen Luftfahrtshaascnjagd Antheil haben wollte, in einer Minute in hundert
Stücke zerrissen. Der eine hatte ein Ohr, der andere einen halben Laus, der
dritte in seinen blutigen Händen ein paar Haare.
Herr Vlanchard flog unterdessen immer nach der nördlichen Gegend zur
linken Seite der Erlanger Chaussee weg, und schien eine Viertelstunde lang
als an die Wolken geheftet, nur mit dem Unterschiede, daß sein Ballon immer
kleiner und zuletzt so klein als ein Zwirnknäulchcn wurde. Doch blieb er be¬
ständig sichtbar. Um zwölf Uhr zwölf Minuten bemerkte man. daß er ziemlich
schnell herabsank, wie er denn auch ein Viertel auf ein Uhr, an dem Wege
beym Boxdorfer Wäldchen nach Braunsbach zu. eine gute Meile von dem Ort
der Auffahrt sich glücklich niederließ, und durch zween Studenten zu Pferde
und einige herbcygccilte Boxdorfer Bauern beym Seil ergriffen wurde.
Da der zur Erde niedergesunkene Aeronaute nicht deutsch und die ihn zu¬
erst ergriffen, nicht französisch verstünden, so gab es eine artige Scene: Er
rief ihnen immer zu: en d-is, M das, sie sollten niederziehen, um die Gondel
zur Erde zu bringen; die Bauern hingegen meinten sie sollten das Seil aus¬
lassen, und waren just auf dem Punkt solches zu thun, als ihnen die anderen
dazukommenden Leute bedeuteten, sie müsten niederziehen und die Gondel mit
den Händen ergreifen, sonst flöge das Ding wieder in die Höhe. In der That
erstaunten sie über die Maßen, daß sie anstatt zu tragen, wie sie glaubten,
unter sich drücken müsten. ..Da dieser Herr," sagten sie. ..auf unserm Grund
und Boden vom Himmel kam, so lassen wir uns auch das Necht nicht nehmen,
ihn, wo er hergekommen ist. hinzubringen," und erhuben ein Freuden-Ge¬
schrey, worein die immer mehr herbeygekommenen Reuter und Fußgänger treulich
mit einstimmt.en. Die Gondel wurde dergestalt umringt und begleitet, daß
Herr Blanchard kaum heraussehen konnte.
Herr Blanchard wurde stehend in seiner Gondel mit dem über ihm schwe¬
benden und noch nicht entkräfteter Ballon, welcher jetzt, da etwa der vierte
Theil Luft herausgelassen war. die Gestalt'einer Birn hatte, nach der Stadt
gezogen. Sogleich kamen auch Se. Hochfürstliche Durchlaucht von Ansvach-
Bayreuth herbeygesvrengt. und Herr Blanchard hatte das Glück Höchstdieselbe
zu sprechen, und sich Ihres vollkommenen Beyfalls und zugesagten Douceurs
zu erfreuen. Die Gondel wurde nun niedergezogen, und der Luftsegler von
dem sich immer mehr versammelten Volk, das ein beständiges Jubelgeschrey
anstimmte, und unter herbeygct'ommencr Musik bis an den Ort des Aufsteigen«
getragen. Herr Blanchard ließ sich um drei Uhr nach einigen gespielten Tänzen
und Märschen bei vierzig Fuß in die Höhe, und sank wieder in den Perschlag,
woraus er aufstieg, hinab, welches den noch zu taufenden versammleter Zu¬
schauern ein ungemein herrliches Schauspiel war.
Als Herr Blanchard bald darauf zur Stadt in sein Logis fuhr (es soll
die Chaise einer Frau von N> gewesen sein, denn seine mit vier Pferden be¬
spannte englische Chaise fuhr hinter ihm her), spannte das vom Freuden-Taumel
frohlockende Volk die Pferde aus und zog nach englischer Sitte den kühnen
Aervnauten im Triumph daher durch die ganze Länge der Stadt bis zum
rothen Roß.
Herr Blanchard saß vorne und trug die Uniform seiner Gondel, nemlich
blau und weiß mit dergleichen Federbusch auf dem Hut. Zwey herrlich ge¬
kleidete Frauenzimmer stunden hinter ii>in in der Chaise, sie trugen die Livree
seines Ballons, roth und blaßgelb, und hinten auf stund anfangs Herrn
Vlanchards Bedienter, und salutirte mit deu zwo Fahnen gegen alle vornehme
Gebäude, worinn eine erstaunliche Anzahl Adelicher und anderer distinguirter
Personen dem Zuge zusahen und ein unaufhörliches Vive IMuelrai'ä! Vivat ceo.
und Händeklatschen hören ließen. Aus vielen Häusern ertönten Musiken
aller Arten.
Gegen vier Uhr kam endlich Herr Blanchard im rothen Noß an, aus
dessen Erker ihm Trompeten und Pauken entgegenschallten. Die Straße war
von Menschen angepfropft, Herr Blanchard erschien am Fenster und dankte
mit dreimaligem Compliment dem Volke seine Ertänntlichkeit zu, welches das
Volk mit lauttönenden Vivatrufen beantwortete.
Man sagt, Herr Blanchard habe als er auf den Saker kam, von zween
Bürgern, welche mit einem Glas Wein sein Vivat tranken, und rhin auch ein
Glas zu trinken präsentirten, dasselbe ausgetrunken, und gerührt über den
lauten Jubel und Beyfall, und die ihm angethanen Ehrenbezeugungen, Thrä¬
nen der Freude und des Dankes vergossen.
Um fünf Uhr wurden unter Direction des Herrn Schöpf im Schauspiel¬
dause zwei Lustspiele, und nach diesen ein von Herrn Rolland, auf die Feyer
der Blanchardischen Luftreise, verfertigtes Ballet, beendete: „Das Fest der
Winde" gegeben, wobey das Opernhaus gedrängt voll war. Nach dem Schau¬
spiel gicngs zur Tafel und Mascarade wieder ins rothe Roß, welche sich früh
den 13 endigte.
Aus diese Weise wurde der für Einheimische als Fremde so frohe und
merkwürdige Tag beschlossen, ohne daß nur einem Menschen bey dem außer¬
ordentlichen Zusammenfluß von. Leuten, ein Unglück begegnet wäre.
Soweit der Wortlaut des Berichts. Die Festfeier aber dauerte über den
12. November hinaus. Noch am Abend des Tages wurde angezeigt, daß Herr
Blanchard, gerührt vom Beifall des Publikums, zur Bezcigung seiner Dank¬
barkeit und mit hoher obrigkeitlicher Erlaubniß morgen ein neues aörostati-
schcs Experiment machen werde. Preis des Platzes 36 Kreuzer. An diesem
Tüge ließ Herr Blanchard einen kleineren Ballon wieder unter Böller- und
Trompetenschall steigen, im Korbe befand sich ein kleiner „Seidcnpudel" mit
zwei Briefen. Im ersten stand: „Dieser Ballon gehört Herrn Blanchard, man
bittet den Finder, denselben nach Nürnberg ins rothe Roß wieder zu bringen."
Im zweiten Briefe: ..Dieser Hund gehört der Frau Obristin. Freifrau von
Redwitz, abzugeben gegen guten Necvmpens zu Nürnberg im rothen Roß."
Der Ballon machte in fünfundvierzig Minuten eine Reise von vierzehn Stun¬
den und sank, wie ein erstaunter Bericht aus Crcusscn meldete, in der Nähe
des Ortes als Etwas, das nicht Wolke, nicbt Drache, nicht Vogel, erst Nein
und schwarz, dann groß und röthlich war. schnell aus den Wolken herab. Auch
der gute Bologneser wurde nach einigen Tagen wohlbehalten seiner Herrin zu¬
rückgebracht. Herr Blanchard aber ward wieder in seinem Wagen unter Jubel
und Vivatrufen vom Volte durch die Stadt zu einem Feuerwerk gezogen, dann
i» das Schauspielhaus, wo diesmal ein zur Feier der Luftreise verfertigtes,
großes allegorisch-musikalisches Concert aufgeführt wurde. Einige Tage daraus
überreichte Blanchard dem hohen Magistrat die Fahnen zum Andenken, der
Magistrat gab ihm dagegen ein solennes Souper im Schießgraben und be¬
schenkte ihn mit sechs Medaillen, jede von acht Ducaten Werth.
Die Flugschrift enthält außerdem noch einen interessanten „Auszug über
Herrn Blanchards Leben, vornehmste Luftreisen und Charakter", nicht ohne
tadelnde Bemerkungen über die Verkleinerer des Mannes. Denn es war leider
auch in diesem Falle dem fremden Luftschiffer nicht vergönnt ohne Neider und
Mißgönner seinen Triumph zu feiern. Schon vor der Auffahrt war in Nürn¬
berg eine andere Flugschrift erschienen, welche unter dem Titel: „Blanchard,
Bürger von Calais". Leben und Thätigkeit des Mannes in einer kritischen
Weise besprach, durch welche der eitle Franzose so getränkt ward, daß er beim
Aufsteigen eine andere Flugschrift: „^.dreM <1<z nos ^v-z-nturizs wri-vstres"
auf die Zuschauer herabwarf, worin er stolz und erbittert gegen die frühere
Broschüre loszog.
Und zuletzt ist Bürgerpflicht zu erwähnen, daß auch der hochlöbliche Rath
von Nürnberg seinerseits alles Erdenkliche gethan hatte, den Verlauf dieses
außerordentlichen Festes sicher zu stellen. Durch sehr ausführliche eigens ver-
öffentlichte Fahr- und Gehordnungen, durch Vorsorge für Herbeischaffung der
Speisen und Getränke und durch billige Taxen derselben, durch ausgestellte
Wachen und Reiter, durch strenges Verbot jedes Baumvesteigens, Verderbens
der Felder und jedes unartigen Geschreies, durch scharfe Patrouillen in der
Stadt, durch Bestellung eines Chirurgus nebst Gesellen und Verbindezeug für
den Fall, daß jemand auf „diese oder jene Art" beschädigt würde, durch die
Böllerstgnale, ,,damit niemand ohne Noth der freien Luft zu lange sich aus¬
setzen dürfe", endlich durch Ermahnung zur Ordnung und Mäßigung, zumal
für den Fall, „wenn die Luftfahrt durch einen Zufall vereitelt werde oder der
gefaßten Meinung nicht entsprechen sollte." Auch den Festplatz hatten Rath
und Unternehmer ganz meisterhaft eingerichtet. Denn, wie die Flugschrift meldet:
der ganze Platz sah einer kleinen Vestung ähnlich, welche durch die spanischen
Reuter und —80 Soldaten hinlänglich bedeckt war, wenn ja Wider Ver¬
muthen der Pöbel hätte Unruhen anfangen wollen, wie es manchmal bei der¬
gleichen Gelegenheiten zu gehen Pflegt. Man muß es aber vom Größten bis
zum Geringsten rühmen, daß alles durch Bescheidenheit und Güte im Befehlen,
und mit Stille und Ordnung im Gehorchen glücklich vorüberging.
Sie haben wiederholt angedeutet, daß Sie bei aller Hochachtung vor der
preußischen Kriegführung in Schleswig der Art, wie eine gewisse hochgestellte
Persönlichkeit im Lager der Preußen die Bedeutung der dortigen kriegerischen
Leistungen im Vergleich mit andern aufzufassen scheint, nicht recht beizupflichten
vermögen, und in der That, wie groß auch das Verdienst des eigentlichen
Führers der Preußen sein mag, und wie tüchtig sich die Armee in der Ausführung
seiner Anordnungen, namentlich vor Düppel gezeigt hat: die Parallele zwischen
Austerlitz und Missunde war kein besonders glücklicher Griff, und den Düppel-
fieg als die glänzendste aller glänzenden Waffenthaten zu feiern möchte eine
nicht gerade gelinde Uebertreibung sein, namentlich in Zeiten, wo man die
fünfzigjährige Gedenkfeier der Schlachten bei Leipzig und Waterloo begeht.
Aber legen wir nicht zu viel Gewicht auf solche Verirrungen einer un¬
geübten Feder. Außerhalb Ilion wird jedenfalls in ganz andrer Weise noch
gesündigt. Kommen Sie z. B. zu uns nach Wien, hören und sehen Sie sich
die pomphafte Manier an. mit der sie hier die Leistungen der Oestreichs im
Kriege mit den Dänen als unerhörte Großthaten preisen und gepriesen wissen
Wollen, und das zu hochgespannte Selbstgefühl des Verfassers der preußischen
Proclamationen und Schlachtherichte wird ihnen daneben fast wie Bescheiden¬
heit, wenigstens maßvoll vorkommen. Hier ists Natur, zeitweiliges, mit Eile
zu entschuldigendes Vergessen der Geschichte. Ueberhebung in der ersten Freude
über das Gelingen, vielleicht ein bloßer Stilfehler. Bei uns dagegen ist diese
Hinaufschraubung mäßiger Gefechte zum Range von Schlachten, dieses unauf¬
hörliche Renommiren mit Erfolgen zweifelhafter Art wie mit weltumgestaltenden
Siegen nichts als der reine studirte Humbug. bei dem man allenthalben die
Absicht merkt.
Vor kurzem schrieb ich Ihnen von dem Spectakelstück. ,zu dem man die
Einbringung der bei Schleswig eroberten Geschütze umgestaltete. Es ist aber
weit mehr der Art zu melden, und die Ehronck lächerlichster Uebertreibungen
ist durch die Regierung selbst und noch mehr durch eine gewisse Classe von
Leuten, die aus den Beifall der Negierung speculiren. noch um manche Seite
voll Komik bereichert worden. Einiges davon sei hier noch mitgetheilt.
Nicht ohne Grund wurden bisher die östreichischen Orden und Ehrenzeichen
denen mancher anderer Staaten im Range vorgesetzt, einmal weil man, wenn
auch bei der Wahl der Persönlichkeiten und der zu belohnender Leistungen nicht
immer das wahre Verdienst berücksichtigt wurde, doch mit der Vertheilung spar-
samer als anderswo zu Werke ging; dann weil — in unserer materiellen Zeit
ein nicht unbedeutender Factor — mehre dieser Ehrenzeichen, z. B. der
Theresienordcn. die goldene und die große silberne Medaille, mit einer Geld¬
zulage verbunden sind. Bis zum Jahre 1848 wurden Soldaten, welche sich
ausgezeichnet hatten, jedoch keine Medaille erhalten konnten, auch wohl mit
Geld (gewöhnlich waren es Ducaten) belohnt. Um den kriegerischen Stolz zu
erhöhen, wohl auch aus Gründen nothwendiger Sparsamkeit, schaffte man spä¬
ter diese Geldgeschenke ab und verlieh an deren Stelle kleine silberne Medaillen,
mit welchen keine Gcldzulage verbunden war. Ebenso wurde für die Offiziere
das Verdienstkreuz gestiftet, womit die früher übliche Beförderung außer der
Nangstvur. Gnadengehalte und Tabatisren oder Brillantringc bei Seite ge¬
schafft wurden. Wurden hierdurch die Belohnungen,geringhaltiger. so konnten
dafür jetzt mehre beglückt und nebenbei Ersparungen erzielt werden, um einige
besonders Bevorzugte desto ausgiebiger mit Geld und Ehren überschütten zu
können.
Indessen ist zuzugeben, daß man in den Jahren 1848 und 1849 und
ebenso in dem letzten französisch-italienischen Kriege noch durchaus in den
Schranken der Ueberlegung verblieb und bei der Austheilung der Belohnungen
die mit einiger Wahrscheinlichkeit anzunehmende Zahl der Ausgezeichneten nicht
überschritt.
Das fast gänzliche Aussterben der Theresienordensritter mag davon Zeug¬
niß ablegen. Man konnte bis jetzt bei dem Anblicke eines Decorirten noch
annehmen, daß er, wenn auch keine sehr hervorragende That vollbracht, wenig¬
stens seine Schuldigkeit und vielleicht etwas mehr gethan bade.
Die zwei oder drei zwar glücklichen, aber nicht bedeutenden Gefechte da¬
gegen, welche die östreichischen Truppen den Dänen geliefert haben, haben eine
wahre Sündfluth von Decorationen hervorgerufen. Bekanntlich spielte die
durch ihre oftmalige Wiederholung schon dem Spott verfallene Redensart:
„Jeder Einzelne der ganzen Truppe war ein Held" auch in den diesmaligen
Berichten häusig eine Rolle. — Zur Zeit Nadetzkys hatte diese Phrase wenig¬
stens Sinn, da d'Aspre einst hinzufügte- „Ich decorire darum nur einen, und
es möge jeder andere den Rock, welchen er trägt, als die höchste Auszeichnung
betrachten." Jetzt aber glaubte man auch die ganze Truppe oder wenigstens
so viele mit Medaillen und Orden auszeichnen zu müssen, daß der Beobachter
eher die Nichtbethciligten als die Ausgezeichneten betrachten oder dieselben auch
für Subjecte, welche ihre Pflicht vernachlässigt hatten, halten konnte. Einem
einzigen Regimente, also einer Abtheilung von etwa ZS00 Mann wurden für
ein einziges Gefecht nahe an 300 Orden und Medaillen und vielleicht evenso-
viele Belobigungen ertheilt. Im Jahre 1850 erhielten die Vertheidiger von
Ofen, welche bekanntlich siebzehn Tage lang einer ungeheuren Uebermacht den
muthigsten Widerstand geleistet hatten, und die Truppen Urbans, welche einen
fast beispiellos beschwerlichen Winterfeldzug bestanden und ihre Anhänglichkeit
an die Dynastie uuter den drückendsten Verhältnissen bewahrt hatten, zur „Be¬
lohnung ihrer besonders hervorragenden Verdienste" zusammen nicht ganz hun¬
dert Medaillen und Orden. Und doch nannte man diese Austheilung eine
ziemlich reichliche, da beide Corps nicht viel mehr als 6000 Mann zählten,
für welche unter gewöhnlichen Umständen kaum die Hälfte jener Auszeichnungen
bewilligt worden wäre.
Aber abgesehen von der übermäßigen Menge der gegenwärtig verliehenen
Ehrenzeichen, wurde bei der Auswahl der zu Belohnenden und bei der Ver¬
keilung selbst auf eine Weise vorgegangen, welche nur den Aerger der Ver¬
nünftigen in der eigenen Armee erwecken, die ganze Sache selbst aber lächerlich
machen muß. Compagnien, welche kaum einige Minuten im Gefecht gewesen
waren, zählten ebensoviele Decorirtc, als Compagnien, welche die Hälfte ihrer
Mannschaft auf dem Platze gelassen hatten. Wie hätte man aber auch von
dem System abweichen können? Schon der reglementarischcn Gleichheit halber
mußte sich überall nur die gleiche Anzahl ausgezeichnet haben. Wenn, wie die
Journale berichteten, Herr v. Gablenz Vollmacht erhalten hatte, die Belohnungen
ganz nach Verdienst zu vertheilen, so darf dies keineswegs buchstäblich genommen
werden, und in der Hauptsache mußte der General ganz nach den Weisungen
des Kriegsministeriums und den über diesen Gegenstand bereits bestehenden
älteren Vorschriften handeln"). Daß die Gattung der Ehrenzeichen genau dem
Range der Betreffenden angepaßt wurde, versteht sich von selbst. Gablcnz er¬
hielt das Commandeur-. Gondrecvurt das Ritterkreuz des Thcresienordenö, die
Offiziere wurden dem Range nach mit Leopold- oder Eifern-Kronorden, Verdienst'
kreuzen und Velobungen bedacht, und bei der Mannschaft belohnte man ge¬
wöhnlich nur die Feldwebel mit goldenen, die Gemeinen nur mit kleinen sil¬
bernen Medaillen.
Daß bisweilen ein mittlerweile bereits Gestorbener eine Anerkennung er-
hielt, war in einigen Fällen wohl mit der Entfernung der Armee von Wien
zu entschuldigen und hat sich auch anderwärts ereignet; ja man mochte zuweilen
von dem Tode des Betreffenden bereits unterrichtet sein. Man constatirte dann
eben nur, daß diese Offiziere jener Auszeichnung würdig gewesen waren und
dieselbe, wenn sie am Leben geblieben wären, erhalten haben würden. Und
bei den Orden, welche mit Vortheilen für die Erben des Besitzers verbunden
sind, hat ein derartiges Verfahren viel für sich. Aber wie kann man ganz
geringfügige, sich nur auf das Recht zum Tragen eines Kreuzes oder einer
Medaille beschränkende Auszeichnungen einem^Todten zuerkennen? — Gleich¬
wohl enthalten die letzten Nummern des Armeeverordnungsblattes eine ganze
Reihe von Namen, bei welchen es wörtlich heißt: „Ich verleihe dem im Spi¬
rale zu Rendsburg gestorbenen N. N. das Militärverdienstkreuz mit der Kriegs-
decoration". ja mehren Todten soll sogar die höchste Zufriedenheit bekannt ge¬
geben werden!
Doch man blieb nicht dabei stehen. Die östreichischen Waffenthaten mußten
noch auf andere Weise verherrlicht werden. Der Schlachtenmaler Fritz l'Alle-
mant wurde auf den Kriegsschauplatz geschickt, um dort Studien zu machen,
und es wurden ihm auch bereits zwei große Gemälde zur Ausführung über¬
tragen. Vei dem letzten Vesuche des Kaisers im Arsenal ergingen Verfügungen
über die Ausschmückung der Kuppel mit bildlichen Darstellungen der Siege in
Schleswig und Jütland und über eine besonders in die Augen fallende Placi-
rung der dänischen Kanonen. Einige Graveure sind zur Anfertigung von
Medaillen beauftragt worden, und ebenso sind eine reichliche Anzahl Von Ge- .
denktafeln und Siaudbildern zu erwarten.
Daß es an schwülstigen Armeebefehlen und Manifesten nicht gefehlt hat
und ferner nicht fehlen wird, ist bekannt und versteht sich von selbst.
Ebenso schießen die Gablenz- und andere Stiftungen wie Pilze aus der
Erde; leider aber ist bei den meisten Spenden dieser Art nur zu klar, daß es
nicht sowohl auf den wohlthätigen Zweck, als auf die Verherrlichung des Na¬
mens der in die Mode gekommenen Persönlichkeiten und auf das Bekanntwerden
der Spender abgesehen ist.
Ließe man es übrigens bei derartigen Kundgebungen der Siegesfreude be¬
wenden, so möchte nicht viel dagegen zu sagen sein. Es sind lächerliche, aber
harmlose Dinge, durch die sich niemand verletzt fühlen wird. Aber wie jedes
Zuviel von Selbstgefühl in Uebermuth auszuarten Pflegt, so auch dieses. Die
Gelegenheiten, weiche sich zur Verherrlichung der eigenen Thaten darboten,
wurden nicht nur hierfür in der übertriebensten Weise ausgebeutet, sondern sie
mußten in der Regel auch dazu dienen, um verletzende Anschuldigungen und
abgeschmackte Späße über Deutschland auszuschütten. Selbst die Preußen,
die gegenwärtigen Alliirten. wurden in gleich rücksichtsloser Weise behandelt,
und erst die Erstürmung von Düppel hat hierin eine Aenderung geschaffen,
die freilich nur um so widerlicher erscheint, als man dafür mit verdoppelter Wuth
das übrige Deutschland schmäht und verdächtigt. Man hat sogar die sonst zwischen
den Höfen beachtete Courtoisie verletzt. Bekanntlich war der verstorbene König
Maximilian der Zweite von Bayern Inhaber eines östreichischen Kürassierrcgiments.
In allen Staaten, wo noch die Benennung der Regimenter nach den Namen
hochgestellter Personen üblich ist, pflegt im Falle des Todes eines Monarchen
dessen Regiment seinem Nachfolger übertragen zu werden, oder es bleibt wenig¬
stens zum Zeichen der Trauer das Regiment ein halbes oder ganzes Jahr ohne
Namen. Nur im Kriege wird von diesem Gebrauche abgegangen, und es'be¬
hielt z. B. sogar 1855 das Regiment des Kaisers Nikolaus dessen Namen bei.
Als nun die Nachricht von der Eroberung Düppcls in Wien eintraf, wurde
dem Feldmarschall Wrangel sofort ein Regiment verliehen, und man wählte
hierzu absichtlich das Kürassierregiment „König Maximilian", da es nach hiesi¬
gen Begriffen kein größeres Unglück geben kann, als keine östreichische Uniform
tragen zu dürfen, und man dem neuen König vermuthlich den Groll Oestreichs
empfinden lassen zu müssen glaubte.
Dem Beispiele der Regierung glauben andere Behörden und Körperschaf¬
ten folgen zu müssen. Namentlich zeichnet sich der Gemeinderath von Wien
in dieser Beziehung aus; doch bleiben auch die Vertreter der Provinzialstcidte
nicht zurück. Adressen, Danksagungen, Ehrenbürgerdiplome und Albums wer¬
den da in stürmischer Aufeinanderfolge votirt, und es giebt eine Stadt, in
welcher vor wenigen Jahren der Admiral Dahlerup, ein Ultradäne vom reinsten
Wasser, zum Ehrenbürger ernannt wurde, und wo nunmehr einem der „Sieger
von Schleswig" die gleiche Ehre zugedacht wird. Gassen, Plätze. Brücken und
Häuser werden nach den in der Mode stehenden Namen benannt, und bald wird
in mehr als einer Stadt ein „Gablcnzplatz", eine „Oeverseebrücke", eine „Veilc-
stiege" oder ein „Gondrecvurtanger" zu finden sein. In Wien wurde gar der
sinnreiche Vorschlag gemacht, in dem — bekanntlich wiederholt zum Stichblatte
guter und schlechter Witze gewordenen — Stadtparte drei junge Eichen zu
Pflanzen und denselben die Namen „Obersell". „Oeversee" und „Vene" zu
geben, damit, wie man sagte, „auch die kommenden Jahrhunderte an die Tha¬
ten der Oestreichs gegen die Dänen erinnert würden."
Obwohl der gesunde Sinn des groben Publicums diesen Lächerlichkeiten
im Allgemeinen fern bleibt, giebt es doch Einzelne, welche, theils um sich be¬
merkbar zu machen und das Wohlgefallen der „höchsten und allerhöchsten Herr¬
schaften" zu erlangen, theils im Solde der Negierung. theils aus purer Ein¬
falt sich zu gleichen Uebertreibungen und Lobhudeleien gebrauchen lassen. —
Die Extrablätter der Zeitungen, die zahlreichen Illustrationen der Gefechte und
die zum Verkaufe aufgehängten Portraits „der Helden vom Königsberg und
von Oeversee" entspringen mehr der Nothwendigkeit, die Neu- und Wißbegierde
des Publicums zu befriedigen, und der Speculation; dieselben dürfen also
nicht hierher gerechnet werden. Ebenso die officiellen und halbofsiciellen Blät¬
ter, da diese eben nur nachschreiben mußten, was man ihnen dictirte. Indessen
gab es auch unabhängige und sogar liberal sein wollende Journale. welche die
ruhmreichen Thaten der Oestreicher bis in den Himmel erhoben, alles Andere
aber energisch mit Schmutz bewarfen. Kaufleute und Fabrikanten suchten ihre
Artikel in Mode zu bringen, wenn sie denselben die Namen der in den Be¬
richten vom Kriegsschauplatz eine Rolle spielenden Männer und Ortschaften
beilegten, mochte es nun passen oder nicht. Einer hing gar ein Gondrccourt-
Schnürleibchen heraus, mußte es aber auf Geheiß der Polizei wieder beseitigen.
Stuwer gab ein Feuerwerk, dessen eine Abtheilung den Titel „der Angriff der
Oestreicher auf Beile in Sahle s wi g" führte. Der gute Mann mochte eben noch
nichts von Jütland gehört haben.
Auch auf die Bühne verpflanzte sich dieser Schwindel. Tableaus, lebende
Bilder und Ovationen aus dem Stegreif waren das Geringste. Dann kam
auch ein Gablenz-Marsch, beiläufig- eine Piece ohne Melodie und Charakter,
und diesem folgten die verschiedennamigen Erzeugnisse der Dichter der Volks¬
bühne. Das Großartigste in diesem Genre leistete der Redacteur des ..Hanns
Jörgel". Dieser rührige und in früherer Zeit für liberal gehaltene Schriftsteller
scheint neuerlich sich um jeden Preis die Gunst der Regierung erwerben zu
wollen, wofern er nicht bereits in deren Diensten steht. Nachdem er in dem
genannten Blatte, welches bekanntlich eine im Dialekt des wiener Pöbels ge¬
schriebene Scandalchronik aller irgendwo von den Landsleuten (Niederöstreichern)
des Verfassers etwa begangenen Unverschämtheiten und Gemeinheiten und eine
unerschöpfliche Sammlung von wiener Abderitenstreichen ist und eben darum
von jedem gebildeten Wiener ungelesen bleibt, hohe Politik zu treiben begonnen
und den Satz „'s ist nur a Kaiserstadt" dadurch zur Geltung zu bringen ge¬
sucht, daß er Wien als die Metropole aller Intelligenz, Humanität und Ritter¬
lichkeit darstellte, alles Andere aber in den Koth zog, hat er> endlich die ver¬
schiedenen Nationalitäten, zuerst die Italiener, dann die Ungarn und Slaven
und schließlich die Bewohner Deutschlands mit ebenso rohen als wüthenden
Ausfällen überschüttet.
Und ein großer Theil des wiener Publicums nahm diese Schmähungen
beifällig auf. Was für Begriffe müßte ein Italiener, der noch keine andere
Zeitung in deutscher Sprache gelesen, von der deutschen Journalistik fassen,
wenn er erführe, daß ein i» der Residenz Oestreichs erscheinendes Blatt un¬
gestraft wagen darf, von seinen Landsleuten als von „Salamiflegeln, Macca-
ronilümmeln und Polentalakeln" zu sprechen und ihnen mit „Prügeln, die sie
im nächsten Gab-Lenz am Benet-Et kriegen werden", zu drohen? Oder ein
Ungar, wen» man,von seinen Brüdern als von einem Gesindel spricht, unter
welchem es nur „Räuber und Lumpen" giebt. Oder der Böhme, wenn man
von „böhmischen Dickschädeln" reden und die uralte Königsstadt Prag ein
„Erdäpfelncst" im Bergleiche zu dem glanzvollen Wien nennen darf?*)
Es hieße sich an der Ehre des deutschen Volkes versündigen, wenn ich
auch das, was in gleicher Weise über Deutschland und seine Bewohner gesagt
wird, anführen wollte. Gemeindenkende und sich von der Gemeinheit Andrer
nährende Gesellen giebt es überall, und so würde ich dieses Beispiel unerwähnt
lasse», wenn nicht Blätter dieser Art — denn mehre andere Journale schreiben
in gleicher Richtung — bei uns ein ziemlich zahlreiches Publicum fänden. Diese
Erfolge trieben nun den fruchtbaren Autor zur Veröffentlichung einiger „Volks¬
stücke" und „Kriegsbilder", in welchen selbstverständlich allen«, was östreichisch
und besonders allem, was Wienerisch ist, dicker Weihrauch gestreut und alles
Andere verlästert wird. — Aber es geschickt dem Verfasser, der seine Figuren
eben nur aus dem ihm bekannten Material zu kneten versteht, daß seine Helden
so entsetzliche Tölpel find, daß man eben nicht begreift, wie sie zuletzt derartige
Heldenthaten verrichten können. Auch bewahrte diesmal das Publicum, ob¬
gleich dasselbe es nicht an Beifall fehlen ließ, wenigstens so viel Anstand, daß
es bei den zahlreichen Witzen über Deutschland und bei den allerübertriebensten
Nuhmreden sich still verhielt. Früher fehlte es auch nicht an den gröbsten Aus¬
fällen gegen Preußen. Mag nun aber der Verfasser einen officiellen Wink er¬
halten oder mag ihn die Erstürmung der düppler Schanzen auf andere Ge¬
sinnungen gebracht haben, — genug er hat nun am Schlüsse des einen
Stückes auch einen Preußen aufgeführt und mit seltener Großmuth zugestanden,
daß „auch die Preußen ihre Sachen ganz gut gemacht hätten".
Das unglückliche Seegefecht bei Helgoland wird, nachdem man es vergeb¬
lich zuerst als einen Sieg hat darstellen wollen, nun wenigstens als eine glän¬
zende Waffenthat, als ein Wunder der Geschickliclckeit und Tapferkeit aus¬
posaunt, obgleich das ganze Mißgeschick eben nur der beispiellosen Langsamkeit
des Admirals Wüllerstorf und der gänzlichen Untauglichkeit der Fregatte
„Schwarzenberg" beizumessen ist.
Vielleicht vermag das klägliche Scheitern des plenerschen Urlebens und
die Betrachtung der trostlosen Finanzzuständc diese» zu einer wahrhaft uner¬
hörten Höhe getriebenen Uebermuth noch etwas herabzustimmen.
Die Kriegsereignisse der neuesten Zeit haben den Ruhm der Infanterie,
der Artillerie und der Pivnniere erhöht, von den Leistungen der Kavallerie und
der preußischen Jäger aber hat man wenig gehört, während die östreichischen
Jäger ihre alte Bedeutung bewährt haben. — Liegt die Verschiedenheit in den
Leistungen der Jäger an der Organisation, oder am Gebrauch? Liefern die
neuesten Erfahrungen einen neuen Beleg zu der Behauptung, daß die Cavallerie
überhaupt an Werth verloren hat und daß sie füglich in . ihrer Zahl reducirt
werden kann? — Die Beantwortung dieser beiden Fragen soll die Aufgabe
der nachfolgenden Zeilen sein.
Die östreichischen Jäger sind ihrer Organisation und ihrer Ausbildung
nach, wie die französischen Jäger, nur eine gut schießende, für das leichte
Gefecht besonders geeignete Infanterie; die preußischen Jäger aber sind Scharf¬
schützen, welche das' Jnfanteriegcfecht gelegentlich auch ausüben können. —
Die östreichischen und französischen Jäger sind in der militärischen Organisation
die Repräsentanten eines sehr bedeutenden Theils jedes Gefechts, die preußischen
Jäger aber nur eines einzelnen Gefcchtsmomente, jene sind lebendige Glieder
eines Organismus, diese nur ein Luxus, der beim reellen Gebrauch belästigt.
Eine nähere Betrachtung der beiderseitigen Organisation und Verwendung wird
diese Aussprüche rechtfertigen. Die Kugel, das gute Schießen, soll, wie schon
gesagt, die Brücke bilden, um uns an den Gegner zu bringen, oder beim
Zurückweichen uns von demselben zu entfernen. In jedem Gefecht fällt einen,
bedeutenden Theil der Infanterie die Aufgabe zu, die Front des Fechtenden,
wir wollen annehmen einer Brigade, einzunehmen und durch Stellung und
*
Feuer die Entwicklung der Brigade zu ermöglichen, dann sich dem Gegner zu
nähern, ihn zu betasten, den besten Angriffspunkt festzustellen und endlich dem
Gros die Durchführung des Gefechts mehr oder minder zu überlassen. Prinz
Friedrich Karl nennt diesen Truppentheil das Vortreffen und bestimmt dazu
per Brigade ein bis zwei Bataillone. Die Franzosen und Oestreicher haben zu
diesem Zweck einer Brigade ein Jägerbataillon zugetheilt und dies ungefähr
um die Hälfte stärker gemacht, als die andern Bataillone, so daß auf sechs
Bataillone a 800 Köpfe ein Bataillon Jäger ^ 1200 Mann kommt und also
der fünfte Theil des Ganzen zum Vvrtreffen bestimmt ist. Ob dieses Zahlen¬
verhältniß richtig ist, muß die Zukunft erst lehren; denn die stets weiter und
besser wirkende Kugel entfernt die beiden fechtenden Parteien immer weiter,
macht den von dem Bortreffen zu bahnenden Weg immer länger und fordert
also immer größere Kräfte desselben. Die Franzosen haben dieser Rücksicht
schon Rechnung getragen durch die Formation und Ausbildung der Zuaven-
regimenter und verdanken diesem Umstände unstreitig die raschen Erfolge,
welche sic 1859 in Italien gegen die Oestreicher errungen haben. — Die An¬
forderungen an diese Art Jägertruppen also ist ein guter Schuß, eine bedeu¬
tende Findigkeit im Terrain und ein scharf auf die Entscheidung drängender
kriegerischer Geist.
In der preußischen Armee ist jedem Armeecorps, also siebenundzwanzig
Bataillonen, ein Jägerbataillon in gleicher Stärke, wie jene haben, beigegeben.
Schon in diesem Zahlenverhältniß liegt für die Jäger das Exclusive ihres
Wirkungskreises, noch mehr tritt dies hervor in dem besondern Werth, welcher
in der Ausbildung der preußischen Jäger auf das Schießen gelegt wird. Eine
besondere Instruction für den Gebrauch der Jäger giebt es in der preußischen
Armee nicht, bei den Manövern ist auch kein Grundsatz in dieser Beziehung
zu bemerken, und jetzt in Schleswig scheint man von der Anwendung der
Jäger, als solcher, trotzdem gerade hier eine Gelegenheit gewesen wäre, fast ganz
abgesehen zu haben. Griesheim, der preußische Taktiker par exLelltiuee, sagt
in seinen Vorlesungen über Taktik „die eigentliche leichte Infanterie sind die
Jäger, die fast nur aus gelernten Jägern bestehen, eine Truppe, die sich wäh¬
rend der hundert Jahre ihrer Dauer unter allen Umständen bewährt hat, so¬
bald dieselbe zweckmäßig verwendet wurde." — Die Kriegsgeschichte weiß aber
von diesem Bewähren nur sehr wenig, wahrscheinlich weil die zweckmäßige Ver¬
wendung so schwierig war. Guntau in seiner Geschichte der Jäger erzählt eine
Menge Erfolge einzelner Jäger. Erfolge, wie sie einzelne Jnfanteristen oft ge¬
nug gehabt haben, aber von der Wegnahme einer Batterie oder selbst von
einem so klaren und entscheidenden Defensivgcfecht. wie Uork mit seinen Füsi¬
lieren bei Altenzaun geführt hat, weiß er nichts. Griesheim sagt auch: „Napo¬
leon hält die Büchse für die unglücklichste Waffe, die man dem Soldaten geben
könnte, und hat den hohen Werth der Jäger weder nach der einen noch nach
der andern Seite je. erkannt." Dieses Urtheil Napoleons läßt sich auch dahin
übersetzen, daß der unglücklichste Soldat derjenige ist, der nur in der Kugel
das Feld seiner Thätigkeit sucht, und diese Ansicht entspricht der Gesammt-
anschauung Napoleons mehr, als der griesheimsche Ausspruch.
Die preußischen Jäger werden neben dem Schießen auch im Tirailliren
und zumal im Felddienst ausgebildet, aber dabei wird auf das Nehmen von
gedeckten Stellungen und auf die Schlauheit ein so großer Werth gelegt, daß
das eigentliche Element, die Thätigkeit, das Drängen auf die Entscheidung
nicht zur Sprache kommt und der Schuß schließlich als der bei weitem wichtigste
Gegenstand übrig bleibt. — Die Folge ist, daß man die Jäger grundsätzlich
nur in der Vertheidigung, bei der Besetzung wichtiger Punkte wie Brücken,
Gehöfte und dergleichen verwendet, daß man also nicht die Forderung stellt,
den Weg zum Feinde zu bahnen, sondern nur diejenige, den Feind vom Wege
abzuhalten, den die Jäger gerade besetzt haben. Thun sie demgemäß im Ge¬
fecht ihre Schuldigkeit, so kommt es bei ihnen zu keinem Gefecht, ihre Resul¬
tate sind also negativer Natur. — Das combinirte preußische Armeecorps in
Schleswig hatte ausnahmsweise bei jeder der zwei Divisionen ein Jägerbataillon.
— Diese Bataillone haben während der ganzen Campagne, das branden-
burger Jägerbataillon 13 Mann, das westphälische aber nur 4 Mann Verlust
gehabt. Die beiden östreichischen Jägerbataillvne aber, welche den Brigaden
Gondrecourt und Nostitz angehörten, das achtzehnte und neunte Bataillon, haben
ersteres bei Obcrselk 88, letzteres bei Oeversee 169 Köpfe verloren. — Hierin
drückt sich die Verschiedenheit des Gebrauchs und der Nützlichkeit dieser Truppen
am besten aus.
Preußen hat in seinen Füsilieren eine dem Namen nach leichte Infanterie,
doch ihre Ausbildung und Anwendung unterscheidet sich nicht von der anderer
Bataillone. Wenn man aber den Gegnern gleich gut vorbereitet gegenüber¬
treten will, so müssen die Füsiliere als solche ausgebildet werden. Das kann
nicht statt haben, so lange man sie mit der übrigen Infanterie vermischt erhält;
dazu ist nothwendig, daß man die Füsiliere von-den übrigen Truppentheilen
trennt und besonders geeigneten Commandeuren, wie vor dem Jahre 1806,
anvertraut. Das würde am geeignetsten geschehen, wenn man die Jägerbataillvne
abschaffte und jedem Armeecorps eine Füsilier- oder besser noch Jägerbrigade von
sechs Bataillonen gäbe, so daß ein Armeecorps einundzwanzig Linien- und sechs
Jägerbataillvne zählte und eine Feldbrigade dann aus sechs Linien, und zwei
Jägerbataillvncn bestände und drei Bataillone zu Festungsbesatzungen und der¬
gleichen überschössen. Die Aufgabe der jetzigen preußischen Jäger könnten die besten
Schützen der einzelnen Bataillone dann immer noch erfülle». Vor Düppel
konnte man die Jäger noch im Großen gebrauchen, wenn man so wie die
Franzosen vor Menin verfuhr, die, wie uns Scharnhorst erzählt, die besten
Schützen dicht an die Festung warfen und die Artilleristen mit großer Corse-
quenz von den Geschützen wegschössen, diese dadurch zum Schweigen brachten
und somit den Sturm vorbereiteten, other die Scharnhorstsche Literatur ist zu
alt, um der jetzt fechtenden Generation gute Lehren zu geben. Man hat eben
bei Düppel keine Anwendung der Jäger gewußt. —
Den drei preußischen Divisionen in Schleswig waren sieben Cavallcrie-
regimenter beigegeben u»d zwar drei Husaren-, el» Dragoner-, ein Ulanen- und
zwei Kürassierrcgimcntcr. Die Zeitungen haben uns von ihnen nur folgende
Thaten berichtet:
1) eine Vorpostenthätigteit vor dem Dannewcrk, in welcher die branden¬
burgischen Kürassiere am meisten hervorgetreten sind;
2) einen Gewaltmarsch von Amis nach Flensburg, ausgeführt von der Re-
servccavallcrie des Corps des Prinzen Friedrich Karl; infolge dessen zwei Escadrons
Husaren und eine Escadron Ulanen das fünf Meilen entfernte Flensburg nach
einundzwanzig Stunden erreichten; die andern aber, ungefähr zwölf Escadrons,
die Erreichung des gesteckten Zieles ganz aufgaben;
3) ein Hervorbrechen einer Abtheilung Garde-Husaren über Kolding hinaus,
wobei als das Bedeutendste und Bemerkenswertheste, wenigstens nach den Zei¬
tungsberichten, sich das Durchgehen eines Offizierpfcrdcs ereignete;'
4) eine Attaque zweier Escadrons des westphälischen Husarenregiments,
infolge dessen S Mann todt und verwundet, 33 Mann des Regiments aber
gefangen genommen wurden.
3) noch einmal ein gewagtes Vorgehen der im vorstehenden Gefecht am
meisten mitgenommenen Escadron und' ein nochmaliger Verlust von zwei Ver¬
wundeten und zehn Gefangenen;
6) einige von den Dänen glücklich ausgeführte Ueberfälle, welche den
Garde-Husaren und den Ulanen 3 Verwundete und 34 Gefangene mindestens
kosteten.
Aus diesen Thaten dürfte man mit Recht schließen, einmal, daß Kavallerie
in geringerer Zahl dasselbe leisten konnte, und daß die Eavallerie, welche zur
Thätigkeit kam, nicht richtig gehandhabt und geleitet wurde. Die mangelnde
Leitung zeigte sich darin, daß man bei der große» Masse von Eavallerie, welche
zur Hand war, die kleinen Abtheilungen unnütz aufs Spiel setzte. Man konnte
überall so stark sein, daß der Sieg gewiß war, man hat ihn sich nirgends ge¬
sichert; man hat kleine Abtheilungen'weit in die feindliche Wirkungssphäre vor¬
gesandt, ohne ihnen einen geschlossenen Rückhalt zu geben, man hat die Eaval¬
lerie in einzelnen Gehöften in der Nähe der Küste einquartiert, ohne sie mit den
nöthigen Vorposten zu umgeben. — Die ungenügende Handhabung der preu¬
ßischen Eavallerie in Schleswig drückt sich nickt nur in der geringen Marsch¬
leistung von Amis nach Flensburg aus, die auf die Glätte der Wege geschoben
wird, aber nicht geschoben werden' darf, da die Lichtenstein Husaren an dem¬
selben Tage auf der Chaussee bei Oeversce attaquirten. Die Oestreichs halten
wohl Vorsorge bei ihren Pferden durch Schärfen getroffen, die Preußen nicht.
— Die ungenügende Handhabung der preußischen Eavallerie tritt noch mehr
hervor in ihren wirklich stattgehabten Attaquen, zu denen die Pferde nicht mit
vollem Athem kamen. Man hetzte sie in langen, unruhigen Ritten ab und
attaquirtc dann ohne Vuechnung der noch vorhandene» Kräfte. Das edle und
schnelle, aber abgetriebene preußische Pferd wurde dann von dem schweren
dänischen Rosse überholt und der Reiter gefangen. In dieser mangelhaften
Oekonomie der Kräfte zeigt sich am vollständigsten die fehlende Kriegserfahrung
und Kriegscrzirhung. Die mangelnde Erfahrung ist ein Unglück, die versäumte
Erziehung aber ist ein schweres Unrecht. Man braucht uur die Thätigkeit der
preußischen Eavallerie jetzt mit der um einige Decennien frühern zu vergleichen,
um die Fehler der neuen Ausbildung festzustellen. Während früher jede Capak-
lerievorstellung in einer Reihe elementarer Bewegungen bestand, unter denen
ein gründlich ausgedehnter Alignementstrab die wichtigste war, denen dann nach
einer kleinen Pause eine in allen Gangarten möglichst lang durchgeführte Attaque
folgte, sieht man heute nur Manöver mit allen möglichen untergelegten künst¬
lichen Gefechtsidccn, Während die Kunst des Cavalleriegefechts nur darin be¬
steht, verdeckt und mit vollen Kräften nahe an den Feind zu kommen und dann
ihn anzugreifen ehe er uns in richtiger Front entgegentritt, bestehen preußische
Cavalleriemanöver in einem Hin- und Herreitcn, Attaquiren und Retiriren.
In den legten Jahren ist in die preußische Cavallerie ein Element der Unruhe
gekommen, das sie von dem richtigen Wege abgeleitet hat. Es sind moderne,
dem Geist der Waffe widersprechende Grundsätze eingeführt, indem die Indivi¬
dualität, das Einzclgcfecht u. tgi. hervortraten. In der Kavallerie ist gerade
das Gcschlossensein — die Vervielfältigung der bewegenden Kraft durch die
Masse, — die wirksame Gewalt. Die Cavallerie muß das Element der Be¬
wegung mit dem der Ruhe verbinden; das Aufdrehen der unausgesetzten Beweg¬
lichkeit verbannt aber die Ruhe. Es muß dagegen die Anerkennung aus¬
gesprochen werden, daß der kriegerische Geist der Waffe neu belebt worden ist.
Den größten Porwurf aber muß man der preußischen Cavallerie in Schles¬
wig aus den wiederholt vorgekommenen Aushebungen in ihren Quartieren
machen. Sie beweisen, daß der Feld- und Borpostendienst, der die bedeutendste
Kriegsthätigkeit der Cavallerie in sich schließt, bei ihr vernachlässigt wurde.
Der seltsamste Schrei der Entrüstung aber, welcher beweist, wie wenig echt
cavalleristischer Geist in dem Heere sich regt, ist der, daß die mangelnde Infan¬
terie an diesen Unglücksfällen schuld sei. Wenn die Cavallerie erklärt, Infan¬
terie zu bedürfen, um sich zu sichern , dann bricht sie über sich selbst den Stab;
denn sie nimmt sich das Gebiet, welches ihr allein heute ein unbegrenztes
Feld der kriegerischen Leistung gewährt, den Sicherheitsdienst für die
Armee. Für das Gefecht ist ihr das Gebiet der Leistungen mindestens sehr
beschränkt.
Damit die Cavallerie im Großen in einem Gefecht wirken könne, bedarf
sie des Attaqucnfeldes, und dies wird ihr durch die stets wachsende Cultur
immer kärglicher zugemessen. Zäune. Hecken, Gräben. Wege, Baulichkeiten
aller Art u. s. w. häufen die Hindernisse der Bewegung für Cavallerie immer
mehr; in den übrig gebliebenen freien Ebenen gewinnt die feindliche Kugel eine
ebenfalls mit der Cultur steigende Herrschaft, welche die Leistungen der Caval¬
lerie ohne Ueberraschung immer unmöglicher macht. — Im directen Angriff
überraschen ist mit Cavalleriekorps nicht 'möglich. Der Angriff des Generals
v. Seydlitz bei Roßbach über die werbener Höhen würde heute nicht mehr über¬
raschen, da die Infanterie feiner besondern Formation mehr gegen die Caval¬
lerie bedarf, sobald ihre Kugel nur auf einige hundert Schritt das Angriffs¬
feld beherrscht. — In der Nähe des Gefechtsfeldes sich aufhalten und gegen
das feindliche Feuer gedeckt bleiben bis zu dem, oft nur kurzen Augenblick,
welcher eine Ueberraschung und einen glücklichen Erfolg ermöglicht, vermag
man auch nicht mit großen Cavallerieabtheilung.er. — Letztere sind aus dem
Verlauf eines Gefechts ziemlich ausgeschlossen und erhalten erst Bedeutung,
wenn das Gefecht die andern Waffen mehr oder minder aufgelöst, stumpfer
und der Ueberraschung zugänglicher gemacht hat. — Kurz in Bezug auf die
Gefechtsthätigkeit ist eine Verminderung der Cavallerie zulässig und muß sich
der Natur nach zunächst bei der Gattung der Cavallerie geltend machen, welche
für das große Gefecht bestimmt ist, bei der schweren Cavallerie, den Küras¬
sierer u. tgi.
Diese ganz abzuschaffen und dagegen die leichte Cavallerie, welcher neben
der Gefechtsthätigkcit der Sicherheitsdienst allein zufällt, auf das überhaupt
ein Cavaliere nothwendige Maß zu vermehren, erscheint gerechtfertigt und
nothwendig.
Dieses Maß der Reduction bei der preußischen Armee zu bestimmen, soll uns
die Vergangenheit helfen. Aus den Erfahrungen der großen napolconschcn Kriege
gingen Grundsätze hervor, nach welche» die preußische Armee 1815 formirt wurde.
Damals erhielt ein Armeecorps acht Kavallerieregimenter und zwar zwei leichte
und zwei schwere Linienregimcnter und vier Landwehrrcgimentcr. Letztere trugen
in ihrer Bewaffnung und ihrer Formation den Stempel der schweren Cavaliere
und machten diese also dreimal so start als die leichte Kavallerie. Dem ent¬
sprach auch die taktische Verwendung, indem die zwei leichten Regimenter als
Divisionscavallerie detaschirt, sechs Regimenter aber in der Cavalleriedivision ver¬
einigt wurden. Zwei leichte Regimenter sind daher für das erste Bedürfniß hin¬
reichend, das doppelte aber mindestens nothwendig, um auf die Dauer den
Anforderungen des Sicherheitsdienstes zu genügen und die sehr angestrengten
Regimenter ablösen zu tonnen, ein Regiment aber ist dann noch erforderlich,
um mit jenen vereint eine Reserve für die Gefechte u. f. w. zu bilden. Fünf
Regimenter also per Armeecorps können dem Bedürfniß auf einem Kriegsschau¬
platz genügen, welcher den Gebrauch der Cavaliere nicht begünstigt, wie der
Süden, Westen und wie z. B. Schleswig. Gegen Osten aber bedarf es min¬
destens sechs Regimenter.
Wollte man in derselben Art wie 1813 formiren, so würden drei Linien-
und drei Landwcbrregimenter genügen. Dem müßte aber vom cavallcristischen
Standpunkt ganz entschieden entgegengetreten werden, weil die erhöhten
Schwierigkeiten des Terrains sowohl als des Gefechts, jetzt viel gewandtere
und sicherere Reiter und viel leistungsfähigere, schnellere und dauerhaftere Pferde
erfordern, als sonst. Der Landwehrreiter aber kann in ersterer Beziehung
nur wenig, das an dergleichen Leistungen aber nicht gewöhnte Landwehrpferd
gar nicht genügen. Selbst Ostpreußen mit seinem vorzüglichen Pferdeschlag
stellt infolge seines ausgedehnten und durch die Eisenbahnen immer lebhafter
werdenden Handels nicht mehr ganz geeignete Landwehrpferde, sie sind entweder
zu jung, oder aber nicht fehlerfrei. Der heutige Standpunkt der Taktik und
der Cultur gestattet nur durchaus gute Cavaliere mit Nutzen zu verwenden und
nöthigt, die ganze Zahl, welche man im Kriege braucht, im Frieden präsent zu
halten. Die Landwehrcavallerie würde nur eine ungeheure Verschwendung des
Materials sein. — Für Preußen würden wir deshalb den westlichen fünf Corps
fünf Regimenter, den östlichen vier Corps aber sechs Regimenter leichter Cavaliere
geben, in denen.man das lange Dienen, die Vermehrung der guten Reiter nach
Möglichkeit unterstützt, und aus denen die abgehenden Reserven nur zur Aus¬
füllung einzelner Lücken im Fall einer Mobilmachung dienen, die übrigen aber
bei dem Armee- und Artillerie-Fuhrwesen zur Verwendung kommen. — Einer
Verstärkung des jetzigen Friedensetats bedarf es nach den bisherigen Erfahrungen
kaum, Will man die Regimenter aber zu größeren Gebrauch, wie wir dies bei
der Infanterie vorgeschlagen, und worauf die jetzigen, geringen Leistungen der
preußischen Cavaliere in Schleswig hinweisen, verwendbar machen, so muß
man die Regimenter zu fünf Escadrons bilden und die eine Escadron als Er¬
satzescadron formiren.
Wenn bei Betrachtung des Streites der Herzogthümer Schleswig-Holstein
mit Dänemark in der Regel das Recht der ersteren aus Trennung von
Dänemark besonders hervorgehoben wird, so ist dies zwar in der Ordnung.
Indeß würde das immer eifriger werdende und fast einmüthige Verlangen der
dortigen Bevölkerung nach vollständiger Separation nach so langem Zusammen¬
leben der beiden von der bisherigen dänischen Monarchie umfaßten Nationen
sich nicht ohne Weiteres erklären, wenn nicht das Recht der Schleswiz-Hol-
steiner zugleich ihr Vortheil wäre. Mit andern Worten: der Kampf der
beiden Theile des jetzt zerfallenden dänischen Gesammtstaats ist keineswegs, wie
man behauptet hat, ein reiner Erbfolgestreit, und ebensowenig ein bloßes Sich-
adstvßcn zweier Nationalitäten, sondern zugleich ein Streit der Interessen, ja die
letzteren spielen jedenfalls bei den Dänen und wohl auch bei einem großen Theil
ihrer Gegner die Hauptrolle. Die Hartnäckigkeit des Widerstandes der Dänen
gründet sich durchaus nicht blos auf ihre verblendete Großmannssucht, sondern
auf die sehr klare Einsicht, daß sie und daß namentlich die Kopenhagener mit den
Lcrzogthümern eine reichflicßende Quelle ihres Wohlstandes verlieren würden.
Und ähnlich verhält sichs mit dem lebhaften Wunsche Schleswig-Holsteins, aus
der Verbindung mit Dänemark gelöst zu werden, nur daß hier Recht und
Interesse Hand in Hand gehen.
Es ist wahr, wir zerstören damit einen Theil der Poesie dieses Kampfes',
aber die Prosa hat in der Politik eine Hauptstelle zu beanspruchen, die Welt
ist einmal so geartet. Nur der proceßsüchtige Bauer etwa streitet sich rein um
des Nechthabcns willen. Das Recht der Herzogthümer aber bedeutet, abgesehen
von der Befriedigung des nationalen Triebes, der wenigstens Holstein und den
Süden Schleswigs zu engerem Anschluß an Deutschland drängt, und abgesehen
von andern idealen Zielen, deren Erreichung es in sich birgt, auch sehr mate¬
rielle, dem für patriotische Gedanken unzugänglichen Gemüthe ebenso wie dem
Patrioten sofort einleuchtende, für den schlichtesten Alltagsverstand greifbare
Vortheile. Es läßt sich nach Zahl und Gewicht bestimmen. Fast bis auf den
Thaler kann angegeben werden, wie viel es. in Silber ausgeprägt, werth ist,
und da ein nicht geringer Theil der Menschen, um nicht zu sagen die Mehr¬
zahl, so eingerichtet ist, daß sie ihr und ihrer Nachbarn Interesse leichter ver¬
stehen und höher halten, als ihre und deren Pflicht, so wird eine ausführliche
Untersuchung der Frage vom Standpunkte des Kaufmanns oder Finanziers
hier nicht am unrechten Orte sein. Und sie wird um so zeitgemäßer erscheinen,
als der sich mehr und mehr nähernde Tag der Abrechnung mit den bisherigen
Partnern der Schleswig-Holsteiner jenseits der Königsau und der Belte eine
gewisse Vorbereitung des größern Publicums nach dieser Seite hin nöthig macht.
Zahlen sollen zwar Vielen langweilig sein, indeß hoffen wir, daß die Resul¬
tate, welche wir gewinnen dürften, dies nicht sein werden, und im Uebrigen
tröste man sich damit, daß das Nothwendigsie nicht immer das Kurzweiligste ist.
„Seit etwa zwölf Jahren, von 1832 bis 1863 sind also aus den Herzog-
thümern reichlich zweiundfünfzig Millionen preußische Thaler auf Nimmerwieder-
kehr nach Dänemark gewandert. Wer das noch nicht weiß, der wird jetzt ein¬
sehen, daß der Ruf: Los von Dänemark! zugleich die Bedeutung hat: Knopf
auf den Beutel!"
So ließ sich ein Artikel vernehmen, welcher vor Kurzem durch die kleine
Presse der Herzogthümer lief und durch das soeben angeführte Ergebniß einer
Vergleichung der Einnahmen derselben mit den für sie verwendeten Ausgaben
vielfach Aussehen machte. Der Eine und der Andere mochte darüber den Kopf
schütteln und meinen, der Verfasser habe wohl doppelt gesehen oder sich bei
der Subtraction geirrt. Allein der Aufsatz floß ans guter Quelle, und wenn
man ihm vorwerfen konnte, gewisse Ausgaben, welche eine eigne Einrichtung
der Herzogthümer künftig erfordern wird (für Civilliste, Armee, Marine u. d.)
nur beiläufig berücksichtigt zu haben, so traf dieser Tadel nur in geringem
Maße zu, da v olkswirth sah af euch betrachtet jene Ausgaben, indem ihr
Betrag im Lande bleibt, großentheils wieder zu Einnahmen werden müssen,
wo nicht direct für den Staat, so doch für das Volk und hierdurch mittelbar
auch für jenen.
Im Folgenden prüfen wir auf Grund von Unterlagen, die uns von
durchaus kundiger Hand geliefert wurden, die Art, wie Schleswig-Holstein bis¬
her von der kopenhagner Politik ausgebeutet wurde, gründlicher, als es in
jenem Artikel geschehen konnte, und berücksichtigen dabei zugleich die vor 18S2
liegende Vergangenheit, zunächst um darzuthun, daß der volksthümliche Zuruf
„Knopf aus den Beutel! und auch darum los von Dänemark!" seinen guten
Grund hatte, dann um Material zu geben für die jetzt hoffentlich nicht mehr
ferne Abrechnung mit Dänemark.
Das Soll der Herzogthümer bei einer solchen schließlichen Auseinander¬
setzung würde, aus dem von ihnen billigerweise zu übernehmenden Antheile der
Staatsschuld der dänischen Monarchie bestehen, wobei der Stand derselben beim
Tode Friedrichs des Siebenten als Norm anzusehen sein würde. Ende März
1863 betrug diese Schuld (mit Hinweglassung der Schillinge) 95.734,337 Thaler
Rcichsmünze oder ungefähr 71,800,783 Thaler preußisch.
Die Gegenrechnung der Herzogtümer, das Haben derselbe aber würde,
wenn wir kaufmännisch verfahren dürfen und keine Verjährungen anzuerkennen
haben, folgende Posten ausweisen:
1) Betrag der berüchtigten Uebcrvortheilung des deutschen Theils der
Monarchie durch die Reichsbank-Verordnung von 1813;
2) Werth der nach „Pacification" Schleswig-Holsteins widerrechtlich nach
Dänemark entführten Waffen und Geschütze, des übrigen Materials der Armee
und der Marine;
3) Antheil, welcher den Herzogtümern an sämmtlichen Staatsactiven zu¬
steht; endlich
4) Rückforderung der unter der Finanzverfassung von 1833 denselben
wider Recht und Gebühr abgenommenen Steuern und sonstigen Beiträge zur
Gesammtstaats-Wirthschaft.
Der Posten Ur. 1 gründet sich auf ein Plünderungsverfahren, wie es in
der Geschichte civilisirter Nationen, selbst in den Annalen Oestreichs, die sonst
eine reiche Auswahl an schmachvollen Finanzoperationen aufzuweisen haben,
seines Gleichen nirgend findet. Die Geschichte dieses die Regierung Friedrich
des Sechsten für alle Zeiten schauderten Raubes am Vermögen seiner deutschen
Unterthanen ist in der Kürze folgende. Im August 1812 bemächtigt sich die
kopenhagncr Regierung des Silbervorralhs der Schleswig-holsteinischen Speciesbank
in Altona und läßt denselben, obgleich ein feierliches königliches Versprechen
solchem Eingriff entgegensteht, von dort nach Rendsburg abführen. Dieser
Silbervorrath diente zur Fundirnng des Schleswig-holsteinischen Papiergeldes,
und die Folge der Maßregel ist die Entwerthung desselben. Wenige Monate
später erfolgt ein zweiter, noch verhängnißvollerer Coup, gegen den der eben¬
erwähnte erste fast wie ein Scherz aussieht. Durch Verordnung wird das tief¬
zerrüttete Geldwesen Dänemarks ohne Weiteres mit dem bisher wohlgeordneten der
Herzogthümerzusammengeworfen. Am 5. Januar 1813 ergeht unter dem Vorgeben,
es solle eine gemeinschaftliche Staats- oder Reichsbank errichtet werden, der könig¬
liche Befehl, dieses Institut aus allen Theilen der Monarchie zu fundiren und
das Königreich mit 19, die Herzogthümer mit 14 Millionen dazu heranzuziehen,
wofür jeder der beiden Theile eine Abtheilung der Bank erhalten soll. Zur
Beitreibung der Fundirung erklärt die Regierung sechs Procent des Werthes
alles Grundbesitzes für der Bank verhaftet. Die dänischen Grundeigentümer
klagen darauf, dies nicht tragen zu können, und so werden ihnen 12V2 Mil¬
lionen erlassen, die Herzogthümer dagegen müssen nicht nur den vollen Belauf
der ihnen ursprünglich aufgebürdeten 14 Millionen, sondern auch zur Ersetzung
der den dänischen Nachbarn erlassenen 12V2 Millionen noch weitere S Mil¬
lionen zahlen.
Und nicht genug mit solcher Uebervvrtheilung, auch die Schleswig-holstei-
nische Abtheilung der Bank wurde gegen das Versprechen des Königs und trotz
wiederholter Petitionen aus den Herzogthümern nicht gewährt. Ja noch mehr:
im Jahr 1818 wandelte man jene weit überwiegend durch den deutschen Theil
der Monarchie fundirte gemeinschaftliche Reichsbant in eine dänische Privatbank
um. Die Grundbesitzer, welche zu ihr hatten beisteuern müssen, wurden zu
Actionären erklärt, mit Benutzung obwaltender Irrthümer aber und durch zwei¬
deutige Fassung des betreffenden Gesetzes wußte man es in Kopenhagen zu er¬
möglichen, daß den Grundbesitzern der Herzogthümer mit geringfügigen Aus¬
nahmen ihr Actienrecht abgesprochen wurde. Die Folge war, daß in Schleswig-
Holstein während der Jahre 1813 bis 1818 .Tausende an den Bettelstab geriethen,
und daß über ganze Dorfschaften der Concurs erkannt werden.mußte").
Die Herzogthümer hatten zu der Bank 19, Dänemark, wie wir sahen,
nur 6V2 Millionen beigetragen. Den Raub an der altonacr Bank ungerech¬
net hat also die Benachtheiligung Schleswig-Holsteins bei dieser Aufeinander¬
folge von alles Gerechtigkeitsgefühl versöhnenden Transactionen den Dänen
mindestens 14V2 Millionen eingetragen, und wenn die Schleswig-Holsteiner
diesen Posten jetzt vielleicht nicht mehr einklagen können, so wissen sie mindestens,
daß er ihnen dienen kann, die eine oder die andere Gegenrechnung, welche
dänische Schlauheit und Unverschämtheit ebenfalls aus älterer Zeit gegen
andere Posten hervorzusuchen sich aufgelegt fühlen.mag, mit Erfolg abzuweisen.
Wir kommen zu dem Posten Ur. 2, der aus einer kaum weniger laut
schreienden Ungerechtigkeit der dänischen Regierung beruht, und von dem man
schwerlich wird behaupten wollen, daß er verjährt sei. Bei den Verhandlungen
über die „Pacification" der Herzogthümer nach dem vorigen Kriege erklärten
die Commissäre der deutschen Großmächte der Statthalterschaft: „das Kriegs¬
material (der Schleswig-holsteinischen Armee) verbleibt unter deutschem Schutze
im Besitze des Landes." Diese Zusage aber wurde, wie viele andere, von den
Dänen, als man ihnen die Herzogthümer schließlich übergab, nicht adoptirt und
von Preußen und Oestreich deren Verletzung nicht gehindert. Dänemark nahm
den Schleswig-Holsteinern nicht nur in jenem Material ihr wohlerworbenes
Eigenthum, sondern nöthigte sie auch, die dafür gemachten Schulden allein zu
bezahlen, ja legte ihnen sogar SiWPfticht auf, die von Dänemark zur Bestrei¬
tung der Kriegskosten cvntrahirten Schulden verzinse» und tilgen zu Kaiser.
Das gesammte Kriegsmaterial, für eine Armee von 48,000 Mann hinreichend
und durchweg im beste» Stande, Geschütze, Handfeuerwaffen, Uniformen, Sät¬
tel, Decken. Munition, Lazarethgegcnstände, dazu die Flotille — alles wurde
von den Dänen als Kriegsbeute behandelt, die es in keiner Beziehung war,
da die Herzogtümer nicht Dänemark unterlegen waren. Es wäre daher nur
eine Forderung der Gerechtigkeit, wenn bei der bevorstehenden Abrechnung
Dänemark angehalten würde, diesen Raub, soweit er in imwra noch Vorhäute»
ist*), herauszugeben und sich für den Nest mit der von den Herzogtümern dafür
bezahlten Summe belasten zu lassen.
Indeß würde die Berechnung ihre Schwierigkeiten haben, und so wird man
sich mit einer theilweisen Entschädigung zufrieden geben müssen, deren Feststellung
dafür um so leichter zu bewerkstelligen ist. Jenes Kriegsmaterial kostete den
Schleswig-Hvlsteincrn circa 6 Millionen Thaler NeichSmünzc. Dänemark nahm
nicht nur die betreffenden Ausrüstungsgcgcnstände. Schiffe u. s. w. weg, sondern
beseitigte auch l'nrz und bündig die zum Ankauf derselben und zur Deckung der
Kriegskosten contrabirtcn Schulden, indem es die betreffende Anleihe durch
einen Machtspruch für ungiltig erklärte. Die Zettclschuld von 2,400.000 Thlrn.
mußte Holstein allein aufbringen, und die zuletzt eingezahlte Rate der Ablösung
dieser Schuld, 240,000 Thlr. hat wiederum die dänische Regierung eingezogen,
dem Herzogthum Holstein aber die Zettel im Betrag von 186,000 Thlrn. ge¬
lassen, die dasselbe nun noch einmal bezahlen muß. Diese 2,S86,000 Thlr.
als Aequivalent für das entführte Kriegsmaterial zu berechnen, hieße sich offen¬
bar großer Billigkeit und Rücksichtsnahnic befleißigen, und da gedachte Summe
ganz in gleicher Weise pro rata von den einzelnen Landestheilen zu tragen
gewesen wäre, wie die Schleswig-Hotsteiner genöthigt wurden, die vom König¬
reiche zu ihrer Bekämpfung contrabirtcn Schulden der Jahre 1848 bis 1850
mitzutragen, so werden wir uns erlauben dürfen, den auf Dänemark fallenden
Antheil an derselben — er beträgt 1.629,180 Thlr. — bei der schließlichen
Auseinandersetzung mit den kopenhagncr Politiker» und Finanzmännern in
Gegenrecbnung zu stellen.
In Betreff des dritten Postens der Forderungen, welche Schleswig-Hol-
stein bei der Abrechnung mit Dänemark, seinem bisherigen Compagnon, geltend
machen kann, dürfen wir uns kurz fassen. Die Activen der bisherigen däni¬
schen Monarchie, welche bei Auflösung des Compagnicgeschäfts pro rtrw zu
vertheilen sind, bestehen aus den vier He^Mposten-. Baarforderungen (mit
Hinweglassung der Schillinge, wie später immer) 4,187,077, Oeresundfond
31,199,293. Reservefond 4.445.705. gemeinschaftliche Institute und Fonds circa
16,150,385 Thlr. Ncichsmünze. Der Termin, nach welchem diese Summen berech¬
net sind, ist das Ende des Finanzjahres 1862/63. Die Pier Posten zusammen be¬
tragen 45,982,460 Thlr. Ren.. und diese Summe enthält zu 37 Procent das Eigen¬
thum der Herzogtümer, welche somit an den Activen der bisherigen Gesammt-
monarchie einen Antheil von 17,013,510 Thlr. Ren. zu beanspruchen haben.
Hierzu kommt noch der Antheil derselben an dem Material der Armee und der
Flotte, den wir indeß aus verschiedenen Gründen, unter anderem, weil der
Werth dieses Materials sich nur annähernd in Zahlen ausdrücken läßt, und
weil ein Theil der Geschütze, Waffen und Schiffe unter Ur. 2 fällt, hier un¬
berücksichtigt lassen. Dagegen sind zu obiger Summe noch die speciellen Kasscn-
oebalte der Herzogtümer hinzuzurechnen, welche für Schleswig 1.257,874, für
Holstein 827.486 Thlr. Um. betragen, und so beläuft sich der beiden gebührende
','lasen an den erwähnten Activen im Ganzen auf 19,098,871 Thlr. Neichsmünze.
Der nun folgende vierte Posten des Guthabens der Herzogthümer wird
uns länger beschäftigen. Es handelt sich hier um die Prägravation Schles¬
wig-Holsteins seit 1853. Schon wenn man den Gesammtstaat als zu Recht
bestanden anerkennt, sich also auf den Standpunkt einer gesammtstaatlichen
Finanzpolitik stellt, wird man bei genauerem Zusehen sehr bald inne, daß die
Herzogtümer erheblich benachtheiligt worden sind. Weitaus größer aber er¬
scheint der denselben zugefügte Schaden und andrerseits der für Dänemark be¬
rechnete Gewinn, wenn man von dem einzig richtigen Grundsatz ausgeht, nach
welchem Schleswig-Holstein zum Königreiche in dem Verhältniß einer bloßen
Personalunion hätte stehen sollen. Zwar hätten die Herzogthümer bei An¬
wendung dieses Grundsatzes auf die Finanzpolitik gewisse Einnahmen und Aus¬
gaben (unter tel.leeren Civilliste und Gesandtschaften) mit dem Königreich gemein¬
schaftlich haben können, und hätte man diese etwa nach dem Verhältniß der
Kopfzahl berechnen mögen. Dies hätte aber nur in Betreff solcher Einnahmen
und Ausgaben der Fall sein dürfen, bei denen sich nicht, bei den Einnahmen
der Ursprung, bei den Ausgaben die Verwendung speciell für den einzelnen
Landestheil ermitteln läßt. Alle andern hätten als besondere Einnahmen und
Ausgaben der Herzogtümer oder des Königreichs berechnet werden müssen.
In der geschickten Verschiebung und Verdunkelung dieses Verhältnisses von
Seiten der dänischen Finanzminister liegt die Hauptbcnachtheiligung Schleswig-
Holsteins von 1853 bis 1863, die wir jetzt näher prüfen werden.
Nach der Zahlung von 1860 vertheilte sich die Bevölkerung der dänischen
Monarchie über die Länder, aus denen sie bestand, wie folgt: Aus das König¬
reich kamen 1,600,500 Seelen oder 62,»g Procent, auf Schleswig 409,907 S,
oder 16,^ Proc.. auf Holstein cMich 536,133 S. oder 21.<,g Proc. Nach dem
Census von 1855 hätten sich die Verhältnisse so gestellt, daß auf Dänemark
63,Z2, auf Schleswig Is.»,, auf Holstein 20,^ Proc. gekommen wären. Die
dänischen Finanzmänner aber rechneten, als sie die Zuschüsse zu den gemein¬
samen Ausgaben feststellten, wesentlich anders, in dem sie die Verhältnisse 60,
17 und 23 annahmen. Wir werden im Folgenden alle auf die Volkszahl zu
reducirenden Beträge aus die durchschnittlich nahezu genauen ganzen Zahlen 63,
16 und 21 beziehen. Und nun sehen wir einmal zu, wie in einem gesammt-
staatlichen Finanzjahre die Beiträge zu den Einnahmen und Ausgaben sich ver¬
halten haben, und zwar wählen wir zu diesem Zwecke das letzte Jahr aus,
über welches Rechnung abgelegt ist.
Im Finanzjahr 1862/63 betrugen die gemeinschaftlichen Ausgaben
15,123,748 Thlr. Um.. und -da bei den gemeinschaftlichen Einnalnnen und
Ausgaben das Kopfzahlverhäitniß maßgebend war, so hätte von dieser Summe
Dänemark 9,527.961, Schleswig 2,419.833, Holstein 3,175.953 Thlr. aufzu¬
bringen gehabt. Es haben aber in Wirklichkeit, die Uebelschüsse der Domänen
und die Zuschüsse aus den besondern Einnahmen eingerechnet, Dänemark nur
8,906,614, Schleswig dagegen 2,756.095 und Holstein 3.461,039 Thaler zu
den gemeinsamen Ausgaben beigetragen. Folglich steuerten dazu, selbst wenn
wir einstweilen annehmen, die Vertheilung nach Kopfzahl sei gerecht gewesen,
und wenn wir ferner annehmen, die Ueberschüsse der Domänen hätten dem
Gesammtstaat gehört, Dänemark circa (wir führen, wie bemerkt, die Schillinge
überall nicht mit auf, woraus man sich die kleinen Differenzen, die hier und
im Folgenden sich in den Zahlenresultaten ergeben können, erklären wolle)
621.347 Thlr. zu wenig. Schleswig dagegen 336,262 und Holstein 285,085 Thlr.
zu viel. Dagegen vermehrte sich in dem gedachten Rechnungsjahre der Kafsen-
behalt des Königreichs um 1,163,264, der des Herzogthums Schleswig nur um
243,926. der Holsteins nur um 234,123 Thlr.
Bei gleichmäßiger Vertheilung der Einnahmen und Lasten auf alle Theile
hätten aber von der Gesammtsumme der Staatsersparnisse — sie betrug, die
Schillinge ungerechnet, 1,641,314 Thlr. — auf Dänemark nur 1,034,028. auf
Schleswig dagegen 262,610, auf Holstein 344,676 Thlr. fallen müssen, und so
sehen wir, daß sich der Kassenbehalt in dem ersten der drei Länder um
129,236 Thlr. zu viel, im zwcitgenannten um 18,683 und im dritten um
110.552 Thlr. zu wenig gesteigert hat.
Ferner aber ergiebt sich, daß die Besteuerung in den Herzogtümern, auch
wenn man von gewissen Lasten absieht, welche hier von den Gemeinden ge-
tragen werden, während sie in Dänemark in den Staatssteuern mitenthalten
sind, höher ist, als im Königreiche. Im Ganzen wurden nämlich an gemein¬
schaftlichen und besondern Einnahmen durch Steuern und andere Abgaben in dem
gedachten Finanzjahre von Dänemark 14,564^626, in Schleswig, 4,164,435, in
Holstein 5,258,229 Thlr. aufgebracht, und dies auf die Seelenzahl nach dem
letzten Census vertheilt, giebt per Kopf in Dänemark 9 Thlr. Schill., in
Schleswig 10 Thlr. lO'/s sah., in Holstein 9 Thlr. 77^2 sah.
Das merkwürdige Ergebniß, welches wir mit dieser Nachrechnung gewinnen,
lautet: Dänemark brachte nach seiner Volkszahl indem in Rede stehenden Finanzjahr
Die Summe von 750,584 Thlr. ist also der kleinste Betrag der Prä-
gravativn, welche die Herzogtümer im Jahre 1862/63 durch die dänischen
Finanzmänner erlitten haben. Der kleinste; denn daß jene Summe noch lange
nicht die volle Beeinträchtigung des deutschen Partners in dem nun der Auf¬
lösung entgegengehenden Compagniegcschäft durch den dänischen angiebt, ist
leicht zu beweisen und aus folgenden Andeutungen klar ersichtlich.
Erstens absorbiren die Berwaltungötostcn der Domänen im Königreiche
eine weit höhere Quote der Bruttoeinnahme wie in den Herzogthümern: dort
48. in Schleswig nur 23, in Holstein 33 Procent, und es fließt also >u Däne¬
mark fast die Hälfte, in Schleswig noch kein Viertel, in Holstein kein volles
Drittel jener Einnahme sogleich wieder in das Land zurück.
Sodann.haben die Herzogthümer eine Anzahl von Abgaben zu entrichten,
deren in der Staatsrechnung keine Erwähnung geschieht, und, von denen die
Einwohner Dänemarks nichts wissen. Dahin gehören die Beiträge zur Erhaltung
der Deiche in'den Marschdistricten. die Unterhaltungskosten des Schleswig-hol-
steinischen Taubstummen-Instituts und der Strafanstalten, die Cbaussecsteuer, die
Kosten für die Stände (welche für Dänemark aus der Staatskasse bestritten
werden) und verschiedenes Andere.
Endlich aber ist in Betracht zu ziehe», daß ein sehr bedeutender Theil der
von den Schleswig-Holsicinern bisher sür die sogenannten gemeinschaftlichen Aus¬
gaben zu leistenden Beiträge nicht ihnen wieder zu Gute kommt, sondern den
Dänen, vorzüglich den Kopcnhagnern zufließt, mit andern Worten, daß sie
zwar mit zahlen müssen, aber nicht mit genießen dürfen.
Letzteren Bcschwerdepnnlt werden wir sogleich noch etwas genauer ins
Auge fassen, wenn wir die Prägravation der Herzogthümer durch die Dänen
unter einem andern Gesichtspunkte als dem der gesammtstaatlichen Finanzpolitik
betrachten. Bleiben wir noch für einen Augenblick bei der letzteren stehen, so
kann die soeben sür das Finanzjahr 1862/63 hcrausgerechnete Benachtheiligung
Schleswig-Holsteins von 750,584 Thlr. nicht ohne Weiteres als Maßstab für
eine Durchschnittsrechnung in Betreff der zehnjährigen Periode von 1853 bis
1863 angelegt werden, und zwar deshalb nicht, weil die Julräder, besonders
bei den Domänen, und die Verrechnungen der Kassenbehalte in den verschiedenen
Jahren verschieden waren. Man würde sich also die Mühe geben müssen, die
Beträge der einzelnen Finanzjahre vor 1862/63 ebenfalls festzustellen, und dies
ist von der kundigen Hand, die uns das Material zu diesem Aufsatz zusammen¬
trug und sichtete, mit einer Sorgfalt geschehen, die nichts zu wünschen übrig¬
läßt, deren Arbeit wir aber hier nur in ihrem Endresultat mittheilen können.
Die erste der betreffenden Tabellen zeigt zuerst, wie es sich mit den nach
Kopfzahl zu berechnenden Gesammtstaats-Einnahmen mit Einschluß der Domänen-
Einnahmen in Wirklichkeit verhalten hat. Wir ersehen daraus, daß Dänemark,
statt von der Gesammtsumme der Einnahmen in der zehnjährigen Finanzperiode
seinen Antheil mit 11.829,092 Thlr. aufzubringen, nur 4,728,550 Thlr.. also
7,100,541 zu wenig gezahlt hat, wogegen Schleswig 4.119.716 und Holstein
2,980,725 Thlr. zu viel bezahlt haben. Dabei blieben von den Brutto¬
einnahmen des Königreichs mehr als fünfzig, von denen Schleswigs nicht viel
über fünfundzwanzig, von denen Holsteins ungefähr sechsundzwanzig Procent
als Verwaltungskosten im Lande.
Ferner hätte Dänemark zu den gemeinschaftlichen Ausgaben, die nicht durch
die gemeinschaftlichen Einnahmen gedeckt wurden — ein Ausgabcnthcil. welcher
nach der zweiten uns vorliegenden Tabelle in den in Rede stehenden zehn Jahren
34,085,077 Thlr. betrug - nach Kopfzahl 21,473,598 Thlr. aufbringen müssen;
es zahlte aber 830,549 Thlr. weniger, wogegen Schleswig 284,093 und Hol¬
stein 546,455 THU. mehr aufbrachten, als sie bei einer gerechten Vertheilung
zu zahlen nöthig gehabt hätten.
Endlich hat sich uach der dritten uns übergebenen Tabelle der Kasscn-
vehalt des Königreichs und nach Einführung des gemeinschaftlichen Kasscnbehalts
von Schleswig-Dänemark auch der Kasscnbchalt Schleswigs verhältnißmäßig zu
stark Vermehrt; denn Dänemark ersparte in jener zednjährigen Periode 393.648,
Schleswig 199,319 Thlr. zu viel. Holstein aber 592.968 Thlr. zu wenig.
Legt man die im Vorhergehenden besprochnen drei Factoren der Prä-
gravation zusammen. so gewinnt man folgendes Ergebniß: Der Partner Däne¬
mark profitiren, indem er durch seine Domänen nach Verhältniß seiner Be¬
völkerung zu wenig ausbrachte, zu geringe Zuschüsse leistete und zu viel an
Kassenbehalt erhielt. 8,324.739 Thlr. Schleswig dagegen hatte einen Schaden
von 4.204,490. und Holstein wurde um die Summe von 4.120,149 Thlr. über-
vortheilt. Beide Herzogthümer haben deshalb jene 8.324.739 Thlr. von Däne¬
mark mit Fug zurückzuverlangen, und diese Forderung ist die kleinste Summe,
auf welche dieselben als auf eine aus ungerechter Finanzverwaltung während
der Jahre 1853 bis 1863 entsprungene. Anspruch zu machen haben.
Wir ließen bisher die gesammtstaatliche Finanzpolitik im Princip gelten
und beschränkten uns darauf, zu zeigen, daß Schleswig-Holstein in dem eben
erwähnten Zeitraum, selbst angenommen, alle gesamtstaatlichen Einnahmen
seien mit Ausnahme der Domänen-Julräder und der Zuschüsse genau der Kopf¬
zahl entsprechend vertheilt gewesen, in diesen beiden Posten allein schon die
bedeutende Summe von mehr als acht Millionen Thalern Reichsmünze verloren hat.
Die Verluste der Herzogthümer schwellen aber zu weit größeren Summen an,
wenn wir bedenken, daß die Politik, welche denselben eine Realunion mit dem
Königreich aufnöthigte, sie infolge dessen an Ausgaben theilzunehmen zwang,
die überwiegend dem dänischen Theil der Monarchie und vor allem der Stadt
Kopenhagen zu Gute kamen.
Betrachten wir die sogenannten Gesammtausgaben nach ihrer wahren Be¬
ziehung zu den einzelnen Landestheilen, so wird sich das Ergebniß, zu dem
wir gelangen werden, allerdings nicht in einer runden Zahl ausdrücken lassen.
Denn während wir bei obiger Kritik der Einnahmen schließlich genau wußten,
um wie viele Millionen Bankthaler weniger die Herzogthümer im Lauf von zehn
Jahren hätten besteuert werden sollen, zerfallen die A u s g a b e n in verschiedene
Classen, und die Natur einiger derselben schließt eine Nachrechnung bis auf
Thaler und Schilling aus.
Die Ausgaben theilen sich:
1) in solche, für die von Rechtswegen die Schleswig-Holsteincr gar nicht
oder nur in geringerem Maße, als es geschah, besteuert werden durften, wie
z. B. die Pensionsbeiträge, die ohne Schaden nach den Landestheilen gesondert
werden konnten; die hierauf sich gründende Benachteiligung der Herzogthümer
läßt sich in runden Summen angeben;
2) in solche, welche die Herzogthümer als selbständige Staaten zwar auch
hätten tragen müssen, aber mit dem sehr wesentlichen Unterschiede, daß die be¬
treffenden Summen großentheils im Lande verzehrt worden wären; dahin ge¬
hören z. B. die Civilliste, die Apanagen, die Ministerien und zum Theil das
Heer; die wirthschaftliche Prägravation Schleswig-Holsteins dadurch, daß
die Quote, welche es zu diesen Ausgaben steuerte, nicht dem Lande (oder doch
nur zu einem sehr kleinen Theil dem Lande) wieder zufloß, sondern in Däne¬
mark verausgabt wurde, läßt sich nur annähernd in Zahlen ausdrücken und
nur indirect zu einer Forderung formuliren;
3) in solche, die unter allen Umständen von den Herzogthümern. gleich¬
viel wie weit sie selbständig gemacht werden, aufzubringen sind. Dahin gehört
die Verzinsung und Tilgung der Staatsschuld.
Nach diesen Gesichtspunkten prüfen wir in der Kürze die elf Rubriken des
Contos der gemeinschaftlichen Ausgaben in der Staatsrechnung des Finanz¬
jahres 1862/63. ,
Unter Ur. 1. unsrer drei Classen fallen die 1,313.963 Thlr. des Pensions¬
wesens und die 191.073 Thlr., die wir unter der Rubrik „Verschiedene Aus¬
gaben der Monarchie" für die Befestigung Kopenhagens nach der Seeseite an¬
geführt finden. Beide Posten enthalten eine beträchtliche Benachtheiligung der
Herzogthümer; denn die Pensionen für gewesene Beamte und für Wittwen in
Holstein betragen nur 151,786 Thlr. . die in Schleswig allerhöchstens ebenso
viel, und so müßte, wenn es mit rechten Dingen zuginge. Dänemark für seine
Pensionäre ungefähr eine Million aufbringen; nack der Kopfzahlberechnung der
gesammtstaatlichen Finanzmänner trägt es aber nur 827.000 Thlr. bei, profitirt
daher auf Kosten der Herzogthümer circa 183,000 Thlr. Zu der Fortification
Kopenhagens sollten die Schleswig-Holsteiner gegen 70.700 Thlr. abgeben, selbst¬
verständlich nicht in ihrem Interesse, sondern direct gegen dasselbe. Da dieser
Posten ein extraordinärer ist, so sehen wir ihn für die Summirung der zehn¬
jährigen Finanzperiode nur mit dem zehnten Theile an, also mit 7,070 Thlr.
Die zweite unsrer Classen von Ausgaben umfaßt zunächst die Civilliste:
800,000 Thlr.. von denen den Herzogthümern nur das Wenige wieder zu¬
geflossen ist. was bei den kurzen Besuchen verausgabt wurde, die der König
gelegentlich den Schleswigern machte. Man ist daher berechtigt, so ziemlich die
ganze auf die Schleswig-Holsteiner fallende Quote von 296.000 Thlr. als diesen
wirthschaftlich verloren gegangen und von den Dänen gewonnen anzusehen.
Ferner die Apanagen: 368.460 Thlr.. von denen 290.000 in Dänemark, etwa
60,000 in den Herzogthümern und die übrigen Summen anderwärts verzehrt
wurden. Wirthschaftliche Prägravation Schleswig-Holsteins zu Gunsten Däne¬
marks daher nach Kopfzahl berechnet: 73,200 Thlr. Weiter der Geheime Staats¬
rath: SS,500 Thlr., nur mit Dänen besetzt und in Dänemark domicilirend;
wirthschaftlicher Schaden für die Herzogthümer 37 Procent der Summe, also
20.535 Thlr. Sodann das Ministerium des Auswärtigen: 224,717 Thlr.
ebenfalls ganz in dänischen Händen, daher wirthschaftliche Benachtheiligung
Schleswig-Holsteins im Betrag seines ganzen Antheils, der sich auf 83,146 Thlr.
beläuft.
Noch andere Posten dieser Gattung sind endlich: das Kriegs-, das Marine-
und das Finanzministerium. Das erste erforderte 4,388,981 Thlr., und die in
dieser Summe begriffnen Ausgaben verlangen eine verschiedene Beurtheilung.
Wenn Schleswig-Holstein als Miteigenthümer des gesammten vorhandenen Kriegs¬
materials gelten will, so muß es auch zu den Ausgaben mitsteuern, welche die
Conservirung desselben erfordert, und gleiches gilt von den militärischen
Vildungsanstalten. Die Herzogthümer haben zwar hiervon bisher keinerlei
Nutzen, vielmehr Schaden gehabt, doch ist von einer Vertheilung des vorhandenen
Materials einige Entschädigung zu hoffen. Anders steht es mit den Kosten für
die Unterhaltung des Personals der Armee; denn unzweifelhaft ist hiervon den
für Löhnung, Gage, Naturalverpflegung der Truppen u. d. in. ausgegebenen
Summen ein ganz unverhältnißmäßig großer Theil dem Königreiche wieder zu¬
geflossen. Indeß entzieht sich dieser Gegenstand der Berechnung, und so müssen
wir davon absehen, einen Anspruch darauf hin zu erheben. Um so berechtigter
aber ist man, die auf die Herzogthümer fallende Quote für das Kriegsministerium
selbst, für dessen Beamte, für Quartiergelder. Reiseunterstützungcn, besondere
Honorare u. s. w. als fast völlig den Herzogthümern entzogen zu veranschlagen,
da mit kaum nennenswerthen Ausnahmen nur Dänen von diesen Posten Gewinn
hatten. Betragen die hier in Rede stehenden Ausgaben nach der Staatsrechnung
etwa 1,060.000 Thlr.. so kommen auf den Antheil Schleswig-Holsteins circa
392,000 Thlr. — In Betreff der 2.538,794 Thlr., welche das Marineministerium
erforderte, gilt dasselbe, wie von den Ausgaben für das soeben betrachtete
Departement. Nur ist auch die Löhnung der Flvttenmannschaft beinahe ganz
dem Königreiche zu Gute gekommen. Die Pcrsonalausgaben für Beamte, Offiziere
und Matrosen betragen mit Einschluß der Naturalverpflegung ungefähr
700.000 Thlr., und so setzen wir die wirthschaftliche Prägravativn der Herzog¬
thümer zu circa 239,000 Thlr. an. Die übrigen Kosten sind im Wesentlichen
Unterhaltungskosten der Flotte und der zu ihr gehörigen Anstalten, deren Be¬
stände bei der Alirechnung dein ausscheidenden Schleswig-holsteinischen Compagnon
der Firma Dänemark und Schleswig-Holstein pro rat», seiner 37 Procent aus-
zuantworten sein werden. — Von den 407,690 Thlrn.. welche nach der Staats¬
rechnung auf das Finanzministerium fallen, sind die circa 360,000 Thlr., die
für Beamte und sonstige Angestellte im Ministerium, andere Beamte und Zu¬
schüsse zur Pensionirung von Militärs berechnet wurden, im .Königreich verzehrt
worden, und so schlagen wir den hieraus den Herzogthümern erwachsenden wirth¬
schaftlichen Schaden auf etwa 133,200 Thlr. an.
Die Ausgaben der dritten Classe: Verzinsung und Tilgung der Staats¬
schuld: 4,091,857 Thlr. kommen, wie bereits bemerkt, nach Verhältniß der
Seelenzahl den Herzogthümern wie dem Königreiche in gleicher Weise zu.
Und jetzt ist es Zeit, die Ergebnisse dieser Betrachtung des Ausgaben-
Contos von 1862/63 zu addiren, was folgendes erbauliche Exempel giebt:
Die wirthschaftliche Venachtheiligung, die sonach im Verlauf der zehnjährigen
Finanzperiode von 1853 bis 1863 die gewaltige Summe von 12,570,800 Thlr.
erreicht hätte, wird sich bei der Abrechnung nicht wohl geltend machen lassen.
Dagegen sind wir entschieden berechtigt, die directe Prägravation, welche die
Herzogthümer einmal durch die oben angeführte ungerechte Pofiinmg der Ein¬
nahmen, dann durch falsche Postirung der Ausgaben erlitten haben, und welche
in ersterer Beziehung während jener zehn Jahre einem Schaden von 8,324,739,
in letzterer einen von 2,900.700 Thlr. verursachte, in die Gcgenrechnung auf
zunehmen, welche die Herzogthümer den Dänen bei Auflösung ihrer Geschäfts¬
verbindung machen können.
Die Rechnung beider Theile wird sich, wenn jene Transaction eintritt,
nach dem Gesagten folgendermaßen stellen:
Sie haben aber nach dem Obigen in Gegenrech¬
nung zu stellen:
Unser Endresultat lautet demnach:
1) Dänemark hat die gesammte Staatsschuld für sich zu be¬
halten;
2) den H erzogthüm ern noch elf Millionen, oder wenn es ge¬
nau genommen werden soll, 11,031,786 Thlr. herauszuzahlen;
3) sind die Materialien der activen Armee und der Marine,
die Sammlungen und aller sonstige gemeinschaftliche Besitz, so¬
weit dies derNatur derSache nach in öglich, pro rata zu vertheilen,
wobei den Herzogthümern 37 Procent zufallen müssen.
So die Rechnung des Kaufmanns. Ob die Politiker so rechnen werden,
ist eine andere Frage, die hier natürlich nicht beantwortet werden kann, ovwohl
es nicht einzusehen sein würde, wenn man wesentlich anders verführe. Auf
alle Fälle würde man nur auf die obige Weise alle gerechten Forderungen er¬
füllen; doch mag die Billigkeit und Großmuth des Siegers die von den Dänen
M fordernden elf Millionen in den Schornstein schreiben wollen, und so wollen
wir einmal annehmen, daß eine solche ordnungsmäßige und zugleich rücksichts¬
volle Theilung wirklich stattfinden wird, und darauf hin nach unsrer Quelle
die'Aufstellung eines Schleswig-ho isle iuisch en Bub gets versuchen. Indem
wir unter Beibehaltung der bisherigen Julräder auf der Einnahmeseite den
Ueberschuß über die seither in den Herzogthümern selbst verwendeten Ausgaben
erkennen werden, wird man noch einmal recht deutlich sehen, wie groß die
wirthschaftliche Benachtheiligung Schleswig-Holsteins unter der Däncnhcrr-
schast war.
Wo im Folgenden ein unmittelbarer Anschluß an die gesamtstaatliche
Staatsrechnung überhaupt möglich war, sind die Summen nach derselben auf¬
genommen. Nur sind die Bruttv-Einnahmen aufgeführt und die Kosten in der
Ausgabeseite aufgenommen, wodurch sich die hohe Summe der Ausgaben er¬
klärt. Sodann sind die eigentlichen Domäne-Einnahmen, wie sichs gebührt,
von den stehenden Gefallen getrennt. An dieser Stelle werden nur die ab¬
gerundeten Hauptsummen mitgetheilt, wie sie sich aus der Berechnung nach
obigen Grundsätzen ergeben, und zwar wurden dieselben, da dieses Budget
mit Dänemark nichts mehr zu thun hat, auf preußische Thaler reducirt. die sich
bekanntlich zu den dänischen Nigsdalern oder Bankthalern wie 1 zu V« verhalten.
1 Nach der Staatsrechnung von 1362/63 betrugen die Einnahmen Schleswigs 1.531,97!),
die Holsteins 1,896.913, der Alttheil von 37 Proc. an den gemeinschaftliche» 4,580.753 Thlr.,
Summa: 8,009,645 Thlr, Ncichsmünze oder 6,»07,245^/, Thlr. preußisch. Dazu müsse» aber
noch die hier sogleich i» Abzug gebrachten, oben dagegen ausgelassene» Dona»e»aufgäbe» mit
reichlich 600,000 Thlr»,Reichsmünzc oder 450,090 Thlr». preußisch kommen, sodaß die obige
Veranschlagung der Einnahme eine mäßige ist.
In der Zeit der Erhebung haben die Einnahmen Schleswig-Holsteins betragen:
Für etwa aufzunehmende Anleihen würde sonach immer noch ein jährlicher
Ueberschuß von 758.000 Thalern vorhanden sein. Die S.600.000 Thaler Staats-
ausgaben würden fast ganz im Lande bleiben, während die innerhalb der Herzog¬
tümer verwendeten Ausgaben im Finanzjahr 18K2/63 noch keine 1,600,000 Thlr.
Preußisch betrugen. Die wirthschaftliche Differenz zu Gunsten Schleswig-Hol¬
steins nach Lösung des Bandes, welches die Hevzogthümer mit Dänemark ver¬
knüpft, beläuft sich also mähig berechnet auf vier Millionen preußische Thaler
jährlich, und das dürfte schon der Mühe werth sein für ein Land von einer
Million Einwohner, alle Kräfte zur Verwirklichung des Rufs anzustrengen, der
jetzt im Munde der ungeheure» Mehrzahl der an politischen Dingen überhaupt
theilnehmenden Schleswig-Holstciner ist. und mit dem wir unsern Bericht
schließen wollen: „Los von Dänemark, ganz und für alle Zeit!"
Aus der in den ersten zwei Jahrhunderten im Umlauf befindlichen Anzahl
von Evangelienschriften hat die Kirche vier herausgehoben und als echt und
authentisch in ihrem .Kanon heiliger Schriften aufbewahrt. Sie tragen die
von Holstein eingezahlt worden. Letzteres Herzogthum hat also zu den Kriegskosten mehr als
vier Fünftel beigetragen.
Die Ausgaben beliefen sich:
Namen zweier Urapostel. des Johannes und des Matthäus, und zweier Apostel-
scbMcr, von welchen der eine. Marcus, ein Gefährte des Petrus, der andere,
Lucas. ein Begleiter des Apostels Paulus war. In einer Vierzahl historischer
Aufzeichnungen ist uns also das Leben Jesu von Nazareth überliefert, und so
hätten wir, wie es scheint, uns über Mangel an authentischen Nachrichten von den
Lebensumständen unseres Religionsstifters nicht zu beklagen. Jede dieser Relationen
scheint den anderen zur Bestätigung und Controle zu dienen, jede durch die
anderen ihre Ergänzung zu finden. So scheint es aber nur. In Wahrheit sind wir
über keine geschichtliche Erscheinung dürftiger unterrichtet als über das Leben
Jesu. Nirgends in der ganzen Literatur wiederholt sich der Fall, daß Quellen¬
schriften so schwierig zu gebrauche» sind, um auf sichere geschichtliche Resultate
zu leiten. Wir finden in ihnen wohl eine Menge von Erzählungen, insbesondere
von Anekdoten, aber was den tieferen Einblick in die geschichtlichen Bedingungen
betrifft, unter welchen das Leben dieses Galiläers sich entwickelt hat und von
so ungeheurer Bedeutung geworden ist, lassen sie uns fast gänzlich im Stiche.
Sie überliefern wohl ein Bild von Jesus, wie es einige Zeit nach seinem Tod
in der Gemeinde lebte, aber das Bild ist nicht mit den Augen eines Geschicht¬
schreibers geschaut, nicht mit dem Griffel eines Geschichtschreibers aufgezeichnet.
Wir müssen, indem wir in den Evangelien seine Spuren verfolgen, nicht blos
von den modernen Anforderungen an ein solches Lebensbild absehen, sondern
auch der Begriffe, die wir von der Historiographie des Alterthums in seinen
helleren Zeiten uns angeeignet haben, müssen wir uns in diesem Falle ent-
schlagen. Sie sind erbaulich, aber diese Eigenschaft macht aus ihnen noch nicht
auch zulängliche Geschichtsquellen.
Nun bliebe noch immer der Fall möglich, daß uns diese Relationen, wenn
auch eines höheren Monographischen Werths entbehrend, doch wenigstens treu,
und zuverlässig die äußeren Thatsachen überlieferten, deren Zeugen ihre angeb-
lichen Verfasser gewesen sind. schrieben diese schlicht und schmucklos dasjenige
nieder, waS sie selbst gesehen oder von Augenzeugen gehört hatten, so wären
uns ihre Berichte gleichwohl von unschätzbarem Werth. Allein gerade die Un¬
befangenheit einfacher, den Ereignissen zunächst stehender Erzähler will nun am
wenigsten zu der Beschaffenheit unserer Evangelien passen. Schon das viele
Wunderhafte, das ihren Berichten eingestreut ist, und nicht blos in kleinere
Erzählungen, sondern auch bei den Hauptereignissen des Lebens Jesu Eingang
gefunden hat, weist darauf hin, daß wir in den Erzählern ferner stehende
Personen zu suchen haben, denen ihr Stoff erst durch eine längere, freier ge¬
staltende Ueberlieferung zugekommen ist.. Je weiter die Entfernung zwischen der
geschichtlichen Gestalt des aus Kreuz geschlagenen Meisters und der Gegenwart
wurde, um so mehr l^gte sich um sein Haupt ein Strahlenkranz verklärender
Poesie. Die ursprüngliche Erinnerung an sein Leben verblaßte mit den Jahr-
zehnten, die festen Umrisse der geschichtlichen Thatsachen zerflossen, und nahmen
sagenhaft ausgeschmückte Züge an, die liebende Verehrung der ersten Bekenner,
welche des theuren Meisters sich beraubt sahen, ward erfinderisch, und die Bilder
vom Messias, wie sie den Propheten des alten Bundes vorgeschwebt hatten,
lieferten die bestimmten Züge, nach welchen das Leben Jesu in der gläubigen
Gemeinde halb bewußtlos, halb in absichtvolter Übertragung sich gestaltete.
Die Evangelien selbst sind uns ein sicheres Zeugniß, daß dies das vorherrschende
Interesse war, mit welchem die Gemeinde rückwärts nach ihrem Stifter blickte.
Ja wir können in ihnen noch das allmälige Anwachsen des wunder- und sagen¬
haften Elements wahrnehmen, welches nach und nach den ganzen Stoff der
evangelischen Geschichte ergriff und im letzten Evangelium völlig nach den neuen
Gesichtspunkten umbildete.
Noch andere Spuren weisen darauf hin, daß unsre vorliegenden Evange¬
lien bereits durch einen längeren Zeitraum von den Thatsache», welche sie be¬
schreiben, entfernt sind. Es ist unverkennbar, daß sie erst mehrfachen Ueber-
arbeitungen ihre jetzige Gestalt verdanken. Die Behandlung des historischen
Stoffs ist trotz des sichtbaren Strebens nach einheitlicher Gestaltung eine un¬
gleiche. Es stoßen uns Zusätze, Einschaltungen aus, zusammenhängende Stücke
lassen sich noch erkennen, die, aus früheren Bearbeitungen herübergenommen,
erst später mit anderen Bestandtheilen zu einem Ganzen verschmolzen wurden.
Alles dies weist darauf hin, daß die Evangelicnbildung längere Zeit im Flusse
begriffen war, daß sie in fortschreitender Entwicklung Neues in sich aufnahm,
Anderes wohl auch ausschied oder umbildete. Halten wir damit anderweitige
literarische Zeugnisse zusammen, so wird es im höchsten Grade wahrscheinlich,
daß unsern sämmtlichen Evangelien eine nicht unbeträchtliche ältere Evangelien¬
literatur vorausging, die sich vielleicht von einem gemeinsamen Grundstock aus
allmälig ausbreitete, in mannigfachen Gestaltungen sich verzweigend, die uns
nun verloren gegangen sind, während ihr letzter Niederschlag sich in unsern
vier kanonischen Evangelien erhalten bat. Betrachten wir dann jene Ein¬
schaltungen oder überarbeiteten Stücke näher, so sind es zwar oft formelle
Gründe, welche sie als solche charat'terisiren, aber häufig geben sie sich auch
dadurch zu erkennen, daß sie einen andern Standpunkt des christlichen Bewußt¬
seins verrathen, als die übrigen Theile der Schrift, in welche sie von einem
späteren Ueberarbeiter eingefügt worden sind. Und dies führt uns auf die
eigenthümlichen Motive, welche jenen Überarbeitungen zu Gründe lagen. Zum
Theil rührten dieselben allerdings auch daher, daß in anderen Gemeinden andere
Ueberlieferungen vorhanden waren. Wenn nun ein Evangelium, das etwa in
einem galiläischen Kreise entstanden war, in andere Gegenden kam, wo ein
anderer Theil der Ueberlieferung besonders lebendig sein mochte, so entstand das
natürliche Interesse, auch diesen bisher nur mündlich fortgepflanzte» Stoff jener
ersten Schrift einzuverleiben, und sie so zu einem neuen Evangelium umzu¬
gestalten. Allein das Motiv war in der R,egel noch ein anderes. Das Christen¬
thum riß sich allmälig erst von den Banden los. welche dasselbe mit dem Juden-
thum verknüpften; allmälig und erst unter der Einwirkung des Paulinismus
nahm es eine freiere Stellung zum Gesetz, zur Beschneidung, in der Frage
über die Zulassung der Heiden ein. und diese allmälige Entpuppung aus ge¬
bundeneren Zuständen zu freieren Grundsätzen hat ihre Spuren auch in der
Evangelienlitcratur zurückgelassen. Je nach den Ideen, welche in der Kirche die
Oberhand erhielten, wurde auch der vorhandene Evangelicnstoff modificirt. Die
Interessen der Gegenwart drängten sich ein in die Auffassung und Darstellung
der Vergangenheit; man wollte in den ältesten Urkunden niedergelegt, durch
den Mund des Meisters selbst bestätigt haben, was Uebung und Glaube. Praxis
und Dogma einer späteren Zeit geworden war. Dabei entspricht es ganz der
Natur der Sache, daß wir in der Negel — obwohl nicht ausnahmslos — in solchen
Stellen, welche die christliche Lehre noch möglichst an das Judenthum gebunden
darstellen, eine frühere Fassung, in solchen, welche ein universalistisches Gepräge
tragen, eine spätere Fassung erkennen. Wir finden im ersten Evangelium Aus¬
sprüche Jesu, welche die strengste Einhaltung des mosaischen Gesetzes, einschärfen,
andere, welche eine hoch über dem Gesetz stehende Sinnesart verrathen. Aus-
sprüche. welche das messianische Heil als allein für die Juden bestimmt dar¬
stellen, andere, welche den Jüngern auftragen das Evangelium auch den Heiden
zu bringen. Wir werden Wohl Annehmen dürfen, daß Aussprüche so verschiedener
Art ursprünglich nicht in einer und derselben Schrift verzeichnet waren; wir
tonnen uns aber auch schwer zu dem Glauben entschließen, daß so entgegen¬
gesetzte Aussprüche, wenn auch in verschiedenen Zeiten, aus dem Munde Jesu
ausgegangen seien. Vielmehr spiegelt sich in diesem Widerstreit offenbar der
Widerstreit der späteren Parteien, wobei allerdings die Frage nicht blos die ist,
welche Fassung wir uns als die echte und ursprüngliche zu denken haben, son¬
dern auch die Erwägung berechtigt ist, ob nicht beide Fassungen, welche so leb¬
haft an die Gegensätze der späteren Zeit erinnern, erst der letzteren ihre
Entstehung Verdanken. So finden wir im Lucascvangclium Stücke, die eine
entschieden judenchristliche. Quelle voraussetzen, und wieder andere größere Ab¬
schnitte, welche das Gepräge eines entschiedenen Paulinismus an sich tragen.
Offenbar konnte nur ein späterer Bearbeiter so verschiedenartige Stücke zu einem
Ganzen verarbeiten, und zwar konnte es nur ein dem paulinischen Christen¬
thum geneigter Bearbeiter sein, der die judenchristiiche Tradition zwar aufnahm,
aber an einzelnen Punkten im paulinischen Sinne umbildete und ihnen durch
Gegenüberstellung universalistischer Stücke ein Gegengewicht zu geben suchte.
Diese Wahrnehmung von dem Eindringen dogmatischer Motive in die Geschichts¬
erzählung dient nun begreiflicherweise nicht dazu, die Glaubwürdigkeit der
Evangelien als geschichtlicher Quellen zu erhöhen. Weisen schon die wieder¬
holten Ueberarbeitungen auf eine Zeit, die den Thatsachen der evangelischen
Geschichte bereits ferner steht, so sind es einerseits jene mythischen, wunder¬
haften Elemente, andrerseits diese dogmatischen Einwirkungen, welche über
die wirkliche Geschichte einen Schleier werfen und uns nur durch ein getrübtes
Medium dieselbe erkennen lassen.
Sehen wir endlich auf den Inhalt der Geschichtserzählung. so bemerken
wir einerseits eine große Verwandtschaft, andrerseits eine große Verschiedenheit
zwischen den einzelnen Evangelien. Jene Verwandtschaft steigert sich oft bis
zu nahezu gleichlautender Wiedergabe einer und derselben Erzählung, allein
daneben finden sich wieder solche Abweichungen, welche weit über das hinaus¬
gehen, was bei der Bearbeitung des nämlichen Stoffes doch immerhin der
Subjectivität verschiedener Verfasser zugestanden werden muß. Nehmen wir an,
daß in anderen Gegenden andere Ueberlieferungen vorherrschten und also auch
andere Evangelien entstehen konnten, oder daß spätere Schriftsteller ausdrücklich
ihre Vorgänger ergänzen wollten mit dem, was ihnen sonst über das Leben
Jesu in zuverlässiger Weise bekannt war, so reicht doch auch dies zur Erklärung
jener Verschiedenheiten noch nicht hin. Denn es ist nicht blos zum Theil ein
verschiedener Stoff, den die einzelnen Evangelien verarbeiten, sondern die ab¬
weichenden Stücke sind auch nicht immer von der Art, daß sie in einer und
derselben Darstellung Platz hätten, daß man also nur die vier Berichte com-
biniren, zusammenfügen dürfte, um eine vollständige Lebensgeschichte Jesu zu
haben. Am widerspruchsvollsten Pflegen solche Erzählungen zu sein, welche am
leichtesten der mythischen Ausbildung verfallen mußten. So wäre es z. B.
vergeblich die Darstellungen, welche die Evangelien von der Vorgeschichte Jesu
oder von Auferstehung und Himmelfahrt geben, zu einer einheitlichen Erzählung
zusammenzubringen. Allein auch abgesehen von Stücken dieser Art ist es
sehr häusig der Fall, daß die verschiedenen Evangelien Erzählungen haben, die
sich gegenseitig geradezu ausschließen, wie z. B. in Bezug auf den Schauplatz
der Lehrwirksamkeit Jesu und auf den Todestag Jesu solche Differenzen vor¬
liegen, oder daß ein Evangelium allein eine wichtige tiefcingrcifcnde Erzählung
hat, von welcher die anderen schweigen und die sie doch hätten erwähnen müssen,
wenn sie sie gekannt hätten, wie dies z. B. der Fall ist mit der Einsetzung des
Abendmahls, welche nur die drei ersten Evangelisten, mit der Auferweckung
des Lazarus, welche nur das Johannesevangelium, mit der Wahl der siebzig
Jünger, welche nur Lucas hat. Es finden also Verschiedenheiten statt, welche
nicht erlauben, den Erzählungsstoff der vier Evangelien einfach in einander
zu schieben. Ein solches mechanisches Verfahren wurde nur die Einheit der
verschiedenen Relationen aufheben und doch keine einheitliche Gesammtdarstellung
erzielen. Jeder Versuch, ein Leben Jesu in der Art zu schreiben, daß hier ein
Stück von diesem Evangelium genommen, dann eines von einem andern, von
einem dritten angereiht wird u. s. f. scheitert an unübersteiglichen Schwierig¬
keiten und führt, wo er gemacht wird, zu den albernsten Combinationen, zu den
willkürlichsten Deuteleien an dem klaren Wortlaute der Schrift. Um diesen
Willkürlichkeiten zu entgehen, giebt es nur ein Mittel: die Evangelien einfach
so zu nehmen wie sie sind, ohne fremde Gesichtspunkte in sie hineinzutragen.
Jede Evangelicnschrift ist eine Individualität, die nach ihrer Eigenthümlichkeit,
nach ihren innersten Motiven erfaßt und verstanden sein will. Erst von hier
aus läßt sich dann die Frage beantworten, in welchem Maße, mit welchem An¬
spruch auf geschichtliche Glaubwürdigkeit eine jede derselben ein Reflex des ge¬
schichtlichen Lebens Jesu ist, erst dann läßt sich entscheiden, welchen Beitrag
jedes Evangelium zur Kenntniß dieses Lebens liefert. Je weniger in einer
Schrift dogmatische Motive Vorherrschen, je naiver sie erzählt, eine um so un¬
verdächtigere Quelle wird sie sein; je mehr sich in ihr dagegen ein beherrschen¬
der Grundgedanke nachweisen läßt, weichem der Erzählungsstoff untergeordnet
ist. um so weniger wird sie sich zur Grundlage einer Biographie Jesu eignen.
Dasjenige Evangelium nun, welches am sichtbarsten und consequentesten
den geschichtlichen Stoff unter den Gesichtspunkt einer beherrschenden Idee stellt,
so daß alles, was geschieht oder gesprochen wird, nur als die Ausprägung
dieser Idee erscheint, ist das Johanncsevangelium. Wer nicht ganz gedanken¬
los in den neutestamentlichen Schriften liest, muß inne werden, daß er sich
hier in einer ganz andern Welt befindet, als in den drei ersten Evangelien.
Wie groß auch die Differenzen unter allen vier Evangelien sind, so verschwin¬
den sie doch gegen die durchgreifende Differenz, welche zwischen den drei ersten
Evangelien — wegen ihrer innern Verwandtschaft die Synoptiker genannt —
und zwischen dem des Johannes besteht. Der Leser wird diese Verschiedenheit
zunächst an einem eigenthümlichen geistigen Hauch empfinden, der durch dieses
Evangelium weht. Es ist ein mystisches Dämmerlicht, das uns beim Eintritt
in dasselbe empfängt, alles ist in eine magische Beleuchtung gerückt, Reden und
Handlungen haben etwas gewaltsam Gesteigertes, und wenn uns aus einzelnen
Theilen eine seltene Wärme der Empfindung entgegentritt, so überraschen an¬
dere durch geistvolle Blitze, welche die Abgründe der Speculation beleuchten,
während dann wieder das Räthselhafte. Seltsame anderer Abschnitte den Ein¬
druck vollendet, daß wir hier ein höchst eigenthümliches, schwer faßliches, aber
poetisch angehauchtes und gläubiger Ahnung ganz besonders zusagendes Werk
vor uns haben. Aber dieser Unterschied der Farbe und Beleuchtung ist nicht
der einzige. Folgen wir dem Gange der Erzählung und vergleichen wir ihn
mit der Darstellung, welche die Synoptiker von derselben Geschichte geben, so
stoßen wir auf sachliche Abweichungen, welche immer tiefer greifen und es
immer unmöglicher machen, beide Darstellungen zusammcnzudenken. Das Leben
Jesu verläuft auf verschiedene Weise, der Schauplatz seiner Wirksamkeit ist ein
anderer. Ereignisse werden erzählt, von denen die Synoptiker nicht nur nichts
wissen, sondern die wir auch in den Rahmen ihrer Geschichtserzählung gar
nicht einzufügen vermögen, und so umgekehrt, die Katastrophe wird auf eine
andere Weise herbeigeführt, die Lehrart Jesu, sein Bewußtsein von sich, von
seiner Sendung ist ein völlig anderes, ja, es ist ein ganz anderer Jesus, der
uns hier, und der uns dort geschildert wird. Fassen wir dann die Eigenthüm¬
lichkeiten, durch welche sich das vierte Evangelium von den andern unterscheidet,
zusammen, so stellen sie sich alle unter einen einheitlichen Gesichtspunkt, sie
laufen alle dahin zusammen, daß das Leben Jesu nicht einfach erzählt, sondern
verherrlicht und zwar von einer ganz bestimmten Idee aus verherrlicht wer¬
den soll.
Welches diese Idee ist, darüber läßt uns der Verfasser auch keinen Augen¬
blick im Zweifel. Denn gleich an die Spitze seines Evangeliums stellte er das
Programm, dessen weitere Ausführung die folgende Geschichtserzählung ist.
Jesus ist danach die persönliche Sclbstoffenbarung Gottes, das Princip der
Weltschöpfung, der Logos, das ist das Wort Gottes, von Ewigkeit her in Gott
und von Ewigkeit durch Gott gezeugt; er ist das Leben, durch welches alle
Menschen das Leben erhalten sollen, das Licht, das in die Finsterniß gesandt
wird, um sie zu erleuchten. Licht und Finsterniß sind die beiden großen Prin¬
cipien, welche den Verlauf der Welt bedingen, es ist also ein kosmischer Gegen¬
satz, von welchem der Evangelist ausgeht, ein Gegensatz, der durch das Erscheinen
des Logos im Fleische, durch den Glauben an Jesus als das erschienene Licht
aufgehoben werden soll, und die Geschichte Jesu ist nun der fortlaufende dia¬
lektische Proceß zwischen diesen beiden Mächten, zwischen dem Licht und der
Finsterniß, zwischen dem Glauben und dem Unglauben.
Von hier aus wird nun sowohl die Auswahl und Anordnung des Stoffs,
als dessen eigenthümliche Verarbeitung und Steigerung verständlich. Vor allem
folgt für die Persönlichkeit Jesu selbst, daß er nicht der Mensch und Prophet
sein kann, als der er in der synoptischen Darstellung trotz seiner Wunderthaten
doch immer erscheint. Der johanneische Jesus gehört nur dem „Fleische" nach
dieser Welt an. sein irdisches Leben ist nur ein angenommenes, vorübergehendes.
Er behält das Bewußtsein von seiner überweltlichen vorzeitlichen Existenz, er
ist allmächtig, allwissend, gleich bei seinem ersten Auftreten weiß er sein Ster¬
ben und die Bedeutung seines Sterbens voraus. Wir bemerken an ihm kein
Werden, er ist von Anfang an, der er ist, die Gesetze menschlicher Entwicklung
sind für ihn nicht vorhanden- Seine Thaten sind nur eine fortlaufende Reihe
von Ausstrahlungen seiner göttlichen Wundernacht. Im Unterschied von den
einfach menschenfreundlichen Wundern, wie sie in der Regel bei den Synoptikern
erzählt sind, haben die „Zeichen" bei Johannes stets den ausdrücklichen Zweck.
die Herrlichkeit des eingeborenen Sohnes zu bekunden, und auch dies ist be¬
zeichnend, daß jedes Wunder bei ihm eine eigenthümliche Bedeutung hat, keines
sich wiederholt, um so mehr aber jede Gattung von Wundern ihren specifischen,
markirten Vertreter hat. Ebenso sind die Rede» Jesu nur ein fortwährendes
Selbstzeugniß seiner überweltlichen Würde und Herrlichkeit. Es giebt keinen
größeren Gegensatz als die Reden Jesu bei den Synoptikern und diejenigen bei
Johannes. Dort ist Jesus ein Volkslehrer im edelsten Sinne des Worts, seine
Anreden sind immer natürlich motivirt, an natürliche Veranlassungen angeknüpft.
Umgekehrt fehlt ihnen bei Johannes aller geschichtliche Voden, alle Natürlich¬
keit der Verhältnisse, alle Zweckmäßigkeit des Vortrags. Immer nur auf seine
Selbstverherrlichung zielend, werden sie von den ungläubigen Juden fortwährend
nickt verstanden oder mißverstanden, und die räthselhaften Andeutungen, die
gehäuften Spitzfindigkeiten haben auch gar keinen andern Zweck, als von dem
Unglauben mißverstanden zu werden, der damit seine ganze Unfähigkeit und
Nichtigkeit manifestirt.
Dem Selbstzeugniß Jesu geht die Bezeugung durch den Täufer, die An¬
kündigungfür die Menschen, daß er das Licht, der eingeborne Sohn ist, voraus.
In diesem Zeugniß geht aber auch die ganze Bedeutung des Täufers auf. Los¬
gerissen von dem geschichtlichen Zusammenhang, der in den anderen Evangelien
zwar auch schon verschleiert, aber doch noch kenntlich ist, ohne eigene Indivi¬
dualität, seines Inhalts gleichsam entleert, hat er in diesem Evangelium keine
andere Stellung gefunden als daß er vom Lichte zeugt. Haben wir hier ein
Beispiel, wie der Verfasser ein aus der älteren Tradition hcrübergenommencs
Stück von seinem neuen Gesichtspunkt aus verwendet, wie er die Figuren ganz
nach seinem Bedürfniß stellt, so läßt er dann weiterhin alles dasjenige einfach
weg, was ihm nicht paßt, insbesondere, was die höhere Würde Jesu beein¬
trächtigen könnte. So fehlt die Versuchung, weil der Sohn Gottes keiner Ver¬
suchung unterworfen sein kann, der Seelenkampf in Gethsemane, weil mensch¬
liche Kämpfe und Schwächen ihm fremd sind, die Verklärung, weil derjenige,
dessen Leben eine fortgehende Verklärung ist, nicht eines einzelnen äußerlichen
Vorgangs zu diesem Zweck bedarf, die Bergrcde, weil derjenige, der zur Be¬
kämpfung des im ungläubigen Judenthum personificirten Princips der Finster¬
niß gekommen ist, nicht an das mosaische Gesetz anknüpfen kann, die Einseg¬
nung des Abendmahls, weil die äußerliche Handlung unwesentlich ist bei der
Vorstellung, daß Jesus selbst nichts Anderes ist als das göttliche Lebensbrod,
das der Welt das Leben giebt und das im Glauben genossen wird.
Keine Differenz ist für den ganzen Gang der Geschichtserzählung von so
eingreifender Bedeutung, als diejenige in Betreff des Schauplatzes der öffent¬
lichen Wirksamkeit Jesu. Die drei ersten Evangelien lassen Jesus erst am
Ende seines Lebens nach Jerusalem kommen, bei Johannes tritt er von An-
fang an und wiederholt in Judäa und Jerusalem auf. Hier kann nur entweder
das Eine oder das Andere historisch sein: entweder die synoptische Darstellung
ist richtig oder umgekehrt. Jedes Bemühen, beide Berichte in einander zu
schieben, scheitert schon daran, daß Johannes für den wiederholten Aufenthalt
Jesu in Jerusalem keinen selbständigen Inhalt hat, wie man doch erwarten
müßte, wenn die Synoptiker diese Reisen nur irrtümlicherweise ausgelassen
hätten. Vielmehr füllt er ihn zum größten Theil mit denselben Erzählungen
aus, welche die Synoptiker an anderen Orten und zu anderen Zeiten haben.
Er ist also von der synoptischen Darstellung abhängig und ändert sie doch in
einem wesentlichen Punkt ab. Was ist der Grund? Auch hier läßt sich das
Interesse des vierten Evangelisten leicht nachweisen, es hängt gleichfalls eng
mit dem idealen Gesichtspunkt zusammen, unter welchen bei ihm überhaupt der
geschichtliche Stoff gestellt ist. War es die Mission Jesu, als das Licht in die
Finsterniß zu scheinen, war er von Anfang an, der er war, so mußte er sofort
da auftreten, wo die Macht der Finsterniß concentrirt war, zu Jerusalem, dem
Sitz, und Centralpunkt des ungläubigen Judenthums. Darum bricht denn auch
gleich bei seinem ersten Zusammentreffen mit dem Unglauben der Conflict mit
solcher Heftigkeit aus, daß es nur Wunder nimmt, wenn die Katastrophe nicht
sogleich erfolgt. Es ist kein allmäliges Reifen des Schicksals, welchem Jesus
endlich erliegt, die ^Katastrophe entwickelt sich eigentlich gar nicht, der Erzähler
steht sich fortwährend genöthigt zu retardiren, und er selbst fühlt das Mißliche
dieses Verfahrens wohl, es klingt wie eine Entschuldigung, wenn er wiederholt
bemerkt, der Hauptschlag gegen Jesus sei nur deshalb noch nicht geführt wor¬
den, „weil die Stunde des Herrn noch nicht gekommen sei". An diesem Orte
greift nun die Auferweckung des Lazarus in den Plan des Evangeliums ein.
Dieses Wunder steigert reinlich die Erbitterung der Juden derart, daß es die
nächste Veranlassung zur Gefangennehmung Jesu wird. Die drei ersten Evan¬
gelien wissen bekanntlich kein Wort von diesem Wunder, wie sie überhaupt von
einem Lazarus nichts wissen, ein Name, der blos ein einziges Mal und nicht
als Träger einer wirklichen Persönlichkeit, sondern nur in einer Glcichnißrede
-v)esu bei Lucas genannt wird. Ist es nun völlig unbegreiflich, daß die drei
ersten Evangelisten, wenn ein so hervorragendes Ereignis; wirklich vorgefallen
war. das noch dazu so bedeutende Folgen hatte, dasselbe mit Stillschweigen
übergangen hätten, ist also die geschichtliche Glaubwürdigkeit des Hergangs schon
aus diesem Grunde höchst zweifelhaft,— noch abgesehen von allen inneren Schwie¬
rigkeiten, die sich gerade bei dieser Wundergeschichte besonders häufen,— so ist
es dagegen um so begreiflicher, wie der vierte Evangelist gerade an dieser Stelle
ein Wunder einschob, das die Wundernacht Jesu auf ihrer höchsten Potenz zeigte.
Bei den Synoptikern ist die Wendung zur Katastrophe ganz natürlich motivirt.
Wenn die Reise, welche sie Jesus nach Jerusalem unternehmen lassen, die
einzige war, so ist es vollkommen erklärlich, daß die Sache jetzt diese Wendung
nahm. Anders bei Johannes, der Jesu Von Anfang an Jerusalem als Schau¬
platz seiner Wirksamkeit anweist. Bei ihm war ein neuer Hebel, ein außer¬
ordentliches Dazwischentreten nöthig, um die Eudkatastrvphe zu motiviren, und
so wurde an dieser Stelle die einzige Todtenerweckung, welche Johannes er¬
zählt, die Erwcct'ung des Lazarus eingeschoben, die, aus zerstreuten Elementen
des synoptischen Erzählungsstvsfcs componirt, die beiden in den andern Evan¬
gelien erzählten ErweclungSgeschichten ebenso weit hinter sich läßt, als über¬
haupt die Wunder bei Johannes stets in höchster Steigerung, im Superlativ
des Undenkbaren erscheinen.
Endlich der Todestag Jesu und das letzte Mahl. Nach den drei ersten
Evangelien hält Jesus mit seinen Jüngern am 14. Nisan (Freitag) das übliche
Passahmahl und wird am 15., dem Tag des Festes, verurtheilt und hingerichtet.
Bei Johannes wird er am 14., also am Tag des Passahmahles hingerichtet,
während er das letzte Mahl mit den Jüngern schon am 13., also nicht am Tag
des jüdischen Festmahls hielt. Hier scheint nun der Bericht des Johannes
insofern geschichtlich wahrscheinlicher, als die Berurtheilung und Hin.richtung
Jesu am Festtage einigermaßen stutzig macht. Allein daß am Festtage Gericht
gehalten wurde, erklärt sich aus der Dringlichkeit des Falls, und die Hinrich¬
tung geschah nicht durch die Juden, sondern durch die Römer, die auf jüdische
Feste keine Rücksicht zu nehmen hatten. In jedem Falle wäre es nicht erklär¬
lich, wie die Synoptiker, wenn die johanneische Darstellung die historische ist,
zu ihrer Darstellung kommen konnten, deren Widerspruch mit den jüdischen
Sitten ihnen unmöglich entgehen konnte. Um so begreiflicher dagegen ist es.
wie der Verfasser des Evangeliums zu seiner abweichenden Darstellung kam. Das
letzte Mahl ist bei ihm wesentlich verschieden von demjenigen, welches die
Synoptiker erzählen. Diese lassen zum Gedächtniß an diese Feier das Abend¬
mahl eingesetzt werden, Johannes weiß kein Wort von dieser Stiftung. Jene
beschreiben es ganz als das Passahmahl, dieser will es ausdrücklich nicht als
solches betrachtet wissen. Warum dies? der vierte Evangelist kann Jesus nicht
das Passahmahl halten lassen, weil er — eine in ihren Grundzügen schon vom
Apostel Paulus herrührende Lehre vollendend — Jesus selbst als das wahre
Passahlamm darstellt. Ist Jesus selbst das Passahlamm, so kann er nicht am
14. Nisan das Passahmahl mit den Jüngern gehalten haben, sondern eben an
diesem Tag mußte er als Passahlamm sterben. In dem Moment, da das
jüdische Fest seinen Anfang nahm, war schon alles vollendet, was der Passah¬
feier vom christlichen Standpunkt aus Bedeutung geben konnte. Eben damit
singt es zusammen, daß sich gerade bei Johannes im Moment des Todes Jesu
die Hinweisungen auf die Erfüllung alttestamentlicher Weissagungen häufen. Es
ist vollendet, so ruft noch der Sterbende am Kreuz, ein Wort, das nur dieser
.Evangelist kennt. Alles was zur Erfüllung des alten Testaments an Jesus
geschehen sollte, ist jetzt vollendet, das alte Testament hat seine Bestimmung
erreicht, der Tod Jesu ist der Wendepunkt vom jüdischen zum christlichen Be¬
wußtsein. Das Alte ist vergangen, das Neue ist zum Dasein gekommen.
Dies führt uns noch auf die Stellung des Verfassers zur alttestamentlichen
Religion. Wir sehen, auch ihm ist der neue Bund die Erfüllung des alten.
Aber gleichwohl steht keine Schrift des neuen Testaments so frei, ja im Grunde
so gegensätzlich dem mosaischen Gesetz gegenüber als das Johannesevangelium.
Es gehört bereits einer fortgeschrittenen Entwicklung des christlichen Bewußt¬
seins an, der Bruch mit dem Judenthum ist vollzogen, das Christenthum steht
auf seinen eigenen Füßen. Auch der Paulinismus ist eine überholte Phase,
die Kämpfe zwischen Judenchristen und Heidenchristen liegen schon in weiter Ferne.
Das Heidenchristenthum hat nicht erst sein Recht zu erkämpfen, sondern es ist
vollendete Thatsache, und die andere Thatsache ist. daß das Judenthum in sei¬
ner Mehrzahl Jesus verworfen hat. Hier hat der Unglaube seinen Sitz. Die
Macht der Finsterniß ist eben das ungläubige Judenthum, zu dem das gläu¬
bige Heidenthum den schärfsten Gegensatz bildet. Vom Gesetz spricht Jesus wie
von etwas völlig Fremdem, das ihn nichts mehr angeht. Die gesetzlichen Feste
sind ihm blos Feste der Juden, seine Gegner heißen schlechtweg die Juden.
Alle die vor ihm gewesen, sind Mörder und Diebe, die Träger der jüdischen Theo-
kratie heißen Kinder des Teufels; Moses hat das wahre Manna nicht vom Him¬
mel geholt, Abrahams höchster Ruhmestitel ist, daß er den Sohn gesehen hat,
und das Haupt des jerusalemischen Judenchristcnthums, Petrus, wird geflissent¬
lich und durch einen fein angelegten Plan aus der hohen Stellung, die ihm
die Synoptiker anweisen, verdrängt. Dem alttestamentlichen Gesetz steht die
Lehre Jesu in unve»kennbaren Gegensatz gegenüber. Nicht das Gesetz, sondern
seine Gebote sollen gehalten werden. Das neue Gebot ist ein Gebot der
Liebe, nicht der Furcht. Der Geist der Wahrheit, als der Geist Jesu, nicht
das Gesetz soll die neue Gemeinde leiten. Die Anbetung Gottes ist nicht mehr
an den Tempel, überhaupt nicht mehr an äußerliche Räume oder äußerliche
Gebräuche gebunden: sie geschieht hinfort im Geist und in der Wahrheit; der
Buchstabe tödtet, der Geist aber macht lebendig. — Es spricht sich in dieser
Anschauung ein geistig freier Standpunkt aus, wie er in solcher Reinheit uns
aus keiner andern neutestamentlichen Schrift entgegentritt. In der Schule
philosophischer Speculation hatte sich der Verfasser diese geistige Freiheit er¬
worben. Mit den alexandrinischen griechisch-jüdischen Systemen wohl vertraut,
hatte, er in der dort vorgetragenen philosophischen Lehre vom Logos, als der
Selbstoffenbarung Gottes, den höchsten und bezeichnendsten Ausdruck für die
Bedeutung Jesu gefunden und so die schon vom Hebräer - und Kolosserbrief ange¬
bahnte Uebertragung des Logosbcgnffs auf Jesus vollendet. Dieselbe Specu-
lation hob ihn auf eine Höhe der Betrachtung, auf welcher die gegenseitigen
Ansprüche und Anklagen der Juden- und Heidenwelt und damit auch der Ju¬
den- und Heidenchristen verschwanden. Juden - und Heidenthum zusammen bilden
nun das Dunkel, das durch das Erscheinen des Logos zum Lichte sich ausheilen
soll; hinausgehoben über alles Zufällige, als ein Moment des allgemeinen
weltgeschichtlichen Processes begriffen, so erst hatte das Christenthum seinen
festen Standort, das Recht einer selbständigen Existenz. Dieselbe Speculation
endlich ließ den weitblickenden Verfasser mit dem Ende des Tempeldienstes zu
Jerusalem auch das Ende alles äußerlichen Gottesdienstes überhaupt im Geiste
vorausschauen. Ein Gottesdienst, beruhend auf reiner Erkenntniß des Gött¬
lichen und ausgeübt in Liebe, eine geistige Gottesverehrung ohne Tempel und
Gebräuche, ohne Buchstaben und Satzungen — dies war sein höchster Gedanke,
mit welchem sein prophetischer Geist um Jahrtausende der wirklichen Entwick¬
lung des Christenthums vorauseilte.
Und nun vergegenwärtige man sich noch einmal den Charakter dieses
Evangeliums, den idealen Gesichtspunkt, den es durchzuführen sucht, seine
philosophischen Motive, sein Verhältniß zu der synoptischen Erzählung, seine
Stellung zum Judenthum, und halte dann damit die Tradition der katho¬
lischen Kirche zusammen, daß der Apostel Johannes der Verfasser dieses Evan¬
geliums sei.
Was wissen wir von dem Jünger Johannes, dem Sohne des Zcbcdäus?
Nebst seinem Bruder erhält er von Jesus den Beinamen Donnersohn, offen¬
bar eine Bezeichnung feurigen ungestümen Wesens, und als solche erscheinen
auch beide in dem Verlangen, das sie an Jesus stellen. Feuer auf einen un¬
gastlichen Ort in Snmaria herabregncn zu lassen. Durch ihre Mutter lassen
sie sich von Jesus die Ehrenplätze im messianischen Reich zur Rechten und Lin¬
ken des Herrn ausbitten, ein Beweis, welche jüdische, ungeistige Auffassung sie
damals noch vom Reich Gottes hatten. Anstatt daß wir nun von einer Um¬
wandlung Kunde hätten, bestätigen vielmehr die paulinischen Briefe durchaus
dieses Charakterbild, mit welchem der sanfte Lieblingsjünger des vierten Evan¬
geliums so wenig gemein hat. Johannes gehört zu den Säulenaposteln, zu
den Häuptern des Judenchristcnthums. Fünfundzwanzig Jahre nach dein Tode
Jesu verlangt er zu Jerusalem mit Petrus und Jacobus die Beschneidung des
hcidcnchristlichen Titus. welche Paulus verweigert. Er theilt die Ansicht, daß
wenn anch dem Paulus die Mission unter den Heiden gestattet sein soll, doch
sie, die Urapostel, die Apostel der Beschneidung, keinen Beruf hätten, das
Evangelium unter den Heiden zu verkünden. Später siedelt er nach Ephesus
über und wirkt auch dort im antipaulinischen Sinne. Die kleinasiatische Tra¬
dition, welche eine Fülle von Erinnerungen an ihn bewahrte, schildert'ihn
durchaus so. daß er als Vertreter und Haupt der in der kleinasiatischen Kirche
herrschenden judcnchristlichcn Richtung erscheint; selbst das Zeichen der hohe-
priesterlichcn Würde soll er getrogen haben, ein Beweis, daß er im Christen¬
thum nur das wahre Judenthum verwirklicht sah. Insbesondere wird die in
Kleinasien vornehmlich ausgebildete Lehre vom tausendjährigen Reich, gleichfalls
ein Nest des Judenthums auf christlichem Boden, mit dem Namen des Johan¬
nes verknüpft. Das paulinische Christenthum erscheint am Ende des zweiten
Jahrhunderts in diesen Gemeinden, die Paulus gestiftet, völlig verdrängt, so
daß selbst dessen Name vergessen ist, während dagegen eben hier die Gestalt
des Johannes, des Sehers vom tausendjährigen Reich, in immer neuen Sagen
verherrlicht fortlebt.
Mit dieser geschichtlichen Ueberlieferung stimmt es nun durchaus, daß die
ältesten Zeugnisse den Apostel Johannes als Verfasser der Offenbarung bezeich¬
nen. Diese judcnchristliche Vision, diese zorneseifnge Prophctenschrift, getränkt
vom Hasse gegen das Heidenthum, voll Opposition gegen das Hcidenchristcn-
thum, paßt durchaus zu dem Bild", das uns geschichtlich von dem Sohn des
Zebedäus überliefert ist. Nirgends gehen die äußeren Zeugnisse und die inneren
Gründe so Hand in Hand, um uns ein sicheres Urtheil über die Echtheit einer
Schrift zu erlauben, als bei der Offenbarung, dem Werke des Apostels Johannes.
Aber dieselben Gründe, welche ihm die Autorschaft der Offenbarung zuweisen,
machen seine Autorschaft des Evangeliums undenkbar. Hat Johannes im Jahre 68 —
denn diese Zeit ergiebt sich aus ihrem Inhalt — die Offenbarung in einem Alter
von mindestens 60 Jahren geschrieben, so kann er nicht zugleich Verfasser des
Evangeliums sein. Wie können überhaupt aus einer und derselben Feder zwei
Werke geflossen sein, welche einen so radicalen Gegensatz bilden, welche die bei¬
den Pole der urchristlicher Entwicklung, Anfang und Abschluß derselben be¬
zeichnen: die Offenbarung, der Jerusalem die heilige Gottesstadt ist. und das
Evangelium, dessen Jesus gekommen ist, den alttestamentlichen Tempel abzu-
brechen, die Offenbarung, welche das Antichristenthum im Heidenthum verkör¬
pert sieht, und das Evangelium, welches die schwärzesten Schatten auf das un¬
gläubige Judenthum wirft, die Offenbarung, der das Christenthum nur ein
messiasgläubigcs Judenthum ist, und das Evangelium, das in seiner specula-
tiven Auffassung der christlichen Idee sich hoch und frei über alle Gegensätze
des Judenthums und Heidenthums stellt, die Offenbarung des. Hasses und das
Evangelium der Liebe!
Aber ist es nicht dennoch denkbar, daß der Apostel Johannes, der nach
der Tradition ein sehr hohes Alter erreichte, noch spät unter Einwirkung philo¬
sophischer Zeitideen einen außerordentlichen inneren Umschwung seines Bewußt¬
seins erfuhr, der aus dem Verfasser der Zornesoffenbarung den Verfasser des
Licbcscvangcliums machte? Die Antwort ist, daß überhaupt kein Galiläer das
vierte Evangelium geschrieben haben kann, und daß die Entstehung desselben
nur aus den Verhältnissen einer Zeit erklärlich ist, welche auch über die denkbar
höchste Lebensdauer des Apostels weit hinausgeht.
Es ist schon an sich schwer glaublich, daß ein galiläischer Fischer sich in
seinem hohen Alter in die alexandrinische Religionsphilosophie hineinarbeitete,
daß ein Jünger Jesu, der sein täglicher Genosse war. ihn auf seinen Wan¬
derungen begleitete, von Anfang an Zeuge seines öffentlicken Auftretens war.
daß ein solcher das Leben seines Meisters aus dem Gesichtspunkt einer specula-
tiven Idee zu schreiben unternahm. Aber es kommt dazu, daß der Verfasser
eine Unbet'anntschaft mit jüdischen Orten und Gebräuchen verräth, welche jede
Möglichkeit ausschließt, daß er ein Galiläer war und aus der Erinnerung schrieb.
Niemand außer Johannes weiß z. B. von einem Bethanien am Jordan, kein
jüdischer oder christlicher Schriftsteller erwähnt den heilkräftigen Teich Bethesda,
und wenn der Verfasser zweimal den Kaiaphas als Hohepriester „jenes Jahrs"
bezeichnet, also einen jährlichen Wechsel dieses Amtes voraussetzt, so mußte
dagegen jeder geborene Palästinenser wissen, daß dies ein Irrthum ist. zumal
gerade Kaiaphas zehn Jahre lang hintereinander von 35—36, also während
der ganzen Lehrzeit Jesu dieses Amt bekleidete. ,
Die kirchlichen Streitigkeiten des zweiten Jahrhunderte geben uns noch
einige Daten an die Hand, welche auf das Verhältniß des vierten Evangeliums
zu den Synoptikern ein Licht werfen, das für die Frage der Echtheit des
ersteren geradezu entscheidend ist und auch die Zeit seiner Entstehung näher
beleuchtet. Es ist die Differenz erwähnt worden, welche in Bezug auf den Tag
des letzten Mahls und des Todes Jesu zwischen der synoptischen und der johan-
neischen Darstellung besteht. Nach der ersteren hat Jesus am 14. Nisan mit den
Jüngern das Passahmahl gehalten und ist am 1ö. hingerichtet worden. Nach
dieser dagegen hielt er das letzte Mahl, das kein Passahmahl war, am 13. und
starb am 14. als das Passablamm. Nun entstand um das Jahr 160 ein Streit
zwischen der kleinasiatischen und der römischen Kirche über den Tag. an welchem
die österliche Abendmahlsfeier zu halten sei. Die Kleinasiaten begingen dieses
Gedächtnißmahl am 14.. an demselben Tag, an welchem die Juden ihr Oster-
lamm aßen, also ganz entsprechend der synoptischen Darstellung. Die römische
Kirche behauptete dagegen, die Christen haben sich an diesen Tag nicht zu binden,
sondern je am folgenden Sonntag, als dem Auferstehungstag, das österliche
Abendmahl zu begehen. Jener Ritus bezeichnet offenbar einen dem Judenthum
noch näher stehenden, dieser einen freieren, von den jüdischen Einrichtungen
losgelösten Standpunkt. Nun ist es nicht wenig überraschend, daß die Klein¬
asiaten sich für ihren der synoptischen Darstellung entsprechenden Ritus aus¬
drücklich und unter feierlichsten Betheurungen auf den Apostel Johannes beriefen,
der mit den andern Jüngern stets an diesem Tag, am 14. das Passah gehalten
habe, — der Apostel Johannes also ein Zeuge gegen das Evangelium des
Johannes. Denn Johannes, der am 14. das Erinnerungsmahl zu halten pflegte,
kann nicht Verfasser eines Evangeliums sein, das Jesus vor seinem Tode gar
kein Passah mehr begehen, sondern am 14. sterben läßt. Wie hätten sich aber,
muß man weiter fragen, die Kleinasiaten auf Johannes berufen können, wenn
damals ein Evangelium unter dessen Namen vorhanden und anerkannt war,
welches die geschichtlichen Voraussetzungen ihres Ritus geradezu ausschließt?
Und welche Waffe hätte umgekehrt die römische Gemeinde an diesem Evangelium
gehabt, dessen Autorität den abendländischen Ritus sanctionirt und die Be¬
rufung der Kleinasiaten auf Johannes zu nickte gemacht hätte? Daß das vierte
Evangelium in diesem Streit noch gar nicht genannt wird, ist der augen¬
scheinlichste Beweis, daß es damals noch nicht vorhanden war. Dagegen ist es
höchst wahrscheinlich, daß eben dieser Pasfahstrcit mit zu den Motiven seiner
Entstehung gehört. Es gab dem Grundsah, daß Jesus selbst als Passahlamm
genau zur Zeit der jüdischen Passahfeier gestorben, und es deshalb unstatthaft
sei. im Christenthum die Grundlage der jüdischen Feier beizubehalten, eine feste
Stütze, eine angebliche apostolische Autorität, und gerade seine Zurückführung
aus den Apostel Johannes, der in Kleinasien besonders hoch verehrt wurde,
mußte dazu dienen, den Widerstand der Kleinasiaten zu brechen, und sie für
den abendländischen Ritus zu gewinnen, in welchem die Loslösung des
Christenthums vom Judenthum seinen bezeichnendsten Ausdruck gefunden hatte.
Dieses Verhältniß zum Passahstreit ist indessen nicht das einzige, welches
das Johannesevangclium als aus den Interessen der zweiten Hälfte des zweiten
Jahrhunderts heraus geschrieben erscheinen läßt. Ueberall bietet es Berührungs¬
punkte mit den dogmatischen Bildungen, mit den kirchlichen Controversen,
welche jene Zeit besonders bewegten. Und zwar ist es eine eigenthümlich cen-
trale Stellung, welche es zu den geistigen Bestrebungen seiner Zeit einnimmt.
Es ist, als ob hier wieder alle die Strahlen zusammenlaufen sollten, welche von
dem Punkte aus, da das christliche Princip sich als ein neues selbständiges zu
erfassen begann, in bunter Fülle und Mannigfaltigkeit nach allen Seiten aus¬
einandergegangen waren. Es ist dasjenige Evangelium, welches alle im damaligen
Zeitbewußtsein vorhandenen Elemente sich aneignet, aber in gereifter Form zu
einer neuen vergeistigter Auffassung des Christenthums zu verschmelzen weiß,
welches die Gegensätze, nach deren Ausgleichung die Kirche bis dahin gerungen,
zu versöhnendster Einheit zusammenschließt und die Entwickelung des christlichen
Bewußtseins auf einen Punkt führt, auf welchem dasselbe, über alle örtliche
und nationale Beschränktheiten hinausgehoben, sich in seiner absoluten Bedeutung
erfaßt. — Und nun. besinnen wir uns wieder auf den Punkt, von welchem
wir ausgegangen sind. Wir fragten nach den historischen Quellen für das Leben
Jesu. Eine durchgreifende Verschiedenheit hat sich uns zwischen den drei ersten
und dem vierten Evangelium ergeben, wir haben letzteres nach seiner eigen-
thümlichcn Anlage, nach den Motiven seiner Entstehung betrachtet. Was folgt
daraus für die Frage nach der geschichtlichen Zuverlässigkeit seiner Erzählung?
Wir brauchen es nach dem Bisherigen kaum auszusprechen, die Schlußfolgerung
ergiebt sich von selbst. Je höheren Werth diese Schrift als Schlußstein der Ent¬
wicklung des urchristlicher Bewußtseins besitzt, um so zweifelhafter wird ihr
Werth für die Kenntniß von Thatsache», welche durch den Zeitraum von mehr
als einem Jahrhundert von ihrer Abfassung entfernt sind. Je mehr darin die
geschichtlichen Ereignisse einer beherrschenden Idee untergeordnet sind, um so
weniger kann sie den Anspruch auf Objectivität der Erzählung, auf geschichtliche
Glaubwürdigkeit machen. Ihr Zweck ist nicht, Geschichte zu erzählen, sondern
die Geschichte nach höheren Gesichtspunkten frei zu gestalten, und an den drei
ersten Evangelien besitzen wir eben den Maßstab für die Veränderungen, welche
der vierte Evangelist für seine Zwecke mit dem überlieferten Stoffe vorgenommen
hat. In demselben Maße, in welchem die Glaubwürdigkeit des vierten Evange¬
liums fraglich wird, steigt diejenige der Synoptiker. Dort haben wir eine
jüngere, hier eine ältere, dort eine philosophisch gefärbte, frei componirte, hier
eine den Thatsachen näher stehende, getreuere Darstellung. In allen Fällen,
wo die Erzählung des vierten Evangeliums mit derjenigen der Synoptiker in
Widerspruch kommt, ist die größere Wahrscheinlichkeit auf Seite der letzteren;
ja, je durchgreifender die Verschiedenheit ihrer Darstellung von der johanneischen
ist, sind wir auf jene allein angewiesen, um uns noch ein annähernd zuver¬
lässiges Bild von der geschichtlichen Gestalt Jesu zu machen.
Wohl die interessanteste und für den Literaturfreund werthvollste Gabe zum
diesjährigen Shakespeare-Jubiläum ist ein soeben in der weidmannschen Buch¬
handlung erschienenes Buch mit dem Titel „Kunst über alle Künste. Ein
bös Weib gut zu machen. Eine deutsche Bearbeitung von Shakespeares
Ite 'l'-rming ol' etre Llrrow aus dem Jahre 1672. Neu herausgegeben mit
Beifügung des englischen Originals und Anmerkungen von Reinhold Köhler."
Daß Shakespeare schon lange vor der Zeit, in welcher er in Deutschland
wieder entdeckt wurde, wenigstens in einigen seiner Stücke, wo nicht dem Na¬
men nach, den Deutschen bekannt gewesen, hat neuere Forschung klar heraus¬
gestellt. Schon im sechzehnten Jahrhundert zogen die sogenannten englischen
Komödianten durch das Reich. Gauklerbanden, die das hohe und niedere
Publicum zunächst durch Kunststücke aller Art. dann auch durch Schauspiele mit
allerlei aufregenden Scenen, blutigen Mordthaten, Hinrichtungen. Tyrannen
und Teufeln im Geschmack der Zeit vergnügten, zu denen ihnen als Grund¬
lage Dramen von Shakespeare und dessen Zeitgenossen dienten. In ähnlicher
Weise verfuhren die meist aus verlaufenen Studenten zusammengesetzten Wander-
gcscllschaften deutscher Herkunft, die auch die Producte heimischer Poeten benutzten.
Doch mußte man sich diese sowie Shakespeares Dramen nach den bisher be¬
kannten Proben als tief ins Prosaische, Bänkelsängerhafte und Wüste gezogen
vorstellen, die Clowns ihrer Persönlichkeit entkleidet oder durch den einen Hans¬
wurst ersetzt, der nicht Person, nicht Individuum, sondern in seinem ganzen
Empfinden und Thu» nur die verkörperte Lust der namentlich durch den
dreißigjährigen Krieg furchtbar herabgekommenen niedern Classe, alles, auch das
Edelste und Zarteste, in den Koth zu ziehen, nur die menschgewordene Gemein¬
heit und Pöbelhaftigkeit war. Der Schwung Shakespeares wurde von seinen
Verarbeitcrn in Schwulst verwandelt, an die Stelle seines Humors trat der
reine unverfälschte Blödsinn, seine Ironie wurde in Hanswursts Munde zur
Gefühllosigkeit, zur Freude am Schlechten, zum Sieg der Bestialität über
den Geist. Der Wahlspruch Hanswurste war: „Es muß alles verruinirt
werden."
Ist diese Vorstellung von der deutschen Volksbühne im siebzehnten Jahr-
hundert. im Allgemeinen richtig, und wird dieser klägliche Zustand derselben
(Dichter wie Gryphius schrieben für die bloße Lectüre und nach antiken Vor¬
bildern, daher zu gelehrt für das Volk, anch Weise war zu steif und langweilig,
um auf dem Volkstheater beliebt werden zu können) sich nach dem großen
Kriege nur gesteigert und verallgemeinert haben, so scheint die Regel doch nicht
ohne Ausnahmen gewesen zu sein, und zwar selbst nicht in der am meisten
verwilderten Zeit.
So wenigstens läßt uns die oben angeführte Bearbeitung des bekannten
shakespearcschcn Lustspiels schließen, die bisher, wenigstens den-Literarhistorikern
der neuesten Zeit, so gut wie unbekannt war. Gottsched erwähnt das Stück zwar,
setzt es aber in ein falsches Jahr (16S3) und weiß überdies nicht, daß es zu
Shakespeares Komödie in nächster Verwandtschaft steht. Eschenburg gedenkt
desselben und zugleich seiner Beziehung zur „Zähmung einer Widerspenstigen".
Auch Simrock und einige andere Forscher kennen es als Nachbildung eines
shakespearcschcn Originals. In den Geschichten der deutschen Dichtung und der
deutschen Bühnendichtung insbesondere sucht man aber vergebens darnach; denn
daß Gödeke im „Grundriß" den Titel ohne weitere Bemerkung aus Gottsched
anführt, ist um so weniger zu rechnen, als derselbe einige Seiten vorher
(S. 480) ausdrücklich behauptet: Uebersetzungen aus dem Englischen begegnen
(in der deutschen dramatischen Literatur des siebzehnten Jahrhunderts) nicht."
Die „Kunst über alle Künste" ist aber schon deshalb von Bedeutung für die
Literaturgeschichte, weil das Stück abgesehen von dem Peter Squenz des Andreas
Gryphius die erste gedruckte deutsche Bearbeitung eines Lustspiels des großen
britischen Dramendichters ist, sodann aber, weil aus dem Nachwort des Be¬
arbeiters hervorgeht, daß es nach einer im siebzehnten Jahrhundert auf den
deutschen Bühnen in Gebrauch gewesenen, aller Wahrscheinlichkeit nach ziemlich
wörtlichen Übersetzung des shal'espcareschen Stücks geschrieben und somit ein
neuer Beweis ist, daß der Einfluß der englischen Komödianten damals noch
fortdauerte, und endlich, weil es keineswegs eine Verballhornisirung oder Herab-
ziehung des Originals ins Gemeine und rein Possenhafte ist.
Das Bühnenmanuscript hatte mancherlei englische Redewendungen sowie
die im englischen Original vorkommenden italienischen Personennamen (Baptista,
Petruchio, Katharina, Bianca u. a.) beibehalten und ebenso andere Beziehungen
auf italienische Verhältnisse. Der Bearbeiter, seiner Sprache nach aus dem
westlichen Mitteldeutschland, verwandelt diese Namen in deutsche (Baptista heißt
bei ihm Herr Theobald von Grifflingcn, Katharina nennt er Jungfer Katharina
Hurleputz, Bianca Jungfer Sabina Süßmäulchc», Petruchio wird zu einem
Herrn Hartmann Dollfcder, Erbsaß zum Wirbelwind, der Clown Grumio zu
einem Ludolf Wurmbrand u. s. w.) und legt überhaupt dem Ganzen deutsche
Zustände zu Grunde, hält sich aber im Uebrigen fast durchgehends an den Sinn
und Gang der ihm vorliegenden Uebersetzung (das Original kennt er höchst
wahrscheinlich nicht) und erlaubt sich nur gelegentlich Wcglassungcn. Versetzungen
und Abweichungen, häufiger Zusätze; auch läßt er alle Personen in unge¬
bundener Rede sprechen. Er muß ein Mann von Geist und classischer Bil¬
dung gewesen sein, und wie man auch über den Werth des von ihm Hinzu¬
gethanen urtheilen mag, jedenfalls ist ihm gelungen, dem Stücke einen vollkommen
deutschen Charakter und ein solches Gepräge der Originalität zu verleihen, daß
ein Leser, welcher das englische Lustspiel nicht kennt, schwerlich auf die Ver¬
muthung kommen kann, die Bearbeitung eines ausländischen Werkes vor sich
zu haben.
Daß die „Kunst über alle Künste" sehr anstößige Stellen enthält, wird
denen, welche den Ton des siebzehnten Jahrhunderts kennen, ebensowenig auf¬
fallen, wie uns dergleichen in Shakespeare selbst, in Bocaccio und in Ansto-
phanes auffällt. Der Dichter ist an seiner Zeit zu messe», und man hatte
damals eben andere Begriffe von Wohlanständigkeit als heutzutage, und treffen
wir auf den einen und den andern durch Rohheit der Empfindung verletzenden
Einfall, auf Derbheiten und Unfläthereien, so wollen wir uns dieselben immer
noch eher gefallen oder weniger mißfallen lassen, als die süßlichen Zoten der
damaligen Pegnitzschäfer. Die Sprache des echten Hanswursts wird von den
Clowns des Stückes nicht geredet; selbst der Bediente Wurmbrand, der sich
den Mund am wenigsten gewaschen hat, wird nur grob und unsauber, nie¬
mals Bestie.
Eine Probe der Art. wie der Bearbeiter mit dem englischen Original oder
dessen Uebersetzung verfahren ist, mag das Gesagte bestätigen. Wir wählen
die Stelle, wo bei der Trauung Petruchivs (hier Hartmann Dollfeders) mit
Katharina die Cur der Widerspenstigen im Ernste beginnt.
Bei Shakespeare erzählt hier Gremio, für den der Bearbeiter einen
Sebastian von Unvermögen substituirt, dem Tranio, für den die deutsche Be¬
arbeitung einen Hilarius von Liebenthal einführt, welcher letztere aber in dieser
Scene in der Verkleidung des Kammerdieners Felix Bielwind erscheint:
^Viien tho priest
Lboulä äst — ii Latbarino sboulä do bis olle,
gog's-wouns", yuotb. do; kennt s>poro so konnt,
?bat, ^Il-^in^ii'ä/ rbo priest Ist iÄI tho book,
^na, as do Sloop'ä axx^ni to dato it ux,
?bis nack-br^in'ä bruiogroom took Jlia such g. <zuK',
"t'bat clown nött priest incl boolc, auel boolc linet priest:
„Aso talco thom up", «modh do, „it anz^ list."
^Vb^t sala the wonob ob.su be arose aZ^ni?
^s ik tho viear mes-ut to ooüön bim.
Lud g.nor manzs eeremovies civile,
He ealts lor wino: — be^leb!" ciuotb do; as ii
Ho das boon aboarä, oarousinA to bis watos
^.teor » storm: — ciugK'ni vti tho museÄciel,
^na tbrovv the sops all in the soxtens i»co;
Ilaving no other reason,
Litt that bis bearä grev tbiu al>«i liungöil/,
^.na seco'ä tho äst bim sops u.s be w-is c1rwIii»L.
^bis alone, do took tho drinke about tho nocte,
^us Kiss'ä der ijp« with such Ä elg-mvrous swaek
1'bat, at tho xartivg, all tho obureb alia col>o.
^.mal .1, ssoinA this, es.mo tbenoo ror vor)' shame;
^na Mer me, Icnov, tho rout is evening:
Lund. a nack marria^o uovor pas betöre.
Die Bearbeitung giebt dies folgendermaßen wieder:
Sebastian: der Priester hat alsobald da sein müssen (im Brauthause,
nicht wie bei Shakespeare in der Kirche), welchem er mit der trotzigsten Unge-
stümigkeit befohlen, ihn so bald i» aller Namen zu copuliren. Als er sich aber
entschuldigt, daß er unbereitet und nicht einmal ein Buch habe, hat er mit großen
Bedräuungen ihm einen Kalender, so zur Hand läge, hingestoßen und befohlen,
nicht viel Geschirr zu machen. Wie nun der Priester voll Schrecken das Ampt aufs
Kürzeste verrichtete und es auf die Frage kam, daß die Braut solle sagen, ob
sie sein Weil' sein wolle, rief er laut ja, und schwur so abscheulich, daß der
gute Geistliche sein schönes Ceremonicnbucb für Furcht fallen ließe, und wie er
sich bücken wollte, entwischte ihm, als einem dicken, von Schrecken ganz er¬
füllten Mann, ein Angstschweiß, worauf ihm der rasende Bräutigam einen sol¬
chen Schlag gab, daß er vollends bei das Buch darnieder fiele.
Felix: Was sagte sie aber dazu, half sie nicht mit in dieser Naserei?
Sebastian: Sie zitterte und badete wie cui Espenlaub. Als er solches
sahe, donnerte und hagelte er, daß alte Flüche nichts dargegen zu rechnen, und
stellete sich ganz unsinnig, als ob man ihm die Braut hätte nehmen wollen.
Als nun alles verrichtet, packet er die Braut um den Hals und drückete sie,
daß sie hätte mögen schwarz werden uno Mark lassen, tüssetc sie auch so laut,
daß eS <inen Wiederschall in dem Saal gab. Ich lies darvon. Denn ich für
Lachen nicht mehr bleiben oder zusehen konnte. Dergleichen ist nie sürgegan-
gen, wird auch nie geschehen.
Man sieht, der Bearbeiter hat den Charakter des tollen Bräutigams hier
nicht nur nicht bestialischer,, sondern sogar wesentlich gelinder und gewöhnlichen
Cholerikern seiner Zeit ähnliche gemacht, und er hat andrerseits durch Beilegung
der Scene aus der Kirche in ein Privathaus dieselbe für Deutschland möglich
werden lasse». Shakespeares Petruchiv schlägt den Priester nieder, weil er sich
nach dem Buche bückt, Hcirtmann dagegen, weil eine Unanständigkeit, die jenem
beim Bücken passirt, ihn zu größerer Wildheit aufregt. Petruchio schreit in
der Kirche nach Wein und gießt dem Küster den-Rest ins Gesicht, weil dessen
dürftig flehender Bart Begießen zu verlangen scheint. Die Bearbeitung weiß
nichts davon, obwohl das Benehmen des Bräutigams hier, wo eine Haus¬
trauung stattfindet, weit weniger unschicklich und rob erscheinen winde, als es
im Original erscheint. Geschickt und dem Wesen Hartmanns angemessen ist
dagegen der Zusah, der dem Priester statt des Ceremonicnbuchs einen Kalender
in die Hand giebt.
Aehnlicher Beispiele ließen sich noch verschiedene anführen, wir können sie
aber hier übergehen, da wir hoffen, daß die Leser sich die interessante Ent¬
deckung selbst ansehen werden.
Der Verfasser der „Kunst über alle Künste" ist bis jetzt noch ein Unbe¬
kannter. Doch mögen die Zeitgenossen seinen Namen gewußt haben, was um
so glaublicher ist, als, wie der Herausgeber zuerst nachgewiesen bat, von ihm
noch zwei andere Lustspiele, beide in Navpcrsweil erschienen, existiren. Das
eine, im Jahr 1673 gedruckt, heifit: „Der pedantische Irrthum des überwiegen
doch sehr betrogenen Schulfuchscs" und hat zum Anhang ein „singendes Possen-
spiel": „Die Lutvi'lo Nag'i8t.i'u,I<z, seltzame NvtÄiiroriilw8is" genannt. Das
andere, 1675 erschienen, führt den Titel: ..^,I»mock»eIl rvelmologisvliks In¬
terim oder: Des Ungeistlichen Geistlichen statistisch Scheinheiliges Schaffstieid",
und demselben ist ebenfalls ein Possenspiel ,.Der Biesirliche Exorcist" angehängt.
Der Herausgeber der „Kunst über alle Künste" hat sich zunächst um den
Text durch sorgfältige Ausmerzung der Druckfehler des ihm vorliegenden Ab¬
drucks und sodann nicht weniger durch zahlreiche werthvolle literarhistorische
und sprachliche -Bemerkungen den Dank der gelehrten Welt erworben. Eine
nicht unbeträchtliche Anzahl der von ihm herausgehobenen und erklärten Wörter
und Ausdrücke sind interessante Bereicherungen des deutschen Wvrterschatzcs in
s es rjftli es c r A nfzci es mung.
Bei Behandlung der preußischen Armee im Anschlusse an die Ereignisse in
Schleswig fehlt noch eine Bemerkung über die Artilleue und Pionniere. Bor dieser
Betrachtung aber wird in diesem letzte» Briefe ziemen, des Fürsten zu geden¬
ken, welcher sich in Schleswig vor andern ritterlich die Sporen verdient hat.—
Der Kronprinz von Preufien begab sich nur als Zuschauer auf den Kriegs¬
schauplatz, und niemand konnte erwarten, daß er neben seinem — allerdings
allgemein bekannten — Interesse für das Wohl des Landes Gelegenheit haben
Werde, durch Eingreifen in die Ereignisse auch politisches Talent und ein rich¬
tiges militärisches Urtheil zu zeigen. Dafi der Kronprinz das Herz der Truppen
6u gewinnen verstand, basi sich dies in dem Zuruf der Leute bei jeder Be¬
gegnung ausdrückte, weis; jeder Zeitungsleser und gehört nicht in diese Zeit¬
schrift, el» anderes ist es mit seinen Leistungen in der Politik und in der Krieg-
führung. Zwei Uebelpände zeigten sich in dieser Beziehung in der preußischen
Armeeleitung, Mangel an Triebkraft für die militärische Leistung und Neigung
zu einseitig politischem Eingreifen in die Landesangelegenheiten. Es ist aber
beim Heere wohlbekannt, daß nach beiden Richtungen der Kronprinz verstanden
hat, entweder durch directe persönliche Besprechung das Nothwendige herbeizu¬
führen, oder aber durch Bortrag bei seinem königlichen Vater das als Befehl
zu erwirken, was der Ueberredung nicht gelang. Die entscheidenden Schritte,
welche endlich zur Wegnahme der düppeler Schanzen führten, verdankt Deutsch¬
land vorzugsweise dem gewichtigen Eintreten des Kronprinzen für dieselben.
Solchem Handeln und dessen Erfolgen zollen wir warme Anerkennung, zumal
wir es als ein gutes Vorzeichen seiner Zukunft ansehen. Möge er immer fern
von dem Detail der Dinge bleiben, nie sich in seiner Stellung von einer ein¬
zelnen Liebhaberei abhängig machen, stets hoch über dem Ganzen stehen und
darin seine Erfolge finden, daß alle Theile harmonisch zusammenwirken für
das Wohl des Staats, nicht für das Interesse eines Einzelnen.—^ Der Kron¬
prinz hat die Grundlagen herbeigeführt zu einem für Deutschland günstigen
Frieden mit Dänemark, möge er mit eben solchem Glück einen für Deutschland
viel wichtigeren Frieden, den zwischen Preußens Herrscher und Preußens Volk
fördern.
Artillerie und Pionniere haben das Geschick des Kronprinzen getheilt, sie
wurden von den entscheidenden Kreisen eben nur als ein Anhang der Armee,
nicht als lebendige Theile derselben angesehen; auch sie haben in Schleswig
nicht nur ihre volle Bedeutung, sondern auch ihre große Leistungsfähigkeit be¬
wiesen und erwarten ein Gutmachen dessen, was man an ihnen bis jetzt ver¬
schuldet. —- Artillerie und Pionniere fordern die Anerkennung als Waffe und
ihren vollen Antheil an der Armecleitung. Die Artillerie außerdem noch ein
besseres Avancement, als man ihr bis jetzt, im Vergleich mit den andern Trup¬
pentheilen, gewährt hat. Dieser letzten Forderung will man, wie die Zeitun¬
gen berichten, durch eine Reorganisation genügen, welche die höheren Stellen
vom Regimentscommandeur aufwärts um 2!) dergleichen vermehrt. So sehr
man der preußischen Artillerie das daraus erwachsende Avancement gönnen muß,
so wenig kann man ihr die vorgeschlagene Art desselben wünsche». Die Ver¬
mehrung der nur inspicirenden Behörden ist ein Unglück für die Truppe, för¬
dert die Kleinigkeitskrämerei und tödtet den Geist. Will man der Waffe helfen,
so hebe man sie in sich, indem man den wirklich nothwendigen Stellen einen
der Sache entsprechenden hohen Rang giebt, und indem man dem höhern Ar¬
tillerieoffizier die Carrisre in die Armeeführerstellen öffnet. Will man allen
gerechten Anforderungen der Artillerie entsprechen, so empfiehlt sich folgende
Reorganisation:
Die Artillerie tritt in allen allgemeinen und taktischen Verhältnissen direct
unter die respectiven Truppcncommandos. in oberster Instanz unter die General¬
kommandos, die Gencralinspectivn der Artillerie wird für die letztere nur
eine rein technische Behörde.
Die vier Jnspecteurstellcn stehen ein, und die gcscunmte Artillerie eines
Armeecorps steht unter einem Generalmajor und Brigadecommandeur, dem
ein Oberst für die technischen Angelegenheiten, das Material und die Verwal¬
tung g.6 latus gegeben ist. Derselbe ist bestimmt, im Fall der Mobilmachung
das Commando der Reserveartillerie des Armeecorps zu übernehmen und
führt im Frieden die Korrespondenz mit der Generalinspection.
Die Artillerieoffiziere der Plätze werden nach der Bedeutung der letzter«
Obersten und Majore, erhalten Adjutanten und werden Commandeure der in
den Festungen und für jede Festung in geschlossenen Truppen unter eigenem
Kommando formirter Festungsnrtilleric.
Die Artillerie-Prüfungs-Commission besteht aus drei Generalen, drei
Obersten, drei Stabsoffizieren und einigen commandirten jünger» Offizieren
und ressortirt vom Kriegsministerium, damit die wissenschaftliche Behörde von
dem Disciplinarzwang der Waffe befreit wird.
Wer der Sache näher steht, wird einräumen, daß durch Annahme dieser
vier Punkte die vorhandenen Uebelstände möglichst gehoben werden und auch
das gewünschte Avancement herbeigeführt wird. Die Ueberführung der Artillcric-
und Pionnicr-Generale in die Armecleitung ist leichter, sobald für die Infanterie
und Cavallerie die Uebungen in größern Massen, wie schon früher ausgeführt,
eingerichtet werden und den höhern Generalen der rein technische Standpunkt
genommen wird, den sie jetzt haben.
Die Ingenieure und Pionniere müssen, so groß ihre Fortschritte auch übri¬
gens in den letzten Jahren auf diesem Gebiete sind, mehr zu einer Waffe
werden. Sie sind bis jetzt immer noch mehr Techniker als Soldaten, und ihre
vorgesetzten können sich, infolge der ganzen Ausbildung, nur ausnahms¬
weise zu Vorgesetzten anderer Waffen eignen. — Um dies für die Zukunft
möglich zu machen, müssen die vorhandenen neun Pionnicrbataillone zu drei
Regimentern in großen Garnisonen vereinigt' werden; dann wird nicht nur die
Entwickelung eines militärischen Geistes, sondern auch eine größere faktische
Entwickelung ihrer Uebungen ermöglicht. — Ferner muß die ganze Stufe der
rein technisch inspicirenden Vorgesetzten, die der Inspecteure, entfernt und den
Generalcommandos der Vorgesetzte der Ingenieure und Pionniere des Cvrps-
dezirks als General oder Oberst beigegeben werden. Auch das Avancement der
Ingenieure vom Platz in den Festungen erster Classe zu Obersten scheint
gerechtfertigt. Die technische Oberbchördc und eine wissenschaftliche Commission
beim Kriegsministerium bleibt, wie dies für die Artillerie näher ausgeführt war.
In allen diesen Vorschlägen liegt der schon wiederholt ausgesprochene
Wunsch für die preussische Armee, das; alle Veränderungen sich nicht ans die
Art der Ausbildung der Truppe», sonder» vor alle» Dingen auf die geistige
Belebung der Armeelei tu» g zu richte» haben').
Die Zeitungen melde», daß der deutsche Literat
Wilhelm Wolff in Manchester verstorben sei. Jedem allen Breslauer steigt in diesem
Namen el» Stück-Lvcalgeschichtr, bestimmter „Geschichte der brcSlaucr Inten¬
tionen" vor die Seele. Ich glaube aber, wenn sich eine Feder funde, welche die
Biographie des armen Zeitungsschreibers mit so viel Liebe, so viel Breite und Tiefe
schriebe, wie die von Perthes oder von Elters gearbeitet ist, so würden mir eine
höchst merkwürdige Ergänzung zu jenen Bilder» von dem Cnlturlebeu unseres Jahr¬
hunderts erhalten, eine» Beitrag zur Geschichte des deutsche» Communismus.
Heute liegt diese furchtbare Verirrung des Geistes weit hinter uns. Dank den Be¬
strebungen eines Schulze und de» Arbeite» unserer Nationalökonomen, vorzüglich
Dank der Preßfreiheit und den wenigen Quadratfuß, die auch der Redefreiheit 1848
erkämpft worden sind, ist der Spuk selbst aus den Köpfen der wandernden Hand¬
werker, der Arbeiter so gut wie ganz verschwrmdcn, und wir halten den Rückfall
in inne starken Irrthümer für unmöglich. Die Jüngsten vermöge» kaum mehr zu
begreifen, wie sie denn möglich waren, während die Leichtfertigen gar zu gern der
Zeit vergessen, da sich „in dem Schooß der Städte der Fcuerzunder still
sanfte". Wolff war cuicr der Manier, dk sich mit Stolz als Pionnicrc der Revo¬
lution bezeichneten und deren ganze Lust darin bestand, den Zunder zusammenzu¬
bringen und mit dem Fuirkcn in der Hand dem Augenblick e»lgege»z»sehen, wo er
ihn mit Aussicht ans Erfolg zum Brande aufflammen liebe. Dabei war er der
weichste, der gutmüthigste Mensch von der Erde.
Er war, wie A»»o 1840—1848 ziemlich alle Breslauer. Theolog, aber er hatte
much wirtlich die Theologie zum Gegenstände des Studiums gemacht. Seine Lehrer sind
nun schon alle verstorben und wer wird todte Menschen anklage»? Aber wir dürfen
doch daran erinuer», daß die theologische Wissenschaft und das kirchliche Leben einen
tiefen, schweren Schlaf thaten, bis jene durch Strauß und die Tübinger, diese durch
das „tolle Jahr" aufgerüttelt wurde» und nun wenigstens Wege zur Wahrheit,
Wege, diese ins Volt zu bringen suchten. Der sogenannte vulgäre Rationalis-
mus hat sich durch seine Gleichgültigkeit gegen das Volkswohl ebenso schwer ver-
sündigt, als sein Zwillingsbruder der ordinäre Liberalismus. Dieses pg^r nobilo
kratrum tyrannisirte damals Breslau und trieb jeden Jüngling von Geistes- und
Herzensfrische entweder dein Nndiealiömus oder dein Pietismus in die Arme. We'isf
wurde ein Radicaler, kirchlich, Politisch, social. — Es wurde von ihm erzählt, er
habe sein National in Brüssel eingetragen: Namen- W. Wolfs aus Breslau. Stand:
Kandidat der TheologieReligion: keine. Ob wahr oder nicht, die Geschichte wurde
in Breslau geglaubt, beklatscht.
Von dem Studium der Theologie zurückgestoßen. bei der unbegreiflichen Genüg¬
samkeit seines Wesens im Stande, von den noch nicht hundert Thalern jährlichen Ein¬
kommens, die ihm zu Gebote standen, zu leben, wurde er nach Neigung und Beruf
Volksschriftsteller. Nach zwei Seiten hin erwarb er slay erhebliche Verdienste. Er durch¬
wanderte die Kasematten, Ueberreste der Festung Breslau, Kellerwohnungen, in
denen die Aermsten des Volkes ein elendes Lebe» den, sichern Tote cntgcgcnfühtten.
Zur Zeit der Censur erhob er, der einzelne Mann, seine Stimme gegen den Magistrat
und die Polizcivcrwaltung der Haupt- und Residenzstadt und er erreichte seinen Zweck.
Ein wenig siegcstrnnkcn, schon nicht mehr allein, richtete er nun sein Auge auf
die Noth der schlesischen Weber im Eulcngebirge und fand dort Zustände, aus denen
der Communist leicht Capital machen konnte. Aber hier konnten Sammlungen.
Lotterien und andre Palliative nicht helfen. Ob sie geschadet, ob, wie weit sie den
häßlichen Weberanfruhr 1844 provocirt haben, weiß kaum jemand, die Processe
wurden geheim geführt; anch lebte man zu rasch, die Ereignisse, welche die Revo¬
lution herbeiführten, folgten zu schnell. als das; man nach den vergangnen Dingen
zu forschen Lust gehabt hätte. Die Grenzboten haben gelegentlich des beckecschcn
Attentates Act davon genommen, in wie andrer sittlicher Atmosphäre wir seit 1848
athmen. Ein Beweis dafür läge auch im Rückblick ans jenes Jahr, seine Sym¬
pathien für die empörten Weber und' die Erregtheit gegen ihre lintcrdrückcr. Es
lagen aus der einfachen Menschenliebe geborne, von der communistischen Presse ge¬
schickt vcnutzte Gedanken in der Luft. deren Gewalt sich kaum jemand entziehen
konnte. Ein hochgestellter und hochbetagter Geistlicher begrüßte die Fcbruarrcvo-
lution als die endlich gckonnnne Zeit, da die Armen nicht mehr für die Reichen
würden arbeiten müssen.
1844 blühte die Agitation unter uns oder sie knoSPetc; denn sie wucherte im
Stillen, geheime Handwerker-, geheime Studenten-Verbindungen hegten die heiligen
Flammen und in diese nun wurden durch einzelne Eingeweihte Manuscripte, Eoncspon-
dcnzcn aus dem „Vorwärts", aus der Trierschen Zeitung (die Rheinische war schon
>öde, die Rngcschcn Jahrbücher auch) hineingebracht: in solchen Kreisen hatte Wolfs
einen Namen. Ich besinne mich auf eine seiner Correspondenzen für das „Vor¬
wärts" noch lebhaft, weil sie an Haß, an Bitterkeit und Sauscülottiömus alles
überbot, was ich je gelesen habe, Uebrigens erschien sie bcrcitv dem Studenten als
unreif. Bald darauf ist Wolff »ach Paris gegangen. 1848 kehrte er nacb Breslau
zurück, gewann aber keinen großen Einfluß mehr; er ging auch dann nach Köln,
u>» sich an der Redaction der „Neuen RhcinisclM" zu betheiligen. 1849 ins
frankfurter Parlament gewählt, trat er Carl Vogt, dem „Schmälzn" scharf ent¬
gegen und wollte Thaten. Als dort der „Kascmattenwolff" den Antrag stellte, den
Reichsverweser für einen Hochverräther zu erklären, jauchzten einige Arenndc. aber
Boden hatte der Mann nicht mehr. Er war fast schon ein Fremdling in seiner
Zeit. Polnischer Flüchtling, hat er als Privatlehrer still und gewiß wohlthätig
in Manchester gelebt, und bei uns in Breslau könnte doch wohl Mancher Grund
haben, dem Verschollenen eine Blume aufs Grab zu legen.
Meyers Handatlas der neuesten Erdbeschreibung. Hildburghausen,
Verlag des Bibliographischen Instituts. 25.—30. Lieferung und 1. Supplement-
licferung.
Die sechs regelmäßigen Lieferungen enthalten- Deutschland in vier Blättern,
den Südwesten von Frankreich, den Süden von Norwegen, den Süden von Schwe¬
den, die Südhülste von Italien bis gegen den 40. Grad hin, Tirol und Vorarl¬
berg, Salzburg, die Niederlande und Belgien, endlich China und Japan. Die
Supplement-Lieferung bringt eine Specialkarte von Holstein und Lauenburg mit
Städtcplänen von Hamburg und Lübeck und eine zweite vom Herzogthum Schleswig
mit einem Plan der Stadt Schleswig. Auch diese Fortsetzung des Unternehmens
verdient durchgehends das Lob, welches den frühern Lieferungen gebührte, und wird
dasselbe, welches jetzt zu drei Fünfteln der in Aussicht gestellten Zahl von Blättern
vorliegt, wie bisher fortgesetzt, so werden die Käufer nach Vollendung des Ganzen
einen Atlas besitzen, welcher allen Anforderungen entspricht, die bei einem so wohl¬
feilen Preise billigerweise zu stellen sind. Das Papier ist gut, die Karten sind mit
Benutzung der neuesten Materialien correct und sauber ausgeführt. Nur wenige
Blätter der Sammlung lassen bemerken, daß bisweilen über dem Bestreben, in den
topographischen Angaben möglichst reichhaltig und vollständig zu sein, vergessen
wurde, daß hierunter die Deutlichkeit und Klarheit leiden kann. Viele andere da¬
gegen sind Muster sorgfältiger und geschmackvoller Behandlung, und namentlich die
Darstellung hoher Gebirge, die in diesem verhältnißmäßig nicht großen Maßstabe
eine Hand erfordert, welche mit Tact zwischen Willkür in den Formen und zu
ängstlicher Ausführung die rechte Mitte zu treffen weiß, ist fast allenthalben wohl
gelungen. Können wir demnach das Ganze, so weit es vorliegt, dem Mann der
Wissenschaft wie dem Laien bestens empfehlen, so erhält es auch dauernden Werth
durch das Versprechen der Verlagshandlung, solche Karten, welche während des
Erscheinens des Atlas infolge von neuen Forschungen und Entdeckungen als der
Veränderung oder Vervollständigung bedürftig erscheinen könnten, durch corrigirte
Blätter zu ersetzen. Bei der großen Vervollkommnung, welche die Kartenzeichnung
in den letztverflossenen Jahrzehnten erfahren hat, ist was hier von dem meyerschen
Unternehmen gerühmt wurde, selbstverständlich kein Lob, welches nur auf dieses An¬
wendung litte, wohl aber empfiehlt sich dieser Atlas vor den meiste» ander» dadurch,
daß man durch ihn gute Karten für wenig Geld (das Blatt kostet nicht ganz vier
Silbergroschen) und in rascher Aufeinanderfolge erhält.
Auf der londoner Konferenz ist, dem Vernehmen nach, seit das Project
der Personalunion gescheitert, der früher schon einmal für kurze Zeit aufgetauchte
Plan einer Theilung Schleswigs nach dem Maßstabe, den die Nationalität an
die Hand giebt, von Neuem zur Sprache gekommen, "und die deutsche Presse
hat begonnen, diesen Gedanken zu discutiren. Indem wir im Folgenden in
die Erörterung der Sache eintreten, beantworten wir zuvörderst nach zwei Seiten
hin die Frage: Wer sind die Nordschleswiger, um dann die Lösung der fer¬
neren zu versuchen: Ist eine Theilung überhaupt zulässig und welche? Leiden¬
der Grundsah wird uns dabei sein, nur der Gerechtigkeit und Wahrheit zu
dienen, Leidenschaftlichkeit zu vermeiden und die Regel zu beachten, nach welcher
zu viel beweisen wollen nichts beweisen heißt.
Fassen wir also das Herzogthum Schleswig nach der Nationalität seiner
Bewohner ins Auge, so finden wir, daß dasselbe im Allgemeinen, d. h. wenn
man von einzelnen hier wie in allen Grenzländern vorkommenden Ausnahmen
absieht, in zwei große Hälften zerfällt, eine im Süden, die weit überwiegend
deutsch, respective verdeutscht ist, und eine im Norden, deren Charakterisirung wir
spater vornehmen werden.
Reine und ursprüngliche Deutsche sind von der Bevölkerung jener Süd-
Hälfte zunächst die zum Stamme der Sachsen gehörigen Bewohner der Landes¬
mitte von den hüttener Bergen bis zum Zusammenfluß der Eider und der Treene
und von der holsteinischen Grenze bis zum Dannewerk. Dann die Marschleute
Eiderstedts und die östlichen Nachbarn derselben auf der Geest bis zur Mitte
des Laufs der Treene. Endlich die an der Westküste von Husum bis zur Windau
sich hinaufziehenden, die Nordseeinseln Sylt, Föhr, Pelworm, Nordstrand und
die Halligen bewohnenden Friesen.
Gemische dagegen mit ursprünglich fremden Elementen, jetzt aber gleich den
Slaven Südostholsteins schon längst vollkommen verdeutscht sind die Bewohner
der Halbinseln Dänisch-Wohld und Schwansen. Aehnliches, nicht ganz das
Gleiche, gilt von den südlichen Anglern und von dem weitaus größten Theil
der nördlichen, sowie von der Bevölkerung zwischen Angeln und den friesischen
Marschen bis etwa zu der Linie Jmmenstedt, Sollerup, 'Bollingstedt, Fahren-
stedt. Weiter nördlich ist in der Landesmitte der Proceß der Verdeutschung
noch im Gange, und in dem einen Kirchspiel überwiegt das deutsche, in dem
andern das fremde Element.
Noch weiter im Norden des Herzogthums, von einer Linie an, die wir
vorläufig zwischen Tondern und Flensburg ziehen wollen, ist jener Proceß nicht
mehr oder doch nur in schwachen Spuren noch zu bemerken. Lediglich die
Städte und Flecken sind zum Theil von Deutschen bewohnt. Das Landvolk
sowie die Mehrzahl der Städter, namentlich sast die ganze niedere Classe, ge¬
hört einem Mischvolk an, welches keinen völlig bestimmten nationalen Charakter
hat, seiner Sprache und einigen andern Eigenthümlichkeiten nach aber jeden¬
falls näher mit den Dänen als mit den Deutschen verwandt oder, wenn wir
den Unterschied zwischen den Jnseldänen und der auf dem Festland wohnenden
Bevölkerung des Königreichs Dänemark betonen wollen, im Großen und Gan¬
zen dasselbe Volk ist wie die Bewohner des Südens von Jütland. Uebereifrige
Schleswig-Holsteiner werden sich dies vermuthlich ebenso ungern sagen lassen,
wie sie die Thatsache hören werden, daß die Verdeutschung mancher Bezirke im
Süden sich keineswegs von selbst gemacht hat, sondern auf künstlichem, wenn
auch nicht gerade, wie die Dänen behaupten, und wie selbst Etatsrath Fakel in
der Ständeversammlung einmal meinte, auf gewaltsamen Wege erreicht worden
ist. Doch werden sie. hoffen wir, mit unserm Endergebniß zufrieden sein.
Betrachten wir das Hauptkriterium der Nationalität, die Volkssprache,
so bemerken wir, daß Schleswig, von den Marschen und Inseln zwischen Husum
und dem Hcverstrom einerseits und der Wiedau andrerseits abgesehen, wo
meist friesisch geredet, aber zugleich von jedermann deutsch verstanden und ge¬
sprochen wird, in vier Districte oder Zonen zerfällt. Der erste Distnct ist
der, in welchem das Volk sich nur des Plattdeutschen als Umgangssprache'be¬
dient. Der zweite umfaßt die Striche, wo dasselbe alleinige Haus- und Ver¬
kehrssprache der großen Mehrzahl und das Hochdeutsche wohl bekannt ist. Der
dritte begreif! die Landestheile in sich, in welchen wenigstens die Erwachsenen,
namentlich die Männer, fast alle beider Sprachen, des Plattdeutschen sowie des
Idioms mächtig sind, welches wir vor der Hand als Plattdänisch oder Südjütisch
bezeichnen, und in denen zugleich noch einige Kenntniß des Hochdeutschen an¬
getroffen wird. Der vierte District endlich ist der Norden, wo auf dem Lande
das dänische Patois so gut wie ausschließlich herrscht, Kinder nirgends , Frauen
sehr selten, Männer nur ausnahmsweise irgendwelches Deutsch verstehen.
Zu der ersten Zone gehören zuvörderst die beiden Halbinseln Dänisch-
Wohld und Schwansen. Dann herrscht das Plattdeutsche ausschließlich in der
Landschaft Eiderstedt. Endlich wird in der Landesmitte von der Eider bis
hinaus zu der bereits erwähnten Linie Husum. Jmmenstedt, Sollerup, Bölling-
Stadt. Fahrenstedt und in fast allen Kirchspielen Angelus im gewöhnlichen Ver¬
kehr nur Plattdeutsch und daneben Hochdeutsch gesprochen.
In Dänisch-Wohld und Schwansen sind auch Sitte und Bauart der Häuser
durchaus dieselben wie im benachbarten Holstein, und dasselbe gilt von der Landes-
mittc im Süden. Früher war dies auf den beiden Halbinseln, wie schon die Namen
derselben (Schwansen — Svansö — Schwancninsel) und die zahlreichen däni¬
schen oder an das Dänische anklingenden Ortsnamen. vorzüglich in Schwansen,
z. B. Gammelby. Fleckeby, Tumby. Eschclsmark, Ornum andeuten, nicht so.
Wenn im dänischen Wohld der alte Dialekt ausgestorben ist, wissen wir nicht.
Dagegen ist nachznwcisc», daß derselbe in Schwansen noch um die Mitte des
vorigen Jahrhunderts von Vielen, namentlich in den Dörfern an der Schlei,
neben dem Plattdeutschen geredet wurde.
Eidcrstedt, von Friesen bewohnt, hat schon seit geraumer Zeit das frie>
fische Idiom mit dem seiner südlichen und östlichen Nachbarn vertauscht. In
Angeln dagegen sprach man noch vor hundert Jahren und in den meisten
nördlichen Kirchspielen bis in die ersten beiden Decennien des jetzigen Jahr¬
hunderts hinein fast nur den Jargon, welcher als Anglcrdänisch bezeichnet wird
und dem Patois der Südjütcn nahe verwandt ist. Dieses Idiom ist gegen¬
wärtig zwar bis auf zwei oder drei Kirchspiele in der Gegend von Glücksburg
und einzelne alte Leute sowie einige neuerdings vom Norden in die nordwest¬
lichen Harder der Landschaft eingewanderte Dienstboten völlig vergessen. Das
Schriftdänisch, welches das Sprachrescript der tyrannischen Zeit von 1850 bis
1863 den Schulkindern einzutreiben gebot, hat nirgends Wurzeln zu schlagen
vermocht; die dänische Predigt dieser traurigen Periode konnte schon deshalb
noch weniger die gewünschte Frucht bringen, weil niemand sie hören mochte,
und von den fünfzigtausend Einwohnern des Ländchens verstehen und sprechen
sicher keine fünftausend irgendeinen dänischen Satz. Allein das ganze Gebahren,
der ganze Habitus des Anglers läßt noch immer bemerken, daß er andern Stam¬
mes ist als das Volk südlich der Schlei. Schon die Bauart der älteren Ge¬
höfte, in der sich der sächsische Stil (vgl. Grenzb. 1864. Heft 14) mit dem süd¬
jütischen mischt, deutet dies an. Ferner gehören hierher die großen Hochzeiten,
welche im Süden nicht, wohl aber im Norden vorkommen. Dann muß an den
Holzschuh erinnert werden, der die Fußbekleidung des Anglers wie des Nord-
schleswigers und des Juden bildet, während er jenseits der Schlei und des
Dannewerts nicht allgemein gebräuchlich ist. Nicht unbemerkt darf der eine und
der andere Nachklang dänischer Art in der Sprache (ich soll statt: ich werde, das
häufige: „Wie belieben?" die Übersetzung von „spät behagcr" u. a.) bleiben.
Vor allem aber sind die den Angler charakterisirende Aufgewecktheit und Zuthu-
lichkeit, sein schlaues Auftreten in allem Verkehr und andrerseits seine zögernde
Behutsamkeit - lauter Eigenschaften, die er mit dem Nordschleswiger theilt,
und mit denen er im auffälligen Gegensatz zu dem Volke sächsischen Stammes
im Süden steht — Zeugnisse dafür, daß die Verschmelzung mit dem herauf¬
dringenden niederdeutschen Wesen hier noch nicht völlig vollendet ist.
Damit soll nicht gesagt werden, daß die Angler Dänen oder doch ein
skandinavischer Stamm sind. Auch die Juden, wenigstens die Südjüten, sind,
wie zu zeigen sein wird, keine Skandinavier oder doch nur der Uebergang zu diesen.
Versuchen wir die älteste Geschichte der Angler, soweit es die dürftigen
Nachrichten über dieselbe zulassen, für unsren Zweck aufzuhellen, so werden
wir zu dem Resultat kommen, daß sie ein Mischvolk, bestehend aus der Ver¬
schmelzung von Resten des urzeitlichen Stammes der Angeln mit Juden und mit
Sachsen sind, und daß sie vor Annahme der deutschen Sprache eines der Mittel¬
glieder zwischen Deutschen und Dänen bildeten.
Die Angeln, vom Süden der Elbe heraufgezogen — von wo ist mit Be¬
stimmtheit nicht zu sagen — waren sicher zu Ende der Völkerwanderung im
Besitz eines großen Theils des heutigen Schleswig, sehr wahrscheinlich hatten
sie die ganze Ostküste inne. Ethelwerd läßt sie zwischen den Sachsen und den
Juden wohnen und nennt Schleswig als ihre Hauptstadt. Ebenso gewiß ist,
daß sie an dem Zuge niederdeutscher Stämme theilnahmen, der, gewöhnlich
als Hengists und Horsas Zug bezeichnet, die Eroberung Britanniens zur Folge
hatte. Nach Beda waren sie und ebenso die Juden Deutsche, und sehr wahr¬
scheinlich redeten sie in dieser Periode im Wesentlichen die Sprache, von der
uns im Beowulfslied und im Stop schriftliche Denkmale erhalten sind, eine
Sprache, die von dem Dialekt der Sachsen damaliger Zeit kaum sehr verschieden
gewesen sein dürste, mit dem alten Dänisch aber wohl nur das gemein hatte,
worin alle niederdeutschen Mundarten den skandinavischen sich nähern. Ein
Nachklang dieses Idioms scheint der Name des Dorfes Querr zwischen Flens-
burg und Kappeln zu sein, mit dem man das angelsächsische Wort eveorn
(Mühle) vergleichen mag. Ferner hat die früher in Angeln gesprochne Mund¬
art Ähnlichkeit mit dem Angelsächsischen durch ihre vielen gedehnt. und fast
doppelt ausgesprochnen Vocale, und endlich giebt es in derselben eine Anzahl
Redensarten und Wörter, die sich weder bei den Dänen noch bei den Friesen
finden, wohl aber bei den heutigen Engländern. Proben davon sind das Wort
„Krickcr" (Grillen, Heimchen), welches den englischen eriekets entsprickt, wo¬
gegen der Däne dafür Faarkyllinger (wörtlich übersetzt: Schafsküchlein), der
Friese Faarkocker sagt, und die Redensart: „Ac wander Brod", die im Eng¬
lischen ^ nimt dreaä heißt, während sie auf Dänisch mit „nig Sattes Brod"
ausgedrückt wird.
Die Auswanderung der Angler nach Britannien, die sich nicht blos aus
den einen soeben erwähnten Zug beschränkte, scheint nun den größten Theil des
Stammes der Heimath entführt und nur in dem jetzt noch dessen Namen tragen-
den Ländchen zwischen der Schlei und der flensburger Föhrde stärkere Reste
desselben zurückgelassen zu haben. Die Landesmitte, so haben wir uns diesen
Proceß vorzustellen, leerte sich als der am wenigsten fruchtbare Theil zuerst und
am vollständigsten. Auch die beiden südlichen Halbinseln Schwcinsen und Dänisch-
Wohld wurden teilweise entvölkert, und nun begann eine Einwanderung von
Norden her. In die verlassnen Strecken rückten Juden ein, und dies hatte eine
fast totale Umgestaltung der Sprache im Gefolge. Die Angler wurden ein
Mischvolk aus südjütischen und ursprünglichen Elementen, von denen die ersteren
überwogen. In ganz Schleswig mit Ausnahme der friesischen Westküste und
der damals wenig besiedelten südlichen Landesmitte bis zum Dannewerk sprach
das Volk fortan den südjütischen Dialekt, in dem sich im Osten, namentlich
zwischen der Schlei und dem flensburger Busen einige Spuren des altanglischen
Idioms erhielten.
Wie diese Mundart sich zum Dänischen und andrerseits zum Deutschen ver¬
hält, möge eine liedartige Ueberlieferung von der gestrengen Frau von Tollgaard
zeigen, die zu Pastor Jensens Zeit (1840) noch im Volksmunde war, und in der
sich wohl eine alte Göttin birgt. Der Sage nach durste der Gottesdienst nicht
Vor Ankunft der Dame beginnen. Erfolgte diese, so sang der Priester zum Küster:
„Nu ka do go op o ring.
Nu tonner ä Fron fra Tollgaard."
Und der Küster antwortete:
„Nu dommer hun. nu tonner Ann Post.
Fra Tollgaard över Tingwaj
Med hier wied Oeg
Med Knopper Hör
O Stücker Smör
O seur Raulief."
Das heißt auf Dänisch:
Nu kan du gaae op og ringe. Nu tonner Fruen fra Tolgaard. — Nu
tonner hun. nu tonner Ane Post, fra Tolgaard over Tingvei med fire holde
Oeg. med Knipper Hör og Stykker Smör og störe Nugbröd.
Und auf Deutsch:
Nun kannst du hinaufgehen und läuten. Nun kommt die Frau von Toll¬
gaard. Nun kommt sie. nun kommt Anne Post, von Tollgard über den Ge¬
richtsweg mit vier weißen Pferden, mit Bünden Flachs, mit Stücken Butter
und großem Roggenbrod.
Man sieht, die Wörter sind dänisch, aber der Artikel ist wie im Deutschen
vorgesetzt, nicht wie im Skandinavischen angehängt.
Die Einwanderung der Juden hatte die deutsche Nationalität um eine
gute Anzahl von Quadratmeilen gebracht. Aber das von derselben verlorene
Terrain sollte auf friedlichem und im Ganzen naturgemäßen Wege zurückge-
wonnnen werden. In den letzten Jahrzehnten des Mittelalters begann die
Einwanderung holsteinischer Adeligen, die sich allmächtig zu Herren eines großen
Theils des Grundes und Bodens machten. Andere Deutsche folgten. Deutsches
Recke sing an in den Städten zu gelten. Die Reformation drang ein und mit
ihr zunächst die plattdeutsche, dann die hochdeutsche Sprache auf der Kanzel.
Das Schulwesen fügte sich, als es wirksamer organisirt wurde, ebenfalls in
diese Formen, die bei dem Volte nur gelegentlich und dann nur auf schwachen
Widerstand stießen. Jmmermehr zog sich das Anglerdänisch, das in der letzten Zeit
mit zahlreichen plattdeutschen Vocabcln gemischt war, Vor dem von Süden
kommenden Idiom zurück, und gegenwärtig ist es, wie bemerkt, nur noch im
äußersten Norden, zwischen Adelby. Muntbrarup und Glücksburg Volkssprache.
Die zweite Zone begreift zunächst einen Strich in der Landesmitte in
sich, der sich nördlich von der Linie Husum, Innenstadt. Sollerup, Bollingstedt,
Fahrenstcdt in der durchschnittlichen Breite von einer Meile zwischen Angeln
und Nordfricsland hinzieht, dann die südlichen Kirchspiele des Saumes der an die
friesische Marsch angrenzenden Geest bis in die Gegend von Joldelund, endlich
alle Dörfer in der unmittelbaren nördlichen und westlichen Nachbarschaft von
Flensburg. Die Bewohner dieses ganzen Districts sind von jüdischen Stamm,
denen sich, obwohl weniger wie in Angeln, sächsische, im Westen auch friesische
Elemente beigemischt haben.
Die dritte Zone ist die Landesmittc Von der nördlichen Grenze der
zweiten (die in ihrer Osthälfte etwa durch die von Flensburg nach Husum
führende Chaussee bezeichnet wird) bis ungefähr zu den Kirchspielen zwischen
Tondern und Flensburg, in welchen bis zu dem Sprachrescript von 1830 in den
Schulen deutsch unterrichtet wurde, was beiläufig jetzt wieder geschieht. Das
Plattdeutsche ist hier nicht mehr die Sprache des Hauses, wohl aber ist es wie
das Hochdeutsche noch ziemlich Vielen einigermaßen geläufig, und wenn man hier
des letzteren nicht in dem Maße wie in dem größten Theil Angelus mächtig ist, so
erklärt sich diese Erscheinung daraus, daß die Schulen hier weniger fleißig besucht
werden als dort, ein Umstand, der wiederum darin seine Erklärung findet, daß
hier in der Haidcgegend die im Osten übliche Einhegung der Felder mit Knicks
nicht gebräuchlich ist. und daß deshalb die Kinder mehre Monate im Jahr zum
Viehhüten benutzt werden müssen.
Die Nordgrenze der dritten Zone, die mit der zweiten circa 2S bis
28.000 Menschen und etwa zehn Quadratmeilen umfaßt, bilden nach dem
Gesagten die Kirchspiele Bau (nördlich von Flensburg), Mcdelby. Ladclund,
Süderlygum, Uberg, Tondern,. Aventoft, Neukirchen und Nodenäs, die Süd¬
grenze der vierten dagegen die Kirchspiele Hvlebüll. Tinglcv. Buhrkall, Hostrup,
Ahnt, Mögcltondern (dänische Enclave) und Hoher. In den letzteren sowie in
allen übrigen Dörfergruppen des nördlichen Schleswig herrscht die plattdänische
oder südjütische Volkssprache ausschließlich, in den Kirchen wird Hochdänisch ge¬
predigt, in den Schulen in derselben Sprache unterrichtet.
Rechnen wir also zu unsern drei ersten Zonen noch Friesland mit seinen
Inseln und Fehmarn. dessen Bewohner, zum Theil germanisirte Slaven, durch-
gehends deutsche Sitte und Sprache haben, und nennen wir diese Gruppe
Südschlcswig. so umfaßt letzteres, nach Propsteien und Kirchspielen gerechnet,
die Propstei Flensburg mit 28, die Propsiei Gottorf mit 31. die Propstei
Hütten mit 18, die Propstei Husum mit 26, Eiderstedt mit 18. die Propstei
Fehmarn mit 4 und einen Theil der Propstei Tondern mit 29 Kirchspiele».!
, Nordschleswig dagegen begreift in sich die Propstei Hadersleben mit 34,
die Propstei Apenräde mit 19, die Propstei Sonderburg mit 7. das Bisthum
Alsen mit 18, Törninglchn (unter dem Bischof von Ripcn stehend) mit 29 und
einen Theil der Propstei Tondern mit 13 Kirchspielen.
Mithin gehören von den 274 Kirchspielen des Herzogtums Schleswig zu
der in obiger Weise zusammengesetzten südlichen Gruppe 154, zur nördlichen
Hälfte 120. In den 154 Kirchspielen Südschleswigs war, wie bemerkt, bis
1850 Hochdeutsch die Sprache der Schule und mit einigen Ausnahmen auch die
der Kirche. Nur in der Heiligen-Geist-Kirche zu Flensburg war der Gottes¬
dienst dänisch, und in zwei oder drei Kirchen in der Nähe von Tondern wurde
jeden dritten oder vierten Sonntag dänisch gepredigt, aber, wie sonst immer,
deutsch gesungen. In Nordschleswig dagegen wurde damals in den Städten
Hadersleben, Apenrade und Sonderburg der Schulunterricht in deutscher -spräche
ertheilt, und ebenso wurde die Hauptprcdigt in derselben gehalten. Aehnlich
war das Verhältniß in der Herrnhuter-Colonie Christiane>seid und in dem Flecken
Gravenstein. In dem Flecken Lygumtloster fand in jedem Monat und in Kliplev
«n jedem dritten Sontag eine deutsche Predigt statt.
Wie dieses Verhältniß, mit welchem alle Theile mit seltenen Ausnahmen
zufrieden waren, von den Dänen dahin umgestaltet wurde, daß nicht nur in
fast allen Kirchspielen unsrer zweiten und dritten Zone, sondern auch in der
^ößern Hälfte Angelus die Kirche zum Theil, die Schule ganz danisirt wurde,
'se bekannt. Ebenso, daß die Civilcommissärc die alte, Einrichtung zur Freude,
wenigstens nicht zum Verdruß und in mehr als einem Kirchspiel auf ausdrück¬
lichen, fast einmüthigen Wunsch der Bevölkerung wiederhergestellt haben.
Die Gesammtbevölkerung deS Herzogthums Schleswig betrug nach der
Zahlung von 1860: 409,907 Seelen, von denen beiläufig 204,323 dem männ¬
lichen. 205.584 dem weiblichen Geschlecht angehörten. Von diesen wohnten in
der Propstei Flensburg 57,174, in den Propsteien Gottorf und Hütten 52.062,
auf Fehmarn 9,594. in Eiderstedt 18,680. in der Propstei Husum 37.131. in
den deutschen Kirchspielen der Propstei Tondern 32,345, und zu Rendsburg sind
3.00S eingepfarrt. Folglich zählte der südliche Theil des Herzogthums. wo mit
Ausnahme einiger (5 bis 6) Dörfergruppen unsrer dritten Zone von allen Ein¬
wohnern, mindestens allen Erwachsenen, der einzelnen Ortschaften deutsch ge¬
sprochen und verstanden, wenn auch nicht von allen täglich gebraucht wird.
258,039 Seelen, die sich über ein Gebiet von circa 90 Quadratmeilen vertheilten.
In Nordschleswig wohnten damals in der Propstei Hadersleben 42,311,
in der Propstei Apenrade 26,591, in der Propstei Sonderburg 15.634, in dem
Bisthum Alsen 29,166, in Törninglehn 22,087, in den dänischen Kirchspielen
der Propstei Tondern 13,682, zu Ripen waren 2.380 eingepfarrt. Dieser platt¬
dänisch sprechende und aus dem Lande hochdänisch unterrichtete Theil des Her¬
zogthums ist also in Summa von 151,848 Individuen bewohnt. In diese
Zahl sind aber die Bewohner der Städte Hadersleben, Apenrade, Sonderburg
und der Herrnhuter-Colonie Christiansfeld eingerechnet, die 1860 zusammen
17.720 (Hadersleben 8.012, Apenrade 5.133. Sonderburg 3.879. Christians-
seld 681) Einwohner hatten, und wo bis 1850 deutscher Schulunterricht herrschte.
Mithin würde die früher in dänischer Sprache unterwiesene Bevölkerung Nord¬
schleswigs nur 134,128 Individuen betragen.
Wir kommen jetzt, nachdem festgestellt ist, wer sprachlich zu Südschleswig zu
rechnen und wo die Grenze zwischen diesem und der Nordhälfte des Herzogthums zu
ziehen sein würde, zur ausführlichen Beantwortung der Frage: Wer sind die
Nordschleswiger? Im Obigen ist diese Frage kurz dahin beantwortet worden:
sie sind im Wesentlichen dasselbe Volk wie die Bewohner des Südens von Jüt-
land, und dies wird hier zu beweisen sein.
Wenn die Nordschleswiger dem Aeußern nach, in Wuchs, Haar und Augen¬
farbe, Gesichtsbildung u. d. den Südjüten ähnlich sind, so würde das kein
Beweis für eine besonders nahe Verwandtschaft dieser mit jenen sein; denn in diesen
Beziehungen stehen sich alle Stämme der cimbrischen Halbinsel im Allgemeinen
gleich nahe. Dagegen ist die Volkssprache, kleine Dialel'tabweichungen abgerech-,
net, in Nordschleswig, wie bereits bemerkt, dieselbe wie im südlichen Jütland.
Deutsche Schriftsteller haben von derselben behauptet, sie sei kein Dänisch, sie
habe „nur eine dänische Färbung", die sie dadurch bekommen habe, daß die
ursprüngliche Volkssprache durch die neuere dänische Schul- und Kirchensprache
seit Jahrhunderten bereichert worden sei. Wir bedauern, dieser Meinung ent¬
gegentreten zu müssen. Sie geht offenbar viel zu weit. Allerdings ist wahr,
daß ein aus den kopenhagner Salons kommender Däne, ja daß überhaupt der
Jnseldäne von dem Landvolk um Hadersleben und Apenrade nicht immer ver¬
standen werden und daß er seinerseits noch viel weniger klar darüber sein wird,
was gemeint ist, wenn ihn ein Bauer Nordschleswigs etwa fragt: „Er do kjört
o ä Aielwei til steif?" (Bist du auf der Landstraße zur Stadt gefahren?)
oder ihm auseinandersetzt: „Ac Oart o ä Rau stoar got" (die Erbsen und der
Roggen stehen gut). Aber ganz dieselben Verlegenheiten werden eintreten, wenn
ein Berliner von schwäbischen oder zürcher Bauern in ihrem Dialekt angeredet
wird, oder ein Echtester sich unter kölner oder holsteincr Pole, das seine platte
Mundart redet, versetzt sieht, und doch wird niemand behaupten wollen, daß
der Schwabe und der Zürcher nicht ein ebenso guter Deutscher wie der Berliner,
der Schlesier nicht gleicher Nationalität wie der Kölner und der Holsteincr sei.
Das Raben- oder Kartoffeldänisch Nordschleswigs und Südjütlcmds würde
sich von der dänischen Schriftsprache nur wie Platt- von Hochdeutsch und nicht
einmal so sehr unterscheiden, wenn es nicht einige wichtigere Differenzen zwischen
den beiden Idiomen gäbe. Dahin gehört zunächst als die Hauptsache, daß der
Nordschleswiger, während die Jnseldänen den bestimmten Artikel dem Substantiv
anhängen, falls kein Adjectiv beigefügt worden ist, den Artikel immer nach
deutscher Weise voranstellt. Die Redeweise der Jnseldänen ist in dieser Be¬
ziehung die aller Skandinavier, während der Dialekt Nordschleswigs in dieser
Hinsicht mit dem der Südjüten übereinstimmt. Die Eigenthümlichkeit, daß die
Nordschleswiger die Artikel „den" und „et" nicht anfügen, sondern statt deren
sowohl im Singular als im Plural ein „ä" vorsetzen und folglich nicht Marder,
Huset, sondern ä Maud, ä Hus, nicht Mändcne, Huscnc, sondern ni Maud,
ä Hus sagen, ist auch 'unter den Südjüten und zwar bis an die Seen um
Skanderborg und den Himmelberg allgemein verbreitet. Sie folgt darauf der
Gudenaa bis an deren Biegung nach Osten, wendet sich dann gegen Westen
und geht östlich um Viborg gegen den Limfjord hinaus, indem sie Thy mit¬
begreift. Ferner, während die Jnseldänen wie die übrigen Skandinavier das
Passionen ohne Hilfszeitwort, durch bloße Flexion bilden, wird es im Nord-
schleswigschen und ebenso in dem Dialekt des eben bezeichneten südjütische»
Landstrichs wie in der deutschen Sprache gehalten, also ein Auxiliarverbum ge¬
braucht. Ein Unterschied zwischen dem südjütischen Idiom und dem nordschlcs-
wigschen herrscht nur insofern, als in letzterem in plattdeutscher Weise, nicht
in der sehr eigenthümlichen dänischen, gezählt wird, als der Nordschleswiger
überhaupt eine Anzahl plattdeutscher Wörter, z. B. Finke (hochdeutsch: Tasche; dä¬
nisch: Lvmme)Koat, (hochdeutsch: Hütte; dänisch: Hytte; plattdeutsch: Käthe) in
seinen Vvcabelnvorrath aufgenommen hat, und der Südjüte die Vocale und
manche Eonsonanten etwas anders ausspricht als jener.
Dagegen hat der Südjüte mit dem Nordschleswiger außer jenem Gebrauch
des Artikels und des Hilfszeitworts noch eine nicht unbedeutende Zahl von
Ausdrücken gemein, welche weder der Inseldäne, noch der Deutsche kennt. Dahin
gehören die Wörter: Obod (dänisch: Godtgjvrelse; deutsch: Vergütung), feig
(dänisch: heftend til at toe; deutsch: zu sterben bestimmt), hugroe sig (dänisch:
more sig i sendet; deutsch: still vergnügt sein), trop (dänisch: vittig, rast;
deutsch: witzig, rasch), knüste (dänisch: smaahoste; deutsch: düfteln), Lune
(dänisch: Kost; deutsch: Besen). Mook (dänisch: er eyk Sky; deutsch: eine dicke
Wolke), Mulle (dänisch: Mängde: deutsch: Menge), stramme (dänisch: skoggerlee;
deutsch: laut lachen), höre (dänisch: afslaae; deutsch: abschlagen, verweigern),
Urne (dänisch: Middagsmad; deutsch: Mittagsessen) u. a. in.
Diese Worte in Verbindung mit den obenerwähnten beiden,Eigenthümlich¬
keiten des nvrdschlcswigschcn und südjütischen Dialekts weisen entschieden darauf
hin, daß die Südjüten und die NordschleSwigcr nahe verwandt, ja ein und
derselbe Stamm, und andrerseits, daß sie ein von den Dänen der Inseln und
Nordjütlando verschiedener Stamm sind. Ihre Artikelstellung und ihr Passiv
weist sie beide dem deutschen, ihr Wörtervorrath dagegen mit Ausnahme der
zuletzt angeführten Vocabeln und einiger anderer dem skandinavischen Zweige
der Germanen zu. Sie sind ihrer Sprache nach mir den Südjüten keine
Dänen, noch weniger aber Deutsche, da sie von Alters her dänische Kirchen-
und Schulsprache gehabt haben. Sie sind sprachlich der Uebergang, das Ver¬
bindungsglied zwischen Skandinaviern und Deutschen.
Im Folgenden ein paar Proben südjütisch-nordschleSwigscher Volkssprache
zum Vergleich mit dem Schriftdänischen und Hochdeutschen und so zu weiterer
Bestätigung des Obengesagten").
1. Rabe »dänisch: Da oll ä Dur i gaminel Dau kund Smal med voranner,
war der en Maud, son tit go Aut der», wa ti soi, v servo et op i en gannet
Bog. De er sodan Historer, son ä Born gjcn la dem fortäl. o son gannet
Folk har Null o Gaur a. o derfor Heller el ick glemmer. Wi har no soge^
nauer Fortällinger ur a den gannet Bog, v no tan I sjell lois dem o see.
wa Forstamt der er den.
Schriftdänisch: Da alle Dyrene i gamie Dage kunde Smalte med
hverandre, var der en Maud, son tit gäv Ugt paa, spät de sagte, og skrev
det op i er gannet Bog. Det er saadanne.Historier, son Börnene gjerne lade
dem fortaelle, og son gamle Folt har Nyken og Gavn af, og derfor Heller
ille let glemmer. Vi har nu soge mogte Fvrtaellinger ud af den gamle Bog,
og nu kan I feto lache dem og see, spät Forstamt der er den.
Hochdeutsch: Als alle Thiere in alten Tagen mit einander sprechen konn¬
ten, war da ein Mann, welcher oft daraus Acht gab, was sie sagten, und es
in ein altes Buch schrieb. Solche Geschichten sind es, welche die Kinder sich
gern erzählen lassen, und von welchen alte Leute Nutzen und Gewinn haben,
und die sie darum nicht leicht vergessen. Wir haben nun einige Erzählungen
aus dem alten Buche herausgesucht, und nun könnt Ihr sie selbst lesew und
sehen, was für Verstand darin ist.
2- Rabe «dänisch: See, soi den litte Mickcl, der har ä Raum kann den
Wohl, son wi so lang har hay Lust te; sunt wi it dei en fra ham, wonär
(Plattdeutsch: wennehr) wi'oll Samuel git lois o ham? — Dealer it. soi den
gannet Mickcl, seer do it, bau er olleree stoven op v de holst Trae?
Schriftdänisch: See, sagte den UlleMilkel, der har Navncn taget den
Ost. son wie so laenge har have Lyst til; kunde öl ille tage den fra ham.
naar öl alle sammelt gif los paa ham? — Det gaaer ille an. sagte den gamle
Mittel, seer du ille han er alternde flöien op paa det höieste Trae?
Hochdeutsch: Sieh, sagte der kleine Michel, da hat der Rabe den Käse
genommen, zu dem wir so lange Lust gehabt haben; könnten wir ihm ihn nicht
wegnehmen, wenn wir alle zusammen auf ihn los gingen? — Das geht nicht
an, sagte der alle Michel, siehst du nicht, er ist bereits auf den höchsten Baum
geflogen?
Ein anderer Beweis für die Thatsache, daß das nordschleswigsche Land¬
volk den Juden sehr nahe steht und auch den Jnseldcincn in manchen Beziehungen
verwandter ist als den Deutschen, liegt in der Färbung seiner Sagen, die frei¬
lich von Jahr zu Jahr mehr absterben, und in den Erinnerungen an die alten
Götter Skandinaviens, die allerdings ebenfalls nur noch in schwachen Resten
fortleben. Vieles, was hier von den Dänen für ihre Ansprüche angeführt
wird, ist als allen Germanen gemeinsam abzuweisen. Anderes dagegen ist zu be¬
achten. Zunächst erinnern Ortsnamen wie Wonsild (lib, ein altes Wort, wel¬
ches Hügel bedeutet) und Wonsbck an Odin, andere, wie Frörup an Frei.
Tyrstrup und Tiislund an Tyr, Bollerslcv und Biölderup an Balder, mit wel¬
chem Gott auch das Spiel Balder Rune zusammenhängt, mit dem sich nach
Müllenhvff die Kinder in der Gegend von Flensburg und Hadersleben ebenso
wie die in Dänemark vergnügen.
Ferner ist der Sagenheld Starkvdder im Amte Hadersleben noch nicht völlig
vergessen. Auf Alsen lebt noch die Sage von Hagbart und signe. wenn sie
auch in die Ritterzeit verlegt ist. Die Erzählung vom Bau der doppelthürmigen
Kirche zu Broacker im Sundewitt ist nur eine Version der sceländischcn Sage
von Äther Ryg und seinen Söhnen Absalon und Esbern Snare. Der Schau¬
platz des altdänischen Heldenliedes von Tute Vogensen und Svend Graa ist die
Kirche von Tiislund, der des Liedes von Herrn Tonne die Insel Alsen, End¬
lich sind die Zwergen- und Koboldsagen, besonders aber die Ueberlieferungen
von ethischen Spukgestalten Nordschlcswigs, wie sich mit zahlreichen Beispielen dar¬
thun ließe, meist überwiegend dänisch gefärbt. Auf den Haiden wohnen in Hügeln
von auffallender Gestalt ^.Unterirdische". „Bergvolk". Wesen von finstrer, tückischer
und menschenfeindlicher Art, im Stall des Gehöfts treibt sich der Hausgeist Nis
oder Nissepuk herum , denen, die ihn mit dem, was ihm gebührt, versorgen, ein
schätzbarer Gehilfe und Segen denen, die ihn mißachten, ein lästiger, oft verbarg-
nistvoller Gast. Jene Unterirdischen aber wie dieser Hanskobold sind in allen
Zügen Verwandte der Phantasieschöpfungen dieser Art jenseits der Königsau
und der Belte, in wenigen Eigenschaften dagegen den deutschen Gespenstern
dieser Classe ähnlich. Auch das unheimliche „Helhest", das von dem gemeinen
Mann in Dänemark so gefürchtet wird, war früher in Nordschleswig bekannt,
und auch sonst, z. B. in der Redensart- „Han har tjöbt sich ab med ä Hel"
(er hat sich von der Hel losgekauft, von jemand gebraucht, der eine gefärliche
Krankheit überstanden hat) spielte hier die alte Todesgöttin Hel noch eine Rolle.
Eine Probe der Natur jener Haidegeister mag als besonders charakteristisch
hier Platz finden.
Im Kirchspiel Osterlygum, bei Hauerslund. nicht sehr weit von Apenrade,
liegt ein Hügel, der Händlern oder Hahnenberg. Nahe dabei ist ein Erlen-
brucb. Hier lag einmal ein junger Mensch, der schlief so lange, daß er erst
spät in der Nacht aufwachte. Da hörte er die lieblichste Musik rund um sich,
und da er um sich blickte, ward er zwei Mädchen gewahr, die hüpften und
tanzten und fragten ihn verschiedene Fragen, um ihn zum Sprechen zu bringen.
Er aber wußte Wohl, daß Gefahr dabei war, und so schwieg er. Da hörte
er ganz deutlich, wie sie sangen:
„O hör, do Ungersven! O wil do int'
Mac os i Jauten tact,So stak, indem Kot gack,
Di solslaun KunoRed lig dire Hjaert i Dvael*)."
Da wurde ihm bange, und eben wollte er sprechen, als der Hahn krähte
und die Frauen verschwanden. Das sind aber keine deutschen Elben, sondern
dänische Ellcquvinder, und Müllenhoff hat bis zu'einem gewissen Grade recht,
wenn er in Bezug auf diese und andere nordschleswigsche Sagen meint, daß
da, wo dies erzählt wird, „die deutsche Nationalität ihre Grenze gefunden hat".
Und wie eine gewisse Sagengemcinschaft, so läßt sich auch eine Sprich-
wörtcrgcmeiuschaft zwischen Nordschleswig und Dänemark nachweisen. Redens¬
arten wie die auf Seeland und Fühnen gebrauchten: Hoad tonner det Soiree
vet, spät Fleslet t'oster (Was geht es das Schwein an. was der Speck kostet).
— Det er for sittig at spare, naar man er kommen til Bünden (Es ist zu
spät zum Sparen, wenn man auf den Boden gekommen ist) — Rigmands
Datier og Fattigmands Slud hupe ille gannet i Gaard (Reichen Mannes
Tochter und armen Manns Ochse werden nicht alt auf dem Hofe) — Den der
givcr til han tigger, stak slaaes til han ligger (Wer giebt, bis er bettelt, soll
geschlagen werden, bis er liegt) — Det er er daarlig Kore, der lcister sin egen
Kaat (Das ist ein thöricht Weib, welches seinen eigen Kohl lästert) — naar
Musen er enact. er Melee heest (Wenn die Maus satt ist, ist das Mehl bitter)
— In Miöls der spiser, man Brod. til Pols' (In Miöls da speist man Brod
zur Wurst) — schmücken diesseits wie jenseits der nordschleswigschen Grenzen
die Rede des Bauern, Viele andere Sprichwörter freilich, z. B. Ein Thor
kann mehr fragen als zehn Weise beantworten — Wie man sich bettet, so liegt
man — Neue Besen kehren gut — Wer nichts wagt, gewinnt nichts, hat er
mit dem Deutschen gemein; allein dieselben sind auch Eigenthum des Dänen.
Entschieden dänisch ist die Bauart der nordschleswigschen Gehöfte. Die¬
selben sind durchaus verschieden von den sächsischen Bauernhäusern, während
das AnglerKaus ein Mittelding zwischen diesen und dem südjütischcn ist. Das
sächsische Haus ist, wie früher gezeigt, ein längliches Viereck von Balken und
Ziegeln, welches unter seinem Strohdach Menschen, Vieh und Getreidcvorräthe
zugleich beherbergt. Es kehrt nicht eine der Langseiten, sondern eine der Giebel¬
felder der Straße zu. An dieser Seite bat es eine Einfahrt, aber keine Durch¬
fahrt. Besonders charakteristisch ist, baß es keine Schornsteine und daß es auf
dem First Pferdeköpfe hat. Von der Einfahrt aus geht durch die Mitte die
Tenne, an deren Ende sich der Heerd befindet, neben dem sich rechts und links
.Thüren, die eine in die Doms (Mtagsstubc), die andere in den Pesel (gute
Stube), öffnen, an den beiden inneren Langseiten neben der Tenne steht das Vieh,
über derselben lagert die letzte Ernte. Die Außenwände, namentlich die Balken,
die Einsahrtsthür und die Fensterrahmen sind mit schreienden Farben angestrichen.
Durchaus anders das Gehöft des Nordschlcswigcrs. Die Eigenthümlichkeit
desselben besteht zunächst darin, daß es ein wirkliches Gehöft, nickt ein einziges
Haus ist, d. h. daß es aus vier langen Gebäuden besteht, welche, an den Enden
zusammentreffend, sich wenigstens nahe tretend, einen viereckigen Hof bilden.
Die Wohnung des Bauern- ist streng geschieden von den übrigen Theilen des
Gebäudes, Tenne. Scheune. Stall u. s. w. Das Wohnhaus hat Schornsteine
und niemals Pferdeköpfe. Die Langseite, nicht die Giebelseite, bildet die Fcuzade.
An die Enden derselben schließen sich Stall und Scheune an,, das vierte Glied
des Gehöfts, das meist als Wagenschuppen dient, hat in seiner Mitte die Ein¬
fahrt. Bisweilen kommen auch zwei Einfahrten vor. eine am Ende der Scheune
und eine andere am Ende des Stalls. In letzterem stehen die Thiere mit den
Köpfen nach der Wand gelehrt, nicht wie im sächsischen Hause nach innen zu.
Mitten auf dem Hofe befindet sich der Düngerhaufen, der in Schleswig in der
Regel so sauber gehalten wird, daß man ihn als Blcichplatz für das Garn be>
nutzen kann. Die Gehöfte sind ohne allen Farbenschmuck, deshalb von düsterem
Aussehen, aber gewöhnlich sehr massiv gebaut.
Die Fenster der Wohnstuben gehen in der Regel auf den Hof. nicht wie
die der sächsischen auf den Garten hinaus. Durch die Nußenthür gelangt man
auf die Diele und von dieser in die Küche, aus welcher man durch eine zweite
Thür in die Alltagsstubc tritt. Neben dieser liegt das Staatszimmer des
Bauern, und hinter diesem befinden sich einige kleinere Räume, eine Frcmden-
kammcr und zuweilen ein Brautgemach mit einem gewaltigen Himmelbett. Auf der
andern Seite der Küche findet man das Brauhaus, wo auch der Backofen steht,
und hieran stoßt die Torfscheune. Die Wohnräume haben deutsche Bezeichnungen,
die gewöhnliche Stube heißt wie in Holstein Doms. das Staatszimmer Pesel;
nur die Fremdenl'ammer hat einen skandinavischen Namen: sie wird Klöve ge¬
nannt, was an das isländische Kiehl erinnert.
Von selbst versteht sich, daß einzelne Abweichungen von dieser Art zu bauen
vorkommen. Wohlstand und Armuth, Laune und Zufall können das Eine
hinzuthun, das Andere weglassen. Die neue Zeit, welche ja auch den sächsischen
Häusern vielfach Schornsteine gegeben und die Pferdeköpfe weggenommen hat,
kann auch hier mancherlei anders belieben. Aber der angegebene Grundtypus
wiederholt sich allenthalben.
Und wie in der Bauart der Häuser so spricht sich auch in den Sitten des
Nvldschleswigers die nahe Verwandtschaft desselben mit dem Juden und die
etwas fernere mit dem Jnseldänen aus. Die Begräbnisse versammeln Massen
von Leidtragenden in dem betreffenden Gehöft, die dann mit einem Schmaus
(Aerrel — Arveöl, Erbbier) bewirthet werden. Desgleichen laden die Wohlhabenden
zu Hochzeiten eine überaus große Zahl von Gästen, oft zwei, ja dreihundert
ein. Die Festlichkeiten dauern dann drei volle Tage, und es geht dabei hoch her.
Jeder Wagen mit neu eintreffenden Gästen wird mit schmetternder Blechmusik
und gewöhnlich vom Hochzeitsvater mit Darreichung eines Ehrentrunks empfangen.
Dem Zuge nach der Kirche sprengen Reiter voraus. Nach der Rückkehr von
da hebt die Mahlzeit an, welche mehre Stunden dauert, und bei welcher Rcis-
grütze das obligate Hauptgericht ist. Jeder, der einte Bauernhochzeit in Jütland
oder auf Seeland beiwohnt, erkennt diese Züge wieder, wogegen dieselben in
Südschleswig nur i» Angeln vorkommen und hier als Reste jüdischer Sitte an¬
zusehen sind.
Selbst in den Alltags- und Festtagsgerichten zeigt sich ein Unterschied
zwischen Süd- und Nordschleswig, Südjütcn und Deutschen. Die tägliche
Speise des Nordschleswigers ist Morgens und Abends dünne oder dicke Grütze
in Milch gekocht, und Meth ist ein beliebtes Getränk. Hält der Südjüte ein
Gelag, so kommt auf den Tisch als erstes Gericht eine Schüssel dickgekochte gelbe
Erbsen mit einem Klumpen Butter in der Mitte. Der zweite Gang besteht in
einer Rindfleisch- oder Hühnersuppe mit dem Fleisch in der Bouillon. Als
drittes Gericht fordert die Sitte Reisgrütze in Milch mit Butter. Bisweilen
wird die Hühnersuppe durch Weißkohl, seltener durch Stockfisch ersetzt.
Die deutsche Bevölkerung hat andere Gerichte. Eins der gewöhnlichsten
sind Klöße und Specksuppe. Bei großen Staatsactionen giebts meist vier Gänge,
unter denen Fleischsuppe und dickgekochter Reis nicht fehlen. Dann folgen
Fleischgerichte, die je nach der Gegend verschieden sind. An einigen Orten ist
eine gebratne Gans mit Aepfeln und Pflaumen unerläßlich.
Eine besondere Tracht zeichnet weder den Nordschleswiger noch den Be¬
wohner Südjütlands vor den Deutschen der cimbrischen Halbinsel aus; doch
gilt in Betreff der Fußbekleidung von ersteren beiden, was von den Anglern
gesagt wurde. Sudjüten wie Nordschlcswiger tragen Holzschuhe.
Schließlich ist die Art, wie die ländlichen Arbeiten in Nordschleswig aus¬
geführt werden, in einigen Beziehungen verschieben von der im Süden üblichen,
und man braucht z. B. nur in eine Tenne zu trete», um sofort zu entdecken,
wer Jude und wer Deutscher ist. Der jüdische Drescher schwingt deu Flegel
zur Rechten, der Deutsche zur linken Seite*)-
Wir haben bisher die Landbevölkerung Schleswigs im Auge gehabt und
die Städte nur beiläufig erwähnt. Im Folgenden tragen wir über diese einige
Bemerkungen nach.
Bekannt ist und deshalb nur der Vollständigkeit halber hier zu betonen^
daß die Städte und Flecken des südlichsten Theils von Schleswig, also Eckern-
förde, Schleswig und Koppeln, Tönningcn, Garding, Friedrich¬
stadt, Husum und Bredfledt so durchaus deutsch find, wie ihre unmittelbare
Nachbarschaft. Schon weniger allgemein angenommen, von Uebereifrigen ge-
läugnet, ist der Umstand, daß Flensburg und Tondern unter ihrer Be¬
völkerung ein starkes dänisches Element huben, welches dort, zum Theil hoch-
dänisch, zum Theil das Patois der Landbewohner in Nordschleswig, meist auch
deutsch sprechend, etwa ein Drittel der Einwohnerschaft bildet, während in
Tondern für die große Mehrzahl der Familien die Alltagssprache in Haus und
Verkehr jenes südjütische Patois ist, wiewohl in den meisten dieser Familien
zugleich von den Erwachsenen, in vielen auch von den größern Kindern deutsch
verstanden wird.
Noch weniger, so schließen wir nach den Aeußerungen gewisser deutscher
Blätter, scheint man zu wissen, daß, wenn wir von der Gesinnung vor¬
läufig absehen und uns nur an die Sprache halten, die Bevölkerung der
beiden nördlichsten Städte Haders leben und Apenrade und ebenso die
von Sonderburg und Gravenstcin vor fünf bis sechs Jahrzehnten »och
fast ausnahmslos das Rabcndäniscb des'benachbarten Landvolks zur Haus- und
Verkehrssprache hatte, daß hier noch jetzt die Majorität dieses Idiom für ge¬
wöhnlich braucht, um sich mit den Mitbürgern zu verständigen, und daß es
noch heute hier eine sehr beträchtliche Anzahl von Leuten giebt, welche so gut
wie gor kein Deutsch verstehen. Die Einwohner von Sonderburg sind zu
mindestens neun Zehntheilcn Juten, die von Gravenstein sind es in dem¬
selben Verhältniß, In AVenrade stellen sich die Zahlen ein wenig günstiger
für das deutsche Element: man wird hier die für gewöhnlich deutsch Redenden
auf etwa drei Zehntel der Gesammtbevölkerung, vielleicht auf etwas mehr ver¬
anschlagen dürfen.
Noch günstiger oder noch minder ungünstig für uns steht es in Haders¬
leben. Auch hier jedoch gab es vor Anfang dieses Jahrhunderts nur sehr we¬
nige Bürger, welche sich in der Familie der deutschen Sprache bedienten, wenn
auch freilich noch weniger, die Schriftdänisch verstanden. Erst nachdem die im
Jahr 1773 auf einer Koppel des königlichen Vorwerks Tyrstrupgaard 1^ Mei¬
len nördlich von der Stadt gegründete Herrnhutercolvnie Christiansfeld aufzu¬
binden begann, änderte sich dieses Verhältniß. Mit den Fabrikaten der deut¬
schen Ansiedler vermochten die im alten Schlendrian befangnen Hadcrslebner
nicht zu concurriren. Der deutsche Flach, die deutsche Geschäftsgewandtheit
überflügelte sie in allen Beziehungen. Bald standen sie so weit zurück hinter
der neuen Niederlassung, daß sie sogar ihr Fleisch und Brot von dorther be¬
zogen, und es schien ChristiansfcldS Gedeihen die gänzliche Verarmung des
nachbarlichen größern Gemeinwesens nach sich ziehen zu sollen.
Da kam Beistand aus Süden. Die in einem Theil Deutschlands ein¬
geführte französische Conscription bewog viele der dortigen Handwerksgesellen,
sich nach Nordschleswig zu wenden. Eine beträchtliche Anzahl derselben wan¬
derte in Hadersleben ein und blieb dort. Sie hatten ihre Energie und ihr
Geschick mitgebracht, man lernte durch sie einsehen, wo der Schuh drückte, und
rasch hob sich durch den Einfluß des neuen bessern Blutes die Betriebsamkeit
der herabgekommenen Stadt dermaßen, daß man die meisten Artikel nicht nur
wohlfeiler, sondern auch besser liefern konnte als bet den Herrnhutcrn. Das
Verhältniß der deutsch sprechenden zu den platldcuiisch redenden Einwohnern
war durch diese Einwanderung wesentlich verändert worden. Dennoch verhiel¬
ten sich jene zu diesen (wir schöpfen aus den sehr genauen statistischen Notizen
eines deutschen Geistlichen der Stadt) um das Jahr 1840 nur wie 23 zu 6S.
Die ganze niedere Classe und vorzüglich die Dienstboten sprachen in der Regel
nur den südjütischen Dialekt, die Gebildeten dagegen, die meiste» Kaufleute,
die Majorität der wohlhabenderen Handwerker, die Lehrer des damals deutschen
Gymnasiums und der übrigen Schulen, die Beamten und die Prediger bedien¬
ten sich unter einander lediglich des Hochdeutschen. In ungefähr 140 Familien
wurde das platte Dänisch der Uebrigen nicht einmal verstanden, und was das
dänische Element an Zahl voraus hatte, wurde durch die größere Masse von
Intelligenz und Capital aufgewogen, welche das deutsche vertrat.
Durch die dänische Reaction gegen die Verdeutschung Nordschleswigs wurde
dies hier ebenso verändert, als anderwärts, wo ähnliche Zustände sich entwickelt
hatten. Die Intelligenten wurden großenteils vertrieben und durch Kopen-
hagner oder andere Dänen ersetzt, welche bis zum März d. I. alle Beamten-
und Lehrerposten inne hatten. Schon vor dem Jahre 1848 hatte die kopen-
hagner Propaganda, an deren Spitze als unsichtbarer Drahtzieher König Chri¬
stian der Achte stand, die Danisirung des Gymnasiums durchgesetzt. Nach 1849
wurden die übrigen Schulen derselben Procedur unterworfen. Die zurück¬
gebliebnen Deutschen schüchterte man ein. Die dänische Einwanderung führte
von nun an das große Wort, und immermehr mußte unter solchen Umständen
deutsches Wesen und deutsche Sprache zusammenschwinden. Wenn einige teutsch-
gesinnte Familien hier wie anderwärts die letztere dadurch zu erhalten versuchten,
daß sie mit den Kindern im Hause nur deutsch redeten, so war das ein Nothbehelf,
der nicht lange vorhalten konnte. Ein Jahrzehnt Unterdrückung noch, und
Hadersleben hätte in Betreff der Sprachverhältnisse denselben Charakter ange¬
nommen wie Svnderburg. Schon jetzt oder, wenn man will, noch jetzt, über¬
wiegt das dänische Element sehr beträchtlich das deutsche, und von Hadersleben
als von einer deutschen Stadt zu reden, wie manche Blätter thun, würde
lächerlich genannt werden müssen, wenn man nicht die gute Absicht zu ehren
hätte.
Die N o rd s est eswig e r sind — daraufführt unsre bisherige Betrachtung
unabweislich hin — nach Sprache und Sitte, nach ihren Sagen und Sprich¬
wörtern, nach der Bauart ihrer Gehöfte, mit Ausnahme der auf dem Lande an¬
gesiedelten nicht zahlreichen Deutschen und eines Theils der Städter, der ent¬
weder deutsch geboren oder deutsch gebildet ist, Südjütcn.
Und zweitens : da die Südjütcn den Jnseldäne» in den meisten Beziehungen
näher stehen als uns Deutschen, da serner die ursprüngliche Natur der Nord-
schleswigcr durch ihre Lage nahe an Fühnen und (bis zur Erbauung guter
Straßen) fern von Deutschland, durch Unterricht und Gottesdienst im Schrift-
dänischen und in den letzten Jahrzehnten durch reichliche Verbreitung dänischer
Literatur unter ihnen der eigentlich dänischen, wie sie auf den Inseln sich aus¬
geprägt hat, noch verwandter geworden ist, so stehen wir nicht an. die jetzigen
Bewohner des Herzogthums Schleswig nördlich von der Linie, welche durch
die bis 1860 üblich gewesene, jetzt wieder angeordnete Vertheilung der Kirchen-
und Schulsprache gegeben ist, ganz in dem Sinne für einen Zweig der dä¬
nischen Nation zu erklären, in welchem wir die Angler und die verdeutsch¬
ten Südjüten der Landesmitte für die deutsche Nationalität reclamiren.
Ist bei den Nordschleswigern dem natürlichen Processe, der sie aus einem
Mittelgliede zwischen Skandinaviern und Deutschen zu einem vorwiegend däni¬
schen Volk werden ließ, auf künstlichem Wege (durch die dänische Propaganda)
nachgeholfen worden, so nöthigt uns die Gerechtigkeit, anzuerkennen, daß die
Verdeutschung Südschlcswigs durch eine ähnliche Nachhilfe beschleunigt wurde.
Und sind in der Sprache der Nordschleswiger unverkennbare Spuren deutschen
Charakters zurückgeblieben, so hat das Obige gezeigt, daß die Angler und ihre
Vettern im Westen ihrerseits gewisse Procente dänischer Art bewahren.
An die drei ersten Evangelien sind wir also gewiesen, um uns noch ein
annähernd zuverlässiges Bild vom Leben Jesu und dem Inhalt seiner Lehre
zu machen. Wir sagen absichtlich: ein annähernd zuverlässiges. Denn wir
wissen bereits, daß auch ihre Darstellung, obwohl älter und getreuer, im Ganzen
also verläßlicher als die johanneische, doch gleichfalls schon getrübt ist, unge¬
schichtliche Elemente in sich aufgenommen hat, nicht unberührt von späteren
Lehrmeinungen geblieben ist und erst ein secundärer Niederschlag einer älteren
Evangelienlitcratur ist. Auch die drei ersten Evangelien sind also zuvor
nach ihrer Individualität, nach ihren schriftstellerischen oder dogmatischen Motiven
zu untersuchen, bevor eine geschichtliche Darstellung auf sie gegründet werden
kann. Diese Untersuchung erst liefert dann die Mittel zur Beantwortung der
Frage, ob eines dieser Evangelien selbst wieder, als den Thatsachen am näch¬
sten stehend, den Vorzug verdient und welche Bestandtheile der synoptischen
Darstellung überhaupt als die echtesten ursprünglichsten anzusehen sind, die in
der Tradition am wenigsten Noth gelitten haben.
Halten wir die Evangelien des Matthäus, Lucas und Marcus neben ein¬
ander, so läßt sich die Verschiedenheit, welche sie bei großer innerer Verwandt¬
schaft zeigen, im Allgemeinen dahin bestimmen, daß Matthäus noch dem Juden-
thum am nächsten steht, Lucas sich am meisten der paulinischen Auffassung des
Christenthums nähert, während Marcus nach dieser dogmatischen Seite hin sich
völlig neutral und farblos zeigt. Bleiben wir bei diesen, allgemeinen Merk¬
malen stehen, so läßt sich freilich das gegenseitige Verhältniß der drei Evan¬
gelien noch aus sehr verschiedene Weise denken. Zwar daß Matthäus älter ist
als Lucas, wird uns schon jetzt mit großer Wahrscheinlichkeit feststehen, aber
zweifelhaft ist noch die Stelle des Marcus, und wirklich irrt dieser noch immer
heimathlos umher, es wird ihm von der neueren Kritik abwechselnd bald die
erste, bald die zweite, bald die dritte Stelle angewiesen. Er kann nämlich der
erste sein, sofern er von dem Gegensatz des Juden- und Heidcnchristenthumö
noch gar nicht berührt ist; er kann der zweite sein, sofern er vom judaistischen
Matthäus überleitet zum paulinisircnden Lucas; er kann endlich der letzte sein,
sofern die Gegensätze des Judenchristlichen und Paulinischen in ihm absichtlich
verwischt sind und er einer Zeit angehört, da eben dieser Streit damit geendet
hat, daß an die Stelle des dogmatischen ein vorwiegend praktisches Interesse
getreten ist. Das Dogmatische reicht somit nicht allein aus, um die Reihen¬
folge der Synoptiker mit Sicherheit zu bestimmen. Glücklicherweise lassen sich
noch rein schriftstellerische, formelle Merkmale auffinden, welche einmal die Ab¬
hängigkeit des Lucas von Matthäus unzweifelhaft feststellen, sodann aber zu
dem Ergebniß leiten, daß Marcus, obwohl er am wenigsten dogmatische Ten¬
denz treibt, doch mit einer gewissen reflectirten Absichtlichkeit schreibt, die ihn
als späteren Verfasser charakterisirt, als einen Schriftsteller, der, was seiner com-
pilatorischen Arbeit an Originalität abgeht, durch sorgfältige Behandlung der
formellen Seite zu ersetzen sucht. Wir nehmen also die Reihenfolge an: Mat¬
thäus, Lucas, Marcus. und zwar so, daß die Reihenfolge zugleich ein Ab¬
hängigkeitsverhältniß ausdrückt: Lucas hat den Matthäus, Marcus die beiden
anderen zu seiner Voraussetzung.
Uebrigens ist auf die Bestimmung des gegenseitigen Alters und der gegen¬
seitigen Abhängigkeit der drei Synoptiker kein übermäßiges Gewicht zu legen.
Es ist dies ein Streitpunkt, in welchen sich allerdings die wissenschaftliche Kritik
lebhaft verbissen hat, der aber für das geschichtliche Resultat von geringer Be¬
deutung ist. Ob zur Grundlage der Biographie Jesu der Marcus oder der
Matthäus genommen wird, für das Lebensbild Jesu ist dies von geringem
Belang, es bleibt in seinen Grundzügen ganz dasselbe, und die Hauptsache ist
immer nur die, daß es auf Grundlage der Synoptiker und nicht des Johannes
dargestellt wird. Auch insofern verliert jener Streit den größten Theil seiner
Bedeutung, als diejenigen, welche den Marcus als das ursprünglichste Evan¬
gelium betrachten, doch damit in der Regel nicht den jetzigen Text des Marcus
meinen, sondern eine frühere Redaction desselben, während sie die spätere Ab¬
fassung unsres jetzigen Evangeliums nicht in Abrede stellen. Die Differenz
wird somit eine nur relative, und dasselbe ist, um dies gleich beizufügen, auch
der Fall mit den Differenzen bezüglich des Alters der Evangelien überhaupt.
Es ist wahr, nach den Einen sind sie in den letzten Decennien des ersten Jahr¬
hunderts abgefaßt, nach den Andern haben sie erst um die Mitte des zweiten
Jahrhunderts ihre jetzige Gestalt endgiltig erhalten. Allein auch wenn die
Evangelien schon am Schluß des ersten Jahrhunderts vorhanden gewesen sind,
so folgt daraus noch nicht, daß nicht noch bis um die Mitte des folgenden
Jahrhunderts der Text im Einzelnen Veränderungen und Einschaltungen erlitt.
Diese Annahme entspricht durchaus der Art und Weise, wie wir uns überhaupt
die allmälige Fixirung der Evangelien zu denken haben; der Zustand, in wel¬
chem wir sie noch bei Justin dem Märtyrer finden, weist deutlich darauf hin,
daß solche Schwankungen im Text damals noch nicht überwunden waren, und
es fehlt in den Evangelien selbst nicht an mannigfachen Spuren, daß noch sehr
späte Hände sich mit kleinen Veränderungen und Einschiebseln abgegeben haben.
Genau betrachtet sind also die Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf diesen
Theil der kritischen Frage sehr untergeordneter Art, und insbesondere von ge¬
ringem Einfluß auf das historische Ergebniß.
Es ist eine der ältesten Ueberlieferungen der christlichen Kirche, daß der
Apostel Matthäus eine Sammlung von Neben des Herrn in hebräischer Sprache
verfaßt habe. Diese Schrift, welche in der ersten Hälfte des zweiten Jahrhun¬
derts von dem Bischof Papias erwähnt wird, kann nicht unser jetziger Matthäus
sein. Denn der letztere ist nicht eine bloße Sammlung von Reden, und dann
ist derselbe aller Wahrscheinlichkeit nach ursprünglich in griechischer Sprache ge¬
schrieben und keineswegs die bloße Uebersetzung einer hebräischen Urschrift.
Wohl aber giebt uns jene Notiz einen Fingerzeig für die Art und Weise, wie
unser Matthäus ohne Zweifel entstanden ist. Jene hebräische Redensammlung
des Apostels mag nämlich der Grundstock unsrer Evangelienliteratur überhaupt
sein, der dann aber frühzeitig sich in einer doppelten Richtung weiter ent¬
wickelte: einmal dadurch, daß die Reden von Verschiedenen in verschiedener
Weise ins Griechische übertragen wurden (auch darüber haben wir eine Notiz
von Papias). sodann dadurch, daß sie durch erzählende Stücke ergänzt wurden,
welche wie die Reden selbst, zunächst in der palästinischen Tradition mündlich
sich erhalten hatten. Auf diesen ältesten Proceß der Evangelienbildung weist
unser Matthäus wenigstens seiner Grundlage nach unverkennbar hin. wenn wir
auch nicht mehr mit Sicherheit ausmachen können, welches bestimmte Verhältniß
er zu jener Redensammlung und zu andern demselben Kreis angehörigen, später
Verloren gegangenen Evangelien einnimmt. Gerade im Matthäusevangelium
bilden die Reden Jesu einen besonders hervorragenden Bestandtheil, und deut¬
lich erkennen wir in ihnen noch-die alterthümlichsten und ursprünglichsten Stücke,
die uns überhaupt in den Evangelien erhalten find. Wenn auch zu größeren
Redegruppen zusammengestellt, die schwerlich geschichtlich sind, wenn auch nicht
unvermischt durch spätere Zuthaten, haben wir hier doch die Aussprüche Jesu
in verhältnißmäßig reinerer Form als in den andern Evangelien. Die ein¬
fachen schlagenden Sprüche der Bergrcdc. die Seligsprechungen, die Gleichnisse
führen uns 'in den Mittelpunkt der Grundanschauung und Grundstimmung
hinein, aus welcher das Ehristenthum 'hervorgegangen ist. Dieses Aussprechen
der reinen ErlösuuM'edürftigkcit. dieses Betonen der Reinheit und Lauterkeit
des Herzens, einer nicht in der äußern That, sondern in der Gesinnung be¬
stehenden Sittlichkeit ist zugleich das erste Aussprechen des wahrhaft christlichen
Geistes, und wenn dieses Neue in der Bergrede angeknüpft ist an die fort¬
dauernde Befolgung des Gesetzes, das nicht verworfen, aber durchaus in die
sittliche Sphäre erhoben wird, so hat sich auch darin ein geschichtliches Zeugniß
erhalten, nämlich ein Zeugniß sür die pädagogische Art des Auftretens Jesu
welcher an das mosaische Gesetz anknüpfte, aber in seinem Dringen auf das
Innere, in seiner nachdrücklichen Behauptung der Werthlosigl'eit alles äußeren
Scheins zugleich den künftigen Gegensatz zum Gesetz vorbereitete. Denn in
demselben Maß, in welchem die sittliche Gesinnung zur Hauptsache gemacht
wurde, verlor das Gesetz seineu absoluten Werth, und es war nur eine Frage
der Zeit, wann jenes Bewußtsein so sicher und übergreifend ^sein würde, um
geradezu deu Kampf gegen das Gesetz aufzunehmen.
Allein eben im Maithäusevangelium sind die Spuren einer Anschauung,
welche schon mit bewußter Freiheit über dem Gesetz stünde, noch am seltensten.
Vielmehr hängt hier das Christenthum noch am engsten mit dem Judenthum
zusammen, es trägt ein entschieden jüdisch-nationales Gepräge. Aus keinem
andern Evangelium erfahren wir so viel über das Verhältniß, in welches sich
Jesus zu dem Gesetz, zu den jüdischen Gebräuchen, zu den jüdischen Sekten
stellte. Jesus heißt hier ganz vorzugsweise der Sohn Davids, alle seine Thaten
und Schicksale sind die. Erfüllung alttestamentlicher Weissagungen, und eben
diese eingetroffenen Weissagungen sind dem Evangelisten der Beweis, daß Jesus
der Messias ist. Schon nach den Propheten mühte Jesus aus Nazareth kom¬
men und in Galiläa wirken, die Abstammung aus Davids und Abrahams
Geschlecht, die Geburt in Bethlehem, der Einzug in Jerusalem, die Leiden werden
auf prophetische Weissagung zurückgeführt, und so wird auch sein messianischer
Beruf, seine lehrende und erlösende Thätigkeit nach prophetischen Vorbildern
geschildert. Durch seine erlösende menschenfreundliche Liebe zu dem Volk, das
er vom Druck der pharisäischen Satzungen befreit, erweist er sich als der vom
Volk erhoffte Messias. Nicht gegen das Judenthum überhaupt ist sein Auf¬
treten gerichtet, wie dies später der Standpunkt des zweiten und besonders des
vierten Evangeliums ist, sondern nur gegen die hohem Classen, gegen die
Unterdrücker deö Volks, gegen die Pharisäer und Schriftgelehrten; nicht gegen
das Gesetz, aber gegen die später hinzugekommnen Lehren und Ueberlieferungen,
welche sich ohne Berechtigung in die echte Tradition eingedrängt haben. So
bewegt sich das Evangelium einerseits noch ganz auf altiestamentlichem Boden, aber
eben von diesem Boden aus bekämpft es dasjenige' Judenthum, welches nicht an
den bereits erschienenen Messias glauben will. Es ist eine Vertheidigung des
Christusglaubens gegen die ungläubige Feindschaft des herrschenden Judenthums.
Ist dies nun im Allgemeinen der Charakter unsres Evangeliums, so fehlt
doch viel, daß es durchaus als einheitliche Composition erschiene, worin dieser
Gesichtspunkt durchgeführt wäre. Von seiner Grundlage haben wir vielmehr
die jetzige Form zu unterscheiden. Jene bildet allerdings die Hauptmasse auch
des jetzigen Evangeliums und sie eben hat jenes specifisch judenchristliche Ge¬
präge. Aber daneben haben sich nun einzelne Aussprüche oder auch Erzählungs¬
stücke eingedrängt, welche mit jener Grundfarbe wenig stimmen. Offenbar ist
das Evangelium durch Bearbeitungen hindurchgegangen, in welchen sich die
Veränderungen widerspiegeln, die mit dem Christenthum infolge der Ausdehnung
seines Horizontes vorgegangen sind. Wie sonst könnte man es erklären, daß
jüdisch-particularistische und universalistische Züge neben einander sich befinden,
daß das eine Mal die Thätigkeit der Apostel für immer auf Israel beschränkt,
das andere Mal dem Unglauben der Juden mit der Berufung der Heidenwelt ge¬
droht wird, daß die Bergrede verbietet, das Heilige den Hunden und die Per¬
len den Säuen zu geben, während in der Schlußermahnung die Jünger aus¬
drücklich angewiesen werden, alle Völker zu taufen, daß das eine Mal die Unan¬
tastbarkeit auch des kleinsten Buchstabens im Gesetz behauptet, das andere Mal
die Gottes- und Menschenliebe für den Kern und Inbegriff des Gesetzes erklärt
wild? Offenbar war das Evangelium ursprünglich für Heidenchristen bestimmt
und vertrat einen streng judcnchristlichen Standpunkt. Je größere Erfolge
indessen die Heidenmission machte, und je mehr dagegen die Masse des Juden-
thums sich gegen das messianische Heil verstockte, um so mehr lag einer späteren
Zeit daran, das Evangelium mit den neu gewonnenen Erfahrungen, mit einer
Vorurtheilsfreier gewordenen Anschauung in Uebereinstimmung zu setzen. Nur
ein solches Evangelium, das den veränderten Zeitumständen einige Rechnung
trug, konnte später in der katholischen Kirche im Gebrauch bleiben, während
Evangelien, die ihren streng judenchristlichen Charakter behielten, wie z. B. das
demselben Kreis angehörige Hebräerevangelium, später nur noch bei Sekten
von dieser Richtung sich erhielten und endlich ganz verloren gingen.
Indessen mit solchen nachträglichen verbessernden Strichen, welche nur
obenhin gezogen wurden und die Grundstimmung einer Schrift unverändert
ließen, war dem Bedürfniß einer späteren Zeit nach einem universalistischen
Evangelium nicht Genüge gethan. In derselben Richtung, in welcher eine
spätere Zeit an das Matthäusevangelium Hand anlegte, finden wir einen weiteren,
kühnerem Fortschritt der Evangelienbildung in der nach Lucas genannten Schrift.
Der Verfasser dieses neuen Evangeliums hat unzweifelhaft den Matthäus vor
Augen gehabt, in vielen Fällen ist wesentliche, zuweilen' wörtliche Ueberein¬
stimmung vorhanden. Allein oft ist auch Anordnung oder Ausdruck, ja Sinn
einer Erzählung abgeändert. Größere Abweichungen finden sich namentlich in
der Kindheitsgeschickte, wo Lucas manches Neue hat, dann wieder in der Leidens-
und Auferstehnngsgeschichtc, und besonders eigenthümlich ist dem Lucas eine
Reihe zusammenhängender und sehr bedeutsamer Erzählungen, mit welchen er
die Reise Jesu durch Samaria ausgestattet hat.
Schon hieraus wird wahrscheinlich, daß Matthäus nicht die einzige Quelle
des Lucas gewesen ist. In der That sagt dieser selbst in seinem Vorwort, daß
er „viele" schriftliche Auszeichnungen vor sich hatte, die ihn aber nicht ganz
befriedigten. Er verräth sichtlich ein kritisches Interesse. Der gebildete Ver¬
fasser will den Schwankungen der christlichen Tradition ein Ende machen, die
durch die bisherigen schriftstellerischen Versuche keineswegs beseitigt, wurden,
Zuverlässigkeit und größere Vollständigkeit sind sein Augenmerk; gestützt auf
eigene Nachforschungen will er ein getreueres und ausgeführteres Bild, als bisher
vorhanden war, von der evangelischen Geschichte geben, er will sie mit einem
Wort nach den sonst geltenden Grundsätzen der Geschichtsschreibung bearbeiten.
Dieses schriftstellerische Interesse, das er nach seiner eigenen Angabe verfolgt,
zeigt sich nun besonders darin, daß er genauer motivirt, namentlich bei Reden
Jesu Zeit und Veranlassung bestimmter angiebt, die größeren Redegruppen bei
Matthäus, welche schon ihm ungeschichtlich schienen, auflöst, anschaulicher schil¬
dert, einen strengeren Gang der Erzählung einhält und bei Gelegenheit wohl
auch sein gelehrtes Wissen an den Mann zu bringen beflissen ist.
Weit wichtiger aber als diese formellen Eigenthümlichkeiten ist die mate¬
rielle Erweiterung, welche die evangelische Geschichte bei ihm erfährt und die
Tendenz, welche e/bei Abfassung seines Evangeliums verfolgt. Die Quellen,
welchen Lucas das Neue seines Stoffes entnimmt, sind großentheils juden¬
christliche Quellen, ja sie tragen zum Theil noch entschiedener dieses ' Gepräge,
als das Matthäusevangelium in seiner jetzigen Gestalt. Ganz natürlich. Wer
auf möglichste Vollständigkeit der evangelischen Geschichte ausging, konnte sich,
um Neues zu erfahren, nur an die palästinische Tradition halten, wo allein
ein reicherer Schatz der Erinnerung sich erhalten haben konnte. Allein wie
verfährt nun der Verfasser mit seinem Stoffe? Theils wird den judenchristlichen
Erzählungen eine Wendung im paulinischen Sinne gegeben, theils werden sie
durch Stücke rein paulinischen Charakters aufgewogen, und die Tendenz bei
diesem Verfahren kann keine andere sein^ als die Tradition zwar möglichst treu
und vollständig aufzunehmen, aber sie zugleich in Einklang zu setzen mit dem
Paulinischen Christenthum, und dieses zwar nicht in einseitiger Schroffheit als
alleinberechtigt, wohl aber mindestens als gleichberechtigt mit dem älteren petri-
nischen Christenthum darzustellen.
Auf streng judenchristliche Quellen weist uns z. B. die Fassung der Berg¬
rede mit ihrer Seligpreisung der „Armen" (wo Matthäus den offenbar spä¬
teren zur Verhütung von Mißverständnissen modificirten Ausdruck „Arme im
Geiste" hat) und mit ihrem „Weheruf über die Reichen", dann mehre Gleich-
nisse über den Reichthum, und besonders verschiedene Züge der Kindheits-
geschichte. Allein gleich an der Kindheitsgeschrchte sehen wir auch deutlich,
welche Tendenz der Evangelist durchaus verfolgt. So ist es doch gewiß nicht
zufällig, daß er chronologische Bestimmungen an die Spitze seiner Erzählung
stellt, welche aus der Prvfangcschichte genommen sind (die übrigens ungeschicht-
liche Schätzung unter Kaiser Augusius). gleich als wollte er damit das Leben
Jesu von vornherein aus dem Particularismus der jüdischen Volksgeschichte in
den Universalismus der Weltgeschichte hinaussehen. So ist ferner das im
judenchristlichen Sinn verfaßte Geschlechtsregister. das die Abstammung Jesu
von David und Abraham beweisen sollte, zwar aufgenommen, aber bis zu
Gott verlängert, womit ihm natürlich die jüdische Spitze abgebrochen, ja wodurch
es eigentlich für den Zweck, dem es dienen soll, unbrauchbar gemacht wird. Die
Bergrede, welche bei Matthäus so bestimmt als Programm der an das jüdische
Gesetz anknüpfenden Wirksamkeit Jesu erscheint, ist zurückgestellt, und statt ihrer
das erste Wunder in Kapharnaum erzählt, welches als Austreibung von Dämo¬
nen, in denen man sich heidnische Mächte verkörpert dachte, ebenso eine Be¬
ziehung zum paulinischen Universalismus. wie die Bergrede ihre Bedeutung in
dem Verhältniß Jesu zum Gesetz hat. Die Bergrcde selbst ist zu einer Thal¬
rede gemacht, damit sie weniger an das Borbild der Gesetzgebung auf dem
Berg Sinai erinnere, die Stelle über die Fortdauer des Gesetzes ist daraus
weggelassen, wie später die Erzählung vom kananäischen Weib fehlt (wegen
des Ausspruches Jesu, er sei blos zu den verlorenen Schafen Israels gesandt),
und ebensowenig ein Verbot an die Jünger ergeht, den Weg der Heiden zu
betreten.
Besonders eigenthümlich ist dem Lucas das große Gewicht, das auf die
Lehrtätigkeit Jesu in Samaria fällt. Vom neunten Capitel an ist der Schau¬
platz derselben nicht mehr Galilcia. sonder» Jesus ist fortgehend als auf einer
Reise durch Samaria begriffen dargestellt, eine Wanderung, von welcher Mat¬
thäus nichts erzählt, die aber in dem Zusammenhange des Lucas um so be¬
deutsamer ist, als die Samariter als halbe Heiden Von den Juden verachtet
und bereits als der Uebergang vom Judenthum zum Heidenthum angesehen
wurden. Mit dieser Wendung der Geschichte ist also bereits dem Evangelium
der Weg nach der Heidenwelt gezeigt, und die Züge gottgefälligen Sinns an
Samaritern, welche in Gleichnissen und sonst mit Vorliebe geschildert werden,
unter deutlichen Seitenblicken auf das hochmüthige werkheilige Judenthum. er¬
scheinen wie ein Vorspiel der späteren Erfolge der Mission unter den Heide».
Damit hängt denn auch die Erzählung zusammen, die sich nur bei Lucas findet,
daß Jesus bald nach seinem Betreten des samarischcn Bodens siebzig Jünger
ausgesendet habe. Da die andern Evangelien nichts von diesem wichtigen
Ereigmß wissen, darf man wohl an seiner Geschichtlichkeit zweifeln, um so mehr,
als das Interesse unverkennbar ist, welchem die Erzählung ihre Entstehung ver¬
dankt. Wie nämlich die zwölf Apostel eine Beziehung auf die zwölf Stämme
Israels hatten, so haben die siebzig Jünger eine Beziehung zu den heidnischen
Völkern, für welche die jüdische Tradition die Zahl siebzig festgestellt hatte.
Und zwar werden nun die Siebzig unverkennbar den Zwölfen nicht nur gleich,
sondern gegenüber, ja über sie gestellt. Die feierlichen Worte zur Einweihung
in den apostolischen Beruf, die bei Matthäus an die Zwölf gehalten werden,
sind bei Lucas für die Siebzig vorbehalten; sie find die wahren Arbeiter-im
Reiche Gottes, sie sind mit höchster Macht ausgestattet, und ihre Namen sind
im Himmel aufgeschrieben, während umgekehrt in einer Reihe von Scenen die
Unfähigkeit der jüdisch-particularistischen Zwölfjünger geschildert wird, Jesu wahre
Absichten zu fassen. Das Heidenchristenthum tritt' bereits auf in dem vollen
Bewußtsein seiner schon erlangten Bedeutung. Das Judenthum ist Finsternis?,
geistige Blindheit; das jüdische Volk ist der unfruchtbare Feigenbaum, welchem
nur noch eine Frist zur Besserung gestattet wird. Die Zerstörung Jerusalems,
welche in diesem Evangelium bereits in ziemlicher Ferne erscheint, ist der Anfang
der Strafgerichte, welche über das ungläubige Judenthum ergehen. Im Gegen¬
satz zum jüdischen Hochmuth wird der demüthige Glaube des heidnischen Cen¬
turio von Kapharnaum und die barmherzige Liebe des Samariters hervorgehoben.
Nicht den Weisen und Verständigen des Judenthums, sondern den Kindern der
Heidenwelt wird das Evangelium gebracht; anstatt der erstgcladcnen Juden
werden die Heiden in das Reich Gottes berufen werden, und das Heidenthum,
der verlorene Sohn, wird reuig in die Vaterarme aufgenommen, während der
ältere Sohn, der sich rühmt, so treu dem Vater gedient und kein Gebot über¬
treten zu haben, neidisch und scheelsüchtig daneben steht.
In dem zuletzt angezogenen Gleichniß ist zugleich eine Hindeutung aus den
Gegensatz zwischen Juden- und Heidenchristen nicht zu verkennen, und die Bevor¬
zugung der siebzig Jünger gegenüber den so ungünstig gezeichneten zwölf
Aposteln hat gleichfalls eine sehr praktische Beziehung auf den Apostel Paulus.
Denn wenn es außer den Zwölfen noch andere Jünger giebt, welche jenen im
Range nicht nachstehen, so ist damit auch dem Paulus die Stelle geliefert,
welche ihm die Urapostel und ihr Anhang so lange streitig machten. Wir haben
übrigens einige bestimmte Anzeichen für den Ursprung des Evangeliums in
einem paulinischen Kreise; dahin gehören namentlich die Einsctzungsworte des
Abendmahls, welche Lucas in derselben Fassung wiedergiebt, wie Paulus sie
den Korinthern mitgetheilt hatte, während Matthäus und Marcus hier ab¬
weichend referiren. Sonst wissen wir von dem Verfasser nichts, als daß er zu¬
gleich der Verfasser der Apostelgeschichte war. Aber eben dieser Umstand be¬
stätigt, was über die dogmatische Tendenz des Evangeliums gesagt ist. Denn
die Apostelgeschichte ist gleichfalls entstanden aus der paulinischen Überarbeitung
einer zur Verherrlichung der judaistischcn Urgemeinde verfaßten Schrift; den
Thaten des Petrus sind die des Paulus als ebenbürtig zur Seite gesetzt, und
eine Vermittlung beider Richtungen wird dadurch angestrebt, daß die juden¬
christliche Tradition nicht verworfen, aber in universalistischem Sinn umgebildet
und ihr als volles Gegengewicht die Schilderung der Wirksamkeit des Heiden¬
apostels gegenübergestellt wird. Gleichberechtigung ist also zunächst die Tendenz,
aber der Erfolg führt weit über sie hinaus. Das Gleichgewicht ist nur schein¬
bar, es gewinnt vielmehr der Paulinismus. Denn indem dieser sein volles
Recht zur Seite des älteren Bruders erhält, verliert der letztere sein altes Recht,
d. h. die Exklusivität, die er für sich beanspruchte. Ganz dasselbe Verfahren,
mit demselben Erfolge hatte der Verfasser in seiner Evangelienschrift angewendet.
Einem schroffen Pauliner konnte es freilich nicht völlig genügen, weswegen der
überpaulinische Marcion das Lucasevangelium erst purificirtc, d. h. von allen
Stücken reinigte, die noch an die judenchristliche Tradition erinnerten, bevor
er es als das wahre Evangelium betrachten konnte.
Ein Auszug aus den Evangelien des Matthäus und Lucas ist nun das
des Marcus. Sein Inhalt geht fast gänzlich in dem der beiden andern auf,
so daß nur für wenige Stücke die etwaige Benutzung anderweitiger Quellen
in Frage kommt. Der Zweck seiner Abfassung war ohne Zweifel ein praktischer;
es sollte ein kurzes Compendium für den kirchliche» Gebrauch sein, ein Auszug,
worin alles Wesentliche zusammengestellt, alles Unwesentliche ausgeschieden
werden sollte. Diese Absicht' traf aber zugleich mit dem dogmatischen Stand¬
punkt der späteren Zeit zusammen. Denn wenn es beim Gebrauch der beiden
ersten Evangelien zuweilen anstößig sein mochte, daß der judaistische Stand¬
punkt des ersten zu dem universellen des zweiten nicht recht stimmen wollte, so
hatte die Zeit der sich bildenden katholischen Kirche — und dieser gehört die
Redaction des Marcus an — ein Interesse, alle diejenigen Stücke wegzulassen
welche an jenen überwundenen Gegensatz erinnerten und nach der einen oder
andern Seite Anstoß geben konnten. Der Verfasser des neuen Evangeliums
wollte also rein objectiv sein; er folgte dem Matthäus — und dies ist sein
Hauptführer — sofern es dessen judaistische Richtung zuließ, dem Lucas, sofern
dessen ausgesprochene paulinische Tendenz es gestattete. So läßt er, um an
Einzelnes zu erinnern, das jüdische Geschlechtsregister weg, an welchem die
Heidenchristen Anstoß nehmen konnten, aber ebenso die Geschichte von der über¬
natürlichen Erzeugung Jesu, welche einige judenchristliche Sekten beanstandeten.
So ignorirt er völlig die Bergrede, weil die Controverse über das Gesetz seiner
freieren Stellung zum A. T. nicht zusagte, aber auch von den siebzig Jüngern
weiß er nichts, weil diese Erzählung zu tief in den Paulinismus des Lucas-
evangeliums eingreift. So geht er an dem Ausspruch Jesu von der Fortdauer
des Gesetzes, an dem Verbot für die Jünger, sich zu den Heiden zu wenden,
an der Erhöhung des Petrus vorbei, läßt aber andrerseits auch die paulinischen
Gleichnisse des Lucas vom verlorenen Sohn, vom barmherzigen Samariter
u. s. w. aus. Das Evangelium erhielt so einen eklektischen Charakter; die
Gegensätze sollten nicht vermittelt, sondern ignorirt, in Vergessenheit gebracht
werden.
Unselbständig ist also Marcus in Betreff des Stoffs seiner Erzählung,
farblos sein dogmatischer Charakter; um so größeres Gewicht fällt nun bei ihm
auf die Form der Darstellung. Eben indem er in der Kürze alles Wesentliche
erzählen will, sieht er sich genöthigt die Wirksamkeit Zehn mehr unter allgemeine
Gesichtspunkte zu bringen, zu combiniren, Wiederholungen zu vermeiden, alles
was den Gang der Erzählung hemmen oder unterbrechen könnte, auszuscheiden.
Dieser Grund mag zum Beispiel auch dazu mitgewirkt haben, daß die ganze
Vorgeschichte und die Bergrede wegfiel. Darum erzählt er von jeder Gattung
von Wundergeschichten nur eure charakteristische Probe, er giebt und wenigen
Beispielen, die er zusammendrängt, ein Bild von der parabolischen Lehrweise
Jesu, ohne später wieder darauf zurückzukommen. Von jeder Seite der öffent¬
lichen Thätigkeit Jesu will er ein klares und anschauliches Bild geben, wozu
er aus dem reichen ihm vorliegenden Stoff eine Auswahl trifft, und so gelingt
es ihm, das Leben Jesu von der Taufe bis zur Himmelfahrt in weit einheit¬
licherer, geschlossenerer Form zu erzählen als dies in den andern Evangelien
der Fall ist.
Aber auch im Einzelnen zeigt sich nun die bewußte Kunst dieses Biographen
in der Sorgfalt, mit welcher die Vorgänge ausgemalt sind, ihnen Farbe und
Leben gegeben ist. Er erweitert den Text gern durch unwesentliche Züge, die
er nur aus seiner Reflexion genommen hat. Dabei passirt es ihm mitunter,
daß er Wunderheilungcn, die er gleichfalls besouders anschaulich machen will,
vielmehr verwirrt und den Begriff des Wunders durch Einschievung eines
successiven, also rationalisirendcn Elements geradezu aufhebt. Aehnlich ist es
bei der Erzählung vom Feigenbaum, den Jesus verflucht, weil er nur Blätter
findet. Marcus will hier motiviren, warum Jesus keine Feigen fand, und ver¬
fehlt nicht hinzuzusetzen, es sei keine Zeit dafür gewesen, womit allerdings
höchst natürlich erklärt >se, warum keine Feigen da waren, aber um so weniger,
wie Jesus dazu kam, Feigen zu suchen, wo keine zu erwarten waren. Kein
Evangelist ist so sorgfältig bemüht wie er, überall genaue Angaben von Per¬
sonen, von Zeit und Ort, von Zahlen zu machen, die durchaus keine sach¬
liche Bedeutung haben; oder er giebt seinen Erzählungen malerische, oft
gesuchte Ausschmückungen; oder er liebt es gesteigerte Gemüthsbewegungen an¬
zubringen, bei denen man vergebens nach dem Anlaß fragt. So hat das dritte
Evangelium vermöge seines combinirenden Verfahrens und seiner Darftellungs-
tunst wohl ein individuelles Gepräge, aber nichteinen selbständigen historischen
Werth. Daß es zu Rom entstanden ist, dafür sprechen sowohl sprachliche
Eigenthümlichkeiten als der neutrale katholisirende Charakter, der eben dieser
Gemeinde im zweiten Jahrhundert eigen war. Auf den Namen des Marcus
wurde'es ohne Zweifel deshalb getauft, weil Marcus ein Schüler des Petrus,
später aber auch ein Begleiter des Paulus war, und schwerlich ein anderer in
die apostolische Zeit hinausreichender Name sich fand, der so wie er die Ver¬
einigung beider Richtungen zu repräsentiren geeignet war.
Fassen wir alles zusammen, so fällt für die Frage, wo wir die ursprüng¬
lichste und urkundlichste Darstellung der evangelischen Geschichte haben, das Ueber¬
gewicht auf Seite des Matthäus; freilich nur in sofern, als wir diesen nicht
mehr auf höhere Quellen, die wir gleichwohl voraussetzen müssen, zurückführen
können. Im Verhältniß zu den andern Evangelien sind bei ihm die Reden
Jesu in ursprünglicherer Form erhalten, die Thatsachen in naiverer, absichts¬
loserer Weise erzählt. Trägt auch er das Gepräge einer bestimmten dogmatischen
Anschauungsweise, so rührt dies nur daher, daß daS älteste Christenthum über¬
haupt noch judcnstisch gefärbt war und erst allmälig den Einwirkungen des
Paulinismus sich öffnete. Seine dogmatische Färbung ist also vielmehr ein
Zeichen Höheren Alters wenigstens der Grundlagen seiner Erzählung, und ein
Zeichen des Ursprungs in einer den Thatsachen nahestehenden Gegend. Eine
andere Frage ist nun aber die, ob nicht das älteste Christenthum mit seiner
particularistischen Richtung um ein Beträchtliches hinter Jesus selbst zurückging
und den Reden desselben ein jüdischeres Gepräge gab, als sie ursprünglich
hatten. Dieser Gedanke liegt um so näher, als es in den Evangelien — und
nicht blos bei Lucas — keineswegs an-Spuren fehlt, daß Jesus alle Ursache
hatte sich über Nichtverstandcnsein von Seiten der Jünger zu beklagen,
welche später in der jerusalemischen Hauptgcmeinde das große Wort führten.
Je exclusiver sich hier die judcnchristliche Richtung ausbildete, welcher dann der
Apostel Paulus mit so scharfen Waffen entgegentrat, um so mehr fragt es sich,
ob wir nicht schon im ältesten Evangelium ein getrübtes Medium haben, durch
welches uns das Leben Jesu übermittelt ist. Insbesondere wollen solche Aus¬
sprüche Jesu wie der von der fortdauernden Giltigkeit auch des Gesetzesbuch¬
stabens wenig stimmen zu dem Bilde, das wir uns doch aus anderen Nach¬
richten von seiner Wirksamkeit und Denkungsart machen müssen. Wenn also
die folgenden Evangelisten solche Aussprüche wegließen, ist es Wohl möglich,
daß sie damit Züge entfernten, welche dem echten Christusbild fremd und nur
durch die sich verhärtende judenchristliche Gesinnung der ersten Gemeinde in
dasselbe hineingetragen worden waren. Ebensowenig können wir im Voraus
in Abrede stellen, daß Lucas der evangelischen Geschichte einen wirklichen Zu¬
wachs von Erzählungen, die in glaubwürdiger Ueberlieferung fortgepflanzt waren,
zugeführt hat. Wir wissen ja, daß Lucas neben dem Matthäus zahlreiche ander-
wenige Quellen benutzte. Nur sind uns seine Bereicherungen der evangelischen
Geschichte in dem Maße historisch verdächtig, als sie mit seiner dogmatischen
Tendenz zusammenhängen. Und wenn wir zum Beispiel seine Erzählung von
den siebzig Jüngern unbedenklich aus Rechnung dogmatischer Absichtlichkeit setzen,
sei es des Evangelisten selbst, oder der Quelle, welcher er sie entnommen hat,
so sind wir auch bei den ihm eigenthümlichen Parabeln, welche so sichtlich
paulinischcs Gepräge tragen, nicht sicher, ob wir sie bis auf Jesus zurückführen
dürfen. Am wenigsten ist dein Ausgeführten zufolge das Johannesevangelium
als geschichtliche Quelle zu gebrauchen. Bei ihm ist es ganz unverkennbar,
daß, was er Eigenes und von den Synoptikern Abweichendes hat, in seiner
speculativen Umbildung des Evangelienstoffs seine Wurzel hat. Thatsächliches
wird sich ihm also ebensowenig entnehmen lassen, als die von ihm compomrten
Reden Jesu, die von den synoptischen so durchaus verschieden sind, einen ge¬
schichtlichen Beitrag zur Charakteristik Jesu und seiner Lehre liefern. Nur er¬
hebt sich bei ihm dieselbe oder vielmehr die entgegengesetzte Frage, wie bei
Matthäus. Dieser steht, obwohl Jesu am nächsten, doch auf einem Stand¬
punkt, der an dessen geistige Höhe nicht hinanreicht. Umgekehrt kann Johannes,
obwohl Jesu zeitlich am fernsten stehend, doch geistig ihm näher gekommen sein
als die urapostolische Zeit. Es mag, wie Strauß bezeichnend sich ausdrückt,
„der vierte Evangelist seinen höheren Standpunkt immerhin auf einer aus
Alexandrien entlehnten Leiter erstiegen haben, er könnte darum doch mittelst
dieser fremden Leiter dem eignen Standpunkt Jesu näher gekommen sein; und
wenn wir den Spruch von der Unvergänglichkeit jedes kleinsten Buchstabens im
Gesetz bei Matthäus, und den von der Anbetung Gottes im Geist und in der
Wahrheit bei Johannes als zwei äußerste Punkte aufstellen, so ist noch sehr
die Frage, welchem von diesen beiden Punkten wir uns den geschichtlichen Jesus
näher zu denken haben." Einen ähnlichen Gedanken drückt Schenkel in den
Worten aus: „Jesus war nickt an den einzelne» Punkten seiner Lebens¬
entwickelung so, wie der vierte Evangelist ihn schildert; aber er war so in der
Tiefe und auf der Höhe seines Wirkens; er war nicht immer so in Wirklichkeit,
aber er war doch so in Wahrheit."
Dies ist also die Beschaffenheit unserer Quellen. Die Schwierigkeit einer
geschichtlichen Darstellung mit diesen Mitteln ergiebt sich von selbst. Scheidet
man einerseits, wie es die Geschichte thun muß, die wunderhaften Elemente
aus, andrerseits dasjenige, was erst in den dogmatischen Interessen einer späteren
Zeit seinen Ursprung hat. so wird der Kreis dessen, was als brauchbares, in,t
Zuverlässigkeit zu verwendendes Material zurückbleibt, überaus eng gezogen.
Und das Mißlichste dabei ist, daß sich die Linien zwischen dem Geschichtlichen
und Ungeschichtlichen nie scharf ziehen lassen. Denn eine Erzählung kann in
der uns vorliegenden Gestalt mythisch, ungeschichtlich sein, sie kann aber
einen geschichtlichen Kern enthalten; sie hat im Evangelium eine dogmatische
Färbung oder Pointe erhalten, aber sie muß deswegen noch nicht reines Product
absichtlicher Combination sein. Dazu kommt, daß, was in anderen Fällen für
den Mangel an zuverlässigen Nachrichten einigermaßen entschädigen kann, nämlich
der Rückschluß von den Wirkungen auf die Ursache, in diesem Falle seine be
sonderer Schwierigkeiten hat. Wir können vom Urchristenthum, wie es sich
uns darstellt, nicht unmittelbar auf Jesus zurückschießen. Denn der Zusammen¬
hang ist nirgends ein unmittelbarer, er ist, auf welchem Punkt wir ihn auch
zu fassen versuchen, immer schon durch jene Schicht von religiösen Bildungen
und Reflexionen vermittelt, welche überhaupt zwischen der geschichtlichen Gestalt
Jesu und unsrer Erkenntniß stehen. Zudem geht das Urchristenthum selbst so¬
fort in eine Mannigfaltigkeit verschiedener Richtungen auseinander, und gerade
die älteste derselben, welche dem Leben Jesu am nächsten steht, sind wir am
wenigsten berechtigt ohne Weiteres mit seiner eignen Richtung zu identificiren.
Da nun andererseits die Ausbeute aus profanen Quellen für das eigentliche
Leben Jesu fast Null ist, so wird man wohl auf eine eigentliche Biographie
Jesu im Sinn der modernen Anforderungen an eine Biographie verzichten
müssen. Wird die Aufgabe in dieser Weise gestellt, so sind der Lücken zu viele,
die nur durch subjective Combination auszufüllen sind, es sind zu viele wesent¬
liche Punkte vorhanden, wo der Geschichtschreiber sich entscheiden sollte und wo
er nach Prüfung der Acten doch nur ein Vielleicht aussprechen kann.' Ein Ver¬
such, wie ihn der kecke Franzose gemacht hat, wird, auch wenn sein kritischer
Unterbau solider wäre, als bei Renan wirklich der Fall ist, doch immer nur
ein subjektives Zeitproduct sein, charakteristischer für die Zeit, in der es ent¬
standen ist und verschlungen wird, als auffallend für die Zeit, welche es beschreibt.
Die Genialität seines Wurfs soll unangetastet bleiben, und der erste Versuch,
in großen Zügen ein Leben Jesu des Menschen zu schreiben wird seine dauernde
Stelle behalten. Aber für die streng historische Kenntniß ist doch dasjenige von
ungleich größeren Gewinn, was in weit bescheideneren Grenzen in den letzten
Jahren die deutsche Wissenschaft gethan hat. Wir haben gesehen, daß die
synoptische Darstellung den Vorzug verhältnißmäßig größerer geschichtlicher Treue
hat; insbesondere glaubten wir dies vou Matthäus, dem ersten Evangelisten,
sagen zu dürfen, und bei diesem sind es wiederum die Reden Jesu, welche uns
im Allgemeinen noch in ursprünglicher Form erhalten sind. Hier ist der feste
Punkt, welchen die Kritik der aufbauenden Geschichte angewiesen hat. Gelingt
es uns nicht mehr ein Leben Jesu zuschreiben, so gelingt es uns doch vielleicht
nach behutsamer Prüfung und Abwägung aller Momente, noch ein Bild von
dem religiösen Bewußtsein Jesu, von dem Geist seiner Lehre herzustellen, und
wenn uns dies gelänge, so hätten wir ja doch wohl das Wesentliche von Jesu
weltgeschichtlicher Bedeutung erfaßt. In diesem Sinne versuchte Baur in seinem
„Christenthum der drei ersten Jahrhunderte" das urchristliche Bewußtsein und
Princip, wie es einerseits durch den Gang der vorchristlichen Religionen und
Geschichte vorbereitet war. andrerseits in Jesus als ein Neues erschien, aus
dem ersten Evangelium abzuleiten. Bei seinem mehr ans das Große, Allgemeine,
Wesentliche gerichteten Sinne verzichtete Baur darauf, der individuellen Ent¬
wicklung Jesu naher nachzugehen und gab diese Seite weiterer Forschung anheim.
Keim in seiner kleinen Schrift „die menschliche Entwicklung Jesu Christi" be¬
mühte sich dann, gleichfalls auf Grund des ersten Evangeliums, den Gang der
Psychologischen Entwickelung Jesu nachzuweisen, ohne indessen mit der Mensch¬
heit Jesu ganzen Ernst zu machen. Letzteres ist dagegen das wesentliche Ver¬
dienst in Schenkels „Charakterbild Jesu", in welchem mit Grundlegung des
zweiten Evangeliums, nur mit zu weit gehender Hereinziehung fast des ganzen
evangelischen Erzählungsstosfs das Leben Jesu, vorzugsweise nach der Seite
seiner Lehrwirksamkeit hin, als ein echt menschliches dargestellt wird. Strauß
endlich stellte sich, die Resultate der kritischen Forschung zusammenfassend, die
Aufgabe wieder weiter, verzichtete aber auch ausdrücklich auf eine eigentliche
Lebensbeschreibung, sondern zeichnete von dieser nur einen Umriß, worin er
auf jedem Punkte den gegenwärtigen Stand der Wissenschaft ermittelte, das
Wahrscheinliche erhob und so mehr erörternd als erzählend die Grenzlinien be¬
zeichnete, welche uns für die Kenntniß dieser Geschichte gesteckt sind. Das
straußsche Buch bezeichnet genau das Maß unsres historischen Wissens vom
Leben Jesu. Aber gerade der Charakter seiner Darstellung und die ganze An¬
lage des Werks, in welchem der geschichtliche Umriß nur der Hauptaufgabe
vorausgeschickt ist, nämlich der, die allmälige Bildung des ungeschichtlichen
Lebens Jesu aufzuzeigen, ist der beste Beweis, daß das Leben Jesu wenigstens
zur Zeit noch mehr ein Gegenstand der Kritik als der Darstellung ist. Vielleicht
daß dereinst ein überlegener Geist, der die Schärfe und Klarheit, die unbestech¬
liche Gewissenhaftigkeit eines Strauß mit Nenanscher Intuition verbindet, eine
Geschichte Jesu von Nazareth schreibt. Inzwischen aber mag uns der Gedanke
entschädigen, daß das Christenthum die Religion des Geistes ist, welche ihren
universellen, ewigen Charakter auch schon darin zeigt, daß die persönlichen und
zeitlichen Bedingungen seiner ersten Existenz sich in ein Dunkel verloren haben,
in das wir nur noch einzudringen vermögen, um das, was nicht war, nicht
mehr dasjenige, was war, mit Sicherheit zu erkennen.
Der Tod hat in den letzten Monaten eine Reihe namhafter Schriftsteller
hinweggerafft; es wird von Interesse sein, auf ihre Stellung zur deutschen Lite¬
ratur einen flüchtigen Rückblick zu werfen. Lassen Sie mich mit dem zuletzt
Gestorbenen beginnen.
Das erste Werk, mit welchem sich Sealsfield dem deutschen Publicum
bekannt machte, „der Legitime und die Republikaner", erschien 1833; das letzte.
„Süden und Norden", 1842; während dieses Zeitraums lieferte er fast alljähr¬
lich einige Bände, seitdem ist er völlig verstummt. Die Werke erregten außer¬
ordentliches Aufsehn, theils wegen ihres innern Werths, theils weil man auf
den Verfasser neugierig war, dessen Namen, wenn ich mich recht erinnere, man
erst erfuhr, als er zu schreiben aufgehört hatte. Die ersten positiven Nachrich¬
ten drangen nicht früher als 1834 ins Publicum. Damals erfuhr man, daß
ein Mann dieses Namens seit 1832 in der Schweiz lebe, wenig zugänglich.
Von hypochondrischen Grillen erfüllt; daß er ein geborner Deutscher sei, in
Deutschland die Universitätsbildung durchgemacht und von Amerika aus schon
früher das Vaterland mehrfach besucht habe. Zwischen 1830 und 1832 habe
er sich in London und Paris aufgehalten. Weitere Details über sein Alter,
wo er eigentlich her ist, und was er vor seiner Schriftstellerei getrieben, weiß
man noch heute nicht; hoffentlich wird nun durch die Revision seiner Papier
Gelegenheit gegeben werden, etwas Näheres zu erfahren.
Zwei Vorzüge sind es, die ihn vor den meisten Reisebeschreibern und
Romandichtern seiner Zeit — zwischen beiden steht er in der Mitte — augen¬
fällig auszeichnen.
Zunächst ein Reichthum, ein Glanz und eine Frische der Farbe, die freilich
zuweilen blendet, in den meisten Fällen aber das Dargestellte wirklich vor die
Seele führt. Seine Figuren sind nicht gedacht, sie drängen sich den Augen
-seines Geistes auf. mit einer zuweilen ängstigenden Gewalt. von der aber et¬
was jeder wahre Dichter erleiden muß; es stehn ihm schnell die angemessenen
Mischungen zu Gebot, und er weiß die Bewegung seines Innern auch der
Seele des Lesers mitzutheilen. So lange man ihn liest, steht man völlig unter
seinem Bann, die Reaction tritt erst später ein. Diese glückliche poetische Gabe
ist freilich von den entsprechenden Fehlern begleitet. Sealsfield ist mehr Colo-
rist als Zeichner, und bei näherer Prüfung läßt die Correctheit seiner Gestalten
manches zu wünschen übrig. Die Virtuosität, mit der er über die Farbe ver¬
fügt, verleitet ihn nicht selten, zum Zweck zu machen, was in der echten Poesie nur
Mittel sein darf. Wenn endlich die Macht der Farbe auf einer kräftigen Sinn¬
lichkeit beruht, so geht bei Sealssield diese Sinnlichkeit bisweilen in etwas An¬
deres, Häßliches über, wovon man in „Süden und Norden" in „Morton"
u. s. w. abschreckende Beispiele findet.
Der zweite Vorzug ist eine ganz ungewöhnliche allgemeine Bildung und eine
damit verbundene Feinfühligkeit für fremde Art zu sein. Sealssield gleicht nicht
den herkömmlichen mittelmäßigen Touristen, die ihre zufälligen Gewohnheiten
und selbst Unarten als Maßstab mitbringen, er bemüht sich überall mit Ernst
und oft mit Erfolg, fremdes Leben nachzufühlen. Freilich begegnet ihm dann
leicht, daß das Fremde als solches ihm imponirt, und daß er mit jener Vir¬
tuosität eines deutschen Philosophen, die er selbst verspottet, auch das absolut
Unvernünftige vom höheren Standpunkt aus als das Vernünftige zu construiren
sucht. Daher sind seine Urtheile nicht unbedingt zuverlässig; seine Vertheidigung
der Sklaverei wird schon durch den gesunden Menschensinn widerlegt, sie ist
neuerdings schlagend durch die Geschichte widerlegt worden. Aber seine Ur¬
theile sind nie aus der Oberfläche geschöpft, sie zeugen überall von großem
Scharfsinn und umfassender Welterfahrung, und auch wo er irrt, kann man mehr
von ihm lernen als von correcteren Reifenden, die den gebahnten Wegen fol¬
gen. Und zwar liegt das darin, daß er nie oder doch nur selten beim bloßen
Raisonnement stehn bleibt, daß er vielmehr die Sachen, um die es sich handelt,
dem Leser sinnlich vor die Augen führt und ihm so die Mittel an die Hand
giebt, das Urtheil zu berichtigen. Mitunter hat sich seine historische Anschauung
doch glänzend bewahrheitet. Ich will nur an zwei Punkte erinnern, die Ana¬
lyse der Colonisirung von Louisiana und Texas, und der Nachweis, daß Mexico
zwar alle Elemente zu einer großen Monarchie, aber kein einziges zu einer Re¬
publik in sich enthält. Die beiden Figuren, Nathan der Squatter und der Conde
ti San Jago werden bleiben.
Die Zeit, in welcher Sealssield wirkte, 1833 bis 1842, pflegt man als die
jungdeutsche zu bezeichnen. Sie umfaßt in Deutschland Heine, Börne und
ihre Schule sowie die Junghegelianer, in Frankreich George Sand und Balzac,
in England hauptsächlich Bulwer. Sie ist vorwiegend kritisch gegen ihre un-
mittelbare Vorgängerin, die dritte Epoche der Romantik, die etwa mit dem
wiener Congreß beginnt und sich noch über die Julirevolution hinaus ausdehnt,
und deren Typen unsere Novellisten, Hoffmann. Tieck, Leopold Schefer, Stef¬
fens, ferner die ästhetischen Althegeliancr, im Ausland W.Scott, Cooper und
etwa V. Hugo sind.
Zwischen diesen beiden Epochen steht Sealssield in der Mitte. Seiner
principiellen Neigung nach ist er so entschieden jungdeutsch, wie es nur
einem Dichter möglich ist; dagegen erinnern seine Kunstmittel weit mehr an
die frühere Phase unserer Literatur, Einige Beispiele werden das deutlich
machen.
Man nehme eine seiner glänzenden Schilderungen, etwa den Prairieritt
im „Cajütcnbuch" oder das tropische Regenwetter in „Süden und Norden", und
halte dagegen irgendeine der zahlreichen Schilderungen bei L. Schefer z. B.
den Waldbrand oder die Nacht auf dem Kreuz der Peterskuppel, so wird man
eine ganz erstaunliche Verwandtschaft entdecken. Leide Dichter verstehn eS näm¬
lich, die Seele des Lesers so zu stimmen, daß sie das wilde Ereigniß, das sie dar¬
stellen, mit fühlen, ja mit leiden, ohne daß seinem Anschauungsvermögen eine
deutliche, in allen Punkten durchsichtige Vorstellung bleibt. Was sich sonst aus¬
zuschließen scheint, das träumerisch Dämmerhafte und das Grelle, ja Blendende,
ist auf eine seltsame Weise in einander verwebt. Freilich belehrt uns jeder et¬
was wilde Traum, daß in der That beides sich keineswegs ausschließt, daß der
Schwindel, der alle Sinnlichkeit aufhebt, und die nervöse Reizbarkeit, die jede
Gestalt ins Fratzenhafte verdeutlicht, gar wohl mit einander verbunden werden
können. Offenbar haben beide Dichter aus dem Traum lire Kunst gelernt.
Doch ist es möglich, daß Schefer als unmittelbares Borbild auf Sealsfield
gewirkt hat.
Ein anderes Beispiel. Ein geheimnißvoller mexikanischer Aristokrat wird
von einigen Amerikanern belauscht, sein Gesicht sieht zuerst blos müde und
stumpf aus, dann aber fangen eine Masse kleiner Linien an sich auf demselben
zu bilden, und die Bewegung seiner Gesichtsmuskeln wird so fieberhaft schnell,
daß der Leser an den Beitstanz denken muß. Das ist nicht etwa ein einzelner
Fall, solche Phantasmagorien wiederholen sich alle Augenblicke, z, B, bei dem
dämonischen Geldmcnsche» in „Morton"; aber auch in lieblicheren Formen z. B.
bei den jungen Damen der neuyorker Aristokratie, die ganz aus Quecksilber
bestehn. Nun halte man dagegen ein beliebiges Capriccio von Ho ff manu
z, B. den „goldenen Topf", und man hat genau dieselbe Operation der Phy¬
siognomie. Freilich spukt bei Hoffmann der Teufel und seine Großmutter, bei
ihm erfolgen die Verwandlungen wirklich, der Archivanus Lindhvrst wird wirk¬
lich ein Drache, sein Thürklöpfel wirklich eine alte Hexe u. s. w., während
bei Sealsfield die Individuen bleiben und der magisch bewegende Hauch nur
über die Gesichter läuft, aber dieser Unterschied betrifft nur die Außenseite, der
innerste Kern des Schaffens ist in beiden Fällen der künstlerische Materialis¬
mus, der sich bemüht, für jede geistige Bewegung den gleich starken körperlichen
Ausdruck zu finden. Bei Balzac findet man ganz ähnliche Erscheinungen.
Ein dritter Fall. In der politischen Tendenz scheint Sealsfield von Steffens
aufs äußerste abzuweichen, der erste bekennt sich zur Partei der Revolution, der
zweite ist entschiedener Reaktionär. Aber man vergleiche das Bild, welches
Sealssield in „Morton" vom Dämon des Geldgewinns entwirft, mit dem.
welches Steffens in der „Familie Walseth" von dem Dämon des Spiels giebt,
und man wird wieder völlige Uebereinstimmung finden, wenn auch der Eine
sich dafür begeistert, was den Andern mil Abscheu erfüllt. In den menschlichen
Leidenschaften etwas Magisches, Dämonisches, ja Teuflisches zu suchen, sie als
eine über das menschliche Vermögen hinausreichende. fremde Macht zu entwickeln,
lag tief im Wesen der Romantik,
Wenn diese Beziehungen Sealssields zu der Generation, die ihm unmittel¬
bar vorausging, sich unzweifelhaft herausstellen, so springt die Verwandtschaft
mit der gleichzeitigen jungdeutschen Literatur noch viel deutlicher in die Augen.
Man erinnere sich an die Art und Weise, wie Heine und Börne halb mit
Rührung, halb mit Hohn sich über die Natur des deutschen Volks auslassen,
und stelle damit die Figur des Herrn Bohne in „Süden und Norden" in
Zusammenhang. Herr Bohne ist ein deutscher Flüchtling, der mit einer Zahl
amerikanischer Gentlemen durch Mexico reist und als guter Deutscher sich ge¬
fallen läßt, von ihnen auf jede mögliche Weise maltraitirt zu werden. Herr
Bohne hat als preußischer Landwehrmann Rekruten gedrillt und schwärmt fürs
Dritten. Auf der Universität hat er aus einer Tabakspfeife mit schwarz-roth¬
goldenen Quasten geraucht und ist deshalb zum Tode verurtheilt. Herz und
Kopf sind voll von Idealen politischer Freiheit, und bei jeder Verlegenheit sieht
er sich nach der Polizei um, weil er sich nicht selbst zu helfen weiß. Er trägt
schmutzige Wäsche und einen alten Studentenrock und ist begeistert für die feinen
Sitten der Aristokratie. In allen gemeinen Dingen des Lebens hat er ein schiefes
Urtheil, dagegen imponirt er selbst den unverschämten Yankees durch seine Vir¬
tuosität, jede fremde Erscheinung philosophisch zu begreisen und ihr einen Ort
im System anzuweisen. Er ist tief durchdrungen von der Herrlichkeit des deutschen
Gemüths und spottet über die Willenlosigkeit der deutschen Natur und seine
eigene. — Wer ist dieser Herr Bohne? — Die Yankees nehmen ihn mit Hohn
für ein Bild des Deutschen überhaupt, der Verfasser pflichtet ihnen mit Schmerz
bei. — Einmal sehen die Yankees von der Spitze des Orizava aus das Stern¬
gebilde des südlichen Kreuzes, sie stimmen begeistert den Chor an: „Ehre sei
Gott und seinein Sohn!" welchen sie beständig wiederholen. Herr Bohne, der
dazu kommt, ist über dieses Gebahren zuerst verwundert und fordert sie auf.
aus dem Kalten zu kommen und Punsch zu trinken; als sie ihn aber wegen
dieses Stumpfsinns wiederum greulich maltraitiren und in ihrem Choral fort¬
fahren, geht er in sich und bricht unter Thränen in die Worte aus: „ich danke
Ihnen, dies macht mich wieder zum Christen!" — Und der Verfasser entläßt
den Leser mit dem beruhigenden Gefühl, daß nun alles in bester Ordnung sei. —
Ob dieser Verfasser wirklich Sealssield heißt, ist mir noch zweifelhaft; ob
er als preußischer Landwehrmann Rekruten gedrillt und als deutscher Student
in physischer Wirklichkeit schwarz-roth-goldenen Tabak geraucht hat, weiß ich
nicht; jedenfalls hat er es geistig gethan, und wer seiner Person wegen neu¬
gierig ist, mag sich daran erinnern, daß auch aus einem Zerrspiegel die
Physiognomie sich erkennen läßt, und diese Physiognomie — in Herrn Bohne
suchen. — Was uns Deutsche betrifft, so ist eine neue Generation an die Stelle
der jungdeutschen getreten. Wir haben nicht mehr daS Bedürfniß, uns durch
Pathos oder Ironie aufregen zu lassen, nicht mehr das Bedürfniß, das Un¬
begreifliche metaphysisch zu construiren, nicht mehr das Bedürfniß, uns mit
hypochondrischer Freude an unserer vermeintlichen Hamletnatur zu weiden: —
sondern wir haben das Bedürfniß, die Welt und ihre Kräfte kennen zu lernen,
daran die Grenze unserer Wünsche abzumessen und innerhalb dieser Grenzen
Schritt vor Schritt vorwärts zu gehn. Die Times hat uns den Freibrief ge¬
schrieben: wir sind eine Nation wilder, erobernder Barbaren, und wenn es
damit auch nicht so schlimm aussieht, so dürfen wir doch das Portrait, das in
Herrn Bohne von uns gemacht sein soll, bescheiden als nunmehr unangemessen
zurückweisen.
In einem andern Romane, „Deutsch-amerikanische Wahlverwandtschaften",
scheint Scaisfield von dem löblichen Vorsatz ausgegangen zu sein, die Deutschen
in ein besseres Licht zu stellen; aber gerade wo es angehn soll, bricht er ab.
Als Vertreter der deutschen Aristokratie wird beiläufig ein ncugcadeltcr Banquier¬
sohn vorgeführt.
Völlig jungdeutsch ist er in „Morton". In diesem prophetisch klingenden
Werk wird eine allgemeine Weltrevolution verheißen, geleitet durch ein paar
gewaltige Banquiers in der Art des Grafen Montechristo, die immer eine
Million zu den kleinen Tagesausgaben in der Westentasche bei sich führen.
Ein etwas blasirter junger Nouv wird von dieser Nevolutionsgesellschafl eingeweiht
und erwirbt seinen Freibrief durch eine im halben Rausch gehaltene Rede über
den Zusammenhang des Bankwesens mit der Umwälzung der Menschheit, wie
sie allenfalls auch Gutzkow hätte erfinden können. Man muß an den guten
Herrn Bohne, sein ungewaschenes Hemde und seinen Studentenrvcl! denken,
um diese Gluth zu begreifen, mit weicher das Phantasiegemälde von Millionen
oder Billionen Dollars seine Seele durchdringt.
Auch wir haben von der Macht des Geldes einen solideren Begriff als die
Generation, die uns unmittelbar vorausging; die Volkswirthschaft spielt mit
Recht eine sehr erhebliche Rolle in unserm politischen Treiben. Aber wir wissen,
daß das Geld nur von Werth ist. insofern es vergangene Arbeit darstellt und
künftige Arbeit hervorruft; Wunder zu thun ist es nicht im Stande. Fieber¬
träume wie jene Rede Mortvns würden heute nur noch Gelächter erregen.
Wir haben Recht, uns eine Generation des Fortschritts zu nennen, wenn
auch noch sehr viel daran fehlt, das; wir das Erworbene als befestigt betrachten
dürften. Die Macht des Verstandes, des Rechts und des sittlichen Gefühls hat
im Markt des Lebens die Ausgeburten einer erhilUen Phantasie zurückgedrängt;
auch die Dichtung sucht diesem neuen Stand der Dinge gerecht zu werden.
Gleichwohl dürfen wir nicht undankbar gegen unsere Vorgänger sein: die. Leb¬
haftigkeit der Empfindung, mit der sie Ideale in sich aufnahmen und 'auf ihre
Verkörperung drangen, hat unserm ruhigern und zusammenhängenderen Strebenden
Weg gebahnt. Und einer der geistvollsten und gehaltreichsten dieser Vorgänger
ist Sealssield.
Dieser Atlas hat den Zweck, die Gewerbthätigkeit und den Handel in geogra¬
phischen Bildern darzustellen. Wir begegnen auf seinen Karten daher weniger den
einzelnen Gebirgsgruppen und den einzelnen Thalcinsenknngen, als vielmehr den
Handelsstraßen und den Hauptgcbietcn der verschiedenen Gewerbszweige und Fabrik-
thätigkeitcn. Da die Karten nur eine Größe von durchschnittlich zwölf Quadrat¬
zoll haben, so würden sie zu voll und damit zu wenig übersichtlich geworden sein,
wenn man jeden Industriezweig hätte angeben wollen. Man mußte daher das
Wichtigste nnswählcn, und das ist mit Takt geschehen. Im Allgemeinen findet sich
Folgendes durch Farben oder farbige Zeichen auf den Karten angegeben! Weinbau.
Tabak, die Bcrgbanbezirkc, die Hauptfundortc der einzelnen Mineralien, die Districte
der Wollen- und Baumwollen-, der Leinen- und Seidenweberei, der Manufactur
von Porzellan, Thonwaaren. Glas, Chemikalien. Leder, Papier, Zucker, MeM-,
Holzwaarcn, Stroh- und Roßhaargeflechtcn. Auf Ur. 9 der Karten sind alle Haupt¬
zoll- und Hauptstcucrämtcr des deutschen Zollvereins, auf Ur. 10 (Oestreich) die
Filialen der östreichischen Nationalbank und die der östreichischen Crcditcmstalt. die
großen Meßplätze und Freihafen, die Eisenbahnen, Kanäle und Dampfschifffahrts¬
linien durch deutliche Bezeichnungen hervorgehoben. Wo der Raum es zuließ, sind
wichtige Industriezweige in größeren Maßstäben auf Ncbenkartchcn zur Darstellung
gekommen, auch ist durch farbige Schrift noch mancherlei, was für eine gewisse
Localität von Bedeutung ist, z. B. Auster», Bernstein. Fischfang, Hopfen, südlich
von Dijon die Gegend, wo der Chnmbertin gebaut wird, verzeichnet, und was
sonst noch gewünscht werden kann, auf den Karte» aber nicht anzubringen war,
giebt der zehn Bogen starke Text zu letzteren, welcher alles Nöthige über Handelsver¬
kehr, Zolltarife, Aus- und Einfuhr, Seeschifffahrt, Finanzen, Telegraphen. Eisen¬
bahnen/Posten, Banken und Actiengesellschaften, Assccuranzen, Sparkassen, Börsen,
Münze, Maß und Gewicht und andere statistische Angaben enthält. Die Ausstattung
ist schön, der Preis dem Werthe des Werkes angemessen.
Beide Hefte bewähren des Künstlers glückliche Begabung, sich in den Geist der
gewählten Dichtungen zu versetzen und ihn i» lebensvollen Gestalten und Gruppen
zur Anschauung zu bringen. Die Manier, in der er zeichnet, läßt das Colorit
der Holzschnitte meist in schöner Wirkung hervortreten, und manche seiner Blätter,
z. B, Andreas Hofer und die große Vignette ,.Aus dem dreißigjährigen Kriege"
gehören zu dem Besten, wan in dieser Art in neuester Zeit geleistet worden ist.
Auch die Auswahl der Gedichte, von denen die Mehrzahl aus der Zeit der Be¬
freiungskriege stammt, ist großentheils zu loben. Manche freilich sind (wie z. B.
das bekannte Schleswig-Holstein-Lied vo» Chemnitz) ohne poetischen Werth und
andere (wie die beiden Lieder Geivels am Schluß der ersten Lieferung) niemals
populär geworden.
Aus der Masse von Büchern und Broschüren, welche der dänisch-deutsche
Streit »och fortwährend entstehen läßt, heben wir folgende als beachtenswerth hervor:
„ AusA. v. Warnstcdts Staats- und Erbrecht der Herzogthümer Schles¬
wig-Holstein" (Hannover, schmort und Seefeld) eine Schrift, die denen zu
empfehle» ist, welche das sehr weitschichtige und trockne, aber Politikern von Fach
seines Reichthums an Material wegen unentbehrliche größere Werk des (bekanntlich hock-
conscrvativen) Verfassers zu studiren nicht Muße oder Neigung haben. Bei den Aus¬
zügen ist besonders der Abschnitt berücksichtigt, welcher über die allmälige Entstehung
des Erbfvlgestrcites berichtet. Von vorzüglichem Interesse in Betreff der Rcnuucia-
tioasfrage ist die Mittheilung ans der Rigsdags Tidcnde über die Debatte zwischen
Schlern und Bluhme (S. 18 bis 21). — Ferner Zopfes „Rechtliches Gutachten
über die CvmPetenz de r d e u t sah er Bunde sparsa in in l u n g bezüglich der Suc-
cessionsstrcitigkciten in deutschen regierenden Fürstenhäusern" (Leipzig, Hacsscl), welches
hinsichtlich Schleswig-Holsteins zu nachstehenden Schlüssen gelangt: Es wäre mehr
als nur inconsequent, wenn durch die Anordnung einer vom Lande selbst gar nicht
verschuldeten Bundeserecntion die Ständeversammlung eines Bundeslandes außer
Wirksamkeit gesetzt und nicht vielmehr von Buudeswegen dahin gewirkt werden sollte,
dieselbe unter Verhältnissen, unter welchen das Land eines verfassungsmäßigen Organs
zum Ausspruch seiner Nechtsansicht über die es zunächst und so tief berührende» Fragen
dringend bedarf, sofort in verfassungsmäßige Thätigkeit treten zu lassen. Endlich
kann es für die Bundesversammlung selbst nicht gleichgiltig sein, ob in ihr die
Bundesstaaten, welche nun einmal ein bundesgrundverfassungsmäßiges Recht haben
in ihr durch Bevollmächtigte ihrer Regierungen vertreten zu sein, darin wirklich
vertreten sind oder nicht. Die Einnahme des Sitzes in der Bundesversammlung
ist nicht blos ein Recht, sondern auch eine Pflicht. Von einer Untersuchung über
den jüngsten Besitzstand und einer Zurückführung der Sachlage auf denselben kann
unter den dermaligen Verhältnissen nicht die Rede sein, und ein austrügalgcrichtlichcS
Verfahren ist bei der jetzt schwebenden holsteinischen und lauenburgischen Successions¬
sache an sich unzulässig. — Dann Bremer „Geschichte Schleswig-Holsteins
bis zum Jahr 1848" (Kiel, Schröder und Comp.). Der Verfasser, früher
AppcllatiousgcrichtSsccretär in Lübeck, jetzt Bürgermeister in Flensburg, behandelt hier
die Geschichte in der alten Manier, wo hauptsächlich von den Haupt- und Staatsactionen
die Rede ist. Neues hat er nicht zu sagen, auch die Gruppirung der Thatsachen
und sei» Deutsch könnte besser sein. Dagegen ist er ein guter Patriot, und so mag
sein Werk in Ermangelung eines sür das große Publicum bestimmten von berufe¬
nerer Hand empfohlen sein. — Recht instructiv ist ferner G. Majers Schrift: „Die
dänisch-deurschc Verwickelung nach ihren Entstehungsgründen und
ihrem Verlauf dargestellt nebst einer genealogischen Beleuchtung der dänischen
„Erbfolgesrage". — Ferner sei noch erwähnt E. Pirazzis an die Mitglieder des
englischen Unterhauses gerichtete ziemlich umfängliche Denkschrift „Ein Wort an
England von Schleswig-Holsteins Recht und Deutschlands Ehre", die
mit viel Wärme und nicht ohne gute Kenntnisse das deutsche Recht und Interesse
gegenüber der Unwissenheit und Brutalität der Negierung, des Parlaments und der
Presse Englands zu vertheidigen sucht, damit aber freilich bei der Adresse, an die
sie gerichtet ist, irgendwelchen Erfolg so wenig erzielen wird, als frühere auf gründ¬
lichere Sachkunde basirte Vorstellungen. England will uns nicht hören; vielleicht
wird es einmal fühlen müssen, wie viel ein gutes Einvernehmen mit Deutschland
werth ist. — Von besonderem Interesse ist endlich die erste Lieferung eines in Kiel er¬
scheinenden Sammelwerks, welches unter dem Titel „Schwarz duch über die
dänische Mißregierung im Herzoge!) u in Schleswig in verbürgten Beispielen
eine thatsächliche Widerlegung der Behauptung, es sei durch Wcgjagung der dänischen
Beamten in Schleswig lin schreiendes Unrecht verübt worden, enthalten wird. Diese
erste Lieferung bringt den von Dr. Rüppell und I)r. Bockendahl den Eivileommissären
erstatteten „Pflichtmäßigen Bericht über das Mcdicinalwesen des Herzogthums Schles¬
wig" unter dem Regiment des berüchtigten Schleisncr und giebt in ihren An¬
merkungen den schlagenden Beweis, daß das 1852 geschaffene Medicinalinspcctorat,
so wenig man dies bei einer Behörde dieses Wirkungskreises erwarten sollte, eines
der kräftigsten Mittel zur Verfolgung deutscher Gesinnung und zur Danisirnug
Schleswigs gewesen ist. Schleisncr hat beim Einrücken der Preußen in Flensburg
einen Theil seines Archivs, jedenfalls nicht den unschuldigsten, vernichtet. Aber was
man noch vorfand, reicht vollständig hin, seine Absetzung zu rechtfertigen, und die
beiden Herren, die daraus ihre Charaktenfiruug dieses Individuums zusammen¬
stellten, haben sich ein entschiedenes Verdienst um die Geschichte der Leidensjahre
ihres Heimathslandes unter dem dänischen Joche erworben. Die Proben des an
Verrücktheit grenzenden Fanatismus, mit welchem Schlcisncr sein Delatorcncnnt ver¬
waltete, würden zum Theil lächerlich sein, wenn sie nicht so ernste Folgen gehabt
hätten, und sie würden unglaublich sein, wen» die Berichterstatter ihn nicht durch
seine eignen mit Anführungszeichen gegebenen Worte schilderten. Zunächst wußte er
sich durch Bciscitcschieben des ihm ncbengcordncten SanitätscoUegiums den Behörden
und Gemeinden gegenüber eine bis dahin unerhörte Macht zu allerlei Anordnungen,
Eingriffen, Absetzungen u. s. w. zu verschaffen. Dann begann er mit dieser Macht
sein DanisirungSgeschäst ins Werk zu setzen. Die deutschen Physici wurden durch
Dänen ersetzt, als Armenarzte stellte er nur solche Deutsche an, welche eine reine,
d. h. eine entweder indifferente oder, und das war der häufigere Fall, eine antideutsche
Vergangenheit hinter sich hatten. Eine Schleswig-holsteinische Petition unterschrieben,
im Schleswig-holsteinischen Heer gedient, der „aufrührerischen" Regierung Steuern
gezahlt zu haben, machte jeden ohne Weiteres unfähig, Däne oder dänisch gesinnt
zu sein dagegen machte jeden vor Andern fähig zur Anstellung als Arzt. Deutsche
Reisende sollten, so lautete der Grundsatz, nach welchen der Medicinalinspcctor bei
derartigen wie bei andern Gelegenheiten verfuhr, sobald sie den Fuß auf schleswigschen
Boden setzten, inne werden, daß sie in Dänemark seien. Apotheker wurden, indem
man ihnen ihr Privilegium nahm, gezwungen, ihr Geschäft nach einer von Schleis-
ucr angeordneten Abschätzung zu verkaufen, und diese war stets eine so niedrige, daß
bedeutender Vermögensverlust, in einem Fall sogar völliger Ruin die Folge war.
Selbst die Irrenanstalt in Schleswig mußte statt der deutschen sich dänische Aerzte
gefallen lassen, >und was dünische Aerzte für ein Deutsch schreiben, zeigt die wahr¬
haft kostbare Anmerkung, welche die Eramcnarbcit eines gewissen Knudsen aus
Kopenhagen mittheilt. Man lese und man wird auf jeder Seite Gelegenheit finden,
sich verwundert zu fragen, ob man recht gelesen. — Die in Aussicht gestellten
weiteren Lieferungen werden jedenfalls nicht weniger interessante Beispiele aus andern
Sphären des dänischen Treibens in den letzten dreizehn Jahren enthalten. Wir
werden von Rechtskränkungcn und Ncchtsverweigerungen, willkürlichen Entziehungen
von Stellen und Privilegien, von Amtsmißbrauch in Kirche und Schule, Polizei-
chieancn und einem Sportuliren hören, wie es so schmachvoll noch nirgends erhört
wurde. Und was dem Unternehmen seinen eigentlichen Werth und seinen entschiedenen
Vorzug vor den bisherigen Veröffentlichungen dieser Art giebt, alles dazu verwendete
Material wird aus beglaubigten Thatsachen bestehen, jede Mißdarstcllung oder Ueber¬
treibung daher ausgeschlossen sein.
Zu den Vorlagen, über welche die vorigjährigc Landtagsvcrsammlung ver¬
handelte, gehörte ein von beiden Landesregierungen schon zum zweiten Male
eingebrachter Gesetzentwurf, betreffend die Bestrafung der Dienstvergehen der
Gutsleute in den ritterschaftlichen Gütern. Die Dienstvergehen, mit Einschluß
der Entweichung aus dem Dienste, sollten danach nicht einem gerichtlichen,
sondern einem polizeilichen Verfallen unterliegen, vorausgesetzt, daß es sich dabei
nicht um eigentliche Verbrechen oder um solche Fälle handelt, die zur Aus¬
machung im Wege des Civilprocesses geeignet sind. Nur wenn der Gutsherr
es vorzieht, tritt statt des polizeilichen ein gerichtliches Verfahren ein. Be¬
leidigungen gegen den Gutsherrn und seine Familie sind immer auf den ge¬
richtlichen Weg zu verweisen. Es steht zum Ermessen des Gutsherrn, der
polizeilichen Untersuchung und Bestrafung der Dienstvergehen sich selbst zu unter¬
ziehen oder dieselben dem Patrimonialgericht oder dem Patrimonialrichter, auf
Grund einer contractlichen Übertragung der gutsvvlizeilichen Strafgewalt zu¬
zuweisen. Gegen die polizeilichen Decrete des Gutsherrn oder des seine Stelle
vertretenden Patrimonialgerichts findet ein Recurs an das Ministerium des
Innern statt.
Die Ritterschaft gab diesem Gesetzentwurf mit der großen Mehrheit von
30 gegen 6 Stimmen freudig ihre Zustimmung und machte nur die Bedingung,
daß noch einige Lücken ergänzt würden, wohin man namentlich den Mangel
einer Bestimmung über das Strafmaß rechnete. In letzterer Hinsicht eignete
sich die Ritterschaft den vom Bürgermeister Wulffleff aus Sternberg warm
empfohlenen Vorschlag an, wonach dem Gutsherrn in seiner Eigenschaft als
Polizeirichter das Recht zustehen sollte, auf Geldbußen bis zu fünf Thaler, auf
Gefängniß bis zu einer Woche und aus körperliche Züchtigung bis zu fünfund¬
zwanzig Hieben zu erkennen. Mehre Mitglieder der Ritterschaft schenkten beson¬
ders dieser letzteren Strafgattung ihren Beifall, indem sie die Ansicht äußerten,
daß dieselbe eine viel größere Wirkung habe, als wenn die Leute von Gerichts¬
wegen eingesperrt würden.
Die Mehrheit der Bürgermeister konnte sich jedoch mit dem Gesetzentwurf
nicht befreunden und lehnte vermittelst einer Standeserklärung denselben ab,
theils weil ein Bedürfniß dazu nicht vorliege, besonders aber deshalb, weil
darin der Grundsatz ausgesprochen sei. daß der Gutsherr auch in Fällen, wo
sein eigenes Interesse in Betracht komme, die Sache selbst untersuchen und ent¬
scheiden könne.
Mit dieser von der Landschaft (den Deputirten der Stadtmagistrate) aus¬
gesprochenen Ablehnung durfte man das projectirte Gesetz so lange für beseitigt
halten, bis es etwa der Regierung gelingen würde, auf einem künftigen Land¬
tage die Mehrheit dieses Standes nachträglich für ihr Project zu gewinnen.
Wenn das Gesetz zunächst auch nur die Ritterschaft und deren Hintersassen an¬
geht, so galt es doch bisher als landesverfassungsmäßiger Grundsatz, daß Ge¬
setze, welche die Zustimmung des Landtags erfordern, nicht schon durch die
Zustimmung eines der beiden Stände giltig zu Stande kommen. Zudem haben
die Städte ein sehr starkes mittelbares Interesse an dem Gesetz. Es kann
ihnen schon wegen der voraussichtlichen Wirkung auf die Bevölkerung in den
ritterschaftlichen Gütern nicht gleichgiltig sein. Gesetze, durch welche diese be¬
drückt, gequält, geknechtet, erbittert, zur Verzweiflung getrieben wird, haben
auch auf das Wohl und Gedeihen der Städte und des ganzen Landes einen
verderbenbringenden Einfluß. Es fehlt auch nicht an directen Beziehungen der
städtischen Bevölkerungen zu den Bestimmungen des Gesetzes, da dasselbe nicht
blos die auf den Gütern wohnhaften Leute, sondern auch solche Personen er¬
greift, welche als Dienstboten. Tagelöhner oder sonstige Arbeiter daselbst nur
einen vorübergehenden Aufenthalt haben.
Indessen hat das mecklenburg-schwerinische Staatsministerium in der ab¬
lehnenden Erklärung der Landschaft kein Hinderniß der Publication des Gesetzes
erblickt. In der am 16. April d. I. herausgegebenen Nummer des Gesetz¬
blattes erschien, gewiß zur Verwunderung der verfassüngskundigen Mitglieder
der Ritterschaft selbst, die vom 2. April datirte „Verordnung, betreffend die
Bestrafung der Dienstvergehen der Gutsleute in den ritterschaftlichen Gütern".
Der Text dieser Verordnung stimmt mit der früheren, von der Landschaft ver¬
worfenen Vorlage genau überein und ist nur mit den von der Ritterschaft
dcsiderirten Ergänzungen ausgestattet, namentlich mit den von ihr bedungenen
Bestimmungen in Betreff der Befugniß der Gutsobrigkeit, auf Strafen bis zur
Höhe von fünf Thalern und einer Woche Gefängniß und auf körperliche Züch¬
tigung bis zu fünfundzwanzig Streichen zu erkennen.
Dagegen muß die mecklenburg-strelitzische Landesregierung gegen die Publi¬
cation des Gesetzes Bedenken gefunden haben. Wenigstens ist sie bis zu dieser
Stunde dem mecklenburg-schwerinschcn Beispiel nicht gefolgt, und die Annahme
scheint einigen Grund zu haben, daß die Publication dort jetzt überhaupt nicht
mehr beabsichtigt wird.
Vielleicht ist man inzwischen auch in Schwerin zu der Erkenntniß gelangt,
daß es wohl rathsamer gewesen sein möchte, die Strafverordnung im Archiv
des Staatsministeriums ruhen zu lassen als sich in jene Fluth von Ungelegen-
heiten und Schwierigkeiten zu stürzen, welche sich als die unmittelbare Folge
der Publication ergeben hat. Mit Ausnahme einiger weniger Organe der feu- ^
baten Partei, welche ihre Berichte über Mecklenburg von Beamten des schwcriner
Ministeriums zu beziehen pflegen, und allerdings auch mit Ausnahme der ge-
sammten mecklenburgischen Presse, welcher durch ein imperialistisches Vcrwarnungs-
system die Möglichkeit einer freien Meinungsäußerung längst entzogen ist, hat
die gesammte deutsche Presse gegen die Verordnung und gegen den darin zu
gesetzlichem Ansehen erhobenen gutspolizeiherrlichen Prügelstock einstimmig ihren
Abscheu ausgesprochen. Ohne Zweifel hatte man ein so starkes und allgemeines
Verwerfungsurtheil nicht vorausgesehen. Man würde sonst sicherlich wenigstens
einen anderen Zeitpunkt für die Publication gewählt und nicht wenige Wochen
vor dem Tage der Vermählung des Großherzogs die Verordnung der öffentlichen
Besprechung ausgesetzt haben. Die Zeit konnte nicht unpassender gewählt wer¬
den, und es konnte nicht fehlen, daß das Ereigniß sogleich lebhast und all¬
gemein lsesprochen ward. Man erzählt von Reibungen und scharfen Conflicten
in Darmstadt zwischen der hessischen und der mecklenburgischen Hofdienerschaft,
hervorgerufen durch Neckereien und Anspielungen Seitens der ersteren aus An¬
laß des mecklenburgischen Dienstvergehensstrafgesetzes; man will wissen, daß die
darmstädter Turner- und Sängervereine infolge der neuen mecklenburgischen
Verordnung der anfangs beabsichtigten Betheiligung an der festlichen Beglück¬
wünschung des hohen neuvermählten Paares sich enthalten haben. Mögen nun
diese und andere Gerüchte begründet sein oder nicht: immer bleibt es zu be¬
klagen, daß gerade in die Zeit des schönen Festes, dessen ungetrübten Genuß
man sowohl dem Großherzog wie seiner jungen Gemahlin aufrichtig gewünscht
hätte, durch die allgemeine Entrüstung über das Gesetz ein Schatten fallen
mußte. Man hätte sowohl dem Großherzog, welchen man weit entfernt ist für
den Inhalt der Verordnung verantwortlich zu machen, wie auch der hohen
Frau, die er in die neue Heimath geführt hat, in welche ihr der Ruf aller edlen
weiblichen Eigenschaften vorausgegangen ist. das traurige Angebinde gern er¬
spart gesehen, welches ihnen zu ihrem schönsten Festtage durch die Minister des
Landes aufgedrungen worden ist.
Der Großherzog '.oll seine Mißstimmung über den ihm nicht entgangenen
Eindruck der neuen Stiafverordnung schriftlich in sehr lebhaften Ausdrücken
gegen den Minister des Innern ausgesprochen haben. Vielleicht steht es damit
in Zusammenhang, daß unmittelbar vor der am 12. Mai in Darmstadt vollzogenen
Vermählung des Großherzogs ein allgemeines Aufgebot von Vertheidigungs¬
mitteln für, die angegriffene Strasverordnung in den Organen der feudalen
Partei sich bemerklich machte. Am 9. und 10. Mai veröffentlichte der „nord¬
deutsche Correspondent", das vfsiciöse Organ des schwerincr Staatsministeriums,
zwei fulminante Artikel gegen die Fvrtschrittsmänncr, welche wie auf ein ge¬
gebenes Zeichen über das vortreffliche Gesetz hergefallen wären und mit Hilfe
der ihnen geläufigen Kunst der Entstellung und Verdrehung der Wahrheit
dasselbe „der Indignation der civilisirten Welt denuncirt" hätten. Mit Korre¬
spondenzen aus Mecklenburg gleichen Inhalts und Zweckes wurden um die¬
selbe Zeit die „Neue Preußische Zeitung" und die ministerielle „Darmstädter Zei¬
tung" versehen. Alle diese Elaborate verdanken anscheinend einer und derselben
Feder ihre Entstehung, einem subalternen Ministerialbeamten, welcher in der¬
gleichen Dingen als Helfer in der Noth benutz! zu werden pflegt, nachdem er
zur Zeit der Herrschaft des constitutionellen Staatsgrundgesctzes sich in der
Vertheidigung der entgegengesetzten politischen Grundsätze geübt und seine Feder¬
fertigkeit erworben hat. Nur in der Chiffre differiren diese Productionen, sonst
tragen sie alle, die gleiche Physiognomie und zeichnen sich durch einen großen
Reichthum gemeiner Lästerungen aus.
Man scheint aber auf die Wirkung dieser Art der Bekämpfung der öffent¬
lichen Meinung doch nur geringes Vertrauen gesetzt zu haben. Deim gleich¬
zeitig ließ sich der Minister der auswärtigen Angelegenheiten, Herr v. Oertzen,
den Schutz des Strafgesetzes noch in anderer Weise angelegen sein, indem er
dasselbe zum Gegenstand einer diplomatischen Action machte, welche zu den un¬
gewöhnlichsten Erscheinungen in diesem Fache gehört.
Diese diplomatische Action bestand in der Absendung eines Circulars an
die großherzoglichen Gesandten an den deutschen Höfen und einer begleitenden
Denkschrift. Beide Actenstücke haben die Verordnung vom 2. April d. I.,
betreffend die Bestrafung der Dienstvergehen der Gutsleute in den ritterschaft-
lichen Gütern, und deren Vertheidigung gegen die Angriffe in der Presse zum
Gegenstände. Der „norddeutsche Correspondent" veröffentlicht dieselben in
seiner Nummer vom 19. Mai, das Circular trägt aber schon das Datum des
9. Mai. Er hat bisher auch nur die Denkschrift vollständig zum Abdruck ge¬
bracht, dagegen bei dem Circular sich beschränkt, den Anfang und Schluß nach
dem Wortlaut mitzutheilen, während man sich in Ansehung des mittleren Theiles,
der daher stellenweise nicht für die Oeffentlichkeit geeignet sein mag, mit einer
Inhaltsangabe begnügen muß. Das Circular erschein im „Norddeutschen
Correspondent" mit der Überschrift: „Cirkular an die großherzoglich mccklen-
burg-schwerinschen Gesandtschaften im Auslande." Der Inhalt desselben ergiebt
jedoch, daß von den fünf Gesandtschaften, welche der Großherzog unterhält,
wahrscheinlich die Gesandtschaft am kaiserlichen Hofe zu Paris und jedenfalls die
Bundestagsgesandtschaft als ausgeschlossen zu denken sind, und daß das Schrift¬
stück in der vorliegenden Gestalt daher wohl nur an die Gesandten an den -
Höfen von Berlin, Wien und Darmstadt abgegangen sein wird. Das Circular
bezweckt, den auswärtigen Regierungen die hilflose Lage zur Kenntniß zu bringen,
in welcher die mecklenburg-schwerinischc Regierung infolge der von ihr publicirten
neuen Strafverordnung der nichtmecklenburgischen deutschen Presse gegenüber sich
befindet, und dadurch womöglich zu schützenden Maßregeln anzuregen. Die
beigegebene Denkschrift stellt sich die Aufgabe, die Verordnung gegen die ihr
gemachten Vorwürfe zu vertheidigen und sie als ein höchst wohlthätiges, ge¬
rechtes und humanes Werk der Gesetzgebung zu erweisen.
Der Eingang des Circulars lautet:
„Ew. ze. ist es nicht entgangen, mit welcher Uebereinstimmung die demo¬
kratische Presse in Deutschland neuerlich ihre Angriffe gegen Mecklenburg ge¬
richtet hat, namentlich aus Veranlassung der kürzlich in hiesigen Landen publi-
cirten Verordnung, betreffend die Bestrafung der Dienstvergehen der Gutsleute
in den ritterschaftlichen Gütern vom 2. April d. I. Fast alle Organe der Umsturz¬
partei, die vorsichtigeren mit einiger Reserve!, als sei dergleichen doch nicht zu
glauben, hallen wieder von Schmähungen gegen die Regierung, welche nur
durch Handhabung des Stocks sich halten könne, gegen die feudalen Gutsherrn,
welche nun gesetzlich ermächtigt seien, die Sklavenpeitsche über dem Arbeiter zu
schwingen, und überhaupt gegen die Zustände des Landes, wo eine solche
Barbarei noch möglich sei. Sie berichten von einer bedenklichen Aufregung,
welche das Gesetz veranlaßt habe, während dasselbe in Wirklichkeit von Allen,
die der Verhältnisse kundig sind, als eine wahre Verbesserung und Sicherstellung
der Dienstleute gegen einen etwaigen Mißbrauch der gutsherrlichen Polizeigewalt
erkannt und gebilligt worden ist.
„Wenn es hiernach mehr als wahrscheinlich ist, daß die Umsturzpartei in
Deutschland zu dem vorliegenden Angriffe das Zeichen gegeben und damit einem
früher wirklich schon verkündeten politischen Plane gemäß gehandelt hat. wozu
die Partei in Bezug auf Mecklenburg ihre Gründe haben mag, so versteht es
sich von selbst, daß die großherzogliche Regierung auch von der gründlichsten
Nachweisung, daß jene Schmähungen auf Unwahrheit und Entstellung beruhen,
in den von der demokratischen Presse beherrschten Kreisen für den Augenblick
keinen wesentlichen Eindruck erwarten kann, und es geschieht daher eines anderen
Zweckes wegen, daß Ew. ?c. eine solche von der Regierung veranlaßte Nach¬
weisung in der Anlage mitgetheilt wird."
Hier bricht im „Norddeutschen Korrespondent" die Mittheilung des Wort¬
lauts ab, und es folgt eine bloße Inhaltsangabe, der zufolge das Circular
weiter darlegt, wie in diesem Falle für die deutschen Regierungen und für alle
Patriotisch Gesinnte, welche die Gefahren, womit das Treiben der Revvlutions-
Partei Deutschland bedroht, erkennen, ein klares Bild dieses vollständig vrgani-
strten Treibens hervortrete. Es möge wohl sein Gutes haben, wenn die Presse
wirkliche Mängel in den Zuständen eines Landes — und an einzelnen Ge¬
brechen werde es Wohl in keinem deutschen Lande mangeln — rüge, sofern dies
mit Wahrheitsliebe und in einer Weise geschehe, daß nicht die Autorität im
Princip dadurch untergraben werde. Mit Mecklenburg aber verhalte es sich
anders. Dieses Land sei vorzugsweise wegen seiner aus dem historischen Rechte
und nicht auf der modernen Theorie beruhenden Institutionen zur Zielscheibe
des oberflächlichsten liberalistischen Raisonnements erwählt, ja es werde systema¬
tisch schon seit Jahren öffentlich durch ganz Deutschland des Despotismus und
der Barbarei beschuldigt und nach allen Richtungen hin verlästert. Dabei sei
tue Bevölkerung, abgesehen von einer geringen Anzahl demokratischer Wort¬
führer, welche auch die Seele dieser Agitation in der auswärtigen Presse seien,
zufrieden, ihrem Fürsten treu ergeben, überhaupt loyal gesinnt und verhältni߬
mäßig wohlhabend.
„Alle jene Schmähungen" — so lautet dann der letzte Theil des Schrift¬
stücks — „nicht blos im Ganzen, sondern auch in den Einzelheiten, haben sich
stets durch eine unparteiische nähere Untersuchung und Erörterung als Producte
factischer Unwahrheit und absichtlicher Täuschung herausgestellt, und dennoch
stehen Regierung und Land den Verleumdungen, womit die demokratische Presse
sie zu überschütten und allmälig zu untergraben sucht, schutzlos gegenüber; in¬
dem die Presse selbst ebenso systematisch jede unparteiische Erörterung unter¬
drückt, und die bestehenden gesetzlichen Garantien gegen den Mißbrauch der
Presse auf das Gebiet des einzelnen Landes sich beschränken, in den übrigen
deutschen Ländern aber, wie bekannt ist, thatsächlich wirkungslos sind. Ein
solcher Zustand der Dinge erscheint wohl geeignet, die Aufmerksamkeit der Re¬
gierungen und aller derer auf sich zu ziehen, welche nicht gemeint sind, in dem
Kampfe gegen die Umsturzpartei um die edelsten Güter der deutschen Nation
zunächst auf dem Gebiete der Presse, dann aber auch bald auf anderen Ge¬
bieten die Waffen zu strecken.
Ew. ?c. werden ersucht, die obige Auffassung vertrauensvoll zur Kenntniß
der hohen Regierung, bei welcher Sie beglaubigt zu sein die Ehre haben, zu
bringen und dieselbe auf Grund der anliegenden Darlegung zu erläutern, deren
Mittheilung und weiterer Verbreitung in Kreisen, denen es um eine richtige
Würdigung der Verhältnisse zu thun ist, kein Bedenken entgegensteht, und be¬
sonders deren Wichtigkeit für ganz Deutschland hervorzuheben.
Ew. ?c. demnächstiger Relation in dieser Angelegenheit sieht das unter¬
zeichnete Ministerium mit Interesse entgegen."
Ein bestimmter Antrag an die auswärtigen Regierungen, denen die vor¬
stehende Darlegung zur Kenntniß gebracht werden soll, wird nicht gestellt. Die
auswärtigen Regierungen sollen zunächst über die Sachlage nur aufgeklärt und
zu einer Beurtheilung der von der deutschen Presse gegen das Strafgesetz ge-
richteten Angriffe befähigt werden. Da aber zugleich ihre Aufmerksamkeit für
die angeblich complottmäßige Entstehung jener Angriffe und für die Gefahren,
mit welchen nach der Behauptung des Circulars dieses angebliche Komplott
ganz Deutschland bedrohet, in Anspruch genommen wird, und da die Regierung
sich in dem Circular als schutzlos und schutzbedürftig darstellt, so leuchtet ein,
daß es mit diesem Schritt des Ministers der auswärtigen Angelegenheiten noch
auf etwas Wciieres als auf die Erregung der bloßen Aufmerksamkeit für die
geschilderten Zustände abgesehen, und daß es der Wunsch des Ministers ist,
die auswärtigen Regierungen für Maßregeln gegen die deutsche Presse zu ge¬
winnen, welche dieselbe verhindern sollen, sich noch fernerhin mit der Kritik der
mecklenburgischen Gesetzgebung zu befassen und die schutzlose Unschuld anzu¬
greifen.
Diesem Zwecke wird sich nun aber schon der Inhalt des Circulars selbst
wenig förderlich erweisen. Die leidenschaftliche Sprache gegen das, was der
Minister „Umsturzpartei" nennt, die offenbar den Charakter einer bloßen Vision
an sich tragende Hinweisung auf eine Verschwörung der ganzen deutschen
Presse gegen die mecklenburgische Regierung sind nicht geeignet, das Vorur¬
theil zu erwecken, daß es eine gute und gerechte Sache sei, für welche der
Schutz des „Auslandes" in Anspruch genommen wird. Die Widersprüche,
in welche die Darlegung sich verwickelt, können den dadurch erregten Eindruck
nur verstärken und befestigen. Aus der einen Seite wird die von der deutschen
Presse an dem Prügclgesctz geübte Kritik als ein planmäßiges Handeln der
deutschen „Revoiutionsvartci" denuncirt, während doch eine andere Stelle des
Schriftstücks eine geringe Anzahl mecklenburgischer Demokraten als die Seele
der, ganzen Agitation in der auswärtigen Presse bezeichnet. Auf der einen
Seite wird behauptet, daß Regierung und Land den Angriffen der letzteren
schutzlos gegenüberstehen, und daß hieraus die ernstesten Gefahren für Mecklen¬
burg und ganz Deutschland sich ergeben; an einer andern Stelle erfährt man,
daß es keine Bevölkerung gibt, welche der Aufwiegelung unzugänglicher wäre
als eben die mecklenburgische, die nach dem Circular, „abgesehen von einer ge¬
ringen Anzahl demokratischer Wortführer, zufrieden, ihrem Fürsten treu erge¬
ben, überhaupt loyal gesinnt und verhältnißmäßig wohlhabend" ist. Man sollte
denken, daß unter solchen Umständen der mecklenburgischen Regierung „der Kampf
gegen die Umsturzpartei um die edelsten Güter der deutschen Nation" nicht
allzuschwer fallen und nicht eben gefahrvoll erscheinen müßte, und daß sie wenig¬
stens für Mecklenburg den Zeitpunkt, wo es sich für sie nothwendig machte, in
diesem Kampfe „die Waffen zu strecken", auch nicht einmal an dem fernsten
Horizont schon aufdämmern sehen könnte. Wenn sie die Behauptung, daß nur
eine geringe Anzahl demokratischer Wortführer in Mecklenburg die Seele der
Agitation gegen die mecklenburgische Regierung in der auswärtigen Presse sei,
wirklich nicht blos als Vermuthung, sondern mit solcher Bestimmtheit, wie dies
in ihrem Schriftstück geschieht, glaubt aufstellen zu dürfen, so begreift man auch
nicht, was sie hindern mag, aus dieser Kenntniß vollen Nutzen und die bezeich¬
neten Wortführer zur gerichtlichen Bestrafung zu ziehen. Sie würde damit
selbst für den Schutz sorgen, welchen sie jetzt vom „Auslande" erbittet.
Die specielle Vertheidigung für das angegriffene Gesetz zu führen, ist die
der beigefügten Denkschrift zugewiesene Aufgabe. Das Circular versucht aber
schon im Voraus, für eine günstige Meinung den Weg zu bahnen, indem es
die Behauptung aufstellt, daß das in Rede stehende Strafgesetz „in Wirklichkeit
von Allen, die der Verhältnisse kundig sind, als eine wahre Verbesserung und
Sicherstellung der Dienstleute gegen einen etwaigen Mißbrauch der gutsherr-,
liehen Polizeigewalt erkannt und gebilligt 'worden ist." Die Kühnheit dieser
Behauptung grenzt an das Unglaubliche, wenn man dieselbe mit der Thatsache
confrontirt, daß von den beiden Ständen, welche die mecklenburgische Land-
tagsvcrsammlung bilden, wie oben berichtet, nur die Ritterschaft dem Gesetze
zugestimmt, die aus den Deputirten der Stadtmagistrate bestehende Landschaft
dagegen dasselbe ausdrücklich verworfen hat, und zwar „weil ein Bedürfniß
dazu nicht vorliege, besonders aber deshalb, weil darin der Grundsatz ausge¬
sprochen sei, daß der Gutsherr auch in Fällen, wo sein eigenes Interesse in
Betracht komme, die Sache selbst untersuchen und entscheiden könne." Der
Minister selbst wird schwerlich gemeint sein, von den Bürgermeistern der Städte
zu behaupten, daß sie der Verhältnisse, welche hierbei in Frage kommen, nicht
kundig sind. Wie kann er dann aber wagen, Angesichts der ihm bekannten
Thatsache der Verwerfung des Gesetzes durch die Landschaft in einem amtlichen
Schriftstück die Erklärung abzugeben und zu unterzeichnen, daß das Gesetz von
>allen der Verhältnisse Kundigen gebilligt worden ist? Der voraussichtlich auf
nächstem Landtage zu erwartende förmliche Protest der Landschaft gegen die
Publication eines ausdrücklich von ihr abgelehnten Gesetzes wird ihn belehren,
daß ihm von dieser Seite her sogar das Recht zu solcher Publication be¬
stritten wird. . '
Die Denkschrift, so umfänglich sie ist, findet doch keine passende Stelle,
um der in dem Circular verläugneten Thatsache zu gedenken, daß das publi-
cirte Gesetz von der Landschaft ausdrücklich verworfen und gemißbilligt worden
ist, und die ofsiciöse Vertheidigung im „Nordd. Corr." geht in der Verdun¬
kelung der Wahrheit um dieselbe Zeit so weit, daß sie erzählt, der bezügliche
Gesetzentwurf „sei von den Ständen, unter gleicher Betheiligung der Ritterschaft
und der Landschaft, abgelehnt," aber „die Wiedcrvorlegung auf dem letzten
Landtage habe den entgegengesetzten günstigen Erfolg gehabt." Die Denkschrift
sucht aber auch noch durch anderweitige Auslassungen und dem wahren Sach-
verhalt widersprechende Deductionen über das Gesetz ein Licht zu verbreiten,
in welchem dasselbe, wenn auch nicht als eine Perle gesetzgeberischer Thätigkeit,
so doch wenigstens als ein Fortschritt zum Besseren sich ausnehmen soll. Ein
einfacher Blick auf die Entstehung und den Inhalt des Gesetzes genügt, um
den dadurch um dasselbe gelagerten Nebel zu zerstreuen. Die ministerielle
Denkschrift hat bereits in einer mit Sachkenntniß und Wärme geschriebenen
Brochüre über denselben Gegenstand, welche unter dem Titel: „Die Wieder¬
herstellung der Leibeigenschaft in Mecklenburg" (Koburg, bei Streit) ungefähr
-gleichzeitig an die Oeffentlichkeit trat, im Boraus ihre Widerlegung und ihr
Urtheil empfangen. Diese Brochüre verfolgt die Geschichte des Gesetzes von
der ersten Borlage an durch- die Verhandlungen des Landtags hindurch bis zur
Publication, giebt eine vollständige Darstellung seines Inhalts und knüpft daran
eine scharfe, aber gerechte Kritik, welche zugleich den Zusammenhang dieser Er¬
scheinung mit den letzten Zielen der Partei und des Negierungssystems, deren
Product das Gesetz ist, ins Auge saßt. Obgleich dem Berfasser der Brochüre
die ministerielle Denkschrift bei seiner Arbeit noch nicht vorgelegen hat, so bietet
sie doch das vollständige Material, um das Urtheil über den Werth dieses Ver¬
theidigungsversuchs festzustellen.
Zur Charakteristik der Denkschrift wird es ausreichen, wenn wir dieselbe
in den beiden Hauptpunkten, um welche die Vertheidigung sich drehet, einer
näheren Prüfung unterziehen.
In derselben hebt sich zunächst die Behauptung hervor, daß das guts¬
polizeiliche Strafrecht in Fällen von Dienstvergehen bisher ein anerkanntes Recht
gewesen und daß daher in dieser Beziehung durch das Gesetz nichts Neues ein¬
geführt sei. Aber schon die Denkschrift selbst kann nicht ganz mit Schweigen
darüber hinweggehen, daß bei den Gerichten Zweifel über diesen Punkt ent¬
standen seien, und daß diese Zweifel durch das Gesetz zu Gunsten der polizei¬
lichen Strafgewalt haben erledigt werden sollen. Den eigentlichen Sachver¬
halt jedoch erfährt man aus der Denkschrift nicht, sondern dieser ist nur er¬
kennbar, wenn man die Motive zu Rathe zieht, mit welchen die Vorlage des
Gesetzentwurfes erfolgte. Aus den Motiven ersieht man, daß das Ober-Appella¬
tionsgericht sich in entschiedenem Widerspruch mit der Ansicht der Regierung
in dieser Frage befindet, und daß es den Gutsherren in wiederholten Entschei¬
dungen das polizeiliche Strafrecht in Fällen von Dienstvergehen aberkannt und
dasselbe den Gerichten vindicirt hat. Die Motive wissen sich aber mit Leich¬
tigkeit über diese unbequeme Ansicht des höchsten Gerichtes hinwegzusetzen. Sie
bemerken: daß es zweifellos sei, daß die Patrimonialgerichte der Aufforderung
des Gutsherrn zur polizeilichen Bestrafung von Dienstwidrigkeitcn zu ent¬
sprechen hätten und daß die entgegenstehende Ansicht des Ober-Appc lla-
Uvnsgerichts der bisherigen Praxis fremd wäre. Es sei ferner zweifel¬
loses Recht, daß die Gutsherren selbst ihre Gutsleute wegen Dienstwidrigkeitcn,
auch wenn dieselben ihr eigenes Interesse oder das eines Mitglieds ihrer Fa¬
milie betrafen, polizeilich bestrafen dürften. Die entgegengesetzte Inter¬
pretation des Ober-Appcllationögerichts sei völlig unstatthaft,
eben so wie die Annahme desselben unhaltbar sei. daß in Fällen der eigen¬
mächtigen Entweichung aus dem Dienste nur die gerichtliche Bestrafung zu¬
lässig wäre. Im Uebr^gen kämen bei der Uebung der polizeilichen Strafge-
walt noch ganz andere Rücksichten in Betracht als die des Rechts; es handle
sich dabei um die so wichtige Subordination der Gutsleute unter die Guts-»
vbrigtcit. Daher fehle es an einem haltbaren positiven Grunde, den Guts-
herrn von der eigenen Uebung des polizeilichen Strafrechts auszuschließen. Es
würde auch weder im Interesse der Sache, noch in dem der Leute liegen, wenn
alle solche polizeiliche Strafsachen durch das'Patrimonialgericht erledigt werden
mühten, indem die Untersuchung dadurch für beide Theile um so weitläuftiger
und kostspieliger werden, infolge der längeren/Berzögerung sehr an Nach¬
drücklichkeit verlieren und die auf den Gütern so wichtige Autorität deS Guts¬
herrn sehr abschwächen würde. Auch der Engere Ausschuß der Ritter- und
Landschaft hatte in einem diese Angelegenheit betreffenden Bortrage angenom¬
men, daß es sich hierbei um eine neue Gesetzgebung handle. Ein ministerielles
Rescript belehrt ihn dagegen, daß nur eine Deklaration und Feststellung des
bestehenden Rechts zur Entfernung der über den Inhalt desselben aufgekom¬
menen Zweifel und Controversen in Frage stehe, und man erfährt sodann, daß
das Ober-Appellationsgericht es nicht allein ist, dessen „irrige" Auffassung
durch das Gesetz beseitigt werden soll, sondern daß auch noch andere höhere
und niedere Gerichte sich eben dieser declaratvrischen Nachhilfe bedürftig ge¬
zeigt haben. Handelte es sich blos um die irrige Ansicht eines Patrimonial-
genchts, bemerkt das Rescript, so würde dieser Irrthum im Wege landesherr¬
licher Bedeutung seine Erledigung haben finden tonnen. Der Irrthum des
PatrimonialgerichlS finde jedoch seule Stütze in der principiellen Entscheidung
mehrer höherer Gerichte, welche die Gutsherren für nicht berechtigt hielten,
daS gutsherrliche Strafrecht in Fällen, wo ihr eigenes Interesse in Betracht
komme, selbst zu üben. Es handle sich demnach nicht blos um unzutreffende
Rechtsanwendung in vereinzelten Fällen, sondern um irrige Fundamentalprin¬
cipien selbst der höheren Gerichte. Es sei auf diese Weise eine Rechtsunsicher-
heit entstanden, die zu den nachtheiligsten Folgen führen könne. Bei der
Mehrzahl der auf den Gütern vorkommenden Dienstvergehen concurrire mehr
oder weniger das eigene Interesse des Gutsherrn. Würde das Gewicht daher
hierauf gelegt, so würde nicht allein das gutsherrliche polizeiliche Strafrecht
principiell und thatsächlich auf ein geringfügiges Maß beschränkt, sondern auch
dessen Zuständigkeit in jedem einzelnen Falle der zweifelhaften Beurtheilung
unterworfen, ob dabei etwa ein eigenes Interesse des Gutsherrn in Betracht komme.
Was von dem Oder-Appellationsgericht wiederholt für rechtswidrig erklärt
ist, weis nach dem Ausspruch des Ministers selbst von mehrern höheren und
niederen Gerichten in gleicher Weise beurtheilt und daher jedenfalls bestritten
und zweifelhaft war, das ist jetzt im Interesse des Gutsherrn gesetzlich dahin
festgestellt, daß dieser über Dienstvergehen seiner Gutsleute, selbst in Fällen,
wo es sich um sein eigenes Interesse handelt, als Polizeiherr richtet; und die
Denkschrift sagt den auswärtigen Regierungen, daß durch das Gesetz ein bisher
anerkanntes Recht nur eine neue Sanction erhalten habe und daß der alleinige
neue Inhalt dieses Gesetzes in einer Beschränkung jenes Rechtes und der Ein¬
führung eines umfassenden Schutzes gegen dessen Mißbrauch bestehe.
Wenn das dem Gutsherrn zugestandene polizeirichterlichc Amt über die
Dienstwidrigkeiten seiner Gutsleute schon an sich aller Vertheidigungsvcrsuche
spotten würde, selbst wenn die Regierung ihre Behauptung, daß es aner¬
kannten und zweifellosen Rechtes wäre, zu beweisen vermöchte, so erscheint die
ganze Institution noch monströser, wenn man die Strafen in Betracht zieht, zu
deren Verhängung das Gesetz den Gutsherrn ermächtigt.
Der §. 2 des Gesetzes bestimmt hierüber:
„Die Ortsobrigkeit ist nicht befugt, wegen der bezeichneten Dienstvergehen
auf eine höhere Strafe als eine Geldstrafe von fünf Thalern, oder eine Gefäng¬
nißstrafe von einer Woche — sieben Tagen — oder, soweit nach den Verord¬
nungen vom 29. Jan. 1852 und vom 27. Jan. 18S3 körperliche Züchtigung
statthaft ist, fünfundzwanzig Streiche, in Gemäßheit der Bestimmungen des
§. 3 der Verordnung vom 4. Jan. 1839, polizeilich zu erkennen."
Es ist wohl schon auffallend genug, wenn einem Manne ohne alle juri¬
stische Bildung und richterliche Befähigung das Recht eingeräumt wird.-seinen
Dienern und Arbeitern wegen irgend einer Sache, die er mit dem Namen
eines Dienstvergehens glaubt bezeichnen zu können, Geld- und Gefängnißstrafen
aufzuerlegen, und wenn dies selbst in solchen Fällen, wo sein eigenes Interesse
in Frage steht, zur Anwendung kommen soll. Es wird daran auch durch den
Umstand nichts geändert, auf welchen die Denkschrift ein ganz ungeziemendes
Gewicht legt, daß der Gutsherr für die von ihm selbst geführten Untersuchun¬
gen und gefällten Straferkenntnisse Sporteln nicht wahrnehmen darf. Denn
die Geldstrafe fließt in die eigene Tasche des Gutsherrn, welcher sie verhängt,
und auch ohne Sporteln bereichert er sich daher, wenn er das ihm zugestan¬
dene Strafrecht zur Verhängung von Geldstrafen benutzt, die er überdies als
Arbeitgeber leicht eintreiben kann, da er sie nur vom Arbeitslohn zurückzube¬
halten braucht. Aber dies alles verschwindet gegen die grauenvolle Thatsache,
daß das Gesetz ihm auch den Stock in die Hand drückt und daß er an seinen
Dienern und Arbeitern, an seinen Knechten und Mägden, an seinen verhei¬
rateten Tagelöhnern und deren Frauen und Kindern die begangene Dienst-
Widrigkeit mit gesetzlichen Hieben, bis zur Zahl fünfundzwanzig, heim¬
suchen darf.
Die Denkschrift sucht dieser Bestimmung dadurch einen mildern Charakter
abzugewinnen, daß sie dem beschränkenden Satz in dem oben mitgetheilten K. 2
des Gesetzes: „soweit nach den Verordnungen vom 29, Jan, 18S2 und vom
27. Jan. 1853 körperliche Züchtigung statthaft ist," eine Deutung giebt, welche
der Wortlaut und der Zusammenhang nicht zuläßt. Sie sagt: „Die Straf¬
maße, auf welche das polizeiliche Strafrecht der Gutsobrigkeiten beschränkt
ist. sind , . . Geldstrafe bis zu fünf Thalern, Gefängniß bis zu einer Woche,
körperliche Züchtigung bis zu 25 Streichen, soweit nach den Verordnungen
vom 29. Jan. 1852 und vom 27. Jan. 1853 körperliche Züchtigung statthaft
ist." Nach diesen Verordnungen ist die körperliche Züchtigung jedoch nur noch
in wenigen Fällen als Strafmittel zulässig, und zu diesen wenigen Fällen ge¬
hören die Dienstvergehen der Gutsleute als solche nicht. Wegen dieser Ver¬
gehen als solcher findet daher die körperliche Züchtigung auch nach dem §. 2
der Verordnung vom 2. April d. I. nicht statt. Dieselbe kann bei ihnen nur
durch andere ohnehin gesetzlich dazu geeignete Nebenumstände, z. B. mit Un¬
fug und öffentlichem Aergerniß verbundene Trunkenheit, veranlaßt werden,
und nur wegen dieser Nebenumstände, nicht wegen der Dienstvergehen als sol¬
cher, hat die Verordnung auch der körperlichen Züchtigung gedacht. Die Ver¬
ordnung hat daher auch wegen der körperlichen Züchtigung nichts Neues verordnet
und dieselbe überhaupt gar nicht wegen der eigentlichen Dienstvergehen, sondern
nur wegen der im Dienste begangenen, sonst nach der Persönlichkeit und den
Umständen des Falles zur polizeilichen Züchtigung geeigneten Vergehen gestattet."
Wäre diese Deutung auch richtig, so bliebe an der Bestimmung noch immer
nicht viel Gutes übrig. Es ist schon schlimm genug, daß in Mecklenburg über¬
haupt die Strafe der körperlichen Züchtigung noch zur Anwendung kommt;
noch weit schlimmer aber ist es, wenn der Gutsherr mit dem Recht ausge¬
stattet wird, Stockstreiche zu decretiren, möge es für Dienstvergehen oder für
in Dienste begangene sonstige Vergehen sein. In der Praxis verliert ohnehin
dieser Unterschied seine Bedeutung: für den nicht juristisch gebildeten und
häusig überhaupt nicht gebildeten mecklenburgischen Gutsbesitzer ist er zu fein
und dieser wird stets die Fälle in einander mischen. Außerdem würde durch
die Bestimmung, selbst wenn die aufgestellte Deutung die richtige wäre, doch
jedenfalls etwas Neues gesetzlich eingeführt sein. Denn wenn nach Ansicht
d s Ober-Appellationsgerichts und anderer höherer und niederer Gerichte dem
Gutsherrn überhaupt die persönliche Ausübung einer polizeirichterlichen Gewalt
bei Dienstvergehen nicht zusteht, so wird ihm durch die Verleihung der Befug-
niß, „Ncbenumstcinde" mit Stvckstreichen zu bestrafen, sicherlich ein ganz neues
Recht verliehen.
Die Auslegung der ministeriellen Denkschrift, nach welcher die im Gesetz
vorgesehene Strafe der körperlichen Züchtigung sich nicht auf „eigentliche"
Dienstvergehen, sondern auf anderweitige im Dienste begangene Vergeben be¬
ziehen soll, ist aber auch vollkommen unbegründet. Die officiösen Artikel des
..Norddeutschen Correspondenten" selbst gehen von der entgegengesetzten Auf¬
fassung aus, indem sie die Strafe der körperlichen Züchtigung, ebenso wie die
damit in Parallele gestellten Strafen, in Uebereinstimmung mit dem Comitc-
bericht des Landtags, auf Dienstvergehen beziehen; sie suchen die Sacke auf an-
derm Wege zu mildern, indem sie die körperliche Züchtigung als eine nur
eventuelle, erst nach fruchtloser Anwendung der sonstigen Strafmittel zur An¬
wendung kommende Strafe darstellen, welches letztere freilich ebenfalls in dem
Gesetze keine» Grund bat. sondern willkürlich in dasselbe hineingetragen wird.
Um die Unrichtigkeit der ministeriellen Auslegung zu erkennen, genügt es, sich
den Wortlaut des Gesetzes zu vergegenwärtigen. „Die Ortsobrigkcit ist nicht
befugt, wegen der bezeichneten Dienstvergehen auf eine höhere Strafe
als eine Geldstrafe von fünf Thalern, oder eine Gefängnißstrafe von einer
Woche, oder .... fünfundzwanzig Streiche .... polizeilich zu erkennen."
Nur dadurch, das, die Denkschrift bei ihrer Reproduktion des Satzes die ent¬
scheidenden Worte „wegen der bezeichneten Dienstvergehen", sowie das „oder"
ausläßt, kann sie sich überhaupt erst die Möglichkeit für ihre Deutung bahnen.
Der wahre Sinn der beschränkenden Bestimmung ergiebt sich leicht aus
einem näheren Eingehen in den Inhalt der beiden Verordnungen, welche die
Befugnis; der körperlichen Züchtigung, die der §. 2 den Gutsherrn ermächtigt
als Strafe von Dienstvergehen zu erkennen, limitiren sollen.
Nachdem auf Antrag der Kammer der Abgeordneten die Strafe der kör¬
perlichen Züchtigung durch ein specielles Gesetz vom 11. Jan. 1849 ganz allge¬
mein aufgehoben war, erklärte auf dem Landtage von 1851 das Ministerium,
welches im Jahre 1850 die Aufgabe erwählt hatte, die feudale Landesver¬
fassung wiederherzustellen, daß ein „Bedürfniß" vorliege, auch die körperliche
Züchtigung theilweise wieder ins Leben zu rufen. Mit Zustimmung der wie¬
derhergestellten Ritter- und Landschaft erschien am 29. Jan. 1852 eine Verord¬
nung, welche jene Strafe für folgende Fälle wieder einführte: 1) zur Aufrecht-
Haltung der Disciplin in Gefängnissen u. s. w.. 2) zur Ahndung von Lügen
und Winkelzügen in gerichtlichen und polizeilichen Untersuchungen, unter ge¬
wissen näher angegebenen Voraussetzungen, 3) zur Bestrafung des gewerb-
mäßigen Bettelns. der mit Unfug oder öffentlichem Aergernisse verbundenen
Trunkenheit, der Böllern und Liederlichkeit, der Unzucht und unzüchtiger Hand¬
lungen, der Beleidigung der Obrigkeit und ihrer Diener, sowie der thätlichen
Widersetzlichkeit gegen dieselben, des Diebstahls, der Forstfrevel, des Betrugs
und der Fälschung. Für die Anwendung und Vollstreckung der Strafe wurden
gewisse einschränkende Bestimmungen beigefügt: dieselbe darf nur nach sorg¬
fältiger Erwägung ihrer Zweckmäßigkeit in dem einzelnen Falle, unter Berück¬
sichtigung des Alters, der körperlichen Beschaffenheit, der äußeren Verhältnisse
und der sonstigen Persönlichkeit des Schuldigen erkannt und sie darf nicht voll¬
streckt werden, wenn sie mit Gefahr für die Gesundheit des zu Bestrafenden
verbunden sein könnte; sie ist auch nicht öffentlich, serner nichl auf den ent¬
blößten Körper oder auf das bloße Hemd zu vollziehen. Die dazu benutzten
„Röhrchen" dürfen nicht über IV4 Elle lang und nicht stärker als ^/^ Zoll im
Durchmesser sein. Das hier angegebene Maß der „Röhrchen" ward, da es
nach Ansicht der Minister nicht in allen Fällen dem beabsichtigten Zwecke ge-
nügte, durch die Verordnung vom 27, Jan, 1853 auf IV2 Elle Länge und
V2 Zoll Durchmesser erhöht.
Diese näheren Begrenzungen hat die Verordnung vom 2. April im Auge,
wenn sie unter den Strafen wegen Dienstvergehen die körperliche Züchtigung
mit dem beschränkenden Satze: „soweit dieselbe nach den Verordnungen vom
29. Jan. 1852 und 27. Jan. 1853 statthaft ist" aufführt. Danach darf also
der Gutsherr z. B. nicht einen Kranken prügeln lassen, zur Vollstreckung nicht
„Röhrchen" anwenden, die zwei Ellen lang sind oder einen Zoll im Durch¬
messer halten u. s. w. Auf diese Bestimmungen bezieht sich der beschränkende
Satz, und die ministerielle Denkschrift befindet sich im augenfälligen Irrthum,
wenn sie behauptet, daß es nicht die Absicht des Gesetzes sei, die körperliche
Züchtigung auf Dienstvergehen in Anwendung zu bringen, und daß durch jenen
Satz dieselbe auf die „wenigen" Fälle habe beschränkt bleiben sollen, in welchen
sie schon ohnehin als Strafmittel gesetzlich zulässig war. Auf jene „wenigen"
Fälle, deren Register wir oben mitgetheilt haben!
In einer anderen Beziehung freilich kommen diese „wenigen" Fälle hier
noch sehr stark in Betracht. Wenn der Gutsherr Dienstvergehen selbst polizei¬
lich untersuchen und bestrafen darf, so erhält er damit auch nach der Verord'
mung vom 29. Jan. 1852 das Recht, die Strafe der körperlichen Züchtigung
während der Untersuchung und im Gefängniß zu verhängen. Er kann, wenn
er bei dem von ihm angestellten polizeilichen Verhör den Inculpaten wieder¬
holt auf Lüge» ertappt zu haben glaubt, auf 15 Hiebe, und wenn er einen
Angeschuldigten in Untersuchungshaft hält oder ihn zur Strafhaft gebracht hat.
„zur Aufrechthaltung der Disciplin im Gefängnisse" sogar auf 50 Hiebe gegen
ihn erkennen, und diese Executionen auch wiederholen, so lange die Unter¬
suchung oder die Haft dauert. Ein snspensives Rechtsmittel gegen die aus
diesen Gründen decretirten Hiebe giebt es nicht.
Diese ungezählten Streiche, welche für den Inculpaten bei dem Polizei-
richterlichen Verfahren des Gutsherrn gegen ihn noch nebenher gesetzlich ab¬
falle» können, hat die ministerielle Denkschrift keiner Erwähnung gewürdigt,
so wie sie auch die Thatsache, daß die bereits gesetzlich vollständig abgeschaffte
Prügelstrafe überhaupt erst durch den Feudalismus wiederhergestellt worden ist,
mit vornehmem Schweigen übergeht, ja geflissentlich unterdrückt, wenn sie be¬
merkt, daß die körperliche Züchtigung in Mecklenburg zu der strafrechtlichen
Competenz des Gutsherrn gehört habe, „bis die Statthaftigt'eit dieses Stiaf-
mittels in der neuern Zeit wesentlich beschränkt wurde."
Trotz der von der mecklenburg-schwerinschen Regierung aufgewandten Be¬
mühungen wird man hiernach in Deutschland über den wahren Inhalt des
Gesetzes und die wirkliche Gestalt unserer Zustände nicht im Zweifel sein, und
die Entschließung des großherzoglichen Ministers der auswärtigen Angelegen¬
heiten, das von ihm als Minister des Innern veranlaßte Prügelgesetz zum
Gegenstand einer diplomatischen Activ» zu machen, wird nur dazu beitragen,
den Jammer, welchen das feudale Regierungssystem über Mecklenburg ver¬
breitet hat. in ein noch helleres Licht zu setzen.
Die mecklenburgische Regierung hat alles gethan, um die freie Meinungs¬
äußerung im eigenen Lande zu unterdrücken und ihr den Zutritt von außen
abzuschneiden. Sie hat die Vereine und Versammlungen zu politischen Zwecken
verboten und der einheimischen Presse durch Strafgesetze und durch das Institut
der Verwarnungen und Cvncessivnsentziehungen im administrativen Wege die
Kritik ihrer Handlungen unmöglich gemacht; sie hat gegen die gelesensten aus¬
wärtigen Zeitungen, darunter die „Nationalzeitung" und die „Volkszeitung",
auch drei Hamburger Zeitschriften, das Land abgesperrt, über eine Menge von
Druckschriften ein Verbot verhängt, einer Anzahl von Blättern den Pvjldebit
entzogen und auf ganze Buchhandlungen mit Ihrem gesammten gegenwärtigen
und künftigen Verlag das Interdict gelegt. Nach allen diesen Kraftanstengungen
sieht sie sich jetzt zu dem Geständniß genöthigt, daß dieselben den gewünschten
Erfolg noch immer vermissen lassen, und daß Mecklenburg, wenn es den An¬
griffen der auswärtigen Presse noch länger Widerstand leisten soll, dazu der
Unterstützung der deutschen Großmächte bedarf. Sie findet kein Bedenken, die
Hilfe derselben und anderer deutscher Regierungen für die Aufrechrhallung ihrer
Autorität und der unter dieser Autorität stehenden einheimischen Prügelwirth¬
schaft zu einer Zeit in Anspruch zu nehmen, wo die Lösung einer der größten
nationalen Aufgaben alle Kräfte der Regierungen und des ganzen deutschen
Volkes in höchster Spannung erhält, einer Aufgabe, an welcher freilich die
mecklenburgische Bevölkerung von ihrer Regierung verhindert wurde sich in
anderer Weise zu betheiligen als durch mildthätige Spenden an d>e im Dienst
des Vaterlandes verwundeten und erkrankten Krieger.
Daß die diplomatische Action, zu welcher Herr v. Oertzen in sich den Muth
gefunden hat, von irgendeinem seiner Sache günstigen Erfolg gekrönt werden könnte,
das zu befürchten sind wir weit entfernt. Gewiß urtheilen wir über die Herren
v. Bismarck und v. Rechberg richtiger als der mecklenburgische Minister, wenn
wir sie nicht für fähig halten, mit dieser Sache irgendeine Solidarität ein¬
zugehen. Wir gehen aber noch weiter und glauben kaum, daß sie dem Schritte
der mecklenburgischen Regierung gegenüber sich an einem schweigenden und
unthätigen Verhalten genügen lassen werden. Sie werden dem Vorwurf
keinen Raum geben wollen, daß sie das neue mecklenburgische Strafgesetz billigen,
sie werden nicht durch neutrales Schweigen die mecklenöurgische Negierung zum
Beharren auf der von ihr betretenen unglücklichen Bahn ermuthigen wollen.
Ihnen wird es vielmehr geboten erscheinen, sich ausdrücklich von jeder Gemein¬
schaft mit den Tendenzen loszusagen, zu deren Sicherstellung ihre Hilfe an¬
gerufen wird, und ihren Schutz nicht der Regierung «»gedeihen zu lassen, die
ohne ihn in äußerster Gefahr zu sein erklärt, sondern der Bevölkerung, die
solchen Schutzes bedarf. Ist die Regierung in Gefahr mit ihrem System Schiff-
bruch zu erleiden, erklärt sie sich selbst für schutzlos und schutzbedürftig, so giebt
sie damit zugleich den übrigen deutschen Regierungen ein volles Recht in die
Hand, die innern Zustände Mecklenburgs zu prüfen und über das richtige Heil¬
mittel Entscheidung zu treffen. Die angerufenen deutschen Regierungen werden
die ihnen damit angewiesene günstige Position gewiß zu würdigen und zum
Heile des mecklenburgischen Landes und Volkes zu benutzen wissen.
Im vorigen Abschnitt zeigten wir, daß die weit überwiegende Masse der
Nordschleswiger, d. h. der Bewohner Schleswigs nördlich von einer Linie, die
auf dem Festland etwa der tondcrn-flensburger Chaussee folgt und die friesi¬
schen Inseln dem Süden des Herzogthums zutheilt, gegenwärtig nach Sprache,
Sitte und Bildung als ein Seitenzweig der dänischen Nation anzusehen ist.
Eine andere Frage ist, ob die Nordschleswiger Dänen sein wollen, und dies
sührt uns auf das politische Deuten und Verhalten derselben.
Das Volk von Südcarolina spricht englisch wie das von Massachusetts
und hat ähnliche Sitten wie dieses, will aber staatlich nicht mehr Eins mit
demselben sein. Die Provencalen und die Bretagner reden nicht französisch,
sind aber politisch ebenso gute Franzosen wie die Pariser. „Jag er tydsk," be¬
hauptete bei der großen Schleswiger-Deputation in Kiel ein Bäuerlein aus
dem Sundewitt. obwohl es des Deutschen so wenig mächtig war wie mancher
gut preußisch Gesinnte des Berlinerischen, welches nachgerade zur Sprache aller
gebildeten Preußen werden zu wollen scheint.
Sprache und Sitte thun'ö also nicht allein; auch der Wille verlangt eine
gewisse Berücksichtigung. Wenn solche Rücksichtnahme früher nicht geboten war
und zwar deshalb nichl, weil in diesen urparadiesischcn Zeiten eben noch kein
Wille vorhanden war und die Völker sich in der Regel als bloßes Zubehör
zu den großen Rittergütern, als welche man zu Anfang des achtzehnten Jahr¬
hunderts die Staaten zu betrachten gelernt hatte, und deshalb als ohne Em-
spruchsrecht auf den Congressen der Besitzer dieser Güter theilbar, abtretbar
und verkäuflich anzusehen gewohnt waren, so ist dies heutzutage anders, wenig¬
stens im Begriff, anders zu werden.
In jener guten alten naiven Zeit nun wußte man weder in Dänemark
von einem Gegensatz gegen die Herzogthümer, noch in den letzteren von einem
solchen gegen ersteres. Gelegentlich tauchte wohl einmal etwas der Art auf,
aber nur, um bald wieder zu verschwinden. Beide Herzogthümer hießen im
Volksmunde des Königreichs „Holsteen", ihre Bewohner, auch die plattdänisch
redenden, „Holsteener". Wie die meisten Holsteiner nichts dawider hatten, wenn
sie im Auslande für Dänen, ihre Schiffe für „Danske Eiendom" gälte», so
ließen sich die nordschleswigschen Südjüten von den Kopcnhagnern ohne
Widerspruch „Tydster" nennen. Es waren Zustände wie etwa in Deutsch-
Oestreich , bevor das Czechcnthum vom Baum der Erkenntniß gegessen hatte.
Die Verdeutschung des mittlern Stücks von Schleswig ging ruhig ihren Gang.
Das niedere Volk sah sie gleichgiltig wie ein Naturereignis;, wie Svmmerwer-
dcn an. Der bessern Classe dagegen erschien die Sprache des Südens als vornehm
und zugleich als nützlich, und wie selbst auf den dänischen Inseln bemühte sich
auch hier alles, was auf Bildung Anspruch erhob, desgleichen alles, was etwas
vom Süden zu kaufen, etwas dahin zu verkaufen hatte, deutsch zu lernen. Am
6. Mai 1836 beantragte in der schleswigschen Ständeversammlung ein bäuer¬
licher Abgeordneter aus Nordschleswig. Petersen von Dalby (nahe bei Kolding),
jeder Schullehrer, der dort Anstellung wünsche, müsse auch in der deutschen
Sprache eine Prüfung bestehen, in jeder Schule müsse auch deutscher Unter¬
richt ertheilt werden.
Es ist wahr, die deutsche Gerichtssprache mochte manchem kleinen Mann
nicht bequem vorkommen, die deutsche Kirchensprache nicht überall die Erbauung
befördern, und es begab sich ein-, oder zweimal, daß die Empfindung davon
laut wurde. Eine nationale Verschiedenheit aber fühlte man darum nicht, die
',taufte Holsteenere" waren eben auch Holsteiner.
Da warfen die dreißiger Jahre Unfrieden in diese Idylle. .In derselben Session
der schleswigschen Stände, in welcher Petersens Antrag eingebracht worden, stellte
ein anderer nordschleswigscher Bauer, Riß Lorenzen von Lilholt (zwischen Haders-
leben und Nipen), von dem dänische» Professor Paulsen in Kiel dazu angeregt, das
Verlangen nach Einführung der dänischen Gerichtssprache. Diese Propvfition
wurde durch einige ebenfalls von dänischer Seite veranlaßte Petitionen unter¬
stützt, blieb aber, ebenso wie die von Petersen, in dieser Sitzungsperiode un¬
erledigt. Und jetzt regten sich die Dänen stärker. In Kopenhagen hatte sich
eine Gesellschaft „zum rechten Gebrauch der Preßfreiheit" gebildet, welche außer
den Professoren Oersted, David, Clausen, Schouw und andern Leuten von Na¬
men auch eine Anzahl strebsamer jüngerer Männer umfaßte, und in dieser
wurde von einem der letzteren, Orla Lehmann, am 4. November 1836 der
Antrag gestellt, in Erwägung zu ziehen, durch welche Mittel die Gesellschaft
ihre Wirksamkeit auf die dänisch redenden Theile der Bevölkerung von Schleswig
ausdehnen könne. Dieser Antrag wurde mit Jubel aufgenommen, und der
daraus hervorgehende Beschluß machte die Gesellschaft in Kurzem so populär,
daß dieselbe, die bis dahin nur aus circa zweihundert Mitgliedern bestanden,
im folgenden Jahre deren schon über viertausend zählte. Darunter befanden
sich freilich nur etwa sechzig Schleswiger, und während die Gesellschaft im
Königreich Massen ihrer Flugschriften absetzte, ging damals fast nicht eine ein-
^ zige davon nach Schleswig, ja das Herzogthum hatte nicht einmal eine dänische
Zeitung. Aber das „junge Dänemark", welches sich in der Preßfreiheits-
gesellschaft herausgebildet, wußte dem abzuhelfen. Man schickte dänische Bücher
in Menge an die schleswigschen Genossen zur Vertheilung. Man organisirte
Missionsreisen nach Nordschleswig, die namentlich der dänische Lector Flor in
Kiel mit Geschick und Eiser betrieb. Man redete den Leuten dort von deut¬
schem Beamtendruck vor, man brachte die Sprache mit liberalen Ideen in
Verbindung, und es ist begreiflich, wenn sich der „kleine Mann" gern in
Opposition mit dem Gerichlshaltcr. dem Polizcimeister, dem Gutsherrn fühlte,
ebenfalls begreiflich, daß mancher Schulmeister und Dorfpastor die Langeweile
des Landlebens bereitwillig mit einer Thätigkeit vertauschte, die ihn in Reihe
und Glied mit vornehmen Herrschaften in Kopenhagen stellte.
Die mäßigen Erfolge, die man mit den obigen Ausklärungsversuchen er¬
zielte, wuchsen, nachdem Anfang 1838 in Hadersleben unter Mitwirkung von
Flor und Paulsen ein Wochenblatt in dänischer Sprache, die „Danevirke"
gegründet worden. Doch war die Weckung eines dänischen Bewußtseins, die
Einflößung von Sympathien, mit dem Bestreben der t'opcnhagner Herren, als
im Mai des letztgedachten Jahres die fchleswigfche Ständeversammlung wieder
eröffnet wurde, noch keineswegs auffällig fortgeschritten. Die ungeheure Mehr¬
zahl des Landvolks blieb gleichgiltig. Andere verdroß dieses Treiben schon
als Neuerung, sie waren konservativ aus Phlegma. Noch andere waren An¬
hänger der deutschen Partei aus Nützlichkeitsgründcn. In ziemlicher Anzahl
kamen Petitionen um Vereinigung der schleswigschen und holsteinischen Stände
auch aus dem Norden, namentlich aus dem Sundewitt und selbst aus Alsen
bei derselben ein, und in Flensburg wurde eine derartige Petition in einer
Bürgerversammlung fast einstimmig beschlossen und später von mehr als acht¬
hundert Bürgern unterschrieben. Indeß, die dänische Propaganda war gut
organistrt, unermüdlich und rücksichtslos, die deutsche Gegenbewegung ohne
rechten Zusammenhang, wenig geschickt, vom holsteinischen Phlegma gehemmt
und ziemlich gutmüthig. Auch schadete ihr, daß der Herzog von Augustenburg,
damals wohl der unpopulärste Gutsherr in Nordschleswig, als ihre Seele er¬
schien. Die Stände nahmen den von Neuem eingebrachten Antrag Lorcnzens
von Lilholt aus Billigkeitsrücksichten und weil sie das letzte Ziel desselben nicht
durchschauten, an, wenn auch mit geringer Majorität, und die dänische Pro¬
paganda feierte ihren ersten Triumph. Ermuntert dadurch schritt sie, während
die deutsche Agitation bei ihrem bisherigen langsamen Ganze blieb und in
wenig sachgemäßem Tone, vor allem aber meist in deutsch, statt in dänisch ge¬
schriebenen Zeitungen und Flugblättern ihre Sache verfocht, rüstig und con-
sequent auf dem betretenen Wege weiter. Doch waren ihre Erfolge auch jetzt
auf dem Platten Lande noch nicht sehr sichtbar, ja es konnte noch vorkommen,
daß die Bauernschaften von zwölf nordschleswigschen Kirchspielen (bei Apenrade
und Lygumklvstcr) sich mit der Bitte an ihren Propst wandten. Sorge zu
tragen, daß ihren Schulen der deutsche Unterricht nicht verloren gehe. Dagegen
brachten die folgenden Jahre hier schon bessere Früchte.
Im Mai 1839 wurde in Kopenhagen eine „Schlcswigsche Gesellschaft" ge¬
gründet, welche die Danisirung Nordschleswigs ernstlicher als die Preßfreiheiis-
gesellschaft in Angriff nahm, obwohl nach ihren Statuten politische Tendenzen
eigentlich ausgeschlossen sein sollten. Unter den Mitgliedern derselben waren
selbstverständlich Paulsen und Flor. Zweck sollte sein, für Schleswig circulirende
Leihbibliotheken einzurichten, gute Bücher gratis zu vertheilen, den Schles¬
wigern den nächsten Weg zu eröffnen zur Beschaffung dänischer Lectüre. Dieses
Institut, für welches in Nordschleswig mehre Landpfarrer und Dorfschullehrer
und der Student Riß Hansen besonders eifrig wirkten, brach den Plänen der
kopenhagner Patrioten breitere Bahn. Bald erhielt mein Berichte, welche mel¬
deten, wie die Liebe zur dänischen Sprache in Schleswig immer mehr zunehme,
und zu Ende des Jahres hatte man einen dänischen Lesesaal in Sonderburg
und dreißig Volksbibliotheken, in denen natürlich Zeitungen wie Fädrelandet-,
Folkebladet. Flyvendc Blade u. d. nicht fehlten, gegründet und an diese über
Zweitausend Bände dänischer Schriften übersandt; auch rühmten die Agenten,
daß Nordschleswig bereits in zwei „Provinzen" eingetheilt sei, deren eine unter
dem Oberkriegscommissär Riegels, die andere unter dem Artillerielieutncmt
Owesen stehe.
So or>r es dahin gekommen, daß Orla Lehmann auf dem Maifeste 1842
in Bezug auf die Verbindung der beiden Herzogthümer, die jetzt von der deut¬
schen Partei lebhaft betrieben wurde, nicht ohne starke Uebertreibung, aber auch
nicht ohne allen Grund sagen konnte: „Wider sie spricht der demokratische Geist
Schleswigs und seine materiellen Interessen, welche es nach Dänemark und
seinen Kolonien ziehen. Aber worauf ich am meisten baue, ist, daß sick in
Schleswig unter der Aegide des erwachten Volksbewußtseins die skandinavische
Nationalität und die dänische Zunge von langer Erniedrigung erhoben hat und
kräftig ihr heiliges Recht fordert." Und sehr charakteristisch ist, daß Baseler im
November dieses Jahres in der schleswigschen Ständeversammlung den Antrag
zu stellen vermochte, das Amt Hadersleben von Schleswig abzusondern und in
Jütland zu incorporiren.
Und immer kräftiger arbeiteten die Emissäre der Propaganda. Neue Bücher¬
sendungen kamen an, neue Mittel der Täuschung über die Zwecke der Gegner
wurden in Anwendung gebracht. Man stellte den Bauern die deutsche oder
Schleswig-holsteinische Partei als eine solche dar, deren Ziele ihre Abgabenlast
erschweren würden. Man belehrte sie, daß es auf den Eintritt Schleswigs in
den deutschen Bund abgesehen sei, und daß dieses sie unfehlbar nöthigen werde,
ihre Söhne zu fernen Kriegen, z. B. mit den Türken, herzugeben. Man bildete
ihnen ein, daß man ihnen ihre Sprache nehmen wolle. Und die guten Einfältigen
glaubten dergleichen Vorspiegelungen vielfach. Sie glaubten um so mehr wenig¬
stens das Letztere, als ein Vorfall in der schleswigschen Ständeversammlung,
der von den kopenhagner Patrioten veranlaßt worden, sich dahin interprctirenIeß.
Es war gelungen, den frühern Abgeordneten für Hadersleben Peter Hjort
Lorenze», der in den beiden ersten Sessionen der Ständeversammlung ebenso
energisch für die Freiheit wie für die Rechte Schleswig-Holsteins gesprochen,
der namentlich 1838 auf Trennung des Finanzwesens der Herzogtümer von
dem des Königreichs angetragen hatte, eines Bessern zu überzeugen — ein Ge¬
winn, der sich zum Theil daraus erklärte, daß dieser liberale Abgeordnete den
Herzog von Augustenburg, den als verkörpertes Junkerthum allgemein Geha߬
ten, bei der Schleswig-holsteinischen Partei die Rolle des Führers spielen sah.
Vollständig für die Bestrebungen des dänischen Liberalismus gewonnen, was
wir ihm nicht verdenken, leider aber auch für die mit demselben verbundenen
Tendenzen in nationaler Hinsicht eingenommen, was wir ihm sehr verdenken,
'begann der begabte und in Nordschleswig außerordentlich beliebte Mann, nach¬
dem er in Sonderburg zum Abgeordneten gewählt worden, eines schönen Mor¬
gens, am 11. November 1842. plötzlich und zu Aller Ueberraschung der Stände¬
versammlung einen Vortrag in dänischer Sprache zu halten. Verwundert hörte
man zu; denn Peter Hjort Lorenzen sprach ein nur mittelmäßiges Dänisch, da¬
gegen sehr gut deutsch, und er hatte sich bisher ohne Ausnahme im Stände¬
saale des letzteren bedient.
Vergebens machte der Präsident geltend, das, die Versammlung Abgeord¬
neten, die des Deutschen nicht mcicbtig. gern gestatten werde, sich ihrer Mutter¬
sprache zu bedienen, daß dieser Fall aber hier nicbt vorhanden. Er blieb bei
seinem Dänisch, und darauf wurde ihm zwar nicht das Wort entzogen, aber
die Protot'vllirung dessen, was er gesagt, unterblieb. Als indeß Lorenzen in
der yäcbsten Sitzung sein Manöver, zu dem ihn beiläufig jener Lector Flor
beredet hatte, zu wiederholen begann, trotz der Vorstellungen des Präsidenten
damit fortfuhr und ausdrücklich erklärte, sich nickt fügen zu. wollen, glaubte jener
sich genötigt, ihn von der Sitzung auszuschließen.
In Dänemark erblickte man hierin eine Nationalbeleidigung, auch unter
den plattdänisch redenden Nvrdschleswigern grollten Viele darüber. In Kopen¬
hagen wurde der ..unerscbrvckne Vorkämpfer für dänische Sprache" mit Festessen
gefeiert, in Schleswig überreichte man ihm im Mai 1843 bei dem Fest auf
der Stamlingsbank, wo unter Andern der Bauer Laurids Skau die erste jener
vielen „wackern" Reden hielt, mit denen er die Danisiiung Schleswigs zu för¬
dern besticht war, ein prächtiges silbernes Trinkhorn. Bei dieser Demonstra¬
tion hatten sich ziemlich viele Nordschleswiger betheiligt, aber noch immer blieb
die große Mehrzahl zu bekehren, und als nach Stiftung der „Skandinavischen
Gesellschaft" die Rührigkeit der Agitatoren noch größer wurde, überall Peti¬
tionen im dänischen Sinne, z. B. für Verlegung der Ständeversammlung nach
Flensburg, angeregt wurden, als man auf Errichtung neuer Danisirungs-
anstalten, z. B. einer dänischen Gelehrtenschule, eines dänischen Seminars, hin¬
arbeitete, als überall aus der angeblichen Fürsorge für die Volksbildung, aus
den Hurrahs. den Ständchen, den Festmahlen der eigentliche Zweck hervorsah,
kam es zum Bruch ,in schleswigschen Verein selbst. Mehre Mitglieder desselben
traten im December 1843 aus, weil sie die politischen Hintergedanken der Lei¬
ter erkannt hatten und davon nichts wissen wollten. Im nächsten Frühjahr
"klärten 35 Grundbesitzer in Hoptrup: „Der nordschlcswigsche Verein hat sei¬
nen Ursprung jenseits der Königsau und der Velde und geht leider darauf aus,
Schleswigs Verbindung mit Holstein zu lösen und es darauf in Dänemark zu
incorporiren. Daß unsre Muttersprache von unsern Beamten unterdrückt und
verhöhnt werde, ist eine zu verachtende Unwahrheit." Und noch kräftiger pro-
testirten 126 Bauern aus dem Kirchspiel Loid bei Apcnrade um dieselbe Zeit
gegen die Propaganda, wenn sie sagten: „Die lästernde Beschuldigung, als
Werde unsre Muttersprache unterdrückt, rührt von einer demagogisch-ultradäni¬
schen Clique her; wir erklären dies, damit der Landesvater nicht durch ein¬
seitige lügenhafte Insinuationen getäuscht werde".
Indeß blieben in dem Verein, dessen Führer damals der Pastor Hertel-
war, immer noch ziemlich viele zurück und andere füllten die Lücken aus, und
wenn die nvrdsckleswigschen Mitglieder der Gesellschaft zur größern Hälfte aus
Tagelöhnern, kleinen Handwerken, und andern Besitzlosen bestanden (1846 be¬
saßen dieselben nach Stans Angabe 27,000 Tonnen Land, während das ein¬
zige Amt Hadersleben 227,000 Tonnen Ackerland hat), so glich sich dieser Man¬
gel durch ihren Eifer, durch die Intelligenz, die ihnen von Kopenhagen her
zu Hilfe kam, und durch den Umstand aus, daß der König der Sache nicht ab¬
geneigt und daß der Kronprinz der stille Gesellschafter und Protector der eidcr-
dänischen Partei war/
Wir können die. Arbeit der Agitatoren in der bisherigen Ausführlichkeit
nickt weiter verfolgen. Genug, daß sie einen neuen dänisch-schleswigschen
„H lfsverein" gründeten, daß Skau, Flor und Peter Hjort Lorenzen bei jeder
Gelegenheit von der Unterdrückung der dänischen Sprache in Schleswig per-
orirtcn. daß die Verbrüderungsfeste auf der Skamlingsbank sick wiederholten,
und daß man fleißig bei dem König petitionirte. der sich als Gesammtstaats-
mann nicht recht entschließen konnte, dem -Geschrei nach Schutz der dänischen
Nationalität in Schleswig in dem Maß., welches die Patrioten wünschten, Folge
zu geben. Dabei setzte der nordschleswigsche Verein seine Werbungen unter
der intelligenteren Classe eifrig fort und nicht ohne Erfolg. Im Juni 1844
erklärten vier nordschleswigsche Abgeordnete, nicht zur Ständeversammlung gehen
zu wollen, da dort das „natürliche Recht" (sich bei den Debatten des Dänischen
zu bedienen) nicht geachtet werde. Und als der König sich später mehr der
von den „nationalen" vorgeschlagncn Politik näherte, diese sich also dem stark
royalistischen Volke als der Wille seines Souveräns darstellen ließ, als ferner
der Antrag der Stände auf Eintritt Schleswigs in den deutschen Bund unter
dem Landvolk im Norden üble Vorstellungen erweckt und böses Blut gemacht
hatte, kam es im Frühjahr. 1847 dahin, daß die eiderdänische Partei hei
den ständischen Wahlen in fünf von den siebzehn ländlichen Wahldistricten,
nämlich auf Alsen, im Sundewitt und den drei der jütischen Grenze nächst¬
gelegenen, mit ihren Kandidaten durchdrang. Der Bund, der die Nvrd-
schleswiger in den Türkenkrieg schicken konnte, war der Hauptpopanz, mit
dessen gewaltthätigen Wesen man die Leute in diese Wahlen geschreckt hatte,
die somit- eine Verwahrung gegen die Einverleibung in Deutschland be¬
deuteten.
Freilich verwahrten sich an mehrern Orten die Wähler ebenso energisch
dagegen, in Dänemark incorporirt werden zu wollen. „Wi wil bin wa wi er"
— wir wollen bleiben was wir sind, Schleswiger nämlich — war der Aus¬
druck der Stimmung der Meisten. Einige nennen dies conservative Gesinnung,
wir ziehe.» vor, es als Phlegma aufzufassen und diese zwischen zwei Stühlen
sitzenden „specifischen Schleswiger" vom Dorfe sammt denen, die in der Stadt
ähnliche Positionen einnahmen, zu bemitleiden.
Als es dann 1848 zum Bruche kam, die dänische Revolution das Land
mit Krieg überzog, die Schleswig-Holsteiner sich dagegen erhoben, blieben die
Nordschleswiger auf dem Platten Lande großentheils gleichgiltig, und wer sich
von ihnen nicht indifferent verhielt, war in der Regel gleich verdrießlich über
die eine wie über die andere Partei, da beide das Holt in seinem ruhigen Ve-
getiren störten und beide durch außerordentliche Steuern seinem Säckel ärger¬
liche Opfer zumuthetcn. Doch muß bemerkt werden, daß die, welche ein leb¬
hafteres politisches Interesse hatten, meist den Deutschen seind waren, und
zwar, theils weil sie von der Propaganda gewonnen waren, theils weil der
König auf Seiten der Dänen stand, und die royalistische Gesinnung der Lauern
so den Aufstand als gegen diesen gerichtet ansah, ihr wenig geübter Verstand
nicht zu begreisen vermochte, baß Friedrich der Siebente bei diesen Vorgängen
nicht viel mehr als eine Puppe an den Drähten von Orla Lehmann und Ge¬
nossen war. Sehr charakteristisch für die damalige Stimmung des nordschles-
wigschen Landvolks ist die Thatsache, daß, als 1848 die provisorische Regierung
sich anschickte, unter-demselben für ihre Armee Rekruten auszuheben, die junge
Mannschaft im Sundewitt und in den Aemtern Hadersleben und Apenrade
sofort das Weite suchte und entweder nach Jütland oder nach Kühnen und Al-
sen flüchtete, und daß dies keineswegs geschah, weil die Ausreißer dem „Tap¬
peren Landsoldat" und dem Danebrog zu folgen, sich verpflichtet fühlten, son¬
dern weil sie meinten, sich auf diesem Wege dem Militärdienst überhaupt ent¬
ziehen zu können. Nur wenige dieser Kriegsscheuen kämpften später in den
Schleswig-holsteinischen Bataillonen mit, und auch die Dänen scheinen sie als
schlechtes Material größtentheils verschmäht zu haben. Die Alten daheim aber
hatten auf die Frage, was sie denn eigentlich wollten, gewöhnlich nur das frühere
schwerfällige und hartnäckige Verlangen vorzubringen: „Wi will bin wa wi er.
Det stak bin oct ä Gannet. Wi will bin Sleswiger o will it i ä Forbund"
wir wollen bleiben was wir sind. Es soit beim Alten bleiben. Wir wol¬
len Schleswiger bleiben und nicht in den Bund."
Der traurige Ausgang der Erhebung konnte natürlich die Nordschleswiger
nicht für die deutsche Sache gewinnen. Die wenigen, welche derselben im
Grunde des Herzens zugethan gewesen waren, hatten mit der ihrem Stamme
eigenen Borsicht und behutsamen Aengstlichkeit erwogen, ob nicht am Ende doch
der Däne die Oberhand behalten könnte, und so sich vorläufig und bis die
Ereignisse diese Möglichkeit ausschlossen, von der Betheiligung thunlichst fern
gehalten. Jetzt sahen sie, daß ihr Mißtrauen in den Erfolg der Landsleute
im Süden sich rechtfertigte. Die dänische Propaganda dagegen mit ihren An¬
hängern in Nordschleswig hatte jetzt Oberwasser. Sie saß. während sie bis
dahin nur eins der Räder im Getriebe des Staats gewesen, als Müller in der
Mühle. Früher eine Partei, war sie jetzt die Regierung. Früher genöthigt
im Stillen zu wühlen und zu werden, befahl und untersagte sie jetzt mit dem
Bewußtsein, ihren Befehlen den nöthigen Nachdruck geben zu können.
Die Thätigkeit der Eiderdänen, die nunmehr herrschten, war zunächst eine
negative. Sie Vertrieben, soviel es anging, die deutschen Elemente aus Nord¬
schleswig, und wo sich dies nicht thun ließ, schüchterten sie dieselben mit allen
Mitteln ein. Zuvörderst schritt man zu einer Purisication des Beamtenstandcs
und der Geistlichkeit. Wem irgend nachzusagen war, daß er die Sache der
„tydske Oprörers" gefördert — und wer von den deutsch gebildeten Nord-
schleswigern hätte dies nicht gethan — der verlor entweder sein Amt und wan¬
derte ins Exil oder wurde mindestens seiner politischen Rechte beraubt und
polizeilich überwacht, wo möglich auch um sein Vermögen gebracht, wie Apo¬
theker Karbcrg >n Äpenrade und andere auf Betrieb des berüchtigten Medicinal-
inspectors Schleiöner Gemaßregeltc. Die durch Entlassung der Beamten leer
gewordenen Posten besetzte man mit Inseldänen oder dänisch gesinnte» Nord-
schleswigern, meist Afsilurten der Propaganda. Schon der Umstand, daß jemand
ein Deutscher von Geburt war, machte ihn ungeeignet zur Anstellung, wenig¬
stens verdächtig. Ueberall beförderte man die Zuwanderung aus dem Norden
und von den Inseln her, allenthalben suchte man außer den Beamten auch
Kaufleute und Handwerker von dort nach den plattdänisch redenden Gegenden
Schleswigs zu ziehen und den größeren Grundbesitz in dänische Hände zu
spielen.
Dabei wurde ein förmliches System von Spionage und Denuncianten-
thum eingerichtet, gegen welches bei den mit eifrigen Eiderdänen oder Ge-
sammtstaatsmänncrn besetzten Gerichten keine Hilfe zu finden war. Man suchte
die deutsch gesinnten Gasiwirthc mit allerlei Hudeleien und Plackereien heim,
zwang Tanzgesellschaften und Cvncertgeberu den „tapperen Landsoldaten" auf,
danisirte die Ortsnamen, die Straßenbezeichnungen, sogar die Wirthshaus-
schildc. Auch wer von den Deutschen in Nordschleswig nicht geradezu Ver¬
trieben wurde, suchte sich bei dieser Tyrannei, wenn es irgend möglich war,
ein Asyl im Süden, und wo ein gut Schleswig-holsteinisch Gesinnter blieb,
war an eine Mittheilung seiner Meinung an andere als erprobte Freunde nicht
zu denken. Aus Verbreitung richtiger Ansichten in Betreff der Landesrechte
unter dem Landvolk Hinzuwirten, konnte nur auf die Gefahr hin unternommen
werden, am nächsten Tage vor den Hardeövogt oder den Pvlizeimeister citirt
zu werden und mit einer schweren Brüche belastet oder gar in einen Hochvcr-
rathsproceß verwickelt heimzukehren. Durch Flugschriften oder Zeitungen ferner
für die Aufhellung des über das Land gekommenen Dunkels zu arbeiten, war
gleichfalls so gut wie unmöglich. Deutsches las der Bauer nicht, Aufklärung
über seinen Zustand in dänischer Sprache versuchte man nicht, und wäre es
versucht worden, so würde es die danisirte Post und die Polizei aufgefangen
haben. Dagegen waren eine Menge wohlfeiler Provinzialblätter, in Sonder¬
burg „Den taufte SIesviger", in Mögeltondern die „Vestslesvigsk Tidende",
in Hadersleben die „Danevirke" u. a. eifrig bemüht, den Umschwung der Ver¬
hältnisse zu preisen, der Incorporation Schleswigs in Dänemark das Wort zu
reden, die dänische Freiheit zu verherrlichen und ins Land zu wünschen, auf
die Ständewahlen zu wirken und alles was deutsch in der niedrigsten Sprache
zu verunglimpfen. Volksversammlungen Deutschdenkender wären nur Gelegen¬
heiten gewesen, ihre Theilnehmer ins Gefängniß zu bringen. Dagegen gingen
die Zusammenkünfte auf der Skamlingsbank fort und gewannen noch manchen,
dem es gefiel bei Bier und Branntwein Politik zu machen und auf ein paar
Stunden sein Licht leuchten zu lassen.
Dennoch hatten die Kopenhagner, von denen dies alles angeregt und
dirigirt wurde, die Rechnung nicht ganz richtig gemacht. Allerdings wäre es
ein Wunder gewesen, wenn der Germanisirungsproceß, der auch in Nordschleswig
begonnen hatte, unter den bisher geschilderten Umständen nicht zum völligen
Stillstand gekommen, ja einem Danisirungsprvceß gewichen wäre, der allmäh-
lig diese Halbdänen in volle und ganze Dänen verwandelt hätte, und bei dem
auch das Verlangen, in Dänemark aufzugehen, in den Massen laut geworden
wäre. Indessen hatten die nach letzterem Ziele Hinarbeitenden mehre Hinder¬
nisse zu überwinden, die sich zuletzt stärker erwiesen, als ihr Vermögen. Zu¬
nächst das oft schon erwähnte Phlegma der nordschleswigschcn Landbevölkerung,
welches im Großen und Ganzen trotz aller Aufstachelung nicht recht weichen
wollte. Dann die Gesammtstaatspolitit'er, denen an einer starken Betonung des
Unterschieds zwischen Deutsch und Dänisch nichts gelegen sein konnte. Vor
allem aber den Umstand, daß geschickte, unterrichtete und gewissenhafte Beamte
dänischer Nationalität nicht gern nach Schleswig gingen, und daß man über-
dieß die dortigen Stellen am liebsten mit solchen besetzte, die fanatische Feinde
deutschen Wesens und deutscher Ansprüche waren, gleichviel ob sie sich durch
Besitz der für die betreffenden Posten erforderlichen Eigenschaften empfahlen.
- Der nordschleswigsche Bauer war kein großer Politiker, aber er war des¬
halb hinsichtlich der Dinge, die innerhalb seines engbegrenzten Gesichtskreises
lagen, keineswegs auf den Kopf gefallen. Er kannte sein Recht ziemlich gut,
wenn sichs um das Nächstliegende handelte, und er kannte es in manchen Fällen
besser als der ihm gesandte Hardesvogt aus dem Königreich. Er verstand sich
vortrefflich auf seinen Vortheil, und die neuen Beamten kamen ihm bald vor,
als ob sie sich zwar auch auf den ihrigen verstünden, aber nicht so, daß der
seine dabei unbeschädigt blieb. Der Bauer griff nicht gern tief in seinen Beutel,
und die Herren vom Gericht, das merkte er rasch, ließen ihn das häufiger thun,
als sie berechtigt waren, und so wurde er kopfscheu, mißtrauisch in Betreff des
Glücks, sie erhalten zu haben, zweifelhaft, ob die deutschen Beamten es nicht
eigentlich doch besser mit ihm gemeint und gründlichere Kenner von Gesetz und
Landesart gewesen, und zuletzt entwickelte sich aus solchen Bedenken, bei nicht
Allen zwar, aber erweislich bei Manchen, eine unbehagliche, fast aufsässige
Stimmung, in welcher die Gegenwart mit der Vergangenheit verglichen nicht
als ein Fortschritt, die heiße Liebe des alten dänischen Volks zu den nvrd-
scbleswigschen Brüdern, von welcher auf der Skamlingsbank so prächtige
Schilderungen vorgetragen worden waren, nicht als die rechte erschien.
Nicht blos die deutschen Schleswiger im Süden, auch einige von den
dänischen in den nördlichen Aemtern empfanden die Willkür der neuen Beamten,
deren Geringschätzung von Recht und Herkommen, deren geringes Verständniß
für das eigentliche Bedürfniß des Landes. Auch die letzteren lernten teil¬
weise jetzt durch Erfahrung am eigenen Interesse, soweit sie etwas zu verlieren
hatten, daß Dänemark und daß jeder einzelne Däne Schleswig als seine Do¬
mäne betrachtete. Auch hier klagte man sich gegenseitig, daß die Herren
Amtmänner, Hardesvögte und Actriarc. Bürgermeister und Stadtsekretäre
ihren Posten nur vom Standpunkte des Eigennutzes aus ansahen und mög¬
lich viel, ein möglichst stattliches „Levebröd" dabei herauszuschlagen trach¬
teten. Auch hier wollte man eine mehr und mehr überhandnehmende Rechts¬
unsicherheit und ein schamloses Sportuliren der Herren von der Obrigkeit be¬
merken. Wer in den letzten zehn Jahren in Nordschleswig reiste, konnte
den Spuren hiervon begegnen, ohne daß er in die Schlüssellöcher zu blicken
nöthig hatte. Was auch die von der fortarbeitenden Propaganda durch
allerlei Manöver und hauptsächlich durch den „kleinen Mann" in die Stände¬
versammlung gebrachten Abgeordneten dieser Striche sagen mochten, im Stil¬
len verdroß den Bauer die neue Wirthschaft vielfach, und nur sein ängst¬
liches verschüchtertes Wesen, seine Bequemheit und seine Scheu vor der Ge¬
walt der Beamten hielt ihn ab, seinen Groll offen kund werden zu lassen.
Höchstens die Besitzlosen und ein paar Hundert Fanatisirte unter den Wohl-
habendern, die freilich sehr laut und rührig waren, wünschten mehr von dieser
dänischen Freiheit.
Und dazu trat endlich noch für Manche ein sehr starker Beweggrund, mi߬
vergnügt zu sein. Die Nordschleswiger hängen in Handel und Wandel nicht
viel weniger als die Südschleswiger und Holsteiner vom Süden ab. Hamburg,
nicht Kopenhagen ist ihr Hauptmarkt, Kiel mit seinem Umschlag ihre nächste
Börse. Wer außergewöhnliche Erwerbsquellen sucht, geht auch von hier, wenn
er nicht die Gelehrtenlaufbahn beschreitet, in der Regel lieber nach den deut¬
schen Strichen als nach Jütland oder nach den Jnselstiftcrn. Dazu aber bedarf
man der deutschen Sprache, und wenn diese von dem neuen System aus Nord-
Schleswig verbannt, wenn keine Gelegenheit mehr sein sollte, sie zu lernen, so
hieß das vor dem Fortkommen der Strebsamen einen Schlagbaum aufrichten,
der ebensosehr als unbequeme Beeinträchtigung empfunden wurde. ,.wie die
sonstigen Absperrungen von dem Verkehr mit dem Süden, die Verbote, mit
Holsteinern landwirthschaftlichen Vereinen anzugehören, die Querbahnen statt
der Längsbahnen, die Zollgrenze bei Altona u. d. in. Das Sprichwort,
nach welchem Dänemark den Herzogthümern nichts zu schicken haben soll als
„sorte Polle, magre Hefte, taufte Praeste" ist eine Uebertreibung, der aber
insofern eine Wahrheit zu Grunde liegt, als Dänemark, von wesentlich gleicher
Lage und Natur wie Schleswig-Holstein und wie dieses vorzüglich auf Land¬
wirthschaft und Viehzucht, Schifffahrt und Fischerei angewiesen, den Herzog¬
thümern wenig zu verkaufen und ebenso wenig abzukaufen hat, während der
tiefere Süden, zunächst Hamburg, als Welthandelsplatz, zu letzteren wie zu
einem großen Theil Dänemarks und des ganzen skandinavischen Nordens die
Stellung des mercantilen Centrums einnimmt. „Mit Dänisch", so hörte man
die Nordschleswiger in den letzten Jahren mitunter sagen, „kommen wir nur bis
Kopenhagen, wo wir nichts zu suchen haben, mit Deutsch dagegen durch die
ganze Welt."
Die deutsche Sprache galt, seit sie am dänischen Hose nicht mehr die herr¬
schende war, und seit die bessere Gesellschaft in Nordschleswig sich ihrer nicht
mehr bediente, allerdings nicht mehr für so vornehm als früher; von ihrer
Nützlichkeit aber hatte sie durch den Umschwung des Jahres 1850 nichts ein¬
gebüßt, und die Südjüten von Hoher und Tendern, von Apenrade und Ha¬
dersleben waren sich dessen auch theilweise bewußt; zu energischen Forderungen in
dieser Beziehung zusammenzutreten, waren sie jedoch nicht sähig, die moralische
Wirkung der dänischen Schreckensherrschaft schien, obwohl sie nicht am schwer¬
sten davon betroffen worden waren, ihr natürliches Phlegma in völlige Le¬
thargie verwandelt zu haben.
Am meisten dänische Gesinnung entwickelte bis auf die neueste Zeit die
Insel Alsen, wo die Propaganda in der Unbeliebtheit des Herzogs von Augusten¬
burg einen guten Boden gefunden hatte, um ihre Saaten zu säen. Aehnlich
stand es in dem benachbarten Sundewitt, wo der Pastor Mörl Hansen, von
seinem Amtsbruder in Broacker, Schleppegrcll. unterstützt, fleißig agitirte, und
im Westen Nordschleswigs, zwischen Hoher und Ripen, wo die jütischen
Enclaven liegen.
Von den Städten war Tondern selbst in der schlimmsten Zeit immer
gut Schleswig-holsteinisch gesinnt, und die dortigen Dänen erzielten mit allen
ihren Gewaltmaßregeln darin keine Aenderung. Auch in Hadersleben und in
Apenrade hielten sich kleine stille Gemeinden deutscher Patrioten, die gelegent¬
lich von sich hören ließen. Sonderburg dagegen, welches schon vor der Er-
Hebung starke dänische Sympathien kundgegeben, hatte nach derselben so gut
wie gar keine deutsche Partei und galt in Kopenhagen für besonders gesin¬
nungstüchtig, weshalb man es auch Von da mit mancherlei Wohlthaten, einer
Brücke über den Alsensund, Beiträgen zu öffentlichen Bauten u. d. in. be¬
dachte. Christiansfeld kommt als Herrnhutercolvnie bei politischen Fragen nicht
in Betracht. Dagegen müssen wir die Phasen, welche Fiensburg, die größte
Stadt des Herzogthums, durchgemacht hat, ausführlich besprechen.
Fiensburg war vor vierzig Jahren einer der bedeutendsten Handels¬
plätze des Nordens mit weitverzweigten Verbindungen und einer sehr respec-
tabeln Rhederei. Es gab damals hier Rheder, die ein halbes Dutzend und
mehr von den größten Kauffahrern im überseeischen Handel beschäftigten, und
die flensburger Schiffswerften waren die größten an der Ostsee. In Betreff
des Handels fand namentlich ein äußerst lebhafter und für die Stadt gewinn-
reicher Verkehr mit Norwegen und Westindien statt. Das Zerwürfniß Däne¬
marks mit England im ersten Decennium dieses Jahrhunderts brachte die wei¬
tere Entwickelung dieses Handels ins Stocken. Die Lvstreunung Norwegens
von der dänischen Krone schadete wesentlich. Der Unternehmungsgeist der
Kaufleute begann sich jetzt in der Hauptsache auf die baltischen Länder zu be¬
schränken. Der Schiffsbau zog sich mehr und mehr nach dem benachbarten
Apenrade hin, dessen Einwohner früher die alten cassirten Fahrzeuge der Flens¬
burger zu kaufen pflegten, während jetzt das Umgekehrte geschah. Im Jahre
1806 besaß die Stadt 270 Schiffe, 1844 nur noch 124.
Als die Frage: ob Schleswig-holsteinisch oder dänisch? die Gemüther in
Bewegung zu setzen begann, war Flensburg eine in unserm Sinne vorwiegend
patriotische Stadt, und wenigstens die wohlhabende und gebildete Classe hatte
mit sehr wenigen Ausnahmen keine dänischen Sympathien. Ein Theil der
Kaufleute allerdings gehörte der oben gezeichneten Partei der „specifischen
Schleswiger" an. Sie trieben vorzüglich Handel Mit Jütland und den däni¬
schen Inseln, wohin sie theils die direct aus Westindien bezogenen Waaren
versandten, theils solche aus den Herzogthümern und dem nördlichen Deutsch¬
land in Concurrenz mit andern Städten vermittelten, und unterlagen dem Irr¬
thum, daß durch den Anschluß Schleswigs an den deutschen Bund jene Ver¬
bindungen gefährdet werden müßten. Aber auch diese Partei, die von dem
Agenten Imsen geführt und in der Ständeversammlung vertreten wurde, wollte
keine Einverleibung in Dänemark.
Dieses Verhältniß änderte sich mit der Gründung der dänischen Filialbank
in Fiensburg. Die „Flensburger Zeitung", dem Juten Kastrup gehörig und
bis 1839 ein Organ der Schleswig-holsteinischen Partei, hatte sich später der
dänischen zugewendet und nun jenes Institut den Kaufleuten lebhaft empfohlen.
Letztere sowie ein Theil der Gewerbtreibenden ließen sich verblenden und alß-
achteten die von andrer Seite kommenden Warnungen. Die Van? zog 1844
ein, eine neben ihr errichtete Schleswig-holsteinische Landesbank wurde durch
allerlei Chicanen zu Grunde gerichtet, und durch Liberalität in ihren Bedin¬
gungen gelang es den Directoren des dänischen Instituts, den größeren Theil
der Kaufmannschaft und dadurch die von derselben abhängigen unteren Classen
in ihr Interesse zu ziehen. Die Mehrzahl des Handelsstandes arbeitere jetzt
über ihre Geldkräfte und gerieth so völlig in die Gewalt der Bank. Und nun¬
mehr begann auch in Flensburg die dänische Agitation. Man legte den in die
Hände der Bank Gefallenen Petitionen und Adressen vor. welche auf Danisirung
Schleswigs hinausliefen, und verweigerten sie ihre Unterschrift, so drohte man
mit Kündigung des gegebenen Credits. Den Ruin vor den Augen unter¬
schrieben sie. und dem ersten Schritte in dieser Gesellschaft folgten dann mehre.
Die Lroße Majorität der Schleswig-holsteinisch Gesinnten in Flensburg schmolz
zu einer sehr mäßigen Minorität herab.
Später gelang es einer Anzahl Wohlgesinnter, sich aus den Banden, mit
denen man sie umstrickt hatte, zu lösen, und die deutsche Partei fing wieder
zu wachsen an. In den Kriegsiahren von 1848 bis 18S0 galten für entschie¬
den dänisch gesinnt von den wohlhabenderen Bewohnern der Stadt blos die
30 Mitglieder von A. Christiansens Bürgerverein. Entschieden Schleswig-hol-
steinisch dagegen war das Casino, welches reichlich achtmal so viele Mitglieder
zählte. Der Pöbel, großentheils aus Nationaldänen bestehend, hielt sich zur
Partei Christiansens.
Die Jahre nach der Erhebung änderten diesen Sachverhalt insofern, als
jetzt eine bedeutende Anzahl dänischer Beamten hierher versetzt wurde, und als
diese Manchen, der nicht auf festen Füßen stand, theils durch dargebotene Vor¬
theile, theils durch Drohungen der deutschen Sache abwendig machten. Auch
verstärkte sich die dänische Partei durch Einwanderung von Geschäftsleuten und
Handwerkern aus Dänemark nicht unbeträchtlich. Endlich wurde der eine und
der andere Bürger durch die Bevorzugung gewonnen, welche die Regierung
der Stadt in verschiedenen Richtungen erwies. Immer aber gab es noch in
den letzten Jahren eine starke und festgeschlossene deutsche Partei, welche der
dänischen gewachsen gewesen wäre, wenn diese nicht die Behörde für sich ge¬
habt hätte, die jede Kundgebung deutscher Sympathien mindestens als „Mi߬
lichkeit", wo nicht als Verbrechen sofort mit Brüchen, Gefängniß, Concessions¬
entziehung. Auflösung von Gesellschaften u. s. w. strafte.
Die Deutschen hielten sich streng gesondert von den Dänen, wie im Süden
des Herzogthums und in Holstein, ja die Gesinnung grenzte sich in gewissem
Grade sogar nach Quartieren ab, indem die größere Südhälfte der Stadt
deutsch, der Norden dagegen dänisch war — ein Verhältniß, welches auch jetzt
noch fortdauert. Für die gegenwärtige Gesinnung der Stadt sind die am
2. und 3. Juni vollzogenen Neuwahlen zum Deputirtencvllegium (Stadtver¬
ordneten) bezeichnend. Bon den Gewählten gehören 13 der deutschen, 9 der
dänischen, 2 keiner Partei an. Daß die landesfeindliche Fraction so viele ihrer
Kandidaten durchsetzte, und daß selbst Deutschgcborne mit ihr stimmen konnten, wird
nicht wundern, wen» man bedenkt, daß Flensburg vorwiegend Handelsstadt ist,
und daß in Handelsstädten >n der Regel politische Meinungen häufiger als
anderwärts-vor dem Geldinteresse die Segel streichen. Man hat mit Dänemark
gute Geschäfte gemacht, und man fürchtet, daß eine Lostrennung von diesem
den Einnahmen der Comptvirkasse gefährlich werde» wird. Dazu kommt der
von diesen vornehmeren Politikern abhängige, auf deren Worte schwörende nie¬
dere Theil der Bevölkerung und ferner die nicht unbedeutende Zahl der ge¬
borenen Dänen. Endlich aber tritt dazu die Furcht der Schwankenden, daß
die Dänen nicht für immer die Herzogtümer, mindestens nicht für immer den
Norden geräumt haben möchten, und daß infolge dessen die von König Chri¬
stian angedrohte Rache eintreten könnte.
Aehnlich steht es in den übrigen Städten Mittel- und Nordschleswigs in
diesem Augenblick, Tondern, welches sich eifrig deutsch geäußert hat, und Svn-
derburg ausgenommen, welches ebenso eifrig für Dänemark ist. Auch in
Apenrade sind viele Dänischgesinnte und vielleicht noch mehr Furchtsame, und
in Hadersleben, wo jetzt eine recht gutgeschriebene dänische Zeitung, die von
Dr. Jansen redigirte „Nordsiesvigsk Tldende" für das Schleswig-holsteinische
Recht Anhänger wirbt, und wo sich in diesen Tage» eine Boltsversamm-
iung für das Ausscheiden auch Nvrdschleswigs aus dem Bcrvande mit Däne¬
mark ausgesprochen hat, giebt es ebenfalls eine nicht kleine Minorität,
welche den Wunsch hegt, daß es beim Bisherigen bleibe. Und waS sich
auf dem Lande überhaupt rührt, ist gleichermaßen der Mehrzahl nach dänisch
gesinnt. Wer anders denkt, lebt meist in der Befürchtung, daß Schleswig,
wenigstens der Norden, wiederum von Deutschland im Stich gelassen werden
wird, und schweigt deshalb. Doch fanden sich Beispiele -von mehr Energie und
Entschlossenheit. Im Amte Tondern wurde die für die Eonferenz bestimmte
Nechtsverwahrung der Schleswiger mit 7000 Unterschriften bedeckt. In Nord-
hackstedt in der Wiesharde betheiligte man sich stark sowohl an der großen
Schleswiger-Deputation wie an der freiwilligen Anleihe. In Lygumtloster ver¬
langte man mit bedeutender Stimmenmehrheit deutschen Schulunterricht. Im
Allgemeinen aber gilt vo» dem Landvolk, was oben bemerkt wurde: Die
große Menge ist gleichgiltig, die Mehrheit der zu dem Schleswig-holsteinischen
Programm Hinneigenden scheut sich, ihre Meinung zu gestehen und geltend zu
machen, die Landesteil, Kühnsten und Rührigste» halten es mit Dänemark.
Und jetzt können wir, das Gesagte zusammenfassend, den Bersuch machen
die Fragte zu beantworten, ob die Nordschleswiger Dänen sein wollen oder mit
andern Worten, wie dieselben bei einer unter allseitiger Betheiligung statt¬
findenden vollkommen freien Abstimmung über die Alternative, ob man einem
selbständigen Staate Schleswig-Holstein unter einem eignen Fürsten angehören
oder in eine nähere Verbindung mit Dänemark treten wolle, sich wahrscheinlich
entscheiden würden.
In Südschleswig, also bis zur Linie Flensburg-Tondern, würden sich,
darüber kann keinerlei Zweifel herrschen , alle Kirchspiele und Städte mit Aus¬
nahme etwa eines starken Drittels der Flensburger und einiger Dörfer der
Wiesbarde*) entweder einstimmig oder fast einstimmig unbedingt für einen sol¬
chen Schleswig-holsteinischen Staat erklären.
In Nordschleswig würde das Ergebniß, wenn alle Bewohner des
Herzogthums zu gleicher Zeit stimmen sollten, sehr wahrscheinlich ein
anderes sein, In Hadersleben und vielleicht auch in Apenrade würde sich eine
Majorität für Schleswig-Holstein zusammenbringen lassen. Auch auf dem Lande
würden sich, besonders wenn der Eintritt in den deutschen Bund nicht betont
würde, eine kleine Anzahl von Stimmen in dieser Richtung äußern, und zwar
würde dies im Südosten. mit Ausnahme von Alsen und Sundewitt mehr, im
Nordwcsien und Norden weniger der Fall sein. Die große Majorität im All¬
gemeinen würde sich vermutblich für Dänemark erklären.
Im Jahre 1846 wurde von dem Vertreter des siebenten ländlichen Wahl¬
bezirks (im Westen Nordschleswigs) ein Antrag gestellt, welcher die Aufnahme
Schleswigs in den deutschen Bund bezweckte, und von den siebzehn Abgeord¬
neten der ländlichen Wahldistricte Schleswigs stimmten nur drei, nämlich die
Vertreter des 2., 3. und 5. (äußerster Nordosten. Mitte der Osthälfte Nord¬
schleswigs und Sundewitt) gegen diese Proposition.
Im Jahre 1847 wählten nach angestrengter Thätigkeit der dänischen Pro¬
paganda die Wahldistricte 1 (äußerster Nordwesten), 2, 3, 5 und 6 (Alsen) im
dänischen Sinne — das ungünstigste Wahicrgebniß, weiches unter dem alten
Wahlgesetz von 1834 zu Stande kam. Dieses Gesetz unterschied sich für die in
den ländlichen Bezirken in Betracht kommenden Verhältnisse vorzüglich durch einen
etwas höheren Census von dem später (18S4) eingeführten und bis auf die
Gegenwart in Geltung verbliebenen Wahlgesetz. Unter der Einwirkung des
letzteren, welches nach dieser Bemerkung demokratischer war und den Willen
der weniger Wohlhabenden mehr als das frühere zur politischen Arbeit zuließ,
und unter den damaligen Zuständen^ wo die Deutschen und deutsch (richtiger
Schleswig-holsteinisch) gesinnten Elemente allenthalben mehr oder minder ent-
muthigt und relativ unfähig zum Widerstande waren, wählte zuerst der 4. Wahl-
district (westlich und nordwestlich vom Sundewitt) nach Wunsch der Dänen.
Dann, bei der Wahl von 1860, folgte der 7. nach, und der 8. (der Strich
südöstlich von Tondern), der bis dahin entschieden deutsch gewählt, entschied
sich für einen Deputirten, der keinen bestimmten Parteistandpunkt einnahm.
Nordschleswig 'und selbst ein Theil des Herzogtums, welchen wir im ersten
Capitel zur Südhälfte rechneten, war somit in dieser Beziehung für die deutsche
Partei verloren. Doch darf nicht unerwähnt bleiben, daß die letztgenannten
beiden Wahlen wegen einiger bei denselben vorgekommenen Ungesetzlichkeiten von
der im Jahr 1863 zusammengetretnen schleswigschen Ständeversammlung an¬
gefochten wurden und mit Anlaß gaben, daß die Majorität ihr Mandat nieder¬
legte und die Versammlung beschlußunfähig wurde.
Aus Vorstehendem ergeben sich nun folgende Resultate:
1) Das Herzogthum Schleswig ist in seinem südlichen Theil von einer
reindeutschen und gegen die Nordgrenze dieses Theils (die tondern-flensburger
Landstraße) hin auf der Landesmitte von einer gemischten Bevölkerung, in seinem
nördlichen Theil von Südjüten. unter denen sich einige Tausend Deutsche an¬
gesiedelt haben, bewohnt.
2) Das ganze Herzogthum zählt in 274 Kirchspielen 409.907 Einwohner,
und davon kommen auf Südschleswig in 154 Kirchspielen 258.059. auf Nord¬
schleswig in 120 Kirchspielen 151,848 Einwohner, d. h. in Verhältnißzahlen
ausgedrückt, auf jenes 63, auf dieses 37 Procent.
3) Bei einer Abstimmung nach der angegebnen Fragstellung (bei der von
einer Theilung des Landes noch nicht die Rede wäre) und unter der Voraus¬
setzung möglichst allgemeiner Betheiligung würden sich wahrscheinlich mehr als
70, vielleicht 75 Piocent der Bevölkerung des Herzogthums im Schleswig-hol-
steinischen und wahrscheinlich 25 bis 30 Procent im dänischen Sinne entscheiden.
Wie die Verhältnisse sich stellen würden, wenn die Frage der Theilung an die
Nordschleswiger heranträte, besprechen wir kurz im nächstfolgenden Capitel.
Die jetzt vom Kriegsschauplatz eingehenden Nachrichten enthalten nur Kla¬
gen über die Widerhaarigkeit der Juden und der dortigen dänischen Beamten
gegen alle, auch die gerechtesten Forderungen der Truppen. Klagen, welche,
zumal über die Beamten, der deutschen Geschichte ganz fremd sind. Wenn wir
aber von diesen absehen, dürfte die Frage wohl gerechtfertigt erscheinen, ob die
deutsche Bevölkerung in entsprechendem Maße sich an dem .Kampfe für deutsches
Recht betheiligt hat wie die dänische an ihrem Kampfe? Die Dänen haben
allerdings Gelegenheit gehabt, nicht nur sich mit der Sorge für ihre Verwun¬
deten u. dergl. zu befassen, sondern auch sich an dem Kriege durch Eintritt als
Freiwillige und durch directe Unterstützung der Kriegsunteruchmungen zu be¬
theiligen. In letzterer Beziehung hat die Zähigkeit, mit welcher die Dänen,
in den von den Verbündeten bereits unterworfenen Landestheilen ihre Ver¬
bindungen mit dem dänischen Kriegsheere aufrecht erhalten haben, gerechte An¬
erkennung gefunden. Den Deutschen war nur das Feld der indirecten Unter¬
stützung ihrer kämpfenden Brüder eröffnet, und selbst auf diesem Felde ist wohl
nicht so viel geschehen, wie nach den vielfachen Anläufen erwartet werden
konnte. — Es ist versäumt worden, durch feste Organisation selbst da einen
positiven Willen und damit eine Macht zu entwickeln, wo sich die Gelegenheit
ohne alle Gefahr für die eigenen Interessen bot, nämlich in der privaten Hilfe
für die leidenden Krieger. Um diesen Ausspruch zu rechtfertigen und um darzu¬
thun.-was ein willenskräftiges Volk in dieser Richtung leisten kann, bedarf es
nur eines Vergleiches dessen, was bei uns geschehen ist und was man in den
nordamerikanische» Freistaaten gethan hat.
In Oestreich und Preußen, sowie auch in einzelnen der andern deutschen
Städte haben sich Vereine, meist unter Führung von Frauen gebildet, um durch
Sammlung von Geld und entsprechenden Materialien die Mittel zu gewinnen,
die Pflege der Verwundeten und Kranken zu unterstützen. Reichlich sind die
Gaben geflossen, aber die hier aufgewandten Mittel entsprachen nicht den wirk¬
lichen Leistungen, trugen nicht dazu bei, eine stets an rechter Stelle eintretende
Macht zu entwickeln, weil die Organisation fehlte. Die Organisationen, welche
vorhanden waren und ihre Kräfte diesem politisch so bedeutenden Zweck weih¬
ten, haben mit geringern Mitteln verhältnißmäßig mehr geleistet als jene
patriotischen Vereine und sind dadurch in Selbstgefühl und Einfluß ge¬
wachsen." Die kirchlichen Kongregationen beider Konfessionen und der Johan-
niterorden bieten Beispiele. — Der berliner Centralverein für die Pflege der
verwundeten Krieger, welcher sich nach den Grundsätzen der in Genf versam¬
melt gewesenen internationalen Konferenz gebildet hatte und infolge dessen
die gesammte Privathilfc der Bevölkerung Preußens in sich concentriren wollte,
hat sich zu keiner lebendigen Institution entwickelt. Die Ursache davon muß
man darin suchen, daß der Verein bei seiner Bildung von Oben, statt von
Unten angefangen hat, er hat eine Veamtenhierarchie aufgestellt, ehe er Unter¬
thanen hatte. — Nordamerika zeigt, was man auf dem entgegengesetzten Ge¬
biete erreichen kann.
Das Heft der „Kkvus clef clsux morales" vom 1. März d. I. entwirft
unter dem Titel. Ig, eommiWivn 8Al>loir« 6« 1s guei're ».ux etats-ums"
ein lebendiges Bild von der dortigen Organisation der Privathilfe und von
deren politischer Bedeutung, das wir hier benutzen wollen.
Mit dem Beginn des Krieges bildeten sich in Nordamerika aller Orten
Frauenvereine, welche mit Charpie zupfen, Bandagen nähen. Strümpfe stricken
und tgi. ansingen, dann aber rasch zu der Ueberzeugung kamen, daß wenn ihre
Arbeiten nicht Hand in Hand gingen mit den factischen Bedürfnissen, ihre
Arbeit nicht lohnend sein, das gesteckte Ziel nicht erreicht werden würde. In
Newyork, dem Centralpunkt des amerikanischen Lebens, mußte sich dieser Uebel¬
stand am frühesten zeigen, und so waren es die Frauen dieses Orts, welche die
Gleichgesinnten anderer Städte hiervon in Kenntniß setzten und sie aufforderten,
ihre Kräfte ebenso wie die des Staats zu organisiren und sowohl für die Einzel¬
staaten als auch die ganze Union leitende Comites zu ernennen.
Die Idee fand Anklang, und nach und nach haben sich 30,000 solcher
Frauenvereine unter dem Centralcomitö in Washington Mit dem oben angegebe¬
nen Titel zusammengeihan und gegliedert. Einflußreiche Männer wurden auf¬
gefordert die Leitung zu übernehmen und die Verbindung mit der Staatsgewalt
und den Militärbehörden herbeizuführen. — So sehr die ersten amerikanischen
Armeen aller Sanitätseinrichtungen entbehrten, und so sehr die Behörden eine
Unteistützung auf diesem Gebiete wünschen mußten, so sträubten sie sich doch
dagegen, einen solchen Berein für sich eintreten zu lassen. Die Noth aber war
zu groß, die Sterblichkeit unter den Truppen erhöhte sich in dem Maße, daß die
letzteren ein Drittel ihrer Leute verloren, ehe sie den Feind zu sehen bekamen.
Der Präsident räumte dem Verein das Recht ein seine Thätigkeit allen mili¬
tärischen Bewegungen anzuschließen, seine Beamten den Hauptquartieren zu
attachiren, Krankenträger auf die Schlachtfelder zu entsenden, eigene Lazarethe
an den Operationsorten und auf den Zwischenstationen zu errichten, Magazine
anzulegen u. s, w., kurz einen eigenen Sanitätskvrper zu bilden; dabei wurde
aber gleichzeitig ausgesprochen, daß der Staat, da der Verein wohl mit seinen
Mitteln nicht auf die Dauer allen diesen Leistungen genügen könne,' binnen
Kurzem seine Organisationen vollendet haben würde, um selbst diesen Ver¬
pflichtungen nachzukommen. Die Mittel des Vereins aber wuchsen so bedeutend,
daß er im Stande gewesen wäre auf die Dauer den Sanitätsdienst der Heere
zu übernehmen, wenn er nicht mit der Entwickelung aller nordamerikanischen
Militärinstitutionen immer mehr aus diesem Dienst verdrängt und auf das,
was ein Privatverein nnr leisten kann, verwiesen worden wäre, auf die Unter¬
stützung der amtlichen Pflege und auf die Uebernahme der Sorge für die vom
Heere entlassenen Leute und die zu demselben zurückkehrenden oder hin dirigirten
Mannschaften. Das Budget der Sanitätscommission ist für 1864 auf ungefähr zehn
Millionen Thäler veranschlagt und bleibt hierbei außer Berechnung die gesammte
freiwillige Dienstleistung, welche so bedeutend ist, daß von den bereiten Mitteln
nur drei Procent auf die Verwaltung incl. Transportmittel, Miethe und dergl.
verwendet zu werden brauchen und 97 Procent allein dem Soldaten zu Gute kom¬
men. Es ist dem Verein gelungen seine Hilfe dem amerikanischen Soldaten in allen
Lagen geltend zu machen, ihm überall hin zu folgen und immer da bereit zu sein,
wo die amtliche Hilfe zufällig auf sich warten ließ. Seinem directen Wirken
und seiner unausgesetzten, sachgemäßen Pression auf die Behörden zumal wird
es zugeschrieben, daß die Sterblichkeit in den amerikanischen Armeen augen¬
blicklich geringer sein soll, als dieselbe gewöhnlich in den kriegführenden euro¬
päischen Heeren ist. — Die »größte Sorge wendet der Verein aber jetzt, und
darin hat er sich für permanent erklärt, auf die Pflege der vom Heere Ent¬
lassener und Beurlaubten. In den großen Orten und aus allen Etappen hat
d-er Verein Hcimathhäuser angelegt, in welchen jeder legitimirte Soldat in. freie
Station behufs seiner Weiterbeförderung erhält. Alle durch den Krieg mehr
oder minder erwerbsunfähig gewordenen Leute erhalten zwar vom Staate eine
Pension, aber um so mehr hält sich der Verein verpflichtet, sich ihrer anzu¬
nehmen, und ihnen, ihren Kräften entsprechend, eine thätige Existenz zu ver¬
schaffen, Das Ziel ist, alle diese Leute wieder ganz in das bürgerliche Leben
zurückzuführen und unter allen Umständen zu verhindern, daß sich abgesonderte
militärische Elemente bilden. Der Verein hat es sich zur Aufgabe gestellt, ge¬
rade jetzt, wo der Soldat die erste Rolle spielt und das stehende Heer sich als
gespenstige Nothwendigkeit herausstellt, den Soldaten in dem engsten Verbände
mit dem Volke zu erhalten. Die Sorge seines Volkes tritt überall mächtig
an ihn heran, sobald die Verhältnisse es nur irgend gestatten, ja drängt sich,
ihn schützend, zwischen ihn und seinen Vorgesetzten, sobald nur irgendeine
Aussicht ist, sich materiell oder aber durch die Presse u. tgi. geltend zu machen.
So ist der Hilfsverein der Repräsentant des Volks und seiner politischen
Zwecke geworden, unter welchen der, kein stehendes Heer nach dem Kriege zu
behalten, der bedeutendste ist, und infolge dessen ist dieser Verein, der haupt¬
sächlich aus Frauen gebildet, ein leidenschaftlicher Vertreter des Krieges bis zur
vollsten Unterwerfung der Südstaaten geworden. — Man hat die Ueberzeugung
aus dem jetzigen Kriege geschöpft, daß man einem mächtigen Gegner nicht mit
einem Volksheer begegnen kann, und daß man also einer südlichen Konföderation
mit ihren ganz andern Interessen gegenüber sich genöthigt sehen würde, ein
stehendes Heer, zu behalten. Das aber soll nicht sein und deshalb darf der
Krieg nicht durch einen Frieden, sondern nur durch die vollständigste Unter¬
werfung beendet werden. Ob das gelingen wird, ist wohl nach dem Gange
der Ereignisse noch die Frage, und man muß bezweifeln, daß Nordamerika aus
dem Kriege hervorgeht ohne ein stehendes Heer. Der Mangel des letztern ist
den Nordamerikanern so theuer zu stehen gekommen, hat sich der ganzen Exi¬
stenz des Staats so gefährlich gezeigt, daß die Staatsmänner Nordamerikas
wohl als nothwendig anerkennen werden, aus den jetzigen Armeen seiner Zeit
ein stehendes Heer zu bilden.
Vielleicht sprechen wir ein andres Mal mehr darüber, heute war es nur
die Absicht, durch den Hinweis auf die amerikanischen Verhältnisse darzuthun,
welcher Weg dem deutschen Volke gegeben war. seine Verbindung mit den
fechtenden Truppen nach allen Richtungen thätig geltend zu machen, darzulegen,
daß bei Beurtheilung der nothwendig zu haltenden Wehrkraft weniger die eigne
Kraft als die des eventuellen Gegners als Maß zu dienen hat, und endlich war
es die Absicht darauf hinzuweisen, daß das Volk nur dann Macht im Heere
gewinnt, wenn es fördernd, nicht zerstörend in den Organismus desselben ein¬
greift. In letzterer Beziehung möchten wir zum Schluß auf einen Artikel der
Militärischen Blätter aufmerksam machen, der von der Pension eines zum Krüp¬
pel gewordenen preußischen Lieutenants handelt und andeutet, daß ein Lieute¬
nant v. H. sich 1851 das Leben nahm, weil er durch seine Wunden ganz un¬
thätig geworden war und mit zehn Thalern monatlich sich nicht einmal die
nothwendige Pflege verschaffen konnte. Und noch trauriger ist in hundert Fäl¬
len das Loos der armen Gemeinen, welche zu Invaliden wurden.
Wir haben stehende Heere. Hier ist der Weg, auf welchem der Bürger
das Heer durch die stärksten aller Bande an sich und seine Interessen fesseln
und den alten leidigen Gegensatz für immer besiegen kann.
Da die Mitglieder der Conferenz sich gegenüber der Oeffentlichkeit zum Still¬
schweigen über die schwebenden Verhandlungen verpflichtet hatten, so war natürlich,
daß Zeitungsredcictivncn und Leser durch massenhafte und widersprechende Telegramme
und muthmaßende Correspondenzen in einer Unsicherheit erhalten wurden, welche auf
die Länge schwer zu ertragen war. Vielleicht haben wir in diesem Falle keinen
Grund, den Versuch der Geheimhaltung zu tadeln, er scheint von dem englischen
Minister veranlaßt, um die bengclhafte Animosität gegen Deutschland, der sich die
Mehrheit der Presse, des Parlaments und des Straßcnvolks von London befleißigen,
nicht zu steigern, das heißt, nicht bis zu einer Gefahr für das Whigministerium zu
verstärken. An sich aber ist solches Geheimhalten schon deshalb ein Uebelstand, weil
e>? in der Gegenwart doch nicht mehr durchzuführen ist.
Wer aus die Fortschritte zurücksieht, welche die große nationale Frage in den
letzten Monaten machte, der hat allerdings einiges Recht, auch von der Zukunft
Gutes zu hoffen.
Die Kandidatur des Herzogs von Schleswig-Holstein wird durch Preußen und
Oestreich vertreten. Soweit seit ein unwiderstehlicher Zwang der Thatsachen die An¬
gelegenheit gefördert. Wenn die große Majorität der Deutschen von Anfang an auf
das Recht des Herzogs, und die Popularität, welche ihm in den Herzogthümern aus
seinem Recht erwachsen mußte, vertraute, so wurde sie auch durch die naheliegende
Erwägung geleitet, daß eine andere günstige Lösung des Conflictes mit Dänemark
zur Zeit unmöglich ist. Auch die Voraussicht traf ein, daß die Erfolge der Preußen
in Schleswig und die Anncxionswünschc, welche sich hier und da kund gaben, für
die Befreiung der Herzogthümer günstig wirken mußten, weil sie unserm Verbünde¬
ten Oestreich den Herzog, als das kleinere Uebel, annehmbar machten. , Es liegt
Humor darin, daß ein Satz der arnimschcn Adresse wesentlich dazu beigetragen
hat, die Herren von Nechberg und Viegclrbcn mit der Kandidatur des Angnsten-
burgers zu versöhnen. Denn daß diese Adresse, welche von dem größten Theil der
Konservativen mit lebhafter Freude begrüßt wurde und bei den liberalen Fractionen
viele Sympathien fand, dem Könige die warme Hilfe seines Volkes auch für den
Fall andeutete, wenn er die Herzogthümer durch Waffengewalt' für Preußen behaup¬
ten wollte, das machte nirgend in Europa mehr betroffen als in Wien. Ebenso¬
viel Antheil an der auffallenden Schwenkung des wiener Cabincres hatte zuverlässig
die Erfahrung, das; man sogar hinter Frankreich und England zurückgeblieben war,
deren Politiker die Personalunion als unmöglich erkannten. Oestreich stellte sich mit
einem ängstlichen Sprunge auf den Standpunkt, den König Wilhelm schon längst
in der Stille einzunehmen geneigt war, und den der behendere Ministerpräsident
von Preußen kurz zuvor öffentlich besetzt hatte.
Wir bedauern, daß Preußen nicht in der Lage war, die Herzogthümer sür sich
selbst behaupten zu können, aber wir sind ebenso innig überzeugt, daß seiue poli¬
tische Autorität in Europa gegenwärtig nicht ausreichte, diesen Erwerb sür sich
zu sichern.
Aber trotz den Erfolgen im Felde, und dem Nachdruck, welche sie den diplo¬
matischen Verhandlungen gaben, sind wir noch weit von einer befriedigenden Lö¬
sung entfernt. Und die letzte Schwierigkeit liegt nicht in dem bösen Willen der ver¬
mittelnden Mächte, sondern hauptsächlich in den ungenügenden Resultaten des
Feldzugs selbst.
Der Krieg ist nicht mit dem Nachdruck geführt worden, der einen großen Er¬
folg sicher stellt, und nirgend ist diese Unsicherheit und der Mangel an starker Kraft
mehr hervorgetreten, als an dem glorreichen Tage von Düppel. Daß man vor
Erstürmung der Schanzen einen abenteuerlichen Coup de main auf Athen nicht aus¬
geführt hat, war in der Ordnung, daß man sogleich nach dem Sturm versäumt
hatj nach Alsen überzugehen, und wenigstens einen Theil des gebrochenen dänischen
Heeres zu vernichten, war ein großes Unrecht, es nahm dem schönen Siege den be¬
sten Theil des politischen Erfolges. Jetzt steht die Sache so. Die Dänen beherrschen
die Ostsee bis an die preußischen Küsten. Und das gilt in der öffentlichen Meinung
Europas fast mehr als die Besetzung eines Theils von Jütland durch die Truppen
der Verbündeten. Sie besitzen noch Athen, Arröe und die friesischen Inseln, ihr
dcsorgnnisirtcs Heer ist in den Wochen der Waffenruhe ergänzt und befestigt, neue
Schanzen sind aufgeworfen, neues Kriegsmaterial erworben, die öffentliche Meinung
in Kopenhagen hat sich wieder verhärtet, die Existenz des neuen Königs hängt da-
von ab, daß er sich nicht nachgiebiger zeigt gegen die Feinde, als das Straßcnvolk
Sumer Residenz. Das Alles sind Thatsachen. welche zu dein Schluß nöthigen, daß
in der That, soweit die militärischen Erfolge und Verluste der Kriegführenden, die
Paragraphen des Friedens zu dictiren haben, die deutsche Sache noch gar nicht so
gut stehe, als sie stehen könnte. Und es nützt nichts, wenn man prenßischcrseits
erklären wollte, daß man jeden Tag Alsen und Fünen zu occupiren im Stande sei.
Man hat es eben nicht gethan, weder die Thatsachen noch ihre Folgen kamen uns
auf der Conferenz zu gut.
Nun ist allerdings trotz der ungenügenden Kraft der preußischen Marine und
der noch immer zweifelhaften Tüchtigkeit der östreichischen, das wirkliche Macht-
verhültniß der kriegführenden Staaten so ungleich, daß bei einer Fortsetzung des
Kampfes, wenn andere größere Mächte fern bleiben, ein günstiger Ausgang für
uns nicht zweifelhaft ist. Und diese Rücksicht sollte die dänische Regierung allerdings
zu Concessionen bestimmen, welche größer sind als die bisherigen militärischen Ein¬
bußen. Aber diese trübe Aussicht' in die Zukunft verhüllt sich Dänemark um so
leichter, als ihm die Neigung Englands, die Wärme Schwedens in Aussicht stellen,
daß der Krieg, wenn er fortgesetzt wird, größere Dimensionen annehmen wird.
Das Erscheinen einer englischen und französischen Flotte in der Ostsee würde aller¬
dings zunächst die Tendenz haben, das schwache Königthum von Kopenhagen vor
dem eigenen Pöbel der Hauptstadt zu schützen, aber es wird auch eine größere Er¬
regung der Volksstimmung in Deutschland und England zur Folge haben, es er¬
schwert dem englischem Ministerium, den, einfältigen Kriegsgeschrei im eigenen Lande
Widerstand zu leisten, in jedem Fall würde eine Fortsetzung des Krieges auch das
Bündniß zwischen Oestreich und Preußen auf neue Probe stellen, und es würde die
Besetzung von Alsen und Fünen einen größeren Kricgsernst, auch eine energischere
Benutzung der Streitkräfte fordern, als die Armecleituug bis jetzt aufzuwenden hatte.
Wir sind also nicht in der Lage, uus fröhlicher Siegeshoffnung zu überlassen.
Und es ist gar nicht abzusehen, wie bei diesem Stand der Dinge ohne neuen Kampf
das ganze Schleswig für uns gerettet werden soll.
Nun halten auch wir jede Abreißung eines Theils für ein Unglück; denn wir
haben die Hauptsache der ganzen Frage, das Recht der Herzogthümer auf ungetheilte
Zusammengehörigkeit in diesem Fall nicht durchgesetzt. Man möge doch in Frank¬
reich daran denken, daß der Schleswig-holsteinische Streit zwischen Deutschland und
Dänemark im letzten Grunde kein Kampf der Nationalitäten ist, sondern ein Kampf
zwischen historischem Recht und den mächtigen realen Interessen des Volkes, welche
sich aus diesem Rechte entwickelt haben, und zwischen einer einseitigen und eigen¬
süchtigen Vernichtung dieses Rechts und Schädigung dieser Interessen. Es fällt uns
nicht ein zu behaupten, daß die Majorität der Nordschlcswigcr Deutsche seien, und
deshalb zu uns gehören. Aber wir sind ja nicht über die Dänen hergefallen, ein
größeres Volk über ein kleines, nur weil sie die Deutschen in Schleswig in roher
und plumper Weise danisircn wollte», sondern weil sie Nord- wie Südschlcswig
widerrechtlich ans seiner Verbindung von dem deutschen Bundesland Holstein gelöst
baben, Wenn uns nun auch der Kampf deshalb theuer und eine Herzenssache ist,
weil wir durch Wahrung des alten verbrieften Rechtes von Schleswig auch zugleich
das nationale Leben der dortigen Deutschen retten, so haben doch, die Nordschles-
wiger ebensogut Anspruch auf unsere Hilfe als der deutsche Süden. Wenn sie
nämlich von uus vor einem Anschluß an Dänemark bewahrt sein wollen.
Und deshalb ist es mit der Demarcationslinie allein gar nicht gethan. Denn
offenbar haben die Nordschlcswigcr, weiche jenseits derselben liegen, auch das Recht
mitzusprechen, wohin sie gehören wollen. Wenn dort eine Majorität für den An¬
schluß an den Süden sein sollte, was wir nicht wissen, so sind wir gar nicht in
der Lage sie ausschließen zu dürfen. Und wenn Staatsraison und andere Motive,
welche nicht in die Rechtssphäre fallen, gegen den Wunsch der Nordschlcswiger die
Mächte der Conferenz veranlassen sollten, auf einer Demarcationslinie nach Natio¬
nalitäten zu bestehen, so müssen sie wenigstens nicht verkennen, daß sie der Be-
völkerung, welche sie den Dünen überliefern, Gewalt anthun/
Was nun die Demarcationslinie selbst betrifft, so ist fast unnütz jetzt darüber
Erörterungen anzustellen, denn die Wahrscheinlichkeit ist geschwunden, das; aus
Basis der gegenwärtigen militärischen Erfolge und politischen Sachlage das Friedens-
werk zu Stande kommen wird. Wir haben am 26. Juni den Ausbruch der Feind¬
seligkeiten zu erwarten. Doch glauben wir die öffentliche Meinung in Deutschland
nicht falsch zu verstehen, wenn wir die Forderungen, welche die Deutsche» erheben
müssen , wie folgt, ausdrücken:
1) Wir wissen sehr wohl, daß nördlich von der flensburger Bucht die deutsche
Nationalität in der Minderheit ist. Aber die Linie von Flensburg ohne Athen und
die friesischen Inseln ist aus militärischen Gründen eine nnannehmbare Grenze. Durch
unsere Waffenerfolge haben wir zuverlässig ein Recht auf die Gegend von Düppel
gewonnen, wir können nicht dulden, daß die Gräber unserer tapfern Soldaten
in Feindes Hand fallen. Deshalb ist es die Linie Apcnrade-Tondern, auf welcher
wir bestehen. Was im Süden dieser Linie liegt, halten wir fest, und wir hallen
eine Abstimmung der Bevölkerung in diesem Theil nicht einmal für nöthig, so sehr wir
mit dem Princip einverstanden sind, und wie wenig wir Grund haben einer solchen
Forderung zu widerstreben.
2) Dagegen fordern wir für den Theil, welcher nördlich von Apcnrade-Tondern
liegt, Abstimmung der Bevölkerung. Wollen diese Nordschlcswiger Dänen werden,
gut. Dann ziehen wir den Strich und sorgen im Friedensvertrag, daß die Dent-
schen im Norden wegen der Sympathien, welche sie jetzt mit der deutschen Sache
gezeigt haben, vor neuer Rohheit und vor Gcwaltigung geschützt werde». Will die
Majorität des Nordens den Anschluß an ihre Landesgcnossen im Süden, so wollen
wir ihr Recht vertheidigen mit unserer letzten Kraft.
Ein Frieden, welcher deutsch und dänisch redende Schleswiger im Norden von
Avenrade-Flensburg wider ihre» Willen, ohne daß sie gehört worden, den Dünen
ausliefert, würde die Schleswig-holsteinische Frage nicht definitiv lösen, sondern
aufs Neue verwirren, und sie würde, wie eine schlecht geheilte Wunde bei erster
Gelegenheit wieder aufbrechen. Denn auch im Norden dieser Linie wurzelt deutsches
Wesen zu tief, als daß es durch den fanatischen Eiser der Dänen ausgerottet werden
könnte. Die stille und unvertilgbare Agitation, welche durch die realen Interessen
der Bevölkerung hervorgebracht wird, würde in der gemischten Bevölkerung durch
die realen Interessen des Landes unaufhörlich gegen Dänemark arbeiten, immer
wieder die Ansprüche der Deutschen stacheln, immer wieder den Zorn und Fanatismus
der Dänen aufregen. — Es ist möglich, daß ein nördlicher Grenzstrieh Schleswigs
von dem Körper des Herzogthums getrennt, allmälig mit jüdischen und dänischen
Wesen zusammenwüchst. Dies, wir geben es zu, ist möglich, aber selbst dort nimmt
nicht nur die Einwanderung Deutscher, auch das Interesse an einer Verbindung
mit dem Süden alljährlich zu, je weiter die Cultur steigt, je größer die Abhängig¬
keit von den Capitalien des Südens wird. Bleibt aber die ganze Nordhälfte des
zerrissene» Herzogthums bei Dänemark, so werden nicht nur die Deutschen, die dort
fortan eine zahlreiche und erbitterte Minorität sind, anch die dünisch redenden
Schleswig» werden in eine Opposition gegen die kopenhagener Politik treten, welche
die alten Kämpfe in kleineren Maßstabe wiederhole» wird. Wir aber werden in
diesem Fall die Stunde erwarten, wo wir das ganze und volle Recht des Landes,
das uns jetzt durch den Zwang fremder Mächte verkürzt wird, in Anspruch »eb-
Men. Wir haben Eines in diesem Jahrhundert gelernt, und das ist uns zuweilen
von Fremden höhnend vorgeworfen worden: das Abwarten. Und die Deutschen
werden gegenüber Nordschleswig nicht lange diese Tugend zu^über haben. Denn
Dänemark selbst wird uns sehr bald Veranlassung geben, seine Politik unleidlich zu
finden, und die letzte Rechnung mit ihm abzuschließen.
Wir betrachten die Dänen keineswegs mit dem Hasse, den sie selbstmörderisch
ans uns verwenden. Im Gegentheil, wir haben lebhafte Anerkennung für ihre
Tüchtigkeit gehabt, und haben ihren alten Fehler, die Großmannssucht, mit ruhiger
Kälte ertragen, denn wir find gewöhnt, von .allem, was an unsern Grenzen unge¬
sund wird, gehaßt zu werden. Jetzt aber sehen wir mit einem pathologischen In¬
teresse, wie ein kleines Volk, das eine lange Geschichte, ein mannhaftes Wesen und
el» hvchgcsteigcrtes Selbstgefühl besitzt, an der Ungerechtigkeit, die es geübt, an den,
Haß und Zorn, den es sich selbst phantastisch genährt hat, zu Grunde geht. Die
scharfe Bitterkeit wird nicht nur das Slraßcnvvlk von Kopenhagen, auch die Ver¬
treter Dänemarks fortwährend zu unruhigen Krakelcrn Europas machen. Das lei¬
denschaftliche Abwehren aller deutschen Einwirkungen wird den Dänen in der näch¬
sten Generation nicht nur ihre Wissenschaft, die in engem Zusammenhange mit der
deutschen aufgeblüht ist, auch die kräftige Entwickelung ihres Handels und ihre
Fortschritte in Landwicthschaft und Industrie beschränken. Denn wie schwer das
Geständnis; einem Dänen wird, das Gedeihen des ganzem Gebiets ans dem Fest¬
lande hängt von den Deutschen ab. Wer sind die, welche sich dort ankaufen, Geld
und Capital, Intelligenz und Unternehmungslust bis über den Limfivrd hinaus-
tragen? Leidige Deutsche. Auch Jütland hangt bereits fester an dein Süden, als
an den dänischen Inseln, welche ihm von ihrer Kraft nichts abzugeben haben, nur
die seine in Anspruch nehmen. Wir gönnen den Dänen von Herzen alle Vor¬
theile, die sie aus unserer Nachbarschaft für ihr Volksthum ziehen können, und es
ist uns ganz recht, wenn Jütland und die Inseln in einem sündlichen und innige»
Verband der Interessen gegenüber Deutschland sich behaupten. Die Dänen aber
sind in der schlimmen Lage, daß ihnen auch das Gute und Verständige, das sie
durch uns erhallen, unerträglich wird, sie möchten deutsches Geld fernhalten, sich
durch Schlagväume gegen jede deutsche Waare schützen, ihre Haiden lieber in wüster
Uncultur, als von deutschen Ansiedlern bebaut sehen. Auch ihre tüchtigen Gelehrten,
die leider schlechte Politiker geworden sind, betrachten die deutsche Wissenschaft, durch
welche einzelne von ihnen groß geworden sind, bereits mit einem Widerwillen, der
ihnen unerträglich macht, ein deutsches Buch zu lesen. Die Folgen dieser Ma߬
losigkeit, welche chronisch geworden ist, werden nicht ausbleiben. Ohnmächtiger Grimm
und Haß macht nicht liebenswerth, er wird in diesem Fall auch ihre innern Zu¬
stände düster und unsicher erhallen; Verarmung Jütlands, Verbitterung der Par¬
teien, Verachtung der eigeuen Regierung, Uebermuth des Pöbels sind die nahe lie,
gente Folge. Und der krankhafte Zustand wird ihnen bleiben, so lange sie uns ge¬
genüber noch zur Feindschaft genöthigt sind durch einen Antheil an deutschen Lande-
durcy das Unrecht, welches sie den Deutschen darin zufügen müssen, durch die Herr¬
schaft über eine Provinz, welche ihnen innerlich fremd und von deutscher Kraft ab,
hängig ist, und immer abhängiger werden muß. Es mag ihnen vielleicht gelingen,
die nördlichsten Kirchspiele Schleswigs dänisch zu machen, das halbe Schleswig, wenn
nam eine unselige Thcilungslinic dies erhalten sollte, werden sie nicht danisircn,
und wir werden den Zwang, den Druck, die Gewaltthat, welche sie gegen den
Deutschen durin üben, auch in Zukunft uicht ruhig ansehen. Und deshalb bestehen
auch die Deutschen auf einer Erneuerung des Krieges, und wir sind bereit, alle
neuen Verwickelungen, die er herbeiführen kann, durchzumachen, wenn es nicht ge¬
lingt, jetzt mit Dänemark so abzurechnen, daß wir unser Recht und unsere
Interessen wenigstens für leidlich gewahrt halten dürfen.
Gestatten Sie, Herr Redacteur, daß Ihnen in folgendem Schriftstück ein
Beleg dafür mitgetheilt wird, wie planvoll seit Jahren die reaktionäre Partei
für Umgestaltung des preußischen Staatslebens gearbeitet hat. Das beifol¬
gende Memorial ist jetzt vor drei Jahren geschrieben. Es hat damals in den
hohen Kreisen, worin dasselbe circulirte, Aufnahme und Beachtung gefunden,
es ist seit dieser Zeit bedeutungsvoll geworden, weil entweder seine Einwir¬
kung oder der Zwang der Verhältnisse Stimmung und Tendenz genau aus den
Weg geführt hat, welchen das Schriftstück mit vielem Scharfsinn und zuver¬
lässig mit genauer Kenntniß der betreffenden Persönlichkeiten absteckt. Nach
mancher Richtung freilich ist das herrschende System bereits über die Resul¬
tate, welche die Denkschrift für wünschenswerth erachtet, hinausgekommen; An¬
deres ist noch als Wunsch und stille Forderung zurück.
Das Memorial ist schon früher vielfach von der Presse erwähnt und in
einzelnen Stellen ausgezogen worden, und die Oeffentlichkeit hat ein gewisses
Recht darauf. Da dem Einsender der oder die Verfasser gänzlich unbekannt
sind, darf er dasselbe wohl, wie es ihm ein Zufall in die Hände brachte, ohne
Verletzung irgendeiner persönlichen Rücksicht Ihnen zur Veröffentlichung ein¬
senden, zumal die Schrift in der Gegenwart nicht mehr als eine indivi¬
duelle Auffassung eines Einzelnen erscheint, sondern als Ausdruck einer wohl¬
durchdachten und consequenten Parteipolitik.
Es ist jetzt, wo Preußen in einer großen Frage beschäftigt ist, welche die
Kraft und die einmüthige Wirksamkeit aller Parteien in Anspruch nimmt, nicht
die Absicht, der preußischen Regierung innere Schwierigkeiten aufzuregen, und
diese Veröffentlichung soll zunächst dem historischen Interesse dienen.
In den letzten Monaten hat die Fraction der extremen Konservativen —
der Kreuzzeitung, welcher die Verfasser dieses Memorandums offenbar nicht
ganz angehören — ebenfalls ein Parteiprogramm entworfen und dem Ver¬
nehmen nach auch zukünftige Negierungseventualitäten ins Auge gefaßt. Es
wäre lehrreich, auch dieses Parteiprogramm kennen zu lernen. Das Programm
einer großen politischen Partei ist keine Pnvatangclegenhcit derselben, und wenn
sie dasselbe der Oeffentlichkeit entzieht, so berechtigt sie zu dem Verdacht, daß
dasselbe Sätze enthält, welche das öffentliche Urtheil und vielleicht noch andere
Autoritäten zu scheuen haben. Auch darin ist die Bildung und die Taktik der
Nationalpartei loyaler und klüger.
Das angeführte Schriftstück lautet folgendermaßen:
„Als das Einschreiten des Heeres der Anarchie, in welche die Monarchie
1848 gefallen war, ein Ende gemacht hatte, und die souveräne Gewalt wieder
in den Händen des Königs sich befestigt fand, stellte sich der Regierung die
Theilnahme des Landes an der Verwaltung desselben, die eben bereits vor dem
Einbrüche der Anarchie von 1848 durch die Constituirung des vereinigten Land¬
tages eingeräumt worden war, als eine der Hauptaufgaben der Krone dar.
Diese Regulirung konnte auf der Grundlage verschiedener Systeme erfolgen.
Entweder kehrte die Regierung zu dem Systeme der früheren deutschen Land¬
tage mit den Modifikationen zurück, welche das in dem letzten Jahrhunderte
so verstärkte Bürgerthum erheischte. Oder aber die Regierung eignete sich die
Berfassungsschablone an, die sich in Frankreich, wo selbige sich nicht schließlich
zu behaupten vermochte, von 1814 bis 1848 entwickelt hatte, und von dort
aus die von Frankreich beeinflußten Nachbarstaaten, von Spanien, Belgien u. f. w.
übergegangen war, und welche sich die sogenannte preußische Nationalver¬
sammlung durch eine fast wörtliche Copuung der belgischen Verfassung ange¬
eignet halte.
Die königliche Regierung entschloß sich für letzteren Weg. Einmal weil
sie, durch die wesentliche Annahme des BcrfassungsentwurfS der Nationalver¬
sammlung die Stimme des Landes mehr zu gewinnen hoffte. Dann aber (und
dieser Grund war wohl der vorwiegende) weil sie für ihre deutschen Unions-
pläne den Boden, durch die Berücksichtigung der Ideen, die in der Bewegung
von 1848 vorher geherrscht zu haben schienen, besser vorzubereiten glaubte.
Der radvwiysche Unionsplan zerfloß inzwischen wie ein Luftgebilde. und bei
näherer Prüfung erwies sich die parlamentarische Negierung, welche die octrvyirte
Verfassung von 18L0 im Endziele einführte, den preußischen Patrioten als
höchst bedenklich:
1) weil selbige, nach dem bekannten, gründlich motivirten Ausspruche
Friedrichs des Großen, als eine entschiedene Abschwächung der Militärmonar¬
chie, auf der die Zukunft Preußens als Großmacht beruhte, angesehen werden
mußte. Und dann
2) weil die Erfahrung gezeigt hatte, daß der Uebergang von der wesent¬
lich- monarchischen zur parlamentarischen Negierung im Fortlaufe der Ereignisse
stets von der Ersetzung der älteren und legitimen regierenden'Linie auf dem
Throne durch eine jüngere begleitet gewesen war, die sich leichter an die Auf-
gebung der souveränen Gewalt und deren Theilung mit dem Parlamente fügte.
Das künstliche Großmachtsgebäudc Preußens konnte aber die Erschütterungen,
die daraus hervorgehen mußten, nicht vertragen.
So entwickelte sich der Plan, von einer neuen Octroyirung Umgang zu
nehmen, und aus der Verfassung von 1850, unter Mitwirkung beeinflußter
Kammern, die bedenklichsten Punkte herauszubringen, und das Verfassungsgc-
bäude nach und nach auf ein System des altdeutschen Landtages, dessen Namen
vorerst wieder angenommen wurde, zurückzuführen.
Dieser Plan wurde von der königlichen Negierung bis zur Einsetzung der
Regentschaft befolgt. Dann trat eine Aenderung des Systems ein. Wesentliche
Anhänger der parlamentarischen Regierung wurden in den Rath der Krone be¬
rufen; die unter ihr?in Einflüsse geschehenden Neuwahlen des Abgeordneten¬
hauses stellten ein in der großen Mehrzahl seiner Mitglieder liberales Haus
her. Das geänderte System wurde mit dem Namen der „neuen Aera" belegt.
Diese hatte in der ersten Session des jetzigen Abgeordnetenhauses ihren
Honigmonat. Aber schon in der zweiten Session traten, bei Gelegenheit der
Armee-Neformfragc, auffallende, dem Staatswohle nicht zusagende Prätensionen
des Abgeordnetenhauses ans Licht, die sich in der jetzigen dritten Session, bei
Gelegenheit verschiedener die Kompetenz des Hauses überschreitender Fragen
noch steigerten. Es wurde klar, daß das Ministerium in dem Hause die Lei¬
tung völlig verloren hatte, die es nur durch Unterhandlungen und Transactio¬
nen auszuüben vermochte. Das Abgeordnetenhaus steuerte offenbar auf die
parlamentarische Regierung hin, mit der auch das Herrenhaus zu kokettiren ansing-
Man hat oben die gewichtigen Gründe angeführt, aus denen eine wirkliche
parlamentarische Regierung nicht für Preußen paßt; das Gewicht dieser Gründe
dürfte sich im Stillen bereits auch selbst denen, welche die neue Aera ein¬
weihten, aufgedrungen haben, und diese Männer bereits zur Erkenntniß ge¬
langt sein, daß die parlamentarischen Befugnisse, welche viae Uebelstand den
Landtagen der mittleren und kleinen deutschen Staaten eingeräumt werden
konnten, in der Verfassung eines Reichs, und vorzüglich eines künstlichen, nur
Verwirrung anzurichten geeignet sein dürfte».
Heute liegt es, bei der Haltung des Heeres und der Masse des Beamten-
thums, noch in der Hand der Krone, ob sie einen Theil ihrer Souveränetät in
die Hände des Abgeordnetenhauses übergehen lassen will, oder nicht? Sie
kann die parlamentarische Regierung noch abwenden, ohne einen Staatsstreich
zu vollziehen, oder wesentlich aus den Formen der Verfassung herauszutreten.
Was, bei der jetzigen Lage Europas, zu vermeiden sehr wünschenswert!) er¬
schiene. Noch kann die Regierung dieses Ziel erreichen, ohne tiefgreifende Er¬
schütterungen hervorzurufen, wenn sie. den Kammern gegenüber, ein festes
System consequent verfolgt und darauf Verzicht leistet, selbige vermittelst einer
Fülle von Concessionen und Manövern fügsam zu machen, wobei diese und ihr
Ziel, die parlamentarische Negierung, erfahrungsmäßig schließlich immer der
gewinnende Theil bleiben.
In einem solchen Systeme würde es die erste Sorge der Regierung sein,
die Armee und das Beamtenthum thunlichst dem Einflüsse des Landtags zu
entziehen, und vielmehr eine Eifersucht zwischen den beiden ersteren einerseits
und dem letzteren andrerseits zu nähren.
In Betreff der Armee würde dies leicht zu bewerkstelligen sein, und es
nur nothwendig werden, die activen und sonst noch von der Regierung abhän¬
gigen Offiziere vom Eintritt in den Landtag abzuhalten, dem aber alle finan¬
zielle, der Armee unangenehme Maßregeln, bei dieser, in Rechnung gesetzt
würden.
Mit den Beamten wäre ein ähnliches System wie in Betreff der Armee
zu befolgen. Durch alle der Regierung zu Gebote stehenden Mittel wären die
Beamten abzuhalten, sich in den Landtag wählen zu lassen, und diejenigen, die
es dennoch thäten, müßten die Folgen in ihnen versagter Beförderung oder Ge¬
haltsvermehrung und in starken Gehaltsabzügen für ihre Stellvertreter während
der Dauer der Landtagssitzungen empfinden. Könnte die Regierung eine, in
den meisten deutschen Landtagen Anwendung findende Bestimmung, daß die
Beamten eines Urlaubs zum Eintritts in den Landtag bedürften, vielleicht
durch den Antrag eines anscheinend liberalen und unabhängigen Abgeordneten
erreichen, so wäre in dieser Beziehung nichts zu verabsäumen. Die Regierung
gestattete demnächst nur einigen wenigen administrativen Capacitäten, von deren
politischen und monarchischen Grundsätzen sie ganz versichert wäre, den Ein¬
tritt in den Landtag, um als Führer, durch ihre überlegenen Kenntnisse, einen
Einfluß in den wichtigern Commissionen des Landtages auszuüben.
Nachdem der Landtag auf diese Weise von der Armee und dem Beamten-
thume thunlichst isolirt wäre, handelte es sich zunächst darum, seine Autorität
in der Bevölkerung überhaupt angemessen zu schwächen. Für diesen Zweck
blieben die Petitionen, die er bei der Negierung bevorwortete, möglichst unbe¬
rücksichtigt. Die Bevölkerung würde so bald fühlen, daß für die Erreichung
ihrer Wünsche die Protection der respectiven Verwaltungsbeamten weit wirk¬
samer als diejenige der Landtagsmitglieder wäre, und sich demnächst vorzugs¬
weise an die ersteren wenden. Die Verwendungen von Landtagsmitgliedern
für ihre Wahlbezirke und einzelne Angehörige derselben würden ebenso grund¬
sätzlich unbeachtet zu lassen sein, um zu verhindern, daß die Abgeordneten sich
gewissermaßen Wahlkreise gründeten.
Demnächst würde in der Presse die Richtung begünstigt werden, welche die
praktischen Leistungen des Landtags und selbst das persönliche Ansehen der be¬
sonders nach Popularität strebenden einzelnen Abgeordneten auf das richtige
Maß herabstimmte.
Eine weitere Maßregel dieses Planes wäre, daß die Regierung grundsatz¬
mäßig ihre Minister nie aus den Landtagsmitgliedcrn, sondern aus dem
Beamtenthume nähme und es vermiede, als Minister solche Männer zu wäh¬
len, die sich in das Kammerwesen gewissermaßen hineingelebt hätten, oder ent¬
schiedene Parteimänner gewesen wären, oder zu dem Systeme der parlamen¬
tarischen Regierung sich hinneigten, und in Versuchung gerathen könnten, durch
den Einfluß des Landtages sich von der Krone in ihren Plätzen gewissermaßen
unabhängig zu machen. Unter dem Vorwande, daß ihre Abwesenheit von ihren
Verwaltungsdepartements diese zu sehr benachtheiligen, enthielten sie sich regel¬
mäßig, in den Sitzungen des Landtags zu erscheinen, indem sie sich allmälig
durch ihre Commission mehr und mehr vertreten liehen. Sie vermieden es
zugleich thunlichst, sich in Nedekämpfe mit den Landtagsnütglicdern einzulassen,
und beschränkten sich auf möglichst kurze factische Darlegungen und Er¬
läuterungen.
Den Landtagsnütglicdern wäre natürlich die volle Redefreiheit nicht ab¬
zuschneiden. Sobald sie sich aber aus der Kompetenz des Landtags fremden
Feldern, wie auswärtige Politik u. s, w. ergingen, machten die Vertreter der
Regierung sie kurz darauf aufmerksam und vermieden dann systematisch, ihnen
dahin zu folgen und Erläuterungen zu geben.
Die Mitglieder des Landtags würden persönlich vom Hofe gut behandelt,
aber es grundsatzmäßig vermieden, in welchem Sinne sie sich auch aussprächen,
ihnen Gunstbezeugungen zu gewähren, und ihre Thätigkeit im Landtage zu
einer Leiter für Aufnahme in den Staatsdienst oder für Beförderung in die¬
sem werden zu lassen. Von Zeit zu Zeit und bei passenden Gelegenheiten
wäre den Landtagsmitgliedern indirect zu verstehen zu geben, daß die Fort¬
dauer des iandtäglichen Systems schließlich doch von dem guten Willen der
Krone abhängig bliebe und, mit Rücksicht ans das so künstliche Machtgebäude
Preußens, die Vollgcwalt der Souveränetät in den Händen des Königs blei¬
ben müsse.
Grundsatz wäre es dabei offene Reibungen mit dem Landtage zu ver¬
meiden, dagegen der Regierung nicht genehme Anträge des Landtags still¬
schweigend, außer in Finanzangelegenheiten, unbeachtet zu lassen. Ebenso
grundsätzlich ließe die Negierung dem Landtage unangenehm gewordene Minister
deshalb niemals fallen.
Würde der Landtag factiös und suchte durch Verweigerung der unerlä߬
lichen Geldbewilligungen die Negierung unter seinen Willen zu beugen, so zeigte
die Negierung äußerlich eine große Geduld, um ihn, dem Volke gegenüber, sich
in das Unrecht versetzen zu lassen, bevor die Negierung zur Auslösung des Ab¬
geordnetenhauses schritte. In den Wahlen verhielte sich die Regierung äußer¬
lich neutral und suchte dieselben nur thunlichst auf ruhige Männer zu leiten,
und dagegen Parteilcute und Heißsporne fernzuhalten. Es wäre dabei soviel
es möglich in der Bevölkerung der Eindruck zu verbreiten, daß die altpreußische
Sparsamkeit der Regierung dem Lande weit weniger Geldopfer als die neue
Kammerregierung aufgelegt habe.
Die Behandlung der Presse und die Bekämpfung der demokratischen Par¬
tei vermittelst derselben erforderten die besondere Beachtung der Regierung, die
für diesen Zweck einen sehr geschäftskundigen und festen Minister des Innern
zu wählen hätte. Wäre ein solcher gefunden, so ließe die Regierung das aus
dem allgemeinen Stimmrechte hervorgegangene Abgeordnetenhaus im Geheimen
und in der Presse angreifen, welche die Leistungen des Abgeordnetenhauses und
die Kosten, welche es verursachte, gegenüberstellte. Ganz unter der Hand suchte
man die Bezeichnung der Abgeordneten als „Drei Thaler-Männer" in Umlauf
zu setzen, um den moralischen Eindruck der Abgeordneten im Lande zu schwächen.
Das Herrenhaus ist bis jetzt in dieser Notiz nicht besonders erwähnt
worden. Die Regierung dürfte in ihrem Plane, die Ansprüche des Abgeord¬
netenhauses auf das richtige Maß zurückzuführen, zuerst auf die Unterstützung
des Herrenhauses rechnen können. Wäre aber dieses Ziel einmal erreicht, so
möchte das Herrenhaus, aus Gründen, die hier weiter auszuführen nicht nöthig
erscheint, die Krone in ihrem Gange nicht wesentlich hemmen können, da es
seine Hauptstütze nur in der Krone findet.
Wahrscheinlich würde der Hof, bei cousequenter Verfolgung des vorgezeich¬
neten Weges, bald sein Bestreben, den Landtag gehörig zu ncutralistren. mit
einem vollständigen Erfolge gekrönt sehen; vorausgesetzt daß er, ohne Rücksicht
auf Gunst und Partcimcinung, als Minister tüchtige Verwaltungsbeamte wählte,
und vorzüglich, wenn er die alte preußische Sparsamkeit wieder zu Ehren brächte
und es vermiede, den Maximen der Militärmonarchie diejenige der Palast-
mvnarchie zu substituiren.
Wo die Militarmonarchic in ihren Spitzen nicht erschlaffte, hat sie, wie
die Geschichte lehrt, in der Regel den Sieg über sogenannte Bolksstaaten davon¬
getragen. Die demokratischen Staaten Griechenlands, ohngeachtet ihrer Tri^
dumm und Demosthenesse, endigten damit, in die Hände der reinen macedoni-
schen Militarmonarchic zu fallen.
Warum England seine auf ganz eigenthümliche Verhältnisse aufgebaute
Verfassung allen andern Reichen eifrig empfiehlt, ist kein Geheimniß für die¬
jenigen, welche tiefer in die innern Falten der englischen Politik eingedrungen
sind. Sicher ist, daß England damit nicht wesentlich die politische und mili¬
tärische Stärkung jener Reiche beabsichtigt.
Geschrieben zu Berlin im Mai 1861."
Seit ihren ersten rohesten Anfängen hat die bildende Kunst so gut wie
die dichtende nächst der Versinnlichung des Göttlichen die Schilderung und Ver¬
herrlichung der Heldenthaten, des Kampfs und Siegs der Mächtigen und Krie¬
ger für ihre wesentlichste Aufgabe erkannt. Wie verschieden und mannigfach
wechselnd auch die Erscheinungsformen sein mochten, in welchen sich der gei¬
stige Lebensinhalt der Völker auf den sich folgenden Stufen ihrer Cultur¬
entwickelung ausprägte, so ist in dieser Richtung ihres künstlerischen Hanges
keine Aenderung eingetreten, seit den Tempel- und Palastbauten der alten
Aegypter und Assyrer, ihren Reliefbildern und Wandmalereien bis zu Leonardo
und Titian, und wieder seit dieser Zeit bis zur heutigen, zum Jahrhundert der
Photographie und der illustrirten Zeitungen. Verändert ist nur die Weise, in
welcher die gleiche, einem tiefen innern Bedürfniß entspringende Neigung ihren
Ausdruck sucht. Der jeder jugendlichen Kunst eigne Idealismus verläugnete
sich unter allen ihr als Aufgabe gebotenen Gegenständen am wenigsten den
Kämpfen und Schlachten gegenüber. Noch den großen Italienern des sechzehn¬
ten Jahrhunderts nach Christus kam es so wenig wie den ägyptischen Malern
des tausendsten und den griechischen des fünfhundertsten vor Christus, in den
Sinn, mit ihren derartigen Darstellungen Bilder der Wirklichkeit geben und den
realen Krieg etwa zum Zweck seiner bildlichen Schilderung als Augenzeuge stu-
diren zu wollen. Wo sie ihm und seinen großen und furchtbaren Scenen in
solcher Cigenschaft aus irgendeiner andern Nöthigung beizuwohnen veranlaßt
waren, sind ihre Interessen ganz anderer praktischer Art, sind die Ziele ihrer
Aufmerksamkeit nichts weniger als künstlerischer Natur gewesen. Leonardo war
in den Kämpfen Cesare Borgias als Ingenieur, Michelangelo bei der berühm¬
ten Vertheidigung der heimischen Republik als Oberaufseher und Leiter der
Befestigungsarbeiten und des Geschühwesens thätig, und Benvenuto ist auf den
Wällen Roms und den Zinnen der Engelsburg dem malerisch hinreißenden Schau¬
spiel der Bestürmung durch die bunten Schaaren des Cvnnetable gegenüber
einzig auf das gute Zielen mit Büchse und Karthaune gerichtet; — was ihn
freilich nicht hindert, wenigstens schriftstellerisch das charaktervollste, farben¬
prächtigste Bild von der dabei gesehenen Wirklichkeit zu entwerfen. Die Schlacht-'
darstellung machte nicht den mindesten Anspruch darauf, als Spiegelbild der
Wirklichkeit zu gelten; so wenig, daß sogar bei derartigen Bildern aus der
kriegsbewegten Gegenwart oder ganz naher Vergangenheit dem wirklichen Co-
stüm, den Waffen, der Erscheinung der Kämpfer ein ideales, willkürlich zurecht-
gemachtes Wesen supponirt wurde. So Leonardo in seiner Epoche machenden
Komposition des Reitergefechts aus der siegreichen Schlacht, welche die Floren¬
tiner bei Anghiari über das mailändische Heer des Filippo Maria von Vis¬
conti gewannen (1440); so Titian in seinem durch den Brand zerstörten Wand¬
bilde im großen, Saal des Dogenpalastes, jener Schlacht von Ghiradadda, von
dessen Composition eine uns erhaltne Skizze des Meisters noch eine Anschauung
giebt. In dem phantastischen Aufputz der Krieger bei Leonardo zumal ist kaum '
ein Rüstungsstück, das an die wirkliche Waffentracht des fünfzehnten Jahr¬
hunderts erinnerte, — doppelt ausfallend in einer Zeit und Kunst, welche es
liebte, alle andern, selbst die entlegensten, heiligen wie profanen Begebenheiten bei
der künstlerischen Darstellung in das eigenste Costüm der Gegenwart und des
Volkes selbst zu kleiden, welchem der Künstler angehörte.
Ganz im Gegensatz zu dem Italienern der Renaissance bringen die Deut¬
schen und Niederländer der gleichen Epoche auch auf diesem Gebiete der
kriegerischen Schilderung ihren Realismus bereits glänzend zur Geltung. Die
Zeichnungen des Maximilianzugs, des Wcißkunig und Theuerdank spiegeln das
Heerwesen der Landsknechte in allen seinen Details, spiegeln Kampf, Krieg,
Gefechtsweise im Ganzen der Anordnung, wie in den Specialicn der Waffen-
handtierung so geiht- und formgetreu wieder, wie Van Eycks wunderbare Attar-
tafcln von Gent die stahlglänzenden niederländisch-burgundischen Lanzenreiter
des Jahrhunderts zuvor. Niederländer und nächst ihnen Franzosen sind es
denn auch gewesen, die in einer etwas spätern geschichtlichen Periode, während
der endlosen Kriegszüge des siebzehnten Jahrhunderts die Heere ins Feld be¬
gleiteten, speciell zu dem Zweck, den Krieg als malerischen Gegenstand zu
studiren. Die Rugendas, die Huchtenburg, die van der Meuten, die Callot
haben von dem, was sie malten, wirklich etwas gesehen, sind „mit dabei ge¬
wesen", und wenn zumal der dritte der Genannten in der hofmalerischen
Schmeichelei gegen seinen auftraggebenden Helden Louis le Grand es oft ge¬
nug im Vorgrund, wo er ihn umgeben von seinen Paladinen auf bäumenden
Schlachtroß Paradiren läßt, mit der actenmäßigen Wahrheit nicht allzu genau
nahm, so möchte man auf solche bei den seine Vor- und Mittelgrunde ein¬
nehmenden Gefechts- und Belagerungsbildern schwören. Das Wesentliche
darin ist von der Natur selbst skizzirt und einem treuen Gedächtniß eingeprägt
und keinenfalls das Product einer es besser als die Wirklichkeit wissen wollen¬
den Phantasie.
Aber der Sinn der Menschen, und zumal der Großen dieser Epoche,
stand noch zu sehr unter der Macht und Einwirkung der classischen Tradi¬
tionen, der idealistischen Bildung der Renaissance, als daß ihnen mit solcher
nur wahrheitsgemäßen Vcrbildlichung ihrer kriegerischen Großthaten allein ge¬
dient gewesen wäre. Die rechte Genugthuung fanden sie doch nur, ihre Thaten
in den Kampfbildern jener Meister verherrlicht zu sehen, die „nicht dabei ge¬
wesen waren." Und mit solche» Gemälden, welche den ganzen wirklichen
kriegerischen Vorgang entweder in eine Zusammenstellung allegorischer Gestalten
auflösen, oder ihn Und seine Helden gleichsam in die verschönernde Maske
antiker Thaten und Heroen kleiden, bedeckten sich die Wände und Plafonds
ihrer Fürstenschlösser. Für diese letztere Art der idealen Phantasiescblacht bleibt
Rafaels Schlacht des Konstantin sort und fort Typus und Vorbild und hat
sich als solches, ausgerüstet mit der ganzen Autorität seines Autornamenö,
bis auf den heutigen Tag verhängnisvoll genug erwiesen für die ganze Ent¬
wicklung des kriegerischen Genres. Alle jene ungeheuerlichen Gruppirungen,
jene aus unmöglich bewegten Menschen- und Pferdeleibern zusammengeballten
Gestaltenklumpen, jene Stellungen von Todten und Verwundeten, jene souveräne
Gleichgültigkeit gegen die natürliche Möglichkeit, seinen Gegner mit solchen
Hieben und Stößen, wie sie in diesen Kämpfen geführt zu werden Pflegen,
überhaupt nur zu treffen, all diese Eigenschaften, welche der gewöhnlichen
Schlachtmalerei so durchweg gemeinsam waren und vielfach noch sind, lassen
sich auf jenes berühmte Muster zurückführen, in welchem sie, ohne der Ver¬
ehrung für Rafael zu nahe zu treten, vielfach mit Leichtigkeit nachzuweisen sind.
Lebrun. der allherrschendc Kunsttyrann und Hofmaler des großen Ludwig, hat
in seinen der Verherrlichung des letzteren geltenden Alexanderschlachtcn dieses
hohe Muster direct nachgeahmt und un grotesken Geschmack damaliger Kunst
durch Hinzuthun neuer Monstrositäten seine Ueberladung noch übcrgipfclt. Diese,
beiden Autoritäten^ Van der Meuten und Rafael-Lebrun, beherrschen die
ganze Schlachtmalerei des folgenden Jahrhunderts. Im Ganzen aber tritt
während desselben trotz seiner langen und blutigen Kriege das ganze Genre
auffällig zurück. Wir hören von keinem Künstler mehr, der eine der kämpfen¬
den Armeen zu Studienzwecken begleitet, und sehen noch weniger in den Bil¬
dern der Zeit, daß einer ihrer Urheber es gethan hätte. Gewinne die Dar¬
stellung des Kampfes im Hintergrund — den „ersten Plan" nimmt natürlich
immer der siegreiche Fürst oder Feldherr mit seinem Stäbe ein, — einen An¬
schein realistischen Charakters, so erkennt man bei einiger Prüfung leicht doch
nur die einfache Wiederholung van der meulenscher Vorbilder, aus welcher das
Verständniß mit der eignen Anschauung der originalen Wirklichkeit bereits ent¬
wichen ist. Weit häufiger aber ist, wo es sich um die Verherrlichung der
Schlachten und Siege der Zeit handelt, Lebruns allegorisirende oder in ein
Phantastisches Römerthum übersetzende Manier für die Künstler maßgebend.
Der große deutsche Realist in der Kunst des achtzehnten Jahrhunderts, der nie
genug zu schätzende Chodowiecki pflegt sich, wo ihm solche Aufträge werden,
in seinen Compositionen zwischen beiden Darstellungsweisen mitten durch zu win¬
den. Zeuge des wirtlichen Krieges ist er wohl nicht gewesen, doch scheint er
noch eins der Schlachtfelder des siebenjährigen Krieges mit eigenen Augen ge¬
sehen zu haben. Wenigstens findet sich in den kleinen Bildchen zu Basedows
Erziehungswerk die Darstellung eines solchen nach dem Kampf, in welcher eine
Menge nicht zu erfindender Motive von überraschender Naturwahrheit auf
eigne Anschauung der Wirklichkeit durch den Zeichner hindeuten.
Mit den großen französischen Revolutions-, Consulats- und Kaiserkriegen
nehmen die Künstler dieser Nation denn auch wieder die Aufgabe ihrer male¬
rischen Schilderung und Verherrlichung in die Hand. Schade nur, daß der
naive Blick ihres Malcrauges bereits in zarter Jugend durch die akademische
und später die davidsche Schuldressur so gründlich verwirrt und um seine Un¬
befangenheit gebracht war, daß er für die sich ihnen bietende reichste echt male¬
rische Erscheinungswelt alle natürliche Auffassungsgabe eingebüßt hatte. .So
half es ihnen wenig, wenn sie den Krieg von Angesicht zu Angesicht sahen:
sie brachten bereits ihr fertiges Kriegerideai mit und statt nach der von Freund
Merck dem jungen Goethe, als er ihn vor den Stolbergs warnte, so prächtig
präcisirtcn Weise des letztern, aus der Wirklichkeit deren eigenste Poesie und
Schönheit herauszuentwickcln, hervorblühen zu lassen, reckten und dehnten und
completirten sie die Natur vor ihnen, bis dieselbe auf das Maß ihres Ideals
paßte, über welcher Tortur sie dann freilich auch ihren ursprünglichen Geist
ausgehaucht hatte. So giebt es nicht ein Bild, nicht einen Stich aus jener
kriegerischen Epoche, dessen Gestalten uns eine nur annähernd treue Anschauung
des wirklichen Aussehens jener heroischen Besieger des coalirtcn Europa gäben,
und erst einem Künstler der vierziger Jahre, einem der größten Darsteller der
Wirklichkeit, den die moderne Kunst aufweist, dem herrlichen Raffel, war es
vorbehalten, mit dem wunderbar inspirirter Blick des Genies jenes Geschlecht
der großen Vergangenheit in voller Klarheit anzuschauen und es zu einer sol¬
chen Leibhaftigkeit wieder heraufzubeschwören, daß man das directe Abbild des
unmittelbar Gesehenen zu empfangen meint. Bei Gros, dem gefeierten offi-
ciellen Maler kaiserlicher Großthaten, bricht zuweilen wohl der gesunde Zug
seiner Künstlernatur mit naiver Großheit durch den Zwang der classischen
Disciplin, und läßt ihn seine Helden hier und da zum wirtlichen Bilde ihrer
Erscheinung gestalten. Im Allgemeine» aber schwellen auch bei ihm, wie bei
David, Girodet, G6rard und Tutiiquanti unter der Lederhose des französischen
Ehasscurs die Schenkel des Antinous und unter dem Collet jedes Offiziers die
Brustmuskeln des Discuswersers. Jenes wunderliche Heldengcschlecht, wie es
Goethe aus dem überwundenen Mainz unter den düstern Klängen des „Mar-
seiller Marsches" langsam herausziehen sah, für den reinlichen Blick des Goethe
der neunziger Jahre, der „lieber eine Ungerechtigkeit begehen, als eine Unord¬
nung dulden" mochte, unbequem und widerwärtig genug, und doch so unab-
weislich imponirend in seiner ernsten, und furchtbaren Größe, — jene Jäger zu
Pferde, „Männer in gewissen Jahren", einzeln „dem Don Quixote zu verglei¬
chen, in Massen doch so höchst ehrwürdig", sie, deren Anblick jedes unbefan¬
gene Malerauge mit Entzücken füllen müßte, haben unter ihren künstlerischen
Zeitgenossen auch nicht einen treuen Darsteller gefunden.
Aber zu einer Sammlung von Illustrationen haben die .Kaiserkriege Ver¬
anlassung gegeben, bei deren Entwerfen der Anblick der furchtbarsten Wahr¬
heit über jedes an die Wirklichkeit mit herangetragene künstlerische Vorurtheil
bald den vollen Sieg gewonnen hat. Nicht den glänzenden Siegesthaten
der großen Armee gilt diese grausige Verherrlichung, nicht auf den Sicgcszügcn
durch die niedergeworfene Welt ist diese merkwürdige künstlerische Blüthe er¬
wachsen, sondern auf den blutgetränkten Eisfeldern Rußlands, aus all dem
namenlosen Entsetzen des Rückzugs von 1812. Es ist jenes illustrirte Tage¬
buch, wie mau es nennen könnte, das der würtenbergische Hauptmann von
Faber, ein sehr geschickter Zeichner, der in der französischen Jnvasionsarmee
diente, während des ganzen Feldzugs geführt hat. Später ist es in getreu
den Charakter der Originalskizzen nachahmenden großen Steinzeicbnungcn er¬
schienen, aber seltsamerweise bei uns noch immer wenig gekannt. Mit schlichter,
schmuckloser Treue zeichnet dieser Offizier von Woche zu Woche, oft von Tag
zu Tag, alles nieder, was er auf jenem Zuge nach und ebenso auch von
Moskau an militärischen Scenen, an Episoden des Lagers, des Marsches, des
Schlachtfeldes, und dann des sich immer steigernden Grausens und haarsträu¬
benden Entsetzens gesehen hat. Er thut das mit einer fast unbegreiflichen küh¬
nen Objectivität. Die Skizzen sind so gänzlich naiv, er hat aus dem Gesehenen
so wenig noch etwas machen und arrangiren wollen, die aufgefaßten Züge
sind so gänzlich unersindbar, daß man sich gezwungen fühlt, sie als wirkliches
Bild der Wahrheit hinzunehmen. Bei den jede Vorstellung überbietendem,
wahnsinnigen Grauenscencn der letzten Nückzugswochen, während welcher das
Skizziren wohl zur praktischen Unmöglichkeit werden mußte, kann und muß man
einen so unauslöschlich tiefen Eindruck auf seine lebhafte und festhaltende Phan¬
tasie annehmen, daß er ihn auch nach erfolgter Rettung noch in voller Treue
zu skizziren vermochte.
Uns Deutschen ist es mit unsern neuen nationalen Heldenthaten und ihren
begeisterten Vollbringen: nicht anders ergangen als den Franzosen mit ihrer
Sieg- und Ruhmcszeit. Es hat mancher später berühmt gewordene Maler die
Schlachten der Freiheitskriege angeschlagen, aber kein einziger hat es nur ver¬
sucht, uns ein ihrer Wirklichkeit einigermaßen entsprechendes Bild von ihnen
und ihren Kämpfern zu geben. Auch sie stehen völlig unter der Macht der
davidschen classischen Lehre, und nicht ohne Lachen und Bedauern kann man
die Kriegs- und Kriegerbilder, wie sie jene Zeit erzeugte und wie sie z. B. im
vorigen Jubiläumsjahr der letztern wieder vielfach ans Tageslicht traten, heute
ansehen. Die antike Heroenstatue »der das akademische Muskclmodell mit
der damaligen Uniform der Alliirten bekleidet wirkt noch komischer, als in der
französischen Tracht des Consulats und des Kaiserreichs. Der Sieg der nord¬
deutschen romantischen Malerschule drängte indeß bei uns schnell genug dies
ganze Wesen in den Hintergrund und mit den als viel größere und erhabenere
Aufgaben gepriesenen, mittelalterlichen Schlachten, mit den Nibelungenkämpfen,
den alten, karolingischen und hohenstaufischen Kaisertriegen, wie man sie in
Düsseldorf und München zu malen begann, trat die absolute, nicht'einmal mehr
durch Concessionen an Schießpulver und Uniformen gemäßigte Herrschaft der
Constantinöschlacht über die Geister der componircnden Künstler wieder in ihr
ganzes und volles Recht.
I» gleicher Ausschließlichkeit erlangte sie es bei den Franzosen nicht wie¬
der. Deren malende Romantiker waren weit mehr Realisten und mit viel zu
starkem Nationalgefühl, mit viel zu lebhaftem vaterländischen Stolz ausgerüstet,
um sich so gänzlich in die Nebel der Ferne zu verlieren und der ruhmreichen
jüngsten Vergangenheit ihres Volks in ähnlicher Weise den Rücken zu kehren.
Ihr feindlicher Gegensatz aber gegen David und die Seinigen mußte sie noth¬
wendig bei der Behandlung modernkriegsgeschichtlicher Bildgegenständc zu einer
ganz entgegengesetzten Art ihrer Auffassung führen. Hocace Vernet ist hier
wohl als erster zu nennen, der Bilder von Schlachten und Kämpfen unter¬
nimmt, wie sie sich dem unbefangnen BUck des künstlerisch gebildeten Augen¬
zeugen darstellen. Seine unübertroffene „Barriürc von Clichy" im Luxembourg
ist in dieser Richtung epochemachend gewesen. Nicht unmittelbar gelang ihm
natürlich dieser Uebergang vom theatralischen Pathos seiner „klassischen" Vor¬
gänger zum natürlich-dramatischen seiner ihm später eigenthümlichen Richtung.
Noch in seinen Bildern aus den zwanziger Jahren spukt jener Geist wohl hin
und wieder. Als dem künstlerisch völlig gereiften Meister aber mit den algieri-
schen Ervbcrungstämpsen der Krieg wieder in seiner Wirklichkeit zur Anschauung
kommt, ist er mit einem Schlage auch von der letzten Erinnerung an die längst
abgeschüttelte und zerbrvchne Fessel befreit, seine Auffassung und Darstellung
der Schlacht- und Kampfscenen gewinnt plötzlich ihr ganz vom bisherigen
abweichendes persönliches Gepräge, und er wird der Vater, Meister und Muster
der modernen Kricgsillustration. Während Vernet zur Tafel für letztere von
Louis Philipp ganze Saalwandc des zum historischen Museum verwandelten
Köiugöschlosses zu Versailles angewiesen erhielt, aus welche er in rascher Folge
mit unerhörter Bravour die malerischen Schilderungen aller französischen Schlach¬
ten, Gefechte und kriegerischen Episoden der dreißiger und vierziger Jahre un¬
mittelbar nachdem sie geschlagen und geschehn, geistreich und in einer bis da¬
hin nicbt gesehenen unbefangnen ungeschminkten Natürlichkeit mit nie rastendem
Pinsel hinzeichnete, begleitete dieselben Heere auf ihren glücklichen und Unglück-
liehen Zügen noch ein andrer jüngerer Künstler, neben dem großen Kunstgcstirn
des Tages noch wenig genannt, Raffel, und studirte, mit der Kaltblütigkeit
des alten in Waffen ergrauten Soldaten im Kugelregen haltend, die künstlerische
Erscheinung des Kriegs an der ersten Quelle, um das Gesehene und skizzirte
dann auf kleinere Steinplatten lithographisch ausgeführt als anspruchslose flie¬
gende Blätter, Illustrationen zur Kriegsgeschichte der Gegenwart in aller Hände
gehn zu lassen. Kleine Bildchen freilich und nichts weniger als mit saubrer
Eleganz ausgeführt, aber wer die heut so selten und kostbar gewordenen zur
Hand nimmt (vor allem die zu den beiden Expeditionen gegen Konstantine)
wird sich von einem Schauer der furchtbar ernsten Wahrheit angeweht fühlen,
wie er nur von sehr Wenigen der vermischen Niesenbilder ausgeht, und er¬
griffen von einem darin niedergelegten Reichthum des tiefsten künstlerischen Wis¬
sens und reifsten Könnens, wie er es in vielen der gepnesensten Tafeln zeit¬
genössischer Meister vergebens suchen mag.
Seit diesen beiden Künstlern hat die Sitte, den Krieg im Kriege und
durch eigne Anschauung zu studiren, bei den Malern und Zeichnern eine bis
dahin nicht gekannte Verbreitung und Annahme gefunden. Sie ist bei Eng¬
ländern, Deutschen und Franzosen wesentlich durch die in jene Zeit, den An¬
fang der vierziger Jahre, fallende Begründung der großen illustrirten Journale,
bei der letztgenannten Nation noch durch die Existenz des versailler Museums
höchst gefördert und unterstützt worden. Die Photographie hat unsern Blick
verwöhnt, unsre Forderungen und Ansprüche an die Bilder wirklicher Ereignisse
gewandelt und gesteigert. Bei Schlachten und kriegerischen Scenen der Ver¬
gangenheit verstatten wir dem Künstler gern, ihr Bild freischöpferisch aus „der
Idee" zu gestalten. Wo es sich um die Kämpfe der Gegenwart handelt, ver¬
langt sein Publicum, daß er Augenzeuge gewesen, — oder uns dies wenigstens
glauben mache. Denn auf letzteres reducirt sich doch der Anspruch. So sehen
Wir während der letzten zwanzig Jahre überall, wo nur auf der Erde Kanonen¬
donner erdröhnt und Menschenblut dem unsterblichen Ares zum Opfer fließt,
den „Specialartisten" erscheinen. Die großen Schlachten sind ihm keineswegs
die Hauptsache: er weiß sehr wohl, daß er im Handgemenge so wenig sehn
als zeichnen kann; sieht doch jeder Mitkämpfer, wenn es der Pulverdampf über¬
haupt gestattet, nichts als die zunächst vor ihm stehenden Gegne-r oder zunächst
umgebenden Kameraden. Diese großen Actionen besorgen die zu Hause Ge¬
bliebenen besser nach der bekannten Schablone, die nur nach den Uniformen
der gerade Mitwirkenden und nach dem wechselnden Terrain der Schlachtfelder
die nöthigen Modificationen erfährt. Aber die tausend interessanten, immer
malerisch reizenden Scenen der Märsche, des Lagers, der Feldwächter; Ein¬
quartierung. Fvuragirung, Schlachtfelder nach der Schlacht und, erwünschter
als alles, eine längere Belagerung: — das ist sein Feld, da hält er seine
ichsten Ernten, da hört jede Concurrenz des daheim gebliebenen Kollegen auf,
d immer belohnt Theilnahme und Aufmerksamkeit, Bewunderung der künst¬
rischen und martialischen Eigenschaften seitens deS Publicums den Zeichner,
d eine stets wachsende Abonnentenzahl die Redaction. — Es liegt in der
atur der Verhältnisse, das, unter allen Specialartisten der Welt die ersten auf
in Platz und zwar aus jedem Platz des Erdballs, wo es galt, unmer die eng¬
chen waren. Wie die Correspondenten ihrer Nation, finden auch sie die Wege
erall weit offen und geebnet, kein Hauptquartier empfangt sie übel und mi߬
ig; prompt tragen die Schiffe ihres Paterlandes sie zu jedem noch so entlegnen
der Erde; mit sicherem Auge wis
t hat es mich mit wahrhaftem Schmerz durchzuckt, wenn ick, diese köstlichen
inen Kunstwerke, welche während des Krimkrieges, während des indischen,
inesischen, italienischen und amerikanischen fast jede Nummer der Jllustrated
ndon News massenhaft brachte, durch diese, ihre ephemere Bestimmung für
e Seiten eines Journals, dem allgemeinen Schicksal eines solchen auch mir
rfallen sah, Bilder, mit denen sich an Geist, Charakter und Lebensfrische
wenig unter den anspruchsvollen Producten der großen Malerei vergleichen
ßt. ,,'1'Kk var in Voltas.r1c", wie dasselbe Journal hartnäckig den jetzigen
leswig-holsteinischen Krieg betitelt, ist von seinen Zeichnern natürlich auch
"
cht unberücksichtigt gelassen. Bon „Our clmriölr artist scheint es sich indeß
ber bedienen zu lassen wie von seinem englischen College» „in lenz I'i'UWiau
''"
elrck-Humden«. Dem unterdrückten Schwagervolk wird auch hier ersicht¬
eine größere, liebevollere Aufmerksamkeit zugewandt als den gewaltthätigen
utschen Räubern und Einbrechern, deren Uniformen z. B, durchweg mit solcher
achlässigkeit und Gleichgiltigkeit gegen das wirkliche Aussehen behandelt sind,
ß darüber das Charakteristische in der Erscheinung deS preußischen Soldaten
t völlig verloren geht. In der Totalwirknng, im allgemeinen Aspect der dar¬
stellten Scenen sind dagegen auch diese Bilder vom preußischen Lager oft
nug ganz meisterhaft. Unter allen fiel mir? in einer der letzten Nummern
e Zeichnung aus, welche die Zählung und Sonderung der deutschen und
schen Leichen der beim düvpler Sturm Gefallenen darstellte: mit der höch¬
Kriege eine besondere künstlerische Beachtung zuzuwenden. Die Zeichnungen
aus ihren eigenen neuesten Feldzügen in der Illustration l^rris (welche
sich mit den bewundernswerthen für dasselbe Journal von Durand-Brager.
dem Maler und Marineoffizier gelieferten nicht entfernt vergleichen lassen),
haben meist geschickte Dilettanten unter den an ihnen activ theilnehmenden
Offizieren geliefert, wenn sie auch bei der Holzübertragung in Paris von guten
kundigen Zeichnern zuvor noch künstlerisch zurechtgestutzt sind. Die großen vor¬
jährigen Polenschlachteu waren Wohl reine Phantasiegebilde. Was jene Ofsi-
zicrsprvducte an letzterer Eigenschaft vermissen lassen, ersetzen sie wieder durch
große militärische Richtigkeit und Zuverlässigkeit in allen „Vucis" wie in den
dargestellten Bewegungen der Truppenkörper. Die eigentlich künstlerisch durch¬
gearbeitete Kriegsillustration findet in Versailles noch immer ein unendliches
Feld, sich in jedem Maßstab zu entfalten.
Die Deutschen haben sick auf diesem Gebiet gegen ihre ausländischen Ge¬
nossen lange im Nachtrab gehalten; ihre Situation war in jeder Hinsicht eine
weit ungünstigere. Es fehlte an den geeigneten und geneigten Künstlern,
an den Geldmitteln, an den Holzschneidern und — an der nationalen Antheil-
nahme ihres Publicums an Kriegen, die es nicht zunächst angingen. Der nun
in Schleswig durchgekämpfte sollte das gründlich ändern. Die illustrirten
Journale Deutschlands, in vorderster Reihe die wchersche Leipziger Jllustrirte Zei¬
tung, haben vom ersten Beginn dieses Kampfes an die größten Anstrengungen
gemacht, nicht hinter der hier gestellten großen Aufgabe zurückzubleiben. Ein
sehr origineller und für dies Fach wie kaum ein Anderer begabter Zeichner,
A. Beck. begleitete das Hauptquartier der Verbündeten in jenen Winterfeldzug.
Ausgerüstet mit dem schärfsten Blick für die Wirklichkeit, mit dem Talent, die
Bewegung von Menschen und Pferden im schnellsten Fluge zu erfassen, mit
einer gründlichen Kenntniß alles militärischen Wesens, die sich ebenso auf den
Sitz jedes Uniformknopfs, wie auf jedes Detail der Geschützlaffetirung und
Bespannung erstreck«, mit einer stets fertigen geschickten Hand, der Fähigkeit zur
Ertragung der schlimmsten Strapazen und der Kunst, jedem Hauptquartier ein
willkommener Gast, jedem Soldaten ein guter Kamerad zu sein, besitzt er alles,
was zu diesem eigenthümlichen Künstlcramt des „Spezialartisten" nothwendig
ist. Wie sehr er diese seine Gaben nutzbar zu machen wußte, hat er in der
langen Reihe der vortrefflichsten Zeichnungen vom Kriegsschauplatz bewiesen,
welche die Jllustrirte Zeitung seit Januar (er war bereits mit den Bundes¬
truppen in Holstein) von ihm gebracht hat. Wo es sich um die nackte fürch¬
terliche Wahrheit in der Wiedergabe der höchsten Schrecken des Kriegs, d. h.
winterlicher Schlachtfelder und erstarrter Leichenhaufen handelt, steht er hin¬
ter Faber nicht zurück. Das Bild der „Leichen im Spritzenhaus zu Bustorf"
wird jedem, .der es ge-sehen, in dieser Hinsicht unvergeßlich bleiben. Und in
den bewegten köstlichen kleinen Gefechtsscenen, den Reiterscharmützeln im Schnee-
sturm des Februar, den Necognoscirungen und Verwundetcntransportcn, vor
allem aber den Artillcrietrains, thut es ihm kein Engländer und Franzose
gleich. Neben den seinigen mit ihrer Präcision und charakteristischen Bestimmt¬
heit im Detail erblassen die besten englischen Kriegsillustrationen zu leeren
Allgemeinheiten. — Wenn Beck sich hauptsächlich den Oestreichevn anschloß,
so hielt sich der ihm später gefolgte berliner Schlachtenmaler Fr. Kaiser zu
seinen preußischen Compatrioten. Seine ganz trefflichen bisher eingesandten Zeich¬
nungen mit ihren kleinen lebensvollen Figürchen stehen in ihrer Art denen
Becks nicht nach. Was hat, wie wir da sehen, der Krieg aus dem preußischen
Soldaten gemacht! Wo ist die Parade- und ordonnanzmäßige „Proprete", wo
der „verschluckte Ladestock" geblieben. Ueppig wuchernde Bärte um Kinn und
Wangen in Potsdamer Gardelieutcnantsgesichtern, eine kleine Mütze in die
Stirn gedrückt, keine Epaulets, die Hosen in hohe Stiefel gesteckt, die Kapuze
im Nacken, den Haudegen an der Seite, den Revolver in der Faust, „bespritzt
mit jedes Bodens Unterschied", der zwischen Kiel und Alsen liegt! L'sse is,
^neu-i-ez — und die Maler danken es dem Kriege, daß er ihnen in solcher Art
das Material künftiger Bilder preußischer Ruhmesthaten präparirt hat, wie sie
es sich nicht besser wünschen und träumen könnten, und mögen nicht minder
auch dem tüchtigen treu auffassenden Zeichner danken, der es ihnen in dieser
Gestalt überlieferte.
Gegenwärtig ist L, Burger als dritter Zeichner der Jllustrirten in Jüt-
land, um eine, jedenfalls noch mannigfach interessante Nachlese zu halten.
Die Achillesferse freilich ist unsern deutschen Kriegsillustrationen immer
noch geblieben! das ist das ganze Marine- und Seewesen. In diesem Genre
erscheinen die englischen Zeichner wirklich wie Wesen einer höhern Gattung
gegen uns arme künstlerische Landratten, wenn auch noch so „tapprc Landsol-
daien". Vielleicht daß auch darin der jetzige Krieg fruchtreich für uns werden
und mit dem kieler Hafen uns eine anständige Flotte, mit dieser aber allmälig
auch tüchtige Marinezeichner und Seegefechtbilder bringen wird.
In den letzten Tagen sind in Berlin die an Ort und Stelle aufgenom¬
menen Photographien vom Kriegsschauplatz von Graf erschienen. An Prä¬
cision und Klarheit lassen sie nichts zu wünschen übrig. Sie geben die Loca-
litäten, die Soldaten und die Waffen in Ruhe mit einer natürlich von keiner
Zeichnung zu erreichenden Genauigkeit. Auch sie, wie jene Illustrationen, lie¬
fern unschätzbare Documente und Material für die höhere Kunst. Wie werden
die Vertreter des kriegerischen Elements in derselben , unser Menzel, Kamphau¬
sen, Bleibtreu das so sür sie Aufgehäufte zu verwenden wissen? Mögen sie sich
der neuen großen nationalen Stoffe würdig zeigen, daß die große Gcschichtsmalerei
nicht von der so viel anspruchs- und selbstloseren Illustration beschämt werde!
Einer der ersten Gedanken, die Preußen verfolgte, nachdem es für das
deutsche Interesse in den Ländern zwischen Elbe und Königsau das Schwert
gezogen, eine der verheißungsreichstcn Unternehmungen, die es dort ins Auge
faßte und bereits durch Voruntersuchung in Angriff nahm, ist die Anlage eines
für große Schiffe brauchbaren und daher auch Seekriegszwecken zu dienen ge¬
eigneten Kanals, der, quer über die cimbrische Halbinsel geführt, die Nordsee
mit einer der Buchten an der östlichen Küste Schleswig-Holsteins und so mit
dem ganzen weiten baltischen Wasserbecken verbinden würde.
Wie außerordentlich wichtig eine solche Anlage für die Entwicklung Deutsch¬
lands zu einer Seemacht ist, untersuchen wir für jetzt nicht ausführlich. Es
reicht vor der Hand hin, darauf hinzuweisen, daß der Kanal, wie ein Blick auf
die Karte schon dem Laien zeigt, in gehöriger Breite angelegt und an seinen
beiden Endpunkten befestigt, ein sicherer Kriegshafen von bester Lage und eine
unvergleichliche doppelte Ausfallspforte für die künftige deutsche Flotte werden
müßte, und dies, ohne der Nation auch nur den vierten Theil der Geldopfer
aufzuerlegen, welche allein Cherbourg von den Franzosen gefordert hat.
Auch über den etwaigen Lauf dieser neuen deutschen Wasserstraße zu spre¬
chen und Erörterungen anzustellen, ob und warum die eine oder die andere
der vorgeschlagenen Richtungen, eine südlichere oder eine nördlichere, den Vor¬
zug verdient, müssen wir, da diese Fragen von Fachmännern für Fachmänner
zu behandeln sind und überdies das nöthige Material noch nicht gesammelt ist,
hier unterlassen. Es genüge, in dieser Beziehung zu bemerken, daß man nach
den von preußischen Technikern angestellten Terrainbesichtigunge» wahrscheinlich
nicht die Linie Hoyer-Flensburg, noch weniger die zwischen Husum, Schleswig
und Eckernförde und ebensowenig die von Sturz in einer soeben erschienenen
Flugschrift*) empfohlene, die vom Ausfluß der Stör durch Südholstein nach
dem hamelsdvrser See und der lüvischeu Bucht geht, wählen, sondern t»e
Linie von der Elbmündung nach der eckcrnförder Bucht vorziehen wird. Gründe
dafür anzugeben, wird sich künftig Gelegenheit bieten.
Dagegen ist schon jetzt Zeit, auf die hohe Bedeutung aufmerksam zu machen,
die der projectirte norddeutsche Kanal für den Handel und Verkehr zunächst
Norddeutschlands selbst, dann ganz Europas und selbst Amerikas haben würde,
und zwar folgen wir hierbei den Andeutungen der erwähnten lesenswerthen
Schrift, deren Verfasser in dieser Beziehung keine Laie, sondern ein sehr be-
achtenswerther Sachkenner ist.
An keiner Stelle der Erde waltet ein so großes Bedürfniß nach einem
Durchstich ob, wie hier aus der cimbrischen Halbinsel, und an keiner würden
das Unternehmen die Umstände so sehr begünstigen. Der Umweg durch den
Sund, welchen große Schiffe jetzt machen müssen, wenn sie von der Nordsee¬
küste Deutschlands und Hollands nach der Ostsee oder umgekehrt von dieser
nach jener gelangen wollen, beträgt für Dampfer, die nicht zu laviren brauchen,
durchschnittlich 3S0, für Segelschiffe circa 800 Meilen englisch. Jene haben
einen Zeitverlust von zwei, diese einen von mindestens acht Tagen. Ferner
gehen an der flachen nordschleswigschcn und jütischen Küste und im Kattegat
in stürmischen Jahren eine große Anzahl von Fahrzeugen mit Hunderten von
Seeleuten und Waaren im Werthe von Millionen zu Grunde. Wird der Kanal
ausgeführt, so ermäßigen sich für die ihn passtrenden Schiffe Zinsen, Assccuranz-
prämic, Lohn und Beköstigung der Mannschaft und Abnutzung der Fahrzeuge
sowie des Inventars sehr wesentlich, und da die Zahl der Schiffe, welche
zwischen Nord- und Ostsee fahren, ungemein groß ist, so würde schon die Er-
sparniß an Zeit, die der Kanal schaffte, an Geldwerth vielen Millionen gleich¬
kommen. Während der in unsrer Breitenlage für den Seeverkehr verwendbaren
acht Monate des Jahres würden, wie Sturz auf Grund statistischer Notizen in
früher aufgetauchten Projecten behauptet, schon in den ersten Jahren nach Er¬
öffnung eines solchen Kanals jährlich an zwanzigtausend Schiffe den Durchgang
begehren, eine Zahl, die sich in einem Vierteljahrhundert verdoppeln könnte.
Der Kanal sollte wo möglich keine Schleuße» haben, da diese die noth¬
wendige Schnelligkeit des Verkehrs hemmen, also den Zeitgewinn mindern
würden. Er müßte einen Wasserspiegel von etwa 320 und eine Sohle von etwa
200 Fuß Breite haben, und seine Tiefe müßte mindestens 30 Fuß betragen.
Gleichzeitig mit dem Bau des Kanals würde aus Anlegung von Bassins,
Seidenhasen, Trockendocks, Steinkohlendepvts und großartigen Speichern für
den Bedarf und die Erzeugnisse der betheiligten Völker Bedacht zu nehmen sein.
Das Ein- und Ausladen müßte durch die Anwendung passender Maschinen und
durch zweckmäßige Baucinrichtungcn dermaßen erleichtert werden, daß Arbeiten,
die jetzt Tage erfordern, in ebensovielen Stunden abgethan sein könnten. Längs
der Magazinstraßc, die sich allmälig auf beiden Ufern des Kanals erheben
würde, müßte eine doppelte Eisenbahn für Passagiere und Frachtgüter hinführen,
außerdem aber unmittelbar am Wasser auf beiden Seiten eine Schlepp-Locomo-
tiv-Bahn zur Beförderung nicht nur der Segelschiffe, sondern auch der Dampfer,
welche letzteren auf diese Weise wohlfeiler, schneller und mit größerer Schonung
der Ufer durch den Kanal kommen würden, als wenn sie ihre eignen Maschinen
benutzten. Diese Eisenbahnen und ebenso was sonst sich dem neuen Wasser¬
wege anfügte, die Magazine, Docks und Kohlendepots wären am besten durch
besondere Compagnien, aber natürlich im EinVerständniß mit der Gesellschaft
auszuführen, welche mit dem Bau des Kanals betraut wäre.
Die Capitalien, welche allein durch diese Nebcnunternehmungen und durch
Gründung neuer Bevölkcningscentren, Westen, Fabriken u. s. w. angezogen
werden würden, und die Sturz schon für die ersten zehn Jahre auf mehr als
hundert Millionen Thaler veranschlagt, würden bei der sichern Aussicht auf
raschen und erheblichen Gewinn in Deutschland sehr schnell zum Vorschein kommen
und auch ausländisches Geld und mit ihm ein schwungvoller Unternehmungs¬
geist sich einstellen.
Dem großen Werke des Kanalbaues selbst, welches voraussichtlich zu seiner
Ausführung 70 bis 90 Millionen Thaler erfordern würde, dürfte die Gewähr¬
leistung des deutschen Bundes, besser die der Staaten des Zollvereins nicht
vorenthalten werden. Der Kanalbau-Gesellschaft und den besondern Associa¬
tionen zur Errichtung von Bassins, Docks, Lagerhäusern und Werften, ,Eisen
bahnen und Fabriken wären umfassende Concessionen und Expropriationsrechte
zu ertheilen. Der Kostenpunkt in Bezug auf den Kanal selbst kann keine
Schwierigkeiten bieten, da die den Zinsen des Anlagecapitals gleichkommende
Summe fast schon durch den Zeitverlust verschlungen wird, welchen der gegen¬
wärtige Umweg erfordert. Hierzu tritt aber noch, wie angedeutet, der Mehr¬
betrag der Seeversicherung und der Verlust an Schiffen und Ladungen, der
erwähnten Menschenopfer gar nicht noch einmal zu gedenken. Jede billig an¬
gesetzte Durchfahrtsabgabe wird daher bereitwillig entrichtet werden, und diese
Abgabe sichert dem angelegten Capitale nicht nur hohe Zinsen, sondern wirb
dasselbe sogar in nicht ferner Zeit reproduciren.
Von den Hansestädten und Mecklenburg würde Transitzoll zu verlangen
sein, falls der Zollverein die Bürgschaft für die Verzinsung des Capitals über-
nähme und die Mecklenburger, Hamburger, Bremer und Lübecker nicht vor
Eröffnung des Kanals dem Zollverein beigetreten sein sollten, der sich ja den
Grundsätzen der Handelsfreiheit immer mehr nähert. Fremde Kriegsschiffe wären
selbstverständlich von jeder Benutzung des Kanals auf immer auszuschließen.
Für alle Handelsschiffe und im Allgemeinen für alle Handelszwecke muß der
Kanal unter allen Umständen neutral bleiben, und zwar in dem Sinne, daß
die Schiffe und Waaren feindlicher Nationen im Kanal niemals mit Embargo
belegt oder confiscire werden können, sofern sie sich bei Ausbruch des Krieges
bereits dort befinden. Fremdes Gut. sofern es Privateigenthum ist, muß dort
ebenso unter dem Schutze deutschen Rechts und deutscher Kanonen stehen, wie
>
einheimisches. Ohne diese Gewähr würde der Kanal bei dem handeltreibenden
Theile vieler maritimer Völker nicht das Vertrauen finden, dessen er bedarf,
um eine Welthandelplätze zu werden. Mit dieser'Gewähr wird dort eine Lager¬
stätte für den Weltverkehr entstehen, und dort aufgespeicherte Waaren werden
auf die bloßen Empfangsscheine cvmpetenter Dockcompagnien auf den entfern¬
testen Märkten getauft werden, wie jetzt die in den Docks von London und
Liverpool lagernden Güter.
Die für das Capital der Kanalgcscllschaft zu gebenden Zinsgarantien
wären nur nominell, da das commerzielle Gelingen des Unternehmens keinerlei
Bedenken unterliegt. Die Bürgschaft wäre nur als Sicherheit für den Fall einer
Unterbrechung der Kanalschiffsahrt durch Krieg zu verlangen, und die betreffen¬
den Staaten wären dieselbe zu leisten schon deshalb verpflichtet, weil der Kanal
als trefflichster Kriegshafen für sie die höchste Bedeutung hätte. Zieht man
aber ein Staatsunternehmen vor, so können die Kosten, selbst wenn sie hundert
Millionen überstiegen, mit Leichtigkeit von den Zollvercinsstaaten, ja von
Preußen und Schleswig-Holstein allein aufgebracht werden, am einfachsten durch
Kanalobligativncn »ach dem Muster der Eiscnbahnanleihen, Es würde dies
die beliebteste Anleihe sein, die je in Deutschland gemacht worden.
„Selbst diejenigen unsrer Capitalien" — sagt Sturz mit Beziehung auf
die in den Börsenzeitungen zu findenden Course von hoindurgcr, wiesbadner
und einher Kursaal-Actien — „dürften sich bei näherer Betrachtung des Kanal-
Werts überzeugen, daß nationale Unternehmungen nicht blos ehrenvoller,
sondern mindestens ebenso vortheilhaft sind. Wir empfehlen ihnen das Beispiel
der Actionäre der hamburg-neuyvrter Dampferlinie, die 10 Procent halb¬
jährige Dividende zahlt und 802,000 Mark aus Reserveconto schreibt. Auch
der norddeutsche Lloyd hat im Jahre 1863 einen Ueberschuß von 230,557 Tha¬
lern gehabt."
Uebrigens versprach keiner der großartigen Kanäle in den Bereinigten
Staaten und in Kanada eine solche Einnahme, wie wir sie von unserm Unter¬
nehmen zu erwarten verechtigt sind, und doch wurden sie mit ungeheurem Auf-
wande ins Werk gesetzt. Ebensowenig wird der Panama- und Suez-Kanal
sich in dem Maße verzinsen, wie der hier in Rede stehende. So behauptet
wenigstens der Verfasser unsrer Schrift, und seine Gründe lassen sich hören.
„Das gewaltige russische Reich," sagt er, „das neuerdings in seiner noch
ungeschwächten Urkraft einen mächtigen Anlauf genommen hat, um mit seinen
siebzig Millionen in die Reihe der fortschreitenden Völker einzutreten, hat seine
Hauptküste am Gestade des Meeres, welches durch den deutschen Kanal in un¬
mittelbare Verbindung mit der Nordsee und dem atlantischen Ocean gelangen
soll. Was ist natürlicher, als daß die ungeheure Masse der Erzeugnisse Ru߬
lands, dessen Productionsfähigkeit noch gar nicht zu übersehen ist, nach diesem
Kanal strömen, daß sein im Entstehen begriffnes Eisenbahnnetz und Kanalsystem,
welches in nicht allzulanger Zeit einen großen Theil des Handels zwischen
Europa und Asien vermitteln muß, sich an der Ostsee concentriren und nach
dieser Richtung die innersten Landestheile dem Weltmarkt eröffnen wird?"
Dies ist keine Uebertreibung. Das Wasserstraßennetz des russischen Reiches
kann zunächst durch die vermittelst eines nur zehn Meilen langen Kanals zu
bewirkende Vereinigung des Dinestr mit der Weichsel ergänzt und so die Ostsee
mit dein schwarzen Meere verbunden werden. Bewerkstelligt aber später Ru߬
land noch die Verbindung des letzteren mit dem kaspischen und die des kas-
pischen mit dem Aralsee, so erhält es im südöstlichen Theile seines ausgedehnten
Gebiets ein Kanalsystem, dessen handelspolitische Bedeutung kaum hoch genug
anzuschlagen ist.
Und so hat der Verfasser sich in Betreff unsres Gegenstandes keinen über¬
schwenglichen Phantasien hingegeben, wenn er meint, daß der Handelsverkehr
von Nord- und Mittelrußland mit den atlantischen Gestaden und den wichtigsten
Küstenländern Amerikas künftig vorwiegend über die Ostsee und durch den pro-
jectirten Kanal gehen und daß dieser letztere in höherem Grade als der ägyp¬
tische ein weltverbindender werden wird.
An den Ufern des Kanals werden schon von seiner Eröffnung an Massen
von Erzeugnissen Rußlands lagern, da die Häfen dieses Reichs fünf Monate
des Jahres durch Eis verschlossen sind. Aber auch die fremden Producte, deren
die Bevölkerung desselben bedarf, müssen aus demselben Grunde daselbst aufge¬
stapelt werden. Man wird also in den Speichern am Kanal nicht allein die
Erzeugnisse des Nordens mit Einschluß Schwedens und Dänemarks finden,
nicht blos Rußlands Getreide, Flachs, Talg u. s. w., Schwedens Eisen und
Holz, Dänemarks Stall- und Feldprvducte, sondern auch den Zucker und Tabak
Westindiens, das Palmöl, die kostbaren Hölzer und die Drvguen Afrikas, das
Welschkorn, das Bergöl und die Baumwolle Amerikas, Chinas Thee, Bra¬
siliens Kaffee, Perus Guano, Frankreichs Weine und Mvdewaaren, Italiens
Oel und Schwefel, kurz alle Producte der Welt, die im Osten und Norden
Europas gebraucht werden, ohne daselbst zu wachsen.
Diese Lagerung von Gütern aus allen Himmelsstrichen, die Entnahme von
allerlei Schiffsbedürfnissen, Proviant, Wasser u. s. w., der Durchgang so vieler
Fahrzeuge, die mit der Zeit den in die Themse und den Mersey einlaufenden
an Zahl kaum nachstehen würden, selbst die häufigen durch Havarie nöthig
werdenden Ausbesserungen der von Süden, Westen und Osten kommenden
Schiffe, welche wegen des leichten Zugangs zu den Seitenbassins und wegen
der verhältnißmäßig wohlfeilen Herstellung der letzteren nirgends so zweckmäßig
und mit so geringen Kosten auszuführen sein würden — alles das muß die Ufer
des norddeutschen Kanals in nicht vielen Jahren zu einem Weltmarkt im aus-
gedehntesten Sinne des Wortes machen, Schleswig-Holstein aber zu einem der
reichsten, am dichtesten bevölkerten und lebensvollsten Länder des europäischen
Continents. Da bei der nicht sehr dichten Bevölkerung der transalbingischen
Herzogthümer Hunderttausende von Händen von auswärts, vom Süden, her¬
beigezogen werden müssen, sowohl zur Förderung des 'Kanalbaus, als um das,
was sich von Wersten, Lagerhäusern, Fabriken u. a. an ihn gliedern wird, so
werden ohne Zweifel Massen von Deutschen, die sich sonst zur Auswanderung
entschlossen hätten, es vorziehen, dort ihr Glück zu suchen, und so dem Vater¬
land erhalten bleiben. Der Werth des Grundes und Bodens wird sich ver-
doppeln, in unmittelbarer Nähe des Kanals verzehnfachen, Eckernförde oder die
Stadt, wo sonst etwa der Kanal mündet, aus einem stillen Landstädtchen zur
stolzen Großstadt erblühen, Schleswig, Rendsburg und Kiel fabrikreiche und
gewerbthätige Orte werden. Bis hoch in den Norden hinauf, bis zur deut¬
schen Grenze wird die Kraft, die der Kanal dem Lande mittheilen muß, ihre
segensreichen Wirkungen äußern, und es ist möglich, ja fast unausbleiblich, daß
diese Kraft dem Volke, welches diesen Kanal besitzt, auf dem Wege friedlicher
Eroberung im Lauf der Zeiten noch einmal die ganze cimbrische Halbinsel
gewinnt.
Und das ist noch bei Weitem nicht alles, was der große norddeutsche Ka¬
nal uns Deutschen in Aussicht stellt. Derselbe wird unsre Schifffahrt ganz
außerordentlich heben, uns bei Weitem mehr noch zu einem seefahrenden Volke
und damit zu einer Weltmacht werden lassen, als wir dies jetzt sind.
Im Jahre 1858 waren unter den 1440 Schiffen, welche in den dem frem¬
den Handel geöffneten Häfen Chinas sich befanden, 180 deutsche, also 12V-
Procent. Jetzt wird sich die Zahl der deutschen Schiffe, welche die Meere Ost¬
asiens befahren, auf nahe an 300 belaufen, und die alljährlich in die Hände
unsrer Rheder zurückfließenden Summen werden mindestens drei Millionen Tha¬
ler oder fünfzig Procent des Schiffswcrthes betragen. Aber zu Deutschlands
Kräftigung zur See trägt jene ferne Schifffahrt so gut wie nichts, zur Vermeh¬
rung seines Handels wenig bei. Alle diese Schiffe bleiben fast immer nur in
jenen Meeren, bis sie unbrauchbar werden oder verloren gehen, und kaum an¬
ders verhält sichs mit den dortigen deutschen Matrosen. Schiffe und Mann¬
schaften nützen so nur dem Auslande und vermehren nicht einmal den Absatz
deutscher Producte. Lediglich einzelne Geldmänner gewinnen dabei hohe Inter¬
essen auf Kosten des Lebens der durch ein stetes Verbleiben in heißer Zone
physisch und moralisch verderbenden und frühzeitig ins Grab sinkenden deut¬
schen Seeleute.
Um vieles wichtiger für die Entwickelung der deutschen Kauffahrtci-Schiff-
fahrt als die jetzige Frachtfahrt norddeutscher Schiffe in den ostasiatischen Meeren
ist, wie Sturz vor einiger Zeit in einer eignen Schrift überzeugend nachgewie-
fen hat, der Fischfang auf hoher See, und dieser muß durch Ausführung des
cimbrischen Kanals einen erheblichen Aufschwung gewinnen. Hundert Schiffe
auf Wallfisch- und Heringsfang ausgelaufen tragen mehr zur Heranbildung
eines kräftigen deutschen Matrosenvolks bei, als zehnmal so viele, die an den
Küsten von China und Indien fahren, um nie mehr zurückzukehren.
„Das Meer ist der große Turnierplatz der Nationen; auf ihm vor allem
stählt sich die Mannhaftigkeit eines Volkes. Wenn Deutschland seine bis jetzt
getheilten und gelähmten Seckräftc durch den Nord-Ostsee-Kanal vereinigt hat,
tritt es mit verdoppelter Stärke in die Arena."
Frankreichs und Englands Handelspolitik führten in China einen blutigen
Krieg, letzteres kämpfte auch in Mexiko, und diese Mächte thaten dies nicht,
um zu erobern, sondern um jene Länder ihrem Handel zu erschließen. Wir
dagegen haben uns bisher in gewissem Maße von unserm eignen Meere ab¬
schließen lassen, jenem Meere, welches selbst der Engländer im Angedenken an
unsre einstige Seetüchtigkeit noch heute das deutsche Meer nennt. Im Zoll¬
verein verstand man bisher unter Handelspolitik die '"-cschäftigung mit rein bin-
nenländischen und rein ökonomischen Fragen. Das wird anders werden und
bald: wir haben nur einige tausend Quadratruthen deutschen Landes in eine
für große Schiffe befahrbare Wasserfläche zu verwandeln und dadurch das Eins¬
werden unsrer Nord- und Ostsee-Gestade zu bewirken. Die deutsche Küste,
welche für den Riesenleib unsres Vaterlandes kaum ausreicht, wird um die
volle Länge des Kanals vergrößert, die Hafenfläche Norddeutschlands mehr als
verzehnfacht und aller Handel und Verkehr zur See verhältnißmäßig erweitert.
Und schließlich: ohne Seemacht keine Achtung gebietende Stellung gegen
das Ausland, und ohne eine von Dänemark und dessen Protectoren unabhän¬
gige Verbindung zwischen Nord- und Ostsee keine Seemacht! Preußen, mit den
Anfängen zu einer Seemacht versehe^, kann mit diesen dem Gesammtvaterland
wenig nützen, wenn es aus die Ostsee beschränkt bleibt. Es erkannte diesen
Uebelstand und erwarb einen Hafen an der Nordseeküste. Damit aber waren
die Hindernisse, die in der Trennung der beiden Wasserbecken lagen, nicht be¬
seitigt. Preuße» allein war, als der Krieg ausbrach, nicht im Stande, Deutsch¬
land zur See kräftig zu schützen, und es wäre dazu auch dann nicht befähigt
gewesen, wenn seine Flotte doppelt so stark gewesen wäre, wie jetzt; denn im-
mer hätte sich dieselbe in zwei Geschwader theilen müssen. Hätten die Mittel-
und Kleinstaaten Deutschlands sich bei dem Bau einer deutschen Flotte bethei-
ligt, so würde schon jetzt unsre Überlegenheit zur See von den Dänen gefühlt
worden sein, aber mit dem Kanal würde selbst eine sehr mäßige deutsche Flotte
den vereinigten Geschwadern der skandinavischen Völker die Spitze haben bie¬
ten können.
„Auf die östreichische Flotte," sagt der Verfasser, „wird Deutschland schon
aus dem Grunde nie rechnen können, weil Oestreich dieselbe stets zur Verthei¬
digung seiner eignen Küste bereithalten muß, nicht zu erwähnen der großen
Entfernung, die bei einem Kriege des deutschen Bundes mit einer der west¬
lichen Seemächte eine Vereinigung dieser Flotte, und wäre dieselbe auch weit
größer als sie jetzt ist, mit der des übrigen Deutschland ganz in Frage stellt."
Nur das durch den Kanal zu ermöglichende Zusammenwirken ganz Nord¬
deutschlands, der nordöstlichen und nordwestlichen Hälfte, nur die durch eine
Wasserstraße quer durch die cimbrische Halbinsel herzustellende Einheit unsrer
Küste kann unserm Vaterland die von ihm früher, in den glorreichen Tagen
der Hansa, besessene Macht zur See wiedergeben. Hierin liegt die nationale
Nothwendigkeit, hierin die hohe politische Bedeutung des Unternehmens, wel¬
ches jetzt in Schleswig-Holstein vorbereitet wird.
Hat Deutschland nur die soliden Anfänge zu einer Flotte, so kann es ihm
im Fall eines Seekriegs, der von jetzt an jeden Krieg zu Lande, in den wir
verwickelt werden, begleiten muß, an Verbündeten durchaus nicht fehlen. Dies
verbürgt die nie erlöschende Eifersucht der vier maritimen Großmächte England
Frankreich, Rusland und Amerika. Daß die Flotte der Vereinigten Staaten
uns niemals feindlich entgegentreten wird, ist sicher und zwar schon deshalb,
weil das amerikanische Volk hierzu schon jetzt zuviel deutsches Blut in seinen
Adern hat. Droht uns aber nach Herstellung unsrer Einheit zur See eine
Flotte von Osten, so können wir binnen vierundzwanzig Stunden durch den
Kanal die eignen Schiffsgcschwader aus der Nordsee in die Ostsee führen, und
die des Verbündeten würden auf demselben Wege nachfolgen. Droht der Krieg
von Westen her, so wäre das umgekehrte Manöver ebenso bequem auszuführen.
Dem Feinde und dessen etwaigen Bundesgenossen würden die gezogenen Ka¬
nonen der Kanalforts den Durchgang wehren. In jedem nord- oder westeuro¬
päischen Knegr würde daher die Allianz Deutschlands mit der einen oder der
andern Macht auch darum von der äußersten Wichtigkeit sein. Rußland aber,
welches durch den Gegensatz zum skandinavischen Norden, zumal wenn dieser
einmal durch Union oder sonst wie politisch Eins geworden ist, von der sichern
Benutzung des Sundes ausgeschlossen werden wird, müßte in Bezug auf den
atlantischen Ocean beinahe so abhängig von uns werden, als es jetzt in Be¬
treff des Mittelmeers von der Türkei abhängig ist.
Ueberblicken wir die Entwickelung der letzten Periode des deutsch-dänischen
Streits, so begegnen wir folgenden Stufen:
Erste Stufe: Die kriegführenden deutschen Mächte erstreben, wenn die
veröffentlichten Actenstücke wirklich ihre Meinung ausdrücken, wenn der eine der
betreffenden Minister nicht weiter sieht und mehr beabsichtigt, als er wissen
läßt, lediglich Erfüllung der Zusagen von 1851 und 1852, also den dänischen
Gesammtstaat nach deutscher Interpretation jener keineswegs unzweideutig
gefaßten Zusicherungen; sie wollen Selbständigkeit der von einander getrennten
Herzogtümer in der Verwaltung und Verfassung gegenüber dem Königreich, daher
Wiederaufhebung der factischen Inkorporation Schleswigs in das letztere, ferner
Gleichberechtigung Holsteins und Schleswigs mit Dänemark, endlich gerechte
Vertheilung der Beiträge zu den gesammtstaatlichen Ausgaben. Dänemark
weist dieses Verlangen zurück und appellirr an die Entscheidung der Waffen.
Auch das deutsche Volk steht in dem preußisch-östreichischen Ultimatum sein
Recht und Interesse nicht gewahrt, fordert vielmehr Wiedereinsetzung Schleswig-
Holsteins in den vorigen Stand, d. h. in sein durch die Abmachungen von
1851 und 1852 so wie durch das londoner Protokoll ausgestrichenes altes Neckt
und damit, da inzwischen der Mannsstamm ausgestorben, volle Trennung der
Herzogthümer von Dänemark.
Zweite Stufe: Beginn des Krieges, Niederlage der Dänen, Eroberung
der Herzogthümer. leider ohne Athen. Die kriegführenden deutschen Mächte
gehen einen Schritt weiter. Sie werfen das sibyllinische Buch mit ihrer Anerken¬
nung des Gesammtstaats ins Feuer, verlangen Zusammengehörigkeit der beiden
Herzogthümer und Trennung derselben vom Königreich bis auf den allen Thei¬
len gemeinsamen Fürsten, also bloße Personalunion. Wieder protestirt so¬
wohl Dänemark als die deutsche Nation, und auch die neutralen Mächte er¬
blicken hierin keine angemessene Lösung.
Dritte Stufe: Die kriegführenden deutschen Mächte entschließen sich,
das Princip der Integrität der dänischen Monarchie völlig aufzugeben. Auch
das sibyllinische Buch mit ihrer Gutheißung des londoner Protokolls wird ver¬
nichtet, und man fordert die Ausscheidung Schleswig-Holsteins unter
einem eignen Souverän. Preußen und Oestreich befinden sich hiermit im
Einklang mit dem deutschen Volke und, wie nicht zu bezweifeln, mit der großen
Mehrzahl der politisch zurechnungsfähigen Schleswig-Holsteiner. Die Dänen
weisen selbstverständlich diese Zumuthung zurück. Die neutralen Mächte be¬
quemen sich ihr theilweise ein, sie willigen in die Aufhebung des londoner
Protokolls und in die Theilung der dänischen Monarchie, aber nur unter der
Bedingung, daß die Deutschen in eine Theilung Schleswigs willigen, nach
welcher ihnen die kleinere Südhälfte, den Dänen die größere Nordhälfte des
Herzogthums'zugesprochen werden soll. Dänemark schließt sich dem nothgedrungen
an, auch die deutschen Großmächte gehen auf das Princip einer Theilung ein,
und so handelt sichs gegenwärtig, wie es scheint, nur noch um die Frage, nach
welchen Gesichtspunkten getheilt werden und wie viel von dem Herzogthum an
Deutschland, wie viel an Dänemark fallen soll. Die öffentliche Meinung in
Deutschland erklärt sich gegen solche Nachgiebigkeit, doch nur insofern, als sie
die etwaige Hingabe eines Theils von Schleswig mit dem Rechte Schleswig-
Holsteins und seines Fürsten dadurch in Einklang gebracht sehen will, daß man
nicht die in London versammelten Diplomaten darüber entscheiden läßt, sondern
die rechtlich allein dazu Befugten, Volk und Herzog in Schleswig-Holstein be¬
fragt, ob und wie getheilt werden soll..
Stellen wir uns auf den Standpunkt des abstracten Rechts, so leidet es
keinen Zweifel, daß dasselbe jede Theilung Schleswigs ohne Einwilligung des
Herzogs Friedrich und der Stände seines Landes ausschließt. Die Diplomaten
Europas haben ebensowenig die Befugniß, ein Stück der Herzogtümer ein den
nicht erbberechtigten dänischen König zu verschenken, als sie 18S2 die Befugniß
hatten, einem Nachfolger Friedrichs des Siebenten von der Weiberlinie das
Ganze zuzusprechen. In den Herzogthümern herrscht der Mannsstamm —
nicht blos bis zur Schlei und dem Dcmnewerk und ebensowenig blos bis zur
Linie Apenrade-Tondern. Es gilt, wenn wir den Rechtsstandpunkt festhalten,
nicht, einen neuen Staat zu schaffen, sondern einen bereits vorhandenen ein¬
fach anzuerkennen. Und soll das Landes- und Fürsteurecht Schleswig-Holsteins
nicht allein den Ausschlag geben, sollen bei der Entscheidung auch hier wie
sonst in Fragen der Politik andere Motive mitwirken, so tritt jenen alten Rech¬
ten zunächst das Recht des Siegers zur Seite. Dänemark ließ es auf die
Entscheidung der Waffen ankommen, und diese ist gegen seine Ansprüche aus¬
gefallen. Schleswig ist von der „Armee für Schleswig- Holstein" in dem ge¬
rechtesten aller Kriege erobert worden. Ob man dies von Anfang an be¬
absichtigt hat, ob die Redensart von der bloßen AbPfändung ernst gemeint war
oder nicht, ist jetzt gleichgiltig. Die Sieger können ihren Gewinn mit dem¬
selben, ja mit besserem Recht als 1859 Napoleon das östreichische Italien dem
König von Sardinien abtrat, dem Herzog Friedrich überlassen, und nur diesem
im Einvernehmen mit den Ständen und natürlich mit den Mächten, die seine
Sache geführt, namentlich mit Preußen, welches die größten Opfer für ihn ge-
bracht und die Hauptschlacht geschlagen*) nicht dem Besiegten und ebensowenig
den Neutralen steht es zu, die Friedensbedingungen zu sanctionircn.
Daß Opportunitätsgründe vorhanden sind, die davon absehen lassen könn¬
ten, und wie weit diese Gründe die Deutschen bestimmen dürften, Nechtsopfer
zu bringen, soll später zu zeigen versucht werden. Für jetzt nehmen wir einmal
den Fall an, die jetzige Conferenz oben eine spätere Vereinbarung gelangte
dahin, den Nechtsstandpunkt zu adoptiren und die Schleswig-Holsteiner selbst
hätten zu entscheiden, ob eine Abtretung zulässig sei — wie sollte und wie
würde aller Wahrscheinlichkeit nach ihr Spruch lauten?
Die Schleswig-Holsteiner wollen — das ist das A und O des Streites,
mindestens die Cardinalfrage — einen deutschen Staat bilden. Der Krieg
ist, gleichviel, ob dies von dem wiener Cabinet anerkannt worden, wo nicht
in erster, sicher doch in zweiter Linie ein Krieg für das Recht der Nationa¬
lität 'gewesen, das Nationalitätsprincip wird also auch bei dem Friedens¬
schluß eine hervorragende Rolle zu spielen haben. Das Recht des Herzogs
gewann ferner einen mächtigen Bundesgenossen und verdoppelte Bedeutung
dadurch, daß ihm der unzweideutige Wille des Volkes im Süden der Herzog¬
tümer zur Seite stand. Es wäre ohne diesen Willen ein Recht wie das
Recht der Bourbonen in Neapel, der Habsburger in Toscana gewesen, und
so wird auch der Wille der plattdänisch redenden Nordschleswiger zu berücksichtigen
sein. Wie man selbst nicht in einen dänischen Staat gezwungen sein wollte, so
darf man, wenn man gerecht sein will, auch nicht wieder wie die Advocatcn-
politik von 1848 verlangen, daß Dänen ungefragt sich in einen deutschen
Staat einfügen lassen sollen, wofern dies nicht ein ganz unabweisbares Be^
dürfniß erfordert. Endlich mag auch, versteht sich wieder nur, soweit die
Interessen des Landes und ganz Deutschlands nicht dawider sprechen, dem bis¬
herigen Feinde und zukünftigen Nachbar gegenüber Billigkeit zu üben schön
sein, so wenig auch die Dänen bis jetzt verdient haben, daß man nach Rück¬
sichten der Billigkeit mit ihnen verfährt.
In den vorhergehenden beiden Abschnitten unserer Erörterung fanden wir:
''
1) daß die Bewohner Schleswigs nördlich von der Linie Tondern-Flens-
burg in ihrer weit überwiegenden Majorität nach Sprache und Sitte den Dänen
viel näher stehen als den Deutschen, und
2) daß jedenfalls die Mehrzahl derjenigen unter ihnen, welche überhaupt
für politische Dinge Augen und Herzen haben, ja wahrscheinlich die Mehrzahl
aller Nordschleswiger überhaupt bei einer Befragung, ob das ganze Schles¬
wig-Holstein aus der dänischen Monarchie ausscheiden solle, mit Stein stimmen
würden.
Eine durchaus andere Frage wäre, ob diese Südjüten Nordschlcswigs für
steh allein den Eintritt in die dänische Monarchie begehren, ob sie von Süd¬
schleswig und Holstein getrennt sein wollen. Diese Frage würde ihnen unsrer
Meinung zufolge mit einer Aufklärung über ihre Tragweite vorzulegen sein,
und wenn wir der fernern Meinung sind, daß dann mit ziemlicher Sicherheit
zu erwarten wäre, die Majorität würde sich gegen eine Abtrennung vom Süden
aussprechen, so wäre auf diesem gerechtesten aller Wege zugleich das günstigste
aller Ergebnisse erreicht. Eine Einverleibung oder correcter ein Behalten dieses
Theils der Bevölkerung der Herzogtümer wider dessen Wunsch dagegen würde
den neuen Staat nicht stärken, sondern ihn fast in gleichem Grade schwächen,
als Dänemark durch seine Verbindung mit Schleswig-Holstein geschwächt
wurde.
Unsere Hoffnung, die Nordschleswiger würden sich gegen eine Theilung des
Herzogthums aussprechen, gründet sich nur in geringem Maße auf die Zeitungs¬
nachrichten, die in den letzten Wochen von dort eingetroffen sind. Auch in
dieser guten Sache geht es nicht ohne einigen Huinbug ab. und die Welt muß
bisweilen recht plumpe Lügen glauben"). Die Deputation aus dem „echt
deutschen" oder, wie andere Ethnographen wollen, „kerndeutschen" Hadersleben
vertritt nur die deutsche Partei der Stadt. Bon der Deputation aus dem
Sundewitt gilt Aehnliches. Die Versammlung auf Böghoved, zu welcher,
wenn sie überhaupt so zahlreich besucht war, als man liest, der Süden ein star¬
kes Contingent gestellt, und an der jedenfalls so ziemlich alles, was nörd¬
lich von Tondern-Flensburg Schleswig-holsteinisch denkt, theilgenommen haben
wird, drückt nicht den Willen NordschleswigS aus. Die Skamlingsbant' würde
sicher eine zahlreichere Versammlung Dänischgcsinnter sehen, wenn eine Gegen¬
demonstration jetzt gerathen wäre. Indeß mögen jene Kundgebungen immerhin
als Anfänge eines Umschwungs der Stimmung einigen Werth haben.
Unsre Hoffnung beruht darauf, daß man mehr als bisher darauf bedacht
sein wird, das bin allein Nützliche zu thun. Nicht Belehrung über staats¬
rechtliche Fragen, nicht Echauffement für den Herzog bedarf es. sondern man
sorge dafür, daß möglichst bald die Gesammtheit der Nordschleswiger wisse,
was ihre materiellen Interessen ihnen gebieten. Mit andern Worten,
es gilt, ihnen zu sagen, was eine quer über die Halbinsel gezogne Grenze für
diese Interessen zu bedeuten haben, daß eine solche Grenze, gleichviel wo ab¬
gesteckt, ihren Einnahmen schaden, wo nicht ihr wirthschaftlicher Ruin sein
würde, und daß daher ihr Verbleiben bei dem deutschen Theil der bisherigen
dänischen Monarchie, wenn es ihnen als ein Uebel erscheint, ein nothwendiges,
ihrer Kasse vorteilhaftes Uebel ist. Wie im zweiten dieser Artikel gezeigt ist.
verkaufen sie bei weitem das Meiste vom Ueberschuß ihrer Producte nach dem
Süden, zunächst nach Flensburg und den westlichen Städten, nicht nach dem
Norden und Osten, da Jütland und die Inselstifter wie Nordschleswig acker¬
bauende und vichzüchtenoe Länder sind, und eine Zolliinie, welche die Nord-
schleswiger von dem Süden des Herzogtums und von Holstein absperrte, würde
daher für jene ein ähnliches Unglück sein, wie die russische Zollgrenze für Posen
oder die Wiederaufrichtung der Zollschranken in Deutschland für die betreffen¬
den Staaten.
Schleswig-Holstein wird, so sage man den Südjüten Schleswigs weiter,
eine seiner ersten Sorgen sein lassen müssen, auf bessere Verkehrslinien, nament¬
lich auf eine den Interessen des Landes angemessenere Richtung der Eisenbahnen
bedacht zu sein; denn die setzigen sind mehr für den Vortheil Dänemarks als
für den der Herzogthümer angelegt. Der Verkehr der letzteren mit Deutschland
war durch sie weniger gefördert als der des Westens der dänischen Monarchie
mit dem Osten und der Kopenhagens mit England, und denkt man fortan, statt
wie seither mehr aus Bahnen von Osten nach Westen, mehr auf solche, die
von Süden nach Norden, von Hamburg nach Hadersleben und Tondern führen,
so wird dies den Werth der Arbeit und des Grundbesitzes in Nordschleswig
sehr bald in dem Maße steigern , daß man es allgemein empfindet.
Auch den unermeßlichen Umschwung aller Verhältnisse, den der projectirte
Nord-Ostsee-Kanal hervorrufen, den Wohlstand, den diese Welthandelsstraße
über die Herzogthümer verbreiten wird, und daß eine Trennung vom Süden
den Nordschleswigern die Aussicht nehmen würde, an diesem Gewinn Theil zu
haben. müßte betont werden.
Sodann würde mit Nutzen darauf hingewiesen werden können, daß
eine Trennung von Dänemark der ferneren Zurücksetzung gegen die Kopen-
hagner und der directen und indirecten Ausbeutung zu Gunsten dieser —
eine Zurücksetzung und Ausbeutung, die selbst von Jütland stark empfunden
und laut beklagt wird — ein Ende machen würde. Ferner würden die Schles¬
wiger im Norden darauf aufmerksam zu machen sein, daß die Steuerlast, die
su> in einem Staate Schleswig-Holstein zu tragen hätten, wahrscheinlich be¬
deutend geringer sein würde, als in Dänemark mit seinen durch den Krieg
angeschwollenen Staatsschulden, seinen wenigen Domänen und seiner Gro߬
mannssucht, die ihm auch ferner eine kostspielige Flotte zu halten gebieten
wird. Endlich würde eine geschickte Aufklärung über die friedlichen Beziehungen
des deutschen Bundes zu dem Padischah in Stambul und die friedfertige Natur
dieser Staatcngruppe überhaupt nicht übel angebracht sein.
Nach solcher Vorbereitung würde es nicht wahrscheinlich, wenn auch immerhin
noch möglich sein, daß die Nordschleswiger. wenn man ihnen das Selbstbestim¬
mungsrecht zugestünde, in ihrer Majorität sich nicht von ihrem Vortheil, sondern
von ihren politischen Sympathien mit Dänemark und ihrer Scheu vor den Türken¬
kriegen des deutschen Bundes leiten ließen, und daß sie demzufolge bei der Frage:
ob sckleswig-holsteinisch und deutsch oder dänisch? sich für die letztere Alter¬
native entschieden. Dann würde man sie ungern zwar, aber der Billigkeit ge¬
mäss, soweit das von ihnen bewohnte Land nicht von besonderem Werth für
Schleswig-Holstein und Deutschland wäre, abtrennen müssen. Blieben bei die¬
ser Theilung einige südlichere Striche — Sundewitt und Alsen z. B/—wider¬
willig bei Schleswig-Holstein, so gliche sich das theilweise damit aus, daß mit
den nördlichen Strichen dort angesiedelte Deutsche oder Deutschgesinnte (denen Am¬
nestie, freie Bewegung und Auswanderungsrecht zu stipuliren wären) an Däne¬
mark gelangten, und im Uebrigen spräche dafür das Recht der Eroberung,
welches auf diese Weise immer noch mit Mäßigung ausgeübt würde.
Geben wir uns aber keinen Illusionen hin. So wie im Vorigen an¬
genommen wurde,'haben sich die Dinge noch nicht gestaltet, und daß man die Frage
der Theilung Schleswigs den Schleswig-Holsteincrn zur Entscheidung überlassen
wird, ist. obwohl die letzten Monate in der Sache der Herzogthümer mancherlei
überraschende Wendungen gebracht haben, kaum zu erwarten, und zwar schon
deshalb nicht, weil Oestreich, so angenehm ihm auch ein nur halbdeutscher
Staat hier oben sein könnte, das Selbstbestimmungrecht der Völker nicht an¬
erkennen wird, und weil es andrerseits den Frieden zu sehnlich herbeiwünscht,
um für" das ungeschmälerte Recht des Herzogs Friedrich einen Krieg zu führen,
der wahrscheinlich ein allgemeiner werden würde.
Niemand kann diese Situation mehr beklagen als wir. Aber nehme man
die Dinge wie sie sind, nicht wie sie sein sollten. Der Krieg ist bis jetzt ein
Cabinetskrieg gewesen, kein Volkskrieg, oder dies doch nur insoweit, als die
beiden deutschen Großmächte ihn nicht unternommen hätten, wenn sie nicht
durch die tiefe Aufregung der Nation dazu gedrängt worden wären. Nur ein
Volkskrieg aber, womit wir selbstverständlich keinen Freischaarenlärm meinen,
nur ein Krieg, der von vornherein für das volle Recht und Interesse und
wie mit der vollen Beistimmung so auch mit der vollen Kraft der gesammten
511
deutschen Nation geführt worden wäre, hätte eine Lage schaffen können wie
die, welche wir im Obigen voraussetzen mußten. Ein solcher Krieg hätte ganz
Schleswig, auch Alsen, genommen, die deutschen Waffen nach Fühnen getragen,
den Neutralen imponirt, sich auf keine Eonferenzen eingelassen, und keinen euro¬
päischen Areopag als obersten Schiedsrichter über sein Ziel und seinen Gewinn
anerkannt.
Wie die Dinge liegen, ist der Krieg ebensosehr nach diplomatischen als
nach militärischen Rücksichten geführt worden, und in erster Hinsicht haben Däne¬
marks Hartnäckigkeit, Frankreichs für Deutschland günstige Haltung und die Eifer¬
sucht Oestreichs auf Preußen das Beste gethan. Die Eonferenzen sind beschickt, das
Einspruchsrecht der Neutralen ist anerkannt, dem feindlichen Sinne Englands
ist nicht hinreichend Respect eingeflößt. Die Cabinete werden nach ihren
Interessen verfahren und wir von Glück zu sagen haben, wenn sie dabei wenig¬
stens die Hauptinteressen Deutschlands in Schleswig wahren. Die Verhand¬
lungen in London tonnen, so scheint es noch immer, zu einem endgiltigen Er¬
gebniß gedeihen, ohne daß man das Recht ganz zur Geltung bringt und die
Berechtigten entscheiden läßt, was im Interesse des Friedens, aus Rücksichten
der Billigkeit u. s. w. davon abgetreten werden kann. Die Diplomaten werden,
wenn uns Dänemarks Trotz nicht wirklich noch zu einem neuen Kriege hilft,
und vielleicht auch dann noch, das Maß der Abtretungen bestimmen, nicht der
Volkswille. Die meiste Neigung, den Dänen und ihren englischen Advocaten
viel zu gewähren, wird von den deutschen Mächten das friedensbedürftige Oest¬
reich, die wenigste Preußen haben.
Wie man sich deutscherseits entscheiden, wofür man. wenn Rücksichten der
Opportunist nun einmal zu nehmen sind, auf alle Fälle unbedingt und ohne
einen Schritt zu weichen eintreten und, wenn es sein muß, weiter kämpfen
sollte, ist zunächst in unserm ersten Abschnitt angedeutet. Ganz Südschleswig,
d. h. die Theile des Herzogthums, welche schon die alle Einrichtung der Kirchen-
und Schulsprache sür deutsche erklärte, muß auf jede Gefahr hin uns ver¬
bleiben. Kein Dorf Angelus, kein Kirchspiel und keine Insel des Friesenlandcs
darf den Dänen ausgeliefert werden, ebensowenig das durchweg teutschgesinnte
Tondern und das zu zwei Dritteln seiner Einwohnerschaft deutschredende Flens-
burg, schließlich ebensowenig die südlich an die Kirchspiele Holebüll, Tinglev,
Buhrkall, Hostrup, Ahnt und Mögeltvndern angrenzenden Dörfergruppen der
Landcsmitte. Es wäre die höchste Mäßigung, nicht mehr zu fordern, die ver¬
werflichste Nachgiebigkeit, mit weniger vorlieb nehmen zu wollen. Es wäre
nur ein Waffenstillstand, es wäre Verewigung des Streites, wollte man auf
irgendeine Transaction eingehen, welche neben dem Rechte auch der Nationali¬
tät und dem entschiedenen Willen des in diesen Strichen wohnenden Volkes in
die Augen schlüge. Bis hierher ist SÄirs purasö die deutsche Ehre engagirt,
weiter hinauf handelt sichs nur um ein Recht, gegen das die Nationalität spre¬
chen kann, und in Betreff gewisser Punkte um das deutsche Interesse, von
dem wir zum Schluß ein Wort sagen wollen.
Das deutsche Interesse verlangt nicht, daß wir die Südjütcn Nordschles-
wigS in unsre Gemeinschaft aufnehmen, wir haben bereits fremde Elemente
mehr als gut ist, unter uns; w>r brauchen fein kleines Oestreich im Norden,
keine Verstärkung der specifischen Schleswig-Holsteincr. und es würde nutzloser
Uebermuth sein, dadurch, daß einer andern Nationalität Zwang angethan würde,
oder auch nur angethan zu werden schiene, einen Krieg heraufzubeschwören, wel¬
cher von da an sehr wahrscheinlich auch mit England zu führen sein würde.
Wohl aber kann das deutsche Interesse fordern, daß man einen Theil der
Eroberungen in Nordschleswig deswegen behält, weil man hier die besten Hä¬
fen für die künftige deutsche Flotte hat, und weit man eine passende militärische
Grenze braucht, acht gegen Dänemark, welches fortan vom Rang eines Mittel¬
stands zu dem eines Kleinstaats herabsteigen wird, sondern gegen ein ver¬
einigtes Skandinavien, welches mit einer andern Großmacht im Bunde uns
bedrohen kann. Und so fragt sichs, ob wir nicht den Hauptschauplatz der letz¬
ten Kämpfe, das Sundewitt und Alsen, für uns beanspruchen sollen.
Alsen besitzt in dem Höruphaff den besten aller Kriegshafen Schleswig-
Holsteins und einen der besten an der ganzen Ostsee. Der kielcr Hafen ist
lies, geräumig und durch seine gewundene Form ziemlich gut gegen unbequeme
Winde geschützt, aber nur mit großen Kosten zu befestigen, auch friert er ni
harten Wintern bis an feine Mündung zu. Letzteres gilt von der eckern-
fvrder Bucht nicht, dagegen liegt dieselbe dem Ostwind offen, und läßt sich
kaum genügend durch Batterien schützen. Größere Bordseite bietet die flens-
burger Föhrde, doch bedürfte man, um einen deutschen Kriegshafen aus ihr
zu machen, die östliche und nördliche Küste derselben, also das Sundewitt.
Hörup Kaff, eine Meile östlich von Sonderburg, verbindet große Tiefe mit
Geräumigkeit und Gelegenheit zur Anlage passender Vertheidigungsmittel, es
ist geschützt vor jedem Winde und friert selbst bei strenger Kälte nur am
Rande zu.
Der Besitz Athens ist ferner, so sagt man uns, militärisch wichtig für die
Behauptung der Herzogthümer; denn die Insel Alsen ist eine natürliche Fe¬
stung in der Flanke Schleswig-Holsteins, und wir geben das zu. wenn sichs
um ein Behalten des ganzen Festlands bis zur Koldinger und der Königsau
handelt.
Allein wir haben Alsen nicht erobert, und wenn wir es noch nehmen woll¬
ten, so würde — darauf kann schon das Stillstehen der Preußen nach dem
18. April hindeuten — gerade dieser Versuch England und vielleicht auch
andere Mächte gegen uns auftreten lassen, zunächst weil Alsen am meisten von
allen Theilen Schleswigs dänisch spricht und gesinnt ist, dann weil man uns
in England wohl eine Vergrößerung auf dem Festland, nicht aber auf den In¬
seln zuzugestehen bereit sein wird. Ob Preußen sich, getragen von der Be¬
geisterung der deutschen Nation, stark genug fühlen würde, die Insel auch gegen
Englands und Schwedens Einspruch zu nehmen und zu behaupten, wagen wir
nicht zu hoffen, obwohl wir meinen, daß es Ursache dazu hätte. Aber es ist
zu bezweifeln, daß der dann zu führende Krieg, der, wenn das volle Recht auf¬
gegeben wäre, ein großer Krieg um ein verhältnißmäßig kleines Object sein
würde, auf die rechte Wärme in der Nation zu rechnen hätte.
Weit wichtiger ist, daß wir die Halbinsel Sundcwitt behalten. Nicht
weil die Gräber der Helden dort sind, welche die Düppelschanzen erstürmten,
obwohl es ein schönes Gefühl sein mag, welches die Todten der Befreiungsarmee
auch in befreiter Erde liegen sehen will. Auch nicht wegen der Düppeistellung,
die ohne Athen für uns von geringen Werth und die überhaupt wie die Danne-
werkstellung nur eine dänische Position gegen Deutschland ist. Wohl aber
brauchen wir die Halbinsel zwischen der apenrader und der flensburgcr Föhrde,
wenn wir uns des Bestes der leereren mit ihrem trefflichen Hasen sicher fühlen
wollen. Kommen auf diese Weise einige tausend plattdänisch redende Nord«
Schleswiger gegen ihren Wunsch zu Deutschland — Sundcwitt oder die Nübel-
harde des Amts Sonderburg hat in seinen fünf Kirchspielen circa 9000 Ein¬
wohner — so gleicht sich dies, wie bemerkt, durch die Deutschen in den Aem¬
tern Hadersleben und Apcnrade, die nicht nur wider ihren Wunsch, sbndern
auch gegen ihr materielles Interesse an Dänemark falle», allein beinahe aus.
Eine gute militärische Grenze ist schon durch den Besitz Südschleswigs ge¬
wonnen, und ebenso würde Deutschland oder zunächst Preußen und Schleswig-
Holstein durch den projectirten Kanal zwischen Brunsbüttel und der cckern-
förder Bucht in letzterer oder vielmehr in dem angrenzenden windebycr Noor,
welches auszubaggern wäre, einen allen Ansprüchen genügenden Kriegshafen
erhalten.
Die Linie zwischen Tondern und der Wiedau einerseits und der flensburgcr
Föhrde andrerseits könnte allerdings nur von einer unverhältnismäßig großen
Armee vertheidigt werden. Wohl aber bietet sich bei Jdstedt eine sehr starke
Stellung, von welcher aus, wenn das deutsche Heer in ihr siegte, ohne Ver¬
zug der für den Augenblick einer etwaigen Uebermacht gegenüber geräumte
Theil Südschleswigs mit Einschluß Flensburgs wieder gewonnen werden könnte.
Die Stellung bei Jdstedt, nur mit der Front gegen Norden zu beziehen,
liegt drei Wegstunden nördlich von der Stadt Schleswig, hat eine Breite von
etwa anderthalb Meilen und wird durch den Langsee und den Ahrenholzsee ge¬
bildet, zwischen denen sich die Schleswig-flensburgcr Chaussee hindurchzieht.
Dieses Desilee bietet sich als Centrum dar, der linke Flügel hat die Treene
und ihre Sümpfe zur Deckung, der rechte gewinnt durch das Defilee des
missunde-flensburger Weges bei Wedelspang und eine morastige Niederung eine
sichere Anlehnung. Der Anmarsch des Feindes von Norden her hat durch Defileen
zu erfolgen, der Aufmarsch zum Angriff ist nur mit Schwierigkeiten zu be¬
werkstelligen. Wie stark die idstedtcr Position ist. hat die Schlacht bewiesen,
die 18S0 hier geliefert wurde, und in welcher 26,000 Schleswig-Holsteiner
36,000 Dänen geschlagen haben würden, ja schon geschlagen hatten, wenn
Willisen den Kampf nicht vor der Zeit abgebrochen hätte. Ein deutscher Gene¬
ral, der mit einem von Norden kommenden Gegner Krieg führt, wird daher,
selbst wenn er ebensowenig wie damals Willisen die Uebermacht für sich hat,
die Entscheidung bei Jdstedt suchen, und er wird dies mit Erfolg oder wenig¬
stens nicht mit der Gefahr einer schweren Niederlage thun, da er im Fall des
Mißlingens die feste Eiderstellung hinter sich hat, die wir uns als aus einem
erweiterten und verstärkten Rendsburg, aus einem wohlbefestigten Friedrichstadt
und aus einem bei Eckernförde an der östlichen Mündung des neuen Kanals
anzulegenden verschanzten Lager bestehend denken.
Zu einer erfolgreichen Vertheidigung ganz Schleswig-Holsteins ohne Alsen
gegen eine von andern Mächten unterstützte dänische Armee bedürften wir ohne
Zweifel noch einmal so viel an Truppen, als zum Schutz eines Schleswig-
Holstein, das bis zur Sprachgrenze und im Osten noch etwa bis zum apen-
radcr Busen reichte, und es ist die Frage, ob wir im Fall eines solchen großen
Krieges für diesen Zweck so viele Mannschaft entbehren können. Holstein
und Südschleswig können ohne zu große Anstrengung ein Heer von 15,000 Mann
und bei stärker angespannten Kräften das Doppelte stellen und unterhalten, wie
sie dies bereits gezeigt haben. Die übrigen norddeutschen Staaten brauchten
dann nur noch 30 bis 35,000 Mann zu senden; denn mit einem Heer von
50,000 Mann ist der neue Staat und mit ihm die Nordgrenze Deutschlands
unter den angegebnen Voraussetzungen gegen eine feindliche Armee von der
Stärke, wie sie sich in Jütland und Nordschleswig concentriren ließe, sehr wohl
zu halten.
Mit dieser Betrachtung glauben wir den Gegenstand hinreichend beleuchtet
zu haben. Daß wir dem Rechte in der Ueberzeugung, daß es nicht zum Zwange
für einen Theil der Schleswig-Holstcincr werden würde, den Sieg wünschen,
wird darnach niemand bezweifeln. Daß Gründe der Convenienz, ja des recht-
verstandnen deutschen Interesses davon für jetzt noch absehen lassen, scheint uns fast
sicher und dies auszusprechen, an der Zeit. Kann man uns in dieser oder
einer andern Hinsicht eines Bessern belehren, was in Betreff der Nationalitäts¬
verhältnisse Schleswigs nicht der Fall sein wird, so werden wir gern zuhören,
nur versuche man dies nicht mit den landläufigen Phrasen, deren wir gründ¬
lich überdrüssig sind, und mit denen man doch nur die große Masse verblendet.
Am liebsten würden wir uns von Preußen des Irrthums überführen lassen,
und mit freudiger Ueberraschung werden wir den Hut ziehen, wenn man hier
sich zu dem entschließt, was wir im Vorigen den Volkskrieg nannten.
Enthält zunächst das kleine „Memorial" des Nürnbergcrs Endres Tücher,
welches Mittheilungen aus den Jahren 1421 bis 1440 umfaßt, die nur Selbst-
erlebtes enthalten und die im ersten Bande abgedruckte Chronik aus König Sig-
munds Zeit vielfach ergänzen. Dann folgt die Beschreibung des Feldzugs. den die
Nürnberger im Winter 1444 in Gemeinschaft mit den Notcnburgcrn und den Wind-
hcimern gegen einige Raubritter im Bayreuthischen unternahmen, ein Bericht, der
von einem Augenzeugen (vielleicht dem Führer dieser Expedition, Erhard Schürstab)
verfaßt zu sein scheint und sich durch Lebendigkeit auszeichnet. Das dritte und
umfänglichste sowie das wichtigste Stück bezieht sich auf die große Fehde, welche die
Nürnberger in den Jahren 1449 und 1450 mit dem Markgrafen Albrecht Achilles
von Brandenburg auszufechten hatten, und zerfällt in den eigentlichen Kriegsbericht
und in sogenannte „Ordnungen", die eine zu Nutz und Frommen der Nach¬
kommen zusammengestellte Uebersicht über die während des Kriegs erlassenen Be¬
fehle und Maßregeln sowohl in Betreff der Ausrüstung des Heeres, als der Ver¬
theidigung und Verpflegung der Stadt, über den erlittenen Schaden, über die
begangnen Fehler u. s. w. enthalten. Dieses dritte Stück ist bereits von Baader
herausgegeben, hier aber durch werthvolle Beilagen, namentlich durch die vortreff¬
liche Darstellung der zwischen Albrecht und der Stadt Nürnberg geführten Kriegs¬
und Friedensunterhandlungen, die or. Friedrich v. Wenns geliefert, und durch
or. Th. v. Kerns Abhandlung über die Fürstenvartci im Städtekrieg erst in das
rechte Licht gestellt worden. Die genannte Fehde ist nur eine Episode jenes großen
Kampfes, in welchem um die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts Fürsten und Adel
auf der einen, das mächtig gewordene Bürgerthum der Städte auf der andern Seite,
ganz Süddeutschland, namentlich Franken und Schwaben, erschütternd und ver¬
heerend, auf einander stießen. Albrecht von Brandenburg-Anspach, der hervor-
ragendstc Staatsmann und Feldherr seiner Zeit, sah das Aufblühen Nürnbergs
mit Verdruß. Hcrrsehsüchtig, eine groß angelegte Natur, über den durch seine
Geburt ihm angewiesenen Wirkungskreis hinausstrebend, hatte er, nachdem sein Bruder
1448 die Macht der Stadt Berlin-Cöln gebrochen, dasselbe mit dem stolzen Patri'
ziat der großen fränkischen Reichsstadt im Sinn, und so wußte er Gelegenheit zu
Streit zu finden, der ihm an dieses Ziel verhelfen sollte. Indeß war Nürnberg
ihm doch zu mächtig, und nach allerlei Raubzügen und kleinen Gefechten, vou denen
das größte, die Schlacht bei Pillcnrcut, mit einer Niederlage Albrechts endigte, kam
es zu einem Waffenstillstand und um 27. April 1453 zu einem Vergleich zwischen
den Parteien, in welchem Nürnberg seine volle Selbständigkeit und im Wesentlichen
auch alles das behauptete, was Albrecht direct gefordert und bedroht hatte. Von
besonderem Interesse ist noch die vierte Beilage, eine Untersuchung des Herausgebers
der Städtcchrvnitcn, Professor Hegel, über Nürnbergs Bevölkerungszahl und Hand-
wcrkcrvcrhältnisse im 14. und 15. Jahrhundert. Man ist in der Regel geneigt,
sich die großen süddeutschen Städte jener Zeit als starkbevölkert vorzustellen. Dem
gegenüber wird hier nachgewiesen, daß Nürnberg im Zähre 1450 nicht viel über
20,000 Einwohner gehabt haben kann. Diese Zahl scheint mit den Bevölkerungs-
ziffern unserer großen Städte und mit der damaligen Bedeutung Nürnbergs ver¬
glichen, allerdings auffallend gering. Allein sie entsprach den BcvölkerungSvcrhält-
uissen der Zeit. Man drängte sich damals noch nicht in die Städte, und das Land
war stärker bewohnt wie heutzutage. Später, kurz vor dein dreißigjährigen Kriege,
hatte Nürnberg weit mehr, doch keinenfalls über 40,000, im Jahre 1806
zählte es nur 25,000 Einwohner; jetzt hat es deren mehr als dreimal so viel als
i» der Zeit der Fehde mit Albrecht Achilles.
- In dem ersten Abschnitt dieses Jahrgangs giebt Schnitzler in der Biographie
des Fürsten Andreas NasumowSki ein Bild a»S der Geschichte der russischen Diplo¬
matie, welches auch für die allgemeine Geschichte von nicht gewöhnlichem Interesse
ist. Im zweiten schildert Löser in lebendiger Sprache den Untergang der Bauern-
und Herrenfreihcit in Holland in dem Streite zwischen Jacobän van Bayern und
Philipp von Burgund. Als drittes Stück folgt ein Aufsatz von Jacob Falke über
die irrende Ritterschaft im Mittclnlier, der reich an schönem Detail ist. Dann be-
trachtet Chr. E. Lnngethal die Entwickelung der deutsche» Landwirthschaft in ihrer
Verbindung mit der allgemeinen Geschichte der letzten hundert Jahre. Ferner ent¬
hält der Jahrgang einen Vortrag des Herausgebers des Taschenbuchs über Sicilien
und Palermo, der namentlich die Geschichte Sicilicrs ins Ange faßt und bei dem
das milde Urtheil des Verfassers über die Königin ^arvline auffüllt. Den Schluß
macht ein Aufsatz E. Koloffs, der auf gute Studien gegründet eine lebensvolle und
instructive Darstellung des gesellige» Lebens vor und nach der Schreckenszeit in
Paris enthält.
Der erste Theil des Werkes hatte sich nach ein ein Ueberblick über die Musik der
Naturvölker, der Chinesen, Inder und Araber, welcher der Natur der Sache nach
weniger Geschichte als musikalische Ethnographie war, mit der Musik der antiken
Welt beschäftigt und hierbei, wenn auch nichts Vollkommenes, doch auf Grund
sorgfältiger Studien sehr Vcachtenswerthcs und Tüchtiges geleistet. Der zweite Band
(das Ganze soll sich in vier Bünden vollenden) der ebenfalls auf gründlicher Samm¬
lung von Material beruht und noch mehr Resultate eignen Schöpfers aus den
ersten Quellen bietet als der erste, führt uns zuvörderst in die erste» Zeiten der
neuen christlichen Welt und Kunst ein und schildert dann den gregorianischen Kirchen¬
gesang und seine Verbreitung, die nnter den Karolingern blühende Sängerschule
von Se. Gallen, Hucbald von Se. Amand und das Organum desselben sowie die
ersten Versuche einer Notenschrift, Dann folgt eine Untersuchung über Guido von
Arezzo und dessen Tonsystem, die Solinisativn, das Clavier, die Orgel und die
mystische Symbolik der Töne. Hierauf führt uns der Verfasser zu den Troubadours
und Minstrels der romanischen Völker und deren Instrumenten und zu den Minne-
und Meistersüngern, um sodann einen Blick auf das Volkslied zu thun, wie es sich
im Mittelalter und zu Anfang der neuen Zeit entwickelt halte. Im zweiten Buch
geht er sodann auf die Entwickelung des mehrstimmigen Gesangs über, Zuerst wird
der Discantus und Fauxbourdon in seiner Entstehung und seinem Wesen chnrak-
terisirt. dann die Mensuralmusik und der eigentliche Kontrapunkt, Hieran schließt
sich die erste niederländische Musikschule, H. de Zeelemdin, Dufay und seine Schule,
dann Antonius Vusnois und seine Nachfolger, endlich ein Blick ans den Stand der
Dinge in Deutschland und in Italien vor dem Auftreten des berühmten Meister
Johannes Okeghcm, der als Gründer der zweiten niederländischen Schule zu gelten
hat, und der ziemlich alle folgenden Tonsetzer als seine geistige Nachkommenschaft
in Anspruch nehmen darf. Alle Urtheile des Verfassers sind mit zahlreichen Bei¬
spielen, eingedruckten Bildern und Noten belegt, eine große Zahl falscher oder halb¬
wahrer Ansichten ist berichtigt, respective auf ihr rechtes Maß zurückgeführt, über
ganze Perioden erhalten wir neue Aufschlüsse, und so verdient das Unternehmen des
Verfassers auch in Bezug auf diesen neuen Band warme Empfehlung, die noch
wärmer sein dürfte, wenn der Stil, in dem das Werk geschrieben ist. nicht jener
gesucht geistreiche und mit Bildern» überladene wäre, welcher in Oestreich seit einigen
Jahrzehnten beliebt geworden ist. Der dritte Band soll die Zeit behandeln, wo der
aus dem gregorianischen Gesange hervorgegangene polyphone Tonsatz herrschte, die
klassische Zeit der Kirchenmusik von der Mitte des fünfzehnten bis zum Beginn des
siebzehnten Jahrhunderts, die mit Otegliem beginnt, und als deren Vollendung und
Abschluß Palestrina erscheint. Der vierte endlich wird die musikalische Renaissance,
die Entstehung der Monodie, der Oper, des modernen Tonsystcms und die Blüthc-
nnd Glanzzeit der weltlichen Musik darstellen, mit 1600 beginnen und bis aus die
Gegenwart führen.
Bildet den achten Band der „Staatengeschichte der neuesten Zeit und ist nach
Form und Inhalt wieder ein Werk, zu dessen Gewinn wir dem Verleger aufrichtig
Glück wünschen. Unbekannte Quellen haben dem Verfasser allerdings nicht zu Ge-
böte gestanden, die Archive sind eben selbstverständlich für die Beurtheilung der Men¬
schen, Ereignisse und Zustände der neuesten Zeit noch nicht geöffnet. Dagegen ist
alles bekannte Material, die Parlamentsacten und die politische Tagesliteratur, die
ziemlich zahlreichen Memoiren, Briefe und sonstigen Aufzeichnungen bedeutender eng¬
lischer Staatsmänner mit Sorgfalt, Umsicht und Geschick benutzt, und die persön¬
liche Anschauung des Verfassers von englischen Verhältnissen hat ebenfalls dazu bei¬
getragen, die Arbeit zu fördern und gelingen zu lassen. Die Gruppirung der
Ereignisse ist übersichtlich, die Darstellung der Ursachen, aus denen sie sich entwickel¬
ten, des Ganges, den diese Entwickelung nahm, durchaus klar und ebenso lebendig,
die Charakteristik der Parteien, der einzelnen Regenten, Minister, Volksführer u. s. w.
allenthalben wohlgelungen und in mehren Fällen von einer glänzenden Plastik.
Ueber Castlereaghs Charakter und Befähigung scheint uns der Verfasser etwas zu
günstig zu urtheilen. Vortrefflich dagegen sind die Bilder, die er uns von William
Pitt und Canning giebt, namentlich das von letzterem, serner die Porträts Georgs
des Dritten, seines erbärmlichen Nachfolgers, der Königin Caroline, Wellingtons,
Peels und O'Connells. Mit großer Klarheit ist die auswärtige Politik Englands
unter den verschiedenen Ministerien in ihren Ursachen und ihren einzelnen Phasen,
in Bezug auf die südeuropäischen Revolutionen, auf die Freiheitskämpfe in den spa¬
nischen Kolonien Südamerikas und die übrigen Ereignisse des ersten Viertels des
Jahrhunderts geschildert. Dasselbe Lob gilt von den Capiteln, welche die Entwicke¬
lung der inner» Fragen und der Parteikämpfe um dieselben in Volk und Parlament
verfolgen, unter Anderm von dem Abschnitt, welcher sich mit den Verlegenheiten der
ersten Jahre nach 1815 beschäftigt, dann von dem, welcher die ersten Bestrebungen
für Einführung frcihändlcrischcr Grundsätze darstellt, und von dem, der die irische
Frage und die Kämpfe behandelt, welche zur Emancipation der Katholiken führten.
Mit Geist endlich schildert das letzte Capitel des Bandes, die Culturzustände zu Ende
der zwanziger Jahre überblickend, die Wechselwirkung materieller und geistiger Momente,
welche für England die neueste Epoche heraufführten, die Einwirkung der Dampf¬
kraft und der Maschine, den Gegensatz zwischen gewerblicher und landwirthschaftlicher
Thätigkeit, den Volksunterricht, die Staatskirche und das Scktcnwescn, zuletzt Wissen¬
schaft, Kunst und schöne Literatur. Mit lebhaftem Verlangen fehen wir der Fort¬
setzung des Werkes entgegen, möge sie uns nicht zu lange auf sich warten lassen.
Erzählt in Populärer Sprache zunächst die Ereignisse in Frankreich von der
Februarrevolution bis zum Anfang der Präsident»! Napoleons, dann die Vorgänge
in Deutschland während des Jahres 1848. Daraus folgt die italienische Revolution
bis zum Wiedcreinzug des Papstes in Rom im April 1850, hieraus der Kampf Un¬
garns mit Oestreich, dann Napoleons Gclangung zum Kaiserthron. Ein ferneres
Capitel behandelt die deutsche Geschichte vom frankfurter Septembcraufstand bis
zur Wiederherstellung des Bundestags, ein nächstes den Krimkrieg, das folgende
Deutschland bis zur neuen Aera in Preußen, das letzte endlich den italienischen
Krieg von 1859. Der politische Standpunkt des Verfassers ist im Wesentlichen der
d. Bl. Die Darstellung ist lebendig, concis und übersichtlich.
In Betreff der älteren Geschichte ein gutes populäres Lesebuch für den kleinen Mann
und die Schuljugend. Auf das Gebiet der neuesten Ereignisse dagegen hätte sich
der Verfasser nicht begeben sollen! denn hier hat er seinen Lesern nicht viel mehr
zu bieten als Bilder der Menschen und Ereignisse, wie sie sich in der Seele eines
wohlmeinenden Kleinstädters aus Zeitungen abspiegeln, und es klingt vielleicht in
gewissen Kreisen patriotisch, aber doch gar zu naiv für Andere, wenn es S. 236
von Friedrich Wilhelm dem Vierten heißt:, „Er hat Preußen auf die höchste Stufe
wohlgeordneter bürgerlicher und religiöser Freiheit erhoben", und wenn dies gleich
darauf mit der Gründung des Bisthums Jerusalem, der Förderung der innern
Mission, der Wiederherstellung des Johanniterordens und der Theilnahme des Königs
an den Bestrebungen des Kirchentags motivirt wird.
Gute Uebersicht über die Ereignisse der Zeit zwischen Eavour und Natazzi,
soweit sich eine solche ohne Einblick in die geheimen Acten aus Zeitungen. Flug¬
schriften und einiger persönlicher Anschauung gewinnen läßt und soweit die mazzini-
stische Partcibrille, die der Verfasser auch hier trägt, ihm die Menschen und Dinge
nicht in einer falschen Beleuchtung sehen läßt, was beiläufig in diesem Abschnitt
etwas seltener der Fall ist, als im ersten Buch. Besonders instructiv sind - das Ca¬
pitel über die finanziellen Fragen und die Fünfhundert-Millionen-Anleihe, das über
die italienischen Eisenbahnen und das über den öffentlichen Unterricht. Ferner der
Abschnitt über Italiens günstige Lage in Bezug aus Beschaffung einer tüchtigen Ma¬
rine, dann die Fortsetzung der Geschichte des Vrigantenwescns im Neapolitanischen,
die eine große Anzahl wenig bekannter Einzelnheiten enthält. Schließlich machen
wir noch auf die vielfach interessante Darstellung aufmerksam, welche die Entwicke¬
lung der römischen Frage unter Nicasoli und dessen Ideen in Betreff der Lösung
derselben im neunten Capitel gefunden hat.
Der Herausgeber, selbst ein alter Kriegsmann von der deutschen Legion in bri¬
tischen Diensten, giebt hier eine Anzahl mehr oder minder interessanter Auszüge aus
Aufzeichnungen von Offizieren dieser Truppe und des englisch-braunschweigischen
Corps über die Kämpfe, an denen diese Herren theilnahmen, verbindet diese zu
fortlaufenden Berichten über einzelne Hauptereignisse und begleitet sie mit allerlei
Personalnotizen. Der erste Abschnitt umsaßt Tagcbuchsblätter und mündliche Mit¬
theilungen des Obersten v. Hesse über seinen Eintritt in den englischen Dienst,
seinen Antheil an der Belagerung von Kopenhagen und seinen Erlebnissen und
Beobachtungen während der Feldzüge in Portugal und Spanien, der Schlachten
bei Talavcra, Busaco und Fuentes de Ouoro u. d. in. Der zweite enthält die Auf¬
zeichnungen des Generals v. Brandes über seine Betheiligung an dem spanischen
Kriege und bietet mancherlei Interessantes namentlich über die Kämpfe bei Ciudad
Rodrigo, Salamanca und Burgos, den Rückzug von dort und die Schlacht bei
Waterloo. Von besondern, Interesse ist der Abschnitt des vierten Capitels, welcher
nach verschiedenen Quellen den Sturm von Badajoz schildert. Daun folgen Aus¬
züge aus den hinterlassenen Papieren des Generallieutenants v. Wynecken über
verschiedene Gefechte in Spanien und die Belagerung von San Sebastian, Mit¬
theilungen des braunschweigischen Oberstlieutenants v. Brömbscu über ein Aben¬
teuer braunschweigischer Infanterie bei Tvrdesilias, Beiträge zur Geschichte des eng-
lisch-braunschweigischen Husarenrcgimcnts von 1809 bis 18l0 u. s. w. Den Schluß
machen allerlei Anekdoten von hannöverschen Offizieren, die zum Theil auch ein größeres
Publicum interessiren können. Im Allgemeinen aber find diese Mittheilungen, wie
auch die Mehrzahl der vorhergehenden, nur für den Militär und speciell für den
hannöverschen Militär von Werth. Das Eine und das Andere wird deck Geschicht¬
schreiber, der sich mit Wellingtons Thaten in Portugal und Spanien beschäftigt,
als Material für seine Darstellung und sein Urtheil willkommen sein. Einzelnes
eignet sich zur Untcrhaltungslectüre. Das Ganze hat insofern Bedeutung für die
Geschichte des deutschen Volkslebens, als sich in diesen Aufzeichnungen keine Spur
von deutschem Patriotismus kundgiebt. Die hannöverschen Offiziere fechten in Spa¬
nien mit England gegen Napoleon, den Unterdrücker ihres Vaterlandes, aber nir¬
gends verräth sich ein Bewußtsein davon, daß es einem Befreiungskampf gilt. Ihr
Leitstern ist lediglich die militärische Ehre und die Svldatcnpflicht, sie schlagen sich
freiwillig für englischen Sold, wie sich früher die Hessen in Amerika für englischen
Sold gezwungen geschlagen haben.
Mit Ur. beginnt diese Zeitschrift ein neues Quartal,
welches durch alle Buchhandlungen und Postämter zu be¬
ziehen ist. Leipzig, im Juni 1864. Die Verlagshandlung.