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redigirt von
Frau von Göthe sagte einmal zu mir, sie sei stolz darauf, in
Norddeutschland eine der Ersten gewesen zu sein, die Nikolaus Le-
nau anerkannte. Ich will mir ein Gleiches auf die Anerkennung
des Wallenstädter Sees zu gute thun, der selbst so schön, so tief my¬
stisch und mild melancholisch ist, wie ein Lenau'sches Gedicht. Es
gibt in der Natur wie in der Gesellschaft verkannte Größen, die ver¬
gebens oft Jahrhunderte lang auf gerechte Anerkennung warten.
Was ist z. B. der Schaffhausener Wasserfall mit seiner breiten Be¬
haglichkeit und seiner niedern Höhe im Vergleiche zu mancher ein¬
samen Cascade im Graubündner Land, die sich mit genialer Kühn¬
heit von himmelhohen Bergen über titanische Felsenmassen in schwarze
Abgründe stürzt, gleich einem menschlichen Genie, das sich aus einer
lichten Himmelshöhe in die grauenvollen „Abgründe des Gemüthes"
versenkt? Aber die geniale Cascade liegt abseits von der Heerstraße
und der großen Tour, und sie braust und braust Jahrhunderte lang,
wölbt hundert entzückende Regenbogen, beleuchtet mit ihrem glänzen¬
den Schaume mächtige Tiefen, und auf keiner Landkarte ist sie ver¬
zeichnet, kein Tourist ist officiell entzückt von ihr, kein Dichter setzt
ihre Melodien in Worte, keine blauäugige Lady lüftet um ihretwillen
den Schleier. Wie viele Menschen kennt Jeder von uns, die ein
gleiches Schicksal haben mit den Graubündner Cascaden und Seen!
Diese stehen in den Salons, wenn sie in die Salons kommen, ver¬
steckt im dunkelsten Winkel, hinter Fenstervorhängen, während die
Lions des Tages am obersten Sopha sitzen und sich von den Da¬
men opfern lassen. Auch der Wallenstädter See ist einer der ver¬
kannten.
Es war ein herrlicher Sonntagsmorgen im August des Jahres
1842, als ich aus Sargans, der Heimach der heldenmüthigen Wei¬
ber, aufbrach, um nach Wallenstadt zu wandern, wo das Dampf¬
schiff die Reisenden aufnimmt. Ich hatte vor kurzer Zeit den Lago
ti Como und den Lago maggiore, die zwei berühmtesten Seen, ken¬
nen gelernt und mit ihnen eine innige Freundschaft geschlossen.
Darum machte ich mir weniger Erwartungen über ihren obscurer
Bruder, der sich zwischen Wallenstadt und Wesen, hinter kahlen Fel¬
sen versteckt, angesiedelt hatte. Doch war der Morgen so schön; aus
Sargans und Wallenstadt tönten die Sonntagskirchcnglocken, von
den Alpen herab schallte das Klingen der Heerdenglocken, und über
Berg und Thal warf die Morgensonne einen goldenen Schleier.
Vor mir her wanderte ein leichter Schneivergesclle und sang mit
frischer Stimme Lieder aus der Heimach, Alles das stimmte mich
innig heiter, und selber singend uno jubelnd zog ich in Wallenstadt
ein. Bald brauste es aus dem Schlot des Dampfbootes, und ich
fuhr dahin über die dunkle Fläche des Sees. Ja, dunkel, wie ein
braunes, melancholisches Auge aus tiefen Augenhöhlen, blickt dieser
See in die Welt. Nur am hohen Mittag mag er Heller und hei¬
terer blicken; sonst werfen die hohen Felsen rechts und links ihre
dunkeln Schatte» über ihn und geben ihm dieses traurige Aussehen.
Rechts erheben sich die Kurfürsten, siehe» mit Kronen gezierte him¬
melhohe Felsen, links schneidet ihn eine schroffe, ebenso hohe Felsen¬
wand, die sich jählings in die Tiefe senkt, von der freundlichen grü¬
nen Welt ab. Da ist weder rechts »och links Raum, wo ein Fu߬
pfad den Wanderer aufnehmen könnte, so unmittelbar stehen die Fel¬
sen mit ihren Füßen in den stillen, todten Welle». Daher die leb¬
lose Stille rings umher, die selbst vo» den einzelnen Nachen nicht
unterbrochen wird, da sie wie Geisterschiffe lautlos durch die Däm¬
merung dahin fahren. Nur auf der linken Felsenwand ist es den
Menschen gelungen, sich einen Pfad zu bahnen, der sich hier und
da zwischen den Felsen verliert. Da oben sieht man sie vom Schiffe
aus wie kleine dunkle Erdmännlein dahin klettern und jeden Mo¬
ment hinter dem Gesteine verschwinden, als ob sie der Berg ver¬
schlungen hätte. Das Länder der Hecrdenglocke», das selbst die wil¬
desten Gebirgöeinsamkeite» i» Graubülide» beseelt, fehlt hier, denn
die Felsen bieten weder den Rindern noch der genügsamen Ziege ein
lebendes Kraut. Es ist Alles so kahl und todt, als ob das Abster¬
ben unseres kleinen Erdcnhauses, das in Jahrtausenden vollendet sein
soll, hier begonnen hätte. Nur dünne Nebel weiden auf den gigan-
tischen Felsenmassen, und strecken und dehnen sich,
Wenn man so auf der vordersten Spitze deS Verdeckes sitzt und
sich ganz hingibt den eindringenden Eindrücken, ist es einem, als ob
man selber hier zu Steine und mit dem ganzen Schiffe zu einer
starren Felseninsel werden sollte, zu einer warnenden Sage für die
kommenden Geschlechter. Unwillkürlich senken sich die Augenlieder,
beugt sich das Haupt, fallen die Arme schlaff herunter, als ob die
Versteinerung begönne. Mit inniger Freude bemerkt man, daß die
Gewalt des Dampfers siegreich und pfeilschnell den unheimlichen
Zauberkreis durchschneide, und — ah! — da ist wieder grüne Erde,
die Schiffsglocke läutet, es ist die Morgenglocke »ach einer schweren,
angstvoll durchträumten Nacht. Wir sind in Wesen.
Hier theilt sich die Gesellschaft deS Dampfschiffes. Der eine
Theil, wahrscheinlich der reichere, setzt sich in den Postwagen, um
auf staubiger Landstraße nach Utznach zu fahren, wo das Züricher
Dampfschiff wartet. Der andere, ärmere, aber wahrscheinlich poe¬
tischere Theil besteigt die bedeckten Kähne, um auf dem Lindcanal zum
selben Ziele zu gelangen. Zu den Letztern gehörte ich. Diese Lind-
canalschiffe sind länglich gebaut und durch ein Leinwanddach gegen
die Sonnenhitze geschützt; an beiden Seiten ziehen sich lange Bänke
hin, wo eine Gesellschaft von fünfzehn bis zwanzig Personen Platz
findet. Als ich eintrat, war fast die ganze Gesellschaft schon versam¬
melt und im eifrigsten Gespräch. Es wurde abgestoßen, auf den rei¬
ßenden Wellen des Lindcanals flogen wir mir Blitzesschnelle dahin.
Ein Schweizer, der große Reisen durch fremde Länder gemacht und
eben aus Rußland in seine Heimath zurückkehrte, führte das große
Wort. Seine Landsleute, denn aus solchen bestand fast die ganze
Gesellschaft, hörten ihm mit der gespanntesten Aufmerksamkeit zu. Er
erzählte, wie es jenseits der Berge hergehe, und wie leicht man in
fremden Ländern sein Glück machen könne. Als Beleg führte er einen
Schweizer an, der in Moskau ein reicher Mann geworden und einen
Orden bekommen. Da hätte man sehen sollen, wie die Republikaner
große Augen machten und verwundert ein Mal über das andere aus¬
riefen: Einen Orden! Man sah es ihnen an, wie sie in der Selig¬
keit des Gedankens schwelgten; und doch war von einem russischen
Orden die Rede. Dann erzählte der Reisende vom Kaiser, den er'in
Petersburg gesehen, und von der silbernen Hochzeit, von der er viel
gehört. Die Republikaner konnten sich nicht satt fragen nach dem
Kaiser, seinem Aussehen, seinen Kleidern und seinem Hofstaate. „Ach,"
sagte der Eine, „es muß doch was Herrliches sein um so einen Kaiser
oder König." Ein kleiner Junge fragte, „warum die Schweizer nicht
auch einen Kaiser oder einen König hätten." „Dazu sind wir zu arm,"
antwortete ihm der Alte. Also das ist die einzige Ursache? dachte
ich bei mir, und mir wurde wehe zu Muthe. Ich erinnerte mich an
Tell und seinen Walther, an Slauffacher und Walther Fürst. Ja,
wo sind sie, die alten Tage und die alte Schweiz I
Aus meiner Verstimmung riß mich die echt deutsche Romantik,
die einen Deutschen über so Vieles trösten muß. Vor uns her am
Ufer lief in größter Eile eine Schaar sonntäglich gekleideter Musi¬
kanten. Die einen trugen Violinen, die andern Clarinetten, Flöten
oder Waldhörner unterm Arme; der letzte keuchte unter der Last der
ungeheuern Bratsche, deS deutschesten Instrumentes. Sie eilten zu
einem Sonntagsfeste in ein Dorf am Züricher See. Kaum erblickte
man sie, als ihnen schon die ganze Gesellschaft winkte und zurief.
Das Schiff hielt, und die Musiker stiegen ein. Nun ging es mit
Sang und Klang den Lindcanal. hinunter; und je wilder die Musi¬
ker spielten und die Schweizer darein jauchzten, desto eifriger nach
dem Takte brauchten die Schisser das Nuder, desto schneller nach der
Melodie flog das Schiff gegen Utznach. Es war ein echter, rechter
deutscher Sonntagsnachmittag, eine rechte deutsche Gesellschaft auf
einem Schiffe; es war ja der Märchenerzähler, das Lied und die
Musik dabei. Die Loyalität fehlte auch nicht. So kamen wir auf
dem Lindcanal früher an unsrem Bestimmungsorte an, als die Post.
Dieser Lindcanal ist ein Andenken des echtesten Patriotismus, denn
er ist von einem Schweizer zu Nutz und Frommen seiner Landsleute
angelegt, um die beiden Seen zu verbinden und die Sümpfe rechts
und links auszutrocknen. Wie ich so auf seinen Wellen dahinfuhr,
dachte ich bei mir, um wie viel leichter es einem Republikaner wird,
etwas für sein Vaterland zu thun; er thut es ja für seine Familie;
er weiß, es bleibt und gehört dem Lande. Anderswo, sobald ein
solches Werk mit allen Mühen und Aufopferungen des Patrioten
vollendet ist, wird es mit dem Titel: herzoglich, königlich, kaiserlich
beehrt und dem eigentlichen Vater entfremdet.
Der Züricher See an einem schönen Tage gesehen, ist daS Bild
des heitersten Glückes. Nichts Hohes, nichts Großartiges umgibt
ihn, Alles rings umher ist klare, lichte Idylle. Nur die Größe sei¬
ner Ausdehnung imponirt. Unser Schiff machte Kreuz- und Quer¬
züge, herüber und hinüber, von einem Ufer zum andern. Ueberall
strömten lustige Svnntagsgesellschaften in Masse herbei, und bald war
daS Verdeck überfüllt. Schweizer Bauern, Städter, Züricher Stu¬
denten, gleichgiltige Lordsphysiognomien, plaudernde Franzosen, stille
Deutsche » in um in bunter Mannigfaltigkeit. Aber auf allen lag
doch die ernste Weihe, welche die schöne Natur rings umher aus¬
strömte. Vorzüglich anmuthig und von glückseligen Aussehen ist daS
rechte Ufer. Hinter rothbedachten Dörfern und Städtchen, die man¬
ches Mal eine ganz alterthümliche Physiognomie haben, zieht sich eine
sanfte Hügelkette, die hier und da mit Weinreben bepflanzt sind, bis
gegen Zürich. Hinter j.nen Hügeln liegt das schöne Dorf, wo jetzt
die deutschen Flüchtlinge Feiligrath, Rüge und Heinzen wohnen, der
bekehrte, der philosophische und der glühende Republikaner. In die¬
ser Gegend soll auch das Dorf Peffikon liegen, aus welchem zur
Zeit, da Strauß nach Zürich berufen wurde, der Pfarrer Hirzel los¬
brach und mit einer Schaar fanatisirter Bauern in die Stadt zog,
um die Religion zu retten und im Namen Gottes auf seine Mit¬
brüder schießen zu lassen. Der gottselige Mann soll damals etwel-
chen Blutdurst und Grausamkeit K I-i, Capistran gezeigt haben. Er
ist identisch mit jenem Hirzel, der die Sakuntalu, das zarteste aller
Gedichte aus dem Sanscrit übersetzte.
Die Sonne war schon im Untergehen, als wir Zürich erblickten.
Die Stadt liegt fast amphitheatralisch mit ihren prächtigen, palastar¬
tigen Hotels um den See, und macht mit ihrem reichbesetzten Hasen
den Eindruck einer Meereöstadt.
Am andern Morgen war es mein erstes Geschäft, Herwegh auf¬
zusuchen,') der damals noch in Zürich wohnte. Studenten zeigten mir
den Weg zu seinem Hause; aber er war leider nach Bern gereist, wo
zur Zeit Tagsatzung war. Die Studenten wußten viel Schönes von
ihm zu erzählen; doch wunderten sie sich über seine große Berühmt¬
heit in Deutschland, und ich mußte es ihnen viele Mal wiederholen,
daß Herwegh mit zu den bekanntesten Dichtern gehöre. Da erst är¬
gerten sie sich recht über die Zöpfe, d. i. die schweizerischen Aristokra¬
ten , welche damals den Dichter auf alle mögliche Weise plagten und
ihm das Leben in der Schweiz sauer zu machen suchten. Die Ge¬
schichte, wie Herwegh in Chur beim Schießen eine Rede hielt und
von einem alt-aristokratischen Zopfe beleidigt wurde, war damals noch
neu. Die Studenten, mit denen ich den Tag verbrachte, waren über¬
haupt voll Ingrimm über die damals ans Ruder gelangte Partei;
doch wagten sie es nicht, sich freimüthig darüber auszusprechen. Wenn
einer von ihnen mir von den Politischen Verhältnissen in Zürich er¬
zählen wollte, sah er sich erst vorsichtig um, ob er ja nicht belauscht
werde. Das Studentcnwesen überhaupt machte mir einen traurigen
Eindruck. Die Universität ist schwach, die Zahl der Studenten ist
klein und kann sehr leicht überwacht werden. Dazu kommt noch, daß
die Regierung die von der liberalen Partei gestiftete Hochschule nicht
leiden mag und sie auf alle mögliche Weise verfolgt. Der Haß der
Studenten gegen die Regierung mußte damals noch stärker sein, da
der Mord Kirchineiers durch einen Nachtwächter erst vor einigen Wo¬
chen geschehen war, und die Studenten keine Satisfaction bekamen.
Auf so brutale Weise zeigte ihnen die Negierung wie gut sie es mit
ihnen meinte, und so schnell hatte sich der übermüthige büreaukratische
Geist der Regierung von der höchsten Spitze bis zum niedrigsten Be¬
soldeten, dem Nachtwächter, geäußert. Die Studenten machten sich
zwar durch eine Katzenmusik, die sie einem der Zöpfe brachten, Luft,
aber selbst die Professoren, in denen derselbe gerechte Ingrimm kochte,
und die nur das freiere Leben, das sie hofften, auf die unbedeutende
Universität lockte, mußten ihnen rathen, jede Demonstration zu unter¬
drücken. Oken, der sonst an allen politischen Bewegungen Antheil
genommen, zog sich damals in sein Kabinet zu seinen Raritäten zurück.
Wie im Bureau, auf dem Markt, in der Presse und auf der
Tagsatzung die verschiedensten Meinungen sich bekämpften, ebenso
zersplitterten sie die ganz geringe Zahl der Studenten in eine ganze
Masse kleiner Parteien, und sie sahen sich gezwungen, um nur eini-
germaaßen gesellschaftlich neben einander leben zu können, aus ihrer
Unterhaltung jedes politische Gespräch auszuschließen. Vorzüglich aber
in Gegenwart der Theologen hütete man sich, ein freies Wörtlein
fallen zu lassen, und oft geschah es mir, daß ich, wenn ich in Ge¬
genwart eines solchen ein politisches Thema nach meiner Art be¬
rührte, schnell von einem der Studenten rückwärts gezupft wurde,
oder einen leisen Stoß erhielt, der mich an die Ermahnung erinnern
sollte, in Gegenwart eines Theologen niemals zu politisiren.
Alles das verhielt sich so in dein freien Vorort im Jahre 1842.
Tragikomisch mußte es einem Deutschen erscheinen, wie sich
diese Kinder der jungen Universität bemühte», echte, tolle, burschikose
Studenten vorzustellen, mit welcher Aengstlichkeit sie sich nach dem
Comment, nach Sitten und Gebräuchen der deutschen Universitäten
erkundigten, nur um sie getreu nachzuahmen. So gewöhnten sie sich
an eine gewisse Renommisterei, die ihnen gar nicht natürlich war;
machten tolle Streiche ohne eigentlichen innern Drang dazu, und
ließen sich verwildern, während ihnen ElcgamS vielleicht bequemer
gewesen wären. Die ganze Universität ist ein Fuchs. Sie halten
ängstlich darauf, ja alle Attribute des Studenten zu besitzen: unge¬
heure Pfeifen mit Quasten, starken Tabak, riesige Ziegenhainer u.
dergl. in., was sie Alles mit sich in's Collegium schleppen und mit
großer Behaglichkeit auf den Bänken auskrame». Ist erst ein Frem¬
der dabei, geschieht es mit doppelt starkem Geräusch. Es ist ein
kindisches Spiel. Doch ehrenwerth ist die große Pietät der Studen¬
ten für gewisse Professoren, wie z. B. für Oken, auf welchen die
ganze Universität stolz ist, während ihn die Regierung haßt.
Denselben Tag hörte ich eine Vorlesung über Magnetismus,
fand aber nicht, daß sich der Professor freier äußerte, als es selbst
in Wien geschehen könnte. Es war eben das Allgemeinste, das sich
über Magnetismus und Tellurismus sagen läßt. Nachmittags führ¬
ten mich die Studenten in die Anlagen zu Geßners Monument.
Es ist ganz einfach und ohne künstlerischen Werth. Bei dieser Ge¬
legenheit erzählten sie mir von Geßners Enkel, dessen Haus zur Zeit
der Sammelplatz der eifrigsten Republikaner war. Aber selbst die
radikalsten unter den Studenten sprachen nur mit einem gewissen
Unbehagen davon, und meinten, der Sansculottismus zeige sich in
der Geßner'schen Partei in der rohesten und widerwärtigsten Gestalt.
Was doch aus einem Nachkommen Ves sentimentalsten Schäferdich-
terS werden kann! Aber warum nicht? Hat doch die Schäferzeit
des Rococo die französische Revolution geboren.
Denselben Nachmittag.kamen wir an die Stelle, wo der be¬
kannte oder berüchtigte Deutsche, Lesstng, von vielen Dolchstichen
durchbohrt todt gefunden wurde. Man weiß in Zürich eben so
wenig über seinen Charakter, sein Leben und seinen Tod, wie in
Deutschland. Was man sich hier davon erzählt, klingt eben so my¬
steriös, als was man bei uns davon weiß. Die ihn kannten, rüh¬
men sein schönes Aeußere und seine Liebenswürdigkeit im Umgange,
seinen Geist, seine Weltkenntniß und sein mannigfaltiges Wissen.
Mit diesen Gaben nahm er in Zürich, wohin er als Flüchtling kam,
bald Alles für sich ein, die Einheimischen und die Deutschen, welche
sich nach den damaligen Vorgängen in ihrem Vaterlande hierher
geflüchtet hatten. In ihren Versammlungen sprach sich Lessing mit
Geist, Beredtscunkeit und Freimuth über die deutschen Verhältnisse
aus, und gewann bald die Erfahrensten und Gesetztesten unter den
deutschen Patrioten zu Freunden. Er, der kaum fünfundzwanzigjäh¬
rige junge Mann, nahm an allen ihren Berathungen und Plänen
Theil. Aber nach und nach verbreitete sich ein dunkles Mißtrauen
gegen ihn; man traute seinem Martyrthume nicht, seine Worte und
sein Benehmen hielt man für die Maske eines Spions. Trotz
dieser Mißstimmung und diesem Verdachte soll Lessing seine Rolle
mit bewunderungswürdiger Consequenz fortgcspielt haben bis an sei¬
nen Tod. Höchst wahrscheinlich haben die Flüchtlinge über ihn Ge¬
richt gehalten. Es ist sonderbar, daß selbst diejenigen, die von seiner
Nerräthcrei überzeugt sind, seine Jugend bedauern und seine Anla¬
gen nicht genug zu rühmen wissen. Selten sprechen selbst solche mit
der Verachtung von ihm, die ein Spion verdient. Nach Allem scheint
Lessing zu etwas Besserem bestimmt gewesen zu sein, und der selige
Herr von T... hat sein junges Leben und sein junges verderbtes
Herz auf der Seele.
Alle diese Eindrücke frisch in mir kehrte ich spät des Abends
in's Hotel de Baur zurück. Von dem platten italienischen Dache
hat man die schönste Aussicht über den See und über die Stadt.
Diese mit ihren vielen Bäumen, mit dem vielen Grün, das sie durch¬
zieht, hat eher das Aussehen eines großartigen, aus Palästen beste¬
henden Dorfes. Vor dem Hotel breitet sich der Platz aus, wo zur
Zeit der frommen Hirzel'sah'en Invasion das meiste Blut floß. Die
armen Bauern mußten die Begeisterung ihrerS Pfarrers büßen. Da¬
mals, erzählt man sich in Zürich, kam ein Engländer zum Wirthe
des Hotel de Vaur und fragte, wie viel ein Platz auf dem Dache
koste, um von da ruhig dem Blutvergießen zusehen zu können.
Gegen Süden schweiften meine Blicke über den See, und meine
Seele flog der Teltökapclle zu nach Bürgeln und Mors, und be¬
suchte Melchthal, Stanffaeher und Walther Fürst. Ich dachte an jene
Zeiten, da mir Wilhelm Tell zum ersten Male in die Hand fiel,
wie in meinem Kinderherzen der erste FreiheitSgedanle erwachte, und
die Schweiz, die sich damals meine kindische Phantasie mit allem
Zauber der Idylle, mit aller heroischen Einfalt schuf, stand vor mir.
Wie seltsam contrastirte sie mit der Schweiz, die ich durchwanderte;
Wie seltsam verschieden waren meine damaligen Vorstellungen von
meinen heutigen Erfahrungen! Die Berge, die Seen, die Flüsse,
die Wasserfalle, die Sennhütten, die Gebirgöhecrdcn, Alles schöner
und herrlicher, als es sich eine Phantasie ausmalen kann — aber
die Menschen! Auch die Freiheit kann alt weiden, ein altes, run¬
zeliges, keifendes, bigottes Weib. Traurig ging ich zu Bett.
Den folgenden Tag sollte ich Oken hören. Mit Stolz nahmen
mich die Studenten in ihre Mitte und führten mich ins Kollegium.
Da, aus einer Nebenstube, in einem altmodischen, bis hinauf zuge¬
knöpften Rock kam ein blasser, hagerer Mann und eilte mit kaum hör¬
baren Schritten auf das Katheder. Es war Oken. Seine kurzen,
gcradaufstehendcn Haare waren mit vielem Gran gemischt, sein Ge¬
sicht war blaß und mager und sah sehr krank ans. Eine tiefe Weh-
muth überfiel mich, wie ich mir den Mann ansah, den begeisterter
ForschungStricb, tiefe Grübelei und die Liebe zur Welt aufzehrte. Nur
sein Auge leuchtete in einem ewig jugendlichen Feuer. An den Seiten
des Katheders lehnten ein riesiger Wallfischpcniö und ein eben so gro¬
ßer Zahn eines Meerfisches. Mitten durch diese beiden Raritäten
sprach und agirte Oken. Er stellte über die Eintheilung der Sauge-
thiere bie sonderbarsten, ja manchmal komischen Hypothesen auf. Bald
wollte er sie nach ihrer Musculatur, bald nach dem geistigen Aus¬
druck ihrer Augen eingetheilt wissen. Ich glaube, daß ich, auch ohne
eS zu wissen, errathen hätte, daß ich Oken hörte. Ein Passus, den
er bei Gelegenheit des geistigen Ausdruckes der Augen aussprach, ist
mir im Gedächtniß geblieben. Von der Athemlosigkeit, die ihn wäh¬
rend seiner feurigen Rede oft überfällt, unterbrochen, brachte er ihn
also hervor- „die Kuh — die Kuh — die Kuh hat ein sehnsüchtiges
Auge — und man sieht es ihr gewissermaßen an — sie sehnt sich nach
Befreiung — aus der Slaverei, in der sie schmachtet." Aehnliche
Sätze kamen beim Schweine, beim Elephanten, bei der Gazelle und
beim Pferde vor. Oken benutzt jede Gelegenheit, auch in seinen na¬
turhistorischen Vorlesungen, zu politischen Diatriben. So erzählte
er von einer eigenen Art Wallfische, die man im nördlichen Eismeere
gefunden, die aber aus gemeiner Gewinnsucht von Seiten der russi-
schen Negierung so sehr verfolgt wurden, daß sie binnen kurzer Zeit
ausgerottet waren, bevor die Wissenschaft eigentliche Kenntniß von
ihnen nehmen tournee. Ja, man war so vandalisch, nicht eines die¬
ser Thiere auszustopfen und fürs Petersburger Museum aufzubewahren.
Nach dieser Erzählung konnte Oken eine Philippina gegen Rußland
nicht unterdrücken, die immer weiter und weiter abirrte, bis sie sich
ganz in politischen Trübsalen verloren und die diese Verderbnis; des
Absolutismus aufvcckte. Die Wallfische gaben ihm auch Gelegenheit,
gegen den unwissenschaftlichen Sinn der meisten jungen Aerzte los¬
zuziehen. „Da gehen alljährlich — rief er — Hunderte von jungen
Aerzten — mit Wallfischfahrern — nach Island — nach Grönland,
nach Novaja Semlija— was bringen sie mit? — waS ist ihnen in¬
teressant? — die Lunge eines Wallfisches? — Nein, ein Penis, meine
Herren, ein Penis interessirt sie am meisten/'
Und mit diesen Worten schwang er den Wallfischpenis, der neben
ihm stand, wie eine gewichtige Lanze in die Höhe, und hielt ihn
seinem Auditorium hin. Ein allgemeines Gelächter erscholl. Oken
aber selbst blieb ernst und fast traurig. Urberhaupt liegt ein aus¬
gesprochener Zug von Wehmuth, fast könnte man sagen, von Schwer¬
muth auf seinem Gesichte, zugleich aber ein Etwas, das man lieben
muß, und ein gewisser Ernst, der imponirt, selbst wenn er in seinen
Vorträgen recht Okenisch barok ist. Die Hast und die Eile, mit
der er seine Worte hevorbringt, und die Athemlosigkeit, die aus einer
sehr kranken Brust zu kommen scheint und ihn in seiner Eile oft ge¬
waltsam aufhält, haben etwas Beängstigendes für denjenigen, der an
seinen Vortrag noch nicht gewöhnt ist. In keinem Auditorio fand
ich diese achtungsvolle Stille, wie in dem Okens. Als wir es ver¬
ließen, sahen mich die Studenten mit einem gewissen Stolze an, als
wollten sie sagen: Sieh, der gehört uns.
Ich frühstückte eben im Wirthshause einer ansehnlichen Nhein-
stavt; an dein einen Tische tranken einige Bauern ihren Morgen¬
kaffee aus einer ungeheuern Kanne, an dein andern erhoben sich ein
Paar wohlgekleidete Bürger und bezahlten. — Seid Ihr Zeugen?
sagte einer zu den Bauern. -— Ja. — Dann habt Ihr Zeit; eS
wird gleich angehen. Adjes. -...... Ist das ein Regen! brummte einer
von den Landleuten im breitesten Dialekt; die Her löst't mich bald
ein Paar Sohlen. — Ich fragte den Wirth und hörte, es komme
ein Criminalfall vor die Assisen, und der Gerichtshof sei gleich ne¬
benan. Ich sprang natürlich hinüber, mit klopfendem Herzen, und
war früher an Ort und Stelle, als Zeugen, Geschworene -und Rich¬
ter. Nur einige Gensdarmen und Soldaten waren zugegen und
einer halte seine preußische Mütze der Sphinr vor den Schranken
schief aufs Ohr gesetzt. Allmälig sammelten sich einzelne Zuschauer
und Geschworene, dann kamen die Richter in ihren Roben, dann
wurde der Angeklagte, der Juri gegenüber, auf die Bank hinter
dem halbmannshohen Holzgitter gesetzt. Aeußerlich hatte der Saal
nichts JmponirendeS, er war ohne allen Schmuck, der Boden etwas
staubig, wie in einer Schulstube; in der That erinnerten mich Ort
und Stimmung an das Eramen vor einem besonders gestrengen Pro¬
fessor, wie es jährlich auf österreichischen Universitäten zu sehen ist.
Da pflegt unter den Zuschauern ebenfalls eine peinliche Spannung
zu herrschen, denn von dem ernsthaften Frag- und Antwortspiel hängt
oft die Zukunft eines jungen Mannes ab. Diese Prüfungen sind
selbst in Oesterreich öffentlich; warum nicht die schwerern und wich¬
tigern, wo es sich um Ehr oder Schande, Nuhe oder Verderben
mancher Familie handelt? — Die Formalitäten waren einfach, aber
würdig; der militärisch-theatralische Pomp, der die Proceduren fran¬
zösischer Assisen begleiten soll, ist in den Rheinprovinzen abgeschafft
worden. Die Einen finden die jetzige Einfachheit deutscher, die An¬
dern bedauern den Wegfall jener Ceremonie», denen sie eine große
moralische Wirkung zuschreiben.
Die „c-uisv" war an sich sehr unbedeutend und gehört nichts
weniger als in den neuen Pitaval; aber vielleicht interessirt eS doch
den Leser, den ersten Eindruck zu sehen, den das öffentliche Schwur¬
gericht auf den Laien machte und zu welchen Bemerkungen es ihn
veranlaßte.
Hannes — nennen wir so den Angeklagten — ein wohlhaben¬
der, lediger, etwa dreißig Jahre alter Bauer aus dem Dorfe N.,
war beschuldigt, seine Nichte, die um Tagelohn bei ihm arbeitete,
so aus der Thüre gestoßen zu haben, daß sie über die Thürstufen
fiel, das Bein brach und sechs Wochen lang arbeitsunfähig blieb.
Die Negierung war Klägerin. Bei der Misihandlnng war Niemanv
zugegen gewesen; nur eine ältliche Fran wollte gehört haben, wie
Louise, die Nichte, früh an Hannes Laden pochte und um ihren
gestrigen Tagelohn bat, von ihm jedoch barsch angefahren wurde;
später habe Louise im Thorweg gelegen und gewinselt. Letzteres
mußten auch einige Bauern aus R., auf die Fragen deö Staats-
anwalts, bezeugen. Der Arzt, der Louise behandelt hatte, bezeugte
den Beinbruch und daß dieser nur durch einen heftigen Stoß über
die Paar Stufen verursacht worden sein könnte. Hannes dagegen
sagte immer nur, „er wisse von nichts." Die Bauern aus N. zeug¬
ten sehr zu seinen Gunsten; er sei ordentlich, fleißig, Niemand
was schuldig, wohlhabend und geachtet, Louise wurde vorgeru¬
fen; allein wer nicht kam, war sie. Die Bauern meinten, sie werde
Wohl nicht kommen, — sie sei nicht richtig im Kopf — sie wisse
selber nicht, was sie wolle u. s. w. Auf die Frage des Präsidenten,
ob sie nicht mit den Andern auf der Eisenbahn hergekommen sei?
Ja wohl, hieß es, aber man wisse nicht, wo sie geblieben; sie habe
sich wohl verlaufen — sich aus Furcht versteckt u. s. w. Wie es
schien, kümmerten sich ihre Genossen nicht sehr um sie. Ihr eigener
Vater, ein langer siebenzigjähriger Schwachkopf, gab sehr ungewisse
Auskunft und widersprach sich häusig. Ob er von ihrem Beinbruch
wisse? — Ja, er habe davon „gehört;" sie habe immer auf dem
Boden, gelegen und nicht arbeiten „wollen." — Ob sie wirklich nicht
richtig im Kopfe sei? — O, sie ist ganz toll, aber wenn sie zu re¬
den anfängt, ist sie „gescheidter wie'n Afokat!" (Allgemeine Heiterkeit,)
Die Verhandlungen wurden, weil Louise noch kommen konnte,
auf eine halbe Stunde ausgesetzt. Ich ging hinaus in den Hof,
eine Cigarre zu rauchen, wie die Ander», und sprach mit einem der
Bauern aus N. Die Person, sagte er von Louise, ist ein Nichts¬
nutz, eine alte Jungfer, treibt sich überall herum, und hat schon viel
Verdruß im Dorf angestiftet. Sie fängt mit Allen Streit an, wird
zudringlich und wenn man sie abweist, fällt sie hin und schreit, daß
sie sich was zerbrochen hat. Ihr Vater will auch nichts von ihr
wissen; sie hat ihn schon einmal geschlagen!— Entweder das ganze
Dorf war gegen die arme alte Jungfer verschworen, oder Hannes
hatte in der That nur mit einer Chicane zu kämpfen. Aber daß er
von gar nichts wissen wollte, schien mir nicht zu seinen Gunsten zu
sprechen.
Aber Hannes Nichte kam. Wie ein kleiner, hinkender Teu¬
fel schleppte sich das kränkliche, einige dreißig Jahre alte Mädchen
vor die Schranken. Anfangs zag und schüchtern, daß man sie kaum
hören konnte, wurde sie bald immer lauter und muthiger; zuletzt
widerhallte der Saal von ihrer schrillen Stimme. Ihr Bericht gab
neue Haltpunkte und keiner der befragten Zeugen konnte sie Lügen
strafen. Ein Bauer z. B. konnte nicht leugnen, daß, als sie hilflos
neben den Stufen der innern Thür im Thorwege lag, er den Han¬
nes auf das Feld abHolle, daß sie dann beide an ihr vorübergingen,
und der Oheim die jammernde Nichte liegen ließ, ohne sie anzu¬
sehen. Der Bauer hatte dies früher verschwiegen; erinnert an seinen
Schwur, die Wahrheit und zwar „die ganze Wahrheit" zu sagen,
entschuldigte er sich damit, er habe es „vergessen!" Hannes
aber wußte noch immer von nichts I
Nun begann das Plaidoyer der Advocaten. Die würdigste
Rolle in diesem Drama spielt der Präsident. Vom Ankläger weiß
man, daß er nicht genug schwarz malen, vom Vertheidiger, daß er
nicht genug weiß waschen kann; der Eine sucht die Zeuge» des An¬
dern zu verwirren und zu verdächtigen. Sophisten pflegen dies dem
Assisengericht zum besondern Vorwurf zu machen. Als ob die Ad¬
vocaten in der Heimlichkeit nicht auch Advocaten wären! Dieselben
Kniffe und Pfiffe, die man hier so anstößig findet, weil sie sich eben
im Licht der Oeffentlichkeit zeigen müssen, sie spielen anch aus dem
Actcnpapier; nur sind sie da feiner gesponnen, besser überlegt und
darum gefährlicher; die Dinte erröthet nicht, wenn sie lügt, die
Schrift zittert nicht, wenn sie verleumdet, und dem Papier sieht man
nicht so leicht an, was es künstlich verschwiegen oder „verges¬
sen" hat. In der Heimlichkeit spricht ein Advocat zum andern, ein
spitzfindiger zu einem noch Spitzfindigern. Hier ist das anders.
Weit entfernt, eine bestimmende Auctorität zu sein, ist der Avvocat
den Geschworenen selbst nur ein verdächtiger Zeuge. Jeder Geschwo¬
rene wird euch sagen, daß er selten was auf die Advocaten gibt.
Da er ihr Interesse und ihre Stellung kennt, so dient ihm ihr Be¬
nehmen und ihre Tactik mir mittelbar als Prüfstein; sie sind es, die
im Namen ihrer Parteien Red' und Antwort stehen. I» der Wahl
der Mittel, die sie treffen, in der großem oder geringern Künstlichkeit
und Geschraubtheit ihrer Reden verräth sich oft das gute oder böse
Gewissen ihrer Sache. Im vorliegenden Falle bemerkte mau, wie
der Vertheidiger, ein sehr gewandter und lebhafter Redner, sich zu
winden und zu drehen suchte, wie er sich auf Buchstäblichleiten klemmte
und die wesentlichsten Punkte mit diplomatischer Schmiegsamkeit um¬
ging, während der Staatsanwalt auffallend einfach und ruhig sprach
und den Angeklagte» nicht ganz als Scheusal und Auswurf der
Menschheit hinstellte. Beides war nicht gut für Hannes, der schul¬
dig befunden und zu einem halben Jahr Gefängniß, Geldbuße und
in die Kosten verurtheilt wurde.
Ich wiederhole, der Fall gehört nicht unter die merkwürdigsten
Rechtsfälle, aber wer zum ersten Mal einer Assisensitzuug beiwohnt,
wird auch aus dem geringfügigsten Fall mancherlei lernen. Raub,-
Mörder und Beutelschneider werden auch nach dem römischen Verfah¬
ren verurtheilt, wiewohl nach längerer Peinigung; in verwickelten Pro¬
cessen, wo sich eine Reihe unseliger Zufälle gegen die Unschuld ver¬
schwört, ist weder Geschwornen- noch Juristenvcrstand unfehlbar; allein
die große und wohlthätige Wirksamkeit der öffentlichen Schwurgerichte
zeigt sich gerade in jenen zahllosen kleinen Händeln, wo der starre
Buchstabe des Gesetzes einer menschlichen Belebung und Ergänzung,
wo es einer Ausgleichung socialer Ungerechtigkeiten, einer Bekämpfung
gemeiner Rücksichten und Vorurtheile bedarf. Da ist das öffentliche
Schwurgericht eine wahre Bildungsanstalt für das Rechtsgefühl der
Masse.
Ich zweifle, ob die arme Tagelöhnerin bei einem Palrimonial-
oder andern heimlichen Gericht so glänzende Genugthuung erhalten
hätte, ja daß es nur gelungen wäre, den wohlhabenden, vom gan¬
zen Dorf respcctirten Hannes vor das Criminal zu bringen. Mit
einem kleinen Schmerzensgeld hätte man Alles vertuscht. ^ Sie hatte
ja Niemand für sich, sie war eine Querulantin, eine Herumtreiberin.
Hätte sich ein Amtmann oder Advocat mit ihr abgegeben, ihretwegen
den wohlhabendsten Bauern von N. als Verbrecher behandelt? O
sie hätte sichs selber kaum einfalle» lasse», zu klagen, und den Groll
gegen ihres Gleiche» schweigend fortgcnährt. Ich erinnere mich eines
ähnlichen und doch wieder unähnlichen Falles aus dem Lande, wo
daS geschriebene Gesetz ebenso vortrefflich, wie das Gerichtsverfahren
corrupt ist. Mein Nachbar T. in W. war ein armer gewesener Hu-
sarencorporal. Sein Hauptmann, ein reicher Baron, hatte ebenfalls
quittirt und ihn als Jäger in seine Dienste genommen, nachdem er
ihn zum Austritt aus dem Militär durch das Versprechen lebens¬
länglicher Versorgung beredet hatte. Der ehrliche T. wurde aber
von seinem Herrn nicht nur körperlich mißhandelt, willkürlich in Ket¬
te» gethan, mit frevelhaften Zumuthungen gequält, sondern endlich,
wider seinen Contract, schimpflich und grausam, ohne Lohn und Ent¬
schädigung, fortgejagt. Um diese zu erlangen, klagte T. Er hatte
nicht, wie die arme Tagelöhnerin, alle Welt gegen sich, sondern die
beste» Zeugnisse von militärischen, weltlichen und geistlichen Behörden.
T.'S officielle Anwälte ließe» sich der Reihe »ach vom Baron beste¬
chen, und dafür mußte der alte Husar, der sich dabei kümmerlich als
Holzwächter nährte, ihnen alö Schreiber dienen. Mit Noth und durch
wiederholte» Fußfall entledigte er sich jedes Mal des falschen Urwalds
ox ol'liiüo. Zuletzt schrieb er sich seine Acten selbst, aber wie wurde
er da bei den Gerichten gehütete! Die Avvocate» des Barons spar¬
te» keine Ehicane, um ihm seinen kümmerlichen Erwerb zu entziehen,
damit er, wegen Mangel an SubsistenznachwciS, aus W. mit dem
Schub entfernt werde. Zwei Mal wurde er infamer Verbreche» an¬
geklagt, aber die vom Baron erkauften Zeugnisse erwiesen sich als
verfälscht. Ja, er wurde für verrückt ausgegeben und brauchte el»
halbes Jahr, um gerichtlich zu beweisen, daß er bei Sinnen sei. Der
Baron war so frech und aberwitzig, seinen Fourier der Verleumdung
anzuklagen und einen Revers vorzuzeigen, den jener einst, mit blankem
Hirschfänger gezwungen, unterzeichnet hatte, daß er von den schlech¬
ten Streichen seines Herrn nichts aussagen werde!! Dennoch erhielt
T. keine Genugthuung; nicht einmal seine Papiere, die sein gewesener
Herr ihm vorenthielt, konnte er erlangen. Der Proceß war damals
(anno 1837) vier Jahre alt, vielleicht ist er noch älter geworden.
Ach, wie sehnlich wünschte ich dem T. fünf Richter, zwölf Geschwo¬
rene und eine offene Gerichtsstube. Da brauchte er seine Acten nicht
mühselig selber zu schreiben und zu fürchten, daß sie ihm wegen man¬
gelhafter juristischer Schreibart, wegen schlecht gefalztem Stempelbogen,
zehn Mal zurückgewiesen würden: er dürfte nur sprechen.
Hanne's Proceß dauerte keine vier Jahre, aber doch etwas über
vier Stunden. Das war eine kurze Zeit für Hannes, aber lang ge¬
nug für die Kritik der Geschworenen und viel zu lang für die fri¬
vole Neugierde. Man irrt, wenn man glaubt, daß die Assiseusäle
ein Tummelplatz für blasirte oder gedankenlose Gaffer sind. Das kann
blos in seltenen Fällen vorkommen. Nur ein'tieferes Interesse hält
es vier Stunden als Zuschauer bet einem solchen Prozeß aus, da
namentlich das viele monotone Actenverlesen und das Hersagen der
Eidesformeln nicht dazu dient, die Sache amüsant zu machen. Ich
bemerkte im ganzen Saal nur ernste nachdenkende-Gesichter und hörte
unter meinen Nachbarn nur vernünftige und treffende Bemerkungen.
Selbst die Soldaten und Gensdarmen sahen mit innigster Theilnahme
und Genugthuung zu. Dies schien mir ein gutes Omen. Die preu¬
ßische Regierung kann nicht entschieden gegen die Schwurgerichte sein,
sonst würde sie sich hüten, ihren Soldaten solche Posten zu geben,
von denen sie als Propagandisten für die öffentlich-mündliche Ge¬
richtsbarkeit in die alten Provinzen zurückkehren werden. Doch kann
ich freilich nicht sagen, ob die Soldaten, die ich sah, nicht lauter
Rheinländer waren.
Beim nächsten Morgenkaffee traf ich wieder dieselben Bauern-
zengen und einen der Geschworenen von gestern, einen sehr unter¬
richteten und wohlwollenden Bürger. Ich brachte das Gespräch auf
Hannes. Die Bauern meinten, es sei ihm viel zu viel geschehen.
Ein halb Jahr Gefängniß „wegen so'ner Person," das sei hart. —
Der Geschworene: Ihr Leute seht das für eine Bagatelle an.
Uns geht es aber nichts an, was „so'ne Person" sonst für Eigen¬
schaften hat. Unrecht bleibt Unrecht, und war's an einem Mörder be¬
gangen. — Ich. Mir schien er ebenfalls schuldig, weil er von gar
nichts wissen wollte, was doch nach Allem nicht möglich war. Er stand
ja da wie ein Klotz. - - Bauer. Ja, man muß seinen Afokaten
reden lassen. Selber kann man sich erst recht ins Unglück bringen.
- Der Geschworene. DaS ist wieder eine von Euern Dumm¬
heiten, in denen Euch die Advocaten bestärken. Ein schlechter Kerl,
der sich durchzuwinden denkt, weil die Beweise nicht klar sind,
mag das Maul halten, um sich nicht zu verrathen, während er sei¬
nem Vertheidiger, wie einem Beichtvater, Alles gestehen muß. In
einer klaren Sache ist das anders. Mein Gott, es kann Jedem pas-
siren, daß er einen zudringlichen Bettler von sich stoßt, und der fällt
und bricht das Bein. Wäre das der Fall gewesen, so hätte Hannes
offen gesagt: So und so, meine Herrn, ist mir'S gegangen. Dann
hätte er aber auch die Unglückliche, seine leibliche Nichte, nicht Stun¬
den lang im Thorweg liegen lassen. Diese Verstocktheit, die an sich
strafbar ist, beweist, daß Bosheit vorhergegangen war, und daß Han-
nes kein gutes Gewissen hatte. Und zu mir gewandt setzte er hinzu:
Sie müssen das rheinische Volk nicht nach Denen von R. beurtheilen;
die sind bekannt als eine schlimme Bande.
Mir sielen die Worte ein, mit denen der Staatsanwalt seine
Rede eingeleitet hatte: „Dieser Fall wirft ein trauriges Licht auf die
Zustände der untern Volksklassen." In der That, eine Schwarz¬
oder Bohmerwälder Dorfgeschichte war's nicht, was sich da vor den
Assisen entrollt hatte.
Wir Alle, die wir seit Jahrzehnte» daS politische Leben Deutsch¬
lands mitleben, nennen Moritz Arndt nnter den Vorbildern des ech¬
ten Patriotismus und als Typus des consequente» politischen Wol-
lens. Uns Allen, die wir studirt haben, klingen beim Namen Arndt'S
jene wundersam poetische» Stunden wieder, die wir verlebten um
Kreise froher u»d dennoch mit tiefinnerster Seele ernst strebender
Genosse», und in denen wir Arndt's Lieder, wie Verheißungen einer
herrlichsten Zukunft jubelten. Aber im Drängen der Neuzeit, wie
sie so urplötzlich großwuchs für Deutschland aus der französische»
Juliusrevolution, war uns dennoch kein recht deutlich Bild davon
geworden, wie und auf welche Weise dieser Mann gewirkt, gerungen
und gelitten in einer Zeit, die fast wie eine abgethane Geschichts¬
epoche weit hinter uns liegt und aus der wir dennoch Alle, weil
die heutige Zeit daraus wurde, in all' unsern? politischen Leben her¬
auswuchsen. Wir wußten meistens nur, daß Ernst Moritz Arndt
zuerst Professor in Greifswalde war und dann reiste und dann nach
Schwede» flüchten mußte vor Napoleon, desse» französischen Erobe¬
rungen in Deutschland er fort und fort das scharfschneidige Schwert
seines Wortes entgegengehalten hatte. Wir wußten meistens nur,
daß er dann in de» Jahre» 1813 — 181!', urkräftig mitgewirkt hatte
für die Erhebung des Volles aus seiner niedrigen Erschlaffung und
aus seiner erschlafften Niedrigkeit. Wir hatten nur beiläufig erfah¬
ren, wie er dann wieder Professor der Geschichte in Bonn gewor¬
den, und wie deutsche Machthaber ihm 1820 dennoch von Neuem
aus seinem Wirken eine Anklage gemacht und ihn herausgerissen
hatten aus seinem Amte. Und dann, als König Friedrich Wilhelm IV.
eine moderne Königörolle mit konstitutionellen Symptomen begann,
sahen wir denselben von seinem König und seinen Preußen langver¬
gessenen Ambt wieder urplötzlich aus der Vergessenheit an die Hoch¬
schule berufen. Wir jubelten darob; aber ein recht klares Bild des
ganzen Wesens dieses Eisenmannes hatten wir dennoch nicht. Ja,
es gab Viele unter uns, die ihn zu jenen verschollenen Liberalen
zählten, deren ganzer Freisinn immer nur auf den einen kleinen Punkt
der Abwehr des Französischen beschränkt geblieben war, und welche
lange Haare oder anstatt des Halstuchs einen weitausgeschlagcnen
Hemdkragen für absolute Nothwendigkeiten des deutschen Mannes
hielten. Er war — man wußte nicht wie — dem großem Publicum
zu einem jener Lobsänger biedeibcn Deutschthums geworden, in denen
kein Element des echten Fortschrittes und keine Ueberzeugung lebt
von einem Fortschritte des Liberalismus mit dem Fortschritte der Zeit¬
geschichte. Das Bild des Mannes war dem Publicum getrübt, ver¬
zerrt und verzogen. Darum eben faßten ihn auch so Viele nur wie
ein Ueberbleibsel auf aus abgelebter Zeit, und man hatte für ihn
meistens nur die Sympathie der Pietät. — Damit hat ihm die Welt
ein bitter Unrecht zugefügt. Denn Arndt ist eben einer der aus
jener Zeit in so geringer Anzahl in die Neuzeit Uebergetretenen, die
jene deutsche Vergangenheit und ihre Bestrebungen, ihre Kämpfe und
ihre Siege nichr für das Höchste »ut Beste halten, sondern auch
der neuen Zeit ein theilnehmend Auge schenken und dasselbe nicht
altersmüde oder grämlich gegen deren Neugestaltungen schlössen. Es
ist in Moritz Arndt das ewig vorwärts treibende Element noch heute
so mächtig, als vor fünfzig Jahren, und der nun achtundsiebenzig
Jahre alte Greis ist eine eben so kraftvolle Potenz, wie der achtund-
zwanzigjährige Mann, welcher den „Geist der Zeit" mit seinem ro¬
chen Herzblut geschrieben hatte. Aber, gestehen wir'S offen, dies im¬
mer wiederkehrende Verwarnen vor französischen Einflüssen, wie jede
seiner ältern und neuern Schriften es zeigt, hatte uns so getäuscht, daß
wir glauben mochten, sein ganzer Liberalismus sei veraltet und seine
Anforderungen seien unpassend für die neue Zeit. Wir mochten ihn
gern eben so achselzuckend bei Seite legen, wie jene ganze, wenn
schon kurze Episode der Neuzeit, deren Spitze das Becker'sche Rhein-
lied durch Uebertreibung und Fanfaronade abgebrochen hatte und
deren ganze Richtung nachher fast belächelt wurde. Wir hatten ge¬
gen Arndt jene Pietät der Kinder, die einem altersschwachen Vater
daS unbedingte Anpassenwollen längst beseitigter Strebungen auf ganz
neue, auf ganz abweichende Verhältnisse mit Worten nicht tadeln,
aber stillschweigend als beseitigt bei Seite legen. Dies eben lag
darin begründet, daß wir Arndt'S politischen Entwickelungsgang nicht
genau genug kannten und also die Pragmatik seiner politischen An¬
forderungen nicht genügend würdigten. Diese aber ist es, welche
uns jene drei Bände von Arndt'S Schriften an und für
seine lieben Deutschen*) kennen lehren, und darum sind sie nicht
nnr literarhistorisch wichtig, sondern sie müssen auch tiefeingreifend in
unsere neueste Zeit und dessen politisches Leben genannt werden.
Diese Schriften sind chronologisch geordnet. Auf solche Weise
schließen sie sich eng an die Schwankungen deutschen politischen Le¬
bens, wie sie von 1810—-1815 die deutsche Welt umherwarfen.
Man mochte sie eine politische, eine culturgeschichtliche Memviren-
sammluug jener Periode nennen, in welche der Culminationspunkt
des Arndt'schen Lebens und Wirkens fällt. Sie sollen uns jetzt, da
endlich die Nothwendigkeit des Strebens nach deutscher Einigung und
ein Nationalbewußtsein zur allgemeinen Ueberzeugung gekommen, ein
warnend Spiegelbild jener Vergangenheit sein, in welcher die Zer¬
splitterung ein so Schmachvolles Elend auf unser Volk häufte. Sie
sollen aber auch zur Erkenntniß jenes machtvollen Aufschwungs bei¬
tragen, welcher sich eben aus dem tiefsten Elend entwickelte und uns
frei machte — soweit man's erlaubte. Darum mochte wohl auch
Arndt in seiner Einleitung zu diesen Aufsätzen jene Frage kühn bei
Seite werfen: „Aber warum alte vermoderte und vergessene Papiere,
über welche die so frisch und geschwind schreitende Zeit lange weit
hinausgeschritten ist, wieder gleichsam aus dem Grabe herausholen?"
Ja, die Zeit schritt weiter, schritt eilig wei-ter nach manchen Richtun¬
gen hin, aber in mancher Richtung blieb sie auch auf jenen Stand¬
punkten haften; und daß selbst das Herrlichste ohne Fortschritt zum
Rückschritte wird — wer mag es leugnen? Wir aber täuschen uns
leichtlich selber über unsere Vorschritte und verkennen die Rückschritte
in vielen Hinsichten. Wir stehen noch ans tausend Pnnkren eben
nur dort, wohin das Jahr 18!5 Deutschland gebracht hatte, und
wenn wir uns stolz suhlen im Bewußtsein der Verallgemeinerung
politischer Bildung, vergessen wir's leicht, wie eben daraus sich auch
eine Zerspaltung des individuellen politischen Strebens herausbildete.
Dies eben ist aber einer jener Punkte, auf welche Arndt immer und
immer verwarnend hindeutet. Er spricht es nirgends mit klaren, dür¬
ren Worten aus; aber Bewußtsein ist's ihm, wie wir noch nicht zur
Fähigkeit der massenhaften Parteienbildung gelangt sind, und wie
eben in solchem Fähigkeitsmangel die Nichterlangnng politischer Re¬
sultate von Bedeutung wurzle. Ein treuer Eckart, ruft er allüberall
zur Einigung der Kräfte und des Wirkens ^- und dieser Ruf darf
noch heute nicht verhallen. Denn sind wir auch in den weitesten
Umrissen zum Nationalbewußtsein gelangt; in der einzelnen Ausfüh¬
rung gilt noch dasselbe zerspaltete und nach allen Seiten auseinan-
dergehende Wesen wie damals. Es ist auch noch ein zweiter
Punkt der Arndt'schen Schriften jener frühern Periode, der noch heute
eben so geltsam ist, wie damals, als sie zuerst entstanden. Dies ist
der Punkt großer Vorliebe unter uns für das Ausländische. Wir
mögen's noch heute nicht wegwerfen und Halten's für Bildung, wenn
wir's uns aneignen. Wohl ist uns nichts so nachtheilig, als das
biderbe Lobsingen des unübertrefflichen, echten Deutschthums. Aber
echt müssen wir dennoch bleiben, wenn wir uns auch bilden sollen.
Denn auch das Vortrefflichste veraltet ohne Weiterbildung. —
Doch, was sollen hier Aufsätze gepriesen werden, die eben durch
sich selber so unendlich wirksam? Wer sie liest, diese beiden ersten
Bände der Schriften Arndt'ö an seine lieben Deutschen, findet dies
Alles selber, und wer nicht, den lockt auch daS nicht, was hier da¬
rüber gesprochen wird. — Noch näher aber, als jene ersten beiden
Bände, schließt sich der dritte an das Heute. Alle seine Aufsätze
stammen aus den Jahren 1830 — 1844. Hier ist es schwer, nur
einen einzigen Artikel zu nennen, der nicht von größter Bedeutung für
das innerste Detail unsers politischen Lebens sei. Da ist jene wich¬
tige „Frage über die Niederland und das Rheinland" vom Jahr
1831, ferner von „Belgien und was daran hangt" vom Jahr 1834
„das Turnwesen/' ferner „Die Weltliteratur," da sind die Charakteri¬
stiken Talleyrand'ö, Gneisenaüs, Reimer's, und in den „Erinnerungen,
Gesichten und Geschichten" bringt Arndt ein Stück der prächtigsten
Memoiren aus seinem Leben. Da ist überall Anregung zu ernstem
Nachdenken und Belehrung über wichtigste Geschichte. Da steht er
überall der alte, junge, der manneskräftige und wie ein Jüngling
empfindende, der vielgeprüfte und doch durch und durch markvolle
„Vater" Arndt. Das Publicum, jenes ernste und denkende Publi-
cum, welches die Geschichte macht, es muß ihn hören und es wird
ihm zujubeln diesem durch und durch deutschen Manne.
In Betreff der Ccnsurreform, wie sie nach mancherlei Anzeichen
zu erwarten stand, will man jetzt wissen, daß vor der Hand „Alles
hübsch beim Alten bleiben werde." Wir können und wollen diesem
Gerüchte, das in den hiesigen literarischen Kreisen allgemein cursirt,
so lange keinen Glauben beilegen, bis nicht offizielle Thatsachen
über diese wichtige Angelegenheit vorliegen, was bis jetzt noch nicht
der Fall ist. Man kann kaum annehmen, daß, nachdem selbst ein
Staatsminister mit eigenem Munde das Geständnis; abgelegt hat,
die Censur werde in einer dem Geiste der bestehenden Preßgesetze,
den Absichten des Monarchen ganz entgegengesetzten Weise gehandhabt,
diese den Gesinnungen des Staatsoberhauptes und dem Buchstaben
des Gesetzes widerstreitende Geistesbevormundung, welche überdem ganz
ungleich ausgeübt wird und blos den deutschen Theil der Bevölkerung
so unverhältnißmäßig drückt, fürderhin noch fortbestehen könne, ohne
der öffentlichen Meinung im Angesichte Deutschlands und der gestimm¬
ten gebildeten Welt auf eine raffinirte Art Hohn zu sprechen. In
diesem allerdings höchst unwahrscheinlichen Falle soll man gesonnen
sein, die von den hiesigen Schriftstellern eingereichte Petition sammt
den Belegstücken, welche einen sehr interessanten Einblick in die Art
und Weise, wie bisher bei uns der Rothstift geführt worden, gestatten,
dem Druck zu übergeben, damit das Publicum einmal erfahre, aus
Thatsachen erfahre, was hier gestrichen wird. Ein Heft von Lewalds
sonst so zahmer Europa brachte unlängst einen scharfen Artikel über
die hiesigen Ccnsurverhaltnisse und wurde deshalb nicht ausgegeben.
Wahrscheinlich wollte sich dieses Journal dadurch von dem ihm mit
vollem Recht gemachten Vorwurf gesinnungsloser Geschmeidigkeit rein
waschen und durch eine oppositionelle Heldenthat seinen Glanz etwas
auffrischen, der nachgerade selbst in den Augen der österreichischen Leser
zu erblinden anfängt.
Baucrnfeld, der den regsten Antheil genommen bei der Preßpeti¬
tion, befindet sich jetzt in Paris. Seine Briefe von dorther sind in
einem dithyrambischen Geist des Entzückens und der Betäubung abge¬
faßt; der majestätische Strom eines freien Volkslebens, wie er die
Straßen der französischen Hauptstadt durchflutet, wirkt gar mächtig
auf seinen empfänglichen Geist, dem eben^nichts anderes gefehlt zu
haben scheint, als ein solcher Schauplatz, eine bewegte Gesellschaft,
um Ungewöhnliches zu schassen und zu erstreben. Das Schicksal, das
ihn in das „Capua der Geister", wie Grillparzer seine Vaterstadt
nennt, geschleudert, hat ihm zwar die Entwicklung rauben können,
aber nicht die angeborne Empfänglichkeit, den offenen Sinn für die
Erscheinung eines großartigen politischen Lebens. Er rühmt die Auf¬
merksamkeit und die Artigkeit der Franzosen, mit welchen er bis jetzt
in Berührung gekommen und erzählt mit besonderem Behagen das
gefällige Benehmen des Kammerpräsidenten, an welchen er gleich bei
seiner Ankunft geschrieben, um sich eine Karte auf die Gallerie deS
Saales im Palast Bourbon zu erbitten und der ihm einige Stunden
später in dem Hotel seine Visite machte, wobei er ihm die gewünschte
Eintrittskarte zustellte.
Nun soll auch endlich die schon über ein Jahr lang unbesetzt
gehaltene Stelle eines Obersthofmeisters Seiner Majestät des Kaisers
besetzt werden, welche durch den Tod des Fürsten Colloredo erledigt
worden. Nachdem man diesen Posten vorerst dem österr. Botschafter
am französischen Hose, dem Grafen Appanv, zugedacht hatte, wird
jetzt Graf Cholet, der frühere Oberstburggraf von Böhmen, als der
muthmaßliche Eandidat genannt, was allein hinreichen würde, die
Gerüchte über die schiefe Stellung dieses Staatsmannes zum Hofe,
die Anfangs Glauben fanden, vollends zu beseitigen. Der genannte
Posten ist übriqens blos ein Ehrenamt, da mit demselben nicht mehr
als 500V Fi. E.-M. Gehalt verbunden ist, doch nimmt derselbe den
ersten Rang unter den Hofchargen ein, und der mit ihm Betraute ist
zugleich oberster Chef aller kaiserlichen Leibgarden.
Eine diplomatische Neuigkeit, die hier zu mancherlei Bemerkun¬
gen führt, ist die Ernennung des bekannten Dichters Baron Zedlitz,
der eine Anstellung in der Staatskanzlei besitzt, zum Herzog!, nassaui-
sch-n Geschäftsträger mit 3000 Gulden Besoldung. Aedlitz ist bereits
nach dem Badeort Ischl abgereist, um dem dort verweilenden Herzoge
seine Aufwartung zu machen. Vordem war Ritter von Oheim!, der
zugleich die Angelegenheiten des Herzogs von Lucca hier besorgt, Ge¬
schäftsträger des Herzogs von Nassau. Da indeß dieser Diplomat zu
seinem Vortheil allzu diplomatisch verfuhr, so wurde ihm das bisher
geschenkte Vertrauen entzogen. Baron Aedlitz, einst sehr begütert, hat
durch den Tod seiner Gattin, einer ungarischen Edelfrau, nach den
dortigen Erbschaftsgesetzen, welche den Nachlaß der Frau in einer
kinderlosen Ehe nicht dem Manne, sondern den Verwandten der Ge¬
storbenen zusprechen, sein Vermögen verloren und in Folge einer Ehren¬
sache hat er auch seine Rittmeistersstelle in einem österreichischen Dra-
gonerregimente niedergelegt. Der Staatskanzler nahm den Dichter
und Ehrenrittmeister spater in seine Privatstaatskanzlei, denn es theilt
sich die hiesige Staatskanzlei in eine kaiserliche und in eine Privatstaats¬
kanzlei, wo er einen Gehalt von 40W Gulden genießt. Diese ange¬
nehme und lucrative Stellung ist Baron Zedlitz keineswegs gesonnen
dem diplomatischen Posten zu opfern, womit ihn Se. Hoheit bekleidet
und so ereignet sich hier der gewiß anomale Fall, daß ein Beamter, der
österreichischen Staatskanzlei zu gleicher Zeit in Diensten eines andern
deutschen Souverains steht. Aus diesem Grunde könnte Herrn Zedlitz
auch nicht die Prärogative seines diplomatischen Amtes zugestanden
werden, dessen Geschäfte er wohl besorgen, aber dessen äußerliche
Ehrenzeichen (?) er nicht tragen darf.
Die Wirksamkeit des neuen Chefs des Hofburgtheaters fängt
bereits an bemerkbar zu werden. So war unlängst ein neues Stück
aus dem Repertoire angesetzt: „Der alte Magister" von Benedir und
durch mehre Proben zur Aufführung reif, als plötzlich Graf Dietrich¬
stein die Darstellung suspendirte, indem die Novität dem Gebiet der
niederen Komik angehöre und der Bühne der Hofburg sowie den dar¬
stellenden Kräften in keiner Weise angemessen sei.*)
Seit einigen Tagen sehen wir den Stephansthurm wieder mit
einem Brettergerüste umgeben, indem sich immer deutlicher die drin¬
gende Nothwendigkeit einer Reparatur herausstellt, und das Leben der
Vorübergehenden gefährdet scheint. Der Hofbaurath Sprenger, der ohne¬
dem der Feinde nicht wenige zählt, ist der Gegenstand heftiger Angriffe
geworden, in Folge des von ihm vorgeschlagenen und »erfochtenen
Projects, die neun Klafter der Thurmspitze nicht Imehr aus Stein,
sondern aus Eisen zu ergänzen, womit er denn auch trotz vielfältiger
Einsprache durchdrang. Gegenwärtig treten schon die Nachwehen dieses,
wie es scheint mehr blendenden, als soliden Gedankens drohend hervor,
denn die Sonnenhitze dehnt dies in dem alten, mürben Gestein des
Thurmes mit Blei eingelassene Eisen aus und sprengt dadurch die
ohnedem verwitterte Masse, welche auf die Straße herabbröckelt und
dem gußeisernen Gerippe jede feste Basis entzieht. Vergebens bewiesen
zur Zeit, als die Baufrage verhandelt ward, mehrere tüchtige Architek¬
ten aus physikalischen Gründen, daß eine Verbindung des Eisens mit
Stein in solcher Höhe unstatthaft sei, indem die Einflüsse der Atmos¬
phäre allzu bedeutend seien, um nicht in Bälde eine Auflösung dieser
beiden Materialien durch einander zu bewirken. Da Kalte das Eisen
zusammenzieht und Wärme es ausdehnt, so entsteht dadurch eine Rütt-
lung und Lockerung im Steinwerk selbst, das der Dauerhaftigkeit desselben
unmöglich zuträglich sein kann. Obschon die Censurbehörde den Abdruck
eines gegen das vom Hofbauralh Sprenger in Vorschlag gebrachte
Project gerichteten Aufsatzes von einem Sachverständigen in der Wie¬
ner Zeitung gestattete, so blieben doch die Schritte der erwähnten
Baumeister beim Erzherzog Ludwig und dem Staatsminister Graf
Kolowrat ohne Folge, weil diese sich dahin aussprachen, daß sie in
einer rein technischen Angelegenheit keine Stimme haben könnten, und
die Sache jenen Ausgang nehmen müsse, welchen die Baucommission
für den zweckmäßigsten finde.
Da gerade vom Bauwesen die Rede, so muß ich wohl auch eines
Bauwerks Erwähnung thun, das ich so lange nicht berührte, als es
noch Project und seine Ausführung nicht gesichert war, nun aber, da
es bereits in Ausführung begriffen ist, zur Sprache bringen muß. Sie
kennen ohne Zweifel den Prachtbau des sogenannten Damenbads in
der Leopoldstadt, das von dem wüttembergischen Architekten Etzel ent¬
worfen und ausgeführt wurde. Anfangs standen die Actien sehr schlecht,
und viele von den Actionären leisteten keine Zahlungen mehr und
opferten lieber die bisher eingeschossenen Summen aus; doch blos zu
ihrem großen Nachtheil, indem das Bad jetzt seinen Begründern 6
Procente abwirft und der Gewinnst wahrscheinlich noch steigen wird,
wenn nicht die Concurrenz diese Aukunftshofsnungen wieder zerstören
sollte. Dies scheint jetzt freilich der Fall zu sein, da eine zweite Actien-
gesellschaft zusammengetreten ist, die auf einem dem Besitzer des So¬
phienbades abgekauften Grundstück ein zwar kleineres, aber durch kluge
Benutzung aller Umstände mehr auf Ertrag berechnetes Bad, das zu¬
gleich Schwimmschule sein wird, erbauen läßt. Der Plan rührt von
den jungen, aber tüchtigen Architekten Siccardsburg und Van der
Null her und basirt sich ganz und gar auf die mit der Damenbadean¬
stalt gemachten Erfahrungen. Dieser Anstalt thut es keinen geringen
Eintrag, daß sie die strenge Jahreszeit hindurch gehemmt bleiben muß,
weil die Frequenz nicht so bedeutend ist, um die für das Becken der
Schwimmschule erforderliche Quantität Wasser mittelst eines großar¬
tigen Heizapparats zu erwärmen, wie es eigentlich in der Absicht des
Bauentwurfs und der hergestellten Einrichtungen gelegen. Aus dieser
Wahrnehmung hat die neue Gesellschaft alsbald die Warnung abge-
leitet, nicht ebenfalls eine Anstalt zu errichten, deren Nutzung sich
lediglich auf die wärmere Jahreszeit beschränkt, und so haben denn die
genannten Baumeister ihren Entwurf so abgefaßt, daß der Baderaum
im Winter in einen Concert- und Ballsaal umgeschaffen werden kann,
wodurch auch für diese Periode die Möglichkeit der lukrativesten Be¬
nutzung geboten ist.
Merkwürdig ist auch die Persönlichkeit desjenigen, der die Leitung
dieses Unternehmens in der Folge übernehmen wird. Herr Morawctz, von
Geburt ein Mähre, und seines Handwerks ein Tuchappreteur, ist ein
zweiter Prießnitz und wie dieser lediglich Autodidakt, nur erstreckt sich
seine Thätigkeit nicht blos auf die Kaltwasserkur, sondern auch und
ganz vorzugsweise auf das russische Dampfbad, das unsern Sitten
und unsern Meinungen so sehr widerstrebt und mittelst dessen er gleich¬
wohl schon die wunderbarsten Heilungen bewerkstelligt hat. Das Be¬
wunderungswerteste aber bleibt gewiß der Umstand, daß der Leiter
dieser großartigen Anstalt, welche ihrem Eigenthümer einen jährlichen
Gewinn von Gulden abwirft, blind ist. Er kann die
Kranken, über deren Zustand er sich belehren soll, nicht einmal sehen
und die Wahrheit ihrer Aussagen durch scharfen Blick controlliren,
weshalb er mir jedenfalls eine noch merkwürdigere Erscheinung scheint,
als der Wasserarzt in Gräfenberg, der im Besitz dieses unschätzbaren
Vortheils ist.
In den untern Schichten der Bevölkerung und wohl auch zum
Theil in den mittlern Ständen macht jetzt die Prophezeihung eines
alten Aigeunerweibs großes Aufsehen, und jagt nicht Wenigen grause
Befürchtungen ein. Die Hexe verkündete für den nächsten Monat in
Folge der enormen Hitze eine pestartige Seuche, welche das Land ver¬
heeren würde. Die durch diese Weissagung hervorgerufene Aufregung
veranlaßte die Behörde gegen die Kassandra polizeilich einzuschreiten, und
diese wurde denn auch gefangengesetzt, um der leichtgläubigen Menge
nicht ganz den Kopf zu verdrehen.
Der neue commandirends General von Niederösterreich, Erzherzog
Albrecht, erwirbt sich mit jedem Tage mehr die allgemeine Liebe durch
die Strenge, womit er auf der Vollziehung der bestehenden Vorschrif¬
ten hält, von welchen sich manche aus der höhern Aristokratie zu
dispensiren streben. Unlängst fuhr der ungarische Graf Bethlen, der ein
Hofamt bekleidet, in Gesellschaft mehrerer Damen im schärfsten Trab
über eine Brücke im Pcirk des Lustschlosses von Schönbrunn, über
die nicht anders, als im langsamen Schritt gefahren werden soll. Die
Wache an der Brücke rief dem gräflichen Nosselenker zu, langsam zu
fahren, worauf aber dieser gar nicht achtete, sondern unbeirrt fort¬
jagte, bis endlich die zweite Wache am andern Ende der Brücke vor¬
sprang, das Gewehr anschlug und die Pferde niederzuschießen drohte,
sobald der Wagen nicht sogleich stille halte. Der Graf mußte ab-
steigen und ward auf die Wachtstube gebracht, von wo er erst nach
eingeholtem Befehl losgelassen wurde. Am andern Tag erschien ein
Generalsbefehl, der der ganzen Garnison vorgelesen wurde und in dem
das Betragen der beiden Soldaten vom Jagerbataillon, die an der
Brücke geschildert,, verdienter Maaßen belobt und allen Uebrigen als
Muster in ähnlichen Fallen aufgestellt ward.
- Die Statuen Blücher's, Scharnhorst's und Bülow's auf dem
Opernplatze sind heute, am 18. Juni, mit Eichenlaub bekränzt. Wir
feiern heut« das Gedächtniß des berühmten Friedens, dem wir alle die
Segnungen verdanken, welche uns jetzt beglücken: Einheit Deutschlands!
Handelsfreiheit! Verfassung! u. s. f. Die Leute auf dem Opernplatze
sehen einander an und fragen einander, was die Kranze bedeuten.
„Es is der Jeburtsdag von des jroße Velkerjlick," sagte ein Ecken--
secher zum andern. „Velkerjlick, wat is'n det?" versetzte dieser. „Nu
seh' mal," versetzte der erstere, „det is, als wenn Eener 'n Achtel von
des jroße Loos jewinnen duht; er kann nischt dervor. Als wie zum
Exempel Rutschberje in Dierjatten, zoolojischer Zarten, -l 4 Jroschen
de lumpichte Perschon, Corsus, Verein vor die arbeitende Klassen, wo
nischt nich drauß weren kann, daß in Dierjarten de Damens nich
von' Tabak incomedirt weren derfen, daß an Sonntag keene Ladens
uff Sinn, man blos de Victualienladens ausjenommen, Schandarme-
rie, Bettelvvjte un daß de Polezei vor allens sorjt un unser Eenen
nich in seine Birjerruhe steeren laaßt." — Ja wohl, die Wege der
polizeilichen Vorsehung sind unerforschlich. Selbst hier an der Quelle
ist es noch immer unmöglich, über die Ursachen der Itzstein-Hecker'-
schen Begebenheit irgend etwas auch nur einigermaaßen Annehmbares
zu erfahren. Allgemein scheint hier angenommen zu werden, daß die
Sache aus einer Uebereilung, einem Mangel an Berechnung der Fol¬
gen hervorgegangen sei, und das Publicum ist nur gespannt darauf,
wie man versuchen werde, die Scharte auszuwetzen; denn Niemand
mag sich verbergen, daß es sich dieses Mal um etwas mehr handelt,
als um eine persönliche Angelegenheit. Daß irgend eine Art Chargen¬
wechsel eintreten müsse, daran scheint Niemand zu zweifeln.
'
Die Besprechung des Bülow-Cummcrowsehen Bankprojects ist über
das Alles so ziemlich in den Hintergrund gedrängt. Ich kann aber
doch nicht umhin, Ihnen ein Wort darüber zu sagen. Ich glaubte bis-
her, daß die Sache noch als Geheimniß behandelt werden sollte: di-
diese Angelegenheit betreffende Druckschrift des Antragstellers ist näm¬
lich nur als Manuskript an die betreffenden Behörden vertheilt wor¬
den, beiher freilich auch in Privathände gelangt. Nun aber sehe ich,
daß die Börscnnachrichten der Ostsee bereits eine Kritik dieser Druck¬
schrift und zugleich der ebenfalls als Manuscript gedruckten kleinen
Schrift über Banken von Will). Beer bringen. Man kann also un¬
bedenklich über die Sache reden. Unter all dem Abenteuerlichen, das
wir hier in letzter Zeit erlebt haben, scheint mir der Bülow-Cumme-
row'sche Antrag das Abenteuerlichste; ich sage hier nicht, das Pro-
ject (über das aber auch viel zu sagen wäre), sondern, der Antrag.
Denn es ist ein Antrag, der, mit Hoffnung auf Genehmigung —
und ohne solche Hoffnung wäre er doch wohl nicht gestellt worden —
nur in dem guten Glauben gestellt werden konnte, daß bei Gott und
bei einer Regierung alle Dinge möglich sind, auch die nach gemeinem
Menschenverstand unmöglichen. Nach gemeinem Menschenverstand näm¬
lich sollte man es für unmöglich halten, daß ein absolut monarchischer
Staat ein bereits bestehendes, wohlorganisirtes Staatsinstitut, das
aller irgend erforderlichen Vervollkommnung fähig ist, wie die könig¬
liche Bank, aufopfern sollte, um an dessen Stelle ein Privalinstitut
treten zu lassen. Man könnte einwenden, daß das Bestehen von
Privatbanken in wirklich absolut monarchischen Staaten eine Instanz
gegen diese Behauptung bilde, und würde in diesem Falle besonders
auf Oesterreich hinweisen. Allein es würde nicht schwer sein, darzu¬
thun, daß diese den sonstigen Grundsätzen der Verwaltung absolut
monarchischer Staaten im Wesen widerstreitende Einrichtung nur einem
Nothzustande, den die Staatskraft allein nicht zu bewältigen vermochte,
ihren Ursprung verdankt. Ein Anderes aber ist es, ein wenn auch
nicht ganz angemessenes Verhältniß deshalb zuzulassen, weil man die
damit verbundenen Vortheile sonst nicht zu erreichen weiß, und ein
anderes, dieses nicht angemessene Verhältniß geflissentlich und ohne
Noth herbeizuführen, nachdem das Fundament eines weit angemesse¬
neren bereits seit langer Zeit gelegt ist. Wenn es sich nachweisen
ließe, daß eine Privatbank dem Handelsverkehre einige Vortheile ge¬
währte, welche von einer Staatsanstalt nicht erwartet werden könnten,
so ist doch kein Zweifel, daß diese Vortheile aufgehoben würden, erst¬
lich durch die strenge Controlle, welche sich der Staat nothwendig vor¬
behalten müßte, und sodann durch den unvermeidlichen Umstand, daß
die Privatunternehmer das Institut zu ihrem Privatnutzen auszubeu¬
ten suchen müssen. Da nun in Preußen ein Staatsinstitut bereits
besteht, das, um den jetzigen Anforderungen besser zu entsprechen als
bisher, vielleicht nur auf die Unterlage einer geräumigeren Wirksamkeit
gestellt und mit der Freiheit, Noten auszugeben, wieder ausgestattet
zu werden brauchte, so müßte der Staat, um dieses Institut einem
Privatinstitut Preis zu geben oder, richtiger gesagt, aufzuopfern, sich
erst weiß machen lassen / daß das bestehende Institut durch die Ein¬
führung des neuen nicht leiden und sodann, daß dieses neue Institut
auf zauberische Weise Erfolge herbeiführen würde, welche durch eine
Reorganisation des alten nicht zu erreichen sein würden. — Der chi¬
märischen Hoffnung, daß die Negierung sich endlich genöthigt glauben
könnte, auf dieses Project einzugehen, kommt vielleicht nur der einzige
Umstand zu Statten, daß die Abneigung gegen Schutzzölle, welche sich
bisher bei der preußischen Regierung gezeigt hat, und deren Fortdauer
der Handelsstand noch immer fürchtet, von der Presse als Ausfluß
eines büreaukratischen Tief dargestellt wird, dem man auf diesem
Gebiete den Namen „ Fiscalsystem " gegeben hat. Gelingt es, die
Aufrechterhaltung der königl. Bank als ebenfalls einen Theil dieses
sogenannten Fiscalsystems dem Publicum verhaßt zu machen, so wer¬
den daraus für sie dieselben, einem Geldinstitute immer höchst nachtheili¬
gen Antipathien der Geschäftswelt entspringen, welche sich gegen die See¬
handlung in so weitem Umfange entwickelt haben. Der Bericht über
die Verhältnisse der Seehandlung, welcher dem rheinischen Provinzial-
landtag von seinem vierten Ausschusse in der 28. Sitzung abgestattet
worden ist, scheint in der That recht eigentlich darauf abzuzielen, die
Geldinstitute des Staates insgesammt als fiscalisch - organisirte, der
freien Entwickelung der Kräfte und dem Gesammtwohl nachtheilige
Einrichtungen zu befeinden und auf solche Weise der Ausnöthigung
von Privatinstituten Bahn zu brechen. Auch fährt die Aachener Zei¬
tung fort, das Seehandlungsinftitut anzugreifen. Die letzten Artikel,
welche sie in dieser Richtung gebracht hat (Ur. 149 und Ur. 157 d. I.)
wiederholen freilich nur das alte Argument, daß Alles besser stehen
würde,, wenn die Negierung vom Bevormunden abließe. Diese Art
der Argumentation verschiebt ganz und gar den einzig richtigen Ge¬
sichtspunkt, unter welchem die Angelegenheit zu betrachten ist. Denn
wie ist es möglich, die Concurrenz irgend eines Staatsinstituts als
Bevormundung zu betrachten? Macht doch diese Concurrenz todt, so
seid ihr sie los! Die Paar Millionen, mit welchen die Seehandlung
arbeitet und welche sie auf ein Dutzend verschiedenartige Geschäfts-
branchen zersplittert, sind doch wahrhaftig nicht unüberwindlich. Von
fiscalischen Einrichtungen kann aber bei Instituten, wie Seehandlung
und Bank, nicht die Rede sein, denen eine von der Finanzverwaltung
des Staats unabhängige Stellung und Einrichtung mit aller Gcflis-
sentlichkeit gegeben worden ist. — Was übrigens die Zeitungsnachrich¬
ten betrifft, daß die preußische Regierung auf dem bevorstehenden Zoll-
congreß steif und fest bei ihrem alten sogenannten Freihandelssystem,
oder, wie es jetzt in den öffentlichen Blättern qualificirt wird, fisca¬
lischen System beharren werde, so habe ich Ursache, sie für unrichtig zu
halten. Das Vorgeben, als würde Herr v. Rönne nicht nur nichts
erreichen, sondern wohl gar von seiner Stellung zurücktreten müssen,
scheint jedes Grundes zu entbehren. Obwohl nicht zu zweifeln ist,
daß der Einfluß der Herren Beuth und Kühne noch immer groß genug
ist, und daß die Herren von ihren alten Ansichten nicht weichen. Die
unbedingte Herrschaft des Systems, dem sie anhängen, ist aber jeden¬
falls, wenn auch noch nicht gebrochen, doch beträchtlich erschüttert.
Man theilt mir einen Privatbrief aus Königsberg mit, aus wel¬
chem zu entnehmen, in welcher Weise Se. Majestät dort ^ wahrhaft
väterlich — den (Zivil- und Militärbehörden den Text gelesen. Die
Bürgerschaft, heißt es, gehe damit um, ein Schreiben an Se. Ma¬
jestät in Betreff der gegen sie gethanen Aeußerungen zu richten.
Zum Schluß dieses Briefes kann ich noch einen komischen Fall
erzählen, der einen meiner hiesigen Bekannten betroffen hat. Einem
für die hiesigen Zeitungen bestimmten Inserat, welches einen nur den
Eingeweihten verständlichen Scherz zwischen Privatpersonen enthalt, und
wörtlich lauten sollte wie folgt: (Eingesandt) „Anton, steck'n Degen
bi!", diesem Inserate hat die Censur des hiesigen Jntelligenzblattes
das Imprimatur verweigert — aus unbekannten Gründen. Es ge¬
schehen auch hier wie anderwärts Dinge, von denen sich unsere Welt¬
Sie entschuldigen wohl, daß ich trotz des schnellen Abdrucks des
von mir eingesandten Berichtes eine geraume Zeit verfließen ließ, ehe
ich dem ersten Briefe einen zweiten folgen lasse. Allein zum Theil
scheint es uns, als werde ohnedem so viel geschrieben über das in man¬
cher Beziehung interessante Land an der untern Donau, und auf der an¬
dern Seite sind unsere localen, sowie politischen Zustände dergestalt in der
Schwebe, daß sich kaum ein fertiges, in sich abgeschlossenes Bild der
hiesigen Verhältnisse bringen läßt. Es gibt vielleicht kein einziges Land
in Europa, wo so viel edle und heiße Bestrebungen wie Verlornes Blut
in den Sand verirren und ein ungewöhnlicher Kraftaufwand so häu¬
fig resultatlos endet. An dem kommt noch die fabelhafte Empfindlich¬
keit des hiesigen Publicums, das unter sich nicht eben auf die feinste
Weise auftritt, aber dafür von den auswärtigen Sprechern einen Aart-
sinn und eine Urbanität beansprucht, die selbst beim besten Willen
nicht erlangt werden kann, ohne der Sache zu schaden, die man ver¬
treten will und deren Erörterung von gewissen persönlich treffenden
Bezügen schwer zu trennen sein dürfte. In einem Lande, das von
verschiedenen Völkern bewohnt und durch eine kräftig und siegreich ein¬
herschreitende Majorität (oder Minorität) in hitzige Aufregung versetzt
ist, kann man kaum Allen gerecht werden, und darum wollen wir
denn fortan blos dahin streben, die Meinung eines bedeutenden Theils
der Bewohner Ungarns auszusprechen, eines Theils, dem es bis jetzt
noch nicht vergönnt gewesen, in Ungarn selbst seine Stimme ertönen
zu lassen und der deshalb ein natürliches Recht besitzt, sein Sprachrohr in
die Ferne zu richten und durch das Echo mit der Heimath zu reden.
Der Erzherzog Palatin, der erst vor Kurzem durch den Besuch
des ihm engverwandten Kronprinzen von Würtemberg") und seines-
geistvollen, hier überaus beliebten Sohnes, des Erzherzogs Stephan,
überrascht worden, wohnte jüngst einem in seiner Art gewiß selte¬
nen Feste bei, indem er nemlich von den Jazngcrn in Jaszbereny,
einer Grundherrschaft im freien Landbezirke der durch mancherlei Pri¬
vilegien ausgezeichneten Kumanen und Jazygcr, zu der Freudenfeier
eingeladen wurde, welche man dort zur Verherrlichung des Tages
beging, an dem die Gemeinde sich von dem ihr tief verhaßten Joche des
deutschen Ritterordens wieder befreit hatte. Vor hundert Jahren, zur
Zeit des österreichischen Erbfolgekrieges, war Jaszbereny wegen Geld¬
mangels an den genannten Orden gegen eine nicht eben betrachtliche
Summe verpfändet worden, und seit jener Zeit wollte sich nie eine gün¬
stige Gelegenheit darbieten, um die Auslösung des verpfändeten Land¬
strichs zu bewirken, bis endlich jetzt auf dem Wege freiwilliger Bei¬
steuern der Betrag aufgebracht ward, der zur Loskaufung von den dem
freigearteten Jazygervölkchen so lästigen Zwangsrechten des Fremdlings
erforderlich war. Das gab ein Fest, ein echtes Volksfest, wie ich noch
nie ein ähnliches gefehen. Es ist mir in der That ganz unbegreiflich,
wie die Bewohner der großen Städte, wie man in Pesth, ja selbst
in Wien, eine derartige Gelegenheit so gleichgiltig hingehen lassen
kann, während man sich doch sonst immer so heißhungrig nach Volks¬
festen geberdet und weine Reisen nicht scheut, um einem Schützenfest
beizuwohnen oder sonst einem Belustigungstag des Volkes, das sich
nie inniger ausschließt in seiner tiefsten Eigenthümlichkeit, als in den
Momenten der Freude und Ungebundenheit. Was ist die Brigitten-
au, was ist der Prater, was das Ncpumukfcst in Prag, das Octo-
herscht in München gegen eine Volksfeier, wie ich deren zu Jaszbe-
reny Zeuge gewesen! Ueber 1M> Reiter auf den schönsten Pferden mit
flatternder Mähne, eingehüllt in ein malerisch frappantes Nationalkleid
das zu den Zügen der dunkelfarbigen Gesichter so gut paßt und beinahe
aussieht, als sei es mit den straffen Gliedern dieser urkräftiger Män¬
ner auf'S Innigste verwachsen, bildeten die Festgardc, ritten aber keines¬
wegs in jener polizeilich tristen Ordnung, wie man ähnliche Züge wohl
anderswo zu schauen bekommt, sondern tummelten so bunt und pracht¬
voll auf der Ebene herum, daß man versucht war, diese wilden Schaaren
für ein Gewölk zu halten, das vom Sturmwind gepeitscht, in tausend
Flocken auseinanderstiebt. Denn die Masse des Volkes selbst, das far¬
benreiche Gewühl der Weiber und Kinder, in deren kleinen stechenden
Augen nicht jene blöde Verwunderung und ängstliche Scheu zu lesen war,
welche Kinder bei derlei Anlässen gewöhnlich zeigen, sondern aus denen
bereits das Feuer der Theilnahme, die brennende Sehnsucht des Ehr¬
geizes blitzte, der unwillig mit den Füßchen stampft ob des knaben¬
haften Alters, dem es nicht verstattet ist, sich in die Reihen der Män¬
ner zu mischen, und das noch manches Jahr abwarten muß, bevor
eS sein kann, wie jene. Lasse sich dock) Niemand abhalten, Ungarn
zu besuchen, das heißt nicht auf dem Dampfschiff, sondern zu Pferd
oder im Wagen, von Pesth gegen die Theiß zu, oder nach Stuhl¬
weißenburg und die siebenbürgischen Grenzmarken hin. Der deutsche
Reisende wird einen Schatz von poetischen Eindrücken mit fortnehmen
und eine Ahnung bekommen vom Duft des orientalischen Lebens. Un¬
begreiflich fast, wie Lenau's und Beck'S Poesieen dem deutschen Publi-
cum noch keine Sehnsucht haben einflößen können nach dem wolken¬
losen Himmel, der auf die endlose Ebene herabschaut, nach den Klän¬
gen des Tubels und den Melodien der slavischen Sänger!
Die nationalen Reibungen dauern, wie dies auch nicht anders mög¬
lich scheint, immer fort und gewinnen täglich an Umfang und Tiefe, wenn
auch die ursprüngliche Heftigkeit, das äußere Schäumen und Brausen
sich allgemach verliert und einer mehr planmäßigen Kriegführung Platz
macht. Die Parteien lernen sich nach und »ach als solche achten und
streiten mit einander wie gleichberechtigte Mächte, was denn doch schon
ein großer Fortschritt politischer Bildung ist und jedenfalls dem ra¬
senden Anfällen alles Gegnerischen vorzuziehen wäre. Daß die ande¬
ren Volksstämme nunmehr gleichfalls journalistisch vertreten sein sollen,
wird ohne Zweifel einen wohlthätigen Einfluß ausüben auf die Stim¬
mungen im Lande, die nachgerade ansingen eine bedrohliche Seite zu
gewinnen, da verschluckter Aerger unter allen Umständen am meisten
erbittert und zum Aeußersten reizt; ja auch die Regierung wird dabei
eine bessere Stellung gewinnen, indem sie die Parteien sich bekämpfen
läßt und ein Justemilieu beobachten kann, das ihr blos nützen, aber
nicht schaden kann, indeß sie bisher allzu sehr den Strömungen des
einzig berechtigten Magyarismus blosgestellt war und die einen ver¬
letzte, ohne die anderen zu gewinnen; diese Erkenntniß scheint denn
auch am meisten mitgewirkt zu haben bei der Concessionirung der deut¬
schen Pesther Zeitung und des slavischen Journals, welches unter Pro¬
fessor Seur's Leitung erscheinen wird. Man kann beinahe mit Ge¬
wißheit voraussagen, das slavische Blatt werde seine Ausgabe mit
mehr Feuer und Geist auffassen und mit besserem Erfolge zu lösen
wissen, als dies von Seite der deutschen Pesthcr Zeitung geschehen ist.
Wir achten jede Ueberzeugung, und nichts erfreut uns mehr, als männ¬
liche Consequenz. Wenn Herr Jan), der nebenbei erwähnt, jetzt
seine Stelle als Stadtrichter von Pesth niedergelegt hat, um seinen
neuen Dienstposten als Rath und Beisitzer des königl. Wechselgerichtcs,
anzutreten, für gut fand, in die Posaune des Magyarismus zu stoßen
und seinen ehrlichen deutschen Namen Tretter in den ungarisch klin¬
genden Jary zu verwandeln, so haben wir gar nichts dagegen, denn
eS wäre schlimm, wenn es nicht gestattet wäre, mit den Wölfen zu
heulen, obschon er keine Ursache hatte, sich des Namens seiner
Boreltern zu schämen, während allenfalls diese jetzt in der Lage wären,
sich schämen zu müssen. Wie aber kommt Saul plötzlich unter die
Propheten? Mit welchem Recht stellt der Magyarisirce sich an einem
schönen Morgen wieder an die Spitze derjenigen, welchen er kurz vor¬
her ein Schnippchen geschlagen und die er für ein Linzengericht verschachert
hatte? O Esau! ich traue deinen patriotisch tönenden Worten nicht,
und wenn Du Dich so kriegerisch auf das publicistische Roß wirfst
und den Moses spielen möchtest, der dies verstoßene Bürgervolk aus
der Wüste in das gelobte Land constitutioneller Berechtigung hinüber-
geleiten will, so muß ich Dir zurufen: Du bist ein falscher Prophet
und schlechter Moses, wir sollen durch das rothe Meer, damit Du die
Perlen dabei fischen kannst, und das Quellwasser, das Du aus dem
Felsen schlägst, wird kaum einen Anderen laben, als Dich ganz allein!
Ohne biblische Figur gesprochen, Herr Jary hat seinen Ansührerposten
nur auf höheren Befehl übernommen und mit dem Auftrage, aus
der städtischen Bevölkerung eine zahme Miliz zu bilden, mit welcher
man im Nothfall allerlei Demonstrationen und Scheingefechte ausfüh¬
ren kann. Von einer Emancipation des deutschen Elements ist dabei
gar nicht die Rede, nur gedrillt soll das Bürgerpack werden und eine
militärische Parteiorganisation erhalten. Was die vublicistischen Lei¬
stungen der Zeitung selbst betrifft, so kann man ihr einen gewissen
Tact in Behandlung der Tagesfragen nicht absprechen, denn Tact war
von jeher die Sache des Herrn Jary. Aber es fehlt an Energie des
deutschen Gedankens, an Entschiedenheit des Tons und dem Bewußt¬
sein einer festen, nationalen Parteiexistenz; neben manchen gutgedach¬
ten und gutgeschriebenen Artikeln begegnet man einem Wust uninteres¬
santer, schülerhaft stylisirter Eorrespondenzen aus Abdera, Schilder,
Burtchude u. s. w., die einem die Lectüre verlangweilen. Allerdings ist
es sehr schwer, in Ungarn für ein deutsches Journal eine Anzahl tüch¬
tiger Mitarbeiter über einheimische Fragen zu bekommen, denn die
gerühmte deutsche Intelligenz ist hier zu Lande sehr sparsam gesäet, die
Bürgerschaft zumal in dem bodenlosesten Philisterwesen befangen und
keines höhern Aufschwungs fähig. Daher die erbärmliche Rolle des
Bürgers in Ungarn, dem an Scharfblick Lebens und politischer
Thatkraft oft der lumpigste Sauhirt überlegen ist. Der ungarische
Bürger geht nicht über seine vier Pfähle hinaus und hat von allen
den Dingen, welche in den Comitatsversammlungen verhandelt wer¬
den, wenig Begriff. In Ungarn steht die Intelligenz beim ComitatS-
adel und nicht beim Mittelstand, wie in den meisten übrigen Ländern,
und das erklärt Vieles für solche auswärtige Leser, die sich nicht von
der Meinung losmachen können, der Comitatsadel poche lediglich auf
den Säbel und seine alte Constitution. Während die magyarischen
Journale, sowohl die konservativen als liberalen, von nah und fern
die trefflichsten Einsendungen erhalten, welche ihnen eben die geistige
Frische und den politischen Reiz verleihen, der durch nichts Erkünstel¬
tes ersetzt werden kann, und sie diese kostbaren Beiträge von Nicht-
journalisten nicht einmal zu honoriren brauchen, steht ein deutsches
Blatt einsam und auf seine Siren Mitarbeiter verwiesen da und ver¬
mag kaum, durch betrachtliche Geldopfer sich dürftige Nachrichten von
Kammerdienern und Thürstehern zu verschaffen. So ist es, und es
ist traurig, daß es so ist.
Die magyarische Partei greift in ihren nationalen Kämpfen noch
immer mitunter zu sehr schmachvollen Mitteln, wenn es ihr darum
zu thun ist, ihre Gegner zu verderben und diese bereits eine Stellung
gewonnen haben, die nicht mit Drohungen und Scheltworten zu spren¬
gen ist. Da hat sich denn an der Bergakademie zu Schemnitz, der
einzigen im ganzen österreichischen Kaiserstaate, eine slavonische Ge¬
sellschaft unter den Studirenden gebildet, welche hauptsächlich aus Böh¬
men, Mährern, Schlesien, und Slowaken besteht, die ihre Zusammen¬
künfte hielt, in denen slavische Zeitschriften und die neuesten Erschei¬
nungen der slavischen Literatur gelesen wurden. Ihre Mitglieder um¬
faßten die Mehrzahl der Akademiker, da die Deutschen, wie überall,
so auch hier, indifferent blieben, und die Magyaren nur ein kleines
Häuflein 'bildeten, das sich blos durch Wuth und Verfolgungsgeist
auszeichnen konnte. Die Feindschaft zwischen der slavischen und der
magyarischen Gesellschaft nahm in.it jedem Tage zu und ihre Folgen
wurden selbst im geselligen Leben der Stadt auf die mannigfaltigste
Weise sichtbar, bis endlich die Magyaren, die sich überwältigt sahen,
zu dem Mittel der Angeberei schritten und bei der Behörde die An¬
zeige von dem Bestehen eines unerlaubten Vereins unter den slavi¬
schen Studenten machten. So sieht sich jetzt das Oberstkammergrafen-
amt, dessen Chef eben gewechselt worden, zu einer Untersuchung ver¬
anlaßt, welche unterblieben wäre ohne die Leidenschaftlichkeit feiger De¬
nuncianten, da in dem Wesen der Verbindung durchaus nichts Straf¬
würdiges liegen soll, und ihr Dasein keineswegs so ganz unbemerkt
geblieben war. Doch hofft man von der Humanität und dem auf¬
geklarten Sinn des von Wien als Oberstkammergrasen hierher versetz¬
ten Baron Rittcrstein, daß diese unliebsame Angelegenheit im Guten
beigelegt werden und zu keinen auffälligen Resultaten führen wird.
Willmers, der ausgezeichnete Pianist, war bei uns und hat die
glänzendste Ausnahme gefunden, sowohl als Künstler, wie auch als
Mensch;.er ward in die erlesensten Kreise der hiesigen Gesellschaft ge¬
zogen und der Kör, ein Nationalverein, gab ihm ein Festessen. Will¬
mers bezeugte sich dafür dankbar und componirte einige ungarische
Volkslieder, die reißend Glück machen. Auch gedenkt er eine Oper
zu schreiben, wozu ihm von einem hiesigen deutschen Literaten, Herrn
Seidlitz, ein Libretto versprochen wurde.
Itzstein und Hecker sind hier des Tages Losung. Wer Cöln vor
zehn Jahren gekannt und jetzt die allgemeine Theilnahme gewahrt,
welche die Jedem bis dahin unerklärliche Ausweisung der beiden Ehren¬
männer hervorgerufen, muß glauben, eine neue Bevölkerung sei in
die Mauern der alten Stadt eingezogen. Der alte, feste Freiheitssinn,
für den Cölns Bürger so lange gegen Pfaffenmacht und Pfaffenlist
gestritten, ist wieder erwacht, nachdem er, seit man Nikolas Gü-
lich 1686 auf dem Blutgerüste sterben ließ, weil er die Bürger¬
rechte gegen die Patrizier-Aristokratie in Schutz nahm und männlich
vertheidigte, in einer unbegreiflichen Apathie geschlummert hatte; das
tolle Freiheitsspiel der Revolution war nur ein flüchtiger Rausch, denn
als die Männer der Freiheit hier ihre Tricolore aufpflanzten, waren
heimlich die Fesseln des Volkes schon wieder geschmiedet. Es galt
nur, dasselbe nach und nach wieder an dieselben zu gewöhnen.
Mit einer wahrhaft kindlichen Rührung ist es anzuschauen, wie alle
Classen gleichsam eine religiöse Pflicht darin finden, den beiden Män¬
nern ihre Theilnahme zu zollen, mit welcher Pietät die Adresse an
dieselben von Tausenden unterzeichnet wurde. Und da wollen gewisse
Leute noch an einem Fortschritte der politischen Mündigkeit des deut¬
schen Volkes zweifeln, ihn nicht bemerken, weil er nicht in ihren Kram
paßt! — Die Herren I. Dumont, Herausgeber der Cölnischen sei-
tung, F. Heuftr, Kaufmann, Dr. Clasen, Arzt, und wie man be¬
hauptet noch zwei unserer Stadtrathe sind eben auf dem Wege, um
die Adresse im Namen der Unterzeichner zu überbringen. Nirgends ist
dieselbe mit einer wärmern und innigern Sympathie unterzeichnet wor¬
den als hier in der Metropole der preußischen Rheinprovinz. Niemand
schloß sich da aus, als die Staatsbeamten und einige servile Seelen,
die aus Furcht, einem ministeriellen Schooßmopse mißliebig zu werden,
von der Cholera befallen werden könnten.
Von allen Seiten berichtet uns die Cölnische Zeitung, die sich
in der ganzen Angelegenheit ehrenwerth benimmt, von Adressen an die
beiden Ehrenbürger Deutschlands, über das, was aber u»ter ihren
Augen vorgeht, darf sie nichts mittheilen, nicht eine Silbe berich¬
ten — so will es die Censur, die wahrscheinlich nach höherer In-
struction verfährt. Ob man in großer Weisheit vielleicht glaubt, es
würde die Gesinnung der Bessern Cölns — und das ist, stolz sagen
wir's, die Mehrzahl — und ihr Handeln in dieser Sache dem deutschen
Lande unbekannt bleiben, weil man den hiesigen Blattern nicht er¬
laubt, davon zu reden, selbst das Thatsächliche mitzutheilen? Nein,
so beschränkt kann im neunzehnten Jahrhunderte Niemand mehr sein,
es sei denn der rheinische Beobachter, der in Allem wenigstens
um ein halbes Säculum zu spat kommt und mit seinem Belfern und
Schönthun, seinem Beißen und Schnappen nach Luftgebilden bei allen
Cölnern, die nicht an gewisse Unfehlbarkeiten glauben, zur eigentlichen
komischen Person geworden und zu aller Ergötzen, im ni-ilev-me jennv
dummen, einherstelzt. Wir können Mancherlei von unserer Regierung
glauben, nach der Ausweisung der badischen Deputirten, der Bürger
eines Zollvereinsstaates, aber bei Gott nicht, daß der rheinische Beob-
abachter von ihr bezahlt sei, wie man hier allgemein behauptet, wes¬
halb — das sind die Früchte solcher Verbindungen — ihn auch Nie¬
mand liest. Unser ni-dovimt ^um Imaum hat gewiß Zuflucht zu
seiner Hausapotheke genommen, sich ein Brausepulver applicirt, als
er vernahm, daß die preußische Stadt Cöln auch eine Adresse an von
Itzstein und Di. Hecker ergehen ließ.
Wie weit der Tact gewisser Leute sich versteigen kann, mag man
daraus ersehen, daß d?r Commandeur unsrer Landwehrbrigade, Ge¬
neralmajor de Finance, beim Schlüsse der diesjährigen Uebung die
Capitains der beiden Bataillons und außerdem von den sechsundzwanzig
andern Officieren, die fast alle ehrenwerthe Bürgersöhne sind, nur drei
adelige Secondlicutenants zu einem Diner einlud, und zwar sind diese
drei adligen Secondlicutenants gerade die jüngsten, in diesem Jahre
zuerst zur Uebung berufenen Offiziere. Wenn die Cölnische Zeitung mel¬
dete, die Bürger, welche das Offiziercorps unserer Landwehr kennen,
würden diese Ehrenbezeugung zu würdigen wissen, so darf der Bericht¬
erstatter versichert sein, daß dies geschehen, denn in solchen Dingen
hat der Cölner ein sehr feines Gefühl und einen demokratischen Stolz,
welcher die ohnmächtigen Juckungen der Aristokratrie bemitleidet; er
hat da immer einen schlagenden Witz bei der Hand, oft ein wenig
derb, aber stets kernkräftig und treffend.
Cöln ist eigentlich keine Fabrikstadt, und dennoch hat hier die
Verwerfung des Schutzsystems, das man von allen Seiten
so dringend wünschte und das Jeder, der ohne Voreingenommenheit
die Lage unsrer Industrie dem Auslande gegenüber prüft, flehentlichst
wünschen muß, recht schmerzlichen Eindruck gemacht. Mit einem
Machtspruch der Catheder-Staats-Oekonomen sind, der Himmel weiß,
wie viele Hoffnungen betrogen, denn es stimmen in den Wunsch nicht
nur unsre Provinzen, nein, alle südlichen Staaten der Zollvereines,
und rheinpreußische Meinungen sprach der Würtembergische Deputirte
Schweickhardt aus, als er aus englisches Gold hindeutete. Man kann
hic nicht begreifen, wie man dem Auslande gegenüber ein System
v>',,verser kann, welches das Ausland gegen uns so streng und un-
b..gsam ausübt und durch dessen Aufrechthaltung des Auslandes Industrie
einzig zu der Höhe gelangte, von der aus dieselbe uns, die wir um¬
sonst um Schutz flehen, nach ihren Launen dominirt. Längst sind Gründe,
als würden Schutzzölle nur den einzelnen Industriellen begünstigen, das
Allgemeine aber bevortheilen, durch die Erfahrung unserer Nachbarstaaten
als nicht stichhaltig erwiesen, und Deutschland ist doch wohl jetzt so
mündig, daß es Englands Politik nicht mehr zu fürchten hat. Die
Schattenseiten des Schutzzollsystems wird der gesunde Sinn des
Volkes schon in Deutschland fern zu halten wissen, wo es mit reden
darf, wo sein materielles Wohl selbst nicht von den befangenen An¬
sichten eines Ministers abhangt, der da glaubt, seiner ministeriellen
Unfehlbarkeit etwas zu vergeben, wenn-er sich eines Bessern belehren
und den überzeugenden Gründen der praktischen Erfahrung Gerechtig¬
keit widerfahren laßt. Wie konnte auch der Dünkel der Bücherweis¬
heit, der theoretischen Systematik der Staatsöconomie sich so etwas
dem praktischen Empiriker gegenüber vergeben, — und wenn durch
dies Festhalten das höhere Gewerbeleben des gesammten Staates all-
mälig elendiglich dahinsiechen mußte?!
Loin, Aachen, Crefeld, Viersen und alle Fabrikstädte der Pro¬
vinz haben sich direct an des Königs Majestät gewandt, um von ihm
den Gewerben Schutz zu erbitten. Freimüthig und offen sind die Sup-
pliken verfaßt und zu erwarten steht, daß sie ein gnädiges Ohr finde»,
denn es kann durch das Schutzsystem dem so tiefgesunkenen Wohlstande
mancher Provinzen, dem bittern Elende ihrer arbeitenden Klassen doch
in etwas geholfen werden. —
In unserm benachbarten Bonn ist Alles in größter Thätigkeit zu
den Vorbereitungen der großen Feier, welche am I<)., I I, und 12.
August bei der Enthüllung des Denkmals Beethovens Statt finden
soll. Durch seine Bedeutung muß das Fest ein schönes werden, wie
sehr Professorenpedanterie und Eigendünkel auch spuken, um die Ent¬
schlüsse des festordnenden Eomitv nie zu Beschlüssen werden zu lassen.
Da es an mustcalischen Aufführungen nicht fehlen wird, so ist die
wichtige Frage, wer diese leiten soll, noch immer schwebend, und sind
bei der Beantwortung dieser Frage so viele Rücksichten zu nehmen,,
daß das Comitv selbst vor Rücksichten nicht mehr weiß, wo ihm der
Kopf steht, da zumal auch der Eassenführcr allerlei bedenkliche Aeuße¬
rungen gemacht haben soll. Fr. Liszt hat aber wahrscheinlich noch spa¬
nische Keities ^ cludlonos und wird da großmüthig aushelfen, denn
er hat ja eine Festcantate componirt, 10,000 Franken zum Denkmale
hergegeben und wichtigen Debatten veranlaßt, ob man seinem Wunsche,
das Orchester bei Aufführung seiner Cantate zu dirigiren, nachkommen
solle oder nicht. Am meisten gespannt sind wir aus des tüchtigen
Hähnel's Arbeit — gelungen ist sie — leider, daß der Künstler nichts
dabei verdient!
Die Zeitungen haben es wohl gemeldet, daß auch hier, sowie in
Hanau, sich eine Gemeinde der Deutschkatholischen gebildet. Die con-
stituirende Versammlung hatte Sonntag den I. Juni Statt; von den
drei- bis vierhundert Anwesenden haben nahe an hundert zur Stelle
unterzeichnet, was im Verhältniß zu der im Ganzen geringen Anzahl
Katholiken in hiesiger Stadt, so wie in Betracht der Umstände, ein
wirklich bedeutender Anfang zu nennen ist. Denn es ist wohl zu mer¬
ken, daß kein eigentlich einflußreicher Mann an der Spitze steht, und
es eine bekannte Sache ist, daß wie überall, so vor Allem hier, in
welcher Religion und Confession es sein mag, der große Haufe auf
diejenigen sieht, die Gewicht an Ansehen und Geld haben.
Zwar flüstert man sich zu, daß ein reicher Privatmann hiesiger
Stadt durch Aussetzung von 10,000 Gulden die erste Veranlassung
zur Bildung der deutsch-katholischen Gemeinde gewesen sei, nachdem
ein Priester einem seiner Verwandten die Absolution verweigert habe,
da derselbe seine Kinder, seinem Versprechen gemäß, habe protestantisch
werden lassen; — wie dem nun auch sein mag, die Reichern, die Ein-
flußhabendcn stehn nicht an der Spitze, und so kann man die Bil¬
dung dieser Gemeinde als aus dem Volke selbst hervorgegangen betrach¬
ten. Aber gerade deßwegen ist die Zahl von 100 als eine bedeutende
anzusehen, denn Entschlossenheit ist im Ganzen kein Charakterzug des
Frankfurters. Man liebt es, Alles so lange gehn zu lassen, als es
einigermaaßen möglich ist, und so sollen auch einige angesehene Ka¬
tholiken, obgleich sie ihrer Gesinnung nach mit den Grundsätzen der
neuen Gemeinde übereinstimmen, noch erst abwarten wollen, wohin das
Ganze führt, ehe sie sich entschlossen, ihren Beitritt zu bewerkstelligen.
Der berührte Mangel an Entschlossenheit zeigte sich recht auffallend
bei einer kürzlichen Generalversammlung der „Gesellschaft zur Beför¬
derung nützlicher Künste und deren Hilfswissenschaften." Es hat diese Ge¬
sellschaft, deren Mitgliederzahl nahe an 7<je) grenzt, nach und nach einen
nicht unbedeutenden Einfluß erlangt, und durch ihr tüchtiges Streben,
mittelst Errichtung einer Sonntags- und Abendschule, Einrichtung von
Leseabenden für Gesellen und Lehrburschen, von einer Sparkasse und
Ersparnißanstalt sür die ärmern Classen, von einer Anstalt zur Be¬
förderung der Sittlichkeit unter den Dienstboten, aus die mittleren und
unteren Stande einzuwirken, sowie durch Pflanzen- und Industrieaus¬
stellungen in. :c> die Bedeutung ihres bescheidenen Namens längst
überflügelt, und mit Recht könnte sie „Gesellschaft sür Bürgerwohl"
oder ähnlich heißen. Doch auch dieser Gesellschaft mangelt es an Ent¬
schlossenheit.
Es handelte sich darum, ob die Gesellschaft zur Verhütung man¬
ches in der Wurzel leicht zu erstickenden Processes, nach Art des Stutt¬
garter Buchhändlergerichts oder der französischen Handelsgerichte, ein
allgemeines Schiedsgericht sür alle Stände, vornehmlich
für Gewerbetreibende, einführen solle oder nicht. Eine zu diesem Zwecke
besonders niedergesetzte Commission hatte ein Jahr lang darüber be¬
rathen und respective gestritten. Endlich erschienen zwei einander wider¬
sprechende Berichte, der eine von der Majorität, der andere von der
Minorität unterzeichnet, und der Tag der Berathung ward festgesetzt.
Von der ganzen Zahl der Mitglieder sollen kaum einige und zwanzig
erschienen sein. Bon den Anwesenden wurde die Discussion lebhaft
geführt, aber wie Vieles sich auch für die Wohlthcmgkcit einer solchen An¬
stalt, wo die streitenden Parteien aus einer festgesetzten Zahl geachteter
Männer sich ihre Richter selbst wählen könnten, unter denen natür¬
lich immer wenigstens ein RechtSgelehrrcr (woran Frankfurt ja keinen
Mangel besitzt) sein müsse, sagen ließ, — die Gegner des Vorschlags
trugen den Sieg davon. Und wodurch? Vornehmlich durch die Gründe:
das Bedürfniß habe sich noch nicht gezeigt, sonst würden Privatperso¬
nen schon auf den Gedanken gekommen sein, selbst solche Schiedsge¬
richte sich zu erwählen, — außerdem würden Privatpersonen, die über
rechtliche Sachen entscheiden wollten, (dieser Grund soll von einem
Rechtsgelehrten angeführt worden sein) sich lächerlich machen, —
dann seien die Gerichte unserer Stadt in solchem Austande, daß solche
Schiedsgerichte durchaus nicht roth'ig seien (?). Da die Sache vielfach
besprochen wurde, so kann ich mit Gewißheit versichern, daß erheb¬
lichere Gründe nicht angeführt wurden, und doch scheiterte die ganze
Unternehmung an diesen Einwürfen. Es war einfach Mangel an Ent¬
schlossenheit und Muth, die Zaghaftigkert, etwas Neues, noch nicht
Dagewesenes zu unternehmen, die Bequemlichkeit, im alten Schlen¬
drian fortzugehen, was diesen im Ganzen gewiß löblichen Bestrebun¬
gen der Minorität jener Versammlung sich entgegensetzte.
Es läßt sich nicht leugnen, daß die Ausführung der erwähnten
Idee auf mancherlei Hindernisse gestoßen wäre, — aber es handelte
sich noch nicht einmal von einer directen Einführung, sondern es hieß
bloß, ob die Gesellschaft sich noch weiter mit dem Projecte beschäftigen
solle, und selbst dieses wurde, in Aussicht auf einige Schwierigkeiten,
verworfen. — Die diesjährige Pflanzenausstellung, die ebenfalls von der
erwähnten Gesellschaften veranstaltet wurde, kann als eine mißglückte
betrachtet werden; nicht daß es an schönen und seltenen Pflanzen gefehlt
hätte, aber eines Theils war das Local auf der Mainlust unglücklich ge¬
wählt, indem die n> dem verhältnißmäßig kleinen Saale auf einander
gehäuften Pflanzen theils wegen dieser Uebereinanderhäufung nicht gehörig
in Augenschein genommen werden konnten, theils auch die mangelhafte
Erleuchtung ein aufmerksameres Betrachten unmöglich machte; auf der
andern Seite war das Wetter an den bestimmte» Tagen zu ungün¬
stig und der Ort der Ausstellung von dem Mittelpunkte der Stadt zu
sehr entfernt, als daß mit Ausnahme des letzten Tages, eines Sonn¬
tags, der Zudrang hätte bedeutend sein können.
Um nun auch etwas Anzuerkennendes von der genannten Gesellschaft
in Erwähnung zu bringen und nicht den Schein der Gehässigkeit aus
Uns zu laden, stehen wir nicht an, die Bereitwilligkeit, mit welcher
dieselbe ihr Local dem Herrn ». Scheve zum Behufe seiner phreno-
logischen Vorlesungen überließ, lobend anzuführen.
Man sagt, die naturforschende Gesellschaft, in deren Gebiet die
Phrenologie doch recht eigentlich einschlägt, habe Schwierigkeiten ge¬
macht; Bestimmtes ist darüber nicht bekannt geworden, genug
Scheve hält seine Vorlesungen über jene interessante Wissenschaft in
dem Versammlungssaale der „Gesellschaft zur Beförderung nützlicher
Künste," und wie es schnitt mit eher steigendem als abnehmendem
Veifalle. Wenn auch die Darstellung sowohl als der Vortrag jenes Glan¬
zes entbehren, den französische Gelehrte solchen für ein gemischtes Pu-
blicum bestimmten Vorlesungen zu geben wissen und wodurch das In¬
teresse bedeutend gesteigert werden würde, so hat doch diese ruhige und
klare Darlegung auch ihre Vorzüge. In der jetzt beinahe beendigten
ersten Abtheilung derselben, behandelt Herr !)>-. Scheve, fast ganz abge¬
sehen von der äußern Erscheinung derselben am menschlichen Kopfe, die
einzelnen Seelenthätigkeiten der Menschen und Thiere, wobei es an
interessanten Bemerkungen und Vergleichungen nicht fehlt.
Das Publicum ist gewählt, und vornehmlich zeigen die Damen
eine unermüdliche und beharrliche Theilnahme. i)r> Scheve, der schon
in Carlsruhe viel Anklang gefunden mit seinen Vorträgen, wird die
Runde durch Deutschland machen und wohl in allen großem Städten
sein Publicum finden.
Gehen wir auf die Kunst über. In Beziehung auf Theater und
Concerte ist zum Glück für Leser und Referenten nichts zu sagen.
Im Städtischen Kunstinstitute ist „der vom Blitz erschlagene Schäfer"
von Professor Becker wieder angekommen, nachdem das Bild eine län¬
gere Reife durch Deutschland gemacht. Praktische Auffassung und tech¬
nische Ausführung sind gleich schön an diesem Bilde; die herbeigelau¬
fenen Landleute, unter ihnen die verzweifelte Gattin, die ängstlich blö¬
kenden Schafe, der vorsichtig sich nähernde Hund, am Himmel daS
abziehende Gewitter über dem düstern Walde im Gegensatze zu dem
(vielleicht etwas zu hell) leuchtenden Feuer des brennenden Baumes,
auf der Seite die ferne von der hcvorbrechenden Sonne beleuchtete
Miefe, von woher die Mäher dem Orte des Unglücks zueilen —
Alles das bildet bei der meisterhaften Ausführung ein gar ergreifendes
Bild, und Jedermann läßt ihm Gerechtigkeit wiederfahren.
Die Gemälde eines andern Malers gabi'n wenigstens ebenso viel
zu reden. Der junge Mann heißt Firmenich. Er hatte ein Gemälde
in den eclatantesten Farben ausgestellt, um welches die Menge sich be¬
gierig drängte. Die Kunstverständigen rümpften die Nase; die Dilet¬
tanten äußerten nach kurzem Beschauen: „Das ist mir zu rund," und
gingen weiter; Andere sollen in Enthusiasmus gerathen sein. Stellen
Sie sich eins jener sächsischen Thecservicebrctter mit den unnatürlichen
Bäumen, mit ellenlangen Blättern, mit einigen abgebildeten nürnber¬
ger Puppen als Staffage, Alles im grellsten Eontrastc von Licht und
Schatten vor, so haben Sie eine deutliche Vorstellung von diesem so¬
genannten Kunstwerke des sich selbst den Herwegh der Malerei
nennenden Künstlers. Was der junge Mann mit jener Benennung
will, ist um so weniger zu begreifen, als er, wie man sagt, unter
dem Protectorate des hier lebenden Kurfürsten von Hessen steht. Will
er wie Herwegh mit der Poesie, so mit der Malerei politische Zwecke
verbinden, so mag er sich vor seinem erlauchten Protector in Acht
nehmen. Mit einem Worte, die nur ganz kurze Zeit ausgestellten
Gemälde sowohl, als der darüber entstandene Streit in hiesigen Lokal¬
blättern dienten zur Belustigung des Publicums und machten Viel
von sich reden.
Ich habe eben den Kurfürsten von Hessen erwähnt, welcher un¬
sere freie Stadt zu seinem Aufenthalt gewählt. Man braucht sich da¬
rüber nicht zu wundern, daß ein Kurfürst eine freie Stadt bewohnt,
denn derselbe kann ziemlich sicher sein, daß sein Auge nicht durch den
Anblick von zu vieler Freiheit beleidigt wird. Die Freien sind hier
wie anderwärts diejenigen, die Geldeinfluß haben, und wenn unsre
Bürger auf ihre Freiheit stolz sind, so wissen sie recht wohl, daß die
fremden Gesandten, Secretäre und Attaches, genug Alle, die bei dem
Bundestage auf irgend eine Weise accreditirt und beschäftigt sind, mehr
Recht haben, als sie, die Bürger, selbst. Geduldig springt der Bür¬
ger zur Seite, wenn der Wagen eines jener Herrn über das Trot-
toir rasselt, welches doch in der eigentlich deutschen Uebersetzung Vüle¬
gerste g heißt, — Alles was zum Bundestag gehört zahlt keinerlei
Abgaben in. So mag auch der Kurfürst von Hessen sich ganz wohl unter
uns befinden, da er von den freien Bürgern auf keine Weise beschränkt
wird und man, wie natürlich, sich freut, ihn als Ehrenbürger unter
uns aufgenommen zu sehen. Er hat einige schöne Häuser in der schön¬
sten Lage gekauft und dieselben mit großen Kosten wahrhaft fürstlich
Bon den Wahlen spricht heute noch alle Welt. Die vier grö߬
ten Städte, Brüssel, Anlwcrbcn, Lüttich und Gent haben sich für
den Liberalismus erklärt; freilich werden die Sieger dafür von den
Besiegten, die doch selbst liberal sein wollen, ultraliberal genannt.
Aber so viel steht fest, daß die Allianz zwischen den Modcrirten und
den Ultrakatholiken gesprengt ist. Nothomb hat kein Heil in dieser
Allianz gefunden, und wöhrcnd die Concessionen, die er den Hicrar-
chen machte, ihm einen großen Theil seiner Popularität raubten, su¬
chen die Kirchlichen sich jetzt aus der Affaire zu ziehen und die Schuld
der Niederlage rein auf die Moderados zu schieben; diese, heißt eS,
hätten ja lauter liberale oder halbliberale Candidaten aus die Liste ge¬
setzt, und da sei es kein Wunder, daß sie das Volk verworfen. No¬
thomb wird von nun an keine schlimmern Feinde haben, als die
„Calotins" und selbst keiner Partei feindlicher sein, als ihnen; denn
beide Theile dieser Allianz werfen einander mit Recht Mangel an Auf¬
richtigkeit vor.
Der Katholicismus hat übrigens hier weniger auf sich, als in
Sachsen und Preußen der Protestantismus. Man spürt ihn gar
nicht, weil eben der Liberalismus in einem so freien Lande allmälig
über die Pfaffen siegen muß. Eine Allianz zwischen Liberalen und
Jesuiten, wie am Rhein, ist nur möglich bei einer absoluten Regie»
rung, war hier auch nur gegen Holland zu Stande gekommen. Jetzt
haben diese Zeiten aufgehört. Nebngens finde ich selbst in dem ka¬
tholischen .Sinn'n-it du I!>'uxvi!(.'8 keine Spur von dem theologischen Pech,
von dem crasser Weihrauchdampf und den polemischen Flüchen der ul¬
tramontanen Blatter in Deutschland. Sehr kleinlaut ist der Katho-
licismus hier, wenn ich ihn mit dem in Cöln, Coblenz und Luxem¬
burg vergleiche. Die Paar Intriguen, die er sich bei den Wahlen er¬
laubt hat, werden ihm durch blutige Caricaturen vergolten, die noch
jetzt vor allen Kunstlädcn, in allen Estamincts und Cabarets, zur
Augenweide des Volkes, hängen. Kein katholisches Blatt wagt es,
eine Sprache zu führen gegen seine Gegner, wie etwa der Mephi-
stopheles gegen die Jesuiten und ihre Organe. Wie viel Untersu¬
chungen , Verhaftungen, Criminalklagcn und Christcnthumingefahrer-
klärungen würde eine einzige Spalte des Mephistopheles in Deutsch¬
land zur Folge haben! Wie viel Windmühlengeklapper, wie viel Dc-
nunciantengezisch würde in der großen Krähwinkelcouföderalion ein ein¬
ziger Artikel des Mephistopheles hervorrufen! Welche Deklamationen
der Doctcinairs über die Gefahren der Presse, welch ein Sichbekreuzcn
der alten Weiber in Berlin und Augsburg, welch ein eifriges Be¬
theuern der Liberalen, daß sie diese Gesinnungen durchaus nicht thei¬
len, gäbe es da! Hier von alle dem nichts. Man laßt dem Mephi¬
stopheles seine Brander, seine Pcchkranze, seine glühenden Bomben ver¬
werfen: kein Strohhalm brennt davon an. Man liest das Ding, trinkt
sein Zuckerwasser oder seinen Kaffee dazu, lacht und geht ruhig fort,
so ruhig, wie nur ein Deutscher aus Westphalen oder Mecklenburg
sein kann. Brüssel ist ruhiger, als Leipzig, als Berlin, als Mün¬
chen. Sieht man hier das Leben und Treiben, so sollte man meinen,
hier herrsche die strengste Censur, die unerbittlichste Polizei; so artig
so ordnungsliebend ist man bei der größten Lebendigkeit — und doch,
die Polizei ist wachsam, aber sie genirt Niemanden. Selbst Freiligrath,
Preußens Schrecken, wie es scheint, hätte sein Lebtage in Belgien blei¬
ben können und das ganze Gerücht von seiner beabsichtigten Verhaftung
sieht aus, als hätte es ein Berliner Constitutionsflucher erfunden.*)
Sie werden in den letzten Monaten ungewöhnlich viel Correspon-
denzartikel von hier und aus Antwerpen in deutschen Zeitungen be¬
merkt haben, namentlich im Rheinischen Beobachter und in der Carls-
ruher Zeitung. Sie rühren alle von dem beweglichen und gewandten
Adalbert von Bornstedt her, der sich hier halb und halb häuslich nie¬
dergelassen hat.
Nothomb, dessen Austritt aus dem Ministerium Sie gewiß aus
den Zeitungen bereits erfahren haben, wird aller Wahrscheinlichkeit
nach Berlin als Gesandter gehen, da er dort wegen der Aollvcrhand-
lungen sehr freundliche Auspicien h.et. Ueberdieß ist Nothomb, trotz
seiner Ministerarbeiten, von Profession ein Gelehrter und sehnt sich
nach literarischen Boden. Bekanntlich ist dieser Staatsmann im deut¬
schen Luxemburg geboren und da die berühmte deutsche Einheit auf
wenig mehr als auf Spracheinhcit beruht, so ist Nathomb (>e jur«:
als Deutscher zu betrachten. Leider ist er es do l'-leto eben so wenig,
wie die Elsasser, die in der französischen Kammer sitzen, oder wie Ean-
crin und Brunow, welche die russische Politik leiten. Deutschland hat
großes Malheur mit seinen unlegitimcn Söhnen. —>
— Herr Johann Baptist Rousseau, nicht der ehemalige französische
Odendichter, sondern der gegenwärtige preußische Hofrath und glorreichst-
bckannte Recensent der Preußischen Allgemeinen gibt seine gesammel¬
ten Gedichte und Schriften auf Subscription heraus. Matrosen wer¬
den in Deutschland, Gott sei Dank! nicht mehr gepreßt, Subscriben-
ten aber unterliegen noch der alten Barbarei. Der Herr allgemein
bekannte Hofrath laßt seine Subscriptionslisten an alle Künstler und Ca-
pellmeister im lieben Deutschland senden, welche die Aussicht haben,
einer Recension in der Allgemeinen Preußischen zu verfallen; und es
gibt der Furchtsamen im Lande genug, die mit ein Paar Thalern auf
eine künftige Recension sich pränumcriren. Ob das Mittel des Herrn
Hofrath wohl courfähig ist? Die Würde der Literatur — pah! aber
die Würde eines Hoftitels zu compromittiren, sollte sich ein allgemeiner
preußischer Patriot doch sehr bedenken.
— Die diesjährige Wiener Kunstausstellung war über alle Maa¬
ßen unbedeutend; die Einheimischen lieferten fast.nur schofel, und
Auswärtige lieferten fast gar nichts. Wir haben unlängst einen aus¬
gezeichneten deutschen Maler gefragt, wie es käme, daß fremde Künst¬
ler so wenig Bilder nach Wien schickten, da sie doch bei den reichen
ParticulicrS der Kaiserstadt entschieden auf Absatz rechnen könnten.
Unter andern Gründen, womit uns diese Frage beantwortet wurde,
war auch der sonderbare Grund, daß der Rahmen eines Bildes einem
unverhältnißmäßig hohen Zoll beim Eingang in Oesterreich unterliegt.
Es dort erst einrahmen zu lassen, ist für Jedermann, der nicht dort
einen intimen Bekannten hat, nicht gut möglich. Sollte hier nicht
ein Irrthum vorwalten? Es wäre der Mühe werth, daß das leitende
Comite in Wien darüber Aufschlüsse gäbe.
'
— Am Krollschen Etablissement in Berlin sollte die vornehme Welt
für einen halben Thaler eine „chinesische Nacht" zu sehen bekommen.
Damit aber die arme thalerlose Welt nicht die Privilegien der betha¬
lerten genießen könne und einen unberufenen unbezahlten Blick in das
aristokratische China hineinwerfe, wurde eine chinesische Mauer aus
Brettern rings um das Kroll'sche Etablissement gezogen, um so das
heilige Reich der Mitte von den gemeinen Tartarenstämmen abzuson¬
dern. Aber das Berliner Volk schrie: „Bekommen wir nicht Tag aus
Tag ein Chinesisches zu Gesichte, müssen wir nicht sogar selbst in d>n
abgeschmacktesten Chinoiserien unsere Rolle mitspielen, und nun ihr ein¬
mal ein amüsantes China produziren wollt, schließt Ihr uns aus?"
— Und mit diesen Worten begann man die Bretter einzuschlagen, die
Umzäunung zu demoliren. Aber das Auge des Herrn wachte über
China: Gensdarmen und Militär hieben auf die Tartaren ein, und
führten eine Reihe von Gefangenen thriumphirend aus der Schlacht.
Gott schütze China! Gott schütze die heilige Stadt der Intelligenz,
welche die zwei großen Kategorien eingeführt hat: Corso und Schnaps-
ladcn. Wer nicht in die eine paßt, gehört in die andere; wer in
Leine von beiden will, der kommt in Arrest? — Hatten wir etwa
das Eigenthum eines Privaten nicht schützen sollen vor der Roheit des
Pöbels? — Gewiß! Aber warum zwingt Ihr den Pöbel, roh zu sein?
Warum erbittert Ihr ihn ohne Noth ? Warum wird nur egoistisch für
die Freuden der höhern Stande gesorgt? Ihr pflegt doch Oesterreich
so gerne das deutsche China zu nennen. So geht einmal nach Wien
und seht Euch dort „chinesische Nächte" an. Wer je in der Donau¬
stadt gewesen, der vergißt schwerlich nicht die scharmanter Nachtseste,
die während des ganzen Sommers, unter dem Zusammenströmen von
vielen Tausenden, im Augarten, aus dem Wasserglacis, beim spert
u. s. w. unter Leitung Strauß's und Lanner's stattfinden. Bei allen
diesen Lustbarkeiten fällt es Niemanden ein, eine chinesische Mauer auf¬
ziehen zu lassen. Die Eintrittspreise sind stets so niedrig gestellt, daß
der Kleinbürger und Handwerker eben so gut Theil daran nehme»
kann, wie der Fürst Esterhazy. Darum findet sich auch Groß und
Klein ein, und während die Mandarinengesellschaft in Kroll's Etabisse-
ments einander vor Langweile angahnt, die Damen Strümpfe stricken
und die Herren bei Grog und Weißbier sitzen, wogt in Wien ein
bewegtes Volksleben in hundertfachen Gruppen, Charakteren, Ständen
und Trachten durcheinander, die sich gegenseitig gerade durch ihre Ver¬
schiedenheit ergötzen und interessiren. Weil der Reiche nicht die Nase
hoch trägt, ist der Niedere nicht erbittert, und so tritt jene warme
Behaglichlichkeit ein, die allen diesen Festen eine stete Fortpflanzung
sichert. Es ist charakteristisch, daß auf dem Wasserglacis, im Volks-
garder das zahlende Publicum von dem nichtzahlenden nur durch eine
Schnur getrennt ist und der Allerärmste einen guten Theil der Unter¬
haltung mit genießt. Wenn man in Berlin statt Corsovereine lieber
Vereine zur Beförderung der Volksfreuden errichten würde, so könnte
man einige Schock roher Gensdarmen und pietistischer Nachmittags¬
prediger ersparen.
— Wir ersehen aus einem Privatbriese, der uns von Mainz
zukommt, daß Dr. Carl Umbri- gegenwärtig dort verweilt. Wie es
scheint, wird er demnächst keine Redaction einer politischen Zeitung
übernehmen, sondern einen längst gehegten Vorsatz ausführen und sich
in Wiesbaden niederlassen, um historischen und ethnographischen Stu¬
dien obzuliegen.
— Der rastlose österreichische Lyriker Johann Nepom. Vogel hat
schon wieder eine Sammlung von Gedichten herausgegeben und zwar
unter dem Titel „Deutsche Lieder" (Jena, bei Maule, 1845). Es
ist immer eine mißliche Sache, zweien Herren zugleich dienen zu wollen,
mit der Censur, oder vielmehr mit der Polizei gute Freundschaft zu
halten und zugleich dem Begehren der Zeit zu genügen. Johann N.
Vogel versuchte das, und es mißlang; zwar fand er einen scheinbar
guten Ausweg, indem er die alte Leier ä In 1813 anstimmte und sich
in eine Begeisterung versetzte, die bereits officiell geworden ist, aber
eben dieser Umstand hangt seinen deutschen Liedern einen ungeheuren
Zopf an, und der Dichter erscheint in einem Costüm, das bereits zu
Rococo geworden ist; man muß unwillkürlich über ihn lächeln,
wie über jene Ueberreste aus der sogenannten guten alten Zeit, die uns
noch manches Mal mit gepuderten Haar und herabhangenden Zopfe
begegnen. Doch wollen wir Johann N. Vogel, dem talentvollen Bal-
ladendichter nicht Unrecht thun, es war vielleicht nicht Berechnung, die
ihn in der alten, aus der Mode gekommenen Maske erscheinen läßt,
vielleicht hält er sie als guter Altösterreichcr noch immer für eine Tracht
vom modernsten Schnitt. Man weiß ja, wie lange Zeit die Moden
des deutschen Geistes brauchen, um bis nach Wien vorzudringen, viel
schneller breiten sich die lebenslustigen, frischen Tanzmelodien von Strauß
und L.alter über die deutschen Gaue aus. Eben so wird Johann
N. Vogel mit seinen frischen Balladen und lebenslustigen Wcinliedern
leichter in Deutschland Eroberungen mache», als mit seinen „Deut¬
schen Liedern" u I.r Arndt und Schenkcttdorf. Der Hauptfehler
bei diesen Gedichten ist, daß der Dichter die Zeit nicht durch den jün-
gern Januskopf des deutschen Auslandes, sondern durch den alten
graubcmoosten Oesterreichs betrachtete.
Als Sie mich, lieber Kuranda, letzthin aufforderten, mich bei
der Sammlung für die Ueberschwemmten in Prag, unserer gemein¬
samen Vaterstadt, zu betheiligen, erinnerte ich mich wieder einmal,
daß ich ein Prager bin. Mißdeuten Sie das nicht: ich denke wohl
öfter daran, als die Prager sich entsinnen, daß ich eigentlich der
Ihrige. Ich bin nirgends so fremd geworden, als in meiner Vater¬
stadt. Davon später.
Ich wollte Ihnen erzählen, wie ich nach Leipzig kam. Das
geschah vor mehr als neunzehn Jahren. Es war im November
1825, an einem düstern Sonntagsnachmittag, ich warf das Lineal,
womit ich als Hauslehrer meine wilden Zöglinge strafte, und die
Feder, mit welcher ich als überflüssiger Amtsschreiber deutsche und
böhmische Acten kalligraphirte, von mir, mein treuester Freund, E.
K., lag hoffnungslos an der Schwindsucht darnieder — ich konnte
ihn nicht sterben sehen — im Nordwesten über dem Schaafstalle des
MeierhofeS glänzte ein Heller Stern, drüben rauschte die Moldau
und zog nach Norden, ich schnürte mein Bündel, fuhr mir mit der
flachen Hand über die Augen und verließ das Dorf Dewit) bei
der Scharka, wo ich drei Jahre gehaust, und schritt gen Prag. Ein
Bauernjunge, in den Wochentagen Ochsenhirt, Sonntags aber Stra¬
ßenjüngling von Dewitz, trug meine Kleider und Manuscripte, ohne
unter der Last zu erliegen. Die Aussicht in der Heimath war für
mich trostlos, ich konnte es allenfalls bis zu einem lebenslänglichen
Amtsschreiber auf den Domcapitular-Herrschaften bringen, der Abt
der Prämonstratenser, Pfei..., mein ehemaliger Lehrer'nach Bol--
zano's Suspension, den ich um Hilfe anging, hatte mich zwei
Mal, ohne mir Gehör zu schenken, durch seinen Bedienten vor der
Treppe abweisen lassen, der Familienjammcr klammerte sich mir blei¬
schwer an Leib und Seele, und etwas, das schön und gut und poe¬
tisch war und längst im Grabe liegt und dadurch für mich noch
poetischer geworden ist, vollendete durch den Conflict der Umstände
mein Unglück! Ich wollte also gehen, und
„Mir war besser, daß ich ging."
Mein Jugendfreund A. S—Y, der damals (natürlich ohne Be¬
willigung des königl. böhmischen Landcöguberniums) in Leipzig stu-
dirte — jetzt ist er Kreisphysicus in Sarajewo in Serbien — schil¬
derte mir Leipzig als das Eldorado aller Poeten und Literaten: dort
konnte es mir nicht fehlen. Zwar hatte mir der Hofrath Methus.
Müller (damals Redacteur der „Zeitung für die elegante Welt") auf
meine Zuschrift, in der ich ihm meine Verzweiflung schilderte, geschrie¬
ben, ich sollte gegen meine Noth und Desperation Trost und Hilfe
im Gebete suchen, aber ja nicht nach Leipzig kommen, sintemalen diese
Stadt nicht aur an Genies, sondern auch an allerhand Literaten
überfüllt sei. —
Leipzig, damals mit Literaten überfüllt — o Gott! ich glaube,
es gab deren nicht drei daselbst, die Ueberseher mit eingerechnet.
Ich hörte nicht auf die Warnungsstimme, ich ging. S—y, der
bei einem Freund in Prag weilte, wollte mir später folgen, ich sollte
voraus zu seinem Vater nach Georgswalde bei Rumburg gehen und
ihn dort erwarten. Ich schlief die letzte Nacht im „weißen Roß" in
der Hibernergasse tugcndreich in einem und demselben Zimmer mit einer
jungen Schullehreröfrau, die ich weder Abends noch Morgens zu
sehen bekam, denn als ich einkehrte, lag sie schon in den Federn,
und als ich erwachte, war sie bereits verschwunden. Erst am Mor¬
gen verkündigte mir der Kellner mein verschlafenes Glück. Ich schlief
voll Sorgen, voll Zaghaftigkeit und, wenn man will, voll Todes¬
verachtung.
Um sieben Uhr nahm mich eine alte Frau aus Georgswalde
gegen ein Billiges in ihren zwcispännigeir Zeiselwagen auf. Sie
hatte Verwandte in Prag besucht, eine Frau v. O—horn, die, als
sie mein dünnes Röcklein gewahrte, in Anbetracht der rauhen Witte¬
rung, mir unaufgefordert einen alten Mantel borgte, den ich in
Georgswalde wieder abzuliefern hatte. Es war ein gräulicher Mor-
gen, als wir Prag verließen. Die alte Frau erlaubte mir zu rau¬
chen, das gab mir Trost. Eine Unterhaltung war wahrend der
Reise schwer in Fluß zu bringen, denn die ziemlich corpulente Dame
nahm den ganzen Sitz vor mir ein, ich die Bank hinter ihr. Wollte
sie sprechen, mußte sie sich wenden, was wegen der Schwere ihrer
Pelzumhüllungen nicht leicht war, und wollte ich reden, so mußte ich
schreien, um das Wagenrasseln zu übertönen. An der Rücklehne
ihres Sitzes, knapp vor mir, befand sich eine Ledertasche und in die¬
ser eine mit Sroh umflochtene Flasche. Nach dieser Flasche griff die
gute Frau je zuweilen, oder ich langte ihr dieselbe. Sie versicherte
mir, es wären krampfstillende Magentropfen darin.
Wie hoch sich meine Baarschaft damals belief, weiß ich nicht
mehr. — sie dürfte aber die Höhe von sechs Gulden C.-M. nicht
bedeutend überstiegen haben. In meinen Frühstücks- und Mittags¬
essenschwärmereien mußte ich mich sehr moderiren, denn die Fahrt
nach GeorgSwalde dauerte zwei volle Tage. Es kommt mir vor,
als hätte ich schon am ersten Tage nach den vollen Schüsseln auf
dem Tische meines bisherigen Chefs, des liebenswürdigen Directors
Pr.., ein stilles Seufzen in meinem Innern aufkommen lassen. Des
Abends spät, wo wir uns Böhmisch-Leipa näherten und gerade durch
eine finstere Waldstrecke fuhren, da durchschauerte mich der Frost so
gewaltig, daß ich schier vermeinte, vom Magenkrampf befallen zu
sein. Mit Hintenansetzung allseitiger Rücksichten griff ich verzweif¬
lungsvoll zu der Flasche vor mir — während die Dame vor mir
schlief — entkorkte sie geräuschlos und that mit geschlossenen Augen
einen tüchtigen Schluck. Es war ein ausgezeichneter Breslauer Li-
queur. Ich labte mich still und bescheiden —; es wäre höchst un¬
bescheiden von mir gewesen, hätte ich die alte, würdige Frau Lügen
strafen wollen. Mein Paronsmus kehrte, bevor wir in's Nachtlager
kamen, einige Mal wieder, aber ich fand mich bald darnach stets
wieder erleichtert.
Die Abendmahlzeit war sehr frugal, das Nachtlager bescheiden,
das Erwachen ohne bedeutendes Ereigniß. Als die alte Frau in
der Morgenkühle wieder einmal nach ihrer Flasche griff und daraus
trank, da mochte ihr deren Inhalt außerhalb der bisherigen Berech¬
nung vorkommen, sie brummte einige unverständliche Worte und steckte
die Flasche in den Korb, welchen sie auf ihrem Schooße hielt. Ich
stellte mich schlafend, denn ich konnte eS nicht über mich gewinnen,
ihre stillen Betrachtungen zu stören.
Sonst verlief unsere Weiterfahrt ohne jegliches Abenteuer. Nur
in der Nähe von Rumburg warf der Kutscher um. Die dicke Frau
schrie fürchterlich — sie kam auf mich zu liegen; ich aber schwieg.
Wir wurden unbeschädigt wieder aufgehoben; — es war ungeheuer
finster und von keiner Seite war der Anstand verlebt worden.
In Georgswalde spät Nachts angekommen, verehrte mir die
gute Dame noch gratis ein Nachtlager (sie hielt dort eine Gastwirth¬
schaft), was ich hiermit nachträglich noch dankbar anerkenne. Am
frühen Morgen ging ich mit meinen Habseligkeiten zu S—y'S Va¬
ter, ward daselbst freundlich aufgenommen und blieb etwa vierzehn
Tage, bis mein Freund von Prag zurückkehrte.
Bald darnach brachen wir zu Fuß über Schluckenau, Neustadt,
Stolper u. s. w. nach Dresden auf. Ich hatte damals, wie sich das
von selbst versteht — keinen Paß.
Zwar hätte ich mir, als betraute Amtsperson und häusig im
Besitz aller Kanzleiformnlarim und obrigkeitlichen Jnsignien, vor mei¬
ner geheimen Auswanderung selbst einen Paß ausfertigen können
vom Orlsgerichte Dewitz, Herrschaft Hostaun ze., denn in meiner
bisherigen Function hatte ich die Obliegenheit, bei Tag und bei Nacht
die zu Fuß oder per Ochsengespann, ledig oder gefesselt, ankommen¬
den Schüblinge weiter zu befördern, und hätte in solcher Vollgewalt
auch für mein Fortkommen sorgen können, aber ein Paß ohne die
eigenhändige Unterschrift meines Directors wäre doch ein Falsum
gewesen, dann wußte ich, daß man als k. k. österreichisches Kind
ohne Gubernialpaß die Grenze nicht überschreiten dürfe, und bil¬
dete mir ein, daß die sächsischen Polizeibehörden auch nur einen Gu-
dermal-, nie aber einen Dominicalpaß respectiren würden. Ich mußte
mich daher über die Grenze schmuggeln; in Leipzig, meinem End¬
ziele, gedachte ich mit meinen Studienzeugnisscn und einer Gymna¬
sialmatrikel von »mio 1817 und 1818 auszureichen. —-
Es ging dieses Alles auch gut von Statten bis nach Dresden.
Dieses ward mir, wie »uno 1813 den Alliirten, gefährlich. In einem
Gasthause auf der Bautzner Straße in der Neustadt (ich glaub', es
waren die „drei Linden") nahmen wir unser Nachtquartier. Nach einem
frugalen Imbiß gingen wir frühzeitig zu Bette. Dresden war noch
in festlicher Bewegung, denn Tags vorher hatte sich der Prinz Maxi¬
milian mit der Herzogin von Lucca vermählt. Vollstimmiges Glocken¬
geläute drang von der Altstadt herüber in unsere Fenster herein,
wir waren eben im Begriff, von den holden Tönen gewiegt, einzu¬
schlafen, da kam der Kellner in die Stube und verlangte unsre Pässe
für den Polizeiinspector B**, der jeden Abend zur Revision kam. S—y
stand auf und gab ihm seine leipziger Universitätsmatrikel, die er in
ein bedrucktes Blatt eingeschlagen, ich blieb liegen — aus Gründen.
Der Kellner entfernte sich, und wir entschliefen. Es mochte wohl
eilf Uhr sein, da erweckte uns eine laute Stimme, Lichtglanz blendete
unsere Augen, vor dem Bette stand der Inspektor B" in Uniform,
an der Thüre ein Kellner und der Hausknecht. Der Sichcrheitsmann
der Landeswohlfahrt hatte S—y'S Jnscription und den Umschlag in
der Hand. „Wer von Ihnen ist der 8t>uliosus medicin.le S—v?"
fragte er. „Ich," war die Antwort meines Freundes. — Der Inspec-
tor näherte sich meinem Bette, beleuchtete mich und fragte: „Wer sind
Sie?" — „Ich bin Ktucliis«» ^uris Herloßsohn aus Prag." — „Wo
ist Ihr Paß?" — „Ich habe keinen." — „Wie können Sie sich un¬
terstehen, ohne Paß über Grenze zu gehen, und was wollen Sie in
Dresden?" — „Zeh will hier den mir bekannten Hofrath Winkler
besuchen und dann — wieder zurückkehren. Zu einem so kurzen
Aufenthalt, dachte ich, sei kein Paß nöthig." — „So — —aber
stehen Sie auf, stehen Sie auf, daß man Sie sehen kann!" — Ich
sprang aus dem Bette und stand im Hemd vor ihm, er beleuchtete
mich, brummte, kehrte dann zum Bette meines Freundes zurück und
sagte: „Sie müssen auch aufstehen, stehen Sie auf!" Auch S...Y
leistete Folge — der Inspector schien durch seine Musterung keines¬
wegs zufriedengestellt. „Woher haben Sie dies Papier?" rief er,
ihm den Umschlag vorhaltend. — „Weiß ich nicht — irgendwo ge¬
funden — ich habe die Jnscription hineingcwickelt, damit sie mir nicht
beschmutzt wird." — „Das ist ja aber ein Steckbrief vom Leitmeritzer
Kreisamt hinter einem Tischlcrgesellen Bladöky und seiner Geliebten
Rosine, welche beide wegen Diebstahls verfolgt werden!" — „So!"
versetzte S—y und sprang wieder in sein Bett, welches ich mittler¬
weile auch gesucht hatte. „Das ist und bleibt verdächtig," rief der
Inspector — „Sie sind Beide Arrestanten und verlassen morgen früh
das Haus nicht, bis ich es Ihnen erlaubt habe. Die Leute im Hause
hasten dafür." — Er sprachö und verschwand mit dem Lichte, draußen
ward die Stube verschlossen und wir lagen in Nacht. — Mir schlug
das Herz gewaltig! Ich dachte an die Heimath, an die von mir be¬
förderten Schüblinge, an gezwungene Rückkehr, an meine grausam
durchschnittene Laufbahn. Mir war unendlich weh zu Muthe —
ach! ich war doch so unendlich arm, und nicht einmal diese Armuth
sollie ich ungestört genießen, eines papiernen Dinges wegen, das
man Paß nennt. Mil dem Steckbrief hatte es seine Richtigkeit. In
Schluckenau in der Schenke beim Frühstück fand S... diese fliegende
Botschaft der kreisamtlichen Nemesis auf dem Tische und schlug seine
schadhafte Jnscription darein. In mir stieg schon damals eine düstre
Ahnung auf, der Steckbrief schien mir etwas fatalistisches zu haben,
und es bestätigte sich auch. — Trotz der großen Ermüdung nach dem
langen Tagesmärsche schloß ich kein Auge. S—Y schnarchte, er hatte
gut schnarchen, er hatte seine Matrikel und ein Recht auf Leipzig.
Um sieben öffnete der Kellner, brachte den Kaffee, entfernte sich
mit kurzem Gruße und verschloß die Thüre wieder von Außen.
Gegen zehn Uhr endlich erschien der Polizcicommissär. Er hatte
beim Hofrath Winkler Erkundigungen eingezogen. Ich berief mich
nicht ohne Grund auf diesen, denn ich halte ihm bisher einige Ge¬
dichte für die Abendzeitung geliefert und war dadurch mit ihm in
Briefwechsel getreten. Mein theurer und bewährter Freund half mir
schon damals, wie später oft aus der Klemme. Der Bescheid des
Kommissars lautete dahin: S-—y sollte nach Leipzig gehen, ich aber
nach abgemachter Visite sofort nach Böhmen zurückkehren. — Der
Besuch bei Winkler ward im Gefolge einer dicken Novelle abgestattet.
Winkler überaus freundlich, lachte über mein Abenteuer, bis ich selbst
mitlachte. In der That war es mir dieses einzige Mal im Leben
passirt, für ein Frauenzimmer gehalten zu werden; da Suchy stark
brünett, ich dagegen blond und damals noch sehr jugendlich war, so
glaubte der Commissär in mir die flüchtige Rosine zu erkennen. Die
Novelle versprach Winkler lesen und, wenn sie brauchbar, in die Abend¬
zeitung aufzunehmen. Ich jubelte hoch auf, denn nun hatte ich schon
ein Capital im Rücken. Inzwischen hatte S—Y zwei Plätze in einem
Leipziger Lohnkutscher bedungen, und mit diesem ging es noch densel¬
ben Mittag fort. Zwei volle Tage dauerte die Reise nach Leipzig,
denn am Nachmittag des dritten erst langten wir zu Pleiß-Athen im
Hotel de Pologne, welches damals der Birnbaum hieß, an. S--Y
führte mich noch deS Abends in ein Gasthaus auf dem neuen Kirch¬
hof; daselbst saßen an einem langen Tische mehrere Musikalienhänd¬
ler (darunter Hofmeister), ein Paar Aerzte und Advocaten und der
Declamator Solbrig, für mich eine renommirte Person, denn er hatte
mehrere Bücher herausgegeben. Sie sprachen von Jean Pauls Tode,
welchen die Zeitungen desselben Tages gemeldet hatten. Jean Paul
todt! mir rann eine Thräne ins Glas. —
Ich nahm bei S—y Quartier. Am folgenden Morgen wollte
er mich dem Dichter E. G. vorstellen, den er wie eine Art Leipzi¬
ger Göthe hielt. Er war mit ihm befreundet. G,, ein Hannovera¬
ner, halte mit H, Stieglitz Griechenlicder herausgegeben, las die Cor-
rectur deS Reimerschen Shakespeare, arbeitete für den „Gesellschafter"
und „die Blätter für literarische Unterhaltung" (damals noch Conver-
sationsblatt), ging auch mit einem Roman und mehreren Dramen
schwanger. Der kleine Mann (er wohnte sammt Frau und Kindern
auf dem Thomaskirchhof) empfing mich, nachdem ich eine Stunde ge¬
wartet, in der That wie ein Göthe, ernst, gnädig und mit Herab¬
lassung. Die erste Theilnahme, die er mir bewies, bestand darin,
daß er meinen österreichisch-böhmischen Dialekt bekrittelte. Ich war
nicht sehr erbaut von diesem Empfange, noch weniger aber S—y. —
Mein literarisches Renomnx-e stand damals auf sehr schwachen Füßen,
ich hatte außer den drei oder vier Gedichten in der Abendzeitung
nur in der Prager Zeitschrift eine Novelle „Der Kranz" und el»
Paar lyrische Dinger veröffentlicht. Sonst befand ich mich im Be¬
sitze von zwei Trauerspielen, denen je der zweite Act fehlte, einem
halben episch-romantischen Gedicht (Gabriele von Verzy), ein Paar
Novellen und Gedichten — sehr viel Gedichten. — An G. mußte ich
mich trotz schnöder Behandlung anschließen, er war mein einziger li-
terarischer Bekannter, mit S—y befreundet, von ihm erwartete ich
mein Heil. Die Trauerspiele wagte ich nicht, ihm zur Prüfung vor¬
zulegen, aber die Gedichte und die Novellen. In einigen Tagen
sollte ich Bescheid haben und dieser erfolgte auch eines Abends. In
Gegenwart seiner Frau, seines Schwagers, eines Schauspielers und
eines Druckerburschen, der an der Thüre harrte, sagte mir mein Pro-
tector, in den Gedichten sei manches Passable, die Novellen aber
seien das elendste Zeug, so ihm jemals vorgekommen, dazu hätte ich
durchaus kein Talent, solchen Unsinn könne kein Mensch drucken :c.
Diese Abfertigung that meinem guten S—y aber wieder mehr weh,
als mir, ich war trotz meiner großen Jugend schon an allerlei mo¬
ralische Fußtritte, an Jammer und Noth zu sehr gewöhnt. Mein
ganzer Muth bestand im Erdulden. Nachdem er seinen Donner auf
mein Haupt herabgeschmettert, bemerkte mein Protector, daß ich eine
schöne lesbare Handschrift besitze, und daß er daher, um mir in der
ersten Zeit einen Verdienst zuzuwenden, mir seine Manuskripte zum
Abschreiben, den Bogen zu zwei Groschen, geben wolle, sintemalen
er, wie er sich ausdrückte, wegen rascher Gedankenfülle, eine schau¬
derhafte Pfote schreibe. Ich nahm dies an und lohnarbeitete für
den Dichter, erbitterte ihn aber einmal während des Copirens einer
Legende: „Die heilige Jda, Stammmutter des preußischen Hauses,"
durch die Bemerkung, daß die Phrase „Von Osten und Westen, und
vom Aufgang bis zum Niedergang" nicht Gegensätze bildete, da er
doch die Völker von allen vier Weltgegenden herbeiströmen ließ. Der
gute Mann hatte Aufgang und Niedergang für die Bezeichnung von
Nord und Süd gehalten. E. G. geriet!) später nach München, ward
von dort wegen demagogischer Schrifrstellerei ausgewiesen und lebt
jetzt als Corrector in der Schweiz. Als Autor ist er nicht wieder
aufgetreten.
Ich habe vergessen zu sagen, daß meine Baarschaft bei meiner
Einwanderung in Leipzig in sechszehn Groschen bestand. Mit diesen
wurden die ersten vier Mittagstische gedeckt, den Kaffee lieferte mir
des Morgens S—y, Abends sättigte ich mich mit einer Pfeife Ta¬
bak, den mir mein Freund gleichfalls brüderlich darreichte. Während
dessen aber bombardirte ich wenigstens 40 Leipziger Buchhandlungen
durch Zusendung meiner Manuskripte: immer vergebens, immer aber
unermüdlich. Ich habe damals die Leipziger Markthelfer tüchtig in
Athem gesetzt. Die Weihnachtsferien nahten, und ein S—y befreun¬
deter Student cedirte mir gegen eine Baarleistung von 14 Groschen
seinen Convicttisch während der drei Wochen seiner Abwesenheit, auch
wohnten zwei Studenten, zwei Polen aus Pawicz: Frank und Lebius
auf demselben Flur mit uns — sie hatten jeder vierhundert Thaler
Wechsel (in meinen Augen eine Million!), gewannen mich bald lieb
und griffen mir von Zeit zu Zeit mit einer Tasse Thee unter die Ar¬
me. Ich war nun drei Wochen ein zufriedener, glücklicher Mensch,
aber die Buchhändler ließ ich deswegen doch nicht in Ruhe. Ich
schrieb Novellen auf Novellen. Journalartikel auf Journalartikel, aber
die Redacteure wollten mich nicht anerkennen — die einzige „Hebe,"
welche damals der Rothe (jetzt Hauptprediger in Bremen) re-
digirte, öffnete mir ihren Schooß. — Meine Matrikel, auf die ich
mich als 8tu>1. M-, inscribiren lassen wollte, ward als malt vom
damaligen Rector Domherrn Weiße nicht für voll anerkannt, er for¬
derte mich auf, ein 1V>«iimarium murum aus der letzten Zeit beizu¬
bringen, bis dahin sollte meine Immatrikulation schweben. Ich ver¬
sprach dieses, obgleich dazu keine Möglichkeit vorhanden war. Doch
erhielt ich von der Polizei, wo ich mich des Aufenthaltes wegen mel¬
den mußte, Frist und somit auch Seelenruhe. —
.Aber die schönen drei Wochen des Convicttisches, an dem ich
ein pünktlicher Gast war, schwanden und es begann der erste Monat
des ersten pharaonischcn magern Jahres. Bald nach meiner Ankunft,
hatte ich — wenngleich friedlicher Natur — doch Gelegenheit gefun¬
den, in Connewitz einer Paukerei beizuwohnen; zwei Griechen schlu¬
gen sich, einer von meinen Stubennachbarn secundirte. Beinahe wären
wir abgefaßt worden, nach ein Paar Gängen versöhnten sich die Hel¬
lenen und wir fuhren nach Raschwitz, woselbst ein erquickliches Ge¬
lage stattfand. Die Gesellschaft bestand aus etwa zwanzig Personen,
und der Wein floß in Strömen, was mich in eine behagliche Ge-
müthsstimmung und liebevolle Herzlichkeit versetzte. Derjenige, wel¬
cher bei der Paukerei zwischen PondikiS und GeorgiadcS Bojesco
die Versöhnung zu Stande gebracht, war Simeon Milutinowitzsch,
der serbische Dichter, ein Kampfgenosse des Milosch. Er befand sich
in Leipzig, um sein Epos die „Serbianka," worin Milosch'S Gro߬
thaten besungen wurden, auf des Fürsten Kosten drucken zu lassen.
Zu gleicher Zeit suchte er dafür einen deutschen Uebersetzer. Mit mir
bei sothanem Strauß bekannt geworden, erfuhr er, daß ich Böhme
sei und mich in Wien bereits früher mit den andern slavischen Spra¬
chen beschäftigt hatte. Er bat mich um meinen Besuch, er wollte einen
Versuch mit mir machen, wollte mir, wenn dieser gelänge, für den
Bogen einen Ducaten geben. Ich that einen Luftsprung und sagte zu.
Das war eine schwere Arbeit. Anfangs wollte Milutinowitzsch
die fünffüßigen Trochäen durch Herameter wiedergegeben haben, fügte -
sich aber, als dies gar zu viele Schwierigkeiten darbot und be-
ruhigte sich beim Versmaß des Originals. Milutin sprach zwar
ziemlich geläufig, aber nicht vollkommen richtig Deutsch, wir konnten
in ganz Leipzig kein serbisches Wörterbuch auftreiben, und mußten uns
mit einem russischen und böhmischen behelfen. Das hatte tausender¬
lei Schwierigkeiten, denn oftmals mußte ich den Sinn nur errathen.
Nach fünf langen Stunden hatten wir den ersten Gesang, Lire» vier
Druckseiten, vollendet. Simeon umarmte mich, indem er rief: „O
Gott! es wird gehen!" —
Und so ging es drei Tage, da ließ ich aber plötzlich, während
Simeon sich mit einer Phrase abquälte, die Feder sinken, legte
den Kopf auf den Tisch und seufzte: „Ich kann mich mehr!" — „Bist
Du krank?" fragte Milutinowilsch. — „Nein! aber ich habe seit zwei
Tagen nichts gegessen — der Hunger bringt mich um." — „OGoit!"
rief mein Freund, stürzte an seinen Secretär und drückte mir einige
Ducaten in die Hand. Bald blieben jedoch die Ducaten auch ihm aus,
Milosch schickte keine mehr, und Milutinowilsch hatte Noth, den Druck
seines Originals zu bestreikn. Aber er erzählte mir bei unsern nun¬
mehrigen täglichen Zusammenkünften verschiedene Geschichten, Sagen
und Mährlein aus Serbien, die ich sorgfältig niederschr-ich und an
die Baumgärtnersche Modenzeitung schickte. Dann half er mir bei
der Uebersetzung einer großem serbischen Dichtung „Der Aufstand der
Dahler" aus der Sammlung von Wut Stephanowitsch Karadzitsch,
die ich an's Morgenblatt beförderte. Dieses druckte sie sofort ab und
schickte mir achtzehn Thaler Sächsisch dafür. Achtzehn Thaler!
Ich wollte meinen Augen nicht trauen, als der Bursche ans der
Kummerschcn Buchhandlung mir dieselben aufzählte. Damals rief
ich zum ersten Male: Maseh Allah, Gott ist groß! aus, denn im
Umgang mit Milutinowitzsch, der Türkisch sprach, hatte ich mehrere
türkische Redensarten gelernt.
Zu gleicher Zeit ward ich in der journalistischen Welt durch
einen Aufsatz über Zacharias Werner, welchen der „Gesellschafter"
brachte, bekannt, und Herr Brockhaus nahm mich unter die Mitar¬
beiter des „literarischen Conversations-Blattes" aus, worin ich vor allen
Dingen meine Rache an den Prager Censoren, die meine Erstlinge
so grausam verstümmelt, in Anecdoten und Motriiö, welche ich von
Ihnen erzählte, kühlte. — Als mir der Buchhändler A. Wienbrack
abermals einen Band Poesien und Novellen „retournirte," legte er
zugleich das Programm einer herauszugebenden „Gallerie von Origi¬
nalromanen von Deutschlands ausgezeichnetsten Schriftstellern"
bei und forderte mich auf, für dieselbe versuchsweise einen Roman
zu schreiben. Diese Aufforderung versetzte mich in einen unbeschreib¬
lichen Schwindel. Ich, ein ausgezeichneter Schriftsteller! Maseh Allah!
rief ich zum zweiten Male, setzte mich nieder und schrieb Tag und
Nacht und Nacht und Tag bis ich die „Fünfhundert von Blanik,"
meinen ersten Roman, fertig hatte. Das Honorar für die „ausge¬
zeichneten" Schriftsteller betrug drei Thaler pro Bogen. Mein Werk
fand Gnade vor den Augen des Verlegers oder vielmehr des deno-
minincn Redacteurs dieser Gallerie, des obengenannten Heberedac¬
teurs Rothe. Weilen ich aber das Honorar, in Anbetracht meiner
beklommenen Umstände, sofort beanspruchte, so bot mir Herr W. eine
Zahlung pro Panhas und Bogen von 25 Thlrn. an. Ich griff zu
— und da der Buchhändler meinte, mein Manuscript würde wohl
nicht sechszehn Bogen füllen, er würde daher noch einen Beitrag von
einem andern Autor nehmen müssen, da erbot ich mich in der Freude
meines Herzens, ihm noch eine Novelle gratis zu liefern, nur damit
mein Name allein auf dem Titel stehe. Und dieses genehmigte er
auch.*) Als ich die 25 Thaler in Händen hatte, rief ich von ganze»,
Herzen: „Der alte Gott lebt noch!" und rannte hinaus in den klei¬
nen Küchengarten, wo mein Freund S—y saß, und gab ihm zwei
Drittel des Geldes auf Abschlag seiner bisherigen kleinen Vorschüsse.
Auf diese Weise stieg mein Stern! Zwar hatte mir Winkler
meine Novelle zurückgeschickt — es war gerade am Weihnachtsabend,
wo ich sehr verlassen in der ungeheizten Stube saß, und mich, da
die erstarrten Finger die Feder nicht mehr halten wolltet,, schon um
sieben Uhr ins Bett flüchten mußte, aber er hatte mich zu weiteren
Beiträgen aufgefordert, für Baumgärtner blieb ich thätig und für
Brockhaus; durch den „ausgezeichneten" Roman ward ich mit
Rothe bekannt, er gewann(I) mich für seine Hebe, und als er spä¬
ter Pfarrer in Schönefeld wurde, betraute er mich (durch sein Für-
wort beim Verleger) mit der Redaction des genannten Blattes. Diese
feste Stellung (sie trug 100 Thaler jährlich ein) verschaffte mir
endlich auch eine Aufenthaltskarte bei der Polizei; denn bisher war
ich nur ein provisorischer Mensch gewesen. Erst ein Jahr später ward
ich in der juristischen Facultät immatriculirt.
Ich sagte Ihnen, lieber Landsmann, das Unglück saß immer
auf meinen Fersen. Ich werde dessen später noch oft erwähnen; aber
einmal, bei den „Fünfhundert von Blanik" (denn daß ich diese ver¬
faßte und daß mir Herr Wienbrack dafür 25, Thlr. gab, war mein
Unglück!) ließ es mir einen weiten Vorsprung. Denn sechszehn Jahre
später fiel es mir ein, die genannte Novelle völlig umgearbeitet und
unter dem Titel die „Rosenberger" meinen gesammelten Schriften, den
„Zeit- und Lebensbildern" einzuverleben, und hierauf verklagte mich
Herr W., weil er noch Eremplare jener Romangallerie besaß, wegen
Nachdruck (an mir selbst) und erzielte die Confiscation des Buches.
Meine vortreffliche Vertheidigungsschrift, die ich einmal der „Preßzei¬
tung" vermachen werde, blieb erfolglos, das Buch wurde mit Beschlag
belegt und ich muste mit Herrn W. einen Vergleich eingehen und
ihm 30 Thlr., nebst den Prozeßkosten, bezahlen. — O, ich sage Ihnen,
eS ist sehr betrübend, wenn man vor sechszehn Jahren ein Buch für
25, Thlr. geschrieben hat, und muß nach sechszehn Jahren nicht nur die
25 Thlr. wieder herausgeben, sondern noch fünf Thaler zuzählen, die
Gerichtskosten nicht gerechnet! Solches hatte ich freilich nicht geahnet,
als ich unio 1826 ausrief: „Der alte Gott lebt noch!" Aber die
Sünden der Jugend rächen sich im spätern Alter. Warum wollte
ich unter die „ausgezeichneten" Schriftsteller gerechnet werden? Es
war damals die Zeit der Claurenschcn Parodien, ich schrieb nach
Hauff eine derselben, später eine zweite und dritte als Heinrich Clau-
ren. Zu gleicher Zeit übersetzte ich ein Buch, die Zeit drängte, jeden
Tag mußte ich drei Druckbogen liefern, ich arbeitete die Nächte hin¬
durch, noch immer den Bogen für drei Thaler, endlich erlag ich.
Den Schluß der „Emmy" schrieb ich im FieberparortSmus, eines
Abends warf es mich nieder — und ich hatte daS Nervenfieber.
Ach, das waren acht traurige Wochen! Ohne Mittel und so
allein! Aber das Schicksal verläßt einen Deutschen nicht, wenn es
ihn nicht ganz windelweich geklopft hat — ich genas. Durch den
Claurenkrieg war ich mit Müllner bekannt und mit W. Hauff be-
freundet worden. Der Letztere lud mich nach Stuttgart ein. Er
gedachte mir dort eine angenehme Stellung zu verschaffen. Ich rü¬
stete mich auch zur Abreise, denn die „Hebe" hatte ich kurz vorher
an Herrn v. Alvensleben abgegeben; — da trete ich eines Sonntags
in die W —sche Konditorei und der Oberhofgerichtsrath B** fragte
mich: „Haben Sie schon die Frankfurter Zeitung gelesen? Ihr Freund
Hauff ist todt!"--
Ja, er war todt, der herrliche, talentvolle, lebenskräftige Mensch!
Ich war um eine treue Seele und um eine Aussicht ärmer.
Nicht unerwähnt darf ich lassen, daß bei meiner Ankunft in Leip¬
zig Jedermann an meinem Dialecte sofort den Oesterreicher, wie
ich umgekehrt an dem reinen Leipziger Dialecte sofort auch jeden
Sachsen erkannte. Die erste Frage, die mir wurde, war stets: „Sie
sind Oesterreicher? Dann sind Sie auch wohl katholisch?" —
„Ja, ja!"
Es waren nämlich zu jener Zeit gerade ein Paar arme Ecken¬
steher mit ihren Kindern katholisch geworden. Darüber erhob der
allezeit streit- und broschürenfertige selige Professor Krug, der sich
übrigens mit Eifer und redlichem Streben jeder Tagesfrage bemäch¬
tigte, ein gewaltiges Geschrei durch das Land über Proselhtenma-
cherei, zumal der damalige österreichische Consul A. v. Müller und
der Verfasser der „Pentarchie" ein Journal mit ultramontanen und
absolutistischen Tendenzen Herausgaben. — Die Proselytenmacherrie-
cherei kam in Schwang, und daher die häusig wiederkehrenden Fra¬
gen nach meinem Katholicismus. nachgerade ward mir die Sache
lästig, als zwei Kandidaten der Theologie, die häufig in Reichels
Garten kamen, mich mit aller Gewalt bekehren und protestantisch ma¬
chen wollten. — Sie verarbeiteten mich bis zur Zerknirschung und
wollten nicht begreifen, wie alle diese theologischen Streitigkeiten mit
meinen Romanen gar nichts zu schassen hatten. Gleichzeitig hatte
mich S—y eines Tages, es war die Zeit bitterster Verlegenheit, zu
einem Uhrmacher sah—r, der in frühern Jahren meine Eltern in Prag
gekannt, geführt; dieser sollte mir eine Hauslehrerstelle verschaffen. Der
Mann aber war nicht nur Phantast, sondern auch Heuchler (wie
seine Beschützer später erfahren mußten), er verkehrte blos mit der
Bibel und Jocob Böhme, verwirrte mir den Kopf durch ein bom¬
bastisches, ja wahnwitziges Geschwätz und sagte zum Schlüsse- „Sie
sind katholisch! Schade — wären Sie Protestant — Sie könnten der
„Unsrige" werden, einer von den „Kindern des Lammes," einer „in
der Gnade!" — Nachdem er mir ein Glas saures Bier eingeschenkt
und tüchtig über Krug, den ich damals überaus hochhielt, geschimpft,
entließ er mich. — Als er bald darauf seinen Wohlthäter Prof. Dr.
L—r um mehrere tausend Thaler geprellt hatte, ward er flüchtig. —
In einer befreundeten Familie passirte es mir sogar, daß die Tochter
des Hauses, ein schönes sechszehnjähriges Mädchen, das so eben aus
einer guten Erziehungsanstalt kam, als die Rede wieder auf meinen
Katholicismus führte, sagte: „Aber warum lassen Sie sich denn nicht
taufen?!" Im Grunde wird es mir sauer, das Alles niederzuschreiben.
Noch 1827 gab ich die „Loschpapiere des Teufels" heraus, wel¬
ches Buch confiscire wurde, gleich darnach die „Vier Farben," welche
wegen einer elegischen Phantasie über den Befreiungskrieg in Preu¬
ßen verboten wurden. Ich widmete die zweite Ausgabe in einer sub-
missen Zuschrift Sr. Majestät dem verstorbenen König von Preußen,
verhoffend, Höchstderselbe werde das Verbot aufzuheben geruhen, Ver¬
gebens! Ich gerieth durch dieses Buch zuerst unter die Demagogen;
so hieß Alles, was jetzt „schlechte Presse" heißt, vor der Julirevolu-
tion. Als ich 1829 „Hahn und Henne" erscheinen ließ, da verar¬
beite mich der sel. Intendanturrath Neumann in Berlin vom Stand¬
punkt eines preußischen Bureaukraten und rief — in einer Recension!
— nicht nur sämmtliche 36 Polizeien Deutschlands, sondern auch den
allerdurchlauchtigsten deutschen Bund gegen mich schlichten Jüngling
zu den Waffen. Diese einzige Kritik in meinem Leben ärgerte mich,
weil sie mit dem Knittel eines Polizeidieners geschrieben war. Aber
der Mann mußte sterben, ohne eine Freude an mir zu erleben, denn
trotz seines lauten Wunsches, seines fürchterlichen Geschreies, sperrte
mich die sächsische Regierung doch nicht ein.
Ich darf hier nicht unerwähnt lassen, daß die österreichische Ne¬
gierung während meines ganzen Aufenthaltes in Leipzig und trotz man¬
ches „»»ehrerbietigen Tadels" dortiger Institutionen, nicht ein ein¬
ziges Mal hierorts meinetwegen requirirt hat, selbst nicht, nachdem
ich 1831 den „Mephistopheles" geschrieben, selbst nicht als ich aus
dem belletristischen Kometen ein halb-politisches Blatt machte und die
Polen cmiuul n>6i»o in Schutz nahm, selbst nicht als sich später Herr
v. Rochow meinen Zeitgenossen Laube von hier holen ließ, und
als Spazier eiligst nach Paris flüchtete, um nicht verurtheilt zu
werden, die preußische Nationalcocarde zu verlieren. — Joel Jacoby,
der in jener Zeit, nach der Julirevolution, auch in Leipzig war, ging
freiwillig auf den ersten Ruf des Berliner Polizeipräsidiums. Ich
habe nicht gehört, daß ihm dort ein Leides geschehen wäre. Aber
Laube mußte acht Monate sitzen. Ich weiß nicht, ob ihm diese Folge
seines legalen Gehorsams viel Freude gemacht hat. Harro Har-
ri»g (1829 von Prag hierher gekommen) war der Ercentrischcste
von uns und auch in meinem Blatte. Er brachte mich auch in Zer-
würfniß mit dem Baron Schweizer, der mich deshalb in sein schwar¬
zes Buch aufnahm. Der „freie Friese" war eine seelensgute Haut,
aber in Politicis ein wüthender Kerl; bald wollte er heirathen, bald
sich duelliren, bald Warschau befreien, bald sich zu Moosdorf in'S
Gefängniß setzen. Er theilte die Menschheit ein in Spione und Nicht-
spione, und Alle, die er nicht kannte, waren Spione, und er fürch¬
tete jeden Abend, daß ihn die russische Regierung durch geheime Agen¬
ten zur Nachtzeit aufheben und heimlich nach Sibirien würde trans-
portiren lassen. Später ging er nach Braunschweig, wo ihn die Liebe
abermals in ihre Fesseln schlug; in seinen Briefen sagte er mir, daß
er um ihretwillen sich der großen Sache entziehen müsse, doch wolle
er jeden Fortschritt derselben segnen. —
Aber ich werde weitschweifig — wollte ich jene Zeit und die
Persönlichkeiten mit welchen ich damals verkehrte, nur einigermaaßen
ausführlich schildern; ich müßte ein Buch schreiben. Die österreichi¬
sche Regierung also requirirte niemals (nur, in der Prager und in der
Wiener Zeitung ward ich alljährlich als unbefugter Auswanderer zur
Heimkehr aufgefordert), wahrscheinlich in der festen Ueberzeugung, daß
ein Paar bedrückte Blätter in Deutschland nicht im Stande sind, ein
Staatsgebäude umzustürzen, (?) Dasselbe antwortete ich auch (1832)
dem Herrn v. Tschoppe in Berlin, als er mich mit dem Schreckens¬
rufe empfing: „Wie konnten Sie so ein entsetzliches, verderbliches Buch,
wie den Mephistopheles, schreiben?" — „Erstens haben Sie das Buch
überall confiscire und dann kostet es drei Thaler. So viel kann der
Bauer nicht dran wenden."
I8ZV begründete ich den Kometen. Forderlich waren ihm die
Zeitereignisse,- förderlich der glühende Eifer der Mitarbeiter, förderlich
die damalige altenburger Censur, die eigentlich keine Censur war,
wenn man darunter streichen versteht. Die ersten Gedichte an die
Polen lieferte ich selbst im Kometen, so wie auch die ersten politischen
in damaliger Zeit. Bald darnach bemächtigte sich E. Ortlepp dieser
und anderer Themas und effectuiren in seinem sonoren, kirchlich-pomp¬
haften Style gewaltig. In den Leipziger September- und Julitagen
war ich ein Mann der Mäßigung, zog freiwillig auf die Wache und
liebte meinen Nächsten, wie mich selbst. , Friedrich Gleich, der glaubte
nach Altenburg flüchten müssen, gab dadurch seinem „Eremiten," wel¬
cher in jener Sturmperiode ein mächtiges Blatt war, einen gewalti¬
gen Stoß, wovon es sich später nicht wieder erholte. Prof. Julius
Schütz, der ».ich wicderhergestellicr Ordnung alle liberale Schrift¬
steller denuncirte, bekam von ganz unbetheiligten jungen Leuten, die
rein seine noch nie dagewesene literarische Niederträchtigkeit empört
hatte, außerordentliche Prügel. Spazier, den er in seinen heiligsten
Familieninteressen verletzt hatte, überfiel ihn auf der Stube, aber statt
eines Stockes nahm er das Bajonett seiner Communalgartenflnte.
Der Biedermann Schütz brüllte „Mord!" und Spazier erhielt mehr¬
wöchentliche Gefängnißstrafe. Welche Elektricität die Durchzüge der
geschlagenen Polen in unsere Atmosphäre brachten, das lebt wohl
noch in Vieler Gedächtniß. Bei einem großen Festgelage verhießen
mir drei begeisterte Jünglinge eine Grafschaft in ihrem wiederherge¬
stellten Naterlande. — Mein guter Gott! Den Einen deckt der Wüsten¬
sand in Algerien, den Andern zerschmetterte eine karlistische Kanonen¬
kugel und der Dritte ist in Amerika verschollen.
Ich habe vergessen zu erwähnen, daß ich so zu sagen der Vor¬
läufer der österreichischen Schriftsteller im Auslande war; denn damals
gab es hier noch keine Colonie österreichischer Lireraten, wie jetzt. Vor
mir waren nur Purkinje und Schön allsgewandert, beide nach Bres-
lau, wo sie sich dem Lehrfach widmeten. Später ging Schneller nach
Freiburg. Sie werden selbst nachrechnen können, lieber K., auf
welche derjenigen, die mir nach Leipzig folgten, ich mir etwas einbilden
kann. Vo>l den Durchreisenden waren es merkwürdiger Weise immer
Wiener Autoren und darunter viele Beamte, die mir ihre herzliche
Theilnahme bewiesen, von Seiten der Präger, der Stammverwand¬
ten, konnte ich mich einer solchen Auszeichnung nicht rühmen.
Ich will nur noch erwähnen, daß ich bis zu jener Zeit (1832)
die bekannten Romane: „Der Venetianer," der „Ungar," „anatomische
Leiden" geschrieben habe, welche Bücher übrigens mit keinen Fähr-
lichkeiten verbunden waren.
Aber nachholen muß ich doch noch, daß ich 1827 mit Wit, ge,
nannt v. Dörring, gemalt bekannt wurde, nachdem er den letzten sei¬
ner zahlreichen Arreste überstanden und sein famoses Buch heraus¬
gegeben hatte, und daß ich manches drollige Abenteuer mit ihm er¬
lebt. Wir brachen mancher Flasche den Hals und ich hätte damals
nicht geglaubt, daß er Mäßigkeitsapostel werden würde. Die Ge¬
schichte von der schönen Schwedin in seinem politischen Taschenbuche
ist größten Theils wahr, nur war der Baron Sollwangen kein Vam-
pyr, sondern ein ruinirter Spieler war, der kein Geld auftreiben
konnte. Schon früher war ich in Weimar und hatte die Ehre, durch
O. L. B. Wolffs Protection Göthe vorgestellt zu werden. — Mit wel¬
cher heiligen Scheu, mit welcher Seelenangst trat ich vor den Dich¬
terfürsten ! Wolff wird sich noch erinnern, welch' eine lächerliche Figur
ich bei dieser Gelegenheit gespielt habe. Ich mußte vor der Thüre
meine Brille ablegen — denn der alte Herr mochte die Brillen nicht —;
Folge davon war, daß ich bei meiner Reverenz in einen Spucknapf
trat und bei einem Haar eine Büste von der Console gestoßen hätte.
Indeß der Alte lachte und verzieh und interessirte sich für ser¬
bische Gedichte, die ich ihm brachte. Ich kam öfter nach Weimar
und fand dort die wohlwollendste Aufnahme, nur daß ich einmal etwas
über den adligen Balcon im dortigen Theater aufgenommen, das
haben mir die Weimaraner bis auf den heutigen Tag nicht verziehen!
Ich wollte Ihnen noch Einiges von Müllner erzählen, aber ich
bemerke eben, daß ich Ihnen statt meiner Auswanderungsschilderung ein
ganzes Stück Biographie geschrieben habe; das aber soll es nicht sein.
Und darum zum Schluß nur noch einige Bemerkungen. Das
Contingent der Leipziger Schöngeister bestand bei meiner Ankunft ans
Mahlmann, Meth. Müller, Legat.-Nath Gerhard, Hofrath Rochlitz.
Prof. Wendt, 0r. Bergl (Redacteur der Modenzeitung), or. Rothe,
v. d. Oelönitz (Uebersetzer des Casanova), L. v. Alvensleben ze. Ama-
lie Neumann, damals auf dem Gipfel ihres Ruhmes, gastirte in Leipzig
und stiftete die „Rosen ritt er." Gerhard hatte wegen dieses Ordens,
dessen Comthux er war (Amalie selbst war Großmeisterin), viele An¬
fechtungen von der jungen Literatur auszustehen, denn schon damals
gab es eine „junge" Literatur. Der obengenannte Grieche (Wallache)
BojeSko duellirte sich auch Amaliens wegen mit einem Herrn L. A.
und bekam von ihm einen Schmiß, was damals großes Aufsehen
machte. — Alvensleben beschäftigte sich fast lediglich nur mit Ueber¬
setzungen, I. Sporschil mit solchen und lericographischen Arbeiten.
Später widmete er sich ganz der Geschichtschreibung, bis er in neuester
Zeit ein Rüstzeug der römisch-katholischen Kirche wurde. Als ich mit
ihm verkehrte, siel er der katholischen Kirche durch seine Besuche ge¬
rade nicht zur Last. Er lernte seine Frau auf dem Gottesacker als
weinendes Mädchen am Grabe der Mutter kennen. — Th. Legis
trieb hier ein Jahr lang nordische Studien, gab seine Fundgruben
des alten Nordens und eine Uebertragung von Oehlenschlägers
„Nordens Guter" heraus. — Als Saphir 1826 zum ersten Male
kam, vereinigte er Alles, Freunde und Feinde, zu einem Festessen. —
Im Jahre 1829 kam Ludwig Storch hierher und debütirte mit sei¬
nem „Kunz von Kaufungen" sehr glücklich. Unsere Erlebnisse mit
einem Literaten und Tenoristen Chaizeö mag er selbst schildern —
sie sind guter Stoff zu einer komischen Novelle. Auch Bechstein
war längere Zeit hier und producirte rastlos, ich nenne nur den
„Todtentanz" und „Faustus." — Bei dem jetzigen Generalintendan¬
ten Herrn v. Küstner, der bis 1828 die Leipziger Bühne leitete,
lernte ich viele renommirte Bühnenkünstler, die in Leipzig gastirten,
kennen. Ich schrieb Theaterberichte sür die Abendzeitung. Gott
vergebe mir diese Sünde! Aber an dem Schauspieler Eduard Stein
gewann ich einen treuen Freund bis zu seinem frühen Tode und an
der Hendel-Schütz eine herzliche Freundin; die Erinnerung an So¬
phie Müller aber gehört zu den theuersten meines Lebens. —
Als ich 1838 sür die Unternehmer des „malerischen und roman¬
tischen Deutschlands" nach Schlesien und durch das Riesengebirge
reiste, ging ich von da über Gitschin nach Prag und sah nach drei¬
zehnjähriger Abwesenheit meine Vaterstadt wieder. Der hiesige General¬
konsul Ritter von Berks hatte mir die Erlaubniß zum Wiedereintritt
in die österreichischen Lande ausgewirkt; ich war expatriirt worden
und galt nunmehr für einen sächsischen Unterthan.
Ich sah das schöne, erinnerungsreiche Prag wieder, sah es mit
klopfendem Herzen; aber ich fühlte mich nirgends unglücklicher, als
dort. Der treue Legis, Gale und Umlaufs schenkten mir ein Paar
gesellige Stunden, für alle andere Welt aber war ich todt, und fand
auch nur ringsum Gräber. Meine Jugendgenossen waren theils ge¬
storben, theils nach allen Richtungen hin zerstoben — einige auch
verdorben. Mich kannte Niemand mehr —, ich glaube nicht, daß
damals zehn Menschen in Prag etwas von mir gelesen haben. Mich
beschlich ein namenloses Weh, ich sehnte mich fort, schnell hinaus
aus den wohlbekannten Straßen, wo ich wie ein Schatten herum¬
schlich. Vielleicht hätten mich die Präger auch behalten, wäre ich
unter „glänzenden Verhältnissen" der Ihrige geblieben. Ob sie ein
einheimischer Poet mehr liebt als ich, weiß ich nicht, aber öfter und
lauter habe ich's gesagt, als Alle. — Ich glaube übrigens man muß
auch in Prag Hofrath oder wenigstens Professor sein, wenn man
schöne Literatur treiben will. P02 et-no Wilh KnK.
Nachdem die Zeitungen lange genug fast täglich neue Ernen¬
nungen von Obergespänncn und Obergespannsverwescrn gebrach hat¬
ten, sind NUN die neuen Würdenträger fast durchweg in ihren Comi-
taten angekommen, wo sie aber meistens nichts weniger als mit
Zärtlichkeit und Jubelruf empfangen wurden. Der Leser kennt die
Entschließung der Regierung, durch welche sich diese auf eine bis
jetzt unversuchte Bahn der Politik wagte, wohl schon aus den Jour¬
nalen, in denen sie von den verschiedensten Seiten, aber fast immer
blos im Interesse der Parteien beleuchtet wurde; allein schwerlich
kennt er die Aufregung, welche sie an vielen Orten hervorbrachte, und
den Inhalt der heftigen Reden, womit die Sprecher der Comitats-
versammlungcn sich gegenseitig befeuerten und die Anhänger des
Gouvernements einzuschüchtern suchten. Diese Reden würden in ge¬
wissen konstitutionellen Staaten Deutschlands, die auf unser Treiben
und Hoffen als ein barbarisches Gebahren und eitle Wortfechterei
mitleidig herabsehen, zu manchen Untersuchungen Anlaß gegeben ha¬
ben, selbst wenn sie in dortigen Ständeversammlungen gehalten wor¬
den wären, indeß bei uns das Wort unbewacht verhallte, und die
Berather der Krone am Kaiserhofe zu Wien die oft wenig schmei¬
chelhaften Komplimente der Opposition nicht ängstlich auf die Waag¬
schale legten und zu Majestätsprozcssen ausbeuteten.
In der schrankenlosen Freiheit der Gemeindeverfassung besteht
aber auch das Palladium der ungarischen ReichSconstitution und die
Hand, die an den Gemeinderechten rüttelt, ist für die mit so viel
Blut und hundertjährigem Volksjammer erkauften Freiheiten weit ge¬
fährlicher, als die Faust, die die Krone zerschlägt, oder den Reichs¬
tag zertrümmert, Wer die ungarische Autonomie in ihrer echt natio¬
nalen Quelle, wer .die Volksgewalt in ihrer Geburtsstätte kennen
lernen will, muß nicht den Landtag zu Preßburg besuchen, der wohl
durch die pittoreske Eigenthümlichkeit seiner volksthümlichen Physio¬
gnomie überraschen und fesseln mag, welcher indeß in keiner Weise
den vollen Einblick in das Wesen und den Born magyarischer De¬
mokratie gewährt, wie dies mit den Comitatsversammlungen der
Fall ist. Auf dem Preßburger Reichstag erblickt der fremde Besucher
eine Versammlung meist gesellschaftlich hoher gestellter Personen, die
durch die von ihnen geübte Macht imponiren können, doch keines¬
wegs ursprüngliche Besitzer dieser Macht sind. Ja die Art der Ueber-
tragung von Seite ihrer Committenten ist für die Bevollmächtigten
in dem Maaße demüthigend, daß man Anfangs kaum begreifen kann,
wie sich ein Mann von Stellung und Talent dazu hergeben kann,
den bloßen Vollstrecker des Comitatswillcns zu machen, dessen Ge¬
bot seiner Meinung nicht den geringsten Spielraum gestattet und ihn
ganz und gar zum Werkzeug der Urversammlung erniedrigt, welche
dem erwählten Abgeordneten mit der Wahl nicht blos einen Beweis
des Vertrauens gibt, sondern zugleich eine fertige Ansicht für alle
auf dem Tapet befindlichen Fragen, welche er mittelst seines Talentes
fordern, allein in keinem Falle bestreiten darf. Trifft es sich nun,
daß ein Deputirter eine Instruction erhält, die mit seinen Ueberzeu¬
gungen und Gefühlen im vollsten Gegensatze ist, und welche er gleich¬
wohl wie seine eigene Herzenöansicht vertheidigen und anstünden
muß, so kann man dies allerdings eine unmännliche, eines wahren
Talents unwürdige Rolle heißen. Doch tritt dieser Fall nicht gar
so oft ein, als man wohl glauben möchte, und in dieser Art erklärt
sich auch wieder die Bereitwilligkeit, womit die fähigsten und gefei¬
ertsten Männer deS Landes den Wählern entgegenkommen; denn
diese Notabilitäten der Politik sind es eben, welche gerade in den
tüchtigsten 'Fragen die Meinung der Comitate regeln und zeitigen,
und in den UrVersammlungen ihren Geist absetzen, ihre Ansichten
verbreiten, so daß am Ende, obschon das Comitat dem abgeordneten
Diener Jnstructionen ertheilt, eigentlich doch von diesem den Comita-
ten die Instruction ertheilt worden, und der Deputirte blos empfängt,
was er selbst gesagt und erstrebt. Laufe demnach die Sache aus
eine bloße Formalität hinaus, so läßt sich dagegen nicht leugnen,
daß beim Reichstag selbst, der meist einige Jahre dauert, entweder
die Frage sich modifiziren oder selbst neue Interessen plötzlich auftau¬
chen können, und dann ist der Abgeordnete in die Nothwendigkeit
versetzt, beim Comitat um neue Verhaltungsbefehle einzuschreiten,
ohne daß er den Vortheil genösse, abermals durch die Gewalt seiner
persönlichen Erscheinung, durch die magische Unmittelbarkeit seines
zündenden Wortes die Comitatsmeinungen zu beherrschen und dem
demokratischen Chaos den monarchischen Stempel der genialen Ueber-
legenheit aufzudrücken. Da kann es denn wohl geschehen, daß In-
structionen einlaufen, die nicht eingelaufen wären, hätte der Depu¬
tate durch seine Gegenwart einwirken und die schwankenden Parteien
leiten können. Am schlimmsten dürften noch jene Abgeordneten der
Ständetafel wegkommen, die weder durch die Tribüne des Comitats-
hauses, noch durch den Sprechsaal der Tagespresse mit der Masse
in directer Verbindung stehen, und daher gezwungen sind, die Mei¬
nungen des Comitats wie ein Actenbündel nach Preßburg zu tragen
und den viele Meilen weit entfernten Wählern ihre Stentorstimme als
Sprachrohr zu leihen. Doch selbst die Journalistick bildet in Ungarn
keine so bedeutende Macht wie in Frankreich und anderen Ländern
deS Constitutionalismus, und wird bei weitem überragt von den
etlichen fünfzig Rednerbühnen in den verschiedenen Comitaten des
Königreiches, die das sind für die ungarische Demokratie, was die
Tagespresse anderswo. Die Journalistik bildet hier blos das zweite
Treffen, und wer nie anders, als durch die Lettern und den Preß-
bcngel mit dem Volke reden kann, wird niemals zu sonderlichen
Ansehen unter uns gelangen, und von einer auf persönlichen Einfluß
basirten Macht kann da vollends nicht die Rede sein. Die Journalistik
dient hier blos als Intelligenzblatt der Comitate, und die leitenden Artikel
in derselben sind der Abklatsch der verschiedenen localen Abstimmun¬
gen; die Zeitungen werden mehr von den beim Kampf Unbethei-
ligten oder von den Leitern der Bewegung gelesen und zu Rathe
gezogen, indem die publizistischen Organe die Stelle einer durch das
ganze Land gehenden Telegraphenlinie vertreten, mittelst welcher die
Vorfechter und Hauptleute erfahren, wie hier und dort die Würfel
gefallen sind, um darnach ihre Localtactik einzurichten. Die pero-
dische Presse übt nur in so fern einen Einfluß ans die öffentliche
Meinung, als sie das Echo der UrVersammlungen ist, nicht aber
als solche selbst, und daS Blatt, welches heute ein von den Comita-
ten verlassenes oder unbegriffenes System der Politik vertreten wollte,
würde schon morgen zu erscheinen aufhören, weil Niemand es der
Mühe werth fände, Dinge zu lesen, von denen im Comitatshaus
nicht gesprochen wird; die Ungarn gleichen hierin dem Omir in
Egypten, der die Bibliothek in Alerandrien verbrennen ließ und
diese Barbarei durch den Trost zu beschönigen suchte, daß das Gute
ohnedem im Koran zu finden, und was der Koran nicht enthalte,
nicht des Lesens und Aufbewahrens werth sei. Für den gewöhn¬
lichen ungarischen Patrioten ist sein Comitatssaal der politische Koran,
uno um keinen Preis in der Welt möchte er sich seine orthodoxe
Beschränktheit durch Theorieen rauben lassen, die nicht in seiner Nähe
erprobt und verwirklicht worden. Man mag diese Sprödigkeit gegen
alle Nebel der Systemsucht und gelehrten Grübelei, gegen alle phi¬
losophische Speculation für ein nationales Gebrechen ansehen, beken¬
nen aber muß man, daß Völker von dieser Organisation es immer
am Weitesten gebracht haben im politischen Leben und der Partei¬
schulung im hohen Grade fähig sind; auch bei Engländern und Nord¬
amerikanern, als denjenigen Völkern, wo die politische Bildung am
meisten in die Blüthe gekommen, steht die Rede zum Volk in höhe¬
rem Ansehen, als das gedruckte Zeitungsblatt, und auch dort hat die
Tagespreise blos Bedeutung und Nachdruck, in so fern sie als ge¬
flügelte Botschaft des in öffentlicher Versammlung laut gewordenen
Wortes erscheint, als die Avantgarde, der daS Gros der Parteimei¬
nung unmittelbar auf dem Fuße nachfolgt. -
Da, wie wir gesehen, sowohl die gesetzgebende als auch die aus¬
übende Gewalt in Ungarn vorzugsweise bei den Comitatsbehörden
zu suchen und der Reichstag blos der Bevollmächtigte derselben ist,
der keine Gesetze geben kann, als die die Comitate ihm vorschreiben,
so mußte es der Negierung vor allem Andern darum zu thun sein,
diese Behörden in einer Weise zu reguliren, welche geeignet war, ih¬
rem Ansehen Nachdruck zu verschaffen. Bis jetzt führte der Vicege-
spann die oberste Leitung der ComitatSgeschäfte, und da mit diesem
höchst wichtigen Posten blos ein Einkommen von 18V0 Fi. C.-M.
verknüpft war, daS kaum ausreichte, um die Hälfte der jährlichen
zur Repräsentation erforderlichen Summen zu decken, so wurde das
Amt stets als ein Ehrenamt betrachtet und fiel als solches lediglich
in die Hände begüterter Edelleute von Ansehen und Einfluß. Da
die Stelle des Vicegespanns sowohl als die der unteren Comitatsbe-
amten wählbar sind und alle drei Jahre erneuert werden, so kann
man sich leicht vorstellen, daß diese Herren der Erccutivgewalt ihre
Leute wohl konnten und das Schwert der Gerechtigkeit, die häufig
staarblind war, nur dann etwas zu thun bekam, wenn es die Rück¬
sichten erlaubten, die der Viergespann auf diese und jene einflußreiche
Personen nehmen mußte, wollte er anders die Freude erleben, sein
Amt auch fürderhin zu bekleiden und den Glanz seines Hauses zu
heben. Die auf solche Weise entstandene Oligarchie hemmte gar oft
den Vollzug der Gesetze, und wie wenig man auch ein Verfahren
billigen könnte, das dahin zielte, den Comitaten das ihnen verfas¬
sungsmäßig zustehende Recht in Bezug auf die Wahlen und den
legislativen Einfluß zu verkümmern, eben so wenig darf man es gut
heißen, wenn eitle Privatrücksichten und rein persönliche Motive die
Vollstreckung eben jener Gesetze hemmen und vereiteln sollten, die
durch die verfassungsmäßige Mitwirkung der Comitatsversammlungen
in Folge der Neichstagsdeputirtcn und deren Jnstructionen entstanden
sind. Hierin sind die Magyaren leider den Engländern und Ame¬
rikanern gar nicht ähnlich, und die Verletzung der Gesetze, die sie
sich selbst gegeben, aus Privatleidenschaft ist bei jenen eben so häu¬
sig, als sie bei diese» zu den Seltenheiten gehört.
Nach unserm bescheidenen Dafürhalten dreht sich eigentlich die
ganze Frage von der Gefährlichkeit der neuen Obergespannsverwcser
für die Volksfreiheiten lediglich darum, ob die Negierung die ihnen
jetzt zustehende Crecutivgcwalt auch auf die Wahlen und Comitats¬
versammlungen überhaupt influiren lassen will, oder ob sie dieselben
einzig und allein als strenge Vollstrecker der geltenden Gesetze hinge¬
stellt habe. — Im letztern Falle hat sie gethan, was ihre Pflicht
war und schon längst gewesen wäre, im erstem aber würde sie ein
Corruptionssystem organisiren, das früher oder später gar bittere
Früchte tragen müßte. Nicht die Institution in Bausch und Bogen
kann gepriesen oder verdammt werden, sondern die Wirksamkeit der¬
selben kann erst den Maaßstab der Beurtheilung an die Hand ge-
ben, da sie es beweisen muß, ob durch daS Verweseramt die Konsti¬
tution beeinträchtigt oder befestigt worden.
Was die constitutionelle altungarische Partei sowohl als die Li¬
beralen am meisten mißtrauisch gemacht gegen die neue Einrichtung,
das ist die büreaukratische Form, in der sie in das freie Gemeinde¬
wesen fremdartig hereintritt. Der Obcrgespannöverweser erhält
bis 60W Fi. C.-M. Gehalt und ist absetzbar, dabei hat er einen Secre-
tär, der eine Besoldung von 18VV Fi. genießt, und somit wäre so ziem¬
lich die örtliche Hierarchie skizzirt, welche in ganz Ungarn mit lautem
Widerwillen als „Kreisamt" bezeichnet wurde. Nächstdem ist es auch
die Wahl der Regierung gewesen, die an manchen Orten Anstoß erregte,
denn daß die Persönlichkeit der neuen Beamten eine große Bedeutung
haben werde für die Art ihrer Wirksamkeit und es hier mit keinen
Pfründnern, mit keinen Gnadengeschvpfen gethan sei, konnte der Regie¬
rung unmöglich entgehen. So machte es im Zaloder Council einen
schmerzlichen Eindruck, den Grafen Leo Festctics als Gefpannsverwcser
zu erhalten, dort, wo Männer wie Deal und Andere das Ruder der
öffentlichen Meinung lenken und als sittliche Größen dastehen. Der
Herr Graf hat gar keine politische Erfahrung, keine Geschäftskenntniß,
ja nicht einmal eine tüchtige juristische Bildung; der Pflege der schö¬
nen Künste ergeben und zuletzt Vorsteher des Nationalmusikvercins in
Pesth, wird er plötzlich durch die Coterie auf den Schild erhoben
und in seinen späten Jahren noch zum Lenker eines der ersten Co-
mitate des Landes ernannt!
Schließlich müssen wir noch bemerken, daß manchen Leuten die
k. Commissäre noch im Andenken sind, welche Joseph II. ins Land
schickte, um den Widerstand der gekränkten Patrioten zu brechen und
seinen Befehlen Nachdruck zu verschaffen. Auch führen Manche ein
neueres Beispiel inconstitutioneller Maaßregeln an, wie nämlich unter
Kaiser Franz I., da der Reichstag sich weigerte, vor Abstellung der
Landesbeschwerden die geforderte Nekrutenzahl zu bewilligen, der
Kaiser in jedem Comitat mit Vollmachten ausgerüstete Commissäre
ernannte, welchen die Militärmacht zu Gebote stand und die sofort
die Rekruten, ohne die versagte Mitwirkung der Comitatsbehörden in
Anspruch zu nehmen, ausheben mußten.
NerurtheileN! einander ungehört, — eine goldene Regel,
deren Befolgung ich nicht blos von Ander» verlange, sondern auch
selbst gegen Andere in Anwendung zu bringen wenigstens bemüht bin.
Ohne Zweifel sind auch die Regierenden Menschen, und können billi¬
gerweise fordern, daß nicht »»gehört über sie und ihre Maaßregeln ab¬
geurtheilt wird, und auf den Grund dieser Erwägung bin ich gewohnt,
bis auf weitere Aufklärung eine Zeitlang mein Urtheil zu verschieben.
Ich habe mir also bisher auch über die verdrießliche. Ausweisung He-
nkers und Itzstein's keine bestimmte Meinung zu bilden gewagt, son¬
dern in wahrhaft musterhafter deutscher Geduld zugewartet und mir
sogar das Vergnügen erlaubt, dessen ich sonst stets entsage, Tag sür
Tag die Allgemeine Preußische Staatszeirung zu lesen.
Es wird wohl noch Manchem außer mir ebenso gegangen sein.
Wir haben also gewartet. Indessen Alles hat seine Zeit, auch die
Geduld. Es ist eine Woche nach der andern verflossen, und auch die
Spree der Preußischen Allgemeinen Zeitung ist täglich vorbeigelaufen,
läuft vorbei und wird vorbeilaufen, ohne eine Aufklärung zubringen.
7^al>nur et l!i>>et»r i>-I »inne voluliilis »«pun!
Ich fürchte, der Augenblick ist nicht weit, da von diesem Ereig¬
nis? nicht mehr gesprochen werden wird. Sollte es mir wirklich gehen,
wie dem Bauer im Haag und wie den Deutschen mit der Preßfrei-
heit! Diesem Schicksal ist zu entrinnen, und es wird mir das um
so leichter, als mir eben einfällt, daß ja die Herren Hecker und von
Itzstein auch ungehört verurtheilt worden sind, und man nicht die min¬
deste Geduld mit ihnen gehabt hat.
Aber eine Vorsichtsmaaßregel will ich dies Mal doch anwenden
— deutsche Grundlasten. Betrachten wir also die Ausweisung
Henkers und von Jtzsteins
!«j 1. An und für sich hat diese Maaßregel durchaus nichts Au¬
ßerordentliches. Man gewöhnt sich am Ende an Alles, auch an deut¬
sches Sauerkraut, sagt der Franzose. Es gibt kein deutsches Staats-
bürgerrecht, weder thatsächlich, noch nach dem deutschen positiven
Staatsrecht. Wer sich die Mühe nehmen will, Klüber's Hand¬
buch nachzuschlagen, der wird darüber nicht im mindesten in Zweifel
sein. Die gelehrten Deductionen, daß ein solches vorhanden sei, welche
neulich eine rheinische Zeitung mittheilte und die ich, wenn ich nicht
irre, ziemlich gleichlautend bereits im Jahre 1832 im seligen Frei¬
sinnigen gelesen, — sie beweisen eben weiter nichts, als daß das
Dasein desselben des Beweises bedarf. Was vorhanden ist, braucht
keinen Beweis. Wenn nun aber darauf Klagen über die Verletzung
des deutschen Staatsbürgerrechts gebaut werden, so ist das eine reine
Selbsttäuschung, seit 181» in Deutschland sehr beliebt, aber nicht sehr
politisch. Man spiegelt sich vor, daß Mängel ausgefüllt seien, während
sie die Ursache unsers Mißbehagens sind. Soll aber geholfen werden, so
ist die erste Bedingung doch die, daß man dem Uebel herzhaft in die
Augen sieht, daß man es erkennt, statt die Augen zu verschließen
und sich mit Täuschungen zu verblenden, von deren Nichtigkeit uns
die Wirklichkeit täglich fühlbare Beweise liefert. Hatten wir ein deut¬
sches Staatsbürgerrecht, so könnte allerdings jeder Staatsbürger eines
deutschen Bundesstaates den Aufenthalt in jedem Bundesstaat als ein
Recht in Anspruch nehmen. Der Genuß dieses Rechtes könnte ihm
immerhin entzogen oder geschmälert werden, aber nur auf gericht¬
lichem Wege. Wir haben aber keins. Der Deutsche fällt in jedem
andern Bundesstaate, wie der Engländer oder Franzose oder Russe,
der Fremdenpolizci anheim und hat nicht mehr Rücksichten als diese
zu erwarten, ja, im Grunde, — die Erfahrung beweist es, — we¬
niger, denn wir haben keine mächtigen Gesandten, die uns im Falle
der Verletzung unserer Interessen schützen könnten. Das ist freilich
hart, aber die Wahrheit ist nun einmal kein Nosenpfühl. In con-
stitutionellen Staaten sind gewöhnlich Fremdengesetze; so in Frankreich
und England, und die Regierung ist für Beobachtung derselben den
Häusern" oder Kammern verantwortlich. Hierzu kommt, daß in kon¬
stitutionellen Ländern der Fürst als geborner Volksvertreter, mit den
Hausern oder Kammern ein einiges, unzertrennliches Ganze aus¬
macht, unter welchem die ministerielle Gewalt oder Regierung steht.
Unsere deutschen Staaten sind aber ohne alle Ausnahme re inmo¬
narchisch, indem die fürstliche Macht und die ministerielle Gewalt
ein unzertrennliches Ganze bilden, Staaten, in denen eine Volksver¬
tretung, wie in Baden, oder eine Vertretung von Ständen des Lar-
des, wie in Sachsen, Baiern und sonst, oder Provinzialstände, wie
in Preußen, thatsächlich eine mehr oder weniger untergeordnete
Stellung einnehmen und in denen eine solche ministerielle Verantwort¬
lichkeit, wie in constitutiomllen Staaten, unausführbar ist. Die
Minister werden sich immer mit dem Schilde der in der Person des
Fürsten concentrirrm Majestät des Staates decken, vollends in Preu¬
ßen, wo man aus der Aufrechthaltung der absoluten Monarchie einen
Ehrenpunkt zu machen scheint. Unter solchen Umständen kann es sich
also gar nicht um Gesetzlichkeit in Angelegenheiten der Fremden-
polizci handeln; sondern lediglich um die Verwaltungsgrundsätze, welche
man gewohnt ist, dabei in Ausübung zu bringen. An Anfange der
letzten dreißiger Jahre scheinen nun hierüber, wie über die Presse und
andere Angelegenheiten, unter den deutschen Regierungen gemeinsame
Verabredungen getroffen worden zu sein. Denn als man in Süd¬
deutschland, namentlich in Baiern, Würtemberg und Baden 1832
gegen die damaligen Volksbewegungen anfing ernstliche Maaßregeln zu
ergreifen, war eine der ersten die, daß man die norddeutschen Schrift¬
steller, welche sich im Vertrauen auf die dort angepriesene größere Frei¬
heit hingezogen hatten und auf der Seite der Opposition standen,
sammt und sonders auswies. In den desfallsigen politischen Erlassen
hieß es: Da ein Angehöriger eines andern Landesstaats den Aufenthalt
in einem andern als in dem seinigen nicht als ein Recht in Anspruch
nehmen könne, so ziehe man die Äufenthaltsbewilligung zurück. Man
betrachtete die Aufenthaltserlaubniß als eine Concession; wer sie erhielte,
könnte dafür dankbar sein, wer sie aber nicht bekäme, der würde in
feinen Rechten nicht verletzt und hätte also auch keinen Beschwerde¬
grund. Das sind nun die in Deutschland allgemeinen, seit einer Reihe
von Jahren geltenden Grundsätze der Fremdenpolizci, und sie werden
hauptsachlich gegen solche angewandt, welche auf der Liste der politisch
Gefährlicher und Verdächtigen stehen. Die Süddeutschen haben in
der That keine Ursache, so großen Lärm über Hecker's und Itzstein's
Ausweisung zu machen und damit ein? Quelle des Preußenhasses zu
eröffnen; denn rechnet man alle seit 1832 in Deutschland aus politi¬
schen Gründen erfolgten polizeilichen Ausweisungen zusammen, so
fallt bei weitem die größte Mehrzahl auf die süddeutschen Staaten, und
die preußische Polizei hat in diesem Punkte noch viel nachzuholen, ehe
sie sich einer ebenso erfolgreichen Thätigkeit rühmen könnte, wie die
baierische und badische, welche in den Jahren 1832 und 1833 na¬
mentlich wirklich Enormes in diesem Fache geleistet haben. Den An¬
fängen muß Widerstand geleistet werden, damals aber wurde die Sache
wenig beachtet, und wenn die Betroffenen nicht selbst in den Zei¬
tungen sich geregt hätten, würde wahrscheinlich gar nicht davon ge¬
sprochen worden sein. Jetzt, da diese Grundsätze beinahe anderthalb
Jahrzehnte in den deutschen Bundesstaaten in Anwendung gebracht wor-
den sind, kommt die Verwunderung darüber etwas spät. Indessen
die Erscheinung ist bemerkenswerth. Man schenkt auf einmal in
Deutschland einer von den politischen Ausweisungen, welche seit 1830
so häufig vorgekommen sind, allgemeine Aufmerksamkeit. Durch
die Ausübung der Grundsatze der Fremdcnpolizei gegen Deutsche, die
vertrauungsvoll in einem andern deutschen Bundesstaate sich angesie¬
delt und eine Existenz gegründet hatten, die wie durch einen Schlag
aus heiterem Himmel vernichtet wurde, ist seit I83l) in den süddeut¬
schen Staaten namenloses Elend über Einzelne und einzelne Familien
gekommen, — über Familien, die nicht selten für immer dadurch ge¬
trennt wurden. Man weiß das kaum, Viele werden es nicht ein¬
mal glauben, — aber bei der Ausweisung Hecker's und v. Itzstein's —
allgemeine Theilnahme, Verwunderung, Entrüstung. Welches große
Unglück ist denn geschehen? Nichts weiter, sagt man, als die Unter¬
brechung einer Vergnügungsreise. Diese Entrüstung gilt also
eigentlich nicht der Maaßregel, sondern den Personen, die sie ge¬
troffen. Um die allgemeine Aufmerksamkeit auf diesen wunden Fleck,
auf diese Blöße der deutschen Zustande zu richten, mußte v. Ztzstein
und Hecker ausgewiesen werden. El nun, wenn die Sacken sich so
verhalten, und ich glaube, man wird sie bei genauerer Prüfung nicht
anders finden; dann muß ich gestehen, kann ich in der Ausweisung
v. Itzstein's und Hecker's an und für sich nichts Beklagenswerthes
finden; sie ist Veranlassung geworden, endlich einmal überall in
ganz Deutschland auf den Riß, der zwischen den Bürgern verschiede¬
ner Bundesstaaten liegt, einen Blick zu werfen; das ist sehr erfreulich;
— vielleicht wird sie Veranlassung werden, daß man sich mit dem
Traumbilde eines deutschen Staatsbürgerrechtes nicht wieder in süßen
Schlummer wiegt, daß man die Sachen steht, nicht wie man sie
wünscht, sondern wie sie sind, und daß man, nach der Erkenntniß der
Krankheit, auch die Mittel findet, sie zu heilen; das würde noch viel
erfreulicher sein.'
-öl it. ->) Täuscht nicht Alles, so ist die Ausweisung Heckers
und v. Itzstein's die Folge der Angeberei eines geheimen Agenten der
preußischen Polizei. Vielleicht bringt dieser Fall die Wahrheiten zur
Anerkenntnis!, daß es besser ist, mit eigenen Augen zu sehen, als sich
ans felle Söldlinge zu verlassen, und daß die beste geheime Polizei
auf dem Gebiete der Politik die vollständigste Öffentlichkeit ist. Eine
absolute Monarchie gleicht einem Gebäude ohne Fenster; die Oeffent-
lichkeit ist das Licht und die Fenster eines Staates; je mehr Oeffent-
lichkeit, desto mehr Fenster, desto mehr Licht. Dem unverdorbenen
Sinne des Menschen widerstrebt Heimlichkeit wie die Finsterniß; er
strebt nach Licht, nach O effentli es ke i t. Sollten denn die Deut¬
schen weniger Menschen sein, als die Engländer oder Amerikaner?
Wäre Alles bei uns öffentlich, wie in England, könnten wir
unsere Angelegenheiten in öffentlichen Versammlungen, in Meetings,
besprechen, wie in England; wozu bedürfte es dann der geheimen
Polizei in politischen Angelegenheiten? (denn gegen gemeine Verbrecher,
das Gesindel der Nacht, wird sie unentbehrlich bleiben.) Hat die
englische Regierung gegen den größten Volksaufreger neueste Zeit,
gegen O'Connel, sich geheimer Polizei zu bedienen brauchen? O'Con-
nel hat öffentlich geredet, die Negierung hat öffentlich Stenographen
hingesandt, sie hat mit eigenen Augen gesehen und gehört, die Ge¬
schwornen haben verurtheilt, und eine der größten Volksbewegungen
hat sich zur Ruhe begeben. Aber die geheime Polizei auf dem Ge¬
biete der Politik ist auch noch aus andern Gründen verwerflich. Nir¬
gends bewahrt sich der Spruch: Sucht und ihr werdet finden, mehr
als in Bezug auf geheime Polizei; aber was findet man? Sollten
keine Verschwörungen, keine staatsgefährlichen Umtriebe vorhanden
sein, — man brauchte nur eine geheime Polizei einzurichten, und
sofort würden welche da sein, je zahlreicher die Agenten, desto zahl¬
reicher die Umtriebe. Es ist sehr natürlich; diese Menschen wer¬
den bezahlt und wollen leben; sie werden also eine Mücke in einen
Elephanten verwandeln, oder als Anrcizer (in^euto prcviicittu,'^)
wirken und wo nichts ist, etwas anstiften, nebenbei wohl auch gegen
den oder jenen eine persönliche Rache ausüben. Gewiß sind aus solche
Weise Viele.unschuldig hingeopfert worden. Die wahren Verschwö¬
rungen aber, die natürliche Folge der Entziehung der Oeffentlichkeit,
sie sind nicht von der geheimen Polizei entdeckt worden; sondern ent¬
weder durch die Gewissensbisse der Theilnehmer, oder durch Nachläs¬
sigkeit, oder durch Zufall. Durch das Aufsehen welches die Auswei¬
sung Hecker's und v. Ztzstein's gemacht hat, wird die preußische Re¬
gierung vielleicht veranlaßt, über die Wahrhaftigkeit des Angebers
Untersuchungen anzustellen, und wenn sie sich, wie sehr wahrscheinlich,
von der Unschuld der beiden Reisenden überzeugt, anerkennen müssen,
daß auf dem Gebiete der Politik Oeffentlichkeit mehr werth ist als
geheime Polizei. Die Oeffentlichkeit verlangt weder unschuldige Opfer,
welche von der geheimen Polizei unzertennlich sind, noch verleitet sie
die Regierung zu solchen Fehlern, wie die Ausweisung Hecker's und
v. Itzstein's einer ist.
lib II. i>) Es wird vielleicht nicht ohne Nutzen sein, bei dieser
Veranlassung viele badische Abgeordnete der linken Seite, welche noch
jetzt in der Kammer sitzen, an das Jahr 1832 zu erinnern. Wer
die freisinnigen Blatter, das Würzburger Volksblatt, den
Westboten, den Freisinigen, die deutsche Tribüne damals
gelesen, der weiß, was die badischen Abgeordneten der linken Seite
damals gethan, was sie gesprochen, er weiß auch, was sie unter¬
lassen haben. Was sagten sie namentlich? — und es ist jetzt
noch gedruckt zu lesen. Das badische Volk hat jetzt Preßfreiheit
errungen, bald werden wir Schwurgerichte und alle Garantien eines
constitutionellen Rechtszustandes haben; wir haben keine Zeit, uns mit
den übrigen Deutschen zu beschäftigen, wir müssen für uns selbst
sorgen; mögen die übrigen deutschen Staaten dem herrlichen Beispiele
Badens folgen und sich selbst dieselben Freiheiten erringen. Zuerst die
Freiheit, dann die Einheit! so lautete der Wahlspruch. Es sprach sich
der entschiedenste Absondcrungsgeist aus, der unter dem Namen des
badischen Patriotismus und Liberalismus ziemlich bekannt war. Aber
zu welcher Zeit? in demselben Augenblicke, wo in Baiern purisizirt
wurde, wo die liberale Partei in Baiern vernichtet wurde. Seht,
sagte man damals zu den liberalen badischen Abgeordneten, die Män¬
ner, welche man jetzt in Baiern aus dem Lande weist oder in's Ge¬
fängniß steckt, sie wollten nichts Anderes als Ihr, keine Ungesetzlich¬
keit, keine Unordnung, nichts als dasjenige, worin sie das Heil des
Baterlandes erblicken, einen constitutionellen Rechtszustand. Mit
Baiern, dem Hauptpunkt, fängt man an, — auch an Baden wird
die Reihe kommen. Aber man hielt es für unglaublich und beharrte
auf dem badischen Liberalismus. Seht, sagte man ihnen, jetzt ver¬
weist man Georg Fein, weil er an der Redaction der „deutschen
Tribüne" theilgenomwen, jetzt verweist man Eisenmann und an¬
dere Herausgeber von Zeitungen, — später wird die Reihe an die
Abgeordneten selbst kommen. Man nannte das Ueberspanntheiten,
Uebertreibungen und beharrte auf dem badischen Absonderungsgeist.
Ich habe das Alles selbst mit angesehen, selbst mit angehört. Nun,
wer nicht hören will, muß fühlen. Die letzten dreizehn Jahre haben
bewiesen, daß der Satz: zuerst Freiheit dann Einheit, ein
grundfalscher, verderblicher ist; nein: zuerst Einigkeit, deutsche
Bruderliebe, und dann Freiheit. sondert Euch ab, trennt Euch und
Ihr werdet niemals frei werden!
lui Is. v) Ohne Zweifel ist es erfreulich, daß in Deutschland
eine allgemeine Theilnahme bei dieser Gelegenheit gezeigt, daß man sich
vielfach ausgesprochen hat; indessen kommt es dabei doch sehrauf das
Was und das Wie an.
Es sind viele Aeußerungen gefallen, die gegen den Grundsatz ver¬
stoßen, den der Freisinnige nie aus den Augen verlieren sollte: ver¬
damme nicht ungehört! —und das ist unrecht und erzeugt nur
Erbitterung. Es sind viele Aeußerungen gefallen, die eine große Un-
kunde der Verhältnisse, der deutschen Zustände, der Personen, der
deutschen Gesetzgebungen und des Völkerrechts verrathen; — das ist
unklug und erzeugt bei den Gegnern nur Verachtung. Es sind aber
auch Aeußerungen gefallen, welche die liberale Sache förmlich ver¬
leugnen und eine sonderbare Gesinnungslosigkeit verrathen. Man hat
gesagt, den Abgeordneten Hecker und v. Itzstein sei durch die Aus¬
weisung eine große Schmach wiederfahren. Wenn die Anhänger
der jetzigen preußischen Regierung so sprechen, so ist das sehr verzeih¬
lich und natürlich. Ich meines Theils>glaube, den Abgeordneten v. Itz-
stein und Hecker ist dadurch eine große Auszeichnung geworden.
Die preußische Regierung hat durch diese Maaßregel anerkannt, daß
die beiden badischen Abgeordneten so mächtige, entschiedene, einflu߬
reiche Vertheidiger des constitutionellen Systems, so gefährliche Gegner
des preußischen Regierungssystems sind, daß ihnen kein Ausenthalt der¬
malen in Preußen gestattet werden kann.
Man wird sich über die vielen ungeschickten Aeußerungen, die bei
dieser Gelegenheit veröffentlicht worden sind, weniger wundern, wenn
man bedenkt, wie sie zum Theil zu Stande gekommen sind; Einer,
der sich berufen fühlt, die Gedanken und Meinungen zu beherrschen,
und uns zu dictiren, was wir bei dieser Gelegenheit zu sagen haben,
setzt sich nieder, schreibt eine Adresse an Itzstein und Hecker, legt sie
an verschiedenen Orten hin und fordert nun zur Unterzeichnung auf.
Wehe dem, der sie nicht unterzeichnet! Er ist zum mindesten ein furcht¬
samer Hase. Dieser großartige Liberale oder wohl gar Radicale be¬
denkt nicht, daß in demselben Augenblicke, wo er von den Regierun¬
gen Preßfreiheit verlangt, er selbst die Achtung vor der Freiheit, der
Meinung feiner Mitbürger aufs gröblichste verletzt, und daß Niemand,
der Gefühl für Selbstständigkeit und geistige Freiheit hat, sich dazu
hergeben wird, blindlings zu unterschreiben, was ein Einzelner ihm
mit bewundernswerther Arroganz vorschreibt. Eine solche Zumuthung
würde in jedem freiern Lande, wo nicht Jahrhunderte lange Knecht¬
schaft das Gefühl für Anstand und Würde abgestumpft hat, unerhört
sein. Will man in England z. B. eine derartige Adresse zu Stande
bringen, so erlassen Einige, die sich gewöhnlich nicht einmal nennen,
einen Aufruf zu einer Versammlung, um in dieser Versammlung
eine Adresse zu entwerfen, zu berathen und zu beschließen. Hier un¬
terwirst sich der Einzelne der Mehrheit, er schließt sich an, wenn er
auch nicht mit dem Einzelnen übereinstimmt, denn die Mehrheit hat
die Verantwortung übernommen; aber eine Adresse unterzeichnen, ohne
vorhergegangene Berathung und Beschluß einer Versammlung, heißt
blindlings seine geistige Freiheit aufgeben. Wann werden wir anfan¬
gen, Freiheit nicht blos zu verlangen, sondern auch Anderen zu ge¬
währen ? — Mit kurzen Worten: die Ausweisung Hecker's und v. Itz-
stein's scheint mir für die konstitutionelle Sache nützlich, für sie selbst
nichts weniger als eine Schmach, und für alle Uebrigen eine günstige
Veranlassung zu lehrreicher und erbaulicher Betrachtung.
Wie auf alten Thurmuhren beim zwölften Glockenschlage plötzlich
eine Reihe von Figuren und Männlein heraustritt, die gravitätisch
unter dem Zifferblatt hinwegschreitet, so kann man in Leipzig regel¬
mäßig mit dem Schlage der ersten Nachtigall eine Reihe von Frem¬
den durch diese Stadt der Mitte reisen sehen, die caravanenweise sich
ablösen von dem ersten Frühlingstage bis spat in den .herbst. Kaum
ist die Ostermesse mit ihrem langen Zuge von Handelsleuten aus allen
Enden der Welt, mit ihren Buchhändlern und Geistesmäklern ver¬
klungen, so trippeln die Badearzte aus den böhmischen und schlesischen
Brunnen- und Badeorten mit zierlichen Schritten herbei und suchen
sich an den Wirthslaseln und in den Häusern berühmter praktischer
Aerzte liebenswürdig und gelehrt zu zeigen. Die Champagner¬
und Musterreisenden sind jetzt nicht mehr die einzigen, die zum
Ruhme und Heile ihrer respect. Fabriks- und Handlungshäuser durch
die Welt ziehen, auch die Wissenschaft ist von ihrer Höhe herabgestie-
gen und sendet ihre Commisvoyageurs aus, die von einer Thüre zur
andern ziehen und sich anfragen: gibt es nichts zu schachern, nichts
zu handeln? Die Concurrenz der Badearzte ist so groß geworden, daß
die Herren nicht mehr sich begnügen können, in den Badestädten mit
geduldiger Würde abzuwarten, was der liebe Gott ihnen an Pooagra,
Keuchhusten und Leberverhärtungen in's Haus schicken werde, sondern
sich selbst auf den Weg machen, um Kunden zu sammeln und na¬
mentlich mit den gesuchtesten praktischen Aerzten in großen Städten
Vertrage abzuschließen, damit diese die Patienten, die sie nach einem
Bade- oder Brunnenort senden, mit der genauen Adresse und den
wärmsten Empfehlungen des contrahirenden Badearztes versehen. Diese
moderne Wendung der Wissenschaft soll bereits bis zu einem solchen
Raffinement ausgebildet sein, daß förmliche Procente festgesetzt sind,
die der Badearzt von jedem ihm zugewiesenen Kranken dem zuweisen¬
den Hausarzte abzuliefern hat. Vielleicht wird die Wissenschaft, um
echt gründlich zu sein, bald ein Schema entwerfen, worin genau fest¬
gesetzt wird: ein Podagra vierwöchentlicher Kur Il> Procent, Hämor-
rhoiden 8 Procent, ein Nervenleiden 12 Procent, ein russischer Fürst
is Procent, ein Engländer 18 Procent, ein deutscher Fürst 9 Pro¬
cent, ein jüdischer Banquier 10 Procent, ein Landedelmann 5 Pro¬
cent u. s. w.
Nachdem die Badearzte vorüber sind, kommt die junge österrei¬
chische Literatur über die dunklen Böhmengebirge herabgezogen, eine
rührende Familie von Auswanderern mit pochendem Herzen, schüch¬
ternen Blicken, riesengroßen Erwartungen und vor allem mit dem ob¬
ligaten, lyrischen Manuscripte im kleinen Koffer, mit dem Päckchen
poetischer Banknoten, die sie im Verborgenen dem Fiscus glücklich ent¬
zogen und für die sie sich jetzt ein ganz Stück Land von Unsterblich¬
keit ankaufen wollen im deutschen Dichterurwald. Arme Auswanderer!
Ihr habt Euch die neue Welt so idealisch gedacht und der deutsche
Vankee reißt Euch aus Euren Illusionen. Eure Havreschisse landen
bei Reclam ^min-, dem großen Kaufhaus österreichischer Jugendma-
nuscripte, und Ihr habt noch von Glück zu sagen, wenn Ihr nicht
völlig Schiffbruch leidet.
Nach den reisenden Literaten kommen die Schauspieler aus Nord
und Süd, die bei Sturm und Koppe oder in dem Theaterbüreau von
Kosska neue Engagements suchen, kommen die Hofsangerinnen und
Heldenspieler, die wahrend des Ferienmonats allergnädigst ihr Licht an
unhösischen Bühnen leuchten lassen, es kommen die reisenden Direkto¬
ren, die Menschenjagd treiben, und große Talente mit kleinen Gagen
zu schießen suchen.
Lassen wir die Fremden, die Leipzig in den letzten Wochen be¬
suchten, eine kleine Revue passiren. Als Alterspräsident möge Herr
von Hormayr voranschreiten, der bei Brockhaus eine zweite Auflage
seines „Aufstandes in Tyrol" aus der Taufe hob und uns zu¬
gleich die ersten Exemplare seiner Anemonen (Jena bei Frommann,
zwei Bande) als Angebinde mitbrachte. Er ist ein rüstiger Greis von
64 Jahren, dessen österreichischer Dialect mit seiner baierischen Minister-
residentcnwürde in Widerspruch steht. Die literarische Beweglichkeit
dieses alten Herrn geht Hand in Hand mit seiner politischen, und er
hält in seinen Stellungen eben so wenig lange bei einem Capitel aus,
wie in seinen Büchern. Die Schriften Hormayr's gemähnten mich
oft um einen vollgesogenen Schwamm; wenn man drückt, so rieselt
es aus hundert Poren zugleich. Ungeordneter schrieb nie ein deut¬
scher Historiker, als dieser Mann; ein Gedanke springt immer dem
andern in den Weg, eine Epoche rennt der andern quer über die Beine.
Aber es ist so viel Mark, so unendliches Wissen in allen diesen quer¬
einspringenden Episoden, daß sie uns unaufhaltsam in ihre Verwir¬
rung mitreißen und nicht loslassen, bis wir ihren Wirbeltanz bis zum
letzten Sprung mitgemacht haben. Herr von Hormayr ist mit der
Tochter eines Leipziger Banquiers, einer Anverwandtin der Madame
Laube, vermählt, so daß Heinrich Laube gewissermaßen der Onkel des
alten Parteigängers und Tvrolerhauptmanns ist.
Ein Gast anderer Art war Herr von Gall, der Intendant des
in letzterer Zeit so viel erwähnten Hoftheaters in Oldenburg und als
Schriftsteller durch das liebenswürdig geschriebene Buch „Paris und
seine Salons" (zwei Bände, Oldenburg 18t4), sowie durch seine
Schrift „Der Bühncnvorstand" hinlänglich bekannt. Das rüstige Hof¬
theater in Oldenburg mit Herrn von Gall als Intendanten und Julius
Mosen als Dramaturgen an der Spitze scheint ein wahres „l'ermv
nwtlvlv" eine kleine Musterwirthschaft zu sein, wo man vor keinem
Experiment zurückzuschrecken braucht, ja wo sogar das Experimentiren
im Interesse dramatischer Poesie eine Hauptausgabe zu sein scheint,
und die Resultate zweifelhafter Dinge gerade mit um so mehr Span¬
nung verfolgt werden. Ein gebildeter Hof und ein abgeschlossenes,
gewähltes Publicum unterstützt die guten Intentionen der Bühnen¬
leitung, und von der Art, wie Regie und Schauspieler dort fleißig sein
müssen, zeigt die seltene Thatsache, daß an 28 auf einander folgenden
Abenden, 28 neue Stücke aufgeführt wurden.
Die Schriftstellerversammlung hat uns auch noch zwei Gäste zu¬
rückgelassen, die einen längern Ausenthalt in Leipzig nahmen, Berthold
Auerbach und Joseph Rank. Beide vollenden hier größere Arbeiten,
die im Verlage Leipziger Buchhändler erscheinen. Berthold Auerbach
schreibt außerdem noch eine umfangreiche Novelle für das Brockhau¬
sische Taschenbuch „Urania." Von seinen Dorfgeschichten ist die vor
Kurzem erschienene zweite Auflage gleichfalls erschöpft, und der glückliche
Autor hat nun Aussicht auf eine dritte Auflage, ein wahrhaft seltener
Succes in der Belletristik. Meverbeer sagte zu einem meiner Freunde
in Berlin: „Wenn Sie von dem Leben und seinem hölzernen Getrom-
mel so recht betäubt sind und sich nach Ruhe sehnen, nach irgend ei¬
nem einsamen, frischduftenden Wald, so nehmen Sie Auerbach's Dorfge¬
schichten in die Hand; lesen Sie eine Stunde und Sie werden einen wun¬
derbaren Frieden in Ihrer Seele finden. — " Dieses Urtheil charakteri-
sirt das Buch erschöpfend. Gerade das Prickelnde, Aufreizende, das
unser jetziges Leben überall bietet, erklärt die Vorliebe für Stillleben
in Büchern und Gemälden. Unsere Gesellschaft trägt jetzt im Ganzen
den Charakter Mcyerbeerischer Hugenottentöne; Bertram und Robert
singen aus allen Ecken: überall strebt die lebenskräftige Gegenwart, von
den dämonischen Vaterrechten der finstern mittelalterlichen Vergangen¬
heit sich loszulösen und ist sie kampfes- und dissonanzenmüde, so rettet
sich die Phantasie gern in die stille Dorfwelt, wo das Leben noch
mit gleichmäßigen Ruderschlägen über den ruhigen Landsee hinzieht.
Auch Theatergaste sahen wir in den letzten Wochen mancherlei.
An ihrer Spitze Madame Birch-Pfeiffer, die sich uns in ihrem Doppel¬
leben als Schauspielerin und Theaterdichterin zeigte. Sie trat in ihren
dramatisirten Bremer- und Paalzow-Romanen aus: „Thomas Tyrnau"
und „Mutter und Sohn." Das Publicum zeigte sich artig und theil¬
nehmend für das »irvmr siürv einer Dame, die aus dem Kürbiß dick-
bändiger Geschichten die Essektstücke herausschält und die einzelnen
Schnitte auf dem Präsentirteller zu einem Ganzen zu ordnen versteht,
mit echt weiblicher Geschicklichkeit. Die Kritik ließ jedoch ihren ganzen
Zorn los und donnerte gegen die arme Frau mit nichts weniger, als
artigen Ausdrücken. Die Kritik soll auch kein artiges Schooßhündchen
sein, sondern eine tüchtige Dogge, die jedem Unberufenen den Eintritt
wehrt. Nur darf sie sich nicht ohne Noth in Athem setzen. Den
Autor, der mit literarischen Pratenstonen auftritt und mit falschen
Schlüsseln das Pantheon öffnet, den zerfleische sie und saubere den
Platz von seiner gefährlichen und unlegitimen Gegenwart. Allein Ma¬
dame Birch-Pfeiffer wird dem Gebiete der Literatur nicht gefährlich wer-
den; es ist nicht zu fürchten, daß sie wie z. B. die Müllner-Houwald-
Grillparzerischc Schicksalstragödien ein falsches Princip in die Poesie ein¬
führen wird. Auf ihrem Gebiete hingegen verdient das Talent dieser
Frau gewiß Anerkennung. Ihr Gebiet ist, was man in Paris das
Boulevard-, in Wien das Vorstadttheater nennt. Einen Pariser Kriti¬
ker, der für die Autoren des Gymnase, der Varietes oder des Theaters
«je I-r porte Kt. Ritt'den, dieselben Maßstabe anlegen wollte, wie für
das Theater er-in^is und das Odeon, den würde alle Welt auslachen.
Die Masse verlangt andere Dramen, als die Aesthetik. Jener gegenüber
handelt es sich nicht darum, höhere Kunstprincipien zu verfolgen, sondern
die Aufgabe ihrer Theater besteht darin, eine sittliche Unterhaltung jenem
Theil der Bevölkerung zu bereiten, der sie sonst — wie man nament¬
lich in Berlin zur Genüge sieht — in Kneipen, Spielhäusern u. s.
w. suchen würde. Diese Theater sind vom politischen, vom socialen,
vom humanen und zu allerletzt erst vom ästhetischen Gesichtspunkt aufzu¬
fassen. Die deutschen Städte haben mit Ausnahme Wiens, Hamburgs und
Münchens keine solche Institute. Das eine Haus muß für alle Fraktio¬
nen der Bevölkerung dienen, und es entsteht daher der Widerspruch, daß
über literarisch werthvolle Stücke und überMassenstücke ein und derselbe
Richterspruch gefällt wird. Auf diese Weise ist Madame Virch-Pfeiffer ge¬
wissermaßen verfehmt worden, und es gibt keinen harten, rohen Aus¬
druck, den man ihr erspart. Und doch besitzt diese Frau ein unbezahl¬
bares Talent für das Volksstück, und vergleicht man ihre Erzeugnisse
mit den französischen ähnlicher Gattung, in welchen zu allen blutschän¬
derischen Unthaten Zuflucht genommen wird, um die Theilnahme der
Massen zu stacheln (und die Uebersetzungstaglöhner sorgen dafür, daß
auch das deutsche Volk seinen Antheil daran erhalt), so muß man der
Birch-Pfeiffer wenigstens dafür Achtung zollen, daß sie das deutsche
Sittlichkeitsgefühl überall vorherrschen laßt und geschickter sogar als
die Franzosen es versteht, die Phantasie des Philisters zu fesseln, ohne
sie zu verderben. Ihre „Marquise von Vilette" ist hier noch unbe¬
kannt; doch nach Heinrich Laubes Urtheile in diesen Blattern soll die
Verfasserin mit diesem Lustspiele ihr bisheriges Gebiet verlassen und dem
höhern Genre sich zugewendet haben.
Die Leipziger Bühne glich in den letzten Wochen einem Tauben-
schlag; die fremden Sängerinnen und Schauspielerinnen flogen aus und
ein, daß einem die Ohren schwirrten. Die Sparsamkeitsgclüstc, die
den sonst so wackern Director Herrn Dr. Schmidt beschlichen, sind
ihm theuer zu stehen gekommen. Unsere beliebte, graziöse Liebhaberin,
Fräul. Baumeister, erhielt einen Ruf nach Hannover; erbot sich aber,
in dem ihr werth gewordenen Leipzig zu bleiben, wenn man ihren bis
jetzt so geringen Gehalt nur einigermaßen in's Niveau der ihr von
Hannover gebotenen Gage brächte. Die Direction weigerte sich und
nun kostet das ganze Herr von Liebhaberinnen, die aus Engagement
und Gastspiel verschrieben wurden, drei Mal so viel als die geforderte
Summe — und noch hat sich die Ersatzmännin nicht gefunden! —
Unter den singenden Gästen verdienen drei Damen Erwähnung: Fräul.
Tuczek, vom Berliner Hoftheater, Fräul. Ender, vom Pesther, und
Fräul. Limbach, vom Cölner Theater. Die Tuczek, die in einigen ihrer
Glanzpartien auftrat, erregte außerordentliche Theilnahme. Zwar ist
sie keine Sängerin tu mine» eine^ein und kann mit einer Sonntag,
Lutzer und Schröder-Devrient von ehedem nicht verglichen werden,
aber eine angenehme, glockenhelle Stimme, ein leichter, vogelreiner An¬
schlag, die elegante, halbitalienische Bildung der Wiener Gesangsschule,
graziöse Bewegungen, dies Alles zusammen machen sie zu einer liebens¬
würdigen, bisweilen sogar hinreißenden Erscheinung. Am interessan¬
testen erschien ihre Persönlichkeit in der Nachtwandlerin. Die krank¬
hafte, mondbleiche Anima wurde doppelt rührend durch das Durchschim¬
mern der eigenen krankhaften Individualität der Darstellerin. Die
Sängerinn sang sich selbst. Bekanntlich leidet die jugendliche Künst-
lerin an einem nervösen Zucken, das sie wie eine Mimose jeden Augen¬
blick erschüttert, und über ihr sanftes Gesicht wie das Wetterleuchten
einer unsichtbaren Gewalt hinwegfliegt. Es ist, als hätte eine fremde,
unheimliche Macht dieses zarte Leben in ihren Banden und gemahnte
jeden Augenblick, daß es ihr verfallen. Psychologisch merkwürdig ist
es, daß während die junge Sängerin auf der Bühne sich befindet, sie
Meisterin dieser unheimlichen Zuckungen wird, es ist als eilte der helle
Genius der Töne ihrer ringenden Seele zu Hilfe und kämpfe die dä¬
monische Gewalt nieder. Aber wie die Arme von der Bühne tritt,
rächt sich diese doppelt an ihr und es ist herzzerreißend, wie es mit den
heftigsten UeberfäUen den zarten Körper durchschüttelt. — Fräulein Ender
ist aus derselben Wiener Schule, wie die Tuczek, und gehörte in Pesth
und an der Josephstadt zu den Lieblingen des an gute Methode gewöhnten
Publicums. Hier in Leipzig trat sie jedoch unter erschwerenden Verhält¬
nissen auf. Die Stimme war von der Reise angegriffen und die Di-
rection beging die Ungeschicklichkeit, sie in Partien auftreten zu lassen,
die zwar der Augenblick gebot, die aber nicht geeignet sind, eine Sän¬
gerin von ihren besten Seiten kennen zu lernen. So konnte sich Fraulein
Ender, welche wir in Pesth einem viel anspruchsvollern Publicum ge¬
nügen sahen, hier nur einen Succes d'Estime erwerben. In einer ähn¬
lichen Lage befand sich Fräulein Limbach, die im Spiel ihre Nebenbuh¬
lerinnen alle überragte, eine der wenigen Sängerrinnen, die einen Cha¬
rakter zu schaffen wissen, deren Stimmmittel aber nicht ausreichen,
um den gespielten Charakter in einen gesungenen umzugießen. Durch
die Anwesenheit der Limbach wurde uns auch eine neue Oper von einem
deutschen Componisten: „Sarah oder die Weise von Lincoln" compo-
nirt von Telle vorgeführt. Der Erbfluch deutscher Tondichter: ein
schlechtes Libretto hat auch Herrn Telle verfolgt. Doch fand die
Oper eine freundliche, wenn auch nicht glänzende Aufnahme. — Viel¬
leicht kommen wir in einem nächsten Briefe auf das Leipziger Theater,
seine Kräfte und seine Leistungen in einer vollständigen Uebersicht
zurück. Es wird im nächsten Monate ein Zahr, daß Herr v,-.
in«<I. Schmidt die Direction dieser Bühne unter sehr günstigen Um¬
standen angetreten hat, und es hat in diesem Jahre manche Erschei¬
nung sich herausgestellt, die für die Erfahrungen moderner Bühnen
von Wichtigkeit und Interesse ist und eine nähere Beleuchtung ver¬
Der Fortschritt in Oesterreich gleicht jenen alten Bußpilgern, die
zu dem Gnadenorte zwei Schritte vor und einen Schritt zurück wall¬
fahren. Ist diese Buße für alte Sünden? Wer will leugnen, daß
Oesterreich vorwärts schreitet? Wer aber muß nicht eingestehen, daß
bei allen diesen Borwärtsversuchen der alte Zügel die Pferde, statt sie
im gesunden Trabe zu lassen, immer wieder zögernd zurückzieht. Was
wir in den letzten Wochen hier Politisches erlebten, kann dies näher
motiviren. Zuerst vom Vorwärts. Unsere niederösterreichischen Land¬
stände haben dieses Mal ihren Landtag auf eine Weise abgehalten,
die eine nähere und glänzendere Beleuchtung verdiente. Schon das;
der Landtag dies Mal volle acht Tage dauerte, während er bisher in
der Regel in einem Tage abgethan ward, verrieth das lebendigere po¬
litische Leben, das in demselben herrschte. Details über die Verhand¬
lungen sind bei der Heimlichkeit unsers ganzen Staatslebens und den
Sclavenfesseln unserer Presse nicht zu verlangen. Vielleicht würde
mancher unserer jüngern Landstände sich gern dazu verstehen, der
Presse, sogar der ausländischen, Mittheilungen zu machen, wenn er
die Gelegenheit bei der Hand hätte. Bei der Schwierigkeit jedoch,
mit fremden, unbekannten Journalen zu communiciren und sich einer
Redaction heimzugehen, deren Persönlichkeiten man nicht kennt, fallen
alle solche Verossenttichungswünschc in den Brunnen. Man hat zwar
den Antrag gestellt, die Verhandlungen zu lithographiren, aber erstens
wird bezweifelt, ob die Erlaubniß dazu herablangt, zweitens würde
diese Erlaubniß von vorn herein nur unter der Verklauselirung des
Privatgebrauchs nachgesucht. So viel man mit Gewißheit erfährt,
war der Hauptantrag der Stände dahin gerichtet, daß dieselben, i»
Kraft ihrer Rechte und Privilegien, als ein berathender Körper hin¬
sichtlich allgemeiner Angelegenheiten der Provinz angesehen werden
möchten. Dieses Recht ist in den letzten vierzig Jahren außer Brauch
gekommen und der Adel büßt nun jetzt seinen alten Leichtsinn und
frevelhafte Gleichgiltigkeit für die öffentliche Sache. Specielle Vor¬
schläge sind gemacht worden hinsichtlich eines landschaftlichen Credit-
und Hypothekensystems, hinsichtlich der noch obschwebenden Regulirung
der sogenannten Domesticalschuldcn, hinsichtlich einer mit der Nusti-
calsteuer verbundenen Brandassecuranz (wodurch die endlosen Auffor¬
derungen zu milden Beiträgen bei stets sich erneuernden Brandunglück
einmal ein Ende nahmen) u. s. w. Der beste Geist herrschte bei
allen diesen Verhandlungen und es haben namentlich einige Herren
aus dem Ritterstande tüchtige Kenntnisse an den Tag gelegt.^) Die
Regierung soll sich den meisten Anträgen willfährig zei¬
gen! Alle unsere Fortschritte bewegen sich fast jedoch ausschließlich auf
materiellem Gebiete; das geistige Leben bleibt in die alten Grenzen
gebannt. Ein anderer Eorrespondent hat Ihnen bereits gemeldet, auf
welche Weise die mit so vielem Eclat unternommene Censurpetitivn
gescheitert ist. Von allen den schönen Hoffnungen, von allen den
Gerüchten einer freisinnigern Gedankenäußerung ist auch nicht ein
Wort in Erfüllung gegangen. Beschleunigung der Manuscriptpetition,
das ist das einzige, was verbessert wurde. Die Manusccipte aber, die
wir in gegenwärtigen Verhältnissen aus der Censur bekommen, haben
am allerwenigsten Eile, sie stehen ohnehin nicht in der Zeit.
Höchst merkwürdig ist eine Aeußerung des Fürsten Metternich, die
in allen literarischen Kreisen hier besprochen wird. Der Hurst sagte näm¬
lich zum Professor Endlicher, der eine Audienz bei ihm hatte- „Seit
28 .Jahren beschäftige ich mich mit dem Fortschritte
Oesterreichs, und sehen Sie, hier liegen die Carlsbader
Beschlüsse, zu einer Revision vorbereitet. Da kommen
Sie mit Ihrer unglücklichen Petition dazwischen und
verderben mir Alles; — abzwingen läßt sich die -Negie¬
rung nichts."
Wer jetzt nicht über das heiße Kalkpflaster unserer Straßen ge¬
hen muß, der ist gewiß in die Bäder oder in die grüne Umgegend
geflohen. Die Theater haben Ferien und ihre Mitglieder erwerben
sich im Schweiße ihres und des Publicums Angesicht Einnahmen an
den Provinzialbühnen. Das Fichtnersche Ehepaar gastirt in Prag,
Löwe in Lemberg, La Roche in Hamburg. Die Hasselt-Barth und
Staudigl sind in London. Die Hasselt, eine große Freundin von
Ducatengruppen, hatte in London das Mißvergnügen, drei Wochen
unwohl zu sein, sie hatte schon für die ersten 8 Tage in den Privat-
cirkeln der Aristokratie Engagements für 140 Pfund (!4<w Gulden)
und mußte die goldenen Vögel davon fliegen lassen; das schmerzt ein
gefühlvolles Herz. — Das vielbesprochene Theater an der Wien soll
am I. September unter dem neuen Director eröffnet werden. Herr
Pvkorny reist im Gefolge eines hiesigen Beamten, Herrn Reichardt,
in Deutschland und soll sehr glückliche Engagements gemacht haben.
Namentlich hört man von einer jungen Sängerin Mad. Feringer
aus Hamburg und der Justizräthin (!) Burkhard aus Berlin. Letz¬
tere soll eine gute Schule haben, bisher aber blos als Dilettantin
aufgetreten sein, da ihr Gatte sich nicht entschließen konnte, sie in
Berlin die Bühne betreten zu lassen, was ihm, dem Beamten, auch
übel vermerkt worden wäre. So werden wir denn die Ehre haben,
die preußische Justiz, und zwar öffentlich und mündlich, auf der
Bühne repräsentirt zu sehen. Unsere Kritiker mögen sich jetzt hüten,
denn die preußische Justiz ist mit einer Anklage auf Majestätsbelei-
digung gleich bei der Hand. — Sie haben in einer frühern Corre-
spondenz die Meldung gehabt, daß die Lutzer wieder die Bühne betre¬
ten wird; dies ist ein Irrthum. Es wird wahrscheinlich ein Proceß
darüber entstehen^ aber Dingelstedt will weder seiner amtlichen noch
seiner literarischen Stellung so viel vergeben, daß er seine Gattin noch
einmal die Bühne betreten ließe. — Von fremden Gästen haben
wir in diesem Augenblicke Spindler hier; ein schlichter, einfacher Mann,
der in vieler Beziehung gegen Gutzkoro einen Contrast bildet, wie
Süddeutschland zu Norddeutschland. Spindler ist gleichfalls ein ge¬
borener Preuße (aus Breslau), hat aber seine Erziehung in Stra߬
burg erhalten. Er ist jetzt ungefähr ein Mann von fünfzig Jahren;
seine Tochter ist mit ihm hier, er halt sie jedoch etwas geheimnißvoll
von dem Eintritt in die große Gesellschaft zurück. Von Leipzig be¬
findet sich in diesem Augenblicke der Buchhändler Georg Wigand hier;
es ist jedoch Niemandem in den Sinn gekommen, ihn auf der Grenze
zurückzuweisen (siehe Fröbel), obgleich er offenbar in Verlagsgeschäften
sich hier befindet. — In ähnlichen Geschäften befindet sich der Redac¬
teur der Jllustrirten Zeitung, Herr 0i. Schelwitz, hier. Er brachte
Empfehlungsschreiben von dem sächsischen Minister, Herrn von Fal¬
kenstein, an den hiesigen sächsischen Gesandten, Herrn von Könneritz,
mit, und dieser, ein sehr liebenswürdiger Herr, führte ihn überall ein,
wo es ihm von Nutzen sein könnte. Die Verleger der Jllustrirten
Zeitung haben nämlich dem I>r. Schellwitz das Mandat gegeben, den
Stcmpelaufschlag, dem man die Jllustrirte unterworfen und der am
1. Juli — wenn ich nicht irre — in Wirksamkeit hatte treten sollen,
abzuwenden, da sie glaubten, es sei dies in Folge eines mißliebigen
Artikels decretirt worden. Es wurde jedoch dem »r. Schelwitz der
Aufschluß gegeben, daß der politische Wochenbericht, den die Jllustrirte
bringe, dieselbe in den Rang politischer Zeitungen stelle, und man doch
unmöglich einer fremden Zeitung mehr Vergünstigung als einer ein¬
heimischen schenken könnte. Wenn die Verleger sich verstehen würden,
diesen politischen Wochenbericht wegzulassen, so würden auch die Stcm-
pelgebühren nicht verlangt werden. Einmal aber mit Stempel bela¬
stet, stünde andererseits der Redaction frei, so viel Politik wie die
Augsburger zu bringen. Letzteres soll daher die Verleger auch veranlaßt
haben, lieber den Stempel (der übrigens blos I Fi. 44 Kr. per Jahr
betragt) zu bezahlen und ein weiteres Gebiet für die Tagesneuigkeiten
sich zu sichern. — Uebrigens steht die sächsische Presse bei der Staats¬
kanzlei sehr schlecht angeschrieben und mit Ausnahme der Leipziger
Zeitung, der Jllustrirten und der Dresdner Abendzeitung sind alle in
Sachsen erscheinenden Blatter streng verboten. In letzterer Zeit hat
namentlich die religiöse Polemik hier sehr böses Blut gemacht, und es
ist wohl möglich, daß an die sächsische Regierung Reklamationen gegen
die Leipziger Presse im Allgemeinen erlassen worden sind, die um so
gewichtiger in die Wagschaale fallen würden, als man sich in der
Staatskanzlei nicht so schnell zu Reclamationen entschließt. Denn diese
Anerkennung muß man unserer Regierung schenken — sie ist nicht
Wo nichts ist, hat der Kaiser sein Recht verloren. — Soll ich
Ihnen von Politik erzählen? — Wenn nicht die Stände beisammen
sind, haben wir keine, ja selbst dann erfahren wir nichts, denn die
Verhandlungen unserer Kammern gehen bei geschlossenen Thüren vor...
Man macht den Witz: der Großherzog Carl August, der den Weima-
ranern die Constitution schenkte, wollte auch Oeffentlichkeit der Ver¬
handlungen, aber die Abgeordneten sollen sich geschämt haben vor
aller Welt zu sprechen und baten um verschlossene Thüren. —
Doch erfährt man dann und wann Manches und man findet diese
Scham vorzüglich in der Pairskammer vollkommen gerechtfertigt. —
Carl August war der Kaiser Joseph Weimars. — Er wollte seinem
Lande auch öffentliches Gerichtsverfahren geben, aber da bedankte sich
das Land schönstens. Jetzt hatten's die Weimaraner gerne, aber —
prost die Mahlzeit. Carl August wollte sich auch eine Civilliste aus-
setzen lassen, da waren die Weimaraner gerührt und eine gemüthliche,
aber unpolitische Scham überkam sie; ihrem guten August wollten sie
nicht das Brod zuschneiden. „Aber" gibts noch eine ganze Menge,
fast eben so viele, als Weimar Minister und Geheime Rache und hohe
Schwager und Schwägerinnen hat. — Diesem „Aber" wird noch lange
nicht abgeholfen werden, denn der nächste Landtag wird wieder meist
nur Beamte im Ständehaus versammelt sehen, und die tanzen wie
ihnen vorgepfiffen wird. — Darüber und über die Einsichtslosigkeit
der Wähler ärgert sich der gute Meister Adam Henß, der doch gezeigt
haben sollte, wie viel besser es dem Volke ist, einen Mann aus seiner
Mitte, der feine Leiden und Uebel kennt, zu wählen, als abhängige
Besoldete. Wissrn Ihre Leser denn auch, wer Adam Henß ist? —
ist der Buchbindermeister, Landtagsabgeordnete und Verfasser „der
Wanderungen und L ebensa n sich ten eines Buchbinders,"
eines Buches, das mehr Erlebnisse schildert als hundert Touristen, das
mehr gesunde Moral enthält als ein dickes Predigtenbuch und mehr
gesunde Politik als zehn Jahrgänge der königlich preußischen Staats¬
zeitung. — Wenn Sie einmal nach Weimar kommen, gehen Sie nur
Mittags zwischen Zwölf und Eins in den Rathskeller, und dem alten,
greisen Manne, mit gebeugtem Nacken und faltenreichen Gesichte, der
oben sitzt am obersten Ende des Tisches und sich es wohl sein läßt
bei einem Töpfchen Bier, dem drücken sie die Hand, es ist die Hand
eines trefflichen deutschen Mannes aus dem Volke, es ist die Hand
des Buchbindermeisters Adam Henß. Er wird Ihnen über die Zu¬
stände seines kleinen Vaterlandes bessere Aufschlüsse geben, als mancher
Geheime Rath es könnte, und Sie werden ihn mit der freudigen Er¬
fahrung verlassen, daß nicht nur in Frankreich der pein bon-nLuis ein
vernünftiges Wort über Staatssachen zu sprechen weiß. — Wenn Sie
sich dann in der Stadt nach Adam Henß erkundigen, werden Sie
sehen, wie jeder Bürger Ihnen mit Stolz und bedeutender Miene von
seinem Mitbürger sprechen wird, und werden erfahren, daß wenn ir¬
gendwo ein Vater unmündiger Kinder auf dem Todtenbette liegt, sich
seine sorgenvolle Stirn entfaltet, so Henß die Vormundschaft seiner
Kinder annimmt. — A. Henß ist nun wirklich der sogenannte Vater'
einer ganzen Schaar unmündiger Waisenkinder und wahrhaftig er ist
kein Lustspielvormund. — Selbst in aristokratischen Kreisen werden
sie nur mit großem Respekt von dem Buchbindermeister sprechen hören.
Ein Schriftchen, welches er, ein geborener Katholik, schon vor meh¬
reren Jahren veröffentlichte, foll schon alle die Bedenken enthalten und
alle die Uebel klar aufdecken, die heut zu Tage die neuen Dissenters zur
Losreißung von der alten Mutterkirche bewegen. Die Bekanntschaft
mit Henß hat mich mit großer Schnelligkeit über eine Uebergangspe-
riode fortgebracht und mich in das dritte Stadium gebracht, auf das
jeder Deutsche, der sein Volk nur recht kennen lernt, kommen muß,
— Im ersten Stadium, in den politischen Jllussionsjahren schwärmt
man für Alles, was deutsch ist, man ist entzückt von der Rohheit des
Mittelalters, man versenkt sich in die deutschen Sagen, man träumt
von den Hohenstaufen, man liest die Romantiker und bedauert im
Jah« 1813 nicht schon zwanzig Jahre alt gewesen zu sein, hierauf
folgt die Zeit des Grübelns und der Skepsis, man sieht, es ist nicht
Alles so, wie es sein sollte in deutschen Landen, ja, daß nur traurig
wenig so ist, wie es ein ehrliches Herz haben möchte, man wird un¬
geduldig und endlich ein Sanscülotte cuan« it k-me, man schüttet das
Kind mit dem Bade aus und verachtet Regierungen und Völker. In
dem dritten erwähnten Stadium aber kommt man in die Welt, man
sieht sich im Volke um, man lernt den Bürger kennen, den Bürger¬
adel, wie Heinrich König sagt, und man glaubt an einen echten Kern
des deutschen Volkes, aus dem sich vielleicht einmal ein großer schat¬
tiger Baum, vielleicht ein Freiheitsbaum entwickeln wird.
Von Henß wäre es sehr leicht für den Correspondenten auf die
Weimarsche Literatur überzugehen, wenn es nur eine gäbe. — Kin-
derfchriftcn werden nur in pädagogischen Zeitungen besprochen, so kann
ich ihnen nicht einmal über Amalia Winter Vieles sagen, da diese
Dichterin sich jetzt fast ausschließlich dem jungen dankbaren Geschlechte
gewidmet hat und fast nur Kinderbücher schreibt. -— Adele Schopen¬
hauer ist nach Italien gereist, um, nach Erscheinung ihrer Anna, auf
Lorbeeren ruhen zu können. Außer den beiden Frauen hat Weimar
fast gar keine neuere Literatur mehr. Ueberhaupt scheint sich hier das
Talent unter die Frauen zu flüchten, wir haben Bildhauerinnen und
Malerinnen, z. B. die beiden Fraulein Focia und Seidl. — Von
letzterer kann man in dem neuen Göthezimmer im Schlosse ein hüb¬
sches Basrelief sehen.''
„I^a (^uur tlo Weimar. I^rnAMkiit lZum ouvrnAk imo>1it rin
I« (^vente tlo 8»?or" — so heißt eine 46 Seiten lange Schmeichelei,
die ihres Gleichen sucht in allen Literaturen der jetzigen Aelt; sie ist
geistlos, aber gigantisch, was das Ausammentragen jeder Art der nied¬
rigsten Kriecherei betrifft. Herr Graf Suzor, der übrigens nichts
weniger ist, als ein Graf, findet Alles, was zum Hofe von Weimar
gehört, geistreich, liebenswürdig, tugendhaft, entzückend, schön, rührend,
mit einem Worte, göttlich; aber nicht zufrieden damit, breitet sich
seine Alles umfassende Begeisterung auf Alles aus, was mit dem Hofe
von W. nur in einer Verbindung oder Verwandtschaft steht: aus
Rußland, Oldenburg, die kleinen sächsischen Höfe, die Prinzessin von
Orleans, die Prinzessin von Preußen et. Die beste Kritik sprechen die
Weimaraner Hofdamen über die grandiose Schmeichelei aus, indem
sie sie verlachen. Eine Schmeichelei, welche Hofdamen lächerlch sin-
den, die muß groß sein! Armer Graf von Suzor, all' die Mühe
um ein Nichts, denn du wirst doch nicht Prinzcncrzieher. Die 46
Seiten schließen mit folgenden Worten: fliehet London, fürchtet Ma¬
drid, reitet als Sybarite nach Wien, als Künstler nach München, als
Gelehrter nach Berlin, berühret Constantinopel, besuchet aus Neu¬
gierde Warschau und Se. Petersburg, haltet euch lange in Dresden
auf, und wenn ihr durch Zufall oder Unglück nicht in Paris leben
könnt, gehet nach Weimar, — dort findet ihr die Ruhe — und viel¬
leicht das Glück. Was hatte man zu Göthe's, Schiller's, Herder's,
Wieland's und Carl August's Zeiten sagen können?
Die Berliner Vossische Zeitung vom 24. Juni theilt aus Varnha-
gen's preußischem Charakterbild „Hans von Held" eine Stelle mit,
welche dort lautet: „Wer von unsern Zeitgenossen wachen Auges und
fühlenden Herzens an den Tagesereignissen Antheil nimmt, dem brauchen
wir nicht zu sagen, welch ein trauriges Geschick in den meisten Fallen
das eines staatsgefangenen ist. Dank der Menschlichkeit und Auf¬
klärung, welche das achtzehnte Jahrhundert in Deutschland hervorge¬
arbeitet und hauptsachlich in Preußen dem Staat einverleibt hat, fin¬
det diese Schilderung auf unsern Freund (Held in der Hausvoigtei
I8UI) nur geringe Anwendung." Diese Schilderung? Ist die
voranstehende Bemerkung von vier Zeilen eine Schilderung? Nein!
Aber im Buche fehlt sie nicht, nur hat die Vossische Zeitung sie aus¬
fallen lassen, und das nachfolgende „Dank der Menschlichkeit in."
unmittelbar an die ersten Zeilen hcrangcschobm, ohne die Lücke nur
ahnden zu lassen. Die ganze Anführung ist aber dadurch zwecklos,
und zu Ehren der Wahrheit und des Autors tragen wir hier das dort
Ausgefallene getreulich nach. Im Buche heißt es nämlich unmittelbar
nach den Worten „eines staatsgefangenen ist", wie folgt: „Die
schreienden Beispiele in Deutschland, des Professors Jordan, des Rec-
tors Weidig, die bitteren Klagen, die unaufhörlich aus Frankreich
herüberschallen, sind aller Welt bekannt; einzig England macht in die¬
sem Bezug eine nie genug zu preisende Ausnahme. Wir sehen, wie
für den Unglücklichen, der unter jene Benennung fallt, mehr noch
als die Strenge des Gesetzes, die Leidenschaften der Macht zu fürch¬
ten sind, wie Unparteilichkeit und Milde dem unterthänigen Eifer, der
fühllosen Härte weichen, wie die Untersuchung fast immer in Haß
und Feindschaft, in schadenfrohen Hohn ausartet. Wir wissen, durch
welche unnöthige Versagungen, peinliche Förmlichkeiten und endlose
Hinzögerungen die Kerkerhaft zur verzweiflungsvollen Marter wird,
wie jede Kleinigkeit zur Erleichterung des Lebens, zur Erquickung des
Geistes, oder gar zum Bedarf der Vertheidigung, meist demüthig er¬
bettelt, langwierig erwartet, und allenfalls mit Gold aufgewogen wer¬
den muß; nicht zu gedenken der tausendfachen Quälereien, welche bald
durch Einsamkeit und Stille, bald durch unwürdige Genossenschaft,
durch Unbill und Tücke der Unterbeamten, durch verrätherische Aus¬
Horcher, durch alle die schnöden Hilfsmittel, die man zu dem soge¬
nannten Mürbemachen gebraucht, auf den politischen Gefangenen sich
häufen, der vielleicht das reinste Bewußtsein tragt, noch nicht verur¬
theilt ist, vielleicht am Ende wirklich freigesprochen wird, einstweilen
aber schlimmer als der gemeinste Verbrecher gehalten wird, ausgegeben
von den erschreckten Freunden, abgeschnitten von der öffentlichen Stimme,
deren scheues Anfragen in dunkler Urkunde auch bald verhallt." —
Erst nach dieser Schilderung fahrt darauf der Verfasser, und
zwar in neuem Absätze, fort: „Dank der Menschlichkeit und Aufklä¬
rung, welche das achtzehnte Jahrhundert in Deutschland hervorgear¬
beitet und hauptsachlich in Preußen dem Staat einverleibt hat, findet
diese Schilderung auf unsern Freund in der Hausvogtei (Held ,1801)
nur geringe Anwendung; aber theilweise leider doch." — Wir sehen,
daß hier ein ganz anderer Sinn zum Vorschein kommt, als der in
jener Verstümmelung und Ausammenziehung noch übrig gelassene, und
daß man dem Autor das größte Unrecht zufügt, wenn man ihm an¬
statt feines wirklichen Textes jenen unterschiebt. —
Im Norden schreiben die Frauen Romane, im Süden Verse,
im Norden wollen sie geistreich sein, im Süden gefühlvoll; es ist das
alles nach den alten Gesetzen, die Nord- und Süddeutschland von ein¬
ander scheiden. Gräfin Hahn versuchte sich auch einmal in Versen,
aber man sah bald, daß sie leichter einen Cavalier auf der Parade,
als eine einfache Empfindung zu schildern im Stande war. Fraulein
von Thüringsfcld, von wärmeren schlesischen Geblüte, zwischen Nor¬
den und Süden schwankend, liebt es, bald in Bequemlichkeit sich in
ungebundener Prosa zu ergehen, bald sich im Haman einer poe¬
tischen Empfindung zu wiegen, und ihre Bücher werden ein schönes
Gemisch von Poesie und Prosa. Sie scheint mir gewissermaßen der
Uebergang von der kalten Zone der Gräfin zum heißen Süden, den
Vetty Paoli repasentirt. Das ist zwar sehr bombastisch gesagt, ist
aber aus purer Höflichkeit für die Damen so stylisirt. Die Kritiker
halten im Ganzen eben nicht viel von unserer Frauenliteratur und
geben sich daher Mühe, das Unbedeutende, das sie darüber zu sagen
haben, in bedeutende Worte zu fassen; indessen ist es bei Einzelnen
doch aufrichtig gemeint, und das Lob, das wir Betty Paoli zu spen¬
den im Begriffe sind, ist keine bloße Höflichkeit.
Das wilde Feuer, das sich in ihren ersten Gedichten etwas zu
amazoncnhaft äußerte, sich aber schon in den darauf folgenden, „nach
dem Gewitter" zu einer sanften, zugleich aber innerlich stark bewegten
Weiblichkeit milderte, hat sich im Romancero schon hie und da zur
epischen Ruhe niedergeschlagen. Zwar ist Betty Paoli noch immer
nicht stark genug, ihre Gestalten zu beherrschen, zwar läßt sie sich selbst
noch zu oft von den Leiden ihrer Geschöpfe hinreißen, ja schmückt sie
noch zu reichlich aus mit dem großen Schatze ihrer eignen Empfin¬
dungen, aber sie hat es doch schon über sich gewonnen, ihre Schöpfun¬
gen oder die Gestalten ihrer dichtenden Seele neben sich mit schwe¬
sterlichen Auge wandeln zu sehen, ohne sich jeden Augenblick ihnen
weinend in die Arme zu werfen — mit einem Worte, sie ist objec¬
tiver geworden. Nur in dem Gedichte „Maria Pelileo" tritt die Betty
Paoli, die wir schon von früher kennen, etwas zu oft vor. Die in¬
nigen, liebevollen Leiocn einer Mädchensekle waren auch zu verlockend
für die Verfasserin der „Briefe an einen Verstorbenen," als daß sie
sich nicht mit ihnen hatte schmücken sollen. Trotz dem, oder vielleicht
eben darum ist dieses Gedicht vielleicht das schönste von den fünfen,
die der Romancero bringt. Diesem schließt sich das „8t»hi>t mutter"
an, ein Gedicht voll Glut der Farben, wie alte Glasmalerei.
'
In den Legenden Betty Paolis hat Referent weniger Zutrauen,
sie ist viel zu wenig harmlos und ruhig, um Legenden schreiben
zu können, welche die höchste epische Ruhe bedürfen. Auch passen
für diese Art der Poesie die abstracten Ausdrücke nicht, die Betty
Paoli so oft gebraucht. Die Beichte des Mönches ist zu kraß, zu
wild, zu berauscht und zu materiell, als daß sie überhaupt gefallen
könnte, und sie thut es um so weniger, wenn man bedenkt, daß sie
aus einer weiblichen Feder geflossen.
Die Ausstattung von Seiten des Verlegers ist wahrhaft pracht¬
— Man schreibt uns aus Prag: Wie groß das Publicum für die
czechische Literatur bereits geworden ist, können Sie daraus ersehen, daß
von dem Roman von Tyl (in böhmischer Sprache): „Der letzte Czeche"
eine Auflage von 3l)W Exemplaren in wenigen Tagen vergriffen ward.
Es hieß, das Buch werde nach der Hand confiscire werden und man
beeilte sich daher mit dem Ankauf. Die Untersuchungen in Warns-
dorf, woselbst sich eine Dissentergemeinde gebildet hat, sind niederge¬
schlagen worden; man sagt auf Anrathen des Erzbischofs. In Trau-
tenau, wo gleichfalls eine schismatische Bewegung Statt gefunden,
über die wir jedoch keine nähern Aufschlüsse haben, soll gleichfalls der
Weg eingeschlagen worden sein, der Sache ohne offenen Widerstand
ihren Laus zu lassen.
— Man schreibt uns aus Berlin: Am 18. Juni wurde das Quod¬
libet: „Versuche, musikalische Proberollen" um sechs Uhr in Berlin,
um acht in Charlottenburg von denselben königlichen Schauspielern
gegeben, die in vollem Costüme eine Fahrt von einer Meile Weges
machen mußten. Die Jungen auf der Straße und der Chaussee
hatten ihren Jux an der herumziehenden Schauspielergesellschaft, Be¬
darf es eines schlagenderen Beweises für die Armseligkeit des hiesigen
Repertoirs, für den niederen Gesichtspunkt, von dem aus das Insti¬
tut geleitet wird ?
— Seit Kotzebue der Große seine erhabene Dichtung „die Negerscla¬
ven" geschrieben, ist in ganz Deutschland für diese unglückliche Men-
schenclasse, die in unserer Mitte zu einem so traurigen Loos verurtheilt
ist, eine allgemeine Theilnahme rege geworden. Mit welchem Ab¬
scheu sah man bisher nicht die Tausende von Sclavenhändler, die
alljährlich auf der Leipziger, Frankfurter und Braunschweiger Messe
eine Horde von Negern an den Meistbietenden verkaufen, welches Mit¬
leid erregten nicht die armen Schwarzen, die in den heißesten Dccem-
bertagen unserer südlichen Zone die Auckerplantagen auf der Lüneburger
Haide bebauen müssen! Mit welchem Schmerzgefühl betrachtete nicht
der ernste Menschenfreund die Peitschenhiebe und Stockschläge, mit wel¬
chen unbarmherzige deutsche Sclavenausseher die Unglücklichen an den
Rhein und an die Eibe verkauften Africaner geißelten, als waren sie
gemeine Soldaten, die von ihrem Hauptmann zu Stoßprügel verur¬
theilt wurden. Um so tief gefühlter? Anerkennung verdient der Be¬
schluß der Bundesversammlung, der, wie wir in allen Zeitungen lesen,
den Negerhandel in sämmtlichen deutschen Bundesstaa¬
ten in Zukunft aus das Strengste verbietet und so einem der
dringendsten Bedürfnisse abhilft. Mögen immerhin einige andere un¬
wichtige Dinge, die seit der Wiener Bundesacte noch nicht vollständig
erledigt sind, wie z. B. eine Regulirung der landständischen Verfas¬
sung in sämmtlichen deutschen Staaten, Einführung eines gleichmä¬
ßigen Preßgcsetzes, Regulirung der Rechtsgleichheit aller christlichen
Religionsparteien und bürgerliche Verbesserung der Juden, Einführung
eines allgemeinen deutschen Bürgerrechts u. s. w., eine geraume Zeit
noch warten. Das Dringendste ist geschehen. Fortan wird in Deutsch¬
land der schändliche Negerhandel, diese große Schwache unserer Nation,
nicht mehr Statt sinden. Für uns Alle ist dies eine große Beruhigung,
denn wenn man sogar schon auf die Freiheit der Schwarzen bedacht
ist, welche schöner Hoffnungen grünen dann am weißen Horizonte un¬
serer eigenen Freiheit.
— Es geht jetzt mit Fetialen David, wie es vor zwei Jahren
mit Gallaut und Debievse gegangen ist. In jeder Stadt, wo der
Wüstensymphonist ankommt, beginnt der Streit über den Werth und
Nichtwerth seiner Composition auf's Neue. Die einheimischen Künst¬
ler schreien: „Das können wir auch!" ihre Gegner reizen sie durch
Widerspruch, und wir armen Journale und unsere Leser müssen das
Bad ausgießen und sollen aus Stolpe und Danzig, aus Hodl und
Kusch immer neue Bülletins bringen und lesen. — Die deutsche Ein¬
heit findet auch in den kleinsten Dingen ihre Gcgenbelcge. Nicht ein¬
mal in Bezug auf einen Künstler lassen wir eine Durchschnittsmünze
gelten; die kleinste Stadt i.se eifersüchtig auf die kritische Hegemonie
Berlins oder Wiens und will ihr souveränes Urtheil für sich appart
abgedruckt sehen. Die Franzosen haben gut Journalemachen. Paris
ist pikant und was nicht in Paris vorgeht, das eristirt nicht für sie.
Ein deutsches Zeitblatt aber soll sich um jeden Hahn kümmern, der
in dem letzten Dorfe der 38 Bundesstaaten zum ersten Male kräht,
und dabei soll man nicht langweilig werden! — Fetialen David war
in Leipzig und führte in der Mendelssohntrunkenen Stadt seine Sym¬
phonie zweimal (im Gewandhaus und im Theater) mit gleichem Bei¬
fall auf. Ich nahm mir vor,- über den merkwürdigen Componisten,
der Franzose, Jude, Se. Simonist, Wüstenreisender, vor allem Andern
aber ein genialer Mensch ist, ein Langes und ein Breites zu schrei¬
ben. Aber da kommt unser Berliner Correspondent und erzählt den
Lesern von der Aufführung der Wüste in Potsdam und in Berlin,
unser Dresdner Correspondent wird uns wahrscheinlich wieder von
Dresden (wo Fetialen jetzt ist) etwas melden. Dann reist der Wü¬
stenwanderer nach Prag, dann nach Wien, und wir müssen uns ge¬
faßt machen, auch von dort her über ihn zu lesen und zu drucken.
Wenn so Viele um den Tisch sich drängen, so ist es für den Haus¬
herrn eine Pflicht der Artigkeit, seinen Platz den Gästen zu überlas¬
sen. — Wir schreiben also nichts über Fetialen David in Leipzig, und
glauben dadurch unsern Lesern wie unsern Correspondenten' einen gleich
angenehmen Dienst zu erweisen.
Das Dampfschiff landet wiederum, wir sind am Ziele, das ist
Oestrich. Wir sind im Herzen des Rheingaues. Wie rasch war
diese Morgenfahrt, kaum wenige Stunden haben wir Mannheim ver¬
lassen, an Worms mit seinen Erinnerungen an die Nibelungenhelden
„von grozer Archen" bis auf Luther, an Oppenheim mit seinen Berg¬
kirchen , in denen Tausende von Schädeln erschlagener Krieger aufge¬
schichtet liegen, hier wo Gustav Adolph auf einem Scheunenthore
über den Rhein feste, an dem goldenen Mainz mit seinem Guten¬
berg, seinem Walpod von Bassenheim und vielen anderen lichten
Erinnerungen, an dem stillen, verödeten Biberich vorbei. — Welch ein
Leben auf dem Schiffe! Der helle, frische Sotttitagömorgcn leuchtet aus
den Angesichtern der Menschen. Wir treffen einen Bekannten, andere
schließen sich an, da fliegt die Rede herüber und hinüber, die Geister
sind wach und schauen klar um sich; alle Interessen der Zeit finden
ihre Verkündiger. Reden und Thaten, die die Bevormundung vom
öffentlichen Ausdrucke abhält, schicken ihre lebendigen Sendboten hin¬
aus in die Welt, und werden fortgetragen wie eine wehmüthig süße
Botschaft. Die Eisenbahnen sind wohl ein schönes Beförderungs¬
mittel, das heitere, freie Leben ist aber nur auf dem Dampfschiffe, und
zumal auf dem Rheine. Da wandelt man frei hin und her, da sieht
man sich, da grüßt man sich, belebend und kräftigend dringt der Wel¬
lendust herauf zu den Menschen. Wir sind am Ziele — da ist Oest¬
rich. Wir stehen unter der Linde am Ufer. So gering auch die
Wasserfahrt ist, so erregt es doch eine eigenthümliche Empfindung,
wenn man wieder auf festem Boden steht, gleich als ob mit den
Wellen des Stromes, die sich glätten und still dahin gleiten, auch
die Blutwellen in uns wieder beschwichtigter und stiller fließen. Die
Wasserfahrt bringt mich in den Menschen eine Aufregung zu Stande.
Wir stehen am Ufer, das Brausen der Maschine, der rasche Schlag
der Räder verhallt, die aufrollenden Wellen, die die festgebundenen
Kähne hin- und herschaukcln, branden zum letzten Male, Alles ist
still und geklärt, die Menschen gehen ruhig ihrem Leben nach. Wir
sind von einer bewegten Welt in eine beruhigte getreten.
Suchen wir bei dem nahen, behäbigen Wirthe, der den bezeich¬
nenden Eigennamen Beyderlinden führt, eine Hcrzstärkung. Das
ist treffliches Rheingauer Gewächs „Da ist Musik d'rin," sagen sie
hier zu Lande. Der Wirth zeigt uns den Weg nach Hallgarten bis
vor den Ort, und dann können wir nicht mehr fehlgehen. Wir stei¬
gen die Rebenhügel hinan, sie blühen und ihr Duft erquickt die
Seele. Wir grüßen die Natur um uns her freundlich, wir sind ihr
verwandt, ihr Saft strömt durch unsere Adern. Es ist ein heißer
Morgen. Das Menschenkind darf der brennenden Sonne nicht grol¬
len, sie kocht ihm den Feuerwein. Nur noch diese Windung hinan,
dort oben liegt Hallgarten und dort am linken Ende Itzstein's Gut.
Hallgarten ist seit der edel gehaltenen Erklärung v. Itzstein's
ein nationalgeschichtlicher Name geworden. Von den Besten aus
allen Gauen Deutschlands haben schon dort geweilt. Kein Rhein¬
fahrer wird während der nächsten Zeit auf den grünen Wellen da¬
hingleiten, ohne jene Hügel zu grüßen, von denen ein so mannhaf¬
tes Wort ausging.
Machen wir einen Halt und sammeln wir uns. Haben wir
ein Recht, die Thüren dieses gastfreundlichen Hauses so weit zu öff¬
nen, daß alle Welt hinein schauen kann?
Seit Jahrhunderten bildet das umfriedete Familienleben den ein¬
zigen Hort deutschen Geistes; er hat alle seine Schätze hinein versenkt,
die Wellen der Geschichte rauschen darüber hin und lassen sie still
am Boden ruhen. Jetzt aber muß der versenkte Hort gehoben wer¬
den. Nicht aus pikanter Anekdotenkrämerei, nicht aus pietätslosem
Haschen nach Verborgenen, sondern im Dienste der Oeffentlichkeit,
die wir jetzt wieder zu erringen streben, haben wir ein Recht, von
den öffentlichen Charakteren alles das kund zu geben, was als Folie
und im Zusammenhange mit ihrer Bedeutung für das Allgemeine
angesehen werden darf. Hierbei kann nur der gesunde Tact maa߬
gebend sein. Ich hoffe, ihn nicht zu verletzen.
Wir treten durch den sorgfältig gehegten Garde», dessen Beete
mit Bur eingefaßt sind, zwischen Blumen und veredelten Obstbäu-
men nach dem großen Hause. Hier im Erdgeschosse empfängt uns
der Wirth mit biederer Herzlichkeit, eS ist der alte Itzstein. Eine
imponirende, schöne Gestalt mit klugem Blicke; es liegt etwas gothisch
Behäbiges in seinem ganzen Wesen, während auch sonst die nüch¬
terne Klarheit der Erscheinung, ja sogar einzelne Gesichtszüge und
besonders die Stirnformation an Göthe erinnern. schlicht und ein¬
fach in seinen Umgangsformen, ist Itzstein doch weit entfernt von
aller burschikosen Nichtachtung der socialen Gesetze, die Manche gern
zur Schau tragen. Er imponirt unmittelbar durch die Macht und
Gediegenheit seines Wesens. Er ist ein alter freier Staatsmann.
Auch in seiner Kleidung herrscht das bequeme Ungczwängte vor, ohne
dabei die Rücksicht der Schönheit und die offenbare Sorgfalt verken-
nen zu lassen. Es ist widerlich, oft alte Männer zu sehen, die sich
in die knappe Mode des Tages zwängen, um sich dadurch einen
Anschein von Jugendlichkeit zu erobern. Man macht heutigen Ta¬
ges die Kinder zu Gecken, und viele Alte machen sich selber dazu.
Wir können, trotz öfteren freundlichen Anerbietens, keinen Mor¬
genimbiß mehr einnehmen, der Mittag ist zu nahe. Der Gastfreund
führt uns in die oberen Gemächer seines Hauses, die schön aber
nicht lururiös möblirt sind. Manches freundliche Angebinde von
verehrender Frauenhand zeigt sich da und dort, denn Itzstein ist ein
Liebling der Frauen. Die Frauen haben eine unmittelbare Vereh¬
rung für alles Große und Kernige; kommt dazu eine solche nimmer
pausirenbe Frische, wie sie sich in Itzstein stets zeigt, eine solche leichte
und gewandte Scherzhaftigkeit, wie er sie darlegt, so steigt die Ver¬
ehrung zum Entzücken, das sich einem dreiundsiebzigjähiigcn Greise
gegenüber um so ungezwungener zeigen darf. Bei den Bürgermei¬
sterinnen auf dem Schwarzwalde wie bei den Damen in den Städ¬
ten ist Itzstein gleich verehrt, und mancher der durch ihn veranlaßten
Wahlsiege ist mit Hilfe der Frauen durchgefochten worden.
Itzstein führt uns an ein Fenster. Welch eine Pracht zeigt sich
von hier aus! Weit hinab bis gen Bingen schweift der Blick, wie
herrlich golden blinkt der Rhein, wie hell stehen die Städtchen und
Dörfer am Ufer, als wären sie hingeeilt und vor Staunen und
Freude am Rheinesufer stehen geblieben! Wie oft man auch hinaus-
schaut, immer von Neuem thut sich die Pracht auf und hebt die
Brust mit namenlosen Empfindungen. Du schöner Rhein! Du
Pulsader Deutschlands, wie reich ist dein Leben und wie muß es
sich erst entfalten! Hier oben hat sich einer deiner besten Sohne
angesiedelt und läßt seinen Blick still auf dir ruhen nach den schwe¬
ren — doppelt schweren weil stegberaubten — Kämpfen. Am Rheine
muß einst das Grab Itzstein's aufgerichtet werden, und wenn einst
die deutschen Schaaren zu neuen Thaten hier auf- und abziehen,
mögen sie je nach ihren Erfolgen die.Fahnen senken, oder hoch flat¬
tern lassen und das Denkmal dessen grüßen, der hier oben Deutsch¬
lands Geschicke im Herzen trug.
Doch, wer wird an den Tod denken, wenn so heiteres, frisches
Leben uns umgibt? Die Kraft der Jahre scheint keine Macht zu
haben über Itzstein, noch lebt er, noch wird mancher frische Kranz
seine weißen Locken schmücken; die Dulverkrone, die ihm die Gewalt
der Pharisäer aufdrücken wollte, sie wird zum frischen Eichenkränze.
Das sind die Zeichen und Wunder der neuen Zeit, die wir Alle kennen.
Lassen wir uns von Itzstein in seiner Häuslichkeit umherführen,
dabei offenbart sich seine Leutseligkeit auf die ungezwungenste Weise.
Er bittet die rauchenden Gäste, eine Cigarre anzuzünden, er selber
raucht nicht. Ueberhaupt ist er einer der bedürfnißlosesten Menschen,
mitten in einen nicht unbeträchtlichen Besitz gestellt. Seine elastische,
durch und durch gesunde Natur hilft ihm hierbei. Während die jun¬
gen Freunde sich mit Mänteln und Paletots auf Reisen begeben, tritt
Itzstein im einfachen Ueberrocke auf und führt leichtes Gepäck mit sich.
Wir besuchen die Brennerei, wir gehen durch die Ställe mit
dem stattlichen Viehstände, durch die Vorrathshäuser, und endlich stei¬
gen wir hinab in den Keller, da ruhen feuervolle Geister. Ist es
droben schön unter der hellen Himmelswölbung zwischen den duften¬
den Siebengeländen, so ist es hier behaglich, wo unter der schützen¬
den Mauerwölbung der „kühle Wein" ruht. Das unterirdische Rhein¬
gau ist fast noch reicher, als das droben. Das auch hat der Wein
mit allem Geisterfüllten gemein, daß seine Entwicklung noch fortgeht,
wenn er längst abgekeltert ist.
Es waren anerkannte Weinprober mitgekommen, und aus einem
Mutterfäßchen wurden mit dem Heber mehrere Flaschen gezogen, um
zu erkunden, was aus dem vorjährigen Wachsthum geworden war.
Itzstein zieht sich gai auf sein Landgut zurück und betreibt na¬
mentlich den Weinbau mit Liebhaberei. Die moderne Welt zeigt
uns manchen Eincinatns, wenn auch nicht mehr ganz in der alten
Gestalt. Das rationelle Verfahren bei dem modernen Acker- und
Weinbau erheischt weniger handgreifliches Zuthun, als die sichere,
übersichtliche Leitung aus höheren, allgemeinen Gesichtspunkten.
Itzstein genießt die Liebe seiner Dienerschaft in hoben Grade,
und das ist ein gutes Zeichen. Wenn wir Lust hätten, könnten wir
noch in dem einzeln stehenden Billardhause eine Partie spielen, es ist
aber Essenszeit und Itzstein ist in Allem gern pünktlich. Wie schon
weiß er den Wirth zu machen, wie leicht und frei bewegt sich die
Unterhaltung bei trefflichen Speisen und Getränken. Er ist kein Mann
der abstracten Idealität, er ist vorherrschend praktisch. Das eben
verdrießt die hochweisen Bureaukraten so sehr," daß er nicht nebelt
und sich in allgemeinen Ariomen bewegt, die man leicht als Ideologie
von oben herab betrachten kann; nein, Itzstein ist ein praktischer Staats¬
mann. " Dazu verhilft ihm besonders, daß seine Hauptkraft in der
Fincmzkunde besteht, und in dieser Beziehung kann ihn nur einst der
gesinnungskrästige und verstandesscharfe Marhy ersetzen. Itzstein rech¬
net genau jeden Heller nach, der aus dem Beutel des Volkes ver¬
wendet wird, er weiß wie viel Schweißtropfen daran kleben und
läßt sich nicht irre machen. Er will nicht geistreich sein,, nicht bril-
liren, er ist ein schlichter, einfacher Diener der Freiheit und des Volks-
wohls. Das ist es auch, was manche kaum flügge gewordenen
Buchmenschen grämt, daß Itzstein keine neuen Systeme ausheckt, daher
sprechen sie so gern vom Platten Liberalismus, weil Itzstein nicht wie
sie mit beiden Füßen ans der Philosophie oder Poesie in's Staats¬
leben übergesprungen ist, nicht wie sie noch taumelt und sich über¬
schlägt, sondern weil er auf dem festen Lebensboten steht, nicht der
Erfinder einer neuen Weltordnung sein, sondern das bethätigen will,
was längst im Geiste der Zeit entschieden ist, was aber äußerlich noch
nicht Gestalt und Leben gewonnen hat. Itzstein hat nicht wie so
manche junge speculative Politiker das Programm der zukünftigen
Geschichte fertig in der Tasche und zeigt euch, wie das Alles nun
am Schnürchen der genetischen Entwicklung sich herausbilden muß.
Itzstein hat immer das Nächste, das Praktische im Auge, darum ist
er auch von Natur populär; er rückt den gegnerischen Thatsachen
geradezu auf den Leib, er kennt aber alle Finten der parlamentarischen
Taktik und weiß sie zur Zeit wohl zu benutzen. Auch in den Ge¬
sprächen in Privatkreisen wie in öffentlicher Kammer läßt er d-e Tis-
cussion sich eine Zeit lang da und dorthin bewegen, er versteht die
seltene Kunst: zu hören. Er nimmt das Vorgebrachte mit seltener
Hingebung auf. Er beherrscht die Besprechung nicht, indem er als¬
bald auf jede Bloße loszufahren trachte- und sich allein mit seinen
Ansichten immer mitten hinein stellt; er läßt die Streiter sich zuerst
ordnen, damit man wisse, wo das Haupttreffen gilt, und dann rückt
er mit seinen Kerntruppen hervor. Dem niedern Bewußtsein gegen¬
über findet er das Faßliche und Packende schnell heraus. Er braucht
seine Gedanken nicht erst loszutrennen aus einem fern von den That¬
sachen entworfenen Programm, jeder Gedanke ist aus dem Leben ge¬
boren, ein Lebendiges« für sich. Als nothwendige Ergänzung steht ihm
zur Seite der mit welthistorischen Ueberblicke und wissenschaftlichem
Tiefblicke ausgerüstete Welcker, der vom badischen Lande wie vom
ganzen deutschen Volke mit gleicher Liebe verehrt wird, wie Itzstein.
Wie schnell erglüht das liebevolle Antlitz Welckers, wenn er von Unter¬
drückung und von Volksrechten spricht! Wie lauscht er jeder Regung
der Zeit in Schrift und Wort! An hochherzigen Edelsinn wird Wel¬
cker von Keinem überragt. Ihnen schließen sich an: der reichbegabte
und unerschrocken freimüthige Bessermann, mit seinem feingeschnittenen
Gesichte und den gehaltenen Lebensformen, der als eine Zierde mo^
dernen Bürgerthums und seiner Culturhöhe betrachtet werden muß;
der biederbe Gottschalck mit seiner allemannischen Kraftgestalt und
Redeweise, mit gesundem Herzenstakte besonders auf das sittliche
Moment in den Fragen des Tages dringend; der sarkastische Mathy
und noch viele andere wohlbekannte und verehrte Männer. Man
findet sie oft an Itzstein's Tisch in Mannheim und in Hallgar¬
ten, und der treulich erfüllten Menschen- und Bürgerpflicht fehlt es
auch nicht an der Freude im stillen Kreise. Der bis zur hohlwan¬
gigen Jnteressantheit abgeblaßte Weltschmerz war in diesen Krei¬
sen nie heimisch; er ist auch aus der Literatur verschwunden, seit¬
dem man dem Leben näher gerückt ist, seitdem man genau sagt und
weiß, was man will, und sich nicht einer verzehrenden Kopfhängerei
hingibt, die nur das Wid-rspiel eines mattherziger Pietismus ist.
Man thut seine Pflicht in Wort und That, man vergißt den großen
Schmerz nicht, der die modernen Nationen peinigt, und sucht ihn in
allen Wegen nach Kräften zu heilen, dann aber faßt man wieder
auch die stillen Freuden des Lebens mit frischer Genußfähigkeit auf
und gewinnt in ihnen neue Spannkraft für die tausendfach prickelnden
Kämpfe der Welt.
Zum Nachtische wurde der feine „Ausbruch" gekostet, es war
ein treffliches Gewächs. Jhstein gab dem Bedienten auch ein großes
Glas, damit er auch koste, wie der vorjährige Ausbruch sich mache.
Jhstein selber trinkt fast gar keinen Wein oder nur äußerst wenig.
Selbst bei den vielen Festessen, denen er anwohnen muß, trinkt er
meist Wasser. Diese Lebensregel mag auch seine stets gleich blei¬
bende politische Haltung unterstützen. Wir haben in Deutschland
noch keine freien Volksversammlungen. Wollen wir uns zum Aus¬
tausch und zur Anregung politischer Gesinnungen zusammen finden,
so muß es gewöhnlich bei Speise und Trank geschehen. Wie oft
aber wird hierbei in eitle Nedncrei und in aufgeregten Enthusiasmus
übergesprungen, der nicht unmittelbar aus der verhandelten Sache
entsprungen ist. Jhstein ist der Mann nicht, der eine hochgeschraubte
Neberschwänglichkeil alsbald zurückdrängt und in ihr rechtes Geleis zu¬
rückführt, er begnügt sich, sich ruhig dabei zu verhalten, wohl wissend,
daß, waS leicht aufbraust, auch leicht wieder verbraust; zugleich aber
auch ist er weder belehrend noch klärend, er läßt Manches dahin¬
gestellt und empfängt sein Mandat vornehmlich aus den öffentlich
sich kundgebenden Gemcinansichten.
Wir tranken den Caffee in dem schönen Gartenhause. Hier hän¬
gen große Porträts von Männern und Frauen in allerlei alten Trach¬
ten — es sind die Ahnen.des Herrn v. Jhstein. Mit freiem, aber
keineswegs pietätlosen Humor schildert uns Jhstein seine Ahnen,
unter denen sich besonders prächtige Frauen finden, der eine Derer
v. Jhstein trägt eine große goldene Gnadenkette, die er von einem
deutschen Kaiser (ich weiß nicht mehr, von welchem) empfangen.
Der Nachkomme deutet uns Alles das mit seiner eigenthümlichen
Frische und Harmlosigkeit. Er ist nicht entfernt stolz auf die Stel¬
lung, die etwa seine Vorfahren hatten, denn ihn mag das Bewußt¬
sein dessen erfüllen, was er selbst leiste«.
Hallgarten war ehemals ein Familien-Erdleben. Adam v. Jtz-
stein hat eS als Eigenthum an sich gebracht und die darauf ruhen¬
den Lasten von den Angehörigen seiner Familie abgelöst.
Itzstein ist schon lange Jahre Witwer. Seine einzige Tochter
ist an den als Mann wie in der physikalischen Wissenschaft bedeu¬
tenden Eisenlohr, Professor an der polytechnischen Schule in Carls¬
ruhe, verheirathet. So hat auch Itzstein keinen männlichen Nachkom¬
men, der seinen Namen unmittelbar forterbt; er wird nicht der Be¬
gründer einer neuen Aristokratie, wie sich der edle Schiller noch ge¬
fallen lassen muß, daß sich sein Sohn in den Freiherrenstand erhe¬
ben laßt. ES soll keine Aristokratie geben, auch die nicht, die von
der Macht im Reiche des Geistes sich als bloßer Name forterbt.
Itzstein'S Name gehört aber unvergänglich der Nation an.
Hieran knüpfte auch ein junger Mann unter den Anwesenden
an, der, als man die vielen Schiffe den Rhein auf- und abschwim¬
men sah, mit Entrüstung bemerkte, wie kriechend und nichtssagend
die Namen all' der Schiffe sind. Da wird um die Gunst dieser und
jener hohen Person, dieser und jener Stadt gebuhlt, und die Schiffe
tragen ihre Namen. Besonders groß sind darin die concurrirenden
Dampfschiffgesellschaften. Noch ist keine Germania, kein Carl der
Große, kein Walpvd von Bassenheim, kein Hütten, kein Roland, kein
Blücher u. s. w. auf dem Rheine. Mit bedientenhafrer Unterwür¬
figkeit wird namentlich, um den Engländern zu schmeicheln und sie
anzulocken, der Name der Königin Victoria den schönsten Schiffen
beigelegt und in den kleinsten Städtchen nennt sich ein „Hotel" dar¬
nach. Das ist unsere Nationalwürde, so machen wir uns vor den
Fremden verächtlich. Erst ein einziger schlichter Schiffer von Mann¬
heim hat seinem Segelschiffe den Namen Rotteck gegeben, in Zukunft
wird wohl der Name Itzstein's mit noch manchen andern auf den
Rheinschiffen prangen.
Wir verließen gegen Abend Hallgarten. Itzstein begleitete uns
noch ein gut Stück unter traulichem Gespräche.
Als wir auf dem Dampfschiffe „Erbgroßherzogin" standen, sahen
wir noch einmal hinauf nach den Hügeln von Hallgartcn und grü¬
ßen herzlich. Wendet euren Blick weiter hinab — dort liegt der
letzte Abendschein auf Johannisberg. Dort wohnt Fürst Metternich.
Es war ein schöner Abend, der des 27. Aprils, und er
lockte so anmuthig, so geheimnißvoll-träumerisch hinaus in's Freie,
namentlich nach Holbstein, wo man das Haff sieht und sich auf
dem Meere träumen kann, und das ist für den Poeten gar süße
Lockung; — aber in der Stadt lockte mich etwas Anderes oder hielt
mich vielmehr gigantisch fest und spannte meine Brust und machte
das Herz höher schlagen i ich sollte zum ersten Male einer der weit-
und vielbesprochenen Versammlungen des Bürgervereins beiwoh¬
nen, und diese Erwartung rechtfertigte gewiß jene Gefühle, wenn
man bedenkt, wie lange ich in den politischen und geistigen Einöden
von Preußisch-Polen, Lithauen und Massurcn umhergestreift, lech¬
zend wie ein Wüstenwandercr nach der Oase, nach Königsberg ge¬
schaut, und nun auf einmal inmitten des vollsten, kräftigsten Ge¬
dankenlebens dieser Stadt gestellt werden, lebendig vor Augen haben
sollte, was mir bisher nur als Ironie oder schöner Traum vorge¬
schwebt: eine echte Volksversammlung, auf gesetzlicher Grundlage ru¬
hend und doch bewegt und getragen von politischem Gefühl und männ¬
lich-freiem Selbstbewußtsein. —
Um sechs Uhr ging ich zu Walesrode; das ist ein großer,
starker Mann, mit krausem, blondem Haar und langem, starkem
Barte, einer hohen, gedrungenen Stirn über scharfmarkirtem Gesichte
von feurigem, raschem Wesen. Seine Sprache ist bilderreich und
lebendig, sein Organ ist stark und sonor. Er führte mich in die
Kupfergasse, zum „Altstädtischen Gemeindegarten," dessen Saal schon
vor hundert Jahren den Bürgern Königsbergs zur Versammlung gcsel-
liger Erheiterung gedient und so für den Einheimischen eine Art ehr¬
würdiger Behaglichkeit erhalten hat, die anch der Fremde bald mit¬
empfindet; und die leicht erregbare Phantasie sieht gewiß noch aus
allen Ecken und von der Decke herab die guten und doch starken Ge¬
sichter der alten, seligen Trinker freundlich der Gegenwart zunicken. —
Der Saal war mit Guirlanden von duftigen Tannengrün ge¬
ziert; in seiner Mitte stand ein Tisch, worauf der Präsidentenhammer
lag, rund umher neun Stühle für die Vorsteher; dahinter erhob sich
das Katheder, daneben stand ein Flügel, lange Reihen Stühle und ein
den Wänden amphitheatermäßig erhöhte Bänke luden zum Sitzen ein.
Und jetzt fing es an zu summen, und aus dem Summen wurde
ein Drängen und Wogen, bis der ganze weite Raum gefüllt war
und geschlossen wurde. Wer nun konnte, der holte sich aus der an¬
stoßenden Restauration eine Flasche guten Bieres, wer wollte, der
.steckte sich seine Pfeife oder Cigarre an, ein Jeder suchte sich einen
Sitz und wem's nicht zu heiß wurde, der nahm gewiß den Hut nicht
ab. — Jetzt begrüßte mich Dr. Jacobi, ein kleiner, schwächlicher
Mann, mit hoher Stirn, klarem, schwarzem Auge und scharf beob¬
achtenden, fein spöttischen Zügen. Sein ganzes Wesen ist. wie seine
Schriften: ruhig, einfach, klar und sicher. Mit ihm und Walesrode
musterte ich nun die Versammlung, die eigentlich diesen beiden ihr
Dasein verdankte: sie bestand aus ungefähr 800 Männern aller Klas¬
sen: Bürger und Handwerker aller Art mit ihren Gehilfen und Ge¬
sellen, Kaufleute und Beamte, Geistliche und Künstler, Lehrer des
Gymnasiums und der Universität, Studenten, Buchhändler, Me¬
diciner, Juristen und Apotheker — das alles war da bunt vereint,
saß friedlich und freundlich neben einander. Titel, Geld und dergl.
Vorzüge galten hier nichts: hier fühlte nur ein Jeder sich als freier
Bürger, und man sah dieses Gefühl den Gesichtern fast deutlich auf¬
geprägt. — Den mit Stimmenmehrheit erwählten Vorstand bildeten
der Lcmdtagsdcputirte Kaufmann Heinrich, als Präsident der Ver¬
sammlung, öl. Dieter (Sohn deö berühmten Schulmannes), s)r Ja¬
cobi, Walesrode, Dr. Witt und vier Bürger, darunter drei Hand¬
werksmeister.
„Sehen Sie — sagte Walesrode — das ist Lobeck!" und ich
sah ein kleines, schmales, zusammengebeugtes Männchen, mit spär¬
lichem, schneeweißem Haar, einem ungemein langen und trotz der un-
zähligen Runzeln noch scharfen, geistreichen Gesichte und mit jugend¬
lich-feurigen braunen Augen; altbürgcrlich, nachlässig angezogen. Das
war also „der alte Lobeck," den seine Gelehrsamkeit und 80 Jahre
nicht hinderten, das neue Bürgerleben mit anzuschauen. — „Wer ist
denn jener große Mann mit dein langen, rabenschwarzen Haar, den
dunkelglühenden Augen und dem scharfgeschnittenen, bleichen Antlitz,
was so tief und geheimnißvoll in die Welt schaut?" Es war der
Divisionsprediger i)i-> Rupp, der Königsberger Wislicenuö, dessen
jeden Tag zu erwartende DiSpensation oder Suspension jedenfalls
einen unausfüllbaren Riß in der dortigen protestantischen Kirche her¬
beiführen wird. — „Herr Alerander Jung — Herr Schlvnbach" —
stellte Walesrode vor, und freundlich begrüßte mich der philosophische
Kritiker, der mit dem bleichen, ruhig-einfachen Gesichte still und in
sich gekehrt das Volksleben um sich her rauschen ließ. — Bald schlös¬
sen sich uns an Dr. Herbst, Universitätslehrer, Professor Cäsar von
Längerke, der Dichter und Epigrammcnschreiber, Rector Wechsler
(der später vom Verein der protestantischen Lichtfreunde zur großen
Versammlung nach Cöthen geschickt wurde und ein außerordentlicher
Redner ist) und der Landgerichtsrath Crelinger, dessen Gesicht, sowie
sein ätzender, vernichtender Verstand manchmal an Voltaire erinnert.
Da ertönte vom Tisch des Vorstandes der Hammer des Präsidenten,
— plötzliche tiefe Stille, — der Präsident erklärte die Abendunter-
haltung für eröffnet.
Sie begann mit dem Liede: „Freie Männer sind wir!" — ge-
sungen von einem Bereine der besten Sänger der Bürgerversamm¬
lung, den Gesellen, Studenten und junge Kaufleute bildeten; der
Gymnasialdirector, Dr. Sander, leitete ihn. Den Refrain jedes
Verses wiederholte mit Orchesterbegleitung die ganze Versammlung.
Das war ein Gesang! — nicht besonders künstlerisch formgebildct,
aber voll Kraft und Leben, der aus den Herzen in die Herzen drang
uns nicht blos aus der Kehle tönte, sondern aus den Augen sprühte.
Nach dein Gesang trat ein kurzer, stämmiger Mann auf die Red-
nerbühne mit krausem, schwarzem Haar und lebendig funkelnden,
schwarzen Augen: das war der Oberlehrer, Dr. Witt, der frühere
Redacteur der Königsberger Zeitung, den man gezwungen hatte,
diese Beschäftigung niederzulegen. Er begann einen Vortrag
über den Lurus — auf einmal entstand eine Unterbrechung) der
Präsident wurde hinausgebeten, kehrte bald bestürzt zurück, erklärte
der Versammlung, daß draußen der Polizeipräsident mit einem wich¬
tigen Austrage stände und bat nun um ruhige und gehaltene An¬
hörung desselben, darauf führte er den Polizeipräsidenten Dr. Abegg
ein. Derselbe erschien in voller Amtsuniform, und ich glaube, nur
die Erscheinung dieses Mannes erdrückte das dumpfe Murmeln, was
sich in Voraussetzung der zu erwartenden Dinge schon zu regen begann;
denn Abegg wird vom Publicum geliebt und geehrt. Man sah es
dem Manne deutlich an, wie schmerzlich ihm sein Auftrag war; er
entledigte sich desselben mit zitternder Stimme, in den liebevollsten,
ehrerbietigsten Ausdrücken zur Versammlung, indem er dem Vorstand
den Brief des Oberpräsidenten übergab, wonach er im Auftrage
des Ministeriums die Bürgerversammlung für auf¬
gelöst erklären mußte. Einem tiefen, dumpfen Schweigen folgte
nun plötzlich ein steigendes grollendes Gemurmel; der Bürgerpräsi¬
dent bat mit bewegter Stimme die Versammlung: auch jetzt den
edlen Anstand, die ruhige Haltung, die Achtung vor dem Gesetze
zu zeigen, was sie stets so ehrenvoll ausgezeichnet hätte; und nach
erfolgter Wirkung dieser Bitte fragte er den Polizeipräsidenten, ob
die Gesellschaft nicht so lange bestehen könne, bis auf ein dem Kö¬
nig einzureichendes Gesuch Entscheidung eingegangen sei. Der Be¬
fragte schützte die strengste Weisung zur sofortigen Auflösung vor und
verließ, ehrerbietig grüßend, die tief erschütterte Versammlung. —
Jetzt bestieg Walesrode den Rednerstuhl und besprach in ergreifender
Rede das Vorgefallene; darauf nahm Dr. Jacobi das Wort und
machte den Vorschlag: einestheils sofort, an Ort und Stelle, ein
Gesuch an den König um Fortbestehen der Gesellschaft anzufertigen,
was — von allen Anwesenden unterschrieben — durch Estafette sogleich
nach Berlin abgehen solle; anderntheils sogleich Einige des Vorstan¬
des zum Oberpräsidenten zu senden, um denselben um Aufschub der
Auflösung zu bitten. Der Vorschlag wurde allgemein angenommen;
or. Jacobi entfernte sich zur Aufsetzung des Gesundes, ein Theil des
Vorstandes begab sich zum Oberpräsidenten. —
So war denn auf einmal ein harter Schlag, ein Blitz aus
heiterem Himmel auf die eben noch so fröhlich bewegte Masse nie¬
dergefallen; ein Jeder fühlte sich tief in seinen heiligsten Rechten
gekränkt — es lag wie dumpfe Gewitterschwüle auf dem Ganzen.
Durch Vortrüge sollte diese Luft zertheilt werden: Walesrode begann
mit dem Liede Freiligraths: „Die Freiheit durch's Recht" — was
die ganze Versammlung verstand, wodurch sie mächtig ergriffen
wurde.
Unterdessen waren die abgesendeten Vorsteher vom Oberpräsi¬
denten zurückgekehrt — er hatte ihre Bitte abgeschlagen!! — ES
eristirte also nun keine geschlossene Bürgergesellschaft mehr; aber
es zeigte sich jetzt, daß ein Rescript eine Gesellschaft wie diese nicht
vernichten kann: sofort wurde öffentliche Versammlung beschlos¬
sen, und nach mehrfachen Debatten dazu der Garten des Böttcher-
höfchmS (eine Viertelstunde von Königsberg) bestimmt. — Jetzt kam
wieder frischer Muth in die Versammlung: man sah noch reicheres,
wirkungsvolleres Leben aus dieser Oeffentlichkeit hervorblühen, und
man sang ein kräftiges Hoffnungslied, wozu lustig die Hörner und
Trompeten schmetterten. —
Das Gesuch an den König war indessen fertig geworden und
wurde nun vorgelesen; eS war ergeben, einfach, würdig, doch be¬
stimmt. Nach allgemeiner Annahme wurde es, mit vielen Hundert
Unterschriften bedeckt, abgesendet. —
Unter Liederklang wogte es jetzt zum Saale hinaus, in die fri¬
sche, helle Sternennacht. Patrouillen durchzogen die Straßen, —
Gensdarmen standen in den Ecken und Winkeln, — die Gruppen
der Bürger zertheilten sich, — hier und da ertönte noch der Refrain
eines Liedes, — dann Alles still, — die Sterne funkelten und moch¬
ten wohl daS Ihrige denken.
Die Beamtenwahl ist ruhiger ausgefallen, als man Anfangs
zu vermuthen Ursache hatte, was freilich blos durch den freiwilligen
Rücktritt des einen Kandidaten erreicht werden konnte, denn ohne
diesen anerkennenswerther Schritt würde es ohne Zweifel unter den
beiden feindlichen Parteien zu sehr ernsthaften Reibungen gekommen
sein, die dann die Einmischung der bewaffneten Macht nothwendig
gemacht hätten. Es kann überhaupt nichts Unsinnigeres geben, als
dies rücksichtslose Treiben der politischen Parteien, die sich zuletzt im¬
mer, wie zwei streitende Völker, auf das Recht des Stärkern als
Gottesurtheil zu berufen pflegen, ohne zu bedenken, welch' gefährliche
Waffen sie durch diese ochlokratischen Unordnungen den Gegnern ihrer
Verfassungöfreiheiten in die Hand geben. Denn solche blutige Vor¬
fälle nöthigen die Regierungsgewalt zu militärischer Einsprache, und
sie genießt dabei den Vortheil, daß sowohl der gesetzliche Buchstabe,
als auch die öffentliche Meinung ihrem Verfahren beipflichten müs¬
sen. Dadurch gewöhnt sich aber die Nation und vorzüglich die große
Klasse der Gemäßigten allmälig daran, die Bayonnette als constitu-
tionelles Attribut, als nothwendiges Rettungsmittel vor drohenderen
Gefahren zu betrachten, und die vollziehende Gewalt findet mit der
Zeit gleichfalls Geschmack an der bündigen Logik, die sich durch Kol¬
benstöße und Flintenschüsse verkündet. Beide Theile verfallen auf
solche Art ganz unbemerkt in Gewohnheiten, deren Endresultat wohl
kein anderes, als der Untergang aller verfassungsmäßigen Rechte sein
muß, deren Kern und Wurzel eben die unbeschränkteste Wahlfreiheit ist.
Man kann nicht leugnen, daß die liberale Partei steh von dem
Aufgebot der Pöbelmassen mehr fern gehalten hat, alö die Confer-
vanven, deren großartiges Bestechungssystem, womit sie die wohlthä¬
tigsten Reformpläne der Gegner zu vereiteln suchen, diese eben oft¬
mals dazu zwingt, gleichfalls ein ähnliches Spiel zu treiben, damit
der Widersacher mit den eigenen Waffen geschlagen und der vernich¬
tenden Mine eine schützende Contremine entgegengestellt werde. Die
Liberalen gewinnen ihren Anhang meist durch die siegende Macht
der Ideen, welche sie auf ihre Fahne gestickt haben, indeß der Con-
servatismus lediglich durch Interessen werbe» muß; der Liberalismus
stützt sich auf die Intelligenz und die politische Einsicht des Landes,
und hat somit die gebildete Sphäre der Wahlberechtigten auf seiner
Seite, während die Conservativen, von der Mittelklasse verlassen, sich
dem Cortespöbcl in die Arme werfen muß, der in politischer Un¬
mündigkeit dahinlebt und seine kostbaren constitutionellen Rechte ge¬
gen ein armseliges Linsengericht von etlichen Gulden an die Oligar-
chen verkauft. Die hohe Aristokratie, sonst so stolz und abgeschlossen,
scheut sich in diesem Falle nickt im Geringsten, mit dem adeligen
Proletariat in Holzschuhen und Schaafpelzcn innige Brüderschaft zu
schließen, und dieses besitzt so wenig politische Bildung, daß es keine
Vorausberechnung anzustellen vermag und jede Neuerung als einen
Angriff auf seine althergebrachten Adelsrechte betrachtet. Zur Befe¬
stigung des seitens «j»o trägt endlich Niemand mehr bei, als die
hohe Geistlichkeit, welche in Ungarn gestellt ist, wie ehemals in Spa¬
nien und jetzt in keinem Lande der Welt mehr; ein unermeßlicher
Reichthum in Grundbesitz und fabelhaften Einkünften, sowie eine
wichtige politische Rolle machen die Bischöfe hier zu einer gewaltigen
Phalanr des Stillstandes, unter dessen Aegyde sie allein im unge¬
störtesten Genusse dieser glücklichen Lage bleiben können. Während
das Land an Geldmangel hinsiecht, und die nothwendigsten Hilfs¬
mittel der Civilisation, wie Straßen, Kanäle, Schulen, Fabriken, ver¬
besserte Landwirthschaft u. s. w., wegen Mangel an Capitalien uner¬
reichbar sind, verzehren die vielen Statthalter Christi alljährlich in
diesem so wohlfeilen Lande eine Summe von 5,«vo,000 Fi. C.-M.,
während der zehnte Theil dieser ungeheuern Summe mehr als hin¬
reichend wäre, die geistlichen Würdenträger Ungarns in gehörig be¬
schränkter Anzahl anständig zu besolden. Die enormen Einkünfte
setzen die Bischöfe indeß in Stand, die bedeutendsten Summen an
die Bestechung des Wahlpöbels zu wenden und das Corruptions-
system in einem Maaßstabe zu organisiren, welchen die Geldkräfte
des mittleren Adels, welcher sich zum Liberalismus bekennt, niemals
erschwingen können. So geschieht es denn, daß die Bischöfe nicht blos
eine dem Gemeinwohl schädliche Stellung im ungarischen Verfassungs¬
stande einnehmen, sondern selbst von den ihnen durch diese Stellung
gewährten Mitteln wieder -einen Gebrauch machen, der allen Fort¬
schritt hemmt und dem Gesammtheit der Nation schnurstracks entge¬
gen ist. Ein magyarisches Journal fragte unlängst mit Recht, ob
es nicht besser wäre, die großen Summen, die von den Wahlbeste¬
chungen in den vielen Comitaten verschlungen und wozu die Libera¬
len von den Conservativen gezwungen würden, den Nothleidenden
im Arvacr Comitat und in der Zips zu schenken, die bettelnd durch
das Land ziehen und in ihrer Verzweiflung selbst ihre Kinder für
ein Paar Zwanziger an gänzlich unbekannte Personen losschlagen
müssen?
Die vielbesprochenen industriellen Bestrebungen der Ultramagya¬
ren entsprechen freilich den sanguinischen Hoffnungen nicht, welche
die heißblütigen Patrioten und die unerfahrene Jugend von ihnen
hegen mochten, indem unter diesen gar Viele der Meinung waren,
als ließe sich auf dem Felde des Gewerbfleißes, sowie auf andern,
weniger von materiellen Bedingungen abhängigen Gebieten etwas
schnell improvisiren. Allein eben so wenig darf man in Abrede stel¬
len, daß die Regsamkeit des Schutzvereins im Bunde mit dem Fa¬
brikbegründungsverein schon manchen Keim künftiger Gewerböblüte
ausgestreut hat, und die folgenden zehn bis zwanzig Jahre werden,
abgesehen von den günstigen Rückwirkungen auf den Geist der öster¬
reichischen Handelspolitik, die sich zu Concessionen verstehen wird und
bereits verstanden hat, erst in's Licht stellen, was jetzt geschaffen und
gewirkt worden. In manchen Industriezweigen fangen hiesige Erzeu¬
ger bereits an, mit den Wiener Fabrikanten auf fremden Märkten
mit Glück zu concurriren. So versorgten bisher die Möbelnieder¬
lagen in der Kaiserstadt die Donaufürstenthümer mit eleganten Zim-
merfournituren, wozu ihnen die Donau die wohlfeilste Transportart
darbot. Da aus Oesterreich eingewanderte Tischlerhandwerkcr eben
so geschmackvolle und solide Waare zu liefern im Stande sind, so
unternahm es die hiesige Handelsgesellschaft, mehrere Schiffe mit ge¬
prüften Möbelstücken zu befrachten, die in den Fürstenthümern rei¬
ßenden Absatz fanden, so daß die genannte Gesellschaft schnell neue
Lieferungsvcrträge abschließen und sogar den Gedanken fassen konnte,
ihre Speculationen auch auf andere Zweige der zum Theil schon
weit vorgeschrittenen vaterländischen Industrie auszudehnen, die auf
diesen südlichen Märkten vor der österreichischen außer dem Vorsprung
billigerer Erzeugung noch den Vorzug hat, dem Absatzorte bedeutend
näher zu sein und an Frachtkosten zu ersparen.
Da nun einmal die Bewegung begonnen, stellen sich auch hier
und dort gesetzliche Mißstände heraus, welche mit dem neuen, herauf¬
beschworenen Geiste in Widerspruch stehen und deshalb laut nach
Abhilfe rufen. Die Fabrikarbeiter können hier, wie die ganze untere
Volksklasse, die ziemlich rechtlos dasteht, noch immer auf bloßen münd¬
lichen Befehl des Stuhlrichtcrs geprügelt werden, was natürlich nicht
selten sehr willkürlich und auf geringfügigen Anlaß geschieht. Aus¬
ländische Arbeiter, oder Eingeborene, die in der Fremde gelernt und
dabei gesehen haben, wie ganz anders und ehrenvoller die Stellung
der Arbeiter dort sei, wollen sich darum nicht so leicht in einem Lande
niederlassen, wo der Stab des Stuhlrichters wie 'ein Damoklesschwert
beständig über ihrem Haupte schwebt. Um sie zu fesseln, braucht es
jetzt immer ganz besonderer Vortheile und Zusicherungen, die die
einheimische Fabrication wieder um den ursprünglichen Vortheil wohl¬
feiler Productionsbediugungen bringt, um welche es sich hier vor
der Hand ganz vorzugsweise handelt, und selbst dann benutzen sie
den ersten Anlaß, um sich aus Zuständen herauszuwickeln, die ihrem
Ehrgefühl und ihren Sitten so außerordentlich widerstreben. Ein
Arbeiter aus einer im Henthercomitat bestehenden Tuchfabrik hatte
eine solche Strafe erhalten, was zur Folge hatte, daß sämimliche
Arbeiter der Fabrik die Arbeit verließen und sich zur Auswanderung
anschickten. Der Fabrikdirector meldete in den Zeitungen den Vor¬
fall, dessen Veröffentlichung den Nutzen hatte, daß die Behörden sich
der Sache annahmen und das Comitat den Beschluß faßte, auslän¬
dische Arbeiter von dieser Strafart zu befreien. Ueberhaupt wird
noch Manches Noth thun, soll der Kunstfleiß im Lande aufblühen,
denn die Gewohnheiten und die Anschauungen des bisherigen Lebens
haben zu wenig dem Verdienst der Arbeit gehuldigt, als daß so
plötzlich ein radikaler Umschwung aller Meinungen zu erzwecken wäre
Man muß das mechanische Talent, das Genie des Fleißes und di
Glorie der Arbeit mehr und mehr zu würdigen wissen, soll die Fruch
dieser Bemühungen reifen, denn so lange man die schmutzige Han
der Werkstätte, das rußige Gesicht des Maschinisten verächtlich fin
det, kann kein industrieller Aufschwung gedeihen.
Unter den Novitäten der deutschen Bühne müssen wir des Dra¬
mas: „Die Waise von Lucca" von 0r. Wiener erwähnen, welches
sich keines großen Beifalls zu erfreuen hatte, indem diesem Stücke
sowohl höhere Bühnenkenntniß, als auch poetisches Feuer und dra¬
matisches Leben gebricht. Das ungarische Nationaltheater schleppt
sich in einer trostlosen Mittelmäßigkeit dahin und gilt mehr als
Sprechschule, denn als ein würdiges ästhetisches Nationalinstitut.
Graf Nedny leitet seit Bartav's Rücktritt die Geschäfte der Anstalt,
die, wenn sie anders gewissenhaft und mit Einsicht verwaltet wird,
niemals zu Grunde gehen kann, da außer dem reichstäglichen Zu¬
schuß von 15,000 Fi. C.-M. das Theater von dem Adel und dem
magyarischen Publicum zur Genüge unterstützt wird. Allein Herr
Bartay, der frühere Director, verschwelgte die Einkünfte des Instituts,
welche freilich nicht ausreichen wollten, um alle die kostspieligen Sul¬
tanslaunen des Thcaterkönigs zu befriedigen, in dessen Keller nach
erklärter Insolvenz die Pfändungscommission nicht weniger als 2000
Flaschen Champagner vorfand. Die Oper hat durch den Tod des
ehemaligen Hofsängers Binder aus Wien, der als Professor am
Conservatorium angestellt war und die dramatische Gesangschule
leitete, einen herben Verlust erlitten, denn obschon diesem einst be¬
rühmten Künstler alle Mittel fehlten, um als Sänger zu wirken, so
besaß er doch einen Schatz von musikalischen Kenntnissen, welche sei¬
nen Schülern sehr gut zu Statten kamen.
Die Publicistik verzehrt die besten geistigen Kräfte, und den
übrigen Zweigen der Literatur verbleiben wenige bedeutende Talente,
weshalb sie auch keinen sonderlichen Aufschwung gewinnen wollen.
Am übelsten fährt das rein wissenschaftliche Fach, in dem zwar viel
geschrieben wird, aber ohne eigene Forschungen zu Tage zu fördern,
sondern blos im sprachlichen Interesse, das jetzt überall überwic-ge;
die Akademie begnügt sich, alle Jahre lange Listen von wissenschaft¬
lichen Werken zu veröffentlichen, allein man würde sich sehr täuschen,
wollte man in diesen zahlreichen Schriften mehr suchen, als eine
zoologische Sprachgewandung, die für den fremden Gelehrten, der
blos des Inhalts wegen liest, keine Anziehungskraft haben, kann.
Die Belletristik wird gleichfalls ziemlich regsam gepflegt, doch geht
ihre Fruchtbarkeit mehr in die Breite als in die Tiefe. Uebersetzun¬
gen sind hier, wie in Deutschland, sehr an der Tagesordnung; eine
der gelungensten Leistungen auf diesem Gebiete ist die Übertragung
von Tiedge's „Urania" in magyarische Jamben von den beiden Lite-
raten Katona und Jambor.
Das deutsche Zeitungswesen erleidet jetzt große Verwandlungen;
die Buchhandlung Heckcnast Landerer, welche das Verlagsrecht
der neuen Pesther Zeitung besitzt, hat nun auch die Ofener Zeitung
von der Wittwe Näßler angekauft, so daß die politische Journalistik
deutscher Zunge im Mittelpunkte des Landes nunmehr monopolisirt
erscheint, was bei dem Umstände, daß der nächste Landtag wahrschein¬
lich bereits in Pesth abgehalten wird, für eine gute Speculation ge¬
halten werden muß. Dieselbe Buchhandlung hat auch die Conces¬
sion des „posti Iiirl-ij,," der unter der Redaction des bekannten
Journalisten Kossuth einen so gewaltigen Aufschwung genommen und
das gelesenste Blatt Ungarns geworden war. Ökonomische Gründe
bewogen Kossuth, der ein Budget von I8,KV0 Fi. C.-M. jährlich
bezog, mit dem er die Honorare decken und sich selbst bezahlt machen
sollte, zum Rücktritt, worauf die Redaction an Herrn Spalay, einen
gewandten Journalisten, überging, der indeß seinen Vorgänger in
keiner Weise ersetzen konnte. Gegenwärtig soll ein junger Mann
von dreiundzwanzig Jahren, Herr Szegreny, die Redaction dieses
Blattes erhalten, das sich unter solchen Verhältnissen kaum mehr zu
seiner einstigen Bedeutung erheben wird. Die Kunstreirergeftllschaft
der Herren Lejars und Cuzent aus Paris, welche von Wien hier¬
her kamen, machen außerordentliches Glück. Die Theilnahme, die
ihre Leistungen bei Vornehm und Gering finden, hat ihnen die Idee
eingegeben, Pferde und Reiter illustriren zu lassen, und eS ist gar
keinem Zweifel unterworfen, daß dieses pittoreske Album Anklang
finden und einen hübschen Gewinn abwerfen werde.
Cassel — hochverräterische Alterthumsforscher und Gelehrte be«
Häupten, der Name sei von Castel abzuleiten, und ich kann nicht
begreifen, warum man nicht eine solche gelehrte Behauptung von Po¬
lizeiwegen gründlich verbietet, oder wenigstens den kurfürstlichen Post¬
ämtern und Vereinen für hessische Geschichte die Ausgabe solcher un-
patriotischen Hypothesen untersagt. Wer denkt nicht bei dem Namen
unwillkürlich an finstere Mauern, Kerkerketten, bramarbassische Sol¬
dateska, Thorschreiber, Paßvisitationen und dergl.? Und nun mein
liebes, freundliches Cassel, wie es da vor mir liegt mit seinen offenen,
reinlichen Häusern und modernem Steinkohlengeruche, so hübsch bür¬
gerlich und kleinstädtisch an dem Fuldathale gelegen, das eben wieder
aus dem langen Winterschlafe hervorlebt, — dem will man einen so
unheimlichen Namen andichten! — Nein, diese Stadt ist der Friede
selbst, der mit so stillen, träumenden Augen in das Leben dreinschaut,
als gäbe es auf der ganzen Welt nichts als Felsenkeller, Klcinkinder-
bewahrungsanstalten, Liebhabertheater, Symbole und Dominospiele.
Aber es ist auch eine moderne Stadt, dachte ich voll stolzen Vater-
landsgefühlö, als ich so durch die breiten Gassen hinfuhr, auf denen
sich allenthalben eine musterhafte Straßenpolizei bemerkbar machte;
als ich die rollenden Bierfäßer und die eleganten Secondlicutenants
mit den knappen, zierlichen Taillen und ditto Schnurbärtchen an mir
wegeilen sah, und nun gar an dem Gasthofe von einem duftenden
Kellner mit einem gebildeten: „eim-e? s'it vous pi-ut^ empfangen
wurde. — Mit dem Parliren unserer Kellner hat es übrigens nicht
viel zu bedeuten; die Kasseler Hotels können im Gegentheile den be¬
rühmtesten Deutschlands zur Seite gesetzt werden, ja sie mögen leicht die
meisten an Gemüthlichkeit, Billigkeit und reeller Güte noch übertreffen;
sie sind einer der vielen Glanzpunkte unserer Residenz; und wenn einen
auch der Kellner französisch empfängt, so will er hierdurch nur an¬
zeigen, daß er Lebensart versteht; und man wird dafür vom Wirthe
selbst dann mit einem desto biedereren Händedrucke und herzlicheren
Willkommen begrüßt. —
Das erste bekannte Gesicht, das mir aufstieß, als ich kurz nach¬
her durch die Königsstraße schlenderte, war ein alter Universitätsfreund,
der mit bewunderungswürdiger Schnelligkeit Cassclaner geworden war,
wie ich auf den ersten Blick merkte. — Bist Du schon dagewesen,
oder willst Du eben erst hin? rief er mir in athemloser Hast zu. —
Wohin? fragte ich erstaunt. — Wohin? Was Du für Fragen thust,
auf die Parade; ich versichere Dir, sie ist schon angegangen. —
Wie kannst Du aber einem gebildeten Menschen zumuthen, auf die
Parade zu gehn; was soll ich da? — Er blickte mich mit unver-
holenem Mitleid an, als wäre es in meinem Kopfe nicht ganz rich¬
tig; dann sah er sich erschrocken um und betrachtete mich wieder mit
großen, mißtrauischen Augen, als müßte in jedem Augenblicke ein
Stück Hochverrat!) aus meiner Tasche springen. Kopfschüttelnd eilte
er weiter. — Nun Sie gehen aber, als wenn Sie noch viel Zeit
zu verlieren hätten, es ist drei Viertel auf Zwölf; — kommen Sie,
die Garde zieht heute auf mit ihren silbernen Instrumenten und einer
neuen Galopade, die Bochmann selbst componirt hat. So sah ich
mich von neuem angeredet, in den Arm gefaßt und auf den Fried¬
richsplatz gezogen, wo die Wachtparade schon mit klingendem Spiele
aufmarschirt und die fashionable Welt der Residenz versammelt war.
So ist der Cassclaner, er versäumt gar Manches, aber die Parade
versäumt er nicht. Sowie der Berliner für seinen Thiergarten, sei¬
nen Corso und sein eignes, höchst witziges Ich schwärmt, der Wiener
sür seinen Prater und sein Leopoldstädtertheater, so schwärmt der Cas¬
sclaner für seine Parade, in ihr liegt sein Witz und sein Kunstge¬
nuß, die Bochmann'schen Galopadcn sind seine Marseillaisen, der
Fricdrichsplatz ist der Mittelpunkt seines socialen und öffentlichen Lebens.
Hier werden die gewöhnlichen Rendezvous gegeben, hier treffen sich
Fremde und Einheimische, begrüßen sich, nehmen Abschied, verabreden
sür den Tag, bewundern die wohl disciplinirte Armee und lauschen
auf die heiteren Töne der Kriegsmusik. Wer sollte da nicht von der
Schwärmerei angesteckt, wer sollte da nicht begeistert werden, wenn
er all' die bunten Uniformen, die glänzenden EpaulctS der vielen
schmucken Officiere so vor sich steht, und all' die unverwandten Au¬
gen meiner Casselanerinnen mit dem feinen Teint und den schönen,
blassen Gestchtchen? Und nun die meisterhaften Schwenkungen, die
erstaunenswerthen Künste des Tambourmajors, dann athemlose Stille,
die Officiers bilden einen Kreis, die Parole wird gegeben, blanke
Schwerter blitzen, Plötzlich das schmetternde Fanfare — Hurrcch!
Franzos komm heran! —
Aber der Friedrichsplatz ist noch mehr für den Casselaner, er
ist auch seine Geschichte. Alle die denkwürdigen Ereignisse, welche
ven Herrn Hofrath Nicmeicr zu den bekannten Festgedichten begei¬
stern, treffen hier, wie in ihrem Brennpunkte, zusammen. Z. B. das
große Faß, welches neulich auf der Eisdecke der Fulda gebaut wor¬
den, wurde in glänzendem Festzuge, — die wackeren Küfer voran
und hinterher der jauchzende Patriotismus der zahllosen Bürger und
Bürgerinnen — auf den Friedrichsplatz gebracht, und hier von Sr.
Königlichen Hoheit selbst mit herablassenden Worten und klingendem
Danke in Empfang genommen. — Das war ein Fest! Und als im
Jahre 183V die Julikanonen bis zu den Mauern der Kurhessischen
Residenz drangen, und ihre Bewohner aus dem langen Schlafe auf¬
schreckten, kamen alle unwillkürlich zusammen auf dem Friedrichs¬
platze. Hier sahen sie sich erstaunt an, riefen sich den Guten Morgen
zu, und rieben den Schlaf aus den Augen; hier wurde der 15. Sep¬
tember gespielt, jener unvergeßliche Tag, an welchem der große, ein¬
fache Mann, mit dem ruhigen Blicke und dem bescheidenen, höflichen
Lächeln, an der Spitze deö Bürgerausschusses mit ehrerbietigem, doch
festem Schritte vor seinen Fürsten trat, und den Revers Zur Unter¬
schrift überreichte, während draußen die Tausende ihm zujauchzten,
jedoch auf seinen Wink verstummten und mit ängstlicher Spannung
auf das Zeichen harrten, das ihnen die Losung sein sollte zu bluti¬
gem Kampfe oder zu dankerfüllter Freude; hier erschallte das endlose
Jubelgeschrei, als endlich das weiße Tuch aus dem Fenster flatterte,
das Kurhessen seine Constitution und dem Kiefermeister Herbold, —
so hieß der Friedens- und Freiheitsbote — einen so enormen Absatz
von patriotischen Eimern einbrachte, die noch jetzt in manchen Familien
als heilige Reliquien aufbewahrt werden. Dieser Tag ging ohne
Festgedicht aus, und war doch wohl eben so viel werth, als das „große
Faß." Nun die Geschmäcke sind verschieden, und die Casselaner haben
während der Zeit, namentlich nachdem sie vor vier Jahren ihren Ober¬
bürgermeister Schönburg zu Grabe geleitet, manches verlernt, so auch
das Wählen. Da haben sie jahrelang debattirt und gewählt, und
es wollte immer kein Bürgermeister herauskommen, sie begingen die
unverzeihlichsten Mißgriffe, lenkten sogar ihre Wahl auf Wippermann
und dergleichen ungeeignete Individuen, die aber natürlich eben des¬
halb von ver Regierung keine Bestätigung erhielten, — bis sie dann
endlich in der Person des Obergcrichtsrathes A..... den richtigen
Mann trafen, welcher sofort in Anerkennung seiner vergangenen und
zukünftigen Verdienste mit dem Titel Regierungsrath decorirt wurde
und ein entsetzlich gelehrter Jurist sein soll, der seinen erstaunten Mit¬
bürgern das cui-s»»8 juris vordemonstrirt, daß es eine Art hat. Keh¬
ren wir zum Friedrichsplatze zurück, hier steht die colossale Statue
des Landgrafen Friedrich und mahnt an die Vergangenheit, hier wer¬
den die Rekruten jeden Morgen cinererzirt und mit lehrreichen Rip¬
penstößen versehn, hier prangt das Author, und mahnt an die Pro¬
pyläen, wie Dir jener classische Secundaner, der mit langem Haare
und offener Brust die Burschenschaft einstweilen einübt, weitläufiger
darlegei: kann, hier erblickst Du die beiden Palais, das Museum,
die katholische Kirche und all' die großen Häuser, gegenüber die be¬
rühmten Conditoreien von Wolter und Löffel, unsterblich durch den
zeitweiligen Aufenthalt unseres Hessischen Dichters Dingelstedt, der
jetzt so vornehm geworden ist und an seine guten Casselaner nicht
mehr denkt, die ihn alle so gern hatten. Auf diesem Platze kann
man außerordentlich viel sehen, viel Altes und Neues. —
Auch einige Blicke auf das Theater kann man hier werfen. Un¬
ser Musentempel gewährt, wie fast alle Theatergebäude, von außen
den Anblick eines großen Käfigs, in welchem die Kunst eingesperrt
ihr einsames Leben vertrauert. Zur Vorsorge ist auch noch ein Po¬
sten davor gestellt, damit nicht etwa der Genius des Fiesco und des
Masaniello gesetzloser Weise seinem Kerker entschlüpfe und Verschwö¬
rungen anzettle, oder Don Juan einen unbewachten Augenblick be¬
nutze, um in anständige Bürgerfamilien einzudringen und dero ehr¬
bare Töchter zu entführen. Diese erclusive Stellung dem wirklichen
Leben gegenüber mag wohl mehr oder weniger den meisten Hofbüh-
nen eigen sein, gewiß aber keiner in einem höheren Grade, als der
Casselschen. Man geht in's Theater, wie man etwa auch einma
ein Raritätencabinet oder einen Maskenball besucht, aber daß man
Von dem, was man da sieht und hört, etwas mit nach Hause neh¬
men, an Lebenszustände anknüpfen könnte, daran denkt Niemand. Die
letzte Vorstellung, der ich beiwohnte, war Halm's thränemeiche Grisel-
dis. Während Madame Ahrens als Griseldis ihrer Rolle wirklich eine
höhere Tragik abzugewinnen suchte, rief mein Nachbar, den ich seiner
behaglichen Corpulenz halber für einen ehrlichen Bierbrauer hielt, ge¬
rade bei der ergreifendsten Scene: Wie die sich verstellen kann! (näm¬
lich die Madame Ahrens) und um zu beweisen, wie sehr Verstellung
eines freien Mannes und Bierbrauers unwürdig sei, gähnte er mit
der lautesten Aufrichtigkeit. Das nenne ich Kritik! — So findet man
einen eigentlichen TheaterenthusiaSmus selbst in den höheren Stän¬
den nicht, auch diese scheinen mir mehr Anstandes halber, als aus
wahrer Herzensüberzeugung Sympathien für die Bühne zu zeigen,
und es ist daher ein wahres Glück, daß es die musterhaften Leih¬
bibliotheken unserer Hauptstadt nicht verschmähen, ihren Bildungssegen
bis zum abgelegensten Dachstübchen einer gefühlvollen Nähterin und
bis zum einsamsten Herzen einer resignirenden Liebhabcractrice, die be¬
reits stark in der zweiten Hälfte der Zwanziger steht, auszustreuen —
sonst würden wenig Thränen in unserem Theater fließen. „Ja, wie
Seydelmann und Wild noch hier waren, da war eine andere Zeit," sagt
der eigensinnige Casselancr, der durchaus für die Vorzüge der Gegen¬
wart blind ist. Louis Spohr, — daS ist allerdings eine Name der
Gegenwart, vor dem sich Jeder, auch der stömgste und materiellste
Spießbürger — denn Spießbürger sind wir Hessen alle — mit ach¬
tungsvoller Ehrfurcht beugt; daß aber diese Huldigung so recht aus
herzlicher Zuneigung, aus wechselseitigen Vertrauen hervorginge, wäre
wohl eine sehr gewagte Behauptung. Er steht vielmehr den Cassela-
nern und ihrer beschränkten geselligen Gemüthlichkeit fern, zieht sich
in aristokratisches Dunkel zurück, und erregt wohl Bewunderung, aber
kein Zutrauen, keine Liebe. Ueberhaupt darf man sich unter Spohr,
wie das auffallender Weise die herrschende Ansicht von seiner Per¬
sönlichkeit auswärts zu sein scheint, nicht einen gemüthlichen, melodien¬
träumenden Sänger denken, voll zarter Jessondalieder und elegischer
Faustarien; — im Gegentheile beurkundet er in seinem ganzen Auf¬
treten, schon in der imposanten äußeren Erscheinung ein unzweiftl-
Haftes Selbstgefühl, ein durchgebildetes, nicht sehr nachsichtsvolles
Kunstbewußtsein. —
Wenn ich nur wüßte, weshalb man den unförmlichen Her¬
kules da auf den felsigen Gipfel des Habichtswaldes gesetzt hätte?
Diese Frage warf ich mir gar oft als Knabe auf, aber ich konnte
immer keine genügende Erklärung finden. Und doch ist mir so gar
manches erklärbar, was meinen Landsleuten dunkel bleibt. So bin
ich gewiß einer der ersten Hessen gewesen, der die Zweckmäßigkeit
und Bedeutung der hoben Verfügung, wonach dem Polizeiperso¬
nale anbefohlen wurde, statt feuerrother Aufschläge carmoisinrothe in
Zukunft zu rragen, richtig erkannte und würdigte. Eigentlich habe ich's
auch, wenn ich die Wahrheit gestehen soll, den Herren recht gegönnt,
die sich bereits so mausig machten und sich gern unseren schönen
Militairs iventisicirt hätten; hieraus entstanden denn die anstößigsten
Verwechslungen, ja es soll vorgekommen sein, daß Mancher gera¬
dezu in seiner heillosen Verblendung zu Polizcibediensteten von Thee¬
gesellschaften gesprochen, während er sich an einen Gardelieutenant in
Paßangelegenheiten wandte: — da Plötzlich, „ein Donnerschlag aus
heitrem Himmel," erscheint jene Cabinetsordre, und aus ist es mit
der Polizei, — erschrecke nicht, ordnungsliebender Leser — d. h.
mit ihren Militairprätensionen, herunter müssen die feuerrothen Kra¬
gen , und herauf die carmoisinrothen. Ich lachte mir in'ö Fäustchen,
wenn ich unseren Polizeiwachtmeister in W. (einem Städtchen in der
Nähe der Residenz), der noch außerdem einen gesetzlosen Schurbart
trug und mit dem ich einen immerwährenden Cigarrenkrieg auszu-
fechten hatte, — dann später so glatt wie ein neugebornes Kind und
mit den bescheidenen Carmoistnaufschlägcn kleinlaut um die Straßen¬
ecken schleichen sah. Doch was den Herkules, den die unmytholo¬
gischen Casselaner großen Christoph und je mich dem Bildungs¬
stadium -Stöpsel nennen, betrifft, so konnte ich mir von frühester
Kindheit an lange Zeit die Gründe seiner staatsrechtlichen Existenz,
da oben auf dem Gipfel des Habichtswaldes nicht klar machen, und
ich dachte gar oft darüber nach, wenn ich durch die Wilhelmshöher
Allee ging, und den großen Heiden so unverrückt vor Augen hatte.
Da mich die Sache wirklich beängstigte, so bat ich eines Tages ei¬
nen Mann, auf den ich das größte Vertrauen setzte, um Aufschluß.
Zwar etwas -verwundert über meine Unwissenheit, aber doch bereit-
willig erklärte mir der Schneidermeister G., mit dem ich eine intime
Freundschaft geschlossen hatte, weil er mir so prachtvolle Husaren¬
habits machte- „Der Herkules ist das Sinnbild ver Kurhessischen
Kraft, und die Kurhessische Kraft ist die Constitution." Gut, —
nun wußte ich's. Aber später stiegen doch wieder gerechte Zweifel
in mir auf. Lieber Himmel, dachte ich, was der Mann nur für
einen Begriff von Sinnbild und Kraft haben mag, der Herkules ist
ja so alt und baufällig, daß selbst der kühnste Gamin nicht mehr
bis in seine Keule vordringen kann, ohne seinen Hals zu riskiren.
Auch heute, wo ich denselben Weg machte, traten all' meine kindi¬
schen Bedenken wieder vor mich, und die „Kurhessische Kraft" schaute
auch so düster und melancholisch zu mir herüber, als wäre sie von
trüben Ahnungen einer ruhmlosen Zukunft erfüllt. Gräßlich, wenn
sie plötzlich zusammenstürzte, während du in der Fremde bist! Was
für unglauliches Unheil konnte daraus entstehen? Setzen wir ein¬
mal den Fall, das Malheur p>issirte just in der Nacht vom ersten
auf den zweiten Pfingsttcig. Der Morgen erscheint, „heiter strahlt die
Sonne-aus unbewölkter Lüften," aus der Nähe und Feine rollen
die Equipagen herbei, heraus steigen die geputzten Herren und Da¬
men, welche alle Wilhelmshöhe genießen wollen, und sich auf die¬
sen Tag schon Monate lang gefreut haben, die ersten freundlichen
Begrüßungen und obligaten Wetterhypothcsen sind vorüber, und man
will nun einen ernstlichen Anfang machen mit dem Amüsement. In
dieser Absicht wenden sich also Aller Augen nach dem Herkules —
wer malt das Erstannen und Entsetzen? da liegt die Kurhessische
Kraft und das Zweiten-Pfingsttag-Amüsement in Trümmern, ge¬
täuscht und erschrocken besteigen Alle wieder ihre Wagen, fahren ei¬
ligst zurück, und der Herr Gastwirth Bickell ist um die Table d'Hüte
geprellt. —
Im Winter ist's in Cassel gar einsam und still; zwar mangelt
es nicht an geschlossenen Gesellschaften, in denen man außer Gesell¬
schaftsspielen, Maskenbällen, Liebhabertheatem und schönen Cassel-
anerinnen auch die Mannheimer Abendzeitung finden würde, wenn
sie nicht zufällig verboten wäre, aber doch ist's einsam und still. Die
eigentliche Saison beginnt erst mit Eröffnung der Felsenkeller, die
bekanntlich in der modernen Weltgeschichte eine so große Rolle spielen
und namentlich in Cassel auch ihre poetische Bedeutung haben, da hoch
über dem Dufte deS FuldathaleS und der fernen blauen Berge. Das
denkwürdigste Ereigniß aus den Annalen der Winterklubs, die Selbst-
entleibung des allgemein geachteten Casinovorstehers, hat eine nach¬
haltige, verstimmende Wirkung auf die Geselligkeit geäußert, die sonst
hier an so ernster Tragik eben keinen Gefallen findet. Wenn man
übrigens in Ermangelung jedes andern Grundes dem unglücklichen
Direcror nachgesagt und nachgeschrieben hat, er habe sich in Ver¬
zweiflung darüber, weil die jungen Herren nicht ordentlich hätten
tanzen wollen, das Leben genommen; so halte ich das, offen gesagt,
sür böswillige Verleumdung; als wenn es nicht noch andere Dinge
in Cassel gäbe, über die ein anständiger Mensch in die Fulda sprin¬
gen könnte, als die Tanzsaumseligkeit der jungen Lassen? Zum Bei¬
spiel hier das Ständehaus (zwischen diesen beiden Sätzen liegt
ein Gedankensprung, ich hatte mich mittlerweile in die Wunder der
Kurhessischcn Baukunst vertieft) hat dem Lande so viel Geld ge¬
kostet, und ist so schmal und verbaut; aber dazu können unsere Her¬
ren Deputaten nichts, sondern es fällt lediglich dem Baumeister zur
Last. Die grimmigen Radikalen behaupten, der Kerl habe es aus
Malice auf die Verfassung gethan; doch wir Andern, die mit den
„guten Herzen," glauben: der arme Mann hat es nicht besser ver¬
standen. —
Jetzt ergriff mich die nöthige Wehmuth, der Wagen stand schon
vor dein Hotel, der mich sür lange Zeit von meinem kurhessischen
Vaterlande entfernen sollte; stürmischer Abschied von den umstehenden
Freunden, ich steige ein, und dort geht es hin, immer zum Leipziger
Thore hinaus. Noch einmal muß ich mich umwenden, da liegt
die stille Stadt, lind dort steht der „große Christoph" wie ein ver¬
unglücktes Ausrufungszeichen über Cassel, seiner Parade, seinein
Theater und seinem Ständehause. — Ein schöner Tag heute, man
wird die Fclsenkellcr bald eröffnen können!
Vielleicht trägt die ungebührliche Hitze Schuld, daß an unserm
Geldmarkt das Baare so trübselig zusammengeschmolzen ist. Wohin
man horcht, gibt's Klagen in einer Erläuterungssauce. Rußland
entführte aus der Bank starke Massen Silberbarren, welche dort oben
sehr „angenehm" waren, wie das kaufmännische Lexikon sagt; die
Wollmärkte haben viel Geld absorbirt; beträchtliche Einzahlungen für
die neuconcessionirten Eisenbahnen trafen unerwartet zusammen; das
jetzt sehr starke Colonialwaarcngeschäft und die Einwirkung des Papiers
der Feuerkassenanleihe sind ebenfalls Ursachen, wodurch die ungünstigen
Geldconjuncturen herbeigeführt wurden. Uebrigens hält dergleichen nie
lange Stand. Hamburgs merkantilische Kraft ist gigantisch; sie spielt
mit Hindernissen, sie hat tausend Hilfsmittel, um jede Ungunst des
Augenblicks paralysiren zu können. Daher hatte auch die jetzige Geld¬
noth noch keine merklich ungünstige Folgen und bald wird Alles wieder
im rechten Gleise sein. — Die Anmeldungen zum Bürgerwerden häu¬
fen sich ungemein. Die alte Hansestadt mit den theilweise neuen Glie¬
dern entwickelt fortwährend die größte Anziehungskraft. Neben dem
modernen Schwindel ist doch auch noch ein gut Stück der alten
Solidität bemerkbar, und je mehr der jetzige Zustand des Werdens
und Gebärens dem der vollendeten Entwicklung und neugewonnenen
Festigkeit weichen wird, um so mehr werden wir hoffentlich auch in
die alte, gute Bahn wieder einlenken. Ich berichtete schon früher
einmal, daß Hamburgs colossaler Aufschwung mitbedingt gewesen sei
von der Leichtigkeit, mit welcher sich jeder unbescholtene Mann hier
niederlassen und seine Geschäfte treiben könnte. Den alten urkräftiger
Hamburger Bürgereid glaube ich heute ohne eine Profanation zu be¬
gehen, hier mittheilen zu dürfen. Er lautet: „Ick lowe (gelobe) und
schwöre tho Gott dem Allmächtigen, dat ick büßen Radde und düßer
Stadt will ttuw (treu) und hold wesen (sein), Eer Bestes holen und
Schaden affwenden, aise (in dem Maße wie) ick beste kan und mag,
ock neuen Uxsaet wedder düssen Radde und düsser Stadt maken, mit
Worden otter Wercken, und offt ick wat erfahren, dat wedder büssen
Radde und düsser Stadt were, dat ick dat gerrüwlick will vermelden.
Ick will ock mun Jährlickes Schott, inglicken Törkenstüer, Tholaye,
Tollen, Accise, Matten und wat fünften twischen Einem Ehrb. RaKde
und der Erbgesetenen Börgerschag belewet und bewilligt wend, gctrüw
und umwiegerlick by myner Wctenspox, entrichten und bethalen. Alse
my Gott Helge und eyn billiges Wort!"
Der Bürgereid führt mich zur Bürgerschaft. Seit geraumer Zeit
hat keine Versammlung unserer Erbgesessenen Statt gesunden. Zu
der nächsten glaubt man, werde die Präposition einer neuen Staatsan¬
leihe vorgelegt werden. Das Gerücht von einer solchen erhält sich
nämlich immer mehr. Thatsache ist, daß die im Jahre 1842 contra-
hirte von 32 Millionen in Folge der großartigen Staatsbauten —
das Rathhaus, die Bank, das Waisenhaus u. a. in. wurden noch
gar nicht in Angriff genommen — bei Weitem nicht hinreicht, um
die in Folge des Brandes nothwendig gewordenen außerordentlichen
Ausgaben zu decken. Entweder abermalige Erhöhung der Abgaben
und Steuern — was aus verschiedenen Gründen nicht wahrscheinlich —
oder eine neue Anleihe; schwerlich wird es einen anderen Ausweg ge¬
ben. Auch ist man auf letztere im hiesigen Publicum schon allgemein
vorbereitet.
Die Sache der Altlutheraner, welche in einem ehemaligen Stalle
ihre gottesdienstlichen Versammlungen halten sollen, scheint einer gün¬
stigeren Wendung entgegenzugehen. Die Strenge der Behörden gegen
diese neue Secte hat etwas nachgelassen. Es soll ihren Vorstehern die
Versicherung gegeben sein, daß die genommenen strengen Maaßregeln
sich nicht mehr erneuern würden. — Eine deutsch-katholische Gemeinde
hat sich hier, mehrfacher öffentlicher Anregung ungeachtet, nicht gebildet.
Freilich haben zu den hier veranstalteten Sammlungen für die deutsch-
katholische Gemeinde zu Breslau auch Katholiken beigesteuert, indessen
allen Versuchen, die entschiedene Manifestation eines gleichlautenden
Bekenntnisses herbeizuführen, hat ein passives Verhalten geantwortet.
Dazu trug allerdings wesentlich die vielfache Mischung unseres katho¬
lischen Elements mit dem zu unverhältnißmäßig überwiegenden prote¬
stantischen bei; ferner das kluge Benehmen der hiesigen katholischen Geist¬
lichen, welche den Abfall vom bisherigen Ritus nicht, wie es z. B. in
Braunschweig geschehen, durch gegebene Aergernisse und Ueberschreiten
der Amtsgewalt geradezu herausforderten.
Auf theatralischen Gebiete macht Carl Laroche von Wien, an
der Thaliabühne'gastirend, unbedingtes Furore.' Die heiße Sommer-
zeit und die Abspannung, welche nach dem kaum beendeten Gastspiele
der Hagn an demselben Theater eingetreten, hat zwar den beiden ersten
Vorstellungen jenes berühmten Mimen noch kein gefülltes Haus ver¬
schafft, aber ich glaube, wünsche und hoffe, daß auch Laroche, wie die
Hagn in der zweiten Hälfte ihres Gastspiels, die heiteren Räume,
welche, trotz aller gerechten oder ungerechten kritischen Donnerwetter,
noch immer nicht einstürzen wollen, bei jedesmaligem Auftreten noch
gedrängt voll sehen wird. Das ist ein Künstler — die Mütze oder
den Hut gezogen vor dem Manne! Er wurde schon nach seinem
ersten Auftreten (Eapitain Cobridge und armer Poet) als die größte
künstlerische Erscheinung anerkannt, die seit Jahren auf dem Gebiete
des Schauspiels in Hamburg gewirkt. Laroche hat hier alle Herzen
wunderbar erschüttert in den ersten Rollen, und als Geheimerath See¬
ger in Iffland's „Erinnerung" wiederum Alles in eine jubelnde Stim¬
mung versetzt. Dieser Künstler gebietet über Lachen und Weinen des
Zuschauers durch eine Tonbeugung, durch eine Bewegung, ohne irgend
etwas zu sorciren. — Die recht tüchtige Gesellschaft italienischer Opern-
sanger hat am Stadttheater schlechte Geschäfte gemacht. Unsere beiden
Bühnen speculiren (nothgedrungen) fortwährend; merkantilische Be¬
zeichnungen sind daher die passendsten für ihre Spenden. Heute tritt
Leopoldine Tuczeck als Nachtwandlerin auf und morgen die Enghaus
von Wien als — Jungfrau von Orleans. Sie findet hier vor¬
weg die alte allgemeine Gunst.— Baison ist von Berlin zurück und
bleibt, trotz seines dortigen, so glänzend ausgefallenen neuen Gastspiels,
der Unsrige. Ein solcher Verlust wäre auch ein höchst trauriger Schlag
für unser noch immer sehr lahmes Schauspiel. Baison und Grunerr
sind die einzigen namhaften Stützen desselben. Uebrigens ist Ergäw
„Wo nicht ist Mangel und Noth, geht auch die Kunst nicht
nach Brot." Nicht besser als auf Braunschweig ist dieses Sprich¬
wort passend. Dort wird die Kunst so anerkannt, wie irgendwo
n Deutschland. Vor Allem ist dies unserm kunstsinnigen Fürsten
zu danken, sein Interesse für alle Kunstwerke hat viele erste Künst¬
ler hier gefesselt und die Braunschweiger selbst zur regen Theilnahme
an der Kunst geführt. Es ist dies wenig bekannt. Man weiß
nicht, wie in den ersten Kreisen, den vornehmsten Airkeln praktisch in
dieselbe eingegriffen wird, wie die höchststehenden Personen die Oeffent»
licht-it nicht scheuen, wo es die Ehre der Kunst gilt, (!) und wie
der Kunstdilettantismus in der Musik zur Virtuosenschaft gestiegen
ist, — Warum weiß man das nicht? — Liegt Braunschweig etwa
auf einer Oase? — Nein, es ist mit eisernen Banden zum raschesten
Fluge nach den größten Städten im Süden und Norden gefesselt!
— Ist Braunschweig an und für sich unbedeutend, vielleicht eine
Winkelstadt? ^ Nein, es ist der letzten Welsen Residenz, eine Haupt¬
stadt mit 370VV Seelen. — Woher kommt es denn, daß seine Kunst-
großen so wenig bekannt sind, daß man von dem Lande wie von
Utopien redet, und man erstaunt, bringt eine Zeitung von hier einen
Artikel? — Einzig und allein daher, daß es kein literarisches, politi-
tisches, sociales, publicistisches noch industrielles Organ hat.*) Das
ist die Ursache, weshalb all' seine Größe und seine Größen in sich
selbst leben, sterben, außerhalb unbeachtet, unbekannt. — Alles, was
es täglich literarisch producirt, ist unsre Wurstzeitung, ein ganzer
Druckbogen materieller und amtlicher Neuigkeiten, allsonnabendlich mit
einem Schleppwagen dran, Magazin genannt, das seit 175,4 auf den
alten Rädern fortrollt. Doch nicht weiter (?) vom Negativen und
Gebrechlichen! Was bietet Braunschweig denn nun wirklich?
Den ersten Rang nimmt die Musik ein.
Das Theater, beschützt vom Herzoge mit Freigebigkeit und dem
liebenswürdigsten Interesse, zählt zu Mitgliedern: Madame Fischer-
Achten, Methfefsel, Höfler-Mizo als Sängerinnen, Schwezer, als
erster Tenor und tüchtiger, sachkundiger Regisseur, Bock, Baryto¬
nist, ebenfalls Regisseur, Fischer, Bassist, und Rußmeier; im Schau¬
spiel die Damen Größer, Schütz, Kellet und Kerckhoven, die Herren
Gaßmann, Kellet, bekannt als dramatischer Schriftsteller, seul,
Höfler, Berche und Schütz. In der Hofcapelle: Gebrüder Müller,
das bekannte Quartett, Leibrock,/ Gebrüder Jinkeisen, Hohnstock,
Schmidt, tüchtiger Contrabassist, Iizold und Trctbar. Als Eomvo-
nist verdient ehrenvoll Erwähnung: Louis Köhler, Schüler von Sey-
ftied, der Tonsetzer der rühmlichst bekannten und berüchtigten Oper
„Maria Dolores oder der Meineid," Text von Friedrich Schmezer.
Neben der lieblichen Erscheinung der Solotänzerin Wände interesstren
die Damen Granzow und Millitz, durch Schönheit und Grazie gleich
ausgezeichnet. **)
In der Malerei begegnen wir dein Gcnrecomponisten Schröder,
dessen aus dem Leben gegriffene, Humor athmende Werke in Lithogra«
phim in ganz Deutschland bekannt sind, namentlich sein „Verlorner
Solo", — d'em Landschafter Brandes, dem Historienmaler Teichs,
dem Blumenmaler Ell, dessen Stillleben eben so wahr als zart und
vollendet sind, und dem Portraitmaler Adolph Barthel, von dessen
tresslichen Werken man sagen muß, sie sind das Ideal der Wirklich¬
keit. Und ich glaube darin hat Barthel seine Kunst richtig aufgefaßt:
Der Maler soll sein von der Natur ihm geliehenes Model! in der
höchsten Vollendung der Kunst wiedergeben. Ganz besonders zeichnet
sich aus die vom Künstler für unsern Herzog gefertigte Gemälde-
gallerie von Mitgliedern der Hofbühne in ihren vorzüglichsten Rollen
in ganzer Figur dargestellt, die sich im fürstlichen Palais befindet.
Neben Barthel muß Tunica genannt werden, dessen Portraits sehr
ähnlich sind, aber zu scharf und roth im Colorir. Meistens ist er
groß im Kleinen, d. h. Kleidung, Schmuck :c. führt er zu sehr aus.
Portrait-Kreidezeichnungen in allen möglichen Manieren schafft Louis
Buchheister sowohl in Auffassung als Ausführung vollendet. —
Die Baukunst hat ihren Vertreter, Ottmer, der Erbauer des
neuen Schauspielhauses in Berlin, des Residenzschlosses und der Jn-
fantericcaserne in Braunschweig, leider durch den Tod verloren. Seine
hiesigen Bauwerke allein werden den Ruhm seines Namens erhalten.
Vor vielen andern zeichnet sich auch noch die von ihm gebaute Wil¬
helmburg bei Braunschweig aus, deren äußere und innere Einrichtung
ein wahres Prachtwerk ist.
Merkwürdige Bauwerke aus dem Mittelalter sind die Laube am
Rathhause, das Altstadtrathhaus selbst, der Brunnen daselbst mit drei
über einander stehenden großen Becken und in den Kirchen viele Epi¬
taphien und Kanzeln mit dem herrlichsten Schnitzwerk. Wir sind an
derlei Ueberreste aus dem mittelalterlichen Leben ziemlich reich, aber
dieses Reichthums nicht würdig, denn diese Schätze der Vergangen¬
heit werden wenig beachtet und an's Licht des Tages gebracht. Die
einzige Corporation, die sich um die Archivsammlungen aus jener
Zeit verdient macht, ist der Stadtrath, namentlich der Stadtdircctor
Bode, ein Mann, reich an Erfahrungen, voll Interesse für das
Alterthum, ruhig prüfenden Blicks, also ganz zum Forschen geeignet.
— Um die Auffindung und Aufbewahrung mittelalterlicher Andenken,
auch als vaterländischer Schriftsteller zeichnet sich der rühmlichst be¬
kannte Friedrich von Vechelde aus. Anerkannte Musikkundige und
Kritiker sind die Professoren Gricpenkerl, Vater und Sohn, tüchtige
Kunstkenner und Kunstrichter überhaupt Dr. Carl Schiller und Dr.
Schröder, letzterer namentlich auf dem Gebiete der Archäologie. —
seine nicht gar lange erschienene kritische Abhandlung über die Büsten
des Demosthenes ist in der ersten Auslage vergriffen.
Am 31. Juni stand in den Breslauer Zeitungen: „Sr. Majestät
der König haben allergnädigst geruht, den Oberpräsidenten der Pro¬
vinz Schlesien, Wirklichen Geheimen Rath von Merckel auf sein An¬
suchen in den Ruhestand treten zu lassen, und das dadurch erledigte
Oberpräsidium dem bisherigen Oberpräsidenten der Provinz Sachsen,
von WedeU, zu übertragen." — Wenn wir dieses vor vier Jahren
in den Zeitungen gelesen Härten, wo die eingesargte deutsche Hoffnung,
gleich dem Jünglinge im Evangelium, aus das Gebot eines messia-
nischen Herrschers aufstand und wandelte, so hätten wir den Zurück¬
tritt Merckels nicht betrauert. In unsern jetzigen Verhältnissen jedoch
wird auch diese Kunde zur Hiobspost. Merckel war trotz seines vor¬
gerückten Alters unter gegenwärtigen Umständen einer der besten der
preußischen Beamten. Im Anblick so vieler krausen Dinge war die
alte Energie wieder in ihm aufgewacht, und namentlich wo die Fröm¬
melei ihr Haupt erheben wollte, war er ganz der rationell gebildete,
kräftige Geist. Hier glaubt man allgemein, daß sein Rücktritt unter
denselben Umstanden erfolgt sei, wie der des Herrn v. Schön, — keine
eigentliche Entlassung, aber immer doch eine Entlassung, natürlich
mit Ehren, da man in Ehren gedient hat. Die Schlösfelsche Ange¬
legenheit und das geheim-polizeiliche Debüt des Herrn Stieber als
„Riebezahl" wird als nächste Ursache genannt. Herr v. Merckel soll
in Berlin angefragt haben: „Bin ich noch Oberpräsident, ober bin
ich «s nicht?" Und siehe da! er war es nicht mehr. Der schwarze
Adler kam geflogen und umkreiste fächelnd und lindernd das graue
Haupt. In welchem Geiste der Nachfolger des Herrn v. Merckel, Herr
v. Wedell, wirken wird, läßt sich jetzt noch kaum sagen. Die erste
Amtshandlung bewies, daß er ein Freund des freien Protestantismus
ist. Eine von mehreren Hundert Bürgern der Stadt Breslau unter¬
zeichneter Protest gegen die immer kecker Hervortretenten Bestrebungen
der protegirten pietistischen Partei konnte bei dem Censor die Erlaub¬
niß zum Drucke nicht erhalten. Herr von Wedell ertheilte sie ohne
Zögern. Könnten wir hiernach doch auf seine Neigung sür die freiere
Presse überhaupt schließen! —
Unter allen schlesischen Bädern ist Warmbrunn in diesem Jahre
am wenigsten besucht. Es kamen einige Gäste, sie reisten aber auch
wieder ab, denn sie fanden dort einen kleinen Mann mit einem frap¬
panten Gesicht, der sehr freundlich und zuthunlich, wie die Schlesier
sagen, sich nach den Familienverhältnissen der Fremden erkundigte.
Stieber hieß der Mann. Der Besitzer des Bades ist innerlich sehr
ungehalten über den Störenfried, will aber nicht das Gastrecht ver¬
letzen. Die trauernde Najade hat sich deshalb an die Bauern des
Hirschberger Thales gewendet: diese sollen ihren alten Ruf retten.
Der Eammeral-Director, Herr v. Berger, hat nämlich in Berück¬
sichtigung der schwülen Atmosphäre, die sich über der wunderlieblicher
Gegend niedergelassen, eine Anzahl Gcrichtsschulzen und Bauern nach
Warmbrunn gerufen, und sie dort von der Nothwendigkeit einer an
des Königs Majestät zu richtenden Adresse zu überzeugen gesucht. In
dieser Adresse wurde das tiefste Bedauern seitens der bäuerlichen Be¬
sitzer über die im Thale entdeckte kommunistische Verschwörung ausge¬
sprochen, und Se. Majestät allerunterthänigst gebeten, dem Thale die
bisher geschenkte Huld und Gnade wegen solcher Gräuel nicht zu ent¬
ziehen. Einige Schulzen reisten dann mit der Adresse nach Berlin.
Man hat gesagt, Herr Stieber sei etwas Geheimes. Das ist nicht
wahr. Er ist der offenste Mensch von der Welt und erzählt mit
einer so unendlichen Naivetät seine Thaten, wie ein Ritter des Mit-
telalters die Abenteuer im Orient. Wie er den Schlosse! gefangen
genommen und ihn ausgeliefert, bildet das Proömium des Epos. Als
Episode folgt sodann eine im lyrischen Schwunge gehaltene Apostrophe
an die durch gewisse alberne, höchst unpraktische Theorieen bethörte
Menschheit, die mit dem Kopf durch die Wand rennen und Thron
und Altar umstürzen möchte. Von hier aus geht er aus seine frühere
Wirksamkeit zurück, aus die Rencontres mit Berliner Spitzbuben und
den demagogischen Lästerern in der Conditorei bei Stehelv. Kurz er¬
wähnt wird die magische Kraft einer Medaille, die er bei sich trage,
jetzt folgt eine sehr delicate Materie, nämlich die Erzählung von ge¬
wissen Berliner Amazonen, und wie diese als Hilfstruppen bei einem
Streifzuge auf Gauner und Verbrecher aller Art benutzt werden. Ha¬
ben wir Jemand in Verdacht, so schicken wir ihm eine weibliche
Schönheit als Inquisitor — und es ist sehr selten, daß der Sünder
vor diesem Tribunal in Schweigsamkeit verharrt. Dem Mädchen
versprechen wir im Falle des Gelingens goldene Berge. Der Lohn
besteht jedoch nur darin, daß es aus dem Gefängnisse, in welches es
gleich nach der Relation des Erspähten abgeführt wurde, ohne Strafe
entlassen wird. So lautet fast wörtlich die Erzählung des Herrn
Stieber. Der Umstand, daß ihn zwei Berliner Damen begleiten,
möchte vermuthen lassen, daß er die letztgenannten Experimente auch
bei uns in Anwendung bringen wolle. Er erzählt noch vieles andere
— Sie werden an diesem genug haben. Wenn Sie mich nachdem
Grunde fragen, weshalb ich Ihnen diese übrigens ganz verbürgten
Dinge schreibe, so antworte ich: um das Treiben eines die preußische
Regierung compromittirenden Mannes aufzudecken. Die öffentliche
Meinung ist in der letzten Zeit sehr leicht geneigt, auch die übertrie¬
bensten Dinge für wahr zu halten. Könnte sie sich nun nicht auch
verleiten lassen, diese Rodomontaden des Herr» Sucher zu glauben,
keinen Zweifel zu hegen, daß der Staat zu solchen Mitteln seine Zu¬
flucht nehme? Wir mochten auch unserem Gaste den wohlgemeinten
Rath geben, mit seiner Mission nicht überall zu prahlen. Vielleicht
ist es ihm dienlich, wenn wir ihm ein Beispiel aus früherer Zeit als
Warnung vorjühren. Herr v. W. (ich brauche Ihnen den Namen
wohl nicht auszuschreiben) kam einst mit einem geheimen Auftrage
des Herrn v. R> nach Vreslau, und präsentirte bei dem Polizeiprä¬
sidium seinen Paß. Der Präsident läßt sich mit ihm in ein Gespräch
ein. Hierdurch vertraulich gemacht, deutet Herr v. W. zuerst sehr
leise und dann immer bestimmter auf die Wichtigkeit seiner Misston
hin, bis er sich zuletzt verleiten laßt, die ministerielle Vollmacht den
Händen des Präsidenten anzuvertrauen. Sie blieb auch darin und
wurde desselbigen Tages noch nach Berlin geschickt. Kaum war eine
Woche in's Land gegangen, so wurde Herr v. W. zurückgerufen, und
verlor seine sehr einträgliche Stelle. Die Nutzanwendung wird sich
Herr Sticbcr selbst machen können.
An unserem großen Bahnhofe wird Tag und Nacht gearbeitet,
und im Publicum heißt es noch immer, die Eiscnbahncnlinie zwischen
hier und Wien werde am 20. August eröffnet werden. Besser Ein¬
geweihte bezweifeln jedoch die Möglichkeit des Austandekommens in so
kurzer Zeit; es ist gar zu viel noch im Rückstände. Die Gebrüder
Klein haben zwar mündlich ihr Wort gegeben, daß Alles bis zu die¬
sem Tage Sir und fertig sein werde, allein was verspricht ein Unter¬
nehmer nicht Alles, wenn ein anderes Unternehmen in Aussicht ist.
Die erwähnten Pachter haben dadurch wirklich in Gemeinschaft mit
Herrn Laura den Bau der Präger-Dresdner Bahn zugeschlagen erhal¬
ten, und es werden alle Anstalten bereits gemacht, diese Bahn in
Angriff zu nehmen, während man von Dresden aus noch gar keinen
Beginn zu machen scheint. Wahrscheinlich werden wir an der Grenze
mit unserer fertigen Bahn auf die diesmal erstaunlich langsamen Sach¬
sen eine Zeit lang warten müssen. Indessen wird man jedenfalls be¬
reits im September von Leipzig nach Wien in zwei Tagen und
einer Nacht fahren können, gerade so lange, als man bisher
von Prag nach Wien brauchte. Durch ein Einverständnis! mit der
sächsischen Post soll nämlich dahin gezielt werden, daß der Dresdner-
Präger Eilwagen um zwei Stunden früher hier anlangt. Dem gemäß
wird man in Leipzig früh um 6 Uhr mit der Eisenbahn nach Dreh-
den fahren und dort um II Uhr mit dem Eilwagen nach Prag ab¬
gehen, wo die Reisenden vor v Uhr anlangen sollen, um noch Zeit
zu gewinnen, mit dem großen Auge nach Wien abzufahren, wo der
hiesige Dampfwagen spat Abends anlangen wird. Allerdings kann
hier nur von gutem Wetter die Rede sein; bei schlechten Tagen wird
es dem Dresdner Eilwagen trotz des besten Willens kaum möglich
sein, die Nollendorfer Höhen schneller als jetzt zu yassi'ren, man müßte
denn die Vorspannpferde, sowie in Frankreich und England, nicht
schonen und bergauf in Galopp fahren. Wo man Eisenbahnen baut,
sollte es auf ein Paar Pferde mehr wohl nicht ankommen. — Die Bür¬
ger wollen zur Eröffnungsfahrt auf der Eisenbahn ein großes Zweck-
essen arrangiren, wo das Couvert, wenn ich recht unterrichtet bin,
20 Fi. E.-Mz. kosten soll (ein wahrhaft unsinniger Preis). Graf
Salm hat jedoch bisher seine Zustimmung zu dem Gesellschaftsessen
überhaupt verweigert. Aber die Bürger haben nach Hof rccourirt,
und man glaubt, es werde von Wien die Erlaubniß nicht ausbleiben.
Erzherzog Stephan befindet sich in diesem Augenblicke in Marienbad.
Es heißt hier allgemein, die Jesuiten werden in Prag festen Bo¬
den erhalten. Es wird ihnen das Kloster „am weißen Berg," eine
Stunde vor der Stadt, angewiesen, da man sie denn doch nicht im
Weichbilde der Stadt sich ansässig machen lassen will. Man erinnert
sich noch, daß vor nicht allzulanger Zeit drei Ligourianer, die hierher
kamen, um das Terrain zu recognosciren, vom Pöbel verunglimpft
wurden. Aber draußen auf jenem denkwürdigen Berge, wo das pro¬
testantische Böhmen den letzten Act der blutigen.Tragödie seiner Unab¬
hängigkeit gespielt hat, ist eine Jesuitencolonie ein doppelter Triumph
für die Macht des gefährlichen Ordens.
Die hiesigen Studirenden haben dem Professor Erner, der in
Bubentsch ein Sommerquartier bewohnt, eine glänzende Serenade ge¬
bracht und eine Cantate abgesungen. Zwar hat ein Correspondent der
Deutschen Allgemeinen Zeitung meinen Bericht vor einigen Monaten
berichtigt, indessen ist es keinem Zweifel unterworfen, daß Seitens des
hochwürdigen Erzbischofs von Leitmeritz gegen die Ernerischen Vorle¬
sungen Einwendungen gemacht wurden. Unter den Studenten geht
die Sage, die Veranlassung hierzu sei eine Aeußerung Exner's gewe¬
sen, die dahin lautete, daß er an kein Fegefeuer glaube. Indessen
erzähle ich Ihnen dies blos, um die V»x pomili anzudeuten, keines¬
wegs aber, um das Gerücht zu bestätigen, denn Gott verhüte, daß
dem vortrefflichen Lehrer unserer Hochschule durch eine Denunciation
dieser Art wehe geschehe. Unsere philosophische Denkfreiheit hat aller¬
dings bedeutend Ursache, das Fegefeuer zu fürchten und an ein stren¬
ges Richteramt von oben zu glauben.
Von allen Dichtungen unserer Vorzeit, mit denen seit dem Auf¬
treten der romantischen Schule ein oft so geistloser Reliquiendienst
getrieben wird, greift keine mit so frischem Interesse in das Leben
der Neuzeit ein, als Reineke Fuchs. Heldengedichte und Minnelie-
der geriethen allmälig in Vergessenheit, oder wurden im 17ten Jahr¬
hunderte durch den philologischen Bannstrahl in's Reich der Verach¬
tung geschleudert, aus dem sie erst wieder seit Lessing mit schwerer,
staubiger Mühe und langharigem Thurnenthusiasmus hervorgesucht
wurden; aber unser Thierepos hat sich zu allen Zeiten, unter den un¬
günstigsten Verhältnissen erhalten und in den mannigfachsten Bearbei¬
tungen erneuert. Es muß also doch wohl Lebenszustande berühren,
die auch gegenwartig noch nicht ausgestorben sind, und in seiner sa¬
tyrischen Fassung Zeitgebrechen geiseln, an denen auch unser Jahrhun¬
dert noch lahm liegt. Ueber die satyrische Bedeutung der Thiersage
hat man viel hin- und hergestritten, theils ging man so weit, sie
geradezu zu leugnen, theils faßte man sie als einziges poetisches Ele¬
ment des Gedichtes auf, ohne in beiden Fällen die in der Mitte lie¬
gende Wahrheit zu treffen. Daß von einer Satyrs und von einer
Tendenz überhaupt bei einer Poesie nicht diz Rede sein kann, deren
Ursprung im ersten Kindesalter des deutschen Volkes zu suchen ist, in
einer Zeit, wo die Menschen mit der Natur und ihren Erscheinungen
noch in einem innigen, kindlichen Wechselverkehr standen, und den
Thieren des Waldes, mit denen sie um ihre Existenz zu kämpfen
hatten, menschliche Bedeutung und geistiges Leben zuschrieben, wie
den Quellen und Bäumen, in deren Rauschen sie göttliche Stimmen
zu hören glaubten, — versteht sich wohl von selbst. In der That
zeigen sich auch in den ältesten lateinischen Bearbeitungen lAiv!,,nIu8
und Kein»«!»«), selbst in dem mittelhochdeutschen „Reinhart Fuchs"
Heinrich's des Glich esäre nur schwache Spuren von Satyre; aber
im Laufe der Zeit trat dieselbe immer bestimmter hervor, und wurde
zur unleugbaren Tendenz, als die Sage nach ihren Wanderungen
durch Frankreich und Flandern wieder ihr ursprüngliches Vaterland
betrat und namentlich auf niederdeutschen Boden Wurzel schlug. Dies«
plattdeutsche Uebersetzung und Umgestaltung „Reineke Vos" von Ni¬
kolaus Baumann ist es nun gerade, welche lange allein bekannt war,
und ihre satyrische Lebenskraft bis auf unsere'Tage bewahrt hat. Die
Nachbildungen aus der jüngsten Vergangenheit sind nicht besonders
glücklich zu nennen, Gottschedt hing dem Gedichte einen gepuderten
Steifzopf an, Göthe, der überhaupt zu wenig auf dem Wellenschlage
des öffentlichen Lebens stand, um bedeutender Satyriker zu sein, drückte
ihm das Gepräge einer aristokratischen Selbstbeschauung aus, Soltau
gab eine ebenso steift als mangelhafte Uebersetzung. Das Interesse,
welches die Gegenwart an dem Gedichte nimmt, dürste vielleicht mehr,
als durch die gelehrten Abhandlungen I. Grimm's, Lachmann's und
Hoffmann's v. Fallersleben, durch die einfache, originalgetreue und
doch dabei so klare und verständige Uebersetzung von K. Simrock, welche
so eben bei H. L. Brönner in Frankfurt erschienen ist, gefördert werden.
Woher aber dieses Interesse an der Produktion eines Nicolaus
Baumann, an dem Gemisch von Derbheit und Naivetät, von schnei¬
dendem Spotte und breiter Epik, in einer vier Jahrhunderte spätern
Periode, die sich auf ihre fortgeschrittene Geistescultur so viel zu Gute
thut? Bei der Beantwortung dieser Frage bietet sich uns eine er¬
schreckende Ähnlichkeit der damaligen und heutigen Zeitbewegung in
Deutschland dar, namentlich im deutschen Norden, wo Reineke Vos
in's Leben trat. Der Kampf des Absolutismus gegen Volksthum,
des starren, buchstabenmäßigen Konservatismus gegen die freie Bewe¬
gung einer Nation, welche von Reformationsideen und Freiheitsschn-
sucht erfüllt ist — hat dieser Kampf, welcher eben eine Erfindung
des töten Jahrhunderts ist, heute aufgehört? oder äußert er sich ii,
andern Nuancen? Betrachten wir einmal den Inhalt des Reineke
Fuchs, welcher auf dieser Zeitrichtung basirt, etwas näher. Er schil¬
dert uns im Allgemeinen den Zustand des gesellschaftlichen und staat¬
lichen Lebens, wie er ist, wenn er von keinem anderen Principe be¬
seelt, von keinem anderen Gesetze zusammengehalten wird, als von
dem positiven, das mit rührender Pietät an den wunderlich ver¬
theilten Hofchargen, Orden, Gerichtsproceduren und Polizeirequisitio-
ncn festhält. Ein allgemeiner Landfrieden wird ausgeschrieben, in
der That jedoch überläßt sich jeder seiner Willkür, Keiner ist seines
Eigenthums und seiner persönlichen Freiheit sicher. Die bequemste
Sache aber ist der Landfriede für Reineke selbst; er ist ein Mann der
Speculation, der das Gebrechen der Zeit recht wohl durchschaut, und
auch mehr als jeder Andere weiß, wie es zu heilen; aber er findet
feinen Vortheil beim «littus i>un, weiß, wie seine verschmitzte geistige
Ueberlegenheit über rohe Gewalt und stabile Beschränktheit den Sieg
davon trägt, trotz König nobel's zahlreichen Execuroren und Polizei¬
dienern, die in Gestalt von Wölfen, Bären, Eseln u. s. w. vor
Malepertus erscheinen. Er ist auch ferner ein Mann der Philo-
phic, der sich die zweckdienlichsten, gründlichsten Systeme bildet, dabei
die Aufklärung und den Deutschkatholicismus, wenn es anders damals
schon so ein Institut gegeben hat, befördert, und sich mit unnachahm¬
lichen Reinekischen Lächeln seiner Bildung und des Landfriedens er¬
freut. Dieses hindert ihn jedoch nicht, eine intime Freundschaft mit
Grimbart, dem Dachse, zu schließen, der entfernt vom Tageslichte)
tief unter der Erde verwickelte, dogmatische Gänge gräbt, in dunkler
Mystik den Landfrieden aufbauen hilft und seinen schwer beschuldigten
Freund gegen männiglich in Schutz und Trutz vertheidigt, ihm auch
in Demuth und Herzenseinfältigkcit die Beichte abnimmt, um seine
schuldbeladene Seele zu erleichtern. Er weiß sich die Schwachen Aller
zu Nutze zu machen, und setzt ihnen ein Selbstbewußtsein, eine Herz¬
losigkeit, einen Eigendünkel, einen Spott entgegen, der würdig wäre,
in dem Guckkasten des Berliner Eckenstehers eine classische Rolle zu
spielen. Dennoch kann er es nie mit seinen Vorgesetzten ganz verder¬
ben, wenn er für seine Verbrechen Buße thun soll, so beichtet er
fremder Leute Sünden, und weiß sich auf diese Weise immer
wieder zu helfen.*)
Um noch einmal auf die vorliegende Uebersetzung zurückzukom¬
men , so ist die Gewandtheit des Verfassers in der Uebertragung älte¬
rer deutscher Gedichte, die er namentlich in seinem Nibelungenliede
bethätigte, bekannt. Sein „Reineke Fuchs" scheint mir noch deshalb
gelungener, weil sich darin die Sucht nach alterthümlichen Wendun¬
gen weniger zeigt, als in den früheren Arbeiten. Man sieht, daß
Simrock das Versmaaß in seiner Gewalt hat; warum wendet er je¬
doch in seinen Reimpaaren keinen gleichmäßigen Tonfall, keine regel¬
mäßige Abwechselung der Hebungen und Senkungen an? Die freieren
Gesetze der älteren Zeit, wo bekanntlich ganz andere Tonverhältnisse
herrschten, sind für unsere ,etzige Sprache verloren, und daher kommt
es, daß der Art gebildete Reimpaare auf uns den Eindruck burlesker
Knittelverse machen, wahrend sie doch ursprünglich eine ausnehmend
gewandte, gerade der feinsten Kunstpoesie angehörige Dichtungsfvrm
waren. — Wie aber der Recensent, mit dessen Urtheil die Verlags-
handlung das Werk glaubt empfehlen zu müssen, das für Jamben
h
— Man schreibt uns aus Berlin: Vor ein Paar Tagen mel¬
deten unsere Zeitungen unter den Unglücksfällen einer abgelaufenen
Woche: „Am 29. Juni fand man einen an Tiefsinn leidenden We¬
bergesellen in seiner Wohnung erhenkt;" hinten in der Beilage
der Zeitungen aber las man unter den Anzeigen der Fabrikanten ver¬
steckt: „Bitte um Arbeit, 'Die Noth der hiesigen Weber, hervor¬
gerufen durch Arbeitsmangel und geringen Verdienst, veranlaßt das
unterzeichnete Webergewerk, die Herren Fabrikunternehmer, welche ge¬
neigt sind, Weber auf ihre Profession zu beschäftigen, hierdurch zu
ersuchen, ihr Augenmerk doch gütigst auf unsern Ort zu richten, und
die hiesigen arbeitslosen Weber mit Arbeit zu versorgen. Es befinden
sich im Orte 470 Weberfamilien mit circa 8W Webestühlen, einzig
und allein auf ihre Profession angewiesen; es sind aber ein Dritt¬
theil Weber unbeschäftigt, und müssen sich von Taglöhnerarbeit näh¬
ren. Es kann die Versicherung gegeben werden, daß es hier an tüch¬
tigen Arbeitern nicht fehlt ?c. ?c. Nowaweß bei Potsdam, im Juni
1845. Das Webergewerk." Also in Nahe der Residenz, in unmittelba¬
rer der königl. Lustschlösser, an einem Orte, den halb Berlin alljährlich
passirt, unter unsern Augen eine solche Noth! — Und wir kennen
diese Noth, wir waren zur Stelle, sie ist entsetzlich. Wir sahen eine
junge Mutter, so todesmatt vom Hunger, daß ihre Brust versiegt
war. Sie weinte über ihr schreiendes Kind, das nach Nahrung schrie,
und das sie nicht saugen konnte. O jener „Tiefsinn" des schenk¬
ten Webergefellen, wir kennen ihn sehr wohl, es ist ein seltsamer
Tiefsinn, der aus dem Magen kommt, den man nicht mit Me¬
lancholie übersetzen kann, denn er heißt — Hunger.
>— Ein Leipziger Blatt macht es der Direction des hiesigen
Theaters zum Vorwurf, daß sie das Drama: „Die letzte weiße Rose"
nicht zur Aufführung bringt. Wenn etwa dadurch dem Verfasser Mes
Dramas ein Dienst hätte geleistet werden sollen, so muß er diesen
entschieden ablehnen. Denn zu wiederholten Malen hat sich die Ober¬
regie an ihn gewendet und zur Aufführung des Stückes ihm auf das
Zuvorkommenste die Hand geboten. Wenn er den Antrag bisher nicht
angenommen und das Stück nicht aufführen ließ, so wurde er dabei
von rein persönlichen Motiven geleitet, die mit der Direction in kei¬
nerlei Zusammenhang stehen.
— Wir hören schon das Stahlfedergeknister aller frommen deut¬
schen Rheinliedspatrioten und ihr Zetergeschrei über das gottlose Frank¬
reich, wo der Pair Victor Hugo in einem stillen Zimmer in Liebes¬
dichtungen mit einer hübschen Malersfrau von der Polizei überrascht
wird. Bedenken Sie nur, meine Herren, wenn ein Pair von Preu¬
ßen oder Oesterreich einen solchen Liebeshandel hätte, würde die löb¬
liche Censur uns etwas davon erfahren lassen? Sind etwa die Herren
von der Pairie in Berlin und Wien Heilige? Pfui, über die Unsitt-
lichkeit! aber — vive I» publieilv!
„Die Zeiten, in denen sich eine lebendige geistige
Bewegung offenbart, zeigen den entschiedenen Cha¬
rakter eines unveränderlichen Strebens nach einem
bestimmten Ziele; die thätige Energie dieses Stre¬
bens verleiht ihnen ihre Größe und ihren Glanz."
Diese Worte, welche Humboldt auf das fünfzehnte Jahrhun¬
dert anwendet, können eben sowohl auf das neunzehnte ihre Anwen¬
dung finden. Unter allen geistigen Tendenzen, welche sich in unsere
Zeit theilen und gegenseitig den Vorrang streitig machen, tritt eine
hervor, welche gewissmnaaßen alle übrigen beherrscht und umfaßt,
eine solche, durch welche dieses Jahrhundert, das vielleicht dem ver¬
gangenen in manchen Punkten nachsteht, berufen scheint, die Macht
des menschlichen Geistes innerhalb Verhältnisse, welche den früheren
Zeitaltern unbekannt waren, zu manifestiren. Jenes geistige Streben,
welches sich, nach meiner Ueberzeugung, in den Augen der Zukunft
als der bezeichnende Charakter der Gegenwart herausbilden wird,
besteht gerade in der immer wachsenden Thatkraft, mit der sich das
Menschengeschlecht zum praktischen Studium der Naturwissenschaften
hingetrieben fühlt. Zu keiner Zeit ist die wissenschaftliche Kenntniß
der Natur und ihrer so mannigfaltigen Producte, das Studium ihrer
so geheimnißvollen Gesetze, die Anwendung ihrer so riesenhaften Kräfte
mit so ungewöhnlichem Eifer und so wunderbaren Resultaten ver¬
folgt worden, als eben jetzt.
Alle Arbeiten, alle Entdeckungen der vorhergehenden Jahr¬
hunderte benutzend, sucht das unsrige alle Zweige der Wissenschaft
nach einem Ziele hin zu richten, zu einem mächtigen Ganzen zu
vereinigen, dessen eS sich bedient, um die Welt aus ihren Angeln
zu heben. Denn wenn es auch ein bestimmtes Ziel ist, so ist
es doch nicht gerade ein specielles, welches unsere Zeit verfolgt;
es ist nicht, wie z. B. im fünfzehnten Jahrhunderte, die Entdeckung
unbekannter Länder, die in ihr erstrebt wird; es ist mehr als
dieses, es ist die vollständige Untenverfung der Materie, die Er¬
forschung, die Ausbeutung, der Besitz der ganzen Erdkugel, es ist
gewissermaßen die Vernichtung des Begriffes von Raum und Zeit,
die Herrschaft über die Lüste, Land und Wogen, welche das Ziel
ihrer kühnen Anstrengungen zu sein scheint. Niemals begriff man
in der That mehr das bedeutungsvolle Wort, welches Kolumbus zu
Jsabella sagte: „LI monäo «8 ronn" — die Welt ist klein. Ver¬
gebens sträubt sich die erzürnte Natur unter dem Drucke dieses neuen
Titanen, vergebens verzehrt sie ihn mit ihrem Feuer, vergebens ver¬
schlingt sie ihn mit ihren Wogen, vergebens zerquetscht sie ihn mit
ihren mächtigen Armen; sie vernichtet die Menschen; aber die
Menschheit entschlüpft ihr immer, und immer glühender, immer
unermüdlicher, immer hartnäckiger, immer neue Kräfte in ewigem
Kampfe gewinnend, verfolgt der menschliche Geist seine große
Beute.
In Zeiten einer so entschiedenen wissenschaftlichen Thätigkeit, de¬
ren mannigfaltige Anstrengungen nach einem so großen Ziele hin
zusammenlaufen, bedarf es mächtiger Geister, um mit einem Blicke
die ganze Bewegung zu überschauen, die erhaltenen Resultate zu
ordnen, gegen einander zu stellen, zu beleben, und wechselseitig auf
jedem Punkte mit einer durch die Kräfte Aller vermehrten selbststän¬
digen Kraft thätig zu sein. Die Wissenschaft der Gegenwart zählt
mehrere solcher universaler Männer, solcher allumfassenden Genies,
wie Cuvier, und Alexander von Humboldt ist ohne Widerrede in
dieser Hinsicht eine der außerordentlichsten Persönlichkeiten, deren sich
unser Jahrhundert rühmen kann. Mag er auch nicht alle Tiefe und
Gewalt des Cuvier'schen Geistes besitzen, er besitzt dessen ganze
Fruchtbarkeit, dessen ganze Vielseitigkeit, dessen ganze Ausdehnung.
Schwer ist es, alles das aufzuzählen, was Humboldt ist, aber
noch schwerer darzustellen, was er nicht ist. Ich wüßte in der
That nicht zu sagen, welcher Zweig des menschlichen Wissens den
Forschungen dieses berühmten preußischen Gelehrten fremd sei. Geo¬
graph, Geolog, Physiker, Chemiker, Astronom, Botaniker, Philosoph,
Theolog, Oecvnom, Staatsmann zur Noth, Weltmann immer, ja so¬
gar Dichter — denn er hat zwei Bände rein schildernde Prosa ge¬
schrieben, in denen die trefflichste poetische Empfindung durchleuchtet —
kennt er unseren elenden kleinen Planeten buchstäblich wie seine Westen¬
tasche, hat ihn nach allen Seiten hin untersucht und erforscht, oben
und unten, von Aufgang bis zu Niedergange, vom Aequator bis zu
den Polen, in seinen tiefsten Höhlen und auf seinen höchsten Bergen,
im Krater seiner schrecklichsten Vulcane, und auf seinen stürmischesten
Meeren, in seinen unzähligen Producten aus dem Pflanzen-, Mineral-
und Thierreich, an seinen Bewohnern aller Gattung und aller Farbe,
in Geschichte, Sitten, socialer und politischer Organisation der unbe¬
kanntesten Völkerschaften. Ferner im Besitze einer ebenso ausgebreiteten
Kenntniß von den Erscheinungen des Himmels, wie von denen der Erde;
mit unvergleichlicher Fähigkeit ausgerüstet, den Längen- und Breiten¬
grad zu bestimmen, einen Stern, eine Sonnenfinsternis;, einen Pla¬
neten zu beobachten, zu beschreiben, und die allgemeine Bewegung
der Himmelskörper in ihrem gegenseitigen Ineinandergreifen aufzu¬
fassen; ist er im Stande, sich ganz allein mitten auf dem Ocean in
einer Barke vermittelst eines Segels, Steuers, Compaß und Fern¬
rohrs durchzuhelfen. Mit einem Worte, seinen Zodiacus, seine Erd¬
kugel und sein Theil Menschenbildung — wonach er z. B. fast alle
Sprachen redet*) — aus dem Grunde heraus verstehend; hat Aker.
v. Humboldt noch Zeit gefunden, in den Bereich seiner wunderbaren
Intelligenz alle die Fähigkeiten zu ziehen, welche einen vollendeten
Hofmann ausmachen; nämlich Kenntniß der Welt, der Salons, der
Intriguen, der Canaans' in politischer, diplomatischer und socialer
Hinsicht. 'In dieser Beziehung könnte es Humboldt mit der wort¬
reichsten, geistvollsten, witzigsten und picantesten Hofdame aufnehmen.
Seine gefeierte Conversation ist ebenso gefürchtet von den Abwesen¬
den, als sie von den Zuhörern gesucht wird. So hat nach einer
Unterhaltung alt ihm ein Schriftsteller, der ohne Zweifel das Schick¬
sal, das ihn erwartete, voraussah, folgende bezeichnende Aeußerung
gethan: „Herr von Humboldt hat die Gewohnheit, Niemanden zu
schonen, als denjenigen, zu welchem er redet. Wenn man ihn hört,
so wird man immer begieriger, ihn zu verstehen, und man zittert,
ihn zu verlassen." (I^erinmiei-, „4u as In «Zu Krim, II, 26.")
Da wir weder Zeit, noch Raum, noch Kenntniß genug haben,
um hier eine wissenschaftliche und detaillirte Würdigung aller Arbei¬
ten des berühmten Gelehrten zu geben, so werden wir uns begnü¬
gen, sie wenigstens der Reihe nach und in möglichst chronologischer
Ordnung aufzuzählen.
Friedrich Heinrich Alerander Baron von Humboldt, aus einer
reichen und angesehenen Familie Preußens, gehört noch zu der be¬
rühmten, productiven Epoche, die wir schon so oft erwähnt haben.
Er wurde geboren zu Berlin am 14. September 1769, und ist der
jüngere Bruder des Baron Carl Wilhelm von Humboldt, welcher im
April 1835 starb, nachdem er seinen Namen der Geschichte als Phi¬
lolog eingeprägt hatte, durch seine gelehrten Untersuchungen über die
Sprache und Poesie der Griechen, durch seine Uebersetzung des „Pin-
dar" und „Agamemnon" von Aeschylus, durch seine Untersu¬
chungen über die Ureinwohner Spaniens vermittelst
der baskischen Sprache; durch seine Schrift an Abel de
Remusat über das Wesen der grammatischen For¬
men im Allgemeinen, und über den Geist der chinesi¬
schen Sprache insbesondere, — aber vor Allein als Staats¬
mann durch seine thätige Mitwirkung bet allen bedeutenden Ereig¬
nissen seines Landes und seiner Zeit, theils als preußischer Gesand¬
ter während der Kaiserherrschaft, theils später nach dem Sturze Na¬
poleon'S als preußischer Minister des Innern und des öffentlichen
Unterrichts.
Die zwei Brüder erhielten eine glänzende Erziehung. Der junge
Alerander, mit dem ich mich hier vorzugsweise zu beschäftigen habe,
wurde von seinem Vater der Sorge eines bekannten Gelehrten, Kunth,
anvertraut, unter dessen Leitung er frühzeitig ein seltenes Talent offen¬
barte. Er besuchte der Reihe nach die Universitäten von Berlin,
Frankfurt a. O. und Göttingen, studirte sogar einige Zeit zu Ham¬
burg an der Handelsakademie bei Büsch. Am Ende seiner akade¬
mischen Studien wünschte ihn seine Familie den öffentlichen Staats¬
geschäften zu widmen; aber seine Neigung zog ihn nach einem an¬
dern Gebiete; er liebte leidenschaftlich die Wissenschaften, namentlich
Physik und Naturgeschichte, er hatte bald in seinem Kopfe alle Na¬
menregister geordnet, in welche sich die auf diesem Gebiete erlangten
Kenntnisse vertheilt fanden, und fühlte sich nun von glühender Be¬
gierde ergriffen, die Natur in ihrem eignen großen Buche zu studiren.
„Ich empfand — sagt er selbst in seiner „Vo^-iAv avx rvxions
«»ni'moxiitlos «1u umivvllu eontin<nie" — von meiner frühsten Kind¬
heit an ein glühendes Verlangen nach einer Reise in entfernte und
von Europäern wenig besuchte Länder. Dieses Verlangen charakte-
risirt überhaupt eine Epoche unserer Existenz, wo uns das Leben
ein Horizont ohne Grenzen dünkt, wo nichts mehr Anziehungskraft
auf uns hat, als starke Bewegungen der Seele und physische An¬
strengungen. Erzogen in einem Lande, welches keine directe Verbin¬
dung mit den Kolonien der beiden Indien unterhält, noch dazu vom
Meeresufer entfernte Gebirgsgegenden bewohnend, fühlte ich immer
mehr, eine lebhafte Leidenschaft für das Meer und für großartige
Schifffahrten in mir aufkeimen. Die Vorliebe für Botanisiren, mein
Studium der Geologie, eine flüchtige Reise nach Holland, England
und Frankreich, mit dem berühmten Georg Forster, der das Glück
gehabt hatte, Capitain Cook auf seiner zweiten Erdumsegelung zu
begleiten, trugen dazu bei, meinen Reiseplänen, die ich in einem Al¬
ter von achtzehn Jahren gebildet hatte, eine bestimmte Richtung zu
geben. Es war nicht mehr das unbestimmte Verlangen nach einem
bewegten, herumirrenden Leben; sondern vielmehr das, eine wilde,
majestätische und in ihren Erscheinungen so mannigfaltige Natur in
der Nähe zu sehen; es war die Hoffnung, einige für die Wissen¬
schaften nützliche Aufschlüsse zu erlangen, welche ohne Unterlaß meine
Neigungen nach den schönen Gegenden der heißen Zone hinzogen.
Da es mir meine individuelle Stellung jetzt noch nicht erlaubte, solche
Plane, welche so lebhaft meinen Geist beschäftigten, auszuführen, so
hatte ich hinlängliche Muse, mich sechs Jahre lang aus die Beobach¬
tungen, welche ich im neuen Continente machen sollte, vorzubereiten,
und vorerst verschiedene Theile Europa's zu durchwandern."
Während dieser sechs Jahre der Vorbereitung, gab der junge
Humboldt, alö Resultat einer mit Förster unternommenen Reise, im
zwei und zwanzigsten Jahre sein erstes Werk heraus, unter dem Ti¬
tel : Bemerkungen über den Basalt am Rhein (1790). Dieses Buch,
bekannt in der gelehrten Welt, diente nur dazu, um in seinem Ver¬
fasser den Geschmack an ausgcbreiteteren und tieferen Studien zu
erregen. Er begab sich in dieser Absicht auf die berühmte Bergaka¬
demie zu Freiberg, welche damals der gelehrte Mineralog Werner
leitete. Zwei Jahre in diesen ungeheuren unterirdischen Gängen,
welche später Körner besungen hat, begraben, ganz in das Stu¬
dium der Fossilien versenkt, faßte er die neue, glückliche Idee, die
Vegetation, welche sich in den unterirdischen Klüften, wohin kein
Tageslicht dringt, verborgen hält, seiner geistigen Beobachtung zu
unterwerfen, wobei er nicht nur analytisch zu Werke ging, sondern
auch von einem allgemeinen Gesichtspunkte aus; und die Frucht die¬
ses Studiums war ein zweites Werk, welches 1793 in lateinischer
Sprache erschien, und den Titel führt: Kuecimen ^loriu! sul'wrri»-
«Küö I^reiberAc-usis. Dasselbe machte viel größeres Aufsehen, als
das erste, denn es beleuchtete einen interessanten Theil der Botanik,
auf welchen bisher die Aufmerksamkeit der Gelehrten noch nicht ge¬
lenkt worden war. In Folge dieses Werks wurde Humboldt zum
Assessor bei dem Bergwerks- und Hütten-Departement in Berlin
ernannt, dann zum Oberbergmcister von Ansbach und Bayreuth. Da
er aber fühlte, daß sein Amt ihn hinderte, sich seiner immer wach¬
senden Neigung für das wissenschaftliche Studium unbeengt zu über¬
lassen, so gab er dasselbe schon nach zwei Jahren auf.
Galvani hatte eben die Welt mit seiner schonen Entdeckung der
Contactelectricität bereichert. Humboldt war einer der ersten, der sich
mit Leidenschaft auf das Studium dieser damals bestrittenen physika¬
lischen Erscheinungen legte; nicht zufrieden, die vom Erfinder gemach¬
ten Versuche zu wiederholen, stellte er vielmehr neue an und erpe-
rimentirte zur größeren Sicherheit an sich selbst, mit solcher Ausdauer,
daß er sein Nervensystem zerrüttete und sich nervöse Contractionen
in den Gliedern zuzog, an denen er noch heute leidet. Zu dieser
Zeit (1796) veröffentlichte er in deutscher Sprache seine Versuche
über den Galvanismus, und im Allgemeinen über die
Nerven- und Muökelreizung bei den Thieren. Der erste
Band dieses Werke'S wurde, bereichert mit Bemerkungen von Blu¬
menbach, auch in's Französische übersetzt. Zu derselben Zeit hörte
Humboldt mit großem Eifer zu Jena die Vorlesungen des berühm¬
ten Loder über praktische Anatomie.
Als er sich hinreichend in die nöthigen theoretischen Kenntnisse
eingeweiht fühlte, bereitete er sich noch auf die projektirte große Reise
vor, indem er erst im Kleinen Italien, welches er zweimal bereiste,
Sicilien und die Schweiz untersuchte, und in der Nähe die geologi¬
schen Erscheinungen prüfte. Er nahm darauf einen längeren Auf¬
enthalt in Wien (1797), durchwanderte hier mit einem gelehrten
Geologen, Leopold von Buch, die gebirgigen, romantischen Gegenden
von Salzburg und Steiermark, und war gerade im Begriff, die
Tyroler Alpen zu übersteigen, als der Krieg, welcher damals in
Italien wüthete, ihn zur Rückkehr nöthigte.
Um diese Zeit schlug ihm eine hohe Person eine Reise nach dem
oberen Egypten vor, er nahm den Vorschlag an, und hatte schon
seinen Studien eine diesem Plane entsprechende Richtung gegeben,
als ihn Bonaparte's Expedition scheitern machte.
Jetzt begab sich Humboldt nach Paris, wo ihn spater sein Ge¬
schmack, seine freundschaftlichen und wissenschaftlichen Verbindungen
so oft fesseln sollten. Er hatte vernommen, daß die französische Ne¬
gierung eine große Erpedition zum Behufe einer Weltumsegelung
unter dem Befehle des Capitains Baudin ausruhte, und wollte um
die Erlaubniß nachsuchen, daran Theil zu nehmen. Schon hatte
er sie erlangt, als der Krieg, der plötzlich in Italien und Deutsch¬
land wieder entbrannte, die Regierung bestimmte, das Unternehmen
zu verschieben.
Schmerzlich in seinen Hoffnungen getäuscht, und mehr als je¬
mals begierig, sie zu realisiren, faßte jetzt Humboldt den Entschluß,
auf seine eigenen Kosten die Reise nach der neuen Welt zu überneh¬
men, in Begleitung eines jungen französischen Botanikers, mit dem
er in Paris eine intime Freundschaft geschlossen hatte, Amo Bon¬
pland, welcher später durch seine lange Gefangenschaft in den Hän¬
den des Direktors von Paraguay, des berüchtigten Doctor Francia,
so bekannt geworden ist. Zu diesem Ende nun begab er sich nach
Spanien, erlangte Audienz beim Könige, setzte seinen Plan ausein¬
ander, und erhielt einen Paß nebst Empfehlungsschreiben an die
Behörden der neuen Welt. Mit guten physikalischen und astronomischen
Instrumenten versehen, schiffte er sich am 5. Juni mit seinem Freunde
ein, und gelangte am 19. Juni bei den Kanarischen Inseln an, nach¬
dem sie mehrmals in Gefahr gewesen, von englischen Schiffen ge¬
nommen und nach Europa zurückgeführt zu werden.
Jetzt beginnt jene fünfjährige, neuntausend Meilen weit sich
erstreckende Ercursion über den unbekanntesten Theil der neuen Welt
hin, eine Ercursion, durch welche Alexander von Humboldt gewisser-
maaßen die Entdeckung des Kolumbus wiederaufgenommen und vol¬
lendet hat, indem er eine vollständige Bestimmung von der Lage Ame¬
rika's, in topographischer, physischer, geologischer, botanischer und zoo¬
logischer Hinsicht, so wie in Bezug auf den moralischen, socialen und
politischen Standpunkt seiner Bewohner nach Europa brachte.
Indem ich im Uebrigen den Leser auf die schöne Sammlung,
welche die Frucht dieser Reise gewesen ist, verweise, werde ich mich
lediglich daran halten, die Reise der beiden Reisenden zu skizziren.
Nach einer kurzen Rast auf den Canaren, während welcher sie den
Pic von Teneriffa bestiegen, um das Innere und Aeußere dieses
Vulkans zu erforschen, begab sich Humboldt mit seinem Gefährten
nach Cumana in Südamerika; mehrere Mal war es ihnen vorbe¬
halten, die Küste von Pavta zu untersuchen, die Missionen der Chay-
mas-Jndianer, die Districte Neu-Adalusien, Neu-Barcelona, Vene¬
zuela und das spanische Guyana. Nachdem sie eine große Ernte von
botanischen Schätzen gehalten, eine Menge geographischer und astro¬
nomischer Lagen aufgenommen hatten, wandten sich die Reisenden im
Februar 18VV von Caracas nach den Thälern von Aragua. Ange¬
kommen an den Küsten des Antillischen Meeres, wanderten sie bis
zum Aequator über die ungeheuren Ebenen von Calabezo, Apura und
die Llanos. Zu Se. Fernando von Apura bestiegen sie ein Canot
und befuhren den Orinoco, darauf kehrten sie nach Barcelona und
Cumana durch die Niederlassungen der Caraibischen Indianer zurück.
Hier verweilten sie einige Monate, und begaben sich dann nach Ja-
maica und Cuba. Zu dieser Richtung ihrer Reise sahen sie sich be¬
stimmt durch ein falsches Gerücht, welches von Amerikanischen Jour¬
nalen ausgestreut wurde, daß die verschobene Erpedition des Capi-
tain Baudin von Havre ausgelaufen sei, um die Erdumsegelung von
Osten nach Westen hin vorzunehmen. In der Absicht, sich ihr an-
zuschließen, sei es in Chili oder Lima, oder an irgend einem an¬
deren Punkte der spanischen Kolonien, mietheten die Reisenden eine
Barke, um sich von Botabano durch die Insel Cuba nach Porto-
bello zu begeben, und von da über den Isthmus von Panama nach
den Küsten der Südsee. Erst zu Quito, wo sie nach sechs Monaten
voller Gefahren und Beschwerden aller Art ankamen, benachrichtigte
sie ein Brief von Delambre, ständigen Secretaire der ersten Classe
des Instituts, daß Capitän Baudin die Fahrt vom Cap der guten
Hoffnung aus beginne, ohne die östlichen oder westlichen Küsten Ame¬
rika's zu berühren. So ließ sie ein journalistischer Irrthum gerade
zur Regenzeit einen Weg von mehr als 80V Meilen durch die ent¬
setzlichsten Gegenden zurücklegen und zwar in einem Lande, das sie
keineswegs zu bereisen beabsichtigten.
Endlich im Januar I8V2 trafen sie erschöpft in Quito ein, wo
sie die gastfreundschaftlichste Aufnahme im Hause des Marquis von
Salpa-Aligre fanden. Sie verwandten hier mehrere Monate darauf,
um sich von ihren Strapatzen zu erholen und zugleich die Provinz
Quito, welche durch ihre riesenhaften Gebirgsformationen, ihre Vul¬
kane, ihre Vegetation, ihre Alterthumsreste, und die Sitten ihrer Ein¬
geborenen ein so hohes Interesse gewährt, näher zu erforschen. Zwei
Mal stiegen sie in den Krater des Vulkans Pichincha hinab und be¬
stiegen die Schneegipfel des Antisana und Cotopari. Endlich be¬
schlossen sie auch die Besteigung des höchsten Gipfels in der neuen
Welt, des wilde», unzugänglichen Chimborasso zu versuchen. Begei¬
stert durch ihre Kühnheit, schloß sich der junge Sohn des Marquis
von Salpa-Aligre dem Unternehmen an. Nach unglaublichen An¬
strengungen und unerhörten Beschwerden, mit denen sie zu kämpfen
hatten, klommen sie bis zu dem Punkte hinan, welcher den Namen
führt: „et Ki-pado «tel l^lahm-Mo;" hier lag der berühmte Gipfel,
der sein königliches Haupt über all' diese Bergriesen erhob, offen vor
ihnen. Dieser Anblick belebte ihren Muth; vor Kälte erstarrend, der
zum Einathmen taugligen Lebensluft beraubt, umgeben von Glet¬
schern, über welche der geringste Fehltritt sie in grausige Abgründe
versenken konnte, schreiten sie weiter und klimmen rüstig hinan; —
als sich plötzlich ein breiter, tiefer Bergschlund gähnend vor ihnen auf¬
thut. In ihrer Hoffnung getäuscht, halten sie an; da bemerken sie
jedoch zu ihrer Linken einen ungeheuren Pvrphhrdamm, welcher weit
über die unteren Berge vorspringt und den östlichen höchsten Gipfel
bildet, auf diesem steigen sie vollends hinan und am 23. Juni 1802
finden sie sich hier halbtodt mit ihren Instrumenten zurecht, in einer
Hohe von 19,50V Fuß über der Meeresfläche, 3485 Fuß über dem
Punkt, bis zu welchem im Jahre 1745, der berühmte 1-t tuo-lläiumuv
gekommen war; mit einem Worte, in einer Hohe, bis zu welcher sich
noch kein Mensch erhoben hatte. Jetzt richteten sie ihre Instrumente
nach dem unbestciglichen westlichen Gipfel, und dieses Gebirgshaupt,
zu dessen Besteigung sie sich vergeblich abgemüht, ragte noch 2140
Fuß über sie hinaus. Indessen hatte die Luft die Hälfte ihrer ge¬
wöhnlichen Schwere verloren, die Lunge empfing nur mühsam mit
jedem Athemzuge noch so viel, als zur Aufrechterhaltung der schwin¬
denden Lebenskraft unumgänglich nöthig war, das Blut trat aus
Augen, Lippen und Zahnfleisch. Nachdem sie gewissenhaft ihre Be¬
rechnungen vollendet hatten, sahen sich die drei Entdecker gezwungen,
diese tödtlichen Regionen zu verlassen.
Auf der Rückreise nach Quito richten sie sich nach dem Amazonen-
strome, steigen über den Rücken der Andeskette nach Peru herab, und
gelangen nach Lima; hier trennen sie sich vom Marquis von Salva-
Aligre, reisen nach Merico, kommen hier an, erforschen das Vater¬
land Montezuma's nach allen seinen Bedeutungen und Verhältnissen
hin, bringen ihre unermeßlichen Sammlungen in Ordnung, kommen
nach Havanna zurück, sehen von dieser Insel nach Philadelphia über,
durchsuchen Nordamerika, dann endlich landen sie, nach einer fünf¬
jährigen Abwesenheit, wieder zu Havre de Grace gegen das Ende
des Jahres 1804 und bringen die kostbaren Früchte ihres großartigen
Unternehmens nach Europa.
Die ungeheure Sammlung, welche alle diese Reichthümer ein¬
schließt, besteht aus sieben nach einander durch den Druck von Hum¬
boldt veröffentlichten Abtheilungen, von denen jedoch, glaube ich, einige
Lieferungen noch zurück sind.
Die erste Abtheilung besteht aus der historischen Schilderung
der Reise, nebst einem geographischen, geologischen und physikalischen
Atlas; die zweite ist betitelt: ,,^et»s mtlorosc^ne, on Vues ac8
L»!'<ziliore8, et mcmuments ävs peu^s mäigeiies <j>i voiive-in tücm-
tinlint;" die dritte: „Xovlng'le, on ^«-ttowie compitreo;" die
vierte: „ikssiü politiyue sur I» Uouvelle-IZsmlFlle." Dieses letz-
,ere Werk gibt in sechs Abschnitten Betrachtungen über die Ausdeh¬
nung und physische Beschaffenheit Menco'S, über dessen Bevölkerung,
die Sitten der Bewohner und ihre alte Civilisation; es umfaßt zu¬
gleich den damaligen Standpunkt der Agricultur, der mineralischen
Reichthümer, der Manufacturen, des Handels, der Finanzen und
der Kriegsmacht dieses Landes. —
' Die fünfte Abtheilung der Sammlung, welche den Titel führt:
,,^8t>onmnis, MI Können et'ol>8izrvii,ti(,ii8 iiiitronomimik«schließt
alle hierin einschlagenden Beobachtungen ein, welche Humboldt vom
zwölften Grade südlicher bis zum 41ten Grade nördlicher Breite ge¬
macht hatte, serner eine Aufzeichnung von fast 7W geographischen
Lagen, von denen zweihundert und fünf und dreißig durch Humboldt
zum ersten Male aufgenommen sind.
Die sechste Abtheilung, welche „l^iz'Siale ALNvr.'ac vt Avo-
Arapme ach pi»öde-s" betitelt, ist glaube ich, derzeit noch nicht voll¬
ständig erschienen, aber doch theilweise unter dem Titel: „U«8»i «ur
Avvxritplne «Zeh pi-kutes." In diesem Versuche hat Humboldt die
Elemente einer neuen Wissenschaft niedergelegt, der botanischen
Geographie. Jede Region des vegetabilischen Reiches findet sich
eingetheilt und classifizirt nach bestimmten Gesetzen, welche auf einer
Vergleichung der von der Vegetation beider Continente dargebotenen
Erscheinungen basiren.
Die sie heute endlich , welche unter dem gemeinschaftlichen Titel:
„KowiuPio" mehrere Unterabteilungen einschließt und von Bonpland
in Vereinigung mit Humboldt und Kunth herausgegeben wurde,
enthält mehr als sechstausend Gattungen neuer Pflanzen, womit die
zwei Reisenden das Feld der Botanik bereichert haben. —
Die Anordnung, Ausarbeitung und Herausgabe aller dieser
Stoffe hielten Humboldt einen großen Theil seines Lebens in Paris
zurück. In freundschaftlichen Verhältnissen mit allen unseren Gelehr¬
ten lebend, namentlich mit Arago und Gay-Lussac, unternahm er
mit Letzterem eine neue wissenschaftliche Reise nach Italien; auch mach¬
ten sie eine große Anzahl magnetischer Versuche mit einander und
thaten die Wahrheit von Biot's Theorie über die Lage des magne¬
tischen Aequators dar. Im Jahre 1817 reichte Humboldt der Aka¬
demie der Wissenschaften eine kostbare Charte von dem Laufe des
Orinoco ein; und 1818 begab er sich nach London, wohin ihn die
Bevollmächtigten der Großmächte berufen hatten, um seine Meinung
über den politischen Zustand der Südamerikanischen Völker zu erfah¬
ren. Zur selben Zeit ungefähr hatte er den Plan zu einer Reise
nach Ostindien und Thibet, zu dessen Ausführung ihm der König
von Preußen zu Aachen eine jährliche Unterstützung von .120(10 Tha¬
lern anbot; aber das Project blieb ohne Folgen. Später nach Pa¬
ris zurückgekehrt, veröffentlichte er 1822 seinen „IZssiü xeo^nosti^us
sur Is Aisomont 6e8 roelik« it-uis los <leux liLmis^livrvs." In dem¬
selben Jahre, zur Zeit des Kongresses zu Verona, besuchte der ver¬
storbene König von Preußen, welcher eine große Zuneigung zu ihm
hatte, unter seiner Leitung Italien. Endlich 1826 den dringende»
Anmahnungen seiner Landsleute nachgebend, begab er sich von Paris
nach Berlin, wo er während des Winters 1827 Vorlesungen über die
physische Geographie der Erde hielt, unter ungeheurem Zudrange von
Zuhörern, ja! er mußte sie in einem besondern Lokale für den König,
die königliche Familie und das diplomatische Corps wiederholen. Dar¬
auf machte er zahlreiche Versuche über die Temperatur der Luft in
den Preußischen Bergwerken.
Endlich zu Anfang 18ZV, in seinem sechzigsten Jahre wurde
er von einer neuen Sehnsucht nach der unbekannten Ferne ergriffen,
und unternahm unter den Auspicien der Russischen Regierung eine
Reise, welche der ersten nicht unwürdig ist. Begleitet von Rose und
Ehrenberg, wandte er sich nach Sibirien und dem Caspischen Meere,
stieg über den Ural, untersuchte Tobolsk, das Land der Mongolen,
die Steppen der Kirghisen und Kalmücken, Astrachan; und kehrte
dann durch das Gebiet der Kosaken am Don nach Moskau und
von da nach Petersburg im November 1830 zurück, nachdem er in
weniger als einem Jahre eine Reise von mehr als 2142 Meilen
zurückgelegt hatte. Die Resultate derselben wurden von Humboldt
kurz zusammengestellt und 1831 zu Paris in einem Werke veröffent¬
licht, das den Titel führt: „I^riiAmcmts <le Avolo^lo et alio.ttolo-
^lo .-»»iatisjlle. Diesem Werke soll, wie man sagt, ein zweites be¬
langreicheres folgen, welches die Reisenden gemeinschaftlich heraus¬
geben, und von dem der erste Band bereits in deutscher Sprache
unter dem Titel: „Reise in den Ural" zu Berlin erschienen ist.
Ohne hier von einer großen Anzahl Abhandlungen, welche über
verschiedene Gelehrtenfragen an das Institut gerichtet sind, zu reden,
müssen wir bei einem seinem letzteren und bedeutenderen Werke einige
Zeit verweilen; ich meine das vor Kurzem erschienene Buch, welches
betitelt ist; „Examen critiquv 6e l'Iiistmre alö I» xvoArunliiv 6u
nuuveim contineot, et «le8 ^roxres <le I'it8trou»mie nilutiizne an
XV. et an XVI. «locke." In diesem vierbändigen Werke, welches
Arago gewidmet ist, läßt der Verfasser, aus spanischen Archiven
schöpfend und mit dem Studium der neuaufgefundenen Dokumente
die Kritik aller bis zum heutigen Tage bereits veröffentlichten ver¬
bindend, alle Ursachen, welche die Entdeckung der neuen Welt vor¬
bereitet haben, die Revue passiren. Nachdem er alle die isolirten Ver¬
suche, welche dem großen Ereignisse vorangingen, aufgeführt, setzt er es
selbst in seinen ausführlichsten Details auseinander, betrachtet es nach
allen seinen Resultaten in Bezug auf den allgemeinen Aufschwung,
welches eS dem menschlichen Geiste gegeben, und verfolgt es bis in
seine weitesten Consequenzen für die Civilisation der abendländischen
Völker, welche durch eben dieses Ereigniß zu einer Gemcinschciftlich-
keit des Handelns erhoben wurden, durch die das Uebergewicht ihrer
Macht auf der Erdkugel begründet ist. In diesem gelehrten Werke
Humboldt's erscheint uns Kolumbus nicht mehr blos als von unbewu߬
ter Eingebung erfüllt, als glücklicher Prophet, sondern als ein Mann,
der ebenso groß ist durch Vernunft wie durch Phantasie, ebenso weise
wie kühn, ebenso geschickt in der Ausführung seines Unternehmens
wie gewaltig in seinem Entschlüsse, an seinem Jahrhunderte durch
eine gewisse Art von Irrthümern, von scholastischen Vorurtheilen
und mystischem Aberglauben klebend, und doch weit über dasselbe
hinausragend durch den scharfen und klaren Blick, mit dem er die
Erscheinungen der äußeren Welt durchschaute; als ein Mann, der
ebenso bewunderungswürdig als Beobachter der Natur wie als uner¬
schrockener Schiffer ist, der sich mit erstaunenswerther, in diesem Zeit¬
alter einzig dastehender Geisteskühnheit von der Betrachtung eines an¬
scheinend ganz isolirten Falles zur Entdeckung der allgemeinen Ge¬
setze, welche die physische Welt regieren, emporschwingt. Ihm ge¬
bührt nach Humboldt die wichtige Entdeckung von der Abweichung
der Magnetnadel und die noch viel schwierigere von den Variationen
dieser Abweichung in den verschiedenen Gegenden, Entdeckungen, aus
denen er Folgerungen zog, die von der größten Verstandeskraft und
der genausten Beobachtungsgabe zeugen.
Das ohne Zweifel so merkwürdige Werk Alerander's von Hum¬
boldt, würde meiner Meinung nach es noch viel mehr sein, wenn
er nicht die Anordnung des Stoffes auf eine Weise getroffen hätte,
welche die Lectüre sehr ermüdend macht. Bereits vor langer Zeit
sagte Madame von Stal-l, daß die Deutschen wohl zu denken und
zu schreiben, aber kein Buch geschmackvoll anzuordnen verstünden. In
seinem Bestreben, Alles zu beweisen, begnügt sich der Autor nicht,
sein Werk mit zahlreichen Anhängseln zu durchbrechen, sondern er kann
fast keine Reihe, zuweilen kein Wort schreiben, ohne den Leser auf
eine mehr oder weniger ausführliche Note am Fuße des Blattes zu
verweisen, wodurch das Interesse zersplittert wird; das geht so weit,
daß oft jede Seite zur Hälfte gespalten und zwischen dem Terte und
den erläuternden Anmerkungen getheilt ist. Jedoch verdient dieses
schöne Werk sowohl durch die gewandte Form, wie durch die Bedeu¬
tung seines Stoffes, den Beifall, welchen es nicht nur im speciellen
Kreise der Gelehrten, sondern auch bei allen Lesern erlangt hat, die
an bedeutsamer Lectüre Gefallen finden. Oben sprachen wir von einer
prosaischen Naturschilderung, welche an unserem Gelehrten alle Eigen¬
schaften eines Dichters bemerken ließe. Jenes Werk wurde 18V8 in
deutscher Sprache und unter dem Titel:,.Ansichten der Natur" herausge¬
geben, später auch von Eyrieö unter Aufsicht des Verfassers in'ö Fran¬
zösische übersetzt. Gerade diese von dem Anblicke einer großartigen
Natur in der neuen Welt in's Leben gerufenen Schilderungen sind es,
welche Stellen enthalten, die eines Chateaubriand würdig wären, —
Wir haben schon erwähnt, wie die Wissenschaft, Humboldt'S
Gewandtheit der Sprache, Geschmacke an der Welt und feineren
Geistesbildung keinen Eintrag that; fügen wir nun auch noch hinzu,
daß sie sein Herz nicht krvstallisirte. Trotz der sprichwörtlichen Bit¬
terkeit des berühmten Gelehrten in Spott und Witz, führt man tau¬
send Züge von Menschenliebe und Güte an, welche ihm zur Ehre
gereichen. Preuße von Geburt und Neigung, aber Kosmopolit durch
seine Studien, seine Reisen, seine Geistesfähigkeiten, seinen Geschmack,
fremd allem nationalen Hasse und Vorurtheile, machte er bei sehr
ernsten und kritischen Lagen, bald zu Gunsten seines von Napoleon
besiegten und unterjochten Landes, bald zu Gunsten des unter der
Uebermacht der Alliirten erdrückten Frankreichs, von seinem hohen
Einflüsse einen sehr ehrenvollen Gebrauch. Wenn man dem Ge-
schichtsschreiber Radde Glauben schenken darf, so ist vorzüglich seiner
thätigen Intervention die Erhaltung der Jenaer Brücke zu danken,
welche durch die Brutalität Blücher's bedroht war; so ist es ferner
das Verdienst seiner vielfachen Verwendung und seines Einflusses
bei dem Könige von Preußen, daß die Absicht der verbündeten Kö¬
nige, die Stadt Paris mit einet Kriegscontribution zu biegen und
zugleich die ersten Banquiers als Geiseln bis zur Bezahlung festzu¬
nehmen, nicht in Ausführung kam. Sollte man es glauben — fügt
derselbe Geschichtschreiber hinzu, während er von den zahlreichen
Wohlthaten, die Humboldt so großmüthig um sich her verbreitete,
redet — sollte man glauben, daß derjenige^ dem man so viele Bü¬
cher, so viele Sammlungen von Mineralen und Pflanzen, so viele
werthvolle Kunstgegenstände mit Fug und Recht zutrauen muß; daß
derjenige, welcher so viele und große Summen aufwandte, um sich
dieselben zu verschaffen, — sollte man glauben, daß eben dieser
Mann weder Bücher, noch Kräuter, noch Minerale in seinem
Besitze hat! Alles theilte er unter seine Freunde, und auf gleiche
Weise verfuhr er oft mit seinem Meublement; Alerander von Hum¬
boldt scheint nur zu besitzen, um zu geben. Dafür aber stehen ihm
auch alle Kabinette, Laberatorien und Bibliotheken Europa's offen.
Wenn er sich in Paris befindet, so schließt er sich oft Wochen lang
bei seinen Freunden ein, die alle erfreut und bemüht sind, ihn gast¬
freundlich zu empfangen. Bei ihnen hat er alle diejenigen seiner
Arbeiten ausgeführt, zu welchen Instrumente und wissenschaftliche
Apparate erforderlich waren; weshalb man auch lange in dem Glau¬
ben stand, er habe mehrere Wohnungen in derselben Stadt. Man
sollte seinem Charakter nach kaum glauben, welche Sorge und Mühe
er sich machte, um seinem Freunde Bonpland Hilfe zu schaffen, so¬
bald er sein Unglück erfuhr. Wohl konnte er alle civilistrte Regie¬
rungen der allen Welt zu Gunsten des französischen Naturforschers
in Bewegung setzen, aber seine Ketten zu brechen vermochte er nicht/)
Es versieht sich von selbst, daß Humboldt Mitglied aller ge¬
lehrten Gesellschaften und mit allen europäischen Orden decorirt ist.
Das Institut zählt ihn unter die Zahl seiner berühmtesten und eif¬
rigsten Correspondenten. Humboldt ist Hagestolz; als ihn eine schöne
Pariserin eines Tages fragte, ob er niemals geliebt habe, antwortete
er: „Niemals etwas Anderes, als die Wissenschaft." Wir möchten
es indessen nicht beschworen, daß sich der berühmte Gelehrte in die¬
ser Beziehung niemals einer Untreue sollte haben zu Schulden kom¬
men lassen.
Was Humboldt nach der Wissenschaft am meisten liebt, ist viel¬
leicht das Leben von Paris. Er bespöttelt wohl zuweilen Frankreich,
aber im Grunde findet er großen Geschmack an demselben, und stat¬
tet ihm häufig seinen Besuch ab. Er war es, der uns im Jahre
1830 die officielle Anerkennung des Julithrons vom König von Preu¬
ßen überbrachte; und er war sehr zufrieden mit seiner Sendung.
Paris hat ihn seitdem noch öfter wiedergesehen, noch vor kurzer Zeit
schloß es ihn in seine Mauern ein.
Weiter oben habe ich ein Wort von der Conversation des
Herrn von Humboldt fallen lassen; es ist das ein berühmter und
interessanter Gegenstand, den es sich wohl der Mühe lohnt, etwas
näher zu beschreiben. Ihr tretet in einen Salon und bemerket einen
Greis von mittlerem Wuchse, mit kahler Sum, die von weißen Haa¬
ren umgeben ist; im Ganzen betrachtet, trägt seine Ehrfurcht gebie¬
tende Gestalt das doppelte Gepräge der Intelligenz und der Güte.
Indessen tretet ein wenig näher und prüft dieses leuchtende Auge,
dessen Blick einen Ausdruck von geistreicher Laune verräth, der an
Bosheit grenzt. Der Greis spricht noch nicht, oder seine Unterhal¬
tung bewegt sich innerhalb der Gemeinplätze des Regens und schö¬
nen Wetters. Aber die Herrin des Hauses, welche ihren Mann
kennt und nutzen will, drückt unvermerkt an der Feder, indem sie
eine Frage nach Reisen, Politik, Astronomie und dergl. thut; das>
Feuer faßt auf der Stelle, die Rede Humboldt's dringt hervor,
schnell und glänzend wie ein Blitz, und der Blitz dauert eine halbe
Stunde, eine Stunde, zwei Stunden, unter der Botmäßigkeit deS
berühmten Sprechers. Gewöhnlich hat man daran wenigstens für
eine halbe Stunde hinlängliche Unterhaltung; je mehr sich aber bei
besonderer Gelegenheit der Monolog ausdehnt, desto mehr fürchtet
man, ihn geschlossen zu sehen: er gewährt ein unglaublich mannig¬
faltiges Interesse; und wenn sich ein gewandter Zuhörer darunter
findet, der durch ein zur passenden Zeit dareingeworfeneS Wort den
Strom der Rede zu wenden weiß, oder etwa gar Miene machte —
was übrigens außerordentlich selten ist — sich dem Laufe an irgend
einer Stelle feindlich entgegenzustemmen; dann wird man wahr¬
haft hingerissen, und der Geist empfindet ein immer gesteigertes
Vergnügen, dem überraschenden Entwicklungsgange dieses unermüd¬
lichen Vertrags zu folgen, welcher sich in eigenthümlicher Laune über
alle Theile der Welt, über alle erdenkbaren Gegenstände ergeht, wäh¬
rend er auf seinem Wege in reichlichem Maaße Wissenschaft aus¬
streut, politische Ansichten, die überraschendsten Bemerkungen über
Kunst und Literatur, die interessantesten Schilderungen, die frappan¬
testen Erzählungen, die pikantesten Anekdoten, die bittersten Sarkas-
men, die treffendsten Witze und bons mots.
So wird Humboldt etwa, wenn er eben noch von den Hiero¬
glyphen geredet hat, plötzlich zu den Ehestandöleiden des Herrn A.
übergehen, wird die orientalische Frage verlassen, um die stürmischen
Liebesabenteuer der Madame B. zu behandeln; wird von Sibirien
Abschied nehmen, vom Gipfel des Chimborasso herabsteigen, mitten
durch den Ocean schiffen, oder aus den Freiberger Bergwerken her¬
aufsteigen, um sich ungestüm auf irgend eine Lächerlichkeit des Tages
oder der Nacht zu werfen; vom Gefühle der eigenen Wichtigkeit auf¬
geblasene Dichter, nebeldunstige Philosophen, pedantische Gelehrte,
unbegreifliche Frauen, marktschreierische Staatsmänner, patriotische
und konservative Journale, das Publicum, auf dessen Beutel es ab¬
gesehen ist, Alles ist ihm recht, nichts entgeht ihm; unglücklich der¬
jenige, welcher unter die Hände dieses germanischen Nivarol fällt,
denn er schont Niemand, und seine Ausfälle sind, ohne geradezu
bösartig zu sein, tief verwundert.
Und dabei reicht Euch Humboldt diese Philippina im treuher¬
zigsten Tone von der Welt, mit gesenktem Haupte, mit zur Erde nie¬
dergeschlagenen Augen, mit unerschütterlicher Kaltblütigkeit, mit unge¬
zwungenen deutschen Accente, der die komische Wirkung seines Witzes
noch erhöht, mit einem reißend schnellen, unerschöpflichen, mannigfal¬
tigen Vortrage, der unaufhaltsam weiter und weiter schreitet, ohne
Punctum, ohne Comma, indem jeder folgende Ausdruck sich in ununter-
brochener Reihenfolge an den vorhergehenden schlingt, dessen ganzes
Getriebe von einer Dampfmaschine in Bewegung gesetzt zu sein scheint.
Wenn man so gehört hat, wie Aker. von Humboldt Menschen
und Verhältnisse die Revue passiren läßt, so hält es wirklich schwer sich
in sein Gedächtniß zurückzurufen, daß der berühmte, moauante Ge¬
lehrte im Grunde das trefflichste Gemüth besitzt, das es geben kann,
daß er der uneigennützigste, edelmüthigste und aufopferndste Charak¬
ter ist; daß sein ganzes Leben der Liebe zur Wissenschaft geopfert
wurde; daß er in Berlin, wo er sich des vollständigsten Vertrauens
seines Königs erfreut, dessen Kammerher er ist, nie etwas anderes sein
wollte, und von seinem Einflüsse einen durchaus edlen Gebrauch zu
Gunsten der Literatur, Wissenschaft und Kunst machte; daß er mit
einem Worte das Geheimniß gefunden hat, viel Gutes zu thun und
sich bei aller Welt beliebt zu machen, indem er gegen alle Welt
loszieht. —
Mittlerweile ist das letzte unsterbliche Werk Humboldt's, der
„Kosmos," erschienen, und nach dem kurzen Zwischenraume seines
Erscheinens bereits vergriffen. Mit Recht sagt Wienbarg in den
„Hamburger literarischen und kritischen Blättern": „Der Kosmos ist
ein Weltpanorama, eine Anschauung des All mit so viel Einsicht
in das kreisende Allleben, wie nur jetzt ein Sterblicher, auf der Höhe'
der heutigen Naturwissenschaften stehend, darbieten kann." In dem
„Kosmos" erscheint uns die berühmteste wissenschaftliche Persönlichkeit
Preußens in ihrer Größe und Ruhe; und man weiß nicht, ob man
der Tiefe der Anschauung oder der Plastik der Darstellung die Palme
zuerkennen soll.
Es ist seltsam, wie so manche Schriftsteller, die sich unter ihrem
echten Namen literarisch genugsam bekannt gemacht haben, doch im¬
mer von Neuem mit ewig wechselnden Masken vor das Publicum
treten, aber dabei doch dafür sorgen, daß dieses vorher bereits wis¬
sen möge, wer unter der Halbmaske steckte. Dies mahnt an den
Hoffmann'schen Fürsten, welcher tagtäglich von Neuem im grünen
Rocke zur Försterwohnung geht, welchen tagtäglich die Försterin un¬
willig fragen muß: Monsieur, was wünschen Sie? und welchen
sie tagtäglich erschreckend um Verzeihung bitten muß, wenn er den
Ueberrock aufknöpfend ihr den großen Stern des Hausordens zeigt.
Aber, da das Publicum nicht die Gewohnheit hat, um Verzeihung
zu bitten jene Männer mit Nedouttenbrillen, über dem Hoffrack
einen Domino geworfen, nach deren Namen auch nur fragt, wer sie
überhaupt nicht kennt: wozu vollends die Anonymität oder Pseu-
donymität, wo es nur gilt, „ohne Vorliebe, wie ohne Haß," den
geschichtlichen Gang der Ereignisse zu prüfen, wie in diesen „Ane¬
monen aus demTagebuch eines alten Pilgersmanes?"*)
Eine Menge von Zeitungen und Journalen hatte es schon vorher
»erkundet, daß hier derselbe allbekannte staatsmännische Historiograph
auftrete, welcher die Lebensbilder aus dem Befreiungskriege geschrie¬
ben, und die Behauptung, daß diese vom Freiherrn von Hormayr-
Hortcnburg stammen, ist nirgendwo von diesem zurückgewiesen wor¬
den. — Doch warum darnach fragen? Wer mag immer diploma¬
tischen Gründen nachgehen? Soviel ist aber sicher, daß das Buch
noch bedeutsamer wirken würde, wenn der Name eines so bekann¬
ten Geschichtsforschers darauf stände. Wir Deutschen halten um
einmal auf Autoritäten, und glauben ihnen da, wo wir mit eignem
Forschen nicht nachkommen können, leichter und fester, als den regelrechten
Beweisführungen. Hier aber war es doppelt nöthig, dem Publicum
eine Autorität zu geben, denn daS ganze Werk ist als eine histori¬
sche Offensive gegen den deutschen Stabilismus zu erachten. Es um¬
faßt in memoirenhafter Darstellung verschiedene Zeiten, Wandlungen,
Episoden und Epochen der innern Sraatengeschichre von fast ganz
Europa, vorzüglich aber des deutschen Reiches unter österreichischem
Scepter und speciell des Hauses Oesterreich. Durch diese Schilde¬
rungen, Zusammenstellungen und Entwickelungen der wundersamen
Geschichte des Hauses Habsburg verliert dasselbe allerdings an sei¬
nem legitimen Nimbus und am reinen Purpurglanze seiner Kaiser¬
mantel mancherlei. Der durch das ganze Buch sich ziehende Gedanke
ist- Ihr Absoluten und stabilen beruft Euch auf die historische Basis
Eurer Forderungen und Ansprüche, Ihr werft den Mangel dieser
dem modernen politischen Streben vor: hütet Euch, denn eben diese
historische Basis zerbröckelt sich, wenn mit dem Lichte der Wahrheit
beleuchtet. Dieser Gedanke wird sogar wörtlich an die Spitze des
Rundes gestellt. „Gerade weil jetzt so viel von historischem Bo¬
den und von altem Rechte die Rede ist," — sagt der Verfasser
— „im Gegensatze mit revolutionärem, liberalem, doktri¬
närem und reformistischem Treiben, darum thut es doppelt
noth, in die Vergangenheit, in die „guten, alten Tage" zurück-
Äigehen, und ohne Vorliebe, wie ohne Haß, den Gang zu prüfen,
den die Lava der Umwälzung und Neuerung genommen hat — ob
dieser Gang nämlich von unten nach oben — oder ob er nicht
vielmehr in einem fort von oben nach unten gegangen sei. —
Zu dieser Prüfung muß man aber in die Tage des Habsburgischen
Geschlechtes hinaufsteigen. — Das jetzige Kaiserhaus Lothringen
trifft sie nicht. — Dieses herrscht erst über ein halbes Jahrhundert.
Nach Hormayr sollen es drei Grundzüge sein, „die durch alle
Habsburgtschen Geschichten so streng und so zähe durchlaufen, wie
der rothe Faden in der brittischen Marine":---die Un-
wahrscheinlichkeiten, — die selbstgemachten Verschwö¬
rungen — und — der Undank."
Dies also sind die Grund- und Vordersätze, zu deren Erweis
das ganze zweibändige Werk vorhanden ist. Ihnen zu dienen schwin-
gen sich in tausendfach verschlungenen Arabesken Urzahlen geschicht¬
licher Geschichtchen und historischer Histörchen an Abdrücken authenti¬
scher Documente empor. Und manche Arabeske wiederholt sich oft
genug, z. B. auch jene, die uns Deutschen freilich nicht artig er¬
scheint, weil darin dargestellt ist, wie die letzteren vier Oberhäupter
des deutschen Reiches, Franz I-, Joseph II., Leopold II. und Franz
II., eigentlich französischen Blutes waren; serner jene, aus welcher
wir erfahren, wie der spätere Kaiser Fmnz I. (von Lothringen) im
Jahre 1730 zu Paris auf den Knieen den Vasalleneid leistete u. s. w.
Allein außer derartigen Details und Anekdoten kann man nur
wenig Erkleckliches aus dem Buche schöpfen. Zu einer Pragmatik
dieser verworrenen GeschichtSgänge, wie sie uns darin vorüberschwir¬
ren, zu gelangen, ist kaum möglich. Man ist fortwährend lesend
darauf hingewiesen, die ungeheure Menge des Detaiimaterials rich¬
tig in seine Jahrhunderte zu vertheilen, denn bunt und kraus hüpfen
die Sätze und Geschichten aus einem Jahrhundert in's andere, von
einem Regenten zum andern, von einem Staate zum andern. Es
ist mitunter unmöglich, sich der Grenze bewußt zu werden, wo die
eine Mittheilung aufhört und die neue beginnt. Es ist also auch
kaum möglich, die zusammenknüpfenden Fäden der ganzen Allgemein¬
heit des Dargestellten zu verfolgen und von einer gewissen Anord¬
nung des historischen Gewebes zu dem Buch ist eigentlich nur sehr
wenig Spur vorhanden.
Drei Dinge sind es vor Allem, was dem Buche schaden und die
ungeheure Gelehrsamkeit des Verfassers, sowie das Scharfsinnige einer
Anzahl geistreicher Bemerkungen zu Nichte machen. Vorerst die Form¬
losigkeit und die allzu große Voraussetzung von Kenntnissen, die der
Verfasser bei seinen Lesern macht. Er, der durch Jahrzehnte in den
kostbaren und geheimsten Archiven Oesterreichs gewühlt und sich voll¬
gesogen bat, sprüht tausend Funken auf ein Mal, ohne zu bedenken,
daß dem größern Publikum ein guter Theil der Schlagworte, die ihm
ganz geläufig, völlig unbekannt sind. Man muß daher annehmen,
es sei vorzüglich das gelehrte und publicistische Publikum, das er bei
Abfassung seines Werkes im Auge gehabt. Aber diesem gegenüber
verfällt er in zwei andere Fehler. Erstens zerstört er durch allzugroße
Leidenschaftlichkeit und manchen nichts weniger als wissenschaftlich ge¬
führten Beweis das Vertrauen zu seiner Objektivität und Wahrheitö-
liebe, und zweitens fehlen allzuoft die Quellenangaben, die gerade
einem Parteischriftsteller, namentlich wo, wie hier, persönliche Gereizt¬
heit den Autor in ein seiner frühern Laufbahn entgegengesetztes Lager
geführt hat, doppelt nothwendig sind. Wenn ein künftiger Geschichts¬
schreiber das ungeheure Material, welches Herr von Hormayr in
diesen fünfzig Bogen zusammengehäuft, behufs einer pragmatischen
und objectiven Historiographie, wird benutzen wollen, dann wird er
in nicht geringer Verlegenheit sein, die 32 Ecken der Windrose auf¬
zusuchen, aus denen der Verfasser seine Anemonen zusammengeblasen
hat. Es ist ominös, daß Anemone zu deutsch ein Windröschen heißt.
Doch soll uns aller Tadel nicht abhalten, dieses Buch für eines
der interessantesten und merkwürdigsten zu erklären, die in neuerer
Zeit erschienen. Vielleicht sind gerade alle diese Mängel nöthig ge¬
wesen, damit der Verfasser das reichgefüllte Faß seines Wissens spru¬
deln ließ, ohne Haß und Leidenschaftlichkeit wäre er schwerlich daran
gegangen, das Buch zu schreiben und ohne seine Rücksichtslosigkeit
gegen Form und Anordnung hätte er es nie zu Ende gebracht. Um
dieses Meer von Wissen in gehörige pragmatische und wohlgefügte
Ordnung zu bringen, dazu braucht es ein halbes Menschenalter.
Aus den unendlich zahlreichen und pikanten kleinen Episoden
wollen wir hervorsuchen, wo die Phantasie und die synthetischen Gedan-
kengänge des Autors ihn nicht schon auf der zweiten Seite zu Ab¬
stechern in andere Epochen verleiteten.
Die Zeit, in welcher Carl Vl., der Vater Maria Theresia's, re¬
gierte, zeigte überall das Bedürfniß vermittelnderUebergängc.
— Carl VI. steuerte mit Ernst der Straflosigkeit der empörendsten
Verbrechen durch die Asyle in Kirchen und Klöstern und in den Häu¬
sern der Gesandten, deren Dienerschaft oft ein Geschäft daraus machte,
die Verbrechen und die Verbrecher zu schien und die Letzteren dann
unter allerlei Vermummung aus dem Lande zu schwärzen. Mit Ge¬
walt durfte zwar kein Verbrecher seinem Asyl entrissen werden. Da¬
gegen nahm oft, besonders das Militär, zu empörenden Mitteln die
Zuflucht, am Schuldigen dennoch die vindiet-r publica zu nehmen.
Gute Kameraden leisteten dem Verbrecher Gesellschaft, mit vollen
Bechern, mit gewinnversprechenden Würfeln, mit schmiegsamen Mad-
chen, vermummten den TodeStrunkenen und trugen ihn hinweg, einen
Andern in seinen Kleidern zurücklassend, oder sie brachten ihm (meh¬
rere Tage und Nächte bei ihm ausharrend) köstliche, aber scharfge¬
salzene Speisen, ihm nicht einen Tropfen zulassend, den brennenden
Durst zu stillen, oder sie ließen ihm durch mehrere Tage und Nächte
auch nicht einen Augenblick die Ruhe des Schlummers, daß am Ende
die Verbrecher um Gotteswillen um den Kerker und um das Hoch¬
gericht baten, weil sie die Qualen des Durstes und der Schlaflosig¬
keit nimmermehr auszuhalten vermochten, — Dem Gmeralprofosen
in Raab entflohen einst drei des Einverständnisses mit den Kurutzen
schwer bezüchtigte Soldaten. schimpflicher Tod wartete seiner. Da
schickte der „Herr Vater" seinen „lieben Söhnlein" fleißig zu essen
und zu trinken in die Klosterfreiung, Das dritte Mal waren alle
drei wie Ratten vergiftet. — Ein Raubmörder entkam durch grobe
Fahrlässigkeit des Schließers zu Judenburg zu den Franziskanern. In
der Angst vor der Strafe legte der Gerichtsdiener Feuer an das Asyl
und entfloh. Ein Sturmwind legte ganz Judenburg bis auf drei
Häuser in Asche. Er wirbelte das Feuer sogar in den nahen Wald
und erst in vierzehn Tagen wurde man der wüthenden Flamme völlig
Meister.
So wie Bären und Wölfe in harten Wintern sich hungerig bis
an die Wälle der Städte wagten und hart an selben, bewaffnete
Männer bis auf ihre Gewänder und Stiefel verzehrten, ja Cavallerie-
ordonanzen, nach verzweifelnden Widerstande Mann und Roß zer¬
rissen, vermaß sich der Straßenrand eines Gleichen. An vielen Stel¬
len mußte der Wald neben der Heerstraße gelichtet, die verdächtigen
Wirthshäuser gesäubert und mit verläßlichen Leuten besetzt werden,
auf den Höhen wurden weitaussehende Wachthäuser gebaut, von denen
in jeder Nachtstunde Patrouillen auf- und abzogen. Der Landprofos
hielt monatliche Streifereien, legte stärkere Hut auf die Gränzpässe,
unterhielt regelmäßige, wohlbezahlte Kundschafter, die jedoch wenig
halfen, wenn es nicht gelang, einen Verräther unter der Bande zu
kaufen oder einen falschen Bruder unter selbe zu mischen. Gegen die
Zigeuner, welche ganze Gegenden in Schrecken setzten und nament¬
lich mit Recht oder Unrecht sür die gefährlichsten Spione der unga¬
rischen Mißvergnügten galten, befahl ein Cirkular, daß alle Amt¬
männer und Hauptleute: — „daß selbte aller orthen die sambtlich
vogelfrei erklärten Zigeuner, wo sie sich betrcttcn lasseten, <>u ij!«,»,
da sie sich Zigeuner zu sein bekennen, sambt denen Weibern ent¬
weder balt niedermachen oder gleich auffhcnkhen lassen, die
Kinder aber in die Spitäler zu christlichen Aufferziehung außtheilen
vndt denne gemäß also schleunigst und ohne alle umbständt verfahren
und zuegrciffen sollen." — Unter vielen anderen Thaten des Ent¬
setzens tödtete unter andern ein Lichtensteinischer Schloßhauptmann
von Hohcnstadt und sei» jüngerer Sohn, den älteren sammt Weib
und Kind. Der Unglückliche, seit Jahren Vermißte, war durch Zu¬
fall in einem Wald unter die Zigeuner gerathen und selber Haupt¬
mann einer Bande geworden, durch die Reize eines schönen Zigeuner-
Mädchens verführt, — Nach dem Unglück der Rakoczyschen Waffen
bei Tyrncm, bei Trentsin, bei Nomhay, nach dem Ende derRakoc-
zyschen Unruhen durch den Szathmarerfrieden fanden sich gar viele
edle Flüchtlinge und versuchte Krieger unter den Zigeunern und setz¬
ten den kleinen Krieg als Raub fort. Noch lebt in den Sagen und
Liedern des Volkes der furchtbare Najnoha, der die ganze Kette der
weißen Berge, der grausame Kovuts und Lose), welche die Liptau
und Thurotz unsicher machten, — Seit jener großen Verfolgung er¬
hoben sich die (1417 in den Tagen des Kosemitzer Kirchenrathes, des
Hussitenkrieges, der Siege Polens über den deutschen Orden in Preu¬
ßen und der Jungfrau von Orleans), zum ersten Mal in Ungarn
erscheinenden und unter ihrem Wajda, Herzog Michael, mit könig¬
lichen Privilegien begnadigten Zigeuner, nur mehr als Abdecker,
Folter- und Henkersknechte, Hufschmiede, Nagelschmiede, Herenmei-
ster, Propheten, Pferdeärzte und Spielleute, wohl auch als Dichter.
— Niemand vermag wie sie jene dunkel gewaltigen, wechselweise herz¬
zerreißenden und muthvoll begeisternden Töne der Geige zu entlocken,
— zu den hochtragischen Liedern und Balladen vom tausendfachen
Unglück ihres Hindu-Stammes und vom Untergange der ungarischen
Freiheit. Da sind die Paganini's dutzendfach, da scheint jede Strophe
ein grausenvoller Refrain aus Dante's Hölle zu sein: „ki^ni-les, vir
on air'mei-ale, o^ni 8mern,ii?ü!" — Der dichterische Geigenspieler
Barna-Mich-Up, mit Recht zubenannt Magyur-Orpheus, dann der
erst 1,83 t unter den Opfern der Cholera gefallene Jantschy von Frei-
stadtel (Galgocz) und noch mehr die Zigeuner-Sappho, Czinka Parma
werden stets unvergessen bleiben, wie so viele klassische Märchener-
zähler, welche Hunderte tageSmüder Arbeiter bei einem Stümpfchen
Talglicht in irgend einer ungeheuern Scheune um sich versammeln
und trotz Müdigkeit, Hunger und Schlaf, voll der glühendsten Auf¬
merksamkeit zu fesseln verstehen an jegliches Wort ihres Mundes. —
Noch unter Joseph zählte Ungarn über fünfzigtausend Zigeuner.
Ueberhaupt herrschte unter Carln VI. noch viele Wildheit der
Sitten, ungeheuerer Zunftstolz und unaufhörliche Hinneigung zum
Faustrecht und zur Selbsthülfe. Die besonders gewaltige und wilde
Zunft der Fleischhacker war durch eigene Briefe in enge Fesseln ge¬
schlagen. ES wurde - ihnen Urfehde und Abschwörung aller Rache
für das, was einem aus ihnen widerfahren, zur strengsten Pflicht
gemacht, bei Verlust Leibes und Gutes. — Da es sich gezeigt, daß
die Fischer den größten Unfug treiben, so sollte ihnen weder im
Winter noch im Sommer ein Mantel, Gugel oder Hut erlaubt sein,
sondern sie sollen bei Sonne und Regen bloöhäuptig auf dem Markte
stehen, so lange sie Fische feil haben, damit sie um so mehr eilen
und den Leuten um so bessern Kauf geben! — Die erst unter Leo¬
pold vertriebenen Juden fanden sich unter Carl häufig wieder ein
uno leisteten nicht geringe Dienste im Frieden und im Kriege, doch
mußten sie jeden Augenblick neue Scenen der Verfolgung und des
Mordes erwarten. Sie zahlten Leibzoll wie das Vieh, mußten spitze
Hüte und einen gelben Fleck am linken Arm tragen. — Den Sessel¬
trägern wurde verboten, ansteckende Kranke, Livree-Personen, viel
weniger Juden zu tragen!! Aehnliches wurde den Miethkutschern
eingeschärft. Fleischlicher Umgang zwischen Juden und Christen war
früher grausamer bestraft worden, als die Vermischung mit Thieren.
Dem ungarischen Juden, der einem Christcnmädchen Gewalt ange¬
than hatte, wurde das Glied, womit er gesündiget, in ein mit Schwe¬
fel und Pech erfülltes Fäßchen eingespündct und selbes in langsames
Feuer gesetzt, ihm aber, als gnädige Milderung, ein scharfes Messer
dazu gelegt, damit er im Wahnsinn der Qualen sich das Glied ab¬
schneiden und alsdann frank und frei davonlaufe möge (1548). Wurde
ja doch nach Schweizergesetzen die zweifache Ehe dadurch bestraft,
daß der schuldige Theil entzwei gehackt und jedem Gatten ein
Theil davon zugestellt wurde!! — In Toggenburg und Se. Gallen
wurden die Diebe eines andern Religionsbekenntnisses an einem nie¬
dern Galgen an dem Fuße aufgehängt, um ihren Kopf und Hals
von zwei unten an Ketten angebundenen beißenden Hunden abnagen
zu lassen. — Die eifrigsten gegen die Juden waren immer die Wie¬
ner Schuster, die schon unter Albrecht I. gedroht hatten, den Burg¬
graben mit ihren Schusterleistcn auszufüllen und sohin die Burg sel¬
ber im unwiderstehlichen Anlauf zu erstürmen. Auch jetzt noch unter
Carln Vl. erregten sie zwei schwere Aufstände. Langwierige Hast
und schwere körperliche Strafen hinderten sie nicht, neues Unheil an¬
zufangen. Kaum wurde ein neuer Aufstand 1722 durch die Hin¬
richtung der zwei Rädelsführer, durch die Verurtheilung Vieler auf
die Galeeren und in die Zuchthäuser und durch Millionen Stockprü¬
gel gedämpft. Was zu Wien in der Hauptstadt im Angesichte des
Hofes, der Ministerien, eines zahlreichen und mächtigen Adels, die
tolle Hitze sich erlaubte, giebt einen Maaßstab für das, was in den
Provinzen geschah. Die Spielwuth der Wiener war noch immer so
groß, daß täglich entsetzliche Auftritte der Verarmung und Verzweif¬
lung, der Zweikämpfe, Selbstmorde und Gotteslästerung hervorgingen.
Viele gänzlich heruntergekommene Hazardspieler und Wetter suchten
durch letztere ein Ende durch's Henkerschwert. — Die uralte Satzung
mußte von Zeit zu Zeit den Wienern untersagen „auf öffentlicher
Straße, Weib und Kind oder ein Glied zu verspielen, das Gott
an ihrem Leib erschaffen habe." — Gewordene Söldner (später soge¬
nannte Linientruppen, n>nie«8 perpetui, wie sie seit dem westphäli-
schen Frieden nach und nach die alte Ordnung, das alte Recht und
die öffentliche Wohlfahrt in allen Reichsprovinzen mehr und mehr
untergruben) durften unter Leopold noch gar nicht in die Stadt; un¬
ter Carl dagegen mußte ihnen die Stadt bereits eigene Kasernen er¬
bauen. Welcher Todesstoß für die aristokratische und Communal-Un-
abhängigkeit? Die Stadt-Guardta und die Numorwache der Haupt¬
stadt durchzuckte nicht selten derselbe Geist kleinlicher Eifersucht und
hochmüthiger Zwietracht, der noch in unsern Tagen zwischen dem
Linien-Soldaten, dem Gensd'armen oder Landdragoner, — überhaupt
den Polizeisoldaten — wahrgenommen wird. Unter Leopold hatten
sich beide Sicherheitswachen oft inmitten der Stadt, aber noch häu¬
siger der Vorstädte förmliche Scharmützel geliefert und sich zu den
entgegengesetzten Parteien geschlagen. Das allgemeine Wasserträger
zog gar viele schlimme Folgen nach sich. In den Wein- und Safran¬
gärten dicht um Wien, ja selbst in der Stadt und Festung wurde
unaufhörlich geschossen, aus Muthwillen, oft aber um hinter diesen
gewohnten und keinerlei Aufsehen mehr erregenden Muthwillen, die
schlimmsten Plane der Rachsucht und der Parteiwuth zu verbergen.
Förmliche Schlachten der Fleischhacker, der Fischer, Maurer und
Steinmetzen, dann zwischen den Studenten, Soldaten, Juden, waren
gar nichts Ungewöhnliches. Die sogenannte Passions- und Bußpro-
cession am Freitag vor dem Palmsonntag, auch am Charfreitag mit
vielen, allzumalerischen Darstellungen aus dem alten und neuen Te¬
stamente, wobei zwischen dem Christus am Kreuz und der am Fuße
desselben inbrünstig hinaufblickenden, schönen und bußfertigen Mag-
dalena, — zwischen Juda und Thamar, Boas und Ruth, David
und Bathseba, Susanna und den gelten Richtern, höchst unerbauliche,
wenn auch naturgemäße Jntermezzos inzwischen traten, waren den
Behörden- wegen vielfacher Unanständigkeiten längst ein Dorn im Auge
gewesen. — In der Charwoche 1674 führte diese Procession zu einem
förmlichen Treffen zwischen den Studenten und der Stadt-Guardia
Wiens. — Um von jenen Processionen und den Vorbereitungen dazu
den rechten Begriff zu haben, und durch welche grobe Sinnlichkeit
man glaubte, religiöse Vorstellungen am sichersten und dauerndsten
einpflanzen zu können, zeigt die Instruction, wie die Hauptfiguren
aufgesucht und ausgewählt wurden. — So wurde gefordert, „daß
Gott der Vater sei eine gerade, lange, starke, wohlformirte Per¬
son, mit einem langen, ziemlich dicken grauen Barte, nicht etwa gelb,
kupferfarbig oder etwa mit einigem Ausschlag behaftet, sondern glatt
unter dem Angesichte, der wie der selige Doctor Sire ausgesehen,
oder wie der Jnderstorfer Wirth eine Gestalt habe. — In Ansehung
der Person Christi sollte der Director der Procession wenigstens vier¬
zehn Tage zuvor fleißig auf den Gassen, Kirchen ze. Acht haben,
um Personen zu ersehen von gehöriger Mannslänge, nicht zu dick,
von guter gesunder Farbe, wohlgebildeten, länglichem Angesicht, ohne
unförmliche Nasen, Schielen, Zahnlücken, von seinen Physiognomien,
nicht langen grauen, sondern ziemlich kurzen kastanienbraunen oder
auch etwas lichteren Bärten mit zwei Spitzen, auch sonst am Leib
nicht tadelhaftig, insonderheit aber sittsam und Gottesfürchtig. Die
Hohenpriester, Melchisedech, Aaron, Annas, Caiphas u. tgi.
sollen theils dicke, lange, graue Bärte, theis gar kurze Knebelbärt-
chen, zwei kleine Zipfel am Kinnbacken, dicke aufgeblasene Gesichter
haben, sonst auch von Leib dick sein, oder aber, wenn ihnen dies
fehle, Kissen einschieben. Zu den Riesen, Goliath und Urias,
wurden die zwei langen Schmiedegebrüder von Mittewald verschrie¬
ben und ihnen außer der Weisung 12 Gulden vom Mitschcnk gege¬
ben. Dem Teufel, der Feuer ausspie, gab man einen halben
Gulden und alle Materialien, als Schwefel, Branntwein, Baum¬
wolle. — S. Georg mußte ein schöner, und der stärkste Mann der
ganzen Stadt sein, als Retter der heiligen Königstochter Margarethe
und um, wie ein anderer Teil, den Rachen des sie bedrohenden
Lindwurms stark und richtig zu durchbohren, daß die darin verbor¬
gene riesige Blutwurst die zuschauenden Damen, selbst in den zwei¬
ten Stöcken und alles Volk umher unter ungemeinem Hin- und
Herflüchten und Gelächter, mit dunkelm Blute übergösse.
Ein nicht minder wichtiger Aufstand der Wiener Studenten ge¬
schah acht Jahre nach der türkischen Belagerung, in welcher sie mu¬
thige Treue bewiesen. Ihre Wildheit wurde durch ihren abgesonderten
Gerichtsstand und durch die, nach mehreren Todtschläger, an den
Verbrechern gleichwohl geübte Gnade verstärkt. Manchem ausge¬
pichten Bösewicht war das fahrende Studentenleben ein bequemer
Deckmantel, selbst zum listigsten Raube, und an Mitteln der Ent¬
weichung fehlte es den endlich Festgenommenen niemals. Zahllose
Gefechte hatten sie insonderheit mit den Schneidern, und eS begab
sich nicht selten, daß 3 — 6 Raufbolde von Studenten 60 —8V Schnei¬
der aus ihrer Herberge herausjagten und sich das, für jene zuberei¬
tete Festmahl wohl schmecken ließen.
Eben so wenig hatte die schwache, frömmelnde Negierung Leo¬
polds den Unfug der meist ganz unsinnigen Zweikämpfe steuern kön¬
nen. Die Beleidigten, die Eifersüchtigen, die Zurückgesetzten fielen
einander zuletzt auf offener Straße an. 1681 wurden zwei Franzo¬
sen von Rang, Lieblinge der ersten Salons, der Graf von Franche-
ville und der Maltheser Chevalier Machour, jener durch einen Baron
Gera, dieser durch den Piemonteser Marchese Fleri getödtet. Ein
Streit im Hazardspiele brachre den Obersten Braida den Todesstoß
von der Hand des schwedischen Grafen Horn. Darauf wurde über
die Duellanten und ihre Secundärem Enthauptung und für die In¬
länder auch Güterconfiscation verhängt. Die aber aus falscher Ehre
auch nur den Degen zum Zweikampfe entblößten, sollten ohne Gnade
am Pranger stehen. — Der Gras von Rosenberg fiel unter dem
Meucheldolch des Abenteuercrs Rosen, seines Rivalen um ein Re¬
giment, wie er eben von der Danksagung bei Hof nach Hause keh¬
rend, aus der Kutsche stieg. Rosen entfloh aus seiner Haft, nahm
aber zu Wittenberg ein gräßliches Ende. — Zwei fürchterliche Thaten
mögen ein Bild geben von der damaligen Verwilderung der Gemü¬
ther. Der erste seit der Zertrümmerung des spanischen Joches und
der fast durch ein halbes Jahrhundert nicht anerkannten Thronfolger
des Hauses Braganza angenommene portugiesische Botschafter Mar-
chese d'Aranguez, Fürst von Ligne, hatte auf den jungen Schweizer
Grafen Johann Ferdinand von Hallwyl aus Liebeseifcrsucht grim¬
migen Haß geworfen. So lockte er ihn, seinen täglichen Gast, auf
die Jagd, und ließ ihn im Dickicht, unferne der Straße, vor seinen
Augen, kalten Blutes, durch einen wälschen Banditen erdolchen (20.
August 1696). Zur schnellen Flucht des Mörders waren unterlegte
Pferde schon bereit. Der Botschafter fuhr ganz ruhig nach Wien
zurück und beklagte sich in der Abendgesellschaft mit lederner Stirne
gegen des Ermordeten Schwester, daß der Graf sich von ihm so
unvorsichtig in den tiefen Wald entfernt habe, der von jeher unsicher
gewesen sei! — Schon des andern Tages scharrten Hunde die nur
leicht und schlecht bedeckte Leiche zu Tage und die empörende That
mit ihrem Thäter war eben so wenig zu beweisen als zu bezweifeln.
Das Volk machte Miene, des Botschafters Wohnung zu stürmen
und ihn zu zerreißen. Er erklärte des Volkes Stimme für abgeschmackt
und unter seiner Würde, darauf zu antworten. Sein Haus war
zu seiner Sicherheit bewacht, aber bald verließ er selbst Wien, zog
heim und gab dort eine Rechtfertigungsschrift heraus, deren einziger
Beweis im Leugnen bestand.
Eine andere Scene empörender Verwilderung aber gab ein siche¬
rer Franz Gruber, gewesener Verwalter beim Statthalter Grafen
Jörger, welcher wähnte, der Graf habe ihn verschwärzt und er könne
deshalb kein anderes Brod finden. — An ihn selber die Mörderhand
zu legen, schien dem Scheusal noch viel zu wenig. Er lauerte also
seinem einzigen talentvollen Sohne an der Michaelskirche zu Wien
auf, wie er eben aus dem Rath nach Hause fuhr, und tödtete ihn
durch einen Pistolenschuß. Als er wenige Tage darauf lebendig
gerädert wurde, betheuerte er noch unter der Marter seine Höllen-
freute, daß der alte Graf bis an seinen Tod keinen einzigen frohen
Augenblick mehr haben werde!
Aber nicht blos die Herren, auch die Diener störten unaufhör¬
lich die öffentliche Ordnung. Es war in Wien eine eigene Gegend,
der vorzugsweise Schauplatz der unsinnigen Zweikämpfe und ver¬
meintlichen Ehrenrettungen, in der heutigen Josephöstadt, in der Um¬
gegend des ehemals Trautsonischen und Nofranoischen Gartens, wo
sich nicht allein die Secundärem, sondern auch die Vorübergehenden
einzumischen pflegten, so daß die Zweikämpfe häufig in förmliche
Scharmützel ausarteten. Die mit Carln VI. zahlreich nach Wien
gekommenen Spanier, Portugiesen und Niederländer waren die vor¬
züglichsten Theilnehmer und Anhänger der freveln Duelle. Es war
damit so weit gekommen, daß ein österreichischer General den Wagen
eines fremden Gesandten gewaltsam anhielt und den Minister nöthi¬
gen wollte, auszusteigen und sich auf der Stelle mit ihm zu schlagen:
ein Vorhaben, das nur durch die ungemeine Klugheit und Festigkeit
des zufällig in der Nähe befindlichen und sogleich herbeieilenden Haupt¬
mannes der Numorwache noch verhindert wurde. — Kurz vor Carls
VI. Regierungsantritt entstand eines mit vollestem Rechte verhafteten
gesandschaftlichen Laquaien wegen ein solcher Aufruhr, daß die Nu¬
morwache genöthigt war, sich mit dem auf dem Graben Verhafteten
in's Wirthshaus zum Lamm in der Naglergasse zu flüchten und es
zu verrammeln. Die Heiducken, Läufer und Laquaien forcirten die
Thüre und befreieten ihren Gesellen, ja sie stürmten und plünderten
sogar das NumonvachhauS am neuen Markt, bis endlich das Mi-
litair mit Uebermacht durchgriff und einen der Rädelsführer, Jacob
Bock, einen zwanzigjährigen Mohren, dem Fretmann überantwortete,
der ihn am hohen Markt sogleich auf den Galgen knüpfte.
Nicht minder scheußlich war ein, mehreren Hunderten das Le¬
ben kostender Aufruhr aus dem erbärmlichen Anlaß, daß ein Jude
und zwei unbefangen spielende Schornsteinfegerjungen am Petersplatze
vor dem Hause des, der wienerischen Kaufmannswelt freilich tövtlich
verhaßten, reichen Hoffactors Samuel Oppcnheimer einander wech¬
selweise höhnten. Die Rumorknechte verjagten den einen gar zu aus¬
gelassenen Jungen durch ein Paar Jagdhiebe. Die Zuschauer fan¬
den es empörend, daß ein Christ um eines Juden willen geschlagen
würde, und die Gassenjungen warfen mit den Eiern der dort sitzen-
den Bauerweiber dem Oppenheimer die Fenster ein. Als die Eier
alle waren, griff man nach Steine» und da der starke Wachtposten
am Peter ruhig diesem Unwesen zusah, wurde das Haus erbrochen
und geplündert, viel Geld und Kostbarkeiten geraubt, alle Schriften
und Handelsbücher zerrissen, das prächtigste Geräth zum Fenster hin¬
ausgeworfen und den Weinfässern die Böden eingeschlagen. In ver¬
borgene Gewölbe eingeschlossen, retteten die Juden kümmerlich das
nackte Leben. Jetzt erhielt die Hauptwache den ernsten Befehl, der
Raserei ein Ende zu machen, es koste, was es wolle. Nachdem sie
fruchtlos gewarnt, feuerte sie unter den Haufen, der sich schnell ver¬
lief. Weil aber die Unruhe bis zum späten Abend fortdauerte und
die ganze Stadt in Bewegung war, wurden am Graben, um Ste-
phansfreylhof, unter den Tuchladen und an Peter selbst, Kanonen
aufgeführt und am frühen Morgen die Rädelsführer, einen Schwert-
feger und einen Rauchfangskehrer, die man aus dem Bette geholt,
an die Fenstergitter des Judenhauses- geknüpft, sohin unter Trompe^
tenschall allen jenen Amnestie verkündigt, die das Geraubte auf der
Stelle zurückbringen würden.
Wunderlich contrastiren mit diesen Ausschweifungen die gleich¬
zeitig selbst in der Handelswelt herrschenden Ehrbegriffe. Als im
Frühjahr 1722 das Amthaus in der Rauhensteingasse neu erbaut
wurde, berief zuerst der Magistrat alle Handwerker auf das Rath¬
haus und verlas ihnen den kaiserlichen Befehl wegen dieses Baues.
Dann verfügte sich der Unterrichter im feierlichen Zuge mit Meister
und Gesellen nach dem Amthaus, zeigte ihnen, daß es von Verbre¬
chern ganz leer sei, rief dreimal der Stadt Befehl, daß Keiner dem
Andern wegen dieses Baues einen Vorwurf machen sollte, that dann
mit seinem Stab, Meister und Gesellen, jeder mit seinem Werkzeug,
drei Streiche an das Haus, das hiermit völlig frei und ehrlich
gesprochen war. — Dankenswert!) contrastirte hiermit, daß von
den Kindern der Nachrichter, Schergen, Gerichtsdiener die thöricht
hinzugebildete Makel der Ehrlosigkeit weggenommen wurde, damit
sie ein ehrliches Gewerbe oder Handwerk ergreifen und sich mit an¬
deren rechtlichen Familien verheirathen könnten. Ein Gleiches ward
auch mit der Makel der unehelichen Geburt versucht, konnte aber
erst unter Joseph II. («Min tat» torrls vsleoäeruut t-man) durch¬
geführt werden.
Es war unter Franz und Theresia (was unter Fürsten so selten
der Fall ist) eine allen politischen oder pecuniären Interessen fremde,
fast von Kindheit an gehegte, vom Vater gebilligte und bis in den
Tod fortbestehende Zärtlichkeit, die ein neues Geschlecht ans den Thron
des (sehr uneigentlich nach seinem geringsten Bestandtheile zubencmn-
tcn) „österreichischen" Staatenvereineö gesetzt hat. — Franz war The-
resien ungemein werth durch strahlende männliche Schönheit, durch
Heiterkeit und Kraft, durch anspruchslosen, gesunden Verstand, durch
die in allen Dingen, die nicht seinen eigenen Beutel betrafen, gesehene>
tige Nachgiebigkeit. — Es ist von Theresien in Allem und Jedem
nur zu wiederholen, daß die Frau kaum gelebt hat, die zugleich grö¬
ßer auf dem Throne und musterhafter im Privatleben gewesen
wäre?! Um die Untrüglichkeit und Unverletzlichkeit der Fürstenwürde
nicht zu gefährden, ignorirte Theresia, daß Franz dem König von
Preußen im siebenjährigen Kriege mit Lieferungen von Getraide, Mehl
und Fourrage mehr als einmal (wenn auch zu den ärgsten Wuchcr-
preisen) aus der dringendsten Verlegenheit half. Man hat Franzen's
vorletzten Sohne, Ferdinand, Gcneralcapitain der Lombardei, Aehn-
liches vorgeworfen, nämlich, daß Bonaparte's reißender Siegeslauf im
April und Mai 1796 und schon die Unternehmung Scherer's gegen
Devins auf Loano und Vado nur durch die vom Erzherzog den hun¬
gernden und halbnackten Franzosen zugeschwärzten Lieferungen möglich
geworden sei?? Dadurch erklärte man sich den unversöhnlichen Haß
des Ministers Thugut gegen diese Linie des Hauses und ihre lange
Verbannung nach Ungarn, nach Wienerisch-Neustadt und Brünn. —
Franz übernahm sehr gern einträgliche Pachtungen, sogar die sächsi,
schen Zölle. Er legte Fabriken an, er trat in belgische und englische
Handlungsunternchmungen ein, lieh auf Pfänder, selbst Theresien
nach der Schlacht von Prag zur schnellern Ausrüstung des Dauni¬
schen Heeres, und übernahm die Lieferung von Pferden, Montur und
Waffen für ihre Armeen. Emsig suchte er den Stein der Weisen,
versuchte aus mehreren kleinen Diamanten einen großen zusammen¬
zuschmelzen und förderte eifrig alles naturhistorische Wissen, besonders
Chemie und Alchemie als eine „tüchtige Kuh, die ihn mit Butter
versorgen sollte." Seine Geldliebe hinderte ihn nicht an edlen Hand-
lungen der Wohlthätigkeit, und wie es ihm überhaupt an persönlichem
Muthe keineswegs gebrach, wurde er den Wienern theuer durch die
in Feuers- und Wassersnoth zu Rettung und Hülfe bewährte freudige
Unerschrockenheit. — Daß er es liebte, selbst bei feierlichen Gelegen¬
heiten, wo er nicht als Reichsoberhaupt auftrat, sich in den Hinter¬
grund zu stellen, daß er, unter die Damen gemischt, zu sagen pflegte:
— „Ich bleibe bei Ihnen, bis der Hof weg ist. — Die Kaiserin
und meine Kinder sind der Hof, ich bin hier blos Privatperson," —
hinderte ihn gleichwohl nicht, manchmal dem verfolgten Talent ein
Anker, der verkannten Redlichkeit eine Stütze zu sein, der Unduld¬
samkeit Thercsien's (diesem unseligen Erbstück ihres Großvaters Leo¬
pold und der Ferdinande) mildernden Einspruch zu thun und den
Tartuffen, deren Waizen unter Theresien vorzüglich blühte, schonungs¬
los die Larve abzureißen. — Manchmal murrte er sogar ganz leise
gegen die Verschwendung an Unwürdige. Freilich wurde er meist
von Theresien lebhaft damit abgefertigt: „Es sind ja lauter Krem-
nitzer gewesen" (nämlich ihre ungarischen Ducaten; die lothringi¬
schen und toskanischen Sorten würden freilich nicht so weit gereicht
haben?). Theresia war nicht nur für sich überaus streng und eifer¬
süchtig, sie glaubte auch für geregelte Erfüllung aller Ehepflichten,
wie für eheliche Treue und gute Sitte im ganzen, weiten Umfange
ihres Reiches wachen zu müssen. Sie that es hier und da sehr
zweckwidrig durch Consistorien, durch geistliche und weltliche Spione,
durch gezwungene Ehen und überall eindringende Keuschheitscommis¬
sionen auf eine oftmals lächerliche, oftmals peinliche, oft für's ganze
Leben verderbliche Weise. — Um so erhabener erscheint uns die reich¬
begabte Frau in einem noch nirgend bewahrten Augenblicke. — Die
letzte Neigung des Kaisers Franz war die Fürstin Heinrich Auers-
berg. Aus dem Theater heimkehrend war Franz in den Armen sei¬
nes Sohnes, des römischen Königs Joseph, nach wenigen Seufzern
plötzlich verschieden. Theresia sah durch mehrere Tage Niemanden
und eilte nur mit der theuern Leiche nach Wien. Die Schiffe soll¬
ten zu Hall, wo der Jnn schiffbar wird, stündlich bereit stehen. Ein¬
mal noch vor der Abreise wollte sie ihrem Hofstaat, und zwar zum
ersten Male nach dem erschütternden Unfall, sich zeigen. Sie trat
aus ihrem Cabinet, auf der rechten Seite die Herren und Damen
ihres Hofes, auf der andern ganz allein, gleich einer Verpesteten
von Allen geflohen, in Thränen gebadet, vom langen, schwarzen
Schleier noch immer nicht genug verhüllt, die Fürstin Heinrich Auers-
berg. — Nicht ohne ein schnell wieder verschwundenes, beißendes
Lächeln auf den überzahmen Kreis, aus welchem so Mancher früher
der Leidenschaft des Kaisers diensteifrig gewesen war, ging Theresia
auf die Unglückliche zu, reichte ihr die Hand und sprach laut, voll
Hoheit und Rührung: — „Wir haben wahrlich sehr viel verloren,
meine Liebe!" — Dann sprach die Herrliche, dem Rang und der
Reihe nach, mit den übrigen Damen und Herren, die nun wieder
um die Vermiedene und Ausgestoßene sich drängten, so eifrig als je.
Wenige Tage vor seinem Tode hatte Franz derselben Fürstin ein
bedeutendes Geldgeschenk gemacht. Bei des Kaisers Tode noch nicht
vollstreckt, nur schriftlich verheißen, wurde die Gültigkeit von mehre¬
ren servilen Räthen scharf angefochten. Theresia bedachte nur ihres
Gemahls und ihre eigene Ehre und ließ das Geschenk voll auszah¬
len. — In der That eine preiswürdige Gesinnung! —
„Ich habe in ihm von Kindheit an den zärtlichsten Freund, in
einer dreißigjährigen Ehe den liebsten Gefährten und meine Lebens¬
freude verloren. Zusammen erzogen und aufgewachsen, hatten wir
immer gleichen Sinn. In den ersten, schweren zwanzig Jahren mei¬
ner Regierung milderte er meine Sorgen und Leiden, indem er sie
theilte," — schrieb Theresia an die Gräfinnen von Harrach und Thurn.
— Mit der innigsten Geschäftigkeit bereitete sie mit eigenen Händen
das Leichentuch, in das der verewigte Kaiser eingeschlagen wurde,
die trübe Arbeit unzählige Male unterbrechend durch thränenreiche
Bemerkungen über Franzens Liebenswürdigkeit und Schönheit. Doch
verbot sie den mithelfenden Damen und Kammerfrauen mit dem ihr
eigenen stolzen Ernst und in jenem Bewußtsein ihres olympischen Ur¬
sprungs, mit welchem sie die ihr nur zu wohl bekannten zahlreichen
Jnfidelitäten Franzens beharrlich ignorirte, auch nur eine Sylbe jener
rührenden Aeußerungen aus dem Allerheiligsten ihres Herzens zu ver¬
lautbaren. — Die Stätte, wo Franz urplötzlich den letzten Odem
verhaucht, wurde in einen Altar, das Zimmer in eine Kapelle ver¬
wandelt. Für die Ruhe seiner Seele sollten unaufhörlich Gebete em¬
porsteigen aus dem neugegründeten adeligen Damenstift. — Kleidung,
Wagen, Gemächer behielten die Farbe der Trauer bis an ihr, erst
nach fünfzehn Jahren erfolgtes Ableben. Am achtze hüten Tage jedes
Monats schloß Theresia sich einsam von aller Welt ab. Stunden¬
lang weilte sie in der Gruft bei den Kapuzinern an dem Mausoleum,
das sie Franzen errichtet. Am 18. October 1780 wurde die überaus
schwere Frau auf dem dazu eigens bereiteten Armstuhl hinunterge¬
lassen. Im Heraufziehen riß das eine Seil. — „Er will mich
behalten! — Ich komme bald!" — rief sie, erkrankte wenige
Tage darauf und starb am 28. November I78V. —
Wir waren hier in Leipzig nicht wenig erstaunt, als wir aus
der preußischen Allgemeinen erfuhren, der beabsichtigten Ausweisung
des Dr. Dronte aus Berlin läge ein aus seiner Feder herrührender
Artikel in einer Leipziger Zeitschrift zu Grunde. Wir kennen unsere
hiesige Journalistik, wir kennen auch unsere hiesige hochlöbliche Cen¬
sur. Ist es möglich, fragten wir uns, daß beide so plötzlich aus ihrer
Art geschlagen sind? Ist es wahr, daß die eine unverhofft so helden¬
mütig und die andere noch unverhoffter so lammfromm geworden
sein sollte, um einen so hochverräterischen, staatsgefährlichen, gottes¬
lästerlichen, aufruhrpredigenden, jacobinischen, kommunistischen Artikel
aufzunehmen und durchzulassen, der die preußischen Behörden zwingt,
einen dem Staate durch Familie und Erziehung angehörenden jungen
Gelehrten aus dessen Marken zu verbannen? Wir durchstöberten alle
unsere hiesigen Blätter und machten eine Hetzjagd auf diesen in einer
Höhle unserer journalistischen Steppe verborgenen, sehr verborgenen,
menschenfresserischen Lindwurm von Artikel. — Umsonst, das Unge¬
heuer war so versteckt, daß wir es nicht entdecken konnten. Jetzt aber
wird uns von Berlin aus die Drachenhöhle ganz genau angezeigt:
erschrecken Sie nicht, verehrte Leser, Sie stehen ganz nahe dabei, es
ist unsere eigene Zeitschrift, es sind die Grenzboten! O zürnen
Sie uns nicht, daß wir Sie an einen so lebensgefährlichen Ort noch
einen Augenblick zu fesseln suchen. Wir sind mit Aufopferung unse¬
res eigenen Lebens selbst in die Höhle hinuntergestiegen und haben
das Ungeheuer, das, ohne daß wir es ahnten, sich da eingenistet hat,
aufgesucht und von allen Seiten besehen, und wir können Ihnen alle
mögliche Beruhigung über die Natur desselben geben; es hat weder
Schuppenpanzer, noch drei Zungen, noch speiet es Flammen, es frißt
weder Thiere noch Menschen, am allerwenigsten aber Staat und Re¬
ligion, es ist — ein Theater artikel! Wir wollen es aufrichtig
gestehen, wir waren auf Schlimmeres gefaßt. Es gehen jetzt in Preu-
ßer so sonderbare Dinge vor, daß es nicht zu verwundern ist, wenn
einem Schriftsteller einmal das Blut zu Kopfe steigt, wenn eine Re¬
daction einmal ihre unter solchen Umständen schwer zu bewahrende
Besonnenheit verliert. Aber von dem Allen kann hier nicht die Rede
sein. Der erwähnte Artikel beschäftigt sich weder mit den enttäusch¬
ten Verfassungshoffnungen, noch mit der Ausweisung Itzstein's und
Hecker's, weder mit aufgelöster Bürgerversammlung, noch mit der Ver¬
weigerung von Schutzzöllen. Allerdings macht er eine sehr scharfe
Opposition gegen die bestehende Gewalt — des Theaterintendanten
Herrn von Küstner! l) alium Je«!>,k niiijeswtis! Doch halt ^ es
soll wirklich in dem Artikel eine Beleidigung höherer Art vorkommen;
es ist von der Vorliebe Sr. Majestät des verstorbenen Königs für
daS Ballet darin die Rede, und dies ist der Punkt, den die Herren
von der preußischen Allgemeinen und des Rheinischen Beobachters als
den Grund der Ausweisung vorschieben. Aber die Hand aufs Herz,
meine Herren, glaubten sie wirklich, als Sie dies niederschrieben, an
die Plaustbilität des Grundes? Glaubten Sie wirklich, ein Paar
Worte, die in einem unpolitischen Artikel über eine kleine Liebhaberei
(die obendrein so bekannt ist) eines wegen seiner Tugenden hochge-
rühmten Monarchen nebenbei sielen, könnten den Grund abgeben zu
einer in ganz Deutschland wiederhallenden Maaßregel? Oder war viel¬
leicht die Form jener wenigen Zeilen verletzend? Waren vielleicht bös¬
willige Intentionen darunter verborgen ? Wir rufen alle unsere Leser
zu Richtern hierüber auf. Wir sind überzeugt, auch der philiströseste
unter ihnen wird eine solche Verletzung vergebens suchen. Das so
eben erschienene Buch des Herrn von Hormayr (Anemonen :c.), das
gerade von Berlin aus so sehr gelobt wird, enthalt über den verstor¬
benen Kaiser Franz ganz andere Anekdoten, als die unschuldige, die
Herr »r. Dronte erzählte. Dennoch hörten wir nicht, daß man Herrn
von Hormayr bei seiner letzten Anwesenheit in Berlin darüber gegrämt,
oder daß er seine Ministerresidentenwürde dadurch compromitirt hätte.
Wir glauben, was dem Einen recht, ist dem Andern billig, und citi-
ren absichtlich den Vater eines lebenden Monarchen, weil der Fall
analog ist, obschon jeder Verstorbene der Geschichte angehört und wir
nicht den Grundsatz theilen können, daß ein jüngst Verstorbener hier¬
von eine Ausnahme mache. Herr Dr. Dronte hat jenen Artikel ge¬
gen das Berliner Theater mit seinem Namen unterzeichnet, es han¬
delte sich also sicherlich nicht darum, irgend eine unwürdige versteckte
Bosheit auszuüben. Die, Redaction der Grenzboten, der man es
hoffentlich nicht nachsagen kann, daß sie in Scandal ihren Ruhm sucht,
hat den Artikel ohne Bedenken aufgenommen. Der Censor unseres
Blattes, gegen dessen Strenge in letzterer Zeit mancherlei Stimmen
sich erhoben, und der uns manchen Artikel streicht, welcher dann in
preußischen Blättern Aufnahme findet, hat den Dronte'schen Aufsatz
passiren lassen. — Es ist daher unmöglich anzunehmen, daß diese
Paar unschuldigen Worte der Grund zur beabsichtigten Ausweisung
sein könnten. Dürfen wir den Mittheilungen einiger unserer Berliner
Freunde trauen, so ist es die publicistische Thätigkeit, welche Herr
Dr. Dronte einigen großen rheinländischen liberalen Blättern widmet,
die ihn in Berlin unbequem macht. Da man aber einem Mitarbei¬
ter an einer von inländischen Beamten censirten Presse nichts an¬
haben kann, so muß ein im „Auslande" erscheinendes Blatt als
Blitzableiter und cor>,u8 «Ivlicti dienen. Sollte aber wirklich die An¬
gabe der officiösen preußischen Zeitungen die wahre sein, sollte wirklich
der erwähnte Theaterartikel seinem Verfasser als ein Vergehen ange¬
rechnet werden, dann haben wir keinen andern Wunsch, als daß jene
Nummer unseres Blattes (Heft 1» laufenden Jahres) dem erleuch¬
teten Staatsmanne zu Gesichte käme, der jetzt mit dem Ministerium
des Innern betraut ist; es gäbe kaum einen schlagenderen Beweis,
wessen Geistes Kinder jene Personen sind, auf deren Denunciationen
hin in letzterer Zeit so Manches geschehen, was besser unterblieben
wäre. Behauptet man doch auch, die Ausweisung Itzstein's und
Hecker's sei auf die Denunciation eines bornirten Agenten erfolgt.
Wir wollen unsern Fall nicht an Wichtigkeit dem der badischen De¬
putaten gleichstellen (obgleich eine Verwandtschaft nicht zu verkennen
ist); aber den einen Beweis liefert auch er, daß Preußen wohl thäte,
unter seine Polizeiagenten zu treten und eine fürchterliche Musterung
zu halten. Nach dem Unglücke, eine geheime Polizei haben zu müs¬
sen, ist das größte Unglück, von dieser Polizei schlecht bedient zu
Heute ist ein Tag gewesen, der die Kräfte des einen Theils der
Bewohner Hamburgs nicht minder in Anspruch genommen, wie die un¬
ermüdliche Schaulust des andern, der Tag der sogenannten „großen Re¬
vüe." Es galt diese nicht unserm, aus ungefähr nur 13W Mann beste¬
henden regulären Militär, sondern der Bürger selbst machte sich zum
Soldaren, nahm das Gewehr auf die Schulter, um einige Stunden lang
gegen einen fingirten Feind zu manövriren. Schon um vier Morgens
wirbelten die Trommeln durch die ganze Stadt, um die gesammte
Bürgergarde auf ihre verschiedenen Plätze hin zu berufen. Es
hatte den ganzen Tag vorher geregnet und noch hing der Himmel
voller Wolken, so daß man also wahrlich keine angenehme Aussicht
für militärische Uebungen hatte, aber wo die Pflicht gerufen, mußte
man sich in das Unvermeidliche schicken. Schon vor sechs Uhr hatten
sich lange Reihen von Menschen vor den Thoren versammelt, um die
einzelnen Abtheilungen in kriegerischer Rüstung Hinausmarschiren zu
sehen, namentlich erblickte man unter den Zuschauenden viele Frauen¬
zimmer, hatte doch eine jede einen Bater, Mann, Bruder in dem
Heere. Und nun kamen die Bataillons nach einander vorüber, voran
Sappeurs mit hohen Grenadiermützen, Musik und Fahne hinterdrein.
Vor dem Thore standen schon in der angegebenen Schlachtlinie die
Kanonen und die Tirailleurs — Sie sehen, es geht großartig her —,
selbst an Cavallerie fehlt es nicht, von der indessen bei den Manövern,
der Menschenmenge wegen, die allemal bei diesen Uebungen sich ein-
findet, kein Gebrauch gemacht wird. Auf ein gegebenes Signal be¬
gann dann bald von allen Seiten das Feuer, und es bot sich zuweilen
ein nicht ganz uninteressantes Schauspiel, obgleich es natürlich an um¬
fassenden Schlachtplänen gänzlich fehlen mußte. Gegen Mittag beschloß
eine allgemeine Parade den großen Tag. Die Hamburger Bürger¬
garde besteht, wenn sie vollzählig ist, wohl aus mehr als Mann
und am heutigen Tage muß sie dies gerade sein. Sie ist in acht Ba¬
taillons Infanterie abgetheilt, und hat außerdem drei Corps Artillerie,
Cavallerie und Jäger. Man muß nur nicht vergessen wollen, daß man
keine Soldaten vor sich steht, sondern Männer, die zu Anfang des
Sommers jede Woche ein paar Mal das Gewehr zur Hand nehmen,
und wird alsdann ihre Leistungen gar nicht so schlecht finden. Die
Infanterie hat — ziemlich häßlich — blaue Röcke zur Uniform, übri¬
gens nicht, wie in Leipzig die Communalgardisten, runde Hüte mit
Federbüschen, was ziemlich lächerlich aussieht, sondern Tschads. Sehr
ansprechend ist die Uniform der Kanoniere, unstreitig das beste Corps
von allen. Man sieht in ihr fast nur große, kräftig gebaute Männer,
meistentheils aus den höhern Ständen. In Hamburg ist jeder ansäs¬
sige Mann, ob einheimisch oder fremd, zum Dienste im Bürgermili¬
tär verpflichtet, muß sich aus eigne Kosten bewaffnen, und alljährlich
die Uebungen mitmachen. Es kann daher kein Wunder nehmen, wenn
diese sich zu einem — und zwar höchst eigenthümlichen Volksfeste ge¬
stalten. Die Revüe ist nur der Schlußpunkt, schon mehrere Wochen
vorher war ercrcirt worden, und es ist in der That erstaunlich, die
Menschenmassen zu sehen, die sich allenthalben dann zu den Thoren
hinaus drängen; wie sie dann wieder, wenn Abends bei Thorschluß
die bewaffneten Bürger heimkehren, lange Reihen bilden, um den
Marsch mit anzuschauen und vor Allem die sie begleitende Musik zu
hören. Dennoch wird dies Alles vom heutigen Tage übertroffen,
und ich übertreibe gewiß nicht, wenn ich behaupte, daß reichlich die
Hälfte der Bevölkerung Hamburgs auf der Sternschanze — dem Ort,
wo die Manövers sich concentriren, blutigen Andenkens von der Fran-
zosenzeit her — versammelt war- Namentlich interessant ist die Ruhe¬
zeit nach Schluß der Manövers bis zum Beginn der Parade. Auf
der einen Seite das „große Zelt," der Sitz der Aristokratie und der
höhern Militärbehörden, auf der andern eine Reihe kleinerer, wo ein
Jeder für sein Geld Eintritt finden konnte, wo Harfenmädchen und
Militärmusik um den Beifall der Zuhörer stritten, und zwischen ihnen
her eine ungeheure Menschenmasse wogte. Auf dem Felde zerstreut
lagen einzelne Gruppen, Männer, Weiber und Kinder im bunten Ge¬
misch. Leider mußte der Regen, der, so lange geschossen wurde, nicht
hereinbrach, all' diese Herrlichkeit stören, und froh durste der sein, der
in einem schützenden Zelte Obdach fand.
Sie werden aber schon lange fragen, wozu denn all- dieser Lärm,
warum trachtet man nicht, wenn man die Sache in einer solchen Aus¬
dehnung betreibt, nach einer weiter gehenden kriegerischen Ausbildung?
Dies Letztere liegt nun einmal in den Verhältnissen, und läßt sich nicht
andern; was das Erstere, den Nutzen, betrifft, so gestehe ich aufrich¬
tig, daß es mir gar nicht einfällt, in der Bürgergarde eine wahrhaft
kriegerische Gewähr zu finden, für desto höher halte ich aber die
bürgerliche. An sich schon ist es eine vortreffliche Sache, wenn
ein Jeder die Waffen zu handhaben weiß, wenn sich ein gewisser mi¬
litärischer Geist — natürlich ohne die Auswüchse rein monarchischer
Staaten — geltend zu machen versteht. Eine Handelsrepublik taugt
nicht für einen Militärstaat, und deshalb muß der Bürger es sein,
der neben dem regulären Militär einen Theil der Wachen bezieht —
nebenbei gesagt, auch ein großes Ersparnis! für den Staat sowohl an
Geld, als an Menschenkräften, welche letztere doch der Dienst im stehen¬
den Heere in nicht geringem Grade für die Gesellschaft gänzlich para-
lisirt. Das Bürgermilitär hat aber auch noch einen andern wichtigen
Nutzen in Bezug auf Erhaltung der öffentlichen Ruhe und Ordnung,
deren Garantie es gewissermaßen bildet. Selbst der gemeinste Mann
kennt in Hamburg zu gut die Bedeutung seines Bürgerrechts, um
sich von besoldeten Dienern des Staats, wofür er das reguläre Mili¬
tär ansteht, in seinen Bewegungen hemmen lassen; und das Einschrei¬
ten desselben bei entstandenen Tumulten hat stets nur die Folge ge¬
habt, dieselben zu vergrößern. Durch weit weniger Kraftentwickelung,
bloß vermöge seines moralischen Gewichts richtet der bewaffnete Bür¬
ger viel mehr aus, und deshalb beruht c-le innere Kraft des Ham¬
burgischen Staates so wesentlich auf seiner Bürgerbewassnung. Sie
sehen, neben manchen Ueberbleibseln der Zopfzeit und vielfachen Bocks-
beuteleien besteht dennoch in Hamburg Manches, was auf echt volks-
thümlichen Boden beruhend eine Gewähr des freien Sinnes und der
freien Institutionen ist.
Da ich einmal das Kapitel der Waffen berührt, so will ich hier
zugleich einer andern ebenfalls rein hamburgischen Einrichtung — we¬
nigstens erinnere ich mich nicht, je anderswo von ihr gehört zu haben
— erwähnen: es giebt nämlich neben bewaffneten Bürgern auch be-
waffnete Nachtwächter, nicht mit Spießen und Hörnern, son¬
dern mit Gewehr und Säbel, in eine gar nicht häßliche Uniform ge¬
kleidet, der nur die dreieckigen Hüte fehlen sollten. Es war eine Zeit,
wo das Nachtwächtercorps fast nur aus Invaliden bestand, aus Schie¬
fer und Buckligen, die darin ihren Unterhalt zu erwerben suchten; das
ist nicht mehr, schon lange sieht man in ihm nur wohlgewachsene, kräf¬
tige Männer. Sie hätten nur sehen sollen, wie stattlich sie sich aus-
nahmen, als sie diesen Sommer — 450 Mann stark — mit Trom¬
meln und Fahne zum Thore hinaus zur Inspection zogen. Sie haben
ihren Oberst mit Offizieren verschiedener Grade, selbst ihre Wachen,
an denen jeden Abend Wachparade gehalten wird. Nachts freilich legen
die guten Leute ihr kriegerisches Ansehen ab, ziehen ihre grauen Kittel
an, ergreisen die sonstigen Utensilien des eigentlichen Nachtwächterdienstes,
und ziehen paarweise durch die ihnen angewiesenen Straßen, wobei sie
alle Stunden (und zwar in plattdeutscher Sprache, der von der nie¬
dern Volksklasse fast allein gebrauchten) die Zeit ausrufen. Bei Tag
stehen sie der Polizei hilfreich zur Seite, und man hat gesagt, sie ver¬
treten die Stelle von Gensdarmen. Das ist aber nur in einem mehr
beschränkten Sinne zu verstehen, da sie durchaus keine Autorität haben,
wo sie nicht aus besondern Ursachen von Staatswegen hingestellt sind,
ein Gensdarmerie-Wesen oder Unwesen, wie es sich wohl in monar¬
chischen Staaten findet, hier überhaupt gar nicht möglich wäre.
Was die Polizei selbst betrifft, so leidet sie zwar auch einiger¬
maßen an dem Erbfehler aller Polizeien, einer Neigung zu Über¬
griffen, doch macht sie sich nicht ein Geschäft daraus, dem Bürger
bei allen und jeden Gelegenheiten ihr Dasein und ihre Kraft fühlen
zu lassen. „Die Hamburger Polizei ist die gemüthlichste und harm¬
loseste von der Welt. Sie hat Handschuhe von Sammt über den
Händen und geht auf Filzsohlen. Man merkt sie nirgends und sie ist
allenthalben, mischt sich jedoch nie in die politischen Gedanken, sie
mögen sich noch so vernehmlich und deutlich aussprechen. Sonst thut
sie als Polizei ihre Schuldigkeit. Sie kennt einen Jeden, wenn er
nur vier und zwanzig Stunden in Hamburg ist, und hütet ihn, ist
er verdächtig, d. h. verdächtig in Betreff eines. Attentats gegen die
Sicherheit des Eigenthums oder der Person. Im Uebrigen macht sie
keinen Verdruß und die Unantastbarkeit der Person wird in Hamburg
streng respectirt. Die Hamburger Polizei hat wirklich, dem großen
Haufen gegenüber, einen Tact der zu bewundern ist; selbst bei einer
Emeute läßt sie sich nicht aus der Behaglichkeit und Ruhe bringen."
Das schrieb Baurmann im Jahr 1836, und das gilt noch heute.
Es ist in der That merkwürdig, vergleicht man Hamburg namentlich
mit Berlin, wie ungemein wenig große und raffinirte Diebstähle hier
verübt werden, und wie stark das Vertrauen aller Classen auf die
öffentliche Sicherheit ist, wie häufig fremde Gauner, die hier ihr Hand-
werk treiben wollen, hier in's Garn laufen. Freilich braucht sie auch
ihre Kraft nicht an Lappalien zu verschwenden, wie z. B. das Cigar-
renrauchen, diese so wichtige Beschäftigung der Berliner Polizeimann¬
schaft, laßt auch außerdem Jedermann walten, so bald er nur nicht
geradezu dem Gesetz entgegentritt. Uebrigens sind die Hamburger Po¬
lizeidiener ungefähr vierzig Mann, meist von gewichtigen Körperbau,
in Civil gekleidet, ein Umstand, wenn er auch den Eingeborenen nie
hindert, sie zu erkennen, doch ihre Anwesenheit weniger drückend macht,
und nicht das stete Gefühl des Beausstchtigtwerdens aufkommen laßt,
gewiß aber zur Wirksamkeit der Polizei nicht wenig beiträgt. Sie
werden vielleicht darüber gelacht haben, daß ich einer Polizei ein Lob¬
lied singe, aber warum sollte ich es nicht, wenn sie es verdient; mö¬
gen immerhin ihre Vorzüge mehr negativer Natur sein, so sind sie
doch sehr wesentlicher Art, und — Ehre dem Ehre gebührt!
Ein besonders interessanter Zweig der allgemeinen Polizei ist die
Hafenpolizei. Hier bedarf es vor Allem an Geist und Körper gleich
kräftiger Leute, um das leicht bewegliche, zur Ausgelassenheit sehr ge¬
neigte Volk der Matrosen in Schranken zu halten, und nebenbei
bedarf es auch einer nicht geringen Sprachenkunde, um sich den
verschiedenen Schiffsmannschaften verständlich zu machen. Es ist ein
eigenthümliches Geschlecht, diese Matrosen, immer froh und unver¬
drossen bei der Arbeit, aber im höchsten Grade vergnügungssüchtig,
sobald sie einmal das Land bestiegen. Roh sind sie oft, und zwar
massiv roh, doch wird man dies nur gewahr, sobald man ihnen in
den Weg tritt, im Uebrigen zeichnen sie sich meistens, wenn man sie
nur zu handhaben versteht, durch eine kräftige Gutmüthigkeit aus.
Es hat vor Kurzem ein hiesiges Blatt einen gar sonderbaren Unter¬
schied zwischen Flußschisseru und eigentlichen Matrosen ausstellen wol¬
len, der im Auslande zu ganz irrigen Begriffen führen kann. Offen¬
bar aber wollte nur der Telegraph, der Sucht unserer Tage folgend,
auch Hamburg sein Proletariat schaffen, und da nun einmal zugege¬
ben werden mußte, daß auf dem festen Lande wenig Aussicht dazu
vorhanden sei — und gewiß ist es richtig, daß in keiner gleich großen
Stadt, wo obendrein so bedeutende Reichthümer in einzelnen Händen
sich befinden, verhältnißmäßig so große Wohlhabenheit herrscht, und
selbst die armern Classen weniger Mangel leiden. — Das Proletariat
mußte also auf dem Wasser sich finden. Die Ewerführerknechte —
Arbeiter, die in sogenannten Schüler die Waaren von den Schissen
im Hasen in die Speicher der Stadt bringen — können in jener
Beschreibung gar nicht gemeint sein, und was sonstige Flußschiffer
anbelangt, welche die Verbindung zwischen den an der Elbe liegenden
Dörfern und Hamburg unterhalten, so sind dies gewöhnlich die Bauern
selbst, die ihre Produkte zu Markte bringen, oder Blankeneser mit
ihren Fischen. Es ist in der That lächerlich, von der Gefahr zu spre-
chen, die dieser Verkehr der Sittlichkeit der Dorfbewohner bringen
soll; Jahr aus Jahr ein haben diese ihre stehenden Repräsentanten in
Hamburg, kommen selbst oft in großen Zügen herüber, und auch so
würde namentlich seit Erfindung der Dampfschiffe kein Ort und kein
Plätzchen meilenweit um Hamburg her, namentlich an der Elbe, das
nur einigen Reiz darbietet, von den Einflüssen der großen Stadt un¬
berührt bleiben können, die übrigens bei Weitem nicht so schlimm
sind, wie der „Telegraph" sich einbildet. Ein gewisser Luxus der
Dorfbewohner laßt sich zwar im Allgemeinen gar nicht abstreiten;
dies ist aber eine natürliche Folge ihres Reichthums — ich verweise
in Betreff dieses z. V. nur auf die Vierlanden — den ja gerade die
ungeheuren Bedürfnisse der Stadt und die Leichtigkeit der Transport¬
mittel zu weiterem Verkehr hervorrufen. Was nun gar das schmug¬
geln anbetrifft, so ist es über alle Maaßen thöricht, davon nur reden
zu wollen. Hin und wieder mag wohl ein Einzelner eine Kleinigkeit
durchschmuggeln, aber eine Beschäftigung im Großen wird keiner schon
deswegen daraus machen, weil es sich gar nicht der Mühe lohnt, einen
Zoll, der in den meisten Fallen nicht über ein halbes Procent hin¬
ausgeht — und zwar dies erst seit dem Brande, vorher war er um
den fünften Theil kleiner — überhaupt zu umgehen. — Wenn es
einerseits von den Machthabern unverständig ist, von den communi-
stischen Lehren Gefahr für die Zukunft zu fürchten, so sollten doch
auch die Schriftsteller nicht, um einigen Lieblingsidcen zu stöhnen,
am hellen Tage Gespenster sehen.
Wir hatten vor Kurzem in einer der unteren Gegenden unsers
Landes eine Miniatur-Revolution unter den Bauern, die aber wich¬
tig genug war, um das Einschreiten militairischer Macht nothwendig
zu machen. — Einige Commissäre, die in Catastcrangelegenheiten dort¬
hin gekommen waren, hatten entweder aus Muthwillen oder aus
Mißverständnis;, den Bauern eingewendet, daß außer den landesfürst¬
lichen Steuern alle übrigen Leistungen und Abgaben aufhören würden.
Als nun später der Zehent eingefordert wurde, stützten sich die Bau¬
ern auf jene Versprechungen und verweigerten ihn, indem sie behaup¬
teten , man wolle ihnen Unrecht thun. Die Localbeamten wollten Ge¬
walt brauchen, kamen aber schlimm weg und wurden mißhandelt, bis
endlich ein Militair-Detachement aus Marburg an Ort und Stelle
beordert wurde, was der Emeute ein Ende machte. Es ist bei der
Menschlichkeit unseres trefflichen Gouverneurs zu erwarten, daß die
armen mißleiteten Bauern nicht allzuhart den Muthwillen einiger
strafwürdiger Spaßvogel zu büßen haben werden, sondern daß im
Gegentheil eine strenge Untersuchung gegen diese Personen eingeleitet
werden wird, um ihnen die Lust an solchen Eulenspicgelstückchen in
Zukunft zu vertreiben. Uebrigens zeigt dieser Vorfall, daß auch der
Slave widerspenstig werden kann, so fügsam er sonst erscheint,
und die Geschichte des Landes weiß viel mehr von Bauernaufständen
in Unter- als von solchen im Oberlande zu berichten. Dennoch ha¬
ben unsere Wenden noch keine Bedeutung im Lande errungen, am
wenigsten in der Literatur, denn außer einigen Gebetbüchern ist kaum
Etwas vom Belange erschienen. Krempl's wend. Geschichte der
Steiermark wurde unlängst in den österreichischen Blättern für Li¬
teratur und Kunst kurz besprochen, aber doch, wie des Verfassers eif¬
riges Streben, gehörig gewürdigt; sein indeß erfolgter Tod auf einer
Pfarre im Luttenberger Weingebirge erregte unter den gebildeten Slaven
allgemeine Theilnahme."
Seit dem allerdings etwas lächerlichen „Wahnrufe gegen
ihn und die hiesige slavische Bevölkerung in der allgemei¬
nen Augsburger Zeitung v. I. brachte diese wieder unlängst einen
Artikel über Jnnerösterreich, in dem einige Namen unserer gelehrten
Welt genannt werden. Sonderbar ist's, daß man unter Jnner¬
österreich vorzugsweise immer nur Seiermark versteht, und dabei
unserer Nachbarländer Kärnthen und Krain kaum gedenkt oder
erwähnt, während diese im Bezug geistigen Strebens sicherlich nicht
zurück sind; wer Wagners Bilder aus Kärnthen (mit erklärenden Texte
von Hermann), wer die rege Theilnahme dort an unserm histori¬
schen Vereine, wer die Leistungen der Krämer für slavische Literatur
kennen zu lernen Gelegenheit hatte — muß sich wundern, daß solch'
Streben gegenüber unsern Leistungen hier von der auswärtigen litera¬
rischen Welt ganz unbeachtet bleibt — wenigstens bisher geblieben ist.
Lärm und leichte Waare giebt es bei uns desto mehr; so mach¬
ten trotz ihrer Elendlichkeit an Form und Inhalt die „Grätzer-My¬
sterien" im Kometen v. I. Aufsehen und gaben trotz dem bei
den Haaren hervorgezogenen Witze doch Aergerniß und Nachforschun¬
gen. Nun brachte sogar die Leipziger Jllustrirte Bilder und
Correspondenzen aus unserm bisher so ziemlich unbekannten Alpen¬
lande, die trotz Schreib- und Druckfehlern hier Anklang fanden.
Mehr jedoch als alles dies interessirt uns jetzt die Eisenbahn
und die Hoffnung — sowohl als die Furcht ihrer Folgen. Kaumist
sie nach Wien eröffnet, zeigt sich eine in's Ungeheure erwachsene Rei¬
selust; in Kurzem soll sie bis Marburg, oder gar schon bis
Zilli eröffnet werden, wenigstens ist der Unterbau größtentheils vol¬
lendet und sind hier und da schon die Schienen gelegt. Allerdings
verlieren durch diese Richtung viele abseitige Orte, namentlich j. B.
das gewerbsrelche Petlau; manche dürften ganz in Vergessenheit
kommen, wenn nicht Flügelbahnen diesem und jenem vorbauen,
woran in unserm cisenreichen Lande denn doch nicht zu zweifeln ist,
so z, B. aus dem obern Murthale nach Brut, aus Kärnthen gegen
Marburg und von Kroatien herauf eben dahin, von Ailli in'S obere
Sarnthal und von der Steinbrücke gegen Agram u. s. f. Die Land¬
städte würden mehr mit der Hauptstadt und der Welt verbunden wer¬
den, das spießbürgerliche dort sich mehr und mehr verlieren, und
dafür Bildung und Weltkenntnis) an die Stelle treten; der Kasten¬
geist und das gewissenhafte Abwägen des Ranges, Standes und Ver¬
mögens ist am Lande hier noch ein gewaltiges und allgemeines Uebel,
das jedem Unbefangenen um so mehr auffällt und Fremde um so
unangenehmer berührt, als sonst und mehrseitS dieses Ueberbleibsel
des vorigen Jahrhunderts so ziemlich verschwunden ist — dies ist
gleichfalls ein nicht zu verachtender Nutzen, den man von der Eisen¬
bahn erwartet! Einem jedoch damit verbundenen und mit Recht ge¬
furchteren Uebel, dem steigenden Holzmangel, könnte durch Ausführung
eines sehr annehmbaren Vorschlages unsers ausgezeichneten land-
Wirthsaftlichen Schriftstellers Dr. Hlubegg: Anpflanzung
des Pettaucr Feldes mit der üppig wachsenden Pappel, abgeholfen
werden; jedenfalls würde die Erfahrung einen, Maaßstab für gleiche
Zwecke liefern.
Glücklicher Weise haben wir noch im Lande mächtige Stein¬
kohlenlager, und durch eine eben im Auge begriffene Arbeit unsers
neuen geognostisch-mathematischen. Vereins ist die Auffin¬
Ich fange einmal wieder, wie ein gewisser Berliner Corresspon-
dent eines schlesischen Blattes, mit dem Wetter an. Wir haben seit
zwei Wochen eine erschreckliche Hitze, und das ist doppelt zu beklagen.
Erstens ist es an und für sich unangenehm, und dann verdrängt die
Klage darüber jede ernste Unterhaltung. Ich glaube, wenn heute die
Nachricht käme, zwei der beliebtesten preußischen Minister seien zurück¬
getreten, — die Klage über die W Grad Hitze würde kaum den po¬
litischen Jubel aufkommen lassen. Wohin man kommt, überall Jam¬
mer über Apollo's strenges Regiment. Oft ist mir's, als stecke ein tie¬
fer Sinn hinter solchen Worten, als hätten sich die Leute aus Furcht
vor geheimer Polizei und Censur diese Sprache gelernt, ihrem gequal-
ten Herzen Luft zu machen. Wir müssen jetzt gewaltig vorsichtig sein
in unserm Aeußerungen, denn der schlesische Dialekt scheint ein gebor-
ner Feind des Paragraphen 151. des Allgemeinen Landrechts zu sein.
Dieser Vorsicht ist es auch wohl zuzuschreiben, daß wir bis jetzt noch
keine Adresse an Hecker und Itzstein geschickt. Glauben Sie deshalb
aber nicht, daß die Theilnahme für jene Männer und die Mißbilli¬
gung der ihnen widerfahrenen Unbill hier minder groß ist, als in an¬
deren Städten Deutschlands. Die Ausweisung läßt sich auch durch
nichts entschuldigen, höchstens könnten die Orthodoxen auf die Bibel
recurriren und auf die gegen Adam und Eva allerhöchst beliebte Aus¬
weisung aus dem Paradiese. Und wir leben ja in einem christli¬
chen Staate. Vielleicht weiß es mir das Blatt des bornirten Ultra¬
montanismus, die Augsburger Postzeitung, Dank, daß ich die preu¬
ßische Maßregel biblisch gerechtfertigt habe.
Nächstens geht aus Schlesien eine Loyalitatsadrcsse nach Berlin,
eine andere jedoch, als die der Königsberger. Die Bauern im Hirsch-
berger Thale nämlich wollen feierlichst versichern, daß sie keine Com-
munisten sind und Se. Majestät allerunterthänigst bitten, nach wie
vor das Thal zu besuchen. Sie würden daraus sehen, daß Höchst-
derselbe diesem verläumderischen Gerüchte keinen Glauben schenkte. —
Gewiß, die Bauern sind unschuldig, unschuldig sogar an dieser Adresse;
denn, so viel ich weiß, stecken hier große Herren im Souffleurloche.
Was wissen unsere Bauern vom Communismus, was wüßten wir
hier überhaupt davon, wenn die Polizei uns nicht den Namen ge¬
lehrt hätte? Fragt ein unschuldvolles Mädchen nach ihrer Unschuld,
und sie wird mit dem Namen der Sünde auch bald die Sache kennen
lernen. Die Polizei ist mit den wirklichen Verbrechen nie zufrieden.
Von Zeit zu Zeit erfindet sie welche und inquirirt die gepeinigte Mensch¬
heit darauf. Das ist eigentlich das, was sie so unliebsam macht.
Herr v. Kampitz erfand einst die Demagogie. Nachdem diese etwas
abgebraucht ist, muß der Communismus der weltgeschichtliche Popanz
werden, den man aus das Schotenfeld der Loyalität steckt.
'
Im Schooße des hiesigen Studententhums sängts wieder an zu
gähren. Es bestand seit vielen Jahren eine sogenannte Raczekia, ein
Verein von Studenten, an dem auch Ronge participirt haben soll.
Es war eigentlich eine Reliquie der alten Burschenschaft. Der Geist,
der darin heimisch, war zu verschiedenen Zeiten sehr verschieden. Als
die Bewegungen innerhalb des Berliner Studententhums ihre Ringel¬
wellen auch bis hieher warfen und den damals in Lethargie versun¬
kenen Verein zum Nachdenken über sich und seinen Zweck aufstachelten,
entstand eine Spaltung. Der eine minder entschiedene Theil hielt die
historisch überkommene Form, die nahe an das Landsmannschastliche
streifte, fest, der andere wollte sie über den Haufen geworfen wissen
und aus sich einen Kern gestalten, um den sich alle Studenten als
solche gruppiren sollten. Die geringe Empfänglichkeit für eine zeitge¬
mäßere Gestaltung der akademischen Verhältnisse unter denjenigen aka¬
demischen Bürgern, die man mit „Kamele" zu bezeichnen pflegt, ließ
diesen Plan nicht zur Ausführung kommen. Erst jetzt scheint ein gün¬
stiger Augenblick gekommen zu sein. Bereits zu zweien Malen hat
eine allgemeine Versammlung stattgefunden, in der zunächst die Grün¬
dung eines allgemeinen Ehrengerichts mit möglicher Abschaffung der
Duelle zur Sprache gebracht worden ist. Natürlich findet diese Idee
eben so sehr warme Anhänger als fanatische Gegner. Immer ist's
aber erfreulich, daß man das Bedürfniß der höchst nothwendigen Re¬
form fühlt und Muth und Ausdauer zeigt, die dissentirenden Elemente
zu überwinden.
Obgleich die Studirenden der katholischen Theologie auf unserer
Universität von Freiheit in Wissenschaft und Leben stets separirt waren,
glaubte das exklusive Römerthum dennoch an eine mögliche Verwelt¬
lichung seiner einstigen Prediger und brachte die Gründung eines
Eonvikts für die Studirenden der katholischen Theologie aufs Tapet.
Der Domherr Ritter interessirte sich namentlich sehr lebhaft hiefür,
und auf seine Veranlassung wurde in aller Welt herumkolleMrt. Seit
einem Jahre ungefähr besteht nun auch so ein Duodez-Convikt, in
welchem einige Studirende unter Aussicht wohnen ; essen, schlafen und
studiren. In voriger Woche jedoch ist denselben seitens des Universi-
tätsrichters eröffnet worden, daß sie, weil die Einrichtung dieser An¬
stalt mit den Universitatsstatuten nicht in Einklang zu bringen sei,
bis zu Anfang des künftigen Semesters entweder das Eonvictorium
zu verlassen, oder die Univcrsiräts-Matrikel abzugeben hatten. Wieder
ein Bollwerk weniger für die fo hart mitgenommenen Ultramontanen!
Den Volksschullehrer Wärter in Hirschberg haben sie nun auch
criminalicer belangt und von seinem Amte suspendirt. Vom ersten
Juli ab bezieht er nur das Halbe an Gehalt, der ihm bis dahin noch
ganz bewilligt worden war. Wie sehr übrigens die Verdienste Wan-
oers von anderer Seite anerkannt werden, ersieht man daraus, daß
die Stadtverordneten Hirschbergs beschlossen haben, ihm den vollen
Gehalt aus der Communalkasse auszuzahlen. Die Städteordnung bie¬
tet also die einzige Garantie für eine gefahrlose Aeußerung seiner in¬
neren Ueberzeugung, und die Beschlüsse der Stadtverordneten sind das
einzig unverfälschte Barometer, an dem man die Zeichen der Zeit na¬
türlich sehr schwach markirt findet. In Breslau fand dieser Tage die
Wahl des Vorstandes der Stadtverordneten statt. Zum ersten Vor¬
steher wurde der rühmlichst bekannte Justiz-Commissär Graff gewählt,
ein Mann von klarer Einsicht und festem Willen — bekanntlich mi߬
liebiger Rechtsanwalt des Herrn Schlöffet. In Beziehung auf letzte-
ren geht das Gerücht, daß seine Freilassung mit dem Zurücktritt? Ar-
nim's zusammenfallen soll. Was alles an diesen Zurücktritt geknüpft
wird! So sehr wir ihn wünschen — daran glauben können wir nicht.
Das wäre wenigstens eine scheinbare Concession an die öffentliche
Meinung und die vermeidet man.
Am 3. Juli ist die diesjährige Breslauer Kunstausstellung ge¬
schlossen worden. Sie bot manches Werthvolle dar, aber auch Vieles,
dem die Aufnahme in Berücksichtigung des Wortes „Kunst" von der
Juri hätte versagt werden müssen. Das Ausgezeichnete kam von
außen, von Düsseldorf und München namentlich. Die schlesische Pro¬
duktivität beschränkte sich hauptsächlich auf Portraits.
— Der König von Hannover war in Göttingen und die Zei¬
tungen sind voll von Nachrichten über die brillante Weise, mit der
er dort empfangen wurde. Eine alte Chronik aus dem eilften Jahr¬
hundert meldet gleichfalls von einem König von Hannover — wahr¬
scheinlich einem grauen Urahn des jetzigen — der durch eine eigen¬
mächtige Aenderung der Landesverfassung das Land so aufgebracht hat,
daß man eine Umwälzung besorgte, sieben Professoren, hochverehrte
Männer, haben das Land verlassen und die Theilnahme von ganz
Deutschland folgte den unglücklichen, mit Bitterkeit kämpfenden Han¬
noveranern. Seit der Zeit sind acht Jahrhunderte verschwunden! Wer
sieht heute den Glücklichen diese uralten Unglückskämpfe an? Ja, die
Deutschthümler haben recht: Die Franzosen sind ein wetterwendisches,
leichtsinniges Volk, lauter Tanzmeister! Wir Deutschen allein sind
groß, ehrenfest, ausharrend und consequent!
— Die Berliner alte Dame, „Literarische" genannt, hat außer
langen Abhandlungen über Staat und Kirche auch die Ausweisung
der badischen Abgeordneten unter ihre Toilette gesteckt. Diese Probe
von ihrer Allweisheit hat sie zur Vierten in dem Bunde der „Preu¬
ßischen Allgemeinen," des „Rheinischen Beobachters" und des janus-
köpsigen „Janus" gemacht. Da die „Literarische" zur guten Presse
gehört, so sind aller guten Dinge nicht mehr drei, sondern vier.
Wie der Pilger auf dem Wege zum Gnadenorte gewisse geheiligte
Punkte findet, wo er uiederknicet und betet, so hat jeder Mensch ge¬
wisse Punkte in seinem Leben, bei denen er mit Andacht und betend
verweilt, wenn er in Gedanken zurückpilgert zur heiligen unentweih-
ten Jugendzeit. — Ein solcher Punkt, eine solche heilige Periode ist
mir die Zeit, die ich mit Nicolaus Lenau in Wien verlebte. —
Mit Andacht verweilt meine Erinnerung bei ihr, mit inniger, from¬
mer Freude versenke ich mich in die reichen Stunden, die ich in sei¬
nem Umgange verlebte. — Nicolaus Lenau war der Dichter meiner
Jugend, andere habe ich mehr bewundert, ihn habe ich geliebt. —
In dem kleinen Landstädtchen, in dem ich meine Jugend verlebte,
erfuhr ich nichts von einem Dichter Lenau, bis mir sein Freund,
der Frühling, einen Gruß von ihm brachte. Ich ging auf den Fel¬
dern und studirte meine Classiker für die Schule, da treibt mir der
Frühlingswind ein Notenblatt entgegen; ich fange es auf und lese
das componirte Lied „An die Wolke" von Nicolaus Lenau. — Es
war das erste Mal, daß ich diesen Namen las, aber über dem Lied
vergaß ich meinen Classiker; das frische innige Leben, das mich dar¬
aus anwehte, welchen Contrast bildete es gegen das Vermoderte,
Leichenhafte, in das ich mich pflichtgemäß einwühlen mußte! — Um¬
sonst war all' mein Nachfragen nach dem neuentdeckten Dichter, Nie¬
mand im Städtchen konnte mir Auskunft geben, erst in Prag las
ich seine Frühlings- und Polenlicder, seinen Savonarola und Faust.
— Wie viele Dichter haben mich erhoben, fortgerissen zur glühend¬
sten Bewunderung, Lenau's Lieder machten mein ganzes Wesen vib-
riren und erfüllten mein Herz mit Herbstpoesie und mit geheimniß-
vollem Wehmuth des Frühlings. — Ich brauche jene» begeisterften
Herzen das Glück nicht zu schildern, daS ich empfand, als mich zwei
Jahre später, in Wien, mein geliebter Dichter, den ich alö meinen
Meister zu verehren mich gewöhnt hatte, zu sich lud. — Mit Zittern
und Zagen ging ich zu ihm: so mag es einem Jünger zu Muthe
gewesen sein, wenn er zum Hohenpriester ging, um aufgenommen
zu werden und geweiht zum Dienste Gottes.
Er lag noch im Bette, als ich zu ihm kam, und sonderbare
alte Bücher von verschollenen Philosophen und poetischen Mönchen
lagen auf der Decke umher, und mitten unter ihnen ein neues Ma-
nuscript. Es war die Romanze von dem tollen Schneider Jacques
in den Albigensern, der sür den Antichrist ein Sterbellcid macht.
Es war, wie die meisten Gedichte aus der damaligen Zeit, in der
Nacht geschrieben, und Lenau las es mir vor, und war selbst erstaunt
über die bunte Fcmtastik, die darin herrschte. Von der Verschlossen¬
heit und Schroffheit in Lenau's Umgang, von denen man mir so
viel erzählt hatte, fand ich keine Spur, im Gegentheile war er da¬
mals, wie noch oft in der Zukunft, voll Humor und heiterer Laune.
Ich werde es nie vergessen, wie er einst im Gasthause an der
offenen Tafel zwischen preußischer und österreichischer Politik, mit
wahrhaft Mimischem Witze die Parallele zog, und das Portrait des
Kaiser Franz, von Amarling gemalt, schilderte. Ihm war das fal¬
tenreiche Gesicht ein Buch, daraus er die komischsten Geschichten
mit den erschrecklichsten Pointen vorlas. Die Hofräthe und hohe»
Beamten, welche in der Nähe saßen und ein unfreiwilliges Audito¬
rium bildeten, entsetzten sich über ihr eignes Lachen, das sie nicht
unterdrücken konnten. Doch war sein Witz immer nur die Schale
des tiefsten Ernstes.
Das Zimmer, in welchem ich ihn zuerst besuchte, war schlicht
und einfach eingerichtet, aber kurze Zeit darauf hatte er es schon mit
einem prächtigen, auf einem der schönsten Plätze Wiens, vertauscht, denn
er führte in Wien ein Nomadenleben, und wohnte bald hier, bald
dort; bald in einer einfachen bürgerlichen Stube, bald meinem glän¬
zenden Gemache, einmal in einer kleinen, vier Treppen hohen Man¬
sarde. Er sagte es selbst, daß er nach einer abgemachten LebeSpe-
riode, oder nach Vollendung eines Werkes es nicht mehr in dersel¬
ben Stube aushalten könne. Aber immer war irgend ein kleiner
poetischer Gegenstand >un ihn, z> B. eine kleine holländische Land¬
schaft, die ganz unscheinbar aussah, aber bei näherer Betrachtung
ein Bild voll inniger Poesie lind Naturleben wurde. Wenn man
ihn des Morgens besuchte, hörte man schon auf der Treppe sein
vortreffliches, feuriges Spiel auf der Violine, er pflegte zu sagen:
er beginne, wie die Pythagoräer, seinen Tag mit Musik, und thue
es ans demselben Grunde, wie jene, um sich in eine höhere Stim¬
mung zu versetzen. In seine Violine versenkte er sich mit ganzer
Seele, und war nicht gerne gestört, wenn er mit ihr allein war;
darum saß ich oft Stunden lang im ersten Zimmer, wenn er im
andern ein Beethoven'sches Concert, oder ein Zigeunerlied, oder eine
eigne Phantasie aufspielte, und belauschte ihn. Sein Spiel ist, wie
seine Gedichte, bald eine melancholische Klage, bald ein schmerzvol¬
les Liebesbiid, bald ein wild aufschreiender Wehruf.
So lebte Lenau mit seinen alten Büchern und seiner Musik
allein, einsam auf seiner Stube, wie ein beschaulicher Mönch des
Mittelalters, aber als Dichter des Savonarola und der Albigenser,
wie ein Mönch, der auf seiner Zelle Gedanken ausbrütet, die wie
die Reden des ^ruol»lo «l-r Krescia, den alten Stuhl Se. Peter's
zittern machten. Jnmitte des kleinen, in Materialismus versunke¬
nen Volkes, in der Metropole des gedankenlosesten Wohllebens,
schien er mir, wie er den tiefen Geheimnissen des Christenthums
nachspürte, wie er die Weisheit der großen Ketzer des Mittelalters
studirte, und die Schmach der Kirche haßte, immer ein verwandter
Geist jener begeisterten Helden deS Mittelalters, die bald in den
Cevennen, bald in Italien, bald in Böhmen hervorbrachen, und wie
Arnold von Brescia, könnte ich mir Lenau, mit seinem edeln blassen
Gesichte und dunkelglühenden Auge, auf den Ruinen des Capitols,
das Volk begeisternd und zur Befreiung aufrufend, denken. Wenn
man in Deutschland Freiheitsdichter nennt, hört man Namen, wie
Herwegh, Prutz, Fallersleben ze. Aber Lenau, bei dem das Wort
Freiheit am seltensten vorkommt, mag doch wohl unser größter Frei-
heitödichter sein, er besingt keine Tagesereignisse, er schreibt keine
Abhandlungen in Verseil, auch sind wenige seiner Lieder dazu geeig¬
net , bei Zweckessen abgesungen zu werden, aber er ist ein freier und
unabhängiger Geist, der für die innere Freiheit, für die Rechte der
Natur gegen alle Greuel der Weltgeschichte kämpft, und Blut und
Leben auf dem Kampfplatze läßt. Das sieht man wohl seinen Po¬
lenliedern, seinen Albigensern an. Diese Freiheitslieder Lenau's be¬
rauschen nicht, machen nicht schwindeln und reißen nicht hin, aber
hast du sie gelesen, bist du zu jedem Märtyrthume bereit, wie Leo-
nidas, die Cevennenstreiter, Huß und Hütten; fühlst du dich Eins
mit dem Geiste Gottes, der durch die Weltgeschichte geht, und bist
erstarkt durch das Bewußtsein, daß du Eins bist mit dem All, und
ein Glied in der großen Kette.
In unserer Zeit, wo jeder entweder sich selbst in den Strudel
stürzt, oder willenlos mit fortgerissen wird, wo keiner, der Augen hat
zu sehen, und Ohren zu hören, von der Zeit unberührt bleiben kann,
— da gibt es Wenige, die sich in der Wirrniß und im Gedränge
von jedem Makel reiir halten können, und die Gestalten sind selten
geworden, zu denen die Nation, wie zu unbefleckten Heiligen ver-
trauungsvoll aufblickt. In ihrem Bedürfnisse nach Liebe und nach
Vertrauen muß sie bei Manchem Manches vergessen, um in ihren
Illusionen nicht gestört zu werden. Lenau ist einer der Wenigen,
die rein und makellos dastehen vor aller Welt, vor denen die Par¬
teien mit Ehrfurcht zurücktreten, und welchen sie kein Blättchen aus
dem Kranze zu rauben wagten. Er ist noch eine von den schönen
Dichtergestalten, die selbst wie ein Gedicht durch das Leben gehen.
Auch in seinem persönlichen Umgang hat man die schöne Genugthu¬
ung, ganz denselben Lenau zu finden, den man in den tief melan¬
cholischen Herbstliedern lieben gelernt, und denselben Lenau, der im
Faust ein erschütternder Skeptiker, im Savonarola und in den Al¬
bigensern ein zürnender gottbegcistcrtcr Redner ist.
Was ich von seinem Leben in Wien sagte, gilt nur für den
Winter. Sobald der Frühling naht, treibt es ihn fort, wie einen
Zugvogel, und er sehnt sich nach seinem Schwaben, an dem er
mit Liebe hängt. Jedes Jahr geht er mit dem Gedanken dahin, von
dort eine weitere Fahrt zu machen, aber er sühlt sich da so wohl
und heimisch, daß er sich nicht losreißen kann, und meist den gan¬
zen Sommer daselbst verbringt; wenn er dann im Spätherbst nach
Wien zurückkehrt und sich die Freunde, glücklich über seine Zurück-
kunft, um ihn versammeln, erzählt er die schönsten Geschichten von
seinen lieben Schwaben, vom Magus Justinus, vom Weisen Pfi¬
zer u. s. w.
Nicht weniger als Schwaben liebt er sein Wien, und verthei¬
digt es immer gegen die Anschuldigungen, als ob in seinem Schooße
feine edle Frucht gedeihen, als ob sich ans seinem Volke kein edler
Geist erheben könne, ja, er behauptet immer, daß die Oesterreicher
mit zu jenen deutschen Stämmen gehörten, die für das Schöne und
Edle am empfänglichsten sind.
Rührend ist Lenau's Anhänglichkeit um Anastasius Grün, den
man immmer mit ihm zusammen zu nennen pflegt, wiewohl beide so
verschieden sind. Anastasius Grün kam mir immer wie der jüngere,
lebenslustige Bruder des ernsten Lenau vor, und die Freundschaft
Lenau's schien mir auch wie die Liebe eines älteren Bruders, der mit
wohlwollendem Auge dem frischen lebensmuthigcn Treiben des jün¬
ger» zusieht. Diese treue Anhänglichkeit an dem Wiener Poeten sprach
sich besonders zu jener Zeit aus, da es Styl der liberalen Zeitungen
wurde, Anastasius Grün zu verdächtigen und die Partei der Krie¬
chenden alles Mögliche that, den Verdacht zu bekräftigen; damals sah
man gewisse Poetlein, die in ihrem Nichts durchbohrenden Gefühle
erröthen mußten, wenn sie einem Manne, wie Anastasius Grün ent¬
gegentraten, in Wien so zu sagen von Haus zu Haus wandern und
Geschichtchen erzählen von hohen aristokratischen Heirathen, von Kam-
merherrnschlüsscln, Bauernbedrückungen :c. :c,, damals kämpfte Lenau
nach rechts und links für seinen Anastasius und gab ihn nicht auf,
wie sehr auch die kleinen Leute ihren Geschichtchen eine gewisse Wahr¬
scheinlichkeit zu geben wußten, die um so großer wurde, da der ver-
läumdete Dichter ruhig in seinen Gebirgen hauste und entweder, weil
er von all' den Umtrieben nichts ahnte, oder weil er sie zu sehr ver¬
achtete, nichts für die Unterdrückung der Gerüchte that. Er hatte es
freilich gewissermaßen nicht nöthig, erklärte er sich doch selbst vorn
hinein für „krank oder todt," wenn ihm eine solche Zeit kommen
sollte, wie sie die guten loyalen Leute für wirklich erschienen ausge¬
ben wollten, und hatte er doch einen Freund in Wien, dessen uner¬
schütterliches Vertrauen mächtiger war und ihn erfolgreicher rechtfer¬
tigte , als ihm je seine Feinde schaden konnten. Welchen großen Ein¬
fluß die letzteren dessen ungeachtet ausübten, zeigt das freilich knaben¬
hafte Gedicht Herwegh's, der auf eine bloße Notiz der Augsburger
höhnisch über Anastasius Grün herfiel, ein Verbrechen, das ihm Le¬
nau, der sonst mit Liebe von Herwegh sprach, nicht vergeben konnte.
Ich halte mich für verpflichtet, bei dieser Gelegenheit hinzuzufügen,
was ich selbst in Anastasius Grün's Angelegenheiten erfahren habe.
Als ich im Jahre 1842 auf meiner Reise nach Italien durch Steier-
mark und Jllyrien kam, war es mir eine innige Herzensangelegen¬
heit, mich über Anastasius Grün zu unterrichten; schon in Grätz zer¬
streute ein alter, langjähriger Freund, der Anastasius Grün heran¬
wachsen sah, meine geringen Zweifel. Was er mir von seinem Ent¬
wickelungsgange, von seiner frühesten Jugend, von der Art und Weise,
wie er von der unschuldig spielenden Lyrik bis zum donnernden Je-
saiastone des politischen Dichters gelangte, erzählte, zeigte mir klar,
daß hier von einer konsequenten Durchbildung des Charakters, daß
hier von einem Poeten die Rede, dessen Zorn ein wahrhafter und
edler war, und nicht, wie bei so vielen seiner Epigonen, Koketterie
oder Schonthun mit den Leiden der Zeit. Von demselben Manne
in Grätz, dessen Namen in ganz Oesterreich mit der höchsten Achtung
genannt wird, und von einem Grafen A., dem Vetter der Gräfin
Auersperg, und von allen, die in diesem kleinen Lande die Verhält¬
nisse deS Adels genau kennen, erfuhr ich, daß nur Liebe, die sich
aus den Universitätszeiten herschrieb, Anastasius Grün zu der Ehe
vermochte, die man als eine Speculationsheirath auszuschreien ver¬
suchte. Die Gräfin A. wollte man als eine hochfahrende, aristokra¬
tische Weltdame darstellen, die Grün's plebejisches Treiben verach¬
tete und mit ihm nur am Hofe leben wollte. Nichts als Lügen!
— die Gräfin ist das einfachste, anspruchloseste Wesen, das nur in
Liebe zu Anastasius Grün aufging, und seit Jahren mit ihm in stiller
Zurückgezogenheit, in Thurn am Hard, auf seinem alten Schlosse
lebt. Ebenso unwahr ist es, daß ihr Vater Anastasius Grün das
gänzliche Aufgeben der Poesie zur Bedingung seiner Einwilligung
machte; im Gegentheile ist Graf A—s stolz darauf, den Dichter Ana-
stasius Grün seinen Sohn zu nennen. Eine eben so glänzende Ge¬
nugthuung, was die niederträchtigste aller Verläumdungen betrifft,
fand ich in Kram selbst. Wie sehr ich auch nachfragte, ich konnte nichts
anderes erfahren, als daß Anastasius Grün als ein wahrer no-nu«
ni«, wie ihn Bauernfeld nennt, anf seiner Besitzung in glücklicher
Einsamkeit lebte. Auch dieses machte man ihm zum Vorwurf, als
ob ein Dichter ein Gedicht nur schreiben, nicht auch leben dürfte.
Alle diese Erfahrungen theilte ich Lenau bei meiner Rückkunft
aus Italie» mit, und fragte ihn, ob es nicht gut wäre, zur Verthei¬
digung GrttnS sie aller Welt zu erzählen, er aber meinte, es wäre
besser, sie sür jetzt, da die Gerüchte eben eingeschlafen waren, zu verschwei¬
gen und sie erst mit der Zeit als unabhängige Thatsachen mitzutheilen.
Lenau's Geschichte bis zu dein Momente, da er in den dreißiger
Jahren schon als gereifter Mann und als Dichter auftrat, wissen
vielleicht seine besten Freunde nicht zu erzählen. Er selbst schweigt
gerne darüber und aus dem Wenigen, das er dann und wann dar¬
über fallen läßt, und aus seinen Schmerz durchglühten Liedern er¬
sieht man, daß es eine traurige, leidensreiche gewesen sein muß.
Man weiß, daß er frühe aus Ungarn nach Wien gekommen,
daß er daselbst lange Zeit mit seiner Mutter zusammen gelebt, daß
er an ihr mit der innigsten, aufopferndsten Liebe gehangen, daß er
sie in einer bösen Krankheit jahrelang und unermüdlich pflegte, daß
er Medizin studirte, und Wien endlich in einer unglücklichen Stim¬
mung mit einem Male verließ, einige Zeit in Süddentschland umher¬
zog, und endlich nach Amerika überschiffte. Seine amerikanische Reise
fällt gleichzeitig mit dem ersten Erscheine» seiner Gedichte. Die Ge¬
schichte dieses ersten Auftretens ist für Lenau charakteristisch, indem sie
zeigt, wie wenig literarisch handwerksmäßig, wie unbefleckt von lite¬
rarischer Speculation er von jeher dastand. Von Heidelberg aus,
wo er seinen Studien lebte, schickte Lenau, von mehreren Freunden
dazu aufgefordert, einige Gedichte an Gustav Schwab, der damals
den poetischen Theil des Morgenblattes redigirte. Unter den Gedich¬
ten war auch das eine wunderschöne „der Gefangene." Die Ant¬
wort, um die Lenau bat, blieb aus, auch die Gedichte erschienen
nicht, darum besuchte er, als er nach mehreren Wochen nach Stutt¬
gart kam, Gustav Schwab, und ersuchte um Antwort. Der gemüth¬
liche Schwabe war in großer Verlegenheit, denn er hatte die Ge¬
dichte dieses Unbekannten noch nicht einmal gelesen, er stellte darum
den Fremden seiner Frau vor und einem jungen Manne, der eben
zugegen war (Gustav Pfizer) und eilte hinaus. Nach einiger Zeit
kam er funkelnden Auges und ganz entzückt zurück, das Manuscript
der Lenau'schen Gedichte in der Hand. Sie waren bald gute Freunde,
und noch am Abend desselben Tages mußte Lenau vor einer großen
Gesellschaft, in welcher die vielen Dichter und Gelehrten Stuttgarts
zugegen waren, seine Gedichte vorlesen, die außerordentlich gefielen.
Schwab nahm ihm dann sein Taschenbuch, in das die meisten Ge¬
dichte, die später den ersten Band ausmachten, theils mit Bleifeder
geschrieben waren, ab, und eilte damit zu Cotta, dem er vorstellte,
daß er sich diese herrlichen Gedichte nicht dürfe entgehen lassen. In¬
dessen reiste Lenau, alles das vergessend, über den atlantischen Ocean
versenkte sich in das Brausen des Urwaldes, ritt auf unbetretener
Pfaden über uralte Baumleichen, übernachtete in einsamen Block¬
häusern, fragte sich mitten in den grauenvollsten Einsamkeiten, ob es
vielleicht gar keine Einsamkeit gebe, lag Tage lang am Niagara,
suchte im Urwald die Indianer auf, und bekam wilde Blumensträuße
von ihren Madchen, spielte denUankis seine wilden ungarischen Me¬
lodien vor — fand aber die gesuchte Ruhe nicht („hoffnungsloser
Kummer ist ein Phantast"), rief „Uhland, wie steht's mit
der Freiheit daheim," stieg plötzlich wieder zu Schiffe, träumte
auf dem unermeßlichen Ocean seine atlantischen Träume und flog
zurück nach Deutschland. Er hatte so lange nichts von seinem Vater¬
lande, nichts von dessen Leiden gehört, er war begierig auf Nachrichten,
wie von einer Geliebten, und als er in Bremen landete, ließ er sich
, Zeitungen in Masse kommen und, siehe da, wo er aufschlug, überall
Alles seines Lobes voll, überall Stimmen aus Nord und Süd, Ost
und West, die den neuen Dichter Nicolaus Lenau mit Jubel und
mit inniger Liebe begrüßten. Während er in den Urwäldern Ame¬
rika's vergebens die Ruhe suchte, fand er in seiner Heimath die Liebe
von tausend reichen Herzen.
Trotz seiner Liebe zu Deuschland, dessen Adoptivsohn er ist, trotz
der Liebe Deutschlands zu seinem tiefsinnigen Dichter, gehört Lenau
doch nicht zu den verstockten nationalen, die sich über das Unglück
fremder Völker trösten, weil ihr heimischer Heerd dadurch gesicherter
ist. Seine Lieder sagen es, wie innig er das Schicksal Polens be¬
trauerte, und seine Gespräche mit mir zeigten mir seine Vorliebe für
die große Geschichte Böhmens, und seiner Helden, Ziska und Huß.
Es war ein Lieblingsthema, auf das er mit mir immer gerne zurück¬
kam, er ließ sich das alte Prag mit seinen finstern Gassen und den
düstern Menschen, die schweigsam darinnen wandeln, beschreiben; ich
mußte ihm, wie oft, das Volk ans den Wäldern und Gebirgen Böh¬
mens, dessen Charakter und Sitten schildern, dessen Sagen erzählen,
und seine dunkle Phantasie spann Alles mit den größten und poetisch¬
sten Bildern ans. Huß war derjenige Held, der lange Zeit bei Le-
nau mit Savonarola um den Vorzug stritt, und es hätte leicht ge¬
schehen können, daß er jenen, statt diesen besang. Später versenkte
er sich in die tragische Geschichte und den weichen, doch feurigen Cha¬
rakter des HieronySmus von Prag, und sein Abfall, seine Reue,
sollten ihm den Stoff zu einer großen Elegie geben. S5 steht Le-
»an auf einer höhern Zinne, als auf der der Nationalität, und als
echter großer Dichter blickt er weit hinaus über die Grenzen seines
Vaterlandes und seiner Zeit.
Die deutsche Schriflstellerversammlung wird mich verdammen,
daß ich Persönlichkeiten, und nichts als Persönlichkeiten von Niko¬
laus Lenau erzähle, anstatt, wie eS bei einem Dichter schicklich wäre,
eine Kritik zu schreiben, aber mögen Andere anders kritisiren; das
ist meine Kritik, daß ich den Dichter auch im Leben suche, auf seiner
Stube, beim Glase Wein und im gemüthlichen Plaudern. Und ich
weiß es, Viele, die ihren Dichter lieben, wie ich, werden mir für
die kleinen Geschichtchen, die ich ihnen hier erzähle, danken. Leider
kann ich ihnen alles das, was ich in den drei Jahren mit Lenau
erlebt und durchsprochen, nicht mittheilen, da es verschiedene Umstände
verbieten, alles hier Gesagte ist blos ein einzelnes Streiflicht aus
der schönen Dichterseele.
Mein väterlicher Freund selbst wird mir, wenn er dieses und
hoffentlich bald, und mit heiterer Seele liest, verzeihen, — er hat
mir ja schon Manches verziehen. Ich wollte, ich säße bald wieder
lustig dampfend, in heiterm oder ernstem Gespräche neben ihm, und
sähe wieder in sein tief dunkles, zauberhaftes Auge, und lauschte
wieder, wie ehemals, auf sein Wort; allen aber, die sich wie Cichen-
dorfische Glücksritter und Dichter, mit einer übersprudelnden Welt
von Poesie im Herzen, ins Leben stürzen wollen, wünsche ich eine
solche klare, unbefleckte Dichtererscheinung, daß sie sich an ihrem Bei¬
spiele selbst klären und festigen. Mir ist das Andenken an Lenau
ein moralischer Halt geworden, ein Schild gegen mancherlei Anfech¬
Zu jedem praktischen Buche, das in Deutschland erscheint, muß
man der Nation gratuliren. Die practischen Bücher sind in unserem
theorienwüthigen Vaterlande spärlich gesäet. Der Deutsche, auch wenn
er keine Verse schreibt, ist ein Poet, der lieber mit Träumen als mit
Wirklichkeit sich beschäftigt. Man vergleiche die deutschen Bücherver¬
zeichnisse mit den englischen und französischen und man wird ein
entgegengesetztes Verhältniß in Bezug auf Theorie und Praxis fin¬
den. Bei unsern Nachbarn kommt ein spekulatives Brich auf ein
halbes Dutzend Bücher, die sich mit dem wirklichen Lebensverkehr
beschäftigen, während bei uns alle fünf Finger der rechten Hand mit
speculativen Zauberringen geschmückt sind und der sechste Finger, der
auf das Leben zeigt, erst auf der linken zu finden ist.
Nirgends aber thun die praktischen Fingerzeige uns so noth,
als in dem verworrenen Gebiete unserer Rechtsverhältnisse. Mit
jedem Schlagbaum, den der Deutsche zu Passiren hat, beginnt eine
andere Gesetzgebung. Das Rechtsgefühl ist bei dem deutschen Volke
hauptsächlich deshalb weniger ausgebildet, als bei Engländern und
Franzosen, weil die Gesetze ihm weniger bekannt und zugänglich sind.
Die Presse in allen 86 Departements Frankreichs citirt ein und den¬
selben Code und der Franzose hört von Jugend auf aus allen En¬
den seines Vaterlandes so oft auf einen und denselben Gesetzpara¬
graph sich berufen, bis er ihn endlich auswendig weiß. Die deutsche
Presse aber citirt ein solches Chaos aus aller Herren Länder, daß
sie sich selbst nicht klar herauszufinden weiß und durch unaufgeklärte
Widersprüche das Volk, statt es zu belehren, oft noch mehr verwirrt.
So sieht unser politisches Leben an der Theilnahmlosigkeit des Vol¬
kes für sein Recht und bei keiner gebildeten Nation werden Cabinets-
justiz und Justizmorde so gleichgültig hingenommen, als bei der deut¬
schen. Aber auch das practische Leben krankt an diesem Zustande.
Wie Viele, die in der dringenden Lage sind, im Auslande, d. h. im
lieben deutschen Auslande, einen Proceß zu beginnen, erleiden lie¬
ber das schreiendste Unrecht, um nur den Schwierigkeiten eines sol¬
chen zu entgehen. Und vielleicht sind diese noch besser daran, als
Andere, welche den Proceß unternehmen und aus Unkenntniß der
dort geltenden Rechtsformen, aus Mangel an Bekanntschaft mit dor¬
tigen Juristen die Proceßkosten in's Ungeheure anschwillen sehen und
bei der Unsicherheit der Verhältnisse ihrem dortigen Anwalt und Be¬
vollmächtigten gegenüber den gerechtesten Proceß mit den übermäßi¬
gen Kosten am Ende noch verlieren.
Wahrhaft willkommen muß man daher jeden Schritt heißen,
der nur einigermaaßen Hilfe dieser traurigen Verwirrung bringt.
Der vor Kurzem verstorbene Regierungsrath Buddeus, ein vielbe¬
kannter juristischer und publiclstischer Schriftsteller, hat dieses versucht,
indem er eine populäre und gedrängte Uebersicht der Rechts- und
Gerichtsverfassung der einzelnen deutschen Staaten und Länder zu¬
sammenstellte und so nicht nur dem praktischen Juristen, sondern auch
jedem andern Geschäftsmanne die Mittel an die Hände gab, bei
Processen, die er im Auslande hat, die nöthigen Wege einschlagen
zu können. Ueber dieser schwierigen Arbeit vom Tode überrascht,
übernahm sein Sohn, der Gerichtsdirector Arthur Buddeus, die
Vollendung deS Werkes, das so eben die Presse verlassen hat.*)
Zum ersten Male sehen wir diese buntscheckige Reihe von wi¬
dersprechenden Systemen und Nechtsauffassungen aus aller Herren
Länder neben einander in Fronte aufgestellt. Welch' eilt trauriges
Heer! Jedes, auch das kleinste Corps, hat seine eigene Montur,
und in diesem kleinen Corps hat oft jede Compagnie, jedes Nacht-
wächterpiquet wieder seine absonderlich zugeschnittenen Gesetze. Das
Fürstenthum Birkenfeld hat eine himmelweit verschiedene Gesetzgebung
und Gerichtsordnung von dem Fürstenthum Lippe. Eben so das
Fürstenthum Hohenzollern-Hechingen und das Fürstenthum Reuß-Greiz-
Schleiz, und man könnte glauben, jedes sei in einer andern Zoue
gelegen. Und wenn es schon unter den Kleinen so verschiedenfarbige
Monturen gibt, wie erst unter den Großen! Preußen und Oester¬
reich scheinen zwei verschiedener, Weltcheilen anzugehören und jedes
von ihnen scheint ein Australien mit hundert kleinen Gesctzinftlchen,
auf welchen überall andere Menschensorten wohnen.
Wir glauben, es dürfte für das nicht juristische Publicum in¬
teressant sein, einmal einen Ueberblick über die Unterschiede der Ge¬
setzgebung und des Proceßwescns in unseren beiden deutschen Gro߬
staaten zu erhalten. Die populäre und klare Auseinandersetzung des
„Deutschen Anwaltbuchs" verlockt uns, die Rubriken Oesterreich und
Preußen (mit Ausschluß der Nhetnprovinz) unsern Lesern auszugs¬
weise mitzutheilen.
Während das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch für
alle deutsch-österreichischen Staaten, namentlich die Länder unter und
ob der Clus oder das Erzherzogtum Oesterreich, die Herzogthümer
Stehmnark, Kärnthen, Kram, die gefürstete Grafschaft Tyrol, die
vorarlbergschen Herrschaften, das Königreich Böhmen, die Markgraf¬
schaft Mähren, das österreichische Schlesien und die Herrschaft Ausch-
witz gilt, besteht dennoch in allen diesen Ländern das frühere Par-
ticularrecht in See-, Handels-, Wechsel- und Ledersachen, so wie
in denjenigen Materien, welche nach der österreichischen Verfassung
zu den politischen Kameral- und Finanzgegenständen gerechnet werden.
Im Allgemeinen hat der Ausländer gleiche bürgerliche Rechte
und Verbindlichkeiten mit dem Inländer, wenn nicht dazu in einzel¬
nen Fällen das Staatsbürgerrecht erforderlich ist und wenn der Staat,
dem der Ausländer angehört, die österreichischen Unterthanen rück¬
sichtlich des in Frage befangenen Rechts eben so wie die seinigen
behandelt, welches im Zweifelssalle der Fremde beweisen muß. Ein
von einem Ausländer in Oesterreich unternommenes Geschäft, wo-
durch Ersterer Ander» Rechte gewährt, ohne dieselben gegenseitig zu
verpflichten, z. B. eine Schenkung, ist nach den österreichischen oder
nach denjenigen Gesetzen zu beurtheilen, denen der Fremde unterliegt,
je nachdem die Einen oder die Andern die Gültigkeit des Geschäfts
am meisten begünstigen. Jedes, auf welche Art eS wolle, geschlossene
Eheversprechen wirkt in Oesterreich weder die Verbindlichkeit zu
Schließung der Ehe, noch zu Leistung desjenigen, was für den Fall
des Rücktrittes bedungen ist. Obgleich im Allgemeinen Fremde, so
lange sie nicht die Eigenschaften eines Jrländers erworben haben,
in den Staaten der österreichichischen Monarchie keine Bauergüter
besitzen können; so sind doch dazu die Unterthanen der deutschen Bun¬
desstaaten in den zum deutschen Bunde gehörigen österreichischen Lande
fähig. Der ausländische, förmlich erwiesene Adel, jedoch nur der
Uradel und der von Regierungen „ordentlicher Staaten," namentlich
den sonstigen Kurfürsten und der von dem deutschen Kaiser zur Ade-
lung (durch die comitiv», miijvi) berechtigten Reichsstände ertheilte
Briefadel werden in Oesterreich anerkannt und haben die Vorrechte
des dortigen Adels. Der vom Reichövicariat ertheilte gilt nur als
ausländischer. Jeder Ausländer in österreichischem Militärdienste
wird nach österreichischen Militairgesetzen und unter österreichischer
Militärgerichtsbarkeit gerichtet; Militaire in ausländischen Diensten
werden den Civilpersonen gleich geachtet.
Als Wechselrecht für alle deutsch-österreichischen Staaten,
mit Ausnahme von Tvrol und Salzburg gilt jetzt die Wechselordnung
vom 17. Octbr. 1763. Darnach ist jedermann ohne Unterschied des
Standes und Geschlechtes wechselfähig, den nicht die Gesetze aus¬
drücklich für unfähig erklären. Zu Letzteren gehören alle diejenigen,
deren eigene Vermögensverwaltung durch die bürgerlichen Gesetze
eingeschränkt ist, insonderheit Minderjährige und alle unter Curatel
stehende Personen, aber auch Minderjährige, die venin itetutis, je¬
doch noch nicht das 24. Jahr erlangt haben, wenn sie nicht mit Be¬
willigung der Obrigkeit eine eigene öffentliche Handlung oder Wechsel
treiben, dann Militairpersonen, Geistliche, das ausländische Gesandt¬
schaftspersonal, endlich, zur Ausstellung unförmlicher Wechselbriefe,
alle welche weder Handelsleute noch Fabrikanten oder Professionisten
sind. Es sind 3 Respecttage festgesetzt; Aso ist 14, halb Aso
7, iz Aso 21 Tage mit Innbegriff der Sonn- und Feiertage; die
Respecttage beginnen aber erst nach dem Verfalltage. Das Wechsel¬
recht ist das gemilderte, indem Personalarrest erst nach gezeigter Un¬
möglichkeit der Befriedigung des Gläubigers aus des Schuldners
Vermögen und unter gewissen Modifikationen bei Gefahr auf dem
Verzug eintritt. Das Privilegium der 3. Classe im Concurse, wel¬
ches förmlichen Wechselforderungen und den Forderungen aus gewis¬
sen unförmlichen oder trockenen Wechseln zustand, ist im Jahre 1843
aufgehoben worden.
Den bürgerlichen Proceß anlangend, ist die Grundlage
desselben die Josephinische Proceßordnung in Oesterreich ob und un¬
ter der Enns (jedoch mit Ausschluß Salzburgs), in Böhmen, Mäh¬
ren, Schlesien, Steyermark, Kärnthen, Krain, Görz, Trieft, im
Irin- und Hausruckviertel, und bei allen Militairjustizbehörden gel¬
tend (da das 4Z. Capitel der westgalizischcn Gerichtsordnung von
dem Verfahren bei Militairjustizbehörden diesen noch nicht publicirt
worden ist). Aus ihr entstand die allgemeine westgalizische Gerichts¬
ordnung, welche sich von jeher theils durch einige abweichende Be¬
stimmungen, theils dadurch unterscheidet, daß sie viele von den bis
zum Jahre I7W für die Josephinische Gerichtsordnung ergangenen
Declaratorien und neuen Verordnungen mit in den Tert aufnahm
und die ganze Concursordnung im IX. Capitel behandelt. Die west-
galizische Gerichtsordnung gilt in Salzburg, Tyrol (Südtyrol in einer
italienischen Uebersetzung) und in Vorarlberg, auch bei dem Stadt-
und Landrechte, so wie bei dem Mercantil-, Wechsel- und Seegericht
in Trieft.
In der Regel ist Jedermann dem Gerichte des Ortes, wo er
sich aufhält, unterworfen. Nichtprivilegirte stehen unter dem Orts¬
gerichte, welches nach Verschiedenheit der Provinzen Justizamt, Ma¬
gistrat, Stadt- und Landgericht, Pfleggericht:c. genannt wird. Die
von diesen Gerichten eremirten Personen haben verschiedene Gerichts¬
stände, welche jedoch von den mehresten privilegirten Gerichtsständen
anderer Staaten sich dadurch unterscheiden, daß die Gerichte, bei
denen sie Recht nehmen, nicht zugleich Gerichte zweiter Instanz sind.
Daher theilt man in Oesterreich den Gerichtsstand nicht sowohl in den
gewöhnlichen und eremirten, als vielmehr in Personal-, Cau-
sal- und Nealgerichtöstand. Die Personalgerichte, bei welchen
zugleich die Familie des Gerichtsuniergebencn ihren Gerichtsstand hat,
richten sich nach den Eigenschaften und den Wohnsitzen der Personen,
wie denn alle Nichtadeligen in der Regel unter den schon genannten
Obergerichten ihres Aufenthaltsortes in erster Instanz stehen, Aus¬
genommen hiervon sind: die das Richteramt in ihrem Wohnortsbe¬
zirk ohne Eigenthümer des Gutes zu sein, selbst und allein ausüben¬
den Unadeligen, welche unter dem Magistrate der Provinzialhaupt-
stadt, in Laibach und Linz unter dem dortigen Stadt- und Land¬
rechte stehen; die auf dem gepachteten Gute wohnenden Pächter stän¬
discher Gilten; die Bezirkscommissaire und Bezirksrichter, welche unter
dem landesfürstlichen Collegialgerichte ihres Bezirkes; Unadelige in
öffentlichen oder kaiserlichen Gebäuden innerhalb der Stadt Wien
(welche eben so wie die Bürger der Stadt Wien, diese mögen woh¬
nen unter welcher Gerichtsbarkeit sie wollen, immer dem Magistrate
zu Wien unterworfen sind); die Unterthanen in Klagsachen ihrer
Obrigkeit gegen sie, welche, wo es das obrigkeitliche Verhältniß selbst
gilt, bei dem Landrechte der Provinz, i» andern Fällen bei dem nächst-
gelegenen unbefangenen Gerichtsstande verklagt werde» müssen. Da¬
gegen gehören vor die La ndrechte der verschiedenen Provinzen: alle
dem Prälaten-, Herren-und Ritterstande Angehörigen; alle von dem
Kaiser mit einem Ritterorden begnadigten Unadeligen, mit Ausschluß
der Ritter des ehemaligen, nicht des neuen Ordens der eisernen Krone;
die Stände i» l-in-pore, die unmittelbar unter dem Landesfürsten ste¬
henden Städte und Märkte, die unter keiner Grundobrigkeit stehen¬
den Ortschaften, alle Stifter, Klöster, Kapitel ?c.; das Wiener Groß-
handlungsgrcmium i» c«l >><,rv, das Wiener allgemeine Wittwen- und
Waisenpensionsinstitut (doch gehören Klagen der Mitglieder desselben
gegen das Institut vor die Wiener Juristenfacultät als Schiedsrichter
in erster und letzter Instanz); die allgemeine Versorgungsanstalt (unter
dem niederöstcrreich'schen Landrecht); die österreich'sche Nationalbank
(unter demselben, mit Ausschluß der unter das niederösterreich'sche
Wechsel- und Mercantilgericht gehörigen Wechselsachen); die erste öster¬
reich'sche und die k. k. Privileg»te Brandversicherungsanstalt (als Klä¬
ger und Verklagte unter dem niederösterreichischen Landrechte); die
böhmische Feucrversicherungsanstalt (eben so unter dem böhmischen
Landrechte); jeder Besitzer einer ständischen Gilde mit Privatgerichtö-
barkeit; jeder Unterthan der ottomannischen Pforte, als Kläger und
Beklagter (nur in Handels- und Wcchselstreitigkeiten unter den lan-
deshcrrlichen Wechsel- und Mercantilgcrichten); der gesammte unade¬
lige, lateinisch- und griechtschkatholische Clerus, die unadeligen ordi-
nirten Geistlichen augsburgischer und helvetischer Confession; der Fis¬
kus als Kläger und Beklagter; Streitsachen über Gültigkeit oder
Trennung der Ehen und über das Recht der Gerichtsbarkeit; endlich
die Freisassen in Böhmen und Mähren, die schlesischen solus ni-
»orvs (unter dem mährischen Landrecht, welches auch für Streitsachen
gegen die vier schlesischen Fürsten delegirt ist). Dagegen sind der
Jurisdiktion der drei fürstlichen Patrimomal-Landrechte in Schlesien
zu Teschen, Troppau und Johannisberg sämmtliche zum Stande des
Fürstenthums Gehörige, jeder in- und ausländische Adelige, die Klö¬
ster, Stifter, Kapitel :c., jeder Besitzer eines NittersitzeS, rittermäßigen
Gutes, freier Erbrichterei und Scholtisei unterworfen. Ein ausge¬
zeichnetes Personalgericht ist das Oberst--H ofmarschallamt, bet
welchem der Erzherzog Franz sammt Hofstaat und Dienerschaft (ohne
der Letzten Familien), die Glieder des kaiserlichen Hauses, welche
nicht selbst Landesherren sind, in persönlichen Angelegenheiten, die
verwittwete Fürstin von Fürstenberg, Prinz Gustav Wasa mit Fa¬
milie und Dienerschaft, die Gesandschaften auswärtiger Mächte, gegen
welche die Rechtssachen bei dem Oberst-Hofmarschallamt angebracht
und wenn sie einwilligen, als freiwillig prorogirt verhandelt, außer¬
dem von dem Oberst-Hofmarschallamte an den Hof deS Gesandten
gebracht werden (während die Dienerschaft nur in gewissen Fällen
den österreichischen Civilgerichten unterliegt); die bei dem k. k. Hofe
als diplomatische Personen accreditirtcn österreich'schen Unterthanen in
ihren diplomatischen Angelegenheiten, die Eonsuln fremder Mächte mit
Ausschluß der vor die Wcchselgerichte gehörigen Sachen. Eine eigen¬
thümliche Personalinstanz bildet das Triester Mercantil- und
Wechselgericht über alle dasigen Großhändler, börsenmäßigen Kauf¬
leute, Privilegien Fabrikanten, Künstler, fremden börsenmäßigen Kauf¬
leute, auswärtigen Eonsuln, triester AssecuranzgesellsclMen und Fis¬
kalamt. Endlich hat das Militär seine Personalinstanz vor den Mi¬
litärgerichten und zwar Jeder abwärts vom Obersten, auch Feld-
kapläne, Marketender, Fouriere unter den Regimentsgerichten; da¬
gegen Generäle, Obersten, Commandanten selbstständiger Corps, pen-
sionirte, beurlaubte, mit dem Militärcharakter ausgetretene Officiere,
Polizeisoldaten, Feldsuperioren, Garnison- und Spitalkapläne, das
Kriegscommissoriat und Proviantwesen, das Pionircorps, die Jäger-
und Garnisonbataillons, das Jnvalidcnamt und mehrere Militärde-
partementö, die Militair-, Bau- und Werkmeister, Stabsärzte, der
MilitärsiskuS und die Ehestreitigkeiten der Militärs, unter dem ^»-^
«licitum ä«lvK»tum militui e. Ausgenommen davon sind die Mitglie¬
der des k. k. Hauses, welche nicht selbst Landesfürsten aber Militär¬
chargen sind (unter dem Oberst-Hofmarschallamte), die bei Magi¬
straten angestellten, ausgetretenen Officiere, das Personal des Hof¬
kriegsraths und der Hvfkriegsbuchhaltung, auch die Auditoriatsprac-
tikanten (unter den Civilgerichten), die fremden in Oesterreich befind¬
lichen adeligen Officiere unter dem Landrechte, die nichtadeligen un¬
ter dem Ortsgerichte, die Landwehr (außer nach Leistung des Fah¬
neneides bei erfolgter kriegerischer Zusammenberufung und rücksichtlich
der Streitsachen und das adelige Richteramt nicht betreffenden An¬
gelegenheiten, während der Concentrirung), die bis zur Einberufung
oder Entlassung beurlaubten Militäre und die sogenannten Patental-
invaliden (unter den Civilgerichten); die im Besitz einer ständischen
Gilde oder eines Fiveicommisseö befindlichen militärischen Landstände
(unter dem Landrechte, außer in ihre Gage in Anspruch nehmenden
Schuldsachen); endlich minderjährige Militäre rücksichtlich ihres Pu-
pillarvermögens unter der Pupillarinstanz. Die vorzüglichsten Causal-
gerichte sind die Mercantil- und Wechselgerichte, vor welche
alle Streitigkeiten über förmliche und, wenn von dazu befugten Per¬
sonen ausgestellt, trockene Wechsel, über Fabrik-, Societäts-, Hand¬
lungsgeschäfte, besonders zwischen beiderseits Negocianten, über die
Lvuli der Handelsleute gegen Handelsleute; endlich sind vor bestimmte
Wechselgerichte verwiesen die türkischen, ungarischen, siebenbürgischen
Unterthanen, die vsterreich'sehe Nationalbank, Kaiser-Ferdinands-Nord-
bahn und die Klagen aus Geschäften, von Wiener Wechselseusalen
zu Stande gebracht. Vor die Wechselgerichte, welche zugleich See-
consulate sind, gehören alle Streitigkeiten in Navigations- und Schiff¬
fahrtsangelegenheiten, gegen fremde Schiffskapitaine in österreich'schen
Hafen, über Beleidigungen zwischen Schiffsherren, ihren Leuten und
Passagieren auf den Schiffen. Unter die Jurisdiktion der Berg-
gerichte sind gewiesen alle den Bergbau, den Dienst der Bergbe¬
amten und Bergleute betreffenden Angelegenheiten und die das un¬
mittelbar aus den Schmelzbutter kommende Eisen sofort aufarbeitcn-
den Hammerwerke. Endlich sind hier z» nennen die L e h c n g c r i es t e,
vor denen alle Streitigkeiten rücksichtlich der Privatleben z» verhan¬
deln sind; die Lehen selbst richten sich allgemein nach dein lombardi¬
schen, also dem gemeinen Lehnrechte mit einzelnen, theilweise provin¬
ziell abändernden Normen.
Die peinlichen Angelegenheiten gehören im Allgemeinen
vor die Criminalgerichte, die entweder landesfürstliche Collegialgerichte,
wie die Stadt- und Landrechte, oder Magistrate sind. Ueber allen
stehen in zweiter Instanz für Civil- und Criminaljustiz ncunAppel-
lations- und Criminalobergerichte. Von diesen geht die
Appellation an die oberste Justizstelle, oder den obersten Gerichts¬
hof, welcher, aus zwei Senaten bestehend, in dem zu Verona alle
an ihn gedeihenden Rechtssachen des lombardisch-venetianischen Kö¬
nigreichs, in dem zu Wien die der übrigen Staaten verhandelt und
entscheidet.
Den Civllproceßgang anlangend, so darf der Richter nur
auf vorläufige Klage, nie Amtswegen verfahren. Wendet der Be¬
klagte die oxcontio rei Mlle-re-lo ein (in der österreich'schen Geschäfts-
sprache: legt er die ihm zugekommene Klage mit Verweisung des im
Mittel liegenden Urtheiles zurück), so wird „über derlei Zurückerlag
eine Tagsatzung angeordnet" und über diese Einrede erkannt. In
der Klage soll das Factum chronologisch erzählt und dürfen in einer
Klage nur mehrere correre Gegenstände angebracht, darin aber so
wohl als in andern Streitschriften dürfen gedachter chronologischer Er¬
zählung keine Vernunftschlüsse oder Rechtsstcllen beigemischt, die Be¬
weismittel dagegen müssen sogleich dabei aufgeführt, Urkunden bei¬
gelegt werden. Auf Anbringen der Klage muß der Richter in der
Regel sie „aufrecht Vorbescheiden," d. h. das mündliche oder schrift¬
liche Verfahren darauf einleiten. Muß die Ausfertigung einem im
Auslande befindlichen Beklagten durch Requisition eines fremden Ge¬
richts zugestellt werden, so wird dem Letztern zugleich eröffnet, daß
wenn nicht binnen einer gewissen Zeit die Nachricht von der bewirk¬
ten Insinuation erfolgt, die Gesetze dem Kläger gestatten auf Edio
talladung anzutragen. Auch muß, wenn ein Theil während des Pro¬
cesses seine Wohnung ändert, derselbe dies zeitig vorher dem Gerichte
anzeigen, außerdem die Zufertigungen mit demselben Effecte als wenn
sie insinuirt wären, an Gerichtsstelle angeschlagen werden. Der Rich-
ter soll die Klage nicht annehmen, wenn der Kläger in der Provinz,
wo der Proceß geführt wird, nicht kundbar sattsam bemittelt ist, oder
mit der ersten Klage dem Beklagten annehmliche Sicherheit für
die Gerichtskosten leistet, oder sich, daß er diese nicht schaffen
könne, zu schworen erbietet. Die Anstellung von Sühneversnchen im
Anfange deö Processes ist mit Ausnahme bei Militärgerichten, nicht
verordnet, vielmehr soll der Richter von Amtswegen — außer wenn
ein Unterthan verklagt wird, wo es ihm dann nachgelassen wird —
den Vergleich nicht versuchen und sich auf einseitiges Ansuchen der
Partei „in Versuchung der Güte nicht einmengen," NergleichSversuche
auch nur mit Beobachtung der Vorschriften der Gerichtsordnung be¬
wirken, insonderheit mit Anstand und Bescheidenheit :c. Den Appel-
lationsgerichtcn ist niemals verstattet, die Stiftung eines Vergleiches
für sich selbst zu veranlassen, außer wenn die Parteien „selbst und
einverständlich" darum bitten. Uebrigens bleibt der Versuch der Güte
lediglich dem Richter erster Instanz überlassen. Im Verfahren über
die Klage sind jedem Theile nur zwei „Reden" (Sätze, Schriften,
Einbringen), dem Kläger Klage und Replik, dem Beklagten Einrede
und Duplik gestattet. Das erste Wort deö Beklagten „Einrede" ge¬
nannt, enthält die Einlassung und Einreden, Erstere in derselben
Reihenfolge, wie in der Klage die Umstände angeführt sind. In
der Regel wird schriftlich, dagegen nur auf dem flachen Lande, daun
in Sachen nicht 25 Fi. an Werth übersteigend, weiter bei Verbal¬
injurien so weit es den Schadenersatz betrifft (im Uebrigen gehören
die Injurien entweder vor den Criminalrichter oder vor die poli¬
tische Obrigkeit), ferner über den Zurückerlag der Klage, auch we¬
gen Gefahr auf dem Verzüge, endlich im Erecutivproceß und in
Jncidentstreitigkeitcn mündlich verfahren. Dies jedoch blos zur Fäl¬
lung eines Urtheils, wie wohl auf dem flachen Lande auch in der
ErecutionSinstanz. In den erwähnien Fällen kann die Klage münd¬
lich oder schriftlich eingereicht, es muß darauf eine Tagsatzung anbe¬
raumt lind es darf vom mündlichen Verfahren nur mit beider Theile
Zustimmung abgewichen werden. Der Kläger darf auch' beim münd¬
lichen Verfahren die Klagart nicht ändern wenn schriftlich, wohl aber
wenn mündlich geklagt ist. Ein Umstand, ans den der Beklagte nicht
deutlich antwortet, wird eben so wohl für wahr angenommen, als
jedes die Klage nicht übersah, eilende Factum, wenn ein Theil in der
Tagsatzung ausbleibt, oder der Beklagte binnen der gesetzten Zeit die
Einrede nicht beibringt. Ueber das mündliche Verfahren wird ein
Protokoll abgefaßt, solches auch auf Antrag den Parteien zur Voll¬
ziehung (Unterfertigung) zugestellt. Beim schriftlichen Verfahren soll
5er Richter Fristen von 30 oder 45 oder 60 bis 90 Tagen nach
Verhältniß der Entfernung des Wohnortes der Parteien vom Ge¬
richte bestimmen, die ohne gegentheilige Einwilligung nicht über die
gesetzliche Zeit ausgedehnt werden dürfen. Doch kann der Beklagte
seine Einrede bis zum Gesuch um Acteninrvtulirung einbringen. Rück-
sichtlich des Urkundenbew eiseö ist festgesetzt, daß die Schlu߬
zettel über die durch die verpflichteten Sensale auf der öffentlichen
Börse gesetzlich verhandelten Geschäfte den Beweis des Geschäftsab¬
schlusses bilden, die gesetzmäßig geführten Handelöbücher der be¬
rechtigten Kaufleute und Fabrikanten aber einen halben Beweis aus¬
machen sollen. Einen Zeugenbeweis soll Niemand antreten, dem
er nicht auferlegt ist. Die Zeugen werden über Artikel, „Weisartikel,"
und Fragstücke in Abwesenheit der Parteien und Mitzeugen verhört,
und das möglichst mit den eigenen Worten der Ersteren niederzu¬
schreibende Protokoll wird von ihnen ununterschrieben. Wenn jedoch
österreich'sche Behörden auf Ansuchen fremder Behörden Zeugen ver¬
hören, fo können sie auf ausdrückliches Verlangen die in den Gesetzen
des Landes der requirirenden Behörde vorgeschriebenen Förmlichkeiten
beobachten. Unter Zustimmung des Gegentheils brauchen beigebrachte
schriftliche Zeugnisse blos beschworen zu werden. Die Beweiskraft der
Zeugnisse ist gleich, der Zeuge sei In- oder Ausländer; die Zeugnisse
gegen Christen von Juden und für Juden und von Muhamedanem
für Muhamedaner sind für bedenklich erklärt. Der Inrotulations -
lernen, der nach dem Schlüsse des Verfahrens folgt, ist hier, weil
die Acten nicht in Actenbände geheftet werden, viel wichtiger, als da,
wo das Gericht alle Acten zusammenheftet. Als Regel gilt: „Jeder
Theil hat die ihm zugestellten gegentheiligen Schriften und Beilagen
einzulegen und ist nicht schuldig, andere legen zu lassen; kein Theil
aber ist verbunden, die Originalen zu legen, ausgenommen wenn
der Gegentheil an denselben sichtbare Mängel ausgestellt hätte." In
dem nun zu ertheilenden Spruch soll von den Beweggründen, die
den Richter zu dessen Abfassung bestimmt haben, nichts erwähnt, auch
soll kein Spruch den Parteien öffentlich vorgelesen, sondern einer jeden
von ihnen zugestellt werden. Längstens drei Tage hinterher aber sollen
über jeden Spruch, worüber eine weitere Beschwerdeführung offen
steht, auf Anlangen der Parteien die Beweggründe mitgetheilt
werden. Binnen vierzehn Tagen nach zugestelltem Spruche steht jedem
Theile frei, dawider zu appelliren, außer wider Schiedsgerichts-
crkenntnisse, gegen welche bei dem ordentlichen Richter geklagt wird,
wider Classificativnsurtheile im Concurse, gegen welche die Vorrechts¬
klage eintritt, und Wider Urtheile in Auszichstreitigkeiten, wo blos
Recurs eingewendet werden kann. Revision wird, wenn der Spruch
erster Instanz vom Appellationsgerichte bestätigt worden ist, nicht zu¬
gelassen, außer gegen die etwa abgeänderten einzelnen Punkte. Auch
findet, wenn vom Appellationsgerichte der Bescheid erster Instanz be¬
stätigt worden ist, ein weiteres ordentliches Rechtsmittel nicht Statt.
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand muß bei demjenigen
Richter nachgesucht werden, wo der fragliche Rechtsstreit verhandelt
wurde oder wird. Beschwerden wegen Verstoßes gegen Forma-
lien :c. werden bei dem nächsten obern Richter angebracht. Die E r e -
cution anlangend, so werden in fremden Staaten gefällte Urtheile
auch in Oesterreich erecutirt, wenn der fremde Staat zur Fällung deS
Urtheils berechtigt war und wenn der fremde Staat auch österreichische
Urtheile vollstreckt. So weit Besoldungen und Pensionen nicht durch
ausdrückliche Gesetze von der Erecution befreit sind, können dieselben
mit zur Erecution gezogen werden. Als ausreichendes Erecutions-
vbjcct werden lebenslängliche Einkünfte des Beklagten angesehen, wenn
der Gläubiger binnen drei Jahren dadurch befriedigt wird. In Man¬
gel ausreichender Erecutionsobjecte kann der Schuldner auf erfol¬
gende Instanz des Klägers ein Jahr lang im Schuldarrest ge¬
haltn werden. — Der Arrest kann auA> vor entschiedenem Processe
gegen solche gesucht und ertheilt werden, die der Flucht verdächtig
sind. Wird mit dem Arrestgesuche zugleich die Klage eingereicht, so
soll die Sache wo möglich binnen drei Tagen entschieden, wäre Er¬
steres nicht geschehen, muß die Klage längstens binnen vierzehn Ta¬
gen eingereicht werden. Moratorien sollen nicht mehr ertheilt werden.
Offenbare Widerrechtlichkeitcn und Ungesetzlichkeiten im Processe wer¬
den an der Partei und ihrem RcchtSfreunde mit Verweisen, Eintra¬
gung in das Correctionsbuch, Geldstrafe», Suspension oder Ent¬
setzung von der Advocatur gestraft.
Der ConcurSproceß weicht vielfach vom gemeinen Rechte
ab. Durch die Güterabtretung erlangt der Gemeinschuldner Befrei¬
ung von der Personalerecution, das Recht auf Ueberlassung von so
vielen Kleidern, Betten und Hau,sgeräthe, als er für sich, sammt
Frau und Kind braucht und auf den nöthigen Unterhalt zu zwei bis
sechs Groschen täglich sür die Person. Dieß Uitterhaltungörecht hat
der Cridar jedoch nur gegen aus seinen milden Handlungen, z. B.
Schenkung, entstandene Gläubiger, gegen Adsccndenten und Deften-
ten, gegen die Ehegattin aus noch bestehender oder durch deren Schuld
getrennter Ehe, gegen „ein- und zweibändige Brüdern und Schwe¬
stern," und von den nach der Vermögensabtretung erfolgten Erwer¬
bungen zu fordern. Durch den Concurs hört jeder zum Besten eines
Dritten auf Güter gelegte Arrest auf und die Universalität des Eon-
curöforums wird in dem Maße selbst gegen ausländische Gerichte an¬
erkannt, daß diesen die mit Verbot für den auswärtigen Cridar be¬
legten Forderungen ausgeantwortet werden, wenn Erstere das Ne-
ciprocum beobachten. Unter gleicher Voraussetzung besteht auch die
Elassisicatiou und sonstige Berechtigung der Ausländer im Concurse
ganz der der Inländer gleich. Die Anmeldungen der Gläubiger zum
Concurs sind aber „in der Gestalt einer förmlichen Klage" einzurei¬
chen und nicht nur vom Gerichte, sondern auch vom Coneuröver-
treter genaue Niederschriften darüber zu halten. Ueber jede Anmel¬
dung ist wie über jede andere Klage zu verfahren und muß jeder
Gläubiger nicht nur die Nichtigkeit, sondern auch die Priorität seiner
Forderung, wenn er darauf Anspruch macht, in diesem Verfahren
ausführen und beweisen. Ueber jede einzelne Forderung wird ein
besonderes Erkenntniß und dann über die liquiden el» Classifications-
urtel ertheilt. Gegen die ÄquibationScrkenntnisse steht die Appella¬
tion offen, gegen das ClassificationSerkennlniß aber nicht; die angeb¬
lich beschwerten Gläubiger müssen deshalb eine besondere f. g. Vor -
rechts klage binnen 30 Tagen erheben. Die Vertheilung (der
Distributionsbescheid) wird vom Verwalter der Masse nach der rechts^
kräftig erfolgten Classification gefertigt. Die unstreitig bevorrechteten
Gläubiger aber sollen, ohne jene Classification abzuwarten, so bald
als möglich befriedigt werden.
Wenn ein Kläger, der außerhalb der Erdtaube wohnt, nicht
einen Sachwalter am Orte des Gerichts nahmhaft macht, so ist
er ohne die vorgeschriebene Ausfertigung auf die Klage, zu Erster»,
anzuweisen. Wohnt der Beklagte außerhalb der Erdtaube oder sein
Aufenthaltsort ist unbekannt, so wird ihn, ein Curator auf seine Kosten
und Gefahr gesetzt und dies durch öffentliches Edict bekannt gemacht.
Der ersten Schrift muß die Vollmacht, wozu aber ein verbindliches
Schema nicht gesetzlich eingeführt ist, alle Mal beiliegen, so wie da
wo am Orte des Gerichtes Sachwalter sind, die Schriften von einem
solchen unterzeichnet sein müssen. Auch wird bei einem Termine das
mündliche Anbringen des Sachwalters nicht angenommen, wenigstens
ein Bescheid darauf nicht ertheilt, bis der Sachwalter binnen einer
zu bestimmenden Frist die Vollmacht beibringt, außer wenn die Par¬
tei mit dem Sachwalter selbst erscheint. Für die Schriften, welche
eine Partei selbst, oder ein Sachwalter in eigener Sache fertigt, ist
dieselbe Gebühr anzusetzen, als wenn sie von einem Dritten verfer¬
tigt worden wären. Die Sachwalter sind theils Hof- und Gerichts¬
advokaten in den Hauptstädten, theils Advokaten auf dem Lande.
Die Advokaten müssen sämmtlich >1»<-et>i-c-x jul-i« sei») die Zahl der
Advokaten ist im Vergleich mit andern Ländern sehr gering. Außer
den Advokaten steht das Recht der Parteivertretung auf dem Lande
auch noch einigen schon in früherer Zeit angestellten Justitiaren oder
Räthen außerhalb ihrer Juriödictionöbezirke zu.
ES bestehen in den verschiedenen Oberjustizstellen fol¬
gende Gerichtsverfassungen- I) die altpreußische bei den Obcr-
landesgerichtcn zu Königsberg, Jnsterburg, Marienwerder, Cöslin,
Stettin, Frankfurt, Berlin, Glogau, BrcFau, Ratibor, Magdeburg,
Halberstadt, Paderborn, Hamm und Münster, nunmehr auch in Sach¬
sen, wo die frühern Gerichtsämter aufgehoben und in Gerichtscom¬
missionen der einzelnen Land- und Stadtgerichte verwandelt sind.
Letztere erkennen nur in Bagatell- und Jnjunensachen nicht cremirter
Personen. 2) Die modificirte preußisch-polnische Gerichts¬
ordnung mit thettweisem mündlichen und öffentlichen Verfahren bei
dem Ober-AppellationSgerichte zu Posen (zum Oberlandesgcricht ge¬
hört hier neben der Hypothekenführnng über Domainen und Ritter¬
güter die crstinstanzliche Entscheidung über alle Sachen von 5N0 Thlr.
Objectwerth und die zweitinstanzliche in allen übrigen)) 3) die preu-
ßische allgemeine Gerichtsordnung und zwar, jedoch unter
Suspension deS Familienrechts im I. 2. 3. Titel des allgemeinen
Landrechts, ingleichen deS Bauernrechts im 2, Theil, 7. Titel dessel¬
ben, bei dem Oberlandesgericht zu Arnsberg; 4) das gemeine
Recht mit der nassau'schen Prvceßordnung zum Theil bei dem Hof¬
gerichte zu Arnsberg, und bei dem Appellationsgerichte zu Cöln in
Ansehung des unter dem vormaligen Justizsenate zu Ehrenbreitenstein
stehenden nassau'schen Antheils, welcher erstere jetzt einen besondern
Senat des Landgerichtes zu Koblenz bildet; 5) die i» schwedisch
P o in mern eigenthümliche Gesetzgcb u n g und 'Gerichtsverfas¬
sung bei dem Ober-Appellationsgerichte zu Greifswalde, in dem
Regierungsbezirke von Stralsund nach gemeinem deutschen Proceß
(die Gerichte sind theils städtische, theils königliche, namentlich das
Ober-Appellationsgericht, Consistorium und Hofgericht zu Greifs¬
walde; unter den Kreiögerichten stehen das gesammte platte Land und
die Städte, die keine besondern Gerichte haben); 6) die französi¬
sche Gesetzgebung und Gerichtsverfassung bei dem Appel¬
lationsgerichte zu Cöln, jedoch haben die Kreise Nees und Duis¬
burg des Regierungsbezirks Düsseldo/f die allgemeine preußische Ge¬
setzgebung; 7) die in Neufchatel eigenthümliche Gesetzgebung und
Gerichtsverfassung; 8) die preußische Gerichtsverfassung in den
Bundesfestungen Mainz und Lnrembnrg, indem die dortigen preußi¬
schen Besatzungen in ihren bürgerlichen Rechtsfällen nach den preu¬
ßischen Gesetzen beurtheilt werden; 9) die Justizverfassung auf den
preußischen Universitäten, nach welcher es in Gemäßheit des
Gesetzes vom 7. Juli 1821 keiner gerichtlichen Formalitäten bedarf,
wenn ein Student demagogischer Umtriebe für verdächtig gehalten wird.
Der preußische Staat hatte von jeher den Grundsatz, bei neuen
Ländererwerbungen das bestehende Recht möglichst wenig anzutasten.
Darum ist bis jetzt weder das preußische Landrecht, noch die Gerichts¬
ordnung allgemein gültig, vielmehr bestehen, wie auch aus Voran¬
geführtem sich zum Theil ergibt, nach den Gesetzgebungen geordnet,
folgende Verschiedenheiten des gerichtlichen Verfahrens in den ver¬
schiedenen Provinzen: I) die preußische Gesetzgebung
in ihrem vollen Umfange gilt in Ost- und Westpreußen, Bran¬
denburg, Pommern, Schlesien, Sachsen, in den zur Provinz West-
phalen gehörigen Regierungsbezirken Münster und Paderborn und
in der z»»i Regierungsbezirke Arnsberg gehörigen ehemaligen Graf¬
schaft Mark, in den zum Regierungsbezirke Düsseldorf gehörigen vor¬
mals Essen-Wcrdenschen sammt der Herrschaft Breies, auf der rech¬
ten Rheinseite des vormaligen Herzogthums Cleve; dagegen mit theil¬
weisem mündlichen und öffentlichen Verfahren in der Provinz Posen
und mit den oben erwähnten Modifikationen im Bezirke des Ober-
landeSgerichtS zu Arnsberg. 2) DaS gemeine Recht hat Gel¬
tung mit der' nassau'schen Proceßordnung auf ver rechten Rheinseite
des Regierungsbezirkes Koblenz in der Provinz Niederrhein. 3) Die
französische Gesetzgebung herrscht in dem zur Provinz Jülich,
Cleve und Berg gehörigen Regierungsbezirke Cöln, in dem zum Re¬
gierungsbezirke Düsseldorf gehörigen ehemals Berg'schen, auf der lin¬
ken Rheinseite des vormaligen Herzogthums Cleve und in den die
Provinz Niederrhein bildenden Regierungsbezirken Trier, Aachen und
Coblenz, jedoch rücksichtlich des letztern nur auf der linken Rheinseite.
Die oberste Justizbehörde, von welcher das Justizministerium für
Revision der Gesetzgebung gänzlich getrennt worden, ist daS Mini¬
sterium der Justiz, das die Oberaufsicht über die gesammte
Rechtspflege, das Pupillar-, Deposital- und Hhpvthekenwesen hat.
Auch stehen- nach Cabinetsordre vom 6. Septbr. 181» die Gerichte
in öeeretiuillo also in Allem, was nicht zur eigentlichen Entscheidung
in Urtel und Recht gehört, unter seinen Anordnungen ohne verant¬
wortlich zu sein, in Mliciuulo aber sind sie nur dem Gesetz und
ihrem Gewissen verpflichtet. Unmittelbar unter ihm stehen: u) Das
geheime Ob ertrtbunal, der höchste Gerichtshof in den Ober¬
landesgerichtsbezirken in Ost- und Westpreußen, Kur- und Neumark,
Schlesien, Pommern, Sachsen, Westphalen und Arnsberg, dann für
alle Processe über gutsherrliche und bäuerliche Verhältnisse fast im
ganzen Reiche. Es entscheidet ausschließlich in der Rcvisions-, der
dritten und letzten Instanz und über die Nichtigkeitsbeschwerde, b) DaS
Kamme rgericht. Es ist das Landesjustizcollegium der Regie¬
rungsbezirke Berlin und Potsdam und besteht «) aus dem Ob er¬
Appell ationssenate, welcher die Revisionsinstanz in allen Sa¬
chen des pommerschen OberlandeSgerichteö zu Stettin von einem Ob¬
jectwerthe von 2000 bis 5000 Thaler, ingleichen in Ehe-, Sponsa-
lien- und Schwängerungssachen der Untergeriehte der Kurmark, fer¬
ner die Appellationsinstanz bildet in allen Civilsachen des Departe-
neues des Kammergerichtes von einem Objectwerthe über »0 Thaler
mit Ausschluß der Ehe-, Sponsalicn- und SchwängerungSsachcn, in
allen Criminalsachen des gedachten Departements, in allen Jnjurien¬
sachen, in denen die Civildeputation deö KammergerichtS nicht in
zweiter Instanz erkennt; in allen solchen Contraventionösachen gegen
landesherrliche Steuer- und Polizeigesetze in diesen Departements, in
welchen in erster Instanz bei den Untergerichten erkannt ist, in den
verfassungsmäßig vor das Generalauditoriat gehörigen Criminal- und
Jnjuriensachen. /?) Aus dem JnstructivnSsenate, vor welchem
die Untersuchung und Entscheidung der Rechtsstreitigkeiten der Mit¬
glieder des königlichen Hauses und der in der Kurmark wohnenden
Cremirten in erster, und die Ehe-, Sponsalien- und SchwängerungS-
fachen der Untergeriehte der Kurmark in der Appellationsinstanz ge¬
hören. Einen Theil des JnstructionösenateS bildet der mit einer
Civildeputation, welche über die dem HauSvoigieigerichte nicht
überlassenen Jnjuriensachen und in der Necursinstanz in Sachen ei¬
nes Objectwerthes bis 50 Thaler entscheidet, verbundene Criminal-
senat zu Abfassung der Criminalerkeimtiusse und Criminalgntachten.
Mit dem Kammergerichte sind noch verbunden: a) der geheime
Justizrath, unter dem die Rechtssachen der Prinzen, der bei kö¬
niglichen Gesandten angestellten Personen, der Justizpräsidenten, Di¬
rektoren und wirklichen Rache stehen; b) daS Hofgericht, welches
die Gerichtsbarkeit über das Schloß und alle zum Schloß und der
Schloßfreiheit in Berlin gehörigen Häuser, über alle Burglehen, Frei¬
häuser, über die auf königl. Gründen in der Stadt erbauten Häuser
und über die untern Hofbedienten des königl. Hauses hat; c) die
Judencom Mission, über die in Berlin wohnenden Bekenner der
mosaischen Religion; d) das Hausvoigteigericht. eine Depu¬
tation des Kammergerichtes, das Bagatellsachen bis 50 Thaler und
minder wichtige Jnjuriensachen der niedrigen, unter dem Kammerge¬
richte stehenden Personen in erster Instanz instruirt und entscheidet,
auch die vom Kammergericht ihm aufgetragenen Criminaluntersuchun-
gen führt; e) das kurmärkische Pupillencollegium, welches
die obervormundschaftliche Aufsicht über die Unmündigen, Blödsinni¬
gen und Verschwender, die unmittelbar unter dem Kammcrgerichte
stehen, und über die Vormundschaften bei den dem Kammcrgerichte
untergeordneten Untergerichten führt.
Unter de», Ministerium der Justiz stehe» ferner unmittelbar die
sämmtlichen Obergerichte oder Oberlandesgerichte oder
LandeSjustizcollegien, unter welchen Ausdrücken im Allgemei¬
nen man begreift: das gedachte Kammergericht zu Berlin, dann die
Oberlandesgerichte zu Königsberg, Jnsterburg, Marienwerder, Frank,
furt, Stettin, Eöslin, Breslau, Glogall, Ratibor, Magdeburg, Hal-
berstadt, Paderborn, Münster, Hamm, Naumburg, die Ober-Appel¬
lationsgerichte zu Posen und Greifswalde, das Hofgericht zu Arno--
berg, das Appellationsgericht zu Eöln, das souveraine Tribunal zu
Neufchatel uno den Justizsenat zu Ehrenbreitstein. Die Oberlandes¬
gerichte sind theils Aufsichtsbehörde über die Unterbehörden, theils
erste Instanz für die cremirten Personen und Sachen, theils Appel¬
lationsinstanz für die Untergeriehte. Ihr erster Senat ist der Crimi>
nalsenat, in welchem die Kriminalsachen verhandelt werden. Eine
besondere Abtheilung von ihnen har das Vormundschaftswesen der
Eremirten zu seinem Geschäftskreise — Pnpillencvllegiu in. Be¬
sondere Organe der Oberlandeögerichte sind die Jnquisitoriate,
welche die wichtigen, Untersuchungen zu führen haben, während die
geringern vor die gewöhnlichen Untergeriehte gehören; dann die
Kreisjustizräthe, welche die freiwillige Gerichtsbarkeit, Anzeige
von Todesfällen, Annahme von Klagen und Entscheidung der Ba¬
gatellsachen, eremirte Personen betreffend, zu besorgen haben. Auch
eristiren einige standesherrliche Gerichte, denen Eremirte untergeben
sind. Endlich stehen unter dem Justiznimiftcrmm sämmtliche Unter-
geriehte, welche Stadt- und Landgerichte, mit Einschluß weniger
Patrimonialgerichte sind und zu deren Competenz alle Klagsachen
gegen Nichteremirte, die Führung der Hypothekenbücher über nicht¬
eremirte Grundstücke und eben so das BormundschaftSwesen, auch
kleinere Untersuchungen gehören.
Neben den ordentlichen Untergerichten sind folgende Behörden
vorhanden- I) das Hofmarschallaml in Berlin, unter dessen
Justitiariat alle Officianten und Bedienten des Hofes vom Kam¬
merdiener abwärts, rücksichtlich der Procesiinstruction, der freiwilligen
Gerichtsbarkeit und-der Untersuchung der nur polizeilich zu bestrafen¬
den Vergehen stehen; 2) die Fabriken gerichte zu Altena, Aa¬
chen, Iserlohn, Lüveuscheid, Sieden und Berlin, hier eine besondere
Deputation des vasigen Stadtgerichtes, fin Streitigkeiten der Fabrik-
Herrn und ihrer Arbeiter über contraetwidrige Arbeiten, für ans der
Fabrikverbindung entstehende Schuldsachen, für Untersuchungen wegen
Vergehen gegen die Fabrikgesetze und für die das Fabrikwesen be¬
treffende freiwillige Gerichtsbarkeit. 3) Die Elbzollgerichte zu
Wittenberg und Mühlheim und die Weserzollgerichte zu Min¬
den und Beverungen, über Zollcontraventionen, über Streitigkeiten
der Zoll-, Krähn-, Hafen- und Wcrftgebühren, so wie über die
Hindernisse beim Leinpfade und die Entschädigung der angrenzenden
Uferbesitzer beim Schiffziehen. 4) Die Untersuchungsrichter bei den
Zollämtern, für die Untersuchungen wegen Steucrdefraudationen.
5) Die unter verschiedenen Namen bestehenden Schifffahrtö- und
Handelsgerichte und zwar die Commerzien- und Admiralitätö-
collegien in Königsberg und Danzig für die auf Schifffahrt sich be¬
ziehende freiwillige Gerichtsbarkeit, für alle aus dem kaufmännischen
Verkehr entspringende Sachen und für die Untersuchungen wegen
Verletzungen der Handlungs- und Schifffahrtsgesetze; die Schiffsahrts-
und Handlungsdeputationen zu Memel, Tilsit und Swinemünde für
Aufnahme von Contracten, Instruction der Arreste, Wechselprocesse
und solche Streitigkeiten, zu denen kaufmännische Kenntnisse erforder¬
lich sind; das Seeglerhaus zu Kolberg für Streitigkeiten zwischen
Rhedern, Schiffern und Schiffsvolk; das Handelsgericht zu Naum-
burg; die Gerichtscommission zur Schlichtung der Streitigkeiten beim
Wollmarkte zu Posen. 6) Die Gcneralcom Missionen zu Re-
gulirung der gutsherrlich-bäuerlichen Verhältnisse. In
der preußischen Agrargesetzgebung nimmt die Gemeinheitslheilungs-
ordnung eine hervorragende Stelle ein., Sie gilt in denjenigen Lan-
destheilen, in welchen das Allgemeine Landrecht Gesetzkraft hat. Zur
Leitung und Ausführung der Auseinandersetzungen sind eigene Be¬
hörden, welche den Namen Gencralcommissionen zur Regulirung der
gutsherrlichen und bäuerlichen Verhältnisse haben, und als zweite
Instanz acht Nevisionscollegien eingesetzt. Die Oekonomiecommissare
leiten als Specialcommissionen an Ort und Stelle die Aus¬
einandersetzungen, mit Zuziehung ökonomischer Hülfsarbeiter, während
Richtern (den Kreisjustizcommissaren) die Ausführung der richterlichen
Verhandlungen obliegt. Eine am 20. Nov. 1844 erlassene Verord¬
nung verfügt über den Geschäftsgang und den Instanzenzug bei jenen
Anseinandersetzungsbehörden. Fortan soll in erster Instanz jede
Generalcommisston und jedes Spruchcollegium für landwirthschaft-
liche Angelegenheiten, einschließlich des Dirigenten, aus mindestens
fünf Mitgliedern, deren Mehrzahl zum Nichteramte qualificirt sein
muß, bestehen. Die zu den Entscheidungen zweiter Instanz jetzt in
Berlin, Königsberg, Marienwerder, Stettin, Magdeburg, Breslau,
Münster und Posen bestehenden Revisionscollegien sollen aufgelöst
werden, und sämmtliche derselben bisher aufgetragenen Geschäfte auf
ein für die ganze Monarchie zu errichtendes Revisionscollcginm
für Landescultursachen übergehen. Den Zeitpunct dieser Ver¬
änderung haben die Minister der Justiz und des Innern zu bestim¬
men. Dieses Collegium soll aus einem Präsidenten und mindestens
acht Mitgliedern bestehen. Der Präsident und sämmtliche Mitglieder
müssen mit der landwirtschaftlichen Gewerbslehre vertraut und die
Mehrzahl derselben muß zum höhern Richteramte qualificirt sein.
Sie werden vom König ernannt, ersterer auf den Vorschlag deö
Staatsministerittms, letztere auf den der Minister der Justiz und des
Innern. Diese Minister können indeß gemeinschaftlich das Collegium
im Fall eines vorübergehenden Bedürfnisses durch solche Hülfsarbei-
ter verstärken, welche die für die Mitglieder erforderliche Qualifika¬
tion besitzen. Bei den Vorschriften über die Rechtsmittel der Revision
und der Nichtigkeitsbeschwerde auf Auseinandersetzungssachen bewer¬
tet es. 7) Die verschiedenen Berggerichte für alle Processe über
BergeigenthumSverleihungcn, über in das Berghypothekenbuch einge¬
tragene Forderungen, Subhastationen von Bergeigcuthum und für
die dasselbe betreffende freiwillige Gerichtsbarkeit; die Appellation von
diesem Gerichte geht an das Bezirksoberlandesgericht. 8) Geist¬
liche katholische Gerichte: die Consistoriengerichte zu Posen
und Gnesen in der Provinz Posen für rein kirchliche Sachen (ohne
alle Jurisdicticm in Civilsachen, selbst nicht der geistlichen), Sponsa-
lien- und Ehesachen, wenn beide Parteien katholisch sind, Erkennt¬
niß auf Suspension und Entsetzung der Geistlichen bei groben, das
weltliche Gesetz nicht zugleich mit verletzenden Amtsvergehen. Die
Appellation geht wechselseitig von einem Gericht an das andere, die
Revision an das Prvsynodalgericht zu Posen; I.) das geistliche Ge¬
richt zu Ermeland in Ostpreußen, in blos geistlichen und Ehesachen,
wenn beide Eheleute katholisch sind, über demselben stehen die Appel-
lationsinstanz und die Prosynodalgerichte; c) die katholischen Gerichte
unter dein Oberlandeogcrichle Maricnwerver in Westpreujicn; >l) in
Schlesien übt rücksichtlich der Grafschaft Glaß der Erzbischof zu Prag
die geistliche Gerichtsbarkeit; das Fürsteiithui» Troppau gehört zur
Erzdiöeese Oberlausitz, das übrige Schlesien zur Diöcese Breslau, wo
der Bischof nicht nur über nu-lui,, sonder» auch in persönlichen
Processen, Nachlaßregulirungen und Injurien der Geistlichen, in Zehn¬
ten- und Patronatsrechtssachen, so wie rücksichtlich religiöser und
amtlicher Vergehen der Geistlichen Juriövictio» ausübt. Ein Theil
des Generalvicariatöamtö zu Breslau hat die Ehesachen, das Vica-
riatsamt die übrigen Sachen; Appellation und Revision gehen an
das Oberlandesgericht und geheime Obertribunal; <?) in Sachsen
hat das geistliche Gericht zu Erfurt in Disciplinar-, Spousal- und
Ehesachen, in Streitjachen über geistliche Personen, Korporationen
und Güter die Civil-, über geistliche und in kirchlichen Verbrechen
über weltliche Katholiken die Crinünaljurisdimon; l) in den Rhein-
provinzen besteht blos in rein geistlichen Angelegenheiten die bischöf¬
liche Jurisdiction. 9) Acad e in i sche Gericht e. Die NinversitätS-
gerichte sind blos für Disciplin und Polizei bestimmt; die Studiren-
den haben in der Regel den Gerichtsstand der Cremirten an der
Universität, die Professoren den Gerichtsstand der Staatsbeamten.
10) Die Militairge richte bestehen nur in Untcrsuchungssachen .
nach der Criminalordnung und zwar durch besondere Militärgerichte
sür eigentliche Militairpersonen, durch Spmchcomimssionen für die
dem Militairwesen attachirten Beamten; die höhere Militairgerichtö-
barkeit wird durch die Kriegsgerichte, die niedere durch die Standgerichte
verwaltet. Appellation geht an das Generalauditoriat. II) Das
Institut der Schiedömänner, letztere gewählt von der Gesammt¬
heit der angesessenen Einwohner eines Districts aus ihrer Mitte.
Ihre Entscheidung, von beiden Theilen angenommen, wirkt Erecution
bet den Civilgerichten. 12) Die Dorfge richte, aus dem Schul¬
zen, zwei Schöppen und dem Gerichtsschreiber bestehend, von denen
dem Schulzen die Handhabung der Communalangelegenheiten und
der Polizei obliegt, zwei Schöppen aber, wenn Gefahr auf dem Ver¬
züge steht, zur bloßen Beglaubigung der gerichtlichen Handlungen zu¬
zuziehen sind, während die ganzen Dorfgerichte bet Gefahr auf den,
Verzüge zu Contracts- und Tar^, auch Testaments- und Codicillauf-
nahmen, so wie zu andern Handlungen freiwilliger Gerichtsbarkeit,
in einigen Bezirken ff»' Pfändimgs- und Gesindestreitigkeiten coupe«
teut sind. 13) Nichtgerichtliche Behörden, welche in recht¬
lichen Streitigkeiten entscheiden, sind die Polizei in Gesinde-EinzugS-
fachen und in Streitigkeiten zwischen Reisenden und Handwerkern,
dann besondere Behörden in Bezug auf die aus den Kriegen 1896
bis 1815 entspringenden Ansprüche ein den Staat.
Persönlich eremirte Personen sind im preußischen Staate
die königlichen Prinzen, welche beim geheimen Justizrath des Kam¬
mergerichtes, Fürsten und Adelige, Geistliche, graduirte Lehrer, Civil¬
beamte, Officiere, manche Korporationen, z, B. Domkapitel, Stifte,
Klöster, königliche Gerichte, Gelehrten- und Hochschulen, welche vor
die OberlandeSgerichte gehören. Dahin gehören auch geistliche und
zu adeligen Rechten verliehene Grundstücke, so wie zmveilen die der
Gelehrten- und Hochschulen, so daß der auf solchen Gnmdstücken
wohnende Eigenthümer auch für seine Person befreiten Gerichtsstand
hat. Der Fiscus hat als Kläger gar keinen, als Beklagter nur dann
einen befreiten Gerichtsstand vor dem OberlandeSgerichte, wenn der
Gegenstand unter unmittelbarer Verwaltung der Regierung steht. DaS
Militair steht in «Zivilsachen ganz unter den Civilgerichten. Der
eremirte Gerichtsstand leidet keine Anwendung in Streitigkeiten, die
aus einem bürgerlichen Gewerbe deö Eremirten entstehen. Durch
Kassation, nicht durch Pensionirung, hört der befreite GerichtSstano
auf. Gesinde nimmt nicht Theil daran, muß aber im Wohnorte der
Herrschaft belangt werden. Ehefrauen, Wittwen und eheliche Kli,^
der, so lange letztere noch unter Bormundschaft oder väterlicher Ge¬
walt stehen, folgen dem Gerichtsstande des Vaters. In der Regel
können im dinglichen Gerichtsstände nur dingliche Klagen angebracht
werden.
Nach Obigem herrschen in der Hauptsache drei verschiedene
RechtSverfahrungsartcn in den preußischen Staaten, der gemeine
deutsche, der preußische und der französische Proceß Allein der preu¬
ßische Proceß zerfällt wieder in zwei verschiedene Arten, in das Ver¬
fahren nach der allgemeinen Gerichtsordnung und in das nach dem
Gesetze vom I. Juni 1833.
Der prensiische Proceß nach der allgemeinen Ge¬
richtsordnung unterscheidet sich vom gemeinen Processe Vorzugs
lich dadurch, daß, der Grundsah ausgestellt ist, der Richter sei de-
rechtigt und verbunden, die Wahrheit der faktischen Verhältnisse im
Processe zu erforschen »ut daher, sobald eine Partei sich wegen Rechts
Verletzung an den Richter gewendet hat, Amtswegen für den weitern
Betrieb des Processes zu sorgen (die Untersnchungsmanme). Der
Kläger trägt daher dem Richter mündlich seine Angelegenheit vor,
welcher hierauf die Klage verfaßt und den Beklagten vorladet, wäh¬
rend im gemeinen Processe der Kläger selbst, seine Klage bei dem Ge-
richte einreicht und durch dasselbe den Verklagten vorladen läßt. Nach
Ersterem bedarf es keines Urwalds, wenn die Partei nicht selbst, wi>'
jetzt gewöhnlich ist, die Bestellung eines solchen vorzieht. Der Ver¬
klagte erscheint auch persönlich vor dem Richter, trägt seine Einwen-
dungen zum Protokolle vor, worüber der Kläger vom Richter wieder
gehört und sodann das Sachverhältniß nach Uebereinstimmung beider
Parteien von dem Richter in einen s, g. «wtus ein>88!l,<z cantro
voi-tun; gebracht wird — eine Handlung, welche dem gemeinen Pro¬
cesse ganz unbekannt ist. Der Richter verfügt nun ein Decret —
nicht wie im gemeinen Processe durch ein förmliches Erkenntniß —
welche Beweismittel aufgenommen werden sollen.. Das Beweisver-
fahren unterscheidet sich wenig von dem gemeinrechtlichen; eben so
finden Nechtsdeductionen über den Beweis, jedoch nicht in, Wechsel-
verfahren Statt und das Erkenntniß muß eine vollständige Geschichts¬
erzählung und Entscheidungsgründe enthalten. In den folgenden In¬
stanzen ist das Verfahren schriftlich lind nicht wesentlich vom gemei¬
nen/Proceß abweichend. Nur Nachstehendes ist noch besonders zu
bemerke,, - Durch den aufgestellten Zweck, die Wahrheit zu ermitteln,
ist jede Partei verpflichtet, der Aufforderung des Richters zur Auf-
klärungSertheilung über ihm erheblich erscheinende Umstände Folge zu
leisten, und weigert sie sich dessen, so wird sie von der Strafe ge¬
troffen, daß die fragliche Thatsache für zugestanden oder nicht ange¬
bracht erachtet wird, je nachdem dies am nachtheiligsten ist, jedoch
kann die Partei die Folge des Ungehorsams bis zum Abschlüsse der
Jnsiruction durch vollständige Nachtragung der Erklärung abwenden.
Gedachte mündliche Verhandlungen geschehen nicht vor dem Gerichte
selbst, sondern vor einem Deputaten desselben — Jnstruenten —
der durch einen Decernenten controlirt wird, welcher die Rechts¬
beständigkeit der Klage zu prüfen und in Fällen, wo der Jnstruent
Ger den Gang der Sache mit den Parteien sich nicht vereinigen
kann, dem Gerichte Behufs einer Entscheidung darüber Vortrag zu
machen hat. Es wird auch nicht darüber erkannt, wem die Beweis¬
est obliegt; beide Theile müssen ihre Beweismittel angeben. Alle
gemeinrechtlichen Jnterlocute fallen daher weg. Das erste Stadium
des preußischen Processes ist das Verfahren bis zur Beweisaufnahme,
wobei vorzüglich zu bemerken ist, daß die Klage in kein bestimmtes
Klagesystem gebracht werden muß, und daß nach dem preußischen
Proceß es kein zwssessurium in-ljuim-inen giebt. Der Proceß kann
mit einer blosenKlaganmeldung beginnen, welche eine blose Be¬
zeichnung des Klägers, Beklagten, Streitgegenstandes und eine An¬
gabe, ob der Kläger der Instruction selbst beiwohnen, einen Assisten¬
ten oder Bevollmächtigten vom Gericht bestellt haben oder selbst be¬
stellen wolle, zu enthalten braucht. Darauf folgt entweder Anwei¬
sung an den Justizcommissar zu Einreichung der Klage oder Termin
zur förmlichen Klag aufnähme, welches Beides wegfällt, wenn
die Klage gleich bei der Anmeldung förmlich angebracht wird, wie
gewöhnlich zu geschehen pflegt. Die Lxee^tivuos ^in-is, welche sich
aus den Vorträgen des Verklagten und Klägers für Ersteren ergeben,
muß der Jnstruent Amtswegen berücksichtigen, aber neue, mit aus
dem übrigen Vordringen hervorgehende Thatsachen, darf er nicht als
Gegenstand der Instruction aufstellen. spätestens im Klagbeantwor-
tungstermine kann der Beklagte auf Kosten cautionöb estelln ng
gegen den Kläger antragen, welcher wenn er die Cautionssumme
nicht leisten kann, vor fernerer Zulassung den Ccmtionseid leisten muß.
Von dieser Kaution sind Fiscus, Gemeinden, Corporationen, Beamte,
Jmmobiliarangesessene im Lande, auch alle Alimenten-, Lohn-, Ba-
gatell-, Ehe- und Mercantilsachen ausgenommen. In dem stittudi
<:in>88ir<z «t collet'0vol-i>'me sind die unter den Parteien streitigen That¬
sachen vorzüglich herauszuheben und die erheblichen von den uner¬
heblichen zu trennen, wonach dann die Beweispunkte festgestellt wer¬
den. Die zwei folgenden Proceßstadien sind die Beweisaufnahme
und das Erkenntniß. Die Zeugen werden nicht über Artikel, sondern
in zusammenhängender Rede, in Gegenwart der beiderseitigen Assi¬
stenten vernommen und hinterher vereidct. Nach der Beweisaufnahme
wird die Güte noch einmal versucht und wenn diese fehlschlägt, wird
den Parteien gestattet, jede eineNechtsdcduction für sich einzureichen.
Nach der Verordnung der ministeriellen Instruction und der
königlichen Cabinetsordre vom l. und 24. Juni, auch 17. October
I83S besteht, abgesehen von der allgemeinen Gerichtsordnung, der
Maubads-, summarische und Bagatellproceß. Erster tritt
ein aus allen einseitigen Geschäften, durch inländische öffentliche Ur¬
kunden und Urkunden in eignen Angelegenheiten inländischer öffent¬
licher Behörden, oder durch gerichtlich oder notariell recognoscirte
Urkunden begründet, dann wegen Forderungen von Kapital, Zinsen
und zu bestimmten Zeiten wiederkehrenden Leistungen aus zweiseitigen
durch das Hyvothckenbuch oder eine Hypothekenrecognition nachge¬
wiesenen Geschäften; weiter wegen Ansprüchen aus einem noch nicht
fünf Jahre alten, die Erecution nicht mehr zulassenden Erkenntnisse
inländischer Gerichte oder dergleichen geschlossenen Vergleich; ferner
wegen Forderungen der Geistlichen, gerichtlichen Anwälte, Notare,
Feldmesser, der Gerichte selbst und der aus besondern Contracten oder
testamentarischer Dispositionen auf Grundstücken haftenden jährlichen
Abgaben an Kirchen und Schulen. Auf den einseitigen, nach bestimm¬
ten Formen einzurichtenden Antrag des Klägers wird an den Be¬
klagten ein Befehl erlassen, den Kläger binnen vierzehn Tagen klag¬
los zu stellen oder seine Einreden vorzubringen. Geschieht Letzteres
nicht, so wird sofort mit der Erecution verfahren. Erfolgt zeitige
Einwendung der Einreden, so werden diese, je nachdem der Gegen¬
stand 5V Thaler übersteigt oder nicht, im summarischen oder Baga¬
tellproceß verhandelt; gegen das diesfällsige Erkenntnis, findet Appel¬
lation, aber ohne Suspensivkraft Statt; spätere Einreden werden zum
Separatprocesse verwiesen.
Der summarische Proceß findet Anwendung in allen Fällen
des zeitherigen Erecutivprocesseö, aus inländischen öffentlichen oder
gerichtlich bezüglich notariell recognoöcirten Urkunden über zweiseitige
Geschäfte, aus Privaturkunden über Darlehns-, Verwahrung-, Leib-,
Kauf-, Tausch-, Lieferungs-, Miethsverträge, aus Pensions-, Be-
fvldungs-, Alimenten-, wiederkehrenden Leistungsversprechungcn, we¬
gen Arbeitlohns- und Waarenforderungen der Fabnkuntemehmer,
Kaufleute, Krämer, Künstler, Handwerker, wegen Vorschüssen an
ihre Arbeiter, Forderungen der Medicinalpersonen für Bemühungen
und Arzneimittel, der Schul- und Erziehungsanstalten für Unterhalt,
Unterricht und Erziehung, der Lehrer für Honorar, der Lehrherren
für Lehrgeld, wegen Lohnforderungen der Hausofficianten, Gesinde,
Tagelöhner, Fuhrleute, Schiffer; wegen Gastwirthsrechnungen, In¬
jurien, so weit diese nicht zum Nnlersuchungsverfahren sich eignen,
Forderungen der Meister, Gesellen und Lehrlinge an einander, In¬
terventionen bei Auspfändungen, Verträgen zum Nachtheile der Gläu¬
biger, einfachen Pachtsachen. Die Klage wird schriftlich eingereicht,
darauf ein Termin zur Klagbeantwortung bei Strafe des Eingeständ¬
nisses anberaumt, darin aber blos der Beklagte gehört, außer wenn
ein Sühneversuch nöthig ist. Mit der Klagbeantwortung spätestens
muß die uneigentliche Neconvemion eingebracht werden, der Erstem
folgt ein mündlicher Nerhörstermin, und auf die Resultate dieses münd¬
lichen Verhörs muß der Richter, nach erfolglos versuchter Sühne, da
nöthig durch bloses Beweisdecret auf der Stelle, längstens binnen
acht Tagen entscheiden. Die Ausarbeitung der Gründe kann hinter¬
her erfolgen, und dann wird das Erkenntniß mit Entscheidungögrün-
den den Parteien, Abschriften den Mandatarien zugefertigt. In zwei¬
ter Instanz geschieht die Appcllationsanmeldung schriftlich oder zum
Protokoll, darauf eine schriftliche Rechtfertigung, welcher eine münd¬
liche Verhandlung vor dem Appellationsrichter nachfolgt, der in der
Sitzung sogleich das Erkenntniß spricht und die Ausfertigung dem
Untergeriehte zur Insinuation zustellen läßt. Die dritte Instanz ent¬
hält nichts abweichendes. Leidender Grundsatz in dieser ganzen Pro¬
ceßart ist: jede Thatsache, wodurch Anspruch und Einrede begründet
werden soll, muß in der Klage und Klagbcantwortung vorgebracht
werden. Der Bagatellproceß wird eingeschlagen bei einem Streit¬
object nicht über 5V Thaler, die Zinsen nicht mit gerechnet, auch wenn
mehrere kleinere zusammen über 50 Thaler betragende Forderungen
nicht aus einem Hauptgeschäfte entspringen. Zu ihm werden in an¬
dern Proccßarten eingeleitete, zum Bagatellobjekt herabgesunkene Sa¬
chen verwiesen. Vom summarischen Verfahren weicht das Bagatell-
verfahren nur darin ab, daß auf die Klage, außer der peremtorischen
Terminsanbcraumung, zugleich ein Mandat zur Befriedigung des
Klägers Erecutionsvermeibung erlassen wird. Im Fall Außenbleibens
wird diese Androhung sofort erfüllt, wogegen nur Restitution Statt
findet. Beim Erscheinen im Termine erfolgt mündliche Verhandlung;
wird der Beklagte durch einen Justizcommissair vertreten, so muß
dieser die Klage schriftlich beantworten. Gegen die Entscheidung fin¬
det blos Recurs Statt.
Im Allgemeinen hängt der Lauf der Frist zur Einlegung von
Rechtsmitteln in Civilsachen von der Insinuation der Erkenntnisse
ab , und ausgenommen die Fälle, in welchen die Entscheidung auf
mündliche Verhandlung von dem erkennenden Richter erfolgt, dann
ausgenommen die Adjudicationserkenntnisse in Subhastationssachcn
und die Concurs- und erbschaftlichen Liquidationsprocesse, ist die An¬
beraumung von Publicationsterminen überflüssig. Die gedachte Frist
ist mit Ausnahme der Wechsel-, Arrest-, Mercantil- und Bausachen,
so wie der Restitutionen gegen Contumacialerkenntnisse und der Jn-
jmienfachen auf in der Regel sechs, von Fiscus, Gemeinden, Kor¬
porationen und bevormundeten Personen auf zwölf Wochen bestimmt.
Von den ordentlichen Rechtsmitteln steht das innerhalb zehn Tagen
von der Insinuation, bei Bagatellsachen vom Klagbeantwortungster-
°mine an, einzuwendende Rechtsmittel der Restitution lediglich dem
Verklagten zu, indem es auf Aufhebung der gegen ihn in eontum-d-
ei-im ergangenen Entscheidung gerichtet ist. Findet der Kläger durch
dasselbe Erkenntniß sich beschwert, so muß er Appellation und be¬
züglich z. B. in Bagatellsachen bis einschließlich 50 Thaler, Recurs
einwenden. Dieser findet in allen Bagatellsachen (und zwar mit Aus¬
schließung der Appellation und Nichtigkeitsbeschwerde) Statt und muß
binnen sechs, bezüglich wie oben zwölf Wochen beim Unterrichter an¬
gebracht werden, welcher Letztere die NecurSschrift mit den Acten dem
Oberlandeögericht überreicht. Dieses fertigt die Recursschrift dem
Gegner unter einer präcluswischen Frist zu, und entscheidet dann durch
eine Resolution. Die eigentliche Appellation unterscheidet sich von der
Deklaration dadurch, daß hier es sich blos um einen Irrthum
von Worten oder Zahlen handelt, zu dessen Beseitigung es keiner
Appellation, sondern nur eines einfachen Gesuchs und einer Resolu¬
tion darauf bedarf, dann von dem Rechtsmittel gegen den blo-
sen Kostenpunkt. Ist dieser nicht mit der Appellation in nmte-
riillidus verbunden, so ist für ihn in erster Instanz blos der Recurs,
in zweiter blos die Nichtigkeitsbeschwerde gestattet. Die eige n t liebe
Appellation findet nur bei einem Objectwerthe von mehr als 5,0
Thaler Statt, rückstchtlich dessen in Schwängerungssachcn die An¬
sprüche der Geschwächten und deö Kindes zusammengerechnet werden
können. Es wird der Appellant, wenn nicht bei der Anmeldung die
Rechtfertigung zugleich erfolgt ist, zu letzter binnen vier bis acht Wo-
eben vorgeladen und enthält sie Neuerungen, ein Jnstructionstermin
anberaumt, außerdem Erstere dem Gegentheil zur Beantwortung mit¬
getheilt und darauf entschieden. Die Revision ist das Rechtsmit¬
tel in dritter Instanz, hat nur eine Beurtheilung der Rechtmäßigkeit
des letzten Erkenntnisses zum Gegenstand. In Familien-, Ehren- oder
Ehesachen, wenn darüber selbst eine dispositive Bestimmung ausge¬
sprochen ist, findet sie Statt; bei Vermögensrechten nur dann, wenn
der Beschwerdegegenstand über 500 Thaler beträgt, oder unschätzbar
und in Steuersachen eine Freiheitsstrafe oder Gewerbsuntersagung ist.
Ausgeschlossen sind Schwängcrungssachen, Provocation auf Güterab-
tretungen, Bausachen und gewisse Grundgerechtigkeiten, Gesinde-, Ar¬
rest-, Assecuranz-, Diffamativns-, Injurien-, fiScalische Untersuchungs¬
und Confiöcationsprocefse. Zum Erkenntnisse müssen allemal Ent¬
scheidungsgründe gegeben werden. Die Nichtigkeitsbeschwerde
ist zulässig gegen Entscheidungen erster und zweiter Instanz, wenn
solche einen Rechtsgrundsatz oder wesentliche Proceßvorschriften ver¬
letzen. Ausgeschlossen ist sie von Bagatellsachen, Contumacialresolu-
tionen, gegen welche Restitution zulässig ist, Injurien-, nicht mit der
Hauptsache verbundenen Kostenpunktsentscheiduiigen und von blosen
Resolutionen, namentlich in Injurien-, fiscalischen Untersuchungs-,
Confiscationsprocessen und Proceßstrafsachcn, mit Ausschluß der
Aguitions- und Purificationsrcsolutioncn; endlich von Criminalunter-
suchungcn wegen Dienstvergehen der Beamten.
Für Jnjuriensachen ist ein sehr bestimmtes Verfahren je nach
den verschiedenen Fällen vorgeschrieben. Jeder Antrag auf Privat-
genugthuung, so wie der Gebrauch des Eides ist gänzlich ausge¬
schlossen; doch kann bei allen Jnjurienproccssen und fiscalischen Un¬
tersuchungen der Kläger aus den hohem ode: mittlern Ständen sich
über zu geringe Bestrafung beschweren. Die Beurtheilung der In¬
jurien von Beamten in ihrer Wirksamkeit ist der Dienstbehörde an¬
heimgegeben, lebensgefährliche Beleidigung zur Eriminaluntersuchung,
Verletzung höherer Personen in der Regel zur fiskalischen Untersu¬
chung und das Uebrige zum gewöhnlichen Jnjurienprocesse verwiesen.
Bei Fremden begründet die Injurie den Gerichtsstand. Mehrere
Rechtsmittel sind ganz ausgeschlossen, alle zulässige müssen innerhalb
10 Tagen eingelegt werden, unter welchen besonders das Milde¬
rung S- und ni,ederschlaguugSgesuch zu bemerken ist.
Außer dem fiskalischen Proceß, der auch hier die Staats¬
gerechtsame zum Gegenstande hat, ist in Preußen noch der si sta¬
tisch e Unter such unngSpro ceß bei gewissen Injurien und De-
fraudation von öffentlichen Abgaben zu bemerken, bei dem der Fiscal
thätig ist. Der Erecutivproceß hat sich in dem Mandatspro¬
cesse verloren.
Mercantilsachen, d. sg, Streitigkeiten zwischen fremden Kauf¬
leuten oder zwischen fremden und einheimischen Kaufleuten während
einer Messe oder eines großem Markes über da gemachte Geschäfte,
werden nach den Grundsätzen des summarischen Processes, jedoch mit
größerer Beschleunigung behandelt. Der preußische Wechselpro¬
ceß gehört zur strengern Gattung; der Aso ist auf 14 Tage regu-
lirt, bei gezogenen Wechseln finden drei, bei Meß- und Marktwech¬
seln, bei Sicht- und nicht über Halbusowechseln aber keine Respect¬
tage Statt. Das Handels- und Wechselrecht sind im A. L.-R.
Th. II. Tit. VIII. Abschnitt 7-14, Z. 475-2464 enthalten. Das¬
selbe gilt für die ganze Monarchie, mit Ausnahme der Rheinprovinz,
und nur einzelne Städte, wie Breslau, Naumburg und wohl auch
Danzig befolgen noch überdies? Localstatute. Die Meinungsverschie¬
denheit in Betreff der rechtlichen Frage, ob ein von einem Nichtwech-
selfähigen acceptirter, an die Ordre des Ausstellers gezogener Wech¬
sel selbst in dem Falle als Ausweisung gelte und der Acceptant dem
Präsentanten oder Jndossator aus seinem Accepte verpflichtet bleibe,
wenn zur Zeit dieses Accepteö das Indossament noch nicht erfolgt
war, oder ob das Vorhandensein einer Anweisung nur dann anzu¬
nehmen sei, und die ebcngedachte rechtliche Folge aus dem Accepte
nur dann eintrete, wenn die Annahme nach dem Indossament ge-
schehen, ist durch einen Plcnarbeschluß des geheimen Obertribunalö
vom 9. Scptbr. 1844, welcher durch das Justizministcrialblatt bekannt
gemacht wird, als positiv gelöst zu betrachten. Dieser Beschluß geht
dahin, daß ein von einem Nichtwechselfähigen acceptirter, an die
Ordre des Ausstellers gezogener Wechsel auch nicht als Anweisung
gelte, wenn zur Zeit des Accepts noch kein Indossament des Wech¬
sels erfolgt war.
Merkwürdig ist noch, daß gar kein Proceß zugelassen
wird über sämmtliche Majestäts- und Hoheitsrechte, über die Ver¬
bindlichkeit zu allgemeinen Anlagen und Abgaben, über Gewerbe-
und Klassensteuer und polizeilich versagte Mühlbaue, gesetzwidrig ab¬
geschlossene Staatöpapier- und' nicht schriftliche, wegen mehr als fünf¬
zig Thalern errichtete Verträge, über polizeiliche Regierungsverfügun¬
gen, wenn sie nicht gesetzlichen oder durch specielle Rechtstitel erlang¬
ten Rechten entgegenlausen, über Aufhebung von Privilegien und
Erpropriationen, rücksichtlich welcher letztern nur über das Quantum
der Entschädigung rechtliches Verhör verstattet wird, endlich über
Pensionirung oder Besoldungsentzichung von Beamten - beides blos
zum Recurs an das Staatsministerium gehörig.
Dagegen ist die Erecution ohne vorherigen Proceß zu¬
lässig gegen Pächter, Erbpächter und Erbzinsleute, wegen verfallener
Gefälle, wenn das Recht dazu nicht streitig ist, vorbehaltlich deö
Rechtswegs, auch gegen Vormünder wegen Ablieferung ihrer Kassen¬
bestände.
Jede Partei kann sich an das Gericht wenden und um Beiord¬
nung eines Rechtsverständiger aus der Zahl der Referendarien oder
Justizevmmissarien nachsuchen, welcher dann keiner besondern Voll¬
macht bedarf. Wählt aber die Partei selbst unter den Justizcommis--
sarien einen Bevollmächtigten, so muß, vorzüglich zu stempelpflichtigen
Objecten, das besonders gedruckte Vollmachtsschema angewendet wer¬
den. Sollten dergleichen Vollmachtsbogen an dem Orte der Aus¬
stellung nicht zu haben sein, so muß ein mit den wesentlichen Erfor¬
dernissen versehenes Blanquet angenommen werden. Die von den
preußischen Gesandten und Residenten an auswärtigen Höfen atte-
stirten Vollmachten sind den gerichtlichen gleich zu achten. Wider¬
rufen kann der Gewaltgeber seine Vollmacht zu jeder Zeit; aufkün¬
digen darf sie der Bevollmächtigte nicht unzeitig, besonders nicht
während der Instruction. Durch den Tod des Bewaltgeberö erlischt
die Vollmacht nicht, beim Ableben des Bevollmächtigten fordert das
Gericht unmittelbar zu Bestellung eines Andern auf. Auf Substi¬
tution zu Terminöverhandlungen muß die Vollmacht ausdrücklich
lauten.
Sie können leicht denken, welchen Eindruck der Vertrag Frank¬
reichs mit dem römischen Stuhle in Bezug auf die Jesuiten hier her¬
vorgebracht hat. Während der Orden bei uns in aufsteigender Linie
sich befindet und Schritt vor Schritt mehr Boden gewinnt, hört man
von Paris von der Auflösung seiner Etablissements und nicht etwa
aus dem verschrieenen Wege der Revolution, des Voltairianismus und
wie alle diese Titel heißen, mit denen man gewisse französische Regie¬
rungsprinzipien hier belegt, sondern auf so katholisch und diplomatisch
regelrechten Wegen, daß unser eigenes Cabinet es nicht anders zu
machen gewußt hatte! Daß alle die Nachrichten über diese Angelegen¬
heit so viel als möglich in unsern Blattern vermieden wurden, ist leicht
zu begreifen. Unsere Wiener Zeitung brachte nur einige spärliche Aus¬
züge aus dem Journal des Debats, konnte aber nicht umhin, die No¬
tiz hinzuzufügen, die ich so eben in der heutigen Nummer lese: „Trotz
allen angekündigten Maaßregeln und selbst nach dem Entschlüsse des
Jesuitcngencrals kann doch von einer wirklichen Ausweisung der Je¬
suiten in Frankreich nicht die Rede sein. Dieselben haben zu viel
Freunde und unendliche Verzweigungen in Frankreich, als daß die
Sache mit einem Machtspruche abgethan wäre." Wer hat der Wie¬
ner Hofzeitung dieses gesagt ? Leitende Artikel sind nicht die Sache die¬
ses Blattes, warum verirrt sich plötzlich diese Notiz in seine Spalten?
— Die Gegner der Jesuiten — und sie zählen hier manchen nicht
urmächtigen — schöpfen aus dem französischen Ereignis) neuen Muth.
Aber Tieferblickende behaupten, es sei wie ein Strom, den man auf
der einen Seite eingeengt hat und der nun auf der andern sich einen
Weg durchbricht; der Stoß nach Oesterreich werde jetzt um so gewal¬
tiger sein, da er an Frankreich abgeprallt.
Unser neuer Polizeioberdirector hat bei seinem Amtsantritt, sämmt¬
liche unter ihm stehende Etablissements besucht und Höflichkeit und
nochmals Höflichkeit den Beamten empfohlen. Es ist keine leichte Auf¬
gabe, Polizeichef in Wien zu sein; von unten und von oben kreuzen
sich wiederstrebende Anforderungen und wo ein Mal der Stoß zusam¬
menkommt, da ist eine Ungeschicklichkeit oder eine Voreiligkeit nicht
ausweichbar und Mancher hat dadurch das Ende seiner Cariere wenig¬
stens auf diesem Gebiete gefunden. Das schwierigste Element bietet
die Aristokratie, die sich allzuoft über die Polizei erhaben fühlt und
wenn diese ihre Pflicht gegen eine mächtige Person mit gleicher Strenge
wie gegen den Untergeordneten erfüllen will, dann gibt es einen Kampf,
der selten zum Vortheil der Polizei und ihres Chefs ausfällt. Der
so eben abgetretene und zu einem andern Departement beförderte Hof¬
rath von Amberg war einer der Polizeioberdirectoren, die am längsten
fungirt haben; ich glaube zwölf Jahre. Um wieder auf die den Be¬
amten empfohlene Höflichkeit zurück zu kommen, so wäre es wünschens-
werth, man beflisse sich in andern Branchen der Beamtenwelt einer
ähnlichen Tugend, namentlich in den Provinzen, wo es doch oft
gar zu hochmüthig unter der Beamtetste hergeht. Ich war unzäh¬
lige Mal Zeuge, wie ein Schreiber 'oder Praktikant, der mit einem
honetten Bürger einen groben Streit hatte, sich arrogant in die Brust
warf und ihn andonnerte: „Ich bin ein kaiserlicher Beamter." Jeder
Conceptspraktikant glaubt ein Stück von der Unverletzbarkeit der Ma¬
jestät in seiner Tasche zu haben, und ich erwähne dies heute absicht¬
lich, weil vor vierzehn Tagen einer meiner Freunde auf einer Bade¬
reise in Böhmen den lächerlichen und ärgerlichen Vorfall erlebte, daß
in dem Momente, wo er den groben und halbbetrunkenen Postillon
ausschalt, der Postmeister diesem zu Hilfe kam und sagte: „Sie ha¬
ben kein Recht, diesen Mann zu schelten, er ist kaiserlicher Diener und
tragt, wie Sie sehen, in diesem Augenblicke die kaiserliche Livree!!"
In unserer Literatur ist wie gewöhnlich nichts Neues. Von Rank
erwartet man einen dreibändigen Roman unter dem Titel: „Wald¬
meister."
Nicht geringes Erstaunen erregt die Wiederanknüpfung einer seit
zehn Monaten schlummernden Untersuchung gegen den öl-. Wiesncr
in Bezug auf die von ihm gegen das Buch des russischen Staats¬
raths Tengoborsky verfaßten Gegenschrift. Die ganze Angelegenheit
schien bereits verklungen, als plötzlich am 18. Juli Herr Wiesner eine
Vorladung vom politischen Senat des hiesigen Magistrats erhielt. Der
Rath W., der das Verhör leitete, erkundigte sich nach allen Details
des Honorars, des Contracts mit dem Buchhändler, über die Motive
der Abfassung, über'die Größe der Auflage u. s. w. Herr Wiesncr
hat unverholen Alles zu Protocoll gegeben und viele männliche Worte
über den Stand unserer Censur dazu. Aber wozu dies Alles nach
zehn Monate» von Neuem aufgreifen, ist eine Frage, die aus allen
Lippen schwebt. Oder sollte die so traurig gescheiterte Censurpetition
eine reaktionäre Wirkung hervorgebracht haben? Sollte man, statt
stillschweigend vorwärts, aufsehenerregend rückwärts gehen wollen? Die
Wiesnerische Angelegenheit ist ein Factum, das volle Aufmerksamkeit
verdient. Die Wendung, die sie nehmen wird, kann zugleich ein
Maaßstab für vieles Andere sein.
'"
Schuhmachers Zeitschrift „Die Gegenwart (Fortsetzung des „Ad¬
lers" von Großhossinger, dessen Privilegium die Verlagshandlung an
sich gebracht) wird nicht den Namen Großhofsinger an der Spitze zu
tragen brauchen, wie ein anderer Correspondent Ihnen gemeldet, da der
Verleger mittlerweile diese Gefahr, die sein ganzes Unternehmen zu einem
todtgeborcnen gemacht hatte, glücklich abgewendet hat. Schuhmacher
gibt sich viel Mühe und trifft große Voranstalten. Doch kann ich dem
Blatte kein günstiges Prognostikon stellen. Schuhmacher ist ein ehren¬
werther Mann, dem aber der Zopf so steif hinten steht, wie einem
Wachtmeister aus dem siebenjährigen Krieg. Das ist kein Leiter für
ein junges und aufstrebendes Blatt. — Pokorny der Josephstädter und
Wiedner Theaterkvnig ist von seiner deutschen Reise zurückgekommen
und unsere Blätter singen ihm ein „Heil Dir im Siegerkranz" aus
voller Lunge entgegen. Es wird viel von den glücklichen Engagements
gesprochen, die er gemacht haben soll. L!I> Kien, u«»»« voi-rons!
Wohl nie, seitdem Hamburg steht, war der Fremdendurchzug
lebhafter, als in diesem Jahre. In jedem Monat öffnet sich ein
neuer Gasthof und alle sind gefüllt mit Reifenden, die der Elb-
phönix angezogen, die er köstlich zu unterhalten weiß. Gewiß, kein
Fremder wird uns jetzt unbefriedigt verlassen. Die verschiedenartig¬
sten Genüsse winken ihm; das frische, freie, frohe Leben des Som¬
mers reicht ihm eine Speisekarte dar, auf welcher auch der difficilste
Geschmack irgend etwas Mundgerechtes finden wird. Wer den Vor¬
mittag über die neuen Straßen durchwandert, unsern prächtigen Ba-
zar bewundert, wohl gar die Börse besucht und sich in ihrem Sum¬
men und Brummen Kopfweh geholt hat, der kann, will er sich nicht
um vier Uhr an die t-meo et'linkt feines Gasthofes setzen, mit dem
Dampfboote noch bequem eine Ausflucht nach Blankenese, Harburg
oder nach andern reizenden Punkten machen, wo die Feuersegler ihr
Ziel haben. Auch zwei Eisenbahnen sind da, nach Bergedorf, wo
freilich nicht viel zu sehen, führt die eine, die andere, mit interessan-
im Stationspunkten, von Altona nach Kiel, wo der Ostseewogenschlag,
die Badeanstalt am Düsterbrook sieche Glieder wieder zu stahlen vermag.
Die Altona-Kieler Bahn ist im Begriff, Stück neue Actien
auszugeben, wodurch es mit der gehofften Dividende ihrer Actionäre
nicht eben günstig steht. Wahr ist's, daß in jüngster Zeit die Ren¬
tabilität der Bahn etwas gestiegen und daß Aussicht vorhanden ist,
auch die bald zu eröffnenden Zweigbahnen, von Elmshorn nach Glück¬
stadt und von Neumünster nach Rendsburg, bald in Aufnahme kom¬
men zu sehen. Erstere Bahn sollte bereits am Geburtstage der Kö¬
nigin von Dänemark dem allgc-meinen Verkehr übergeben werden, was
jedoch unterbleiben mußte.
Für den Spätsommer sehen wir wieder einer großartigen Regatte
auf der Ulster entgegen. Die bedeutendsten Männer der Stadt sind
diesem Wettrudern wohlgesinnt und stellten sich als Comitvmitglieder
oder Protectoren an die Spitze. Vorübungen werden von den con¬
currirenden jungen Leuten schon seit mehreren Wochen getrieben, und
namentlich am Sonntagmorgen ist das Wasser bedeckt mit schmalen,
neu angestrichenen Böten, worin die Ruderer in verschiedenartigen
Costümen, mit Flaggen, die den Namen des Bootes führen, die blanke
Fluch durchschneiden — sämmtlich natürlich in der Hoffnung schwel¬
gend, daß nur dieses Fahrzeug und kein anderes am Tage des Rouch-
rreffens glänzende Siege erringen wird. Es ist übrigens zum Kopf-
schütteln, wenn man sich erzählen läßt, welcher Luxus hinsichtlich die¬
ser Negattogegenstande getrieben wird. So spricht man z. V. von
einem erstaunlich leichten und schmalen Ruderboote, welches in Eng¬
land für einen hiesigen Rudcrklubb angefertigt, nicht weniger als
1V00 Pfd. (4V0 Thlr.) gekostet haben sott!
Seitdem wir die unerträglich gewordene Hitze schwinden sahen
(am 8. Juli hatten wir Grad im Schatten; einige Tollhaus¬
bewohner sollen dadurch wieder vernünftig geworden sein) athmen un¬
sere Theater wieder auf. Meister Laroche spielt jetzt stets bei ge¬
drängt vollem oder doch gut besetztem Hause. Ich habe keinen Au¬
genblick bereut, zum Enthusiasten durch ihn geworden zu sein, ja es
freut mich, diesem Enthusiasmus unverhohlen vollen Ausdruck gegeben
zu haben. Alle Welt ist jetzt abgestumpft ungläubig bei neuen Thea¬
tererscheinungen, die als außerordentlich angepriesen werden. Auch in
Bezug auf Laroche war nicht Jedermann sofort zum Vertrauen ge¬
neigt. Doch sein ausgezeichnetes Talent war in dieser Beziehung
natürlich mächtiger, als das gedruckte Wort. Es überzeugte vollkom¬
men an jedem Spielabend. Laroche hat als Capitain Cobridge, ar¬
mer Poet, als Geheimerath Seeger („Erinnerung" von Iffland), als
reicher Mann, Graf Klingsberg, Amtmann Riemen (Iffland's Aus¬
steuer") und als Shilock sich seines großen Rufes würdig bezeigt. Bei
ihm eint sich, was selten neben einander getroffen wird; sein beten-
dentes Darstellungstalent baut fort auf der von einem fein gebildeten
Geiste geschaffenen Basis, von aller Absichtlichkeit fern, läßt er nicht
die Stricke und Hangeseile merken, an welchen seine Figuren baumeln.
Das Studium bleibt daheim, auf die Bühne tritt nur die lebendige
Wahrheit, die makellose Natur. Laroche ist stets edel und künst¬
lerisch sich selbst beherrschend in dem, was er vorführt. — Die Eng¬
haus hat im Stadttheater die ganze große Schaar ihrer Freunde und
Bewunderer wieder angetroffen. — Der junge Schauspieler, Herr
Schneider, den die Frankfurter uns überlassen haben, ist noch nicht
recht sattelfest. Hübsche Naturmittel und frappante Hendrichsähnlich-
keit verdienen noch keine 2000 Thlr. jährliche Gage. — Die Tuczeck
hat hier als Nachtwandlerin, Philomena und Regimcntstochter sehr
gefallen. Heute tritt »r, Härringer von München als Raoul in
den „Hugenotten" auf.
Interessant ist das Erscheinen eines neuen Handwerkerjournals,
„die Werkstatt," welches, von Schirges redigirt, im hiesigen Verlags¬
comptoir (L. Lenz) heftweise mit Illustrationen erscheint. Es hat, so¬
weit der Prospectus es beurtheilen läßt, recht würdige Tendenzen, von
welcher geistige Hebung und Förderung eines kräftigen Selbstbewußt¬
seins im Handwerkerstande die hervortretendsten sind. Das erste Heft
wird Beitrage von Weitling und Venedey enthalten. Möge es der
Redaction gelingen, gewisse gefährliche Klippen zu umschiffen und mit
der Existenz des neuen Journals wird auch sein gedeihliches Aufblü¬
hen gesichert sein. — Der hier seit einiger Zeit bestehende Arbeiter¬
bildungsverein hat sich unter das Prorectorat der patriotischen Gesell¬
schaft begeben, was nicht allgemein gut geheißen wird, da wesentlicher
Nutzen für den Verein daraus nicht entstehe. — Fr. Clemens gab
ein neues Heft des „Logosit" heraus. Von Mendelssohn erscheint,
bei Stalling in Oldenburg, binnen Kurzem: „Eine Ecke Deutschlands/
Oldenburger Bilder, Charaktere und Zustande enthaltend.
Sie kennen gewiß den ABC-Vers: „In Halle wohnt Philosophie;"
doch Sie wissen nicht, daß die Hallische Philosophie jetzt unter Leo's
Schutze steht, den die philosophische Fakultät am 12. Juli zu ihrem
Decan erwählt hat. Man sagt, er habe sich geschüttelt und gesträubt, als
ihm beim Decanatswechsel das Mäntelchen umgethan worden sei, so daß
sein Nachbar während der Feierlichkeit es habe umnehmen müssen. Der
alte Geist der Hallischen Jahrbücher wird nun vollends aus unserer
philosophischen Fakulät ausziehen, und es wird einziehender Geist von
Heinrich Leo, der da betet „Herr, vertilge diese Rotte!" und der da
meint, daß das liberale Gesindel vom lieben Gott eigens zu seiner
Kurzweil geschaffen sei. Ach, diese letzte Ansicht mag wohl schon jetzt
mancher unsrer Philosophen mit ihm theilen- man denke nur an die
Mittheilungen, welche neuerdings in mehren Blattern aus den Vor¬
lesungen des Professor Erdmann gemacht sind.
Ueber unsere theologische Fakultät hat sich vor Kurzem ein Ar¬
tikel im Rheinischen Beobachter vernehmen lassen. Die gläubigen Stu¬
diosen der Theologie wurden hochgepriesen, die ungläubigen bitter ge¬
tadelt. Wenn die letzteren später mit ihrem Unglauben auf ihren christ¬
lichen Pfarren sitzen, so werden wir ihnen unser Mitleid nicht ver¬
sagen; so lange sie noch im freien Aether der Wissenschaft leben, har¬
rend vielleicht auf einen Umschwung der religiösen Verhältnisse, können
nur Menschen, denen für das Streben nach Wahrheit jeder Sinn ab¬
geht, über sie den Stab brechen. Und am Wenigsten hat jenes zahl¬
reiche Geschlecht der Halle'schen Orthodoxen Ursache auf sie verächtlich
herabzusehen, das durch klösterliche Abgeschlossenheit, in den Tholuck-
schen Theegesellschaften und in concessionirten Verbindungen, auf welche
der Rheinische Beobachter mit Stolz hindeutet und die dem Berliner
„historischen Christus" nicht unähnlich sind, durch Singen, Beten und
Predigtablesen mühsam das Triennium hindurch seine Glauben zu con-
serviren sucht.
Fünf bis sechs großartige Lesezirkel, welche fast die Hälfte der
Universitätsbürger unter ihren Mitgliedern zählen mögen, sind jetzt im
Entstehen begriffen, und werden die ganze neuere deutsche Literatur
umfassen. Wer hätte sich früher um dergleichen gekümmert? Der Se¬
nat seines Theils macht diesen Lesezirkeln Schwierigkeiten und scheint
sie mindestens für überflüssig zu halten. Mit Recht! enthält doch
schon die Universitätsbibliothek einig- Göthe'sche Romane, welche im
Katalog unter dem Titel „ l'-.l>»In«z" verzeichnet sein sollen.
Der dritte Theil des „Cancan eines deutschen Edelman¬
nes" ist erschienen, nachdem der erste vor vier bis fünf Jahren seinen
Lärmen geschlagen hatte und der zweite etwa vor anderthalb Jahren
das schwach glimmende Feuer des Interesses am Buch wieder hatte
anregen sollen. Beschönigen wir es nicht — es ist eine Ungeschicklich¬
keit des ästhetischen Autors, wenn er heutzutag seine zusammenhän¬
gende Production in Bruchstücken zur Erscheinung bringt, die Jahre
lang auseinander liegen' Dafür ist unsere Literatur zu massenhaft
geworden; das Publikum hat gar keine Zeit dazu, während mehrerer
Jahre das Interesse an einem Buche festzuhalten, oder, beim Er¬
scheinen des je einzelnen Bandes dies Interesse dafür immer von Neuem
aufzufrischen. Der Cancan hat aber darauf auch keinen 'Anspruch durch
die Bedeutsamkeit seines Inhaltes; denn dieser betrifft gar nicht so
recht eigentlich die vollen und starken Interessen des Publikums, son¬
dern beschäftigt sich, wenn auch scheinbar darauf eingehend, doch nur
mit deren Nebenpartien und Aeußerlichkeiten. Das Raisonnement des
Cancan sieht täuschend aus, als ob es tiefsinnig und geistreich wäre
und doch vermag man ihm bei näherer Betrachtung nichts zuzugestehen,
als hübsche einzelne Gedanken und mitunter eine überraschende Dar-
stellungsweise. Darum mochte auch die im ersten Moment des Er¬
scheinens des ersten Bandes mächtig angeregte Frage der Neugier nach
dem Verfasser so bald wieder vom Publikum aufgegeben werden; be¬
reits beim Auftreten des. zweiten Bandes sprach man davon nicht mehr
und jetzt wird es kaum zu hoffen stehen, daß die Frage wieder er¬
wache. Denn dieser dritte Band steht den beiden ersten mannigfach
nach. Das Interesse des Autors selber an seinem Buche scheint sich
verringert und er scheint diesen dritten Band eben nur wie eine lite¬
rarische Schuld abgetragen zu haben. Ja, wohl darf man annehmen,
der Verfasser sei der erkalteten Theilnahme des Publikums durch die
Verzettelung der einzelnen Bände sowohl, als der Nichtgewährung
dessen, was nach dem ersten Theile zu erwarten stand, sich selber be¬
wußt worden. Denn seine „Vorrede zur Übeln Nachrede des Cancan
eines deutschen Edelmannes," in welcher er das antikritische Streitroß
lustig tummelt, erscheint doch wie eine humoristische (Äjiwtic» denv-
vulviiti-rs für diesen letzten Band. — Wer alle drei Wände des Can¬
can jetzt erst zusammen und in einem Auge durchliest, wird allerdings
manche frische Idee und manche Anregung gewinnen; der prickelnde
Reiz des darin üblichen Gedankenspringens wird ihn wahrscheinlich nicht
unangenehm berühren. Aber am Ende angelangt wird trotzdem jeder
Leser fragen! Warum gerade der Titel Canar? Noch mehr aber, warum
Cancan eines deutschen Edelmannes«? Warum überhaupt diese seltsam
zerrissene Einkleidung einer Sammlung romantischer Reisebcgegnisse,
in welcher der Eindruck der Beschreibung vor darein springenden Rai¬
sonnement, in welcher die Bedeutung des Raisonnements vor dasselbe
zerspaltender Reiseschildcrung, in welcher das Interesse am dürren Ro¬
manfaden vor Beidem nicht großzuwachsen vermag. Es gab allerdings
vor sechs, acht und mehr Jahren eine kurze Zeit, welche ein derar¬
tiges Nichtfesthalten irgend einer bestimmten Form und Idee von der
Unterhaltungslectüre forderte. Aber diese Zeit ist bereits rokoko worden;
man erkannte ihre literarische Machtlosigkeit und fühlte sich unbefrie¬
digt in solcher Zersplitterung in tausend verschiedenartig angeregte In¬
teressen, welche keinen Samuel- und Brennpunkt hatten. — Es ist
wirklich schade, daß der Cancan daran leidet. Denn er hat ein Ele¬
ment, das, je seltner in reiner Gestalt auftretend, desto weniger gern
in Zufälligkeiten untergehend erkannt wird. Dies ist das Element des
natürlichen Humors ....... und dieses ist Ah sein großer Vorzug zu er¬
achten. Dieser Humor, welcher als leichter Hauch das ganze Buch
durchweht, erscheint nur selten gemacht und geschraubt, nur selten am
unrechten Orte vorklingend, wie z. B. bei Besprechung des Paupe¬
rismus und des Proletariats. Hier aber ist er unpassend; denn von
einer Todeskrankheit der bestehenden Gesellschaft kann man nicht lachend
sprechen, nicht einmal lächeln. Dies verletzt. Das Leben und die Li¬
teratur müssen dieses Problem seiner Lösung weit naher gebracht haben,
ehe es an der Zeit scheint, in scherzhafter Wendung darauf eingehen,
um ihnen eine halbkomische Seite abgewinnen zu wollen. Selbst dem
Cancan muß eine Lebensfrage ernst sein, selbst vom Cancan eines
Edelmannes ist dies mit Bestimmtheit zu fordern. Dann soll auch
damit daraus hingedeutet sein, daß hier aristokratischer Leichtsinn in
Auffassung des Lebens zu erwarten stehe, so doch sicherlich auch fein¬
gesellschaftlicher Takt, jenes wohlthuende halb passive, halb active Ta¬
lent, das sich nicht anlernen, das sich nicht vorspiegeln laßt, jene wun¬
dersame Eigenschaft, die den wirklichen, eigentlichen Edelmann vom
banalen Krautjunker unterscheidet. Und dieser feine Takt eben fehlt
dem Edelmanns dieses Canaans nicht eben selten. Er ist viel mehr
Schriftsteller
^-5-
voler Gesellschaftsmensch.
Die kleine Geschichte, die hier folgt, verdiente von der seelen¬
vollen Feder eines Aschocke erzählt zu werden und nicht von der eines
trockenen Notizensammlers. Indeß hat sie ein Verdienst, welches keine
Behandlung ihr nehmen kann: sie ist wahr, und ich gebe sie hier ge¬
treu so, wie sie mir von glaubwürdigen Zeugen mitgetheilt wurde:
Ein deutscher Handeljude, Abraham Most, trug, wie so viele,
im Gefolge der Napoleonischen Truppen sein Bündel durch die Welt.
Er wurde auf diese Art einmal nach Belgien verschlagen und ließ sich
in der Stadt Brügge nieder. Da lebte er einige Jahrzehende still
und unbescholten; er sammelte keine Schatze, aber er gewann sein täg¬
liches Brod. Man kannte ihn als einen „Schmaus"") und er suchte
auch nicht, für etwas Anderes zu gelten; aber entfernt von Freunden
und Glaubensgenossen, mitten in der Hauptstadt des tiefkatholischen
Flandern, wo seit der Judenverfolgung im I4ten Jahrhundert kaum
ein Kind Israels unter ihm gelebt haben mochte, entwöhnte er sich
nach und nach aller jüdischen Brauche. Er legte keine Gebetriemen an
und feierte kein Passahfest, und da ihn Niemand etwas in den Weg
legte, so schien er am Ende selber zu vergessen, daß er ein Jude war.
In einigen Familien von Brügge war Most, wegen seiner schlich¬
ten und ehrlichen Gutmüthigkeit, gern gesehen. Besonders oft kam er
in das Haus des Herrn Brabant, Capitäns im töten Infanterieregi¬
ment. Er wurde bei den Leuten allmählig so beliebt, daß man ihn
vermißte, wenn er sich lang nicht blicken ließ. So lebte er dann zu¬
frieden fort; halte er nun doch ein Asyl, wo er zuweilen Trost und
Theilnahme fand für sein isolirtes Leben. Endlich kam das Alter;
die Kraft zur Arbeit verließ ihn und da er, wie gesagt, kein Vermö¬
gen erworben hatte, so sah er sich, mit grauen Haaren und in weiter
Fremde am Bettelstab. Most kam noch oft zu Branbant's, plauderte
mit der Frau und spielte mit den Kindern, aber seine Heiterkeit war
erzwungen; Angst und Sorge lag unverkennbar aus seinen Augen.
Der zartfühlende Brabant errieth, was Most nicht beichten konnte,
und lud den Alten ein, zu ihm in's Haus zu ziehen. Der früher als
Gast so freundlich aufgenommen zu werden pflegte, sollte nun wie
ein Mitglied der Familie sein. Dem alten Hausjudcn ward der pa¬
triarchalische Ehrenplatz eingeräumt am Tisch und Kamin; er wurde
gepflegt und geliebt von Brabant und Frau wie ein Vater, von den
Kindern wie ein Großvater.
So vergingen fünf Jahre eines rührenden Zusammenlebens. Der
alte Most sah dem Tod entgegen und ihn beschlich eine Sorge, die
Mancher belächeln mag, die aber jeder Menschlichfühlende natürlich
finden wird: die Sorge, was nach dem Tode mit ihm werden solle.
In der That, was sollte man in dem rein katholischen Brügge mit
der Leiche des Juden anfangen? Und lag die Befürchtung nicht nahe,
daß die Proselytenmacherei sich in seinem letzten Augenblicke drangen und
seine Angst um ein ehrliches Grab benutzen werde, um eine Seele
zu gewinnen? Most aber war, auch ohne Gebetriemen und Passahfest,
in seinem Herzen dem Judenthum treu geblieben. Und nun befiel
ihn ein tiefes Heimweh nach den Gräbern seiner Väter. Im Tode
wenigstens wollte er bei Denen ruhen, von denen er sein Lebelang ge¬
trennt gewesen, die aber gleich ihm, freudlos und einsam, durch die
Welt gegangen. Als er daher auf dem Sterbebette lag und mit bre¬
chendem Herzen das Haus seines Wohlthäters segnete, waren seine
letzten Worte: „Laß meine Gebeine ruhen bei den Gebeinen meiner
Brüder!" —
Dem edlen Brabant war diese Bitte heilig, wie das Gebot eines
sterbenden Vaters. Er wußte gleich Rath und schrieb an die kleine
Judengemeinde, die sich in Brüssel gebildet hatte. Dann schloß er
die Ueberreste des Gastfreundes in einen Sarg, den die Familie wei¬
nend zum Haus und zur Stadt hinaus geleitete. Er selbst fuhr den
Todten nach der zehn Meilen entfernten Hauptstadt, wo er ihn den
jüdischen Todtenwärtern übergab. Beim Begräbnis? aber folgte der
christliche Capitan als Leidtragender dem Sarge des armen Alten und
segnete dessen Grab mit einigen stillen heißen Thränen.--
Liebenswürdiger Samariter! Mögen Deine spätesten Enkel noch
in glücklicher Heimath grünen und nie ein Grab in öder Fremde su¬
chen. Deinen Namen aber müsse ein unauslöschlicher Adel zieren und
von Jedem, der Dir an sanfter Tugend gleicht, möge man künftig
sagen: Es ist ein Brabant! —
— Eigentlich könnte die Literatur manches schöne Kunststückchen der
Politik ablernen, z. B. die unbezahlbare Phantasmagorie, so bekannt
unter dem Titel: un k-ut itccom>»Il. Wogegen man sich gestern mit
Händen und Füßen sträubte, was man Hochverrath, Völkerrechtsver¬
letzung nannte, ist heute durch die siegende Gewalt der Zeit doch ge¬
schehen und morgen becomplimentiren es die Diplomaten und wün¬
schen ihm Glück als I»it neovinzili! Keine Zauberei, nur Ge-
schicklichkeit- Was plagen wir Narren der Literatur uns mit Prin¬
zipienstreiten? Folgen wir dem Exempel der Diplomaten und wir
haben das herrlichste Leben. Ein kleines Beispiel. Vor anderthalb
Jahren erschienen: „Gedichte von Karl Haltaus," über die wir gerne
ein freundliches Wort gesprochen hatten. Herr Haltaus ist ein so
guter Mann und obendrein unser Mitarbeiter. Aber ehrlich gestan¬
den, die Gedichte gefielen uns nicht. Wir fanden nichts Schlechtes
darin, aber auch nichts Hervorragendes. Correcte Verse, brave Mo¬
ral, sentimentale Empfindungen reichten vor fünfzig Jahren hin, um
einem Dichter Anerkennung zu verschaffen: jetzt verlangt man Indi¬
vidualität, eigenthümliche Anschauung, Gedankenkühnheit und Fülle.
Die Zeit ist vorüber, wo es hieß:
Ein gutes Triolett zu machen,
Ist keine von den leichten Sachen.
Wer macht jetzt nicht gute Verse? Schriftsteller und Schrift¬
setzer, Tertianer, Blaustrümpflcr, Handlungsdiener, Bäcker und Buch¬
binder. Jamben und Daktylen sind ein Eigenthum aller Welt ge¬
worden; die Jagdbarkeit ist frei und Jedermann geht pürschm und
singen in den deutschen Dichterwald. Wir hatten vor dem wackern
Haltaus allen möglichen Respect als gutem Bürger, als ausgezeichne¬
tem Gymnasiallehrer, als tüchtigem Kenner und Förderer altdeutscher
Literatur. Aber für einen Poeten hielten wir ihn nicht, und da wir
dem Erfolge seiner Gedichtesammlung kein glänzendes Prognostikon
zu stellen wußten, so schwiegen wir. Aber wir haben uns getäuscht.
So eben erschien von diesen Gedichten eine zweite, vermehrte
Auflage (Leipzig, Fest'sche Verlagshandlung, 1845). Das Publicum
hat offenbar anders geurtheilt als wir, es hat in Karl Haltaus jenes
poetische Licht gefunden, das die Kritik mit profanen, blinden Augen
nicht entdeckte, und nun rächt es ihn an den kritischen Blindschleichen,
es hat seine erste Auflage gierig aufgekauft und ein großes Bedürfniß
nach einer zweiten, vermehrten Auflage an den Tag gelegt! Werden
wir nun rechthaberisch polemisiren? Nein! Wir betrachten das Ereig-
niß als ein l'uit ii«^v»>i>Il und erkennen die neue Gedichtdynastie, die
Kunelle ciuletto, die zweite, vermehrte Auflage, als legitim an. Wir
haben unsere Schule in der Diplomatie durchgemacht. Wenn Fürst
Metternich und Czar Nicolaus die Julirevolution anerkannt haben,
wie sollten wir den Gedichten von Haltaus den Eintritt in den euro¬
päischen Gedichtbund versagen? Man müßte von der Legitimitäts¬
wuth des Herzogs von Modena besessen sein, um in der zweiten fran¬
zösischen Revolution und in der zweiten, vermehrten Auslage derHaltaus'-
schen Gedichte nicht die Volks- und Gottesstimme zu finden; wir
werden unsern Gesandten an dem Haltaus'schen Hof ernennen. Friede
in Deutschland!
— Es wäre zu wünschen, daß das Hofburgtheater in Wien bei
Auszahlung der Tantieme an fremde Autoren die Procedur etwas
erleichtere. Man verlangt nämlich von dem Autor außer einer Quit¬
tung noch ein Lebenszeugniß, eine amtlich ausgestellte Bestätigung,
daß er noch nicht todt sei. Letzteres hat etwas ungemein Komisches.
Ein eigenhändiger Brief des Autors ist nicht hinreichend, sein Leben
zu bethätigen — er muß es durch Amt und Siegel bestätigen lassen.
Nun denke man sich die Situation, daß Jemand auf das Rathhaus
geht und sagt: „Ich bitte, bezeugen Sie mir, daß ich noch nicht ge¬
storben bin!" Verlangt aber der Geschäftsschlendrian unwiderruflich
derlei Zeugniß, so wäre es eine große Erleichterung, wenn das Burg¬
theater ein gedrucktes Formular dem Betheiligten zusenden würde, das
blos ausgefüllt und unterzeichnet zu werden brauchte. Nicht Jeder weiß,
wie ein so sonderbares Ding nach Wiener Anforderungen zu stylisiren ist.
— Eine Marktschreier« — wenn nicht mehr — die ihres Glei¬
chen bisher nicht hatte, begeht die Buchhandlung von Scheible, Rie¬
ger und Sattler in Stuttgart. Sie kündigt eine Masse von literari-
schen Fabrikaten, sogenannten Volksschriften an, und setzt auf die Stirn
der Anzeigen: „Herausgegeben von der Gesellschaft zur Verbreitung
guter und wohlfeiler Bücher." Wo aber ist diese Gesellschaft? Sie
ist weiter nichts als die Firma obgenannter Buchhandlung. Alle
Vereine für Volksschriften sollten öffentlich protestiren gegen solche
unerhörte Marktschreierei, wenn das Verfahren nicht anders zu be¬
zeichnen wäre. Alle Blätter, die es mit der jetzt aufkommenden Volks¬
bildung gut meinen, sollten ebenfalls Einsprache thun. Darf eine
Buchhandlung aus freien Stücken sich den Charakter einer „Gesell-
schast zur Verbreitung guter und wohlfeiler Bücher" beilegen? Wo
ist da die deutsche Ehrlichkeit und Wahrheit?
'"
— Fränkls „Sonntagsblätter enthalten einen sehr beachtens-
werthen Artikel über eins der unentbehrlichsten Dinge der modernen
Gesellschaft, über das Papier. Vor einiger Zeit, heißt es dort, hörte
man, daß König Oskar das Maschinenpapier in seiner Verwendung,
insbesondere für gerichtliche Documente, beschränkt habe. Diese Notiz
blieb gelesen und vergessen, das schwedische Gesetz vielleicht bei uns
nicht minder. Und doch ist bei uns nicht minder als in Schweden
das Papier von Jahr zu Jahr schöner und schlechter geworden, ich
rede natürlich vom Maschinenpapier, mit welchem übrigens bald kein
anderes mehr die Concurrenz wird aushalten können. — Ich fordere
die Herren Rechtsfreunde, sowohl Gerichtsbeamte als Anwälte auf,
mir zu widersprechen, wenn sie die Behauptung zu gewagt finden, daß,
wenn man die meisten Documente, die gegenwärtig bei Gerichten und
in Geschäftsstuben vorkommen, betrachtet, sich unwillkürlich der Ge¬
danke aufdringt: wie wird es zehn oder zwanzig Jahre nach uns mit
den Beweisen für unsere Rechte, unser Eigenthum, unsern Besitz aus¬
sehen. Ich habe Verträge und Rechtsinstrumente in Händen gehabt,
welchen Geschäfte von 1WMV Fi. bis zu mehr denn einer Million
zu Grunde lagen, und die ihrer Eigenschaft wegen bei mehreren Be¬
hörden certisicirt, oder sonst klausulirt werden mußten und wenige
Wochen nach ihrer Ausstellung schon an Rändern und Bügen zerris¬
sen und theilweise schwer lesbar gemacht waren; ja, gleichzeitig mit
einem Documente, das ich bei der zweiten Klausel, die es erhielt,
unter meine Feder bekam und schon bedeutend verletzt vorfand, behan¬
delte Ich ein anderes, das auf einem anderen Papiere ausgefertigt war,
in ganz unverletztem Austande, obwohl es die Klauseln dreier preußi¬
scher Behörden und eben so viel österreichischer an sich trug, und in
Berlin und zwei Städten unseres Vaterlandes monatelang durch Kanz¬
leien und Postbureaur gelaufen war. Das Papier des ersten war
schönes, modernes Maschinenpapier!! Wären diese Zeichen der Zeit,
einer Zeit, in welcher der egoistische Schrei „^pres nous Jo cieluxe!"
immer mehr sich als Devise auf die Erzeugnisse des Luxus, des Schein¬
prunks und der Modefrivolität drückt, wären sie vereinzelte Thatsachen,
so könnte man darüber schweigen, allein das angezogene schwedische
Gesetz beweist, daß es keine wenig verbreitete Localerscheinung ist.
— Fetialen David hat auf seiner Reise durch Deutschland eine
neue große Eompostlion vollendet: Moses auf dem BergeSinai.
Er will sie in Wien zuerst aufführen lassen. Das Urtheil über die¬
sen Tondichter hat sich nun durch seine Concerte in Berlin, Dresden
und Leipzig für Deutschland ziemlich festgestellt. Zunächst begibt er
sich nach dem deutschen Süden: Baden-Baden, Carlsruhe, Stuttgart,
München und von da nach Wien. Im Winter will er wieder in
Paris sein, um eine Oper zu componiren, welche die „Academie de
Musique" bei ihm bestellt hat und zu der Scribe das tidretto liefert.
Aus dem Sujet dieser Oper macht Fetialen ein Geheimniß.
— Einer Schrift, die das Verdienst hat, zur rechten Zeit zu kom¬
men, darf man schon manche Mangel nachsehen. Dies gilt auch von
dem Buche „Joseph II. und seine Zeit von Dr. Karl Rams¬
horn" (Leipzig 1845). Zu keiner Zeit ist das Andenken an den edlen,
energischen aber allzukurz regierenden Kaiser so lebhaft wieder aufge¬
stiegen, wie jetzt. Joseph II. war vor Allem ein Vertreter des Mit¬
telstandes und je kräftiger sich dieser ausbildet, desto lebhafter und klarer
tritt das Bild des kaiserlichen Märtyrers hervor, dem die Hierarchie
und der Adel das Herz zu brechen und die Pläne zu vernichten wu߬
ten. Geistlichkeit und Hochadel sind zumal in Oesterreich noch jetzt
die heftigsten Gegner dieses größten der Söhne Habsburgs ; ihnen wird
auch das Buch des ol. Ramshorn nicht gefallen. Aber der Mittel¬
stand und das Volk werden es eifrig lesen und den Kaiser kennen
lernen, von dem Anastastus Grün singt:
Ein Despot bist Du gewesen! Doch ein solcher wie der Tag,
Dessen Sonne Nacht und Nebel neben sich nicht dulden mag,
Der zu dunkeln Diebesschluften die verhaßte Leuchte trägt,
Und mit goldner Hand an's Fenster langer Schläfer rastlos schlägt.
Das Namshorn'sche Buch ist ein Volksbuch. Historiker kennen
nichts daraus lernen, er hat bei weitem die Quellen nicht gekannt,
welche die Farben zu dem vollen Bilde seines Helden liefern konnten
und wovon die wichtigsten in französischer Sprache in Brüssel, Lüt¬
tich und dem Haag gedruckt sind, seltene Brochüren, die man vielleicht
nur in Wien und in Brüssel gesammelt findet, von archivarischen
Quellen ganz zu schweigen. Die Zeit, Kaiser Joseph und seine
Zeit ganz zu würdigen und erschöpfend nach Urkunden zu schildern, ist
noch nicht da, sie wird erst kommen, wenn man in Oesterreich be¬
greifen wird, wie viel die dynastischen Interessen gewinnen würden
durch die volle Beleuchtung des großen Kaisers, wenn man der in
den gegenwärtigen Verhältnissen allerdings gefährlichen Begeisterung
für den Sohn Maria Theresia's ihre freie Strömung lassen wird.
Und wahrlich es wäre Zeit! Die neuere Geschichts- und Memoiren¬
schreibung hat so viele Schattenvartieen des österreichischen Hauses auf
den Markt der Oeffentlichkeit gebracht, daß es staatsklug wäre, auch
die Lichtseiten zu fördern, nicht durch substdirte Geschichtsschreiber, son¬
dern durch freie unabhängige Männer. Ein Kapitel von Dahlmann
wiegt die sämmtlichen acht Bände des Fürsten E. M. Lichnowsky auf.
Joseph II. aber hat keine Historiographen zu scheuen; möge Oesterreich
seine Archive öffnen, hier gibt es nur zu gewincn und nichts zu verlieren.
Ich habe meine Sommerferien angetreten; das heißt: die Fe¬
rien, welche ich mir jährlich selber zugestehe, und die aus einem
Sommer- und einem Wintermonat bestehen. Da athme ich frei auf
von den Anstrengungen der übrige» Zeit, in welcher ich im Dienste
des Publikums stehe, suche mir einen Ort aus, wohin mich meine
Künstlerlaufbahn sonst nicht führen würde, schleudere meinen Sorgen¬
bündel weit hinter mich, und lebe froh und glücklich, fern von Neid
uno Intrigue, fern von dem abspannender Gedränge alltäglicher Um¬
gebung, mich stärkend und vorbereitend, um nach abgelaufener Erho-
lungöfrist mit frischer Kraft und neuer Anregung meinem Berufe
folgen zu können. —
Ein kleines, aber vortreffliches Büchelchen: „Helgoland" von
Wienbarg, welches mir vor Kurzem in die Hände fiel, erweckte die
Sehnsucht in mir, diesen in die Nordsee hingeworfenen Felsblock
mit seinem sonderbaren Völkchen kennen zu lernen. Immer rasch in
meinen Entschlüssen saß ich schon nach wenig Tagen am Bord des
Dampfschiffes, welches uns von Hamburg aus im schnellen Fluge
nach dem Ziel unserer Wünsche bringen sollte.
Einen sonderbaren Eindruck gewährt der Anblick der sonst so
lebhaften Wasserstraße zur Zeit der Ebbe und Windstille. Alle Schiffe
liegen ruhig und regungslos vor Anker, selbst die Mannschaft glotzt
unbeweglich und lautlos gleich versteinerten Gestalten unserem Fahr¬
zeug nach, welches getrieben von der Riesenkraft des Dampfes wie
auf Sturmesflügcln vorwärts eilt; dem Wanderer im Mährchen gleich,
der den flüchtigen Fuß in eine verzauberte Stadt gesetzt, und alles
Leben in derselben im starren, todtähnlichen Schlafe festgebannt
findet. —
Die Ufer schwinden, das Elbwasser nimmt eine hellgrüne Farbe
mi, dort taucht der Leuchtthurm von Curhafcn aus. Die sonder¬
barsten, nicht sehr malerischen Gruppen auf unserem Schiffe deuten auf
das Herannahen des tückischen Feindes der Neugierigen, welche die
Lust nach Fremdartigen in's Salzwasser treibt; die Seekrankheit beginnt
mit den Armen ihr tolles Spiel zu treibe,,, und nicht eher läßt die
böse Fee den ihr Verfallenen aus der verwirrenden Umarmung los,
bis derselbe sich mit kühnem Sprunge ans feste Land rettet, dessen
grüne Ufer die boshafte Wasserfrau nicht betreten darf.
Ein tragi-komischer Anblick gewährte ein armer Clarinettist, wel¬
cher die Reise wahrscheinlich aus Spekulation mitgemacht. Bis Cur-
hafen trug er frisch und munter auf seinem Instrumente die schön¬
sten Stücklein vor, jetzt wird er zusehends bleicher, die Klarinette
wird nur noch in kurzen Absätzen hörbar; nun legt er sie ganz bei
Seite, greift nach dem Notenblatte, um wenigstens noch rasch den
Lohn seiner Kunst zu ernten; vergebens — kaum klingen die ersten
Schillinge auf dasselbe nieder, legt es der zum „stillen Mann" ge¬
wordene schnell bei Seite, und begibt sich mit raschen, wenn gleich
schwankenden Schritten in die Kajüte, aus welcher er nicht mehr
zum Vorschein kommt. —
Das Land ist bereits gänzlich zurückgetreten, und man bekommt
in kurzer Zeit durch das Einförmige der Fahrt, eine Ahnung von
der unvermeidlich treuen Begleiterin auf längeren Seereisen — die
gähnende Langeweile macht uus ihre erste Visite. Wir lassen unsere
Anwesenheit veiläugnen, und schleichen uns, um dem lästigen Be¬
suche auszuweichen, in die Cajüte, wählen ein Buch aus der Schiffs¬
bibliothek, und versuchen, den schlimmen Gast durch das Wort des
Denkers fern zu halten.
Mir führte der Zufall ein Werk in die Hände, welches wieder
den klaren Beweis liefert, wie selten ein Unglück allein kommt. Der
Brand von Hamburg hat nämlich ein, von einem gewissen Clemens
Gerte verfaßtes Gedenk duch in's Leben gerufen, welches durch
den unverantwortlichen Leichtsinn des Conducteurs, dem die Wahl
der hier aufliegenden Geistesproducte anvertraut ist, den Weg in
unsere Schiffsräume gefunden. Es scheint, als ob der Autor, in
der Wuth schöne Bilder zu malen, ein Privilegium auf das Unsinn-
schreiben gepachtet hätte. So schildert er (Seite 180) den Brand der
Nicolauskirche, und bricht bei der Schilderung des Momentes, in
welchem das Glockenspiel auf derselben nochmals zu spielen anfing,
in die begeisterten Worte aus: „ES war der Schwanengesang
eines im Sterben wahnsinnig gewordenen Kirchthurms."
Ein singender Kirchthurm, der im Sterben wahnsinnig wird,
muß auch eine schöne Gegend sein! —
Aehnliche Stellen könnte ich dutzendweise aus dem sonderbaren
Buche anführen, wüßte ich nicht, daß derlei Citate auf die Länge
nichts weniger als amüsant erscheinen. Ich muß gestehen, daß mir
seit langer Zeit kein Anekdotenlericon so viel Stoff zum herzlichen
Gelächter gab, als dieses Opus; — was freilich nicht in der Ab¬
sicht des Verfassers gelegen haben mag. —
Ich eile wieder auf's Verdeck. Schaaren neugieriger Möven
umschwärmen kreischend den Hintertheil des Schiffes, zwei Delphine
umspielen dasselbe in ziemlicher Entfernung in tollen Sprüngen, Pur¬
zelbäume schlagend, und in der Weite erhebt sich ein kleiner Punkt,
welchen der freundliche Führer unsers Dampfers für das Ziel unse¬
rer Reise erklärt.
Alles geräth in freudige Bewegung, die Vorsichtigeren wollen
zu ihrem Gepäcke eilen, unterlassen dies aber mit bedeutend verlän¬
gertem Gesichte, als sie hören, daß wir in kaum dritthalb Stunden
Helgoland erreichen können. Endlich wird der rothe Felsblock deut¬
lich sichtbar, mit seinen auf der Höhe zerstreuten Häusern, mit den
kahlen, jeder Vegetation baren Ufern. Der Leuchtthurm streckt seinen
glänzenden Schädel neugierig dem ankommenden Fahrzeuge entgegen,
wetteifernd mit den Schaaren der herbcigeströmten Helgoländer und
ihrer Badegäste, welch letztere die Ankunft eines Schiffes als ein
freudiges Ereigniß betrachten, das dein von allem Verkehr abgeschnit¬
tenen Binnenländer frische Gesellschaft, frische Lebensmittel und frische
Stadtneuigkeiten zuführt.
Ein den Leipzigern wohlbekannter Hotelbesitzer, derzeit helgolän¬
der Badegast, den ich in Hamburg noch von meiner baldigen Ankunft
unterrichtet hatte, erwartet mich am Strande, sorgt für den Trans¬
port meiner Effecten, stellt mich der Gesellschaft vor, führt mich in
die voraus gemiethete Wohnung; und seiner Freundlichkeit habe ich
es zu danken, daß ich nach einer halben Stunde schon vollkommen
eingerichtet, und „up llvl^oliu,^^ heimisch war.
Der Abend ist schön, die frische Seeluft, deren Balsam der An¬
kommende mit Wollust und starken Zügen schlürft, die majestätisch
untergehende Sonne laden zu einer Spazierfahrt um die Insel, zur
Besichtigung derselben ein. Wie soll ich den gewaltigen Eindruck
schildern, den der Anblick dieser großartigen Schöpfung auf mich her¬
vorgebracht?! —
Diese Felsenwände, deren sonderbare und abenteuerliche Gestal¬
ten in dem letzten Scheine der Abendsonne erglühen, diese Unzahl
Fischerboote, welche, wie unbefestigt, sich weit hinaus in der See
wiegen, der Insel gegenüber die Sanddüne — einem Schneegebirge
gleich zu uns her leuchtend — dessen schwankende, dem Untergänge
geweihte Ufer den Leichen, welche das treulose Element hier oft an's
Land wirft, die letzte Ruhestätte bieten, und deren umrauschende Wo¬
gen dem entnervten Städter neue Lebenskraft verheißen; diese gewal¬
tigen Steintrümmer, welche der Sturm, im Verein mit seiner treuen
Tochter, der tosenden Brandung, vom Land gerissen und in'S Meer
geschleudert, die sonderbare Tracht unserer Schiffer, dazu der ferne
Schall der Abendglocke und das Getön der Bademusik, diese Hun¬
derte von winzigen Fahrzeugen, welche, des Fischfanges wegen, die
Insel umkreisen, hier der plumpe Fall eines aufgeschreckten Seehun¬
des in die Fluth, dort eine Schaar gescheuchter Möven, kreischend
aus der Schlucht auffliegend in ihr heimathliches Element, rings um
uns die unabsehbare Wasserwüste mit der vor uns liegenden Oase:
Helgoland — dies Alles zusammen gibt ein Bild, wie es kein Pin¬
sel malen, kein armes Wort beschreiben kann! —
Ich erinnere mich nur einmal im Leben so mächtig erschüttert
gewesen zu sein: es war in Cöln, als ich das erstemal dem
öffentlichen Geschwornengericht beiwohnte! — Möge
man immerhin über diese Zusammenstellung spötteln; ich beschreibe,
was ich fühlte.
Ein Jahr meines Lebens hätte ich damals unbedenklich für die
Wonne eingetauscht, den Männern, die da saßen im Namen des
Volkes, zu richten über das Volk, mit heißen Thränen um den Hals
fallen zu können, ihnen die Hand drücken und meinen Dank für den
erlebten erhebenden Moment aussprechen zu dürfen. Ein andermal
mehr von diesen merkwürdigen Gerichtssitzungen, und dem Eindrucke
der Assisen überhaupt, auf mich — den Oesterreicher. —
Die Aussicht von meiner Wohnung — im Oberlande bei Block'S
— ist über alle Beschreibung reizend. Meinen Fenstern gegenüber
liegt der Badeplatz, die Düne, der kleine Sandstrich, an welchem die
Enstenz der armen Helgolander gekettet ist, und dessen unvermeid¬
lichein Versinken in die gierige Meeresfluth die ängstlichen Jnselbe¬
wohner mit banger Sorge entgegen sehen. Mit diesen unscheinbaren
Hügeln werden einst das Seebad und der Fischfang, die beiden Haupt¬
nahrungszweige eines wackern Völkchens, verschwinden. Die Wasser
um den kleinen Sandflecken nur liefern die Spieren, eine weißschup¬
pige, dem Regenwurm ähnliche, winzige Fischgattung, welche als
Köder benutzt wird. Die flachen Ufer und der zwar kräftige, jedoch
gefahrlose und nicht zu tobende Wellenschlag an dieselben, begünstigen
allein das srgenbringende Bad, für welches auf Helgoland selbst lei¬
der vergebens ein Plätzchen gesucht werden dürfte. Einen Steindamm
oder ein mächtiges Bollwerk von hölzernen Pfählen um die Düne
zu bauen, und so der von Jahr zu Jahr sichtbarer werdenden Ver¬
kleinerung derselben abzuhelfen, wäre das einzige Mittel, dem um-
ano bleiblichen Untergange entgegen zu arbeiten. Aber woher soll
das kleine, blutarme Lootsenörtchen die gewaltigen Kosten dazu auf¬
treiben?
Wäre ich Rothschild oder sonst ein deutscher Krösus, ich würde
mir mit dem Bau eines solchen Werkes ein unvergängliches Denk¬
mal in dem Herzen eines zwar kleinen, aber biedern Völkchens setzen,
und in dem Bewußtsein, dieses dem Verderben entrissen zu haben,
meinen Stolz und meine Freude finden.
Ich denke mir keine größere Lust, als das Gefühl, in einem sol¬
chen Falle die Vorsehung vertreten zu können.
„Wer die Sache des Menschengeschlechts als seine betrachtet,
Nimmt an der Götter Geschäft, nimmt am Verhängnisse Theil."
Im Conversationshause liegt ein Fremdenbuch auf, in welches
sich eintragen kann, wer Lust dazu hat. Pässe kennt man hier nur
dem Namen nach, und die letzte und frischeste Blüthe der deut¬
schen Civilisation — die Ausweisung, ist noch nicht bis hierher
gedrungen. Man nennt Stand und Namen eben nur, um sich den
übrigen Badegästen anschließen zu können. Dafür aber hat das
Pestübel der menschlichen Gesellschaft, der Dämon des Spieles, auch
hier sein scheußliches Lager aufgeschlagen, und die glänzenden Räume
des VersammlungssaaleS, bergen eine wohlconditionirte Spielhölle.
Ja, auch hier auf diesem Felseneilande haben die 11t Bank¬
halter Gelegenheit gefunden, ihr fluchbeladenes Handwerk auszuüben.
Man erzählt sich sogar allgemein, daß drei Hamburger Kaufleute
bei diesem sauberen Geschäfte mit interessirt sein sollen, was ich zur
Ehre des dortigen Handclsstandes nicht glauben mag. Ist ein sol¬
ches Gewerbe an und für sich überall verwerflich, so ist die Lockung
zum Spiele gerade auf Helgoland um so verabschenungswürdiger,
da dasselbe bei der durch daS Seebad hervorgebrachten ungemeinen
Aufregung geradezu Verderben bringend wirkt. Doch ist man hier
noch um einen Schritt weiter als in den übrigen Bädern. Man
hat hier im Monat August eine eigene Damen spie thaut, welche —
kaum glaublich, allein leider wahr — in der Blüthe der Saison, sehr
lebhaft von dem schönen Theile der Badegesellschaft benützt werden soll.
Tie hochherzige englische Regierung hält es nicht unter ihrer Würde,
französischen Spielern die Erlaubniß zu ertheilen, gegen Entrichtung
eines ansehnlichen Pachtschillings/) nach deutschem Gelde ihre Netze
auszuwerfen. Der Gouverneur von Helgoland gibt die Bewilligung
dazu her, daß die reine Meeresluft von dem giftigen Hauche dieses
Lasters verdorben werde, nicht fürchtend, daß die grollende alte Nord¬
see im gerechten Grimme über diesen heillosen Frevel die entweihte
Insel in ihren nassen Schooß begrabe! —
Die wackere Dorfzeitung möge ja nicht vergessen, bei ihrer jedes¬
maligen Schlußformel: „Uebrigens glaube ich, daß die 11t deutschen
Spielhöllen zu vernichten sind " immer hinzu zu füge«, „und die auf
Helgoland dazu."
Jetzt weiß ich doch wie einer berühmten Tänzerin im Augen¬
blicke des höchsten Triumphes zu Muthe sein muß. Ich bin in einem
Wagen gefahren, der von Menschen gezogen wurde. Leider habe ich
diese Auszeichnung, welche ich noch überdies) mit allen Badegästen
theilen muß, nicht meinem Talente zu danken; der Badekarren wird
von den Wärtern in die See gezogen. Heute ging's bei der Ueber¬
fahrt sehr stürmisch her, die tobenden Wellen warfen das kleine
Schiffchen wie eine Nußschale herum, einmal hoben sie dasselbe hoch
in die Luft, dann ließen sie eS wieder die Tiefe fallen; alle Augen-
blicke kam eine mächtige Sturzwelle zu uns in's Boot gesprungen,
übergoß uns mit der salzigen Fluth über und über, und breitete sich
dann gemächlich zu unseren Füßen aus. Die erschreckten und zit¬
ternden Damen sahen sich schon den Fischen zur Beute preisgegeben,
und bekamen auf der kurzen Fahrt wieder Anwandlungen von See¬
krankheit. Wir legten den Weg zur Düne, zu dem wir sonst zehn
Minuten brauchen, heute in dem Zeitraum von drei Viertelstunden
zurück. — Am jenseitigen Ufer hatten die Wellen den Leichnam eines
fremden Matrosen an den Sand geworfen, unter welchem er sogleich
verscharrt wurde. Wer weiß, ob nicht des Armen im fernen Va¬
terlande ein banges Weib und liebende Kinder warten, von Tag
zu Tag mit ängstlicher Sorge in daS Meer hinausstarrend, dessen
treulose Wellen, statt den sehnsüchtig erwarteten Gatten und Vater
zurückzubringen, den erstarrten Körper desselben schon längst auf
unbekannten Strand geschleudert.
Gestern machten wir eine Fahrt nach einem eine Stunde von
hier liegenden Wrak. Ohne Masten, zwischen Felsen eingeklemmt,
ein Spiel des Windes und der Wellen, wird es hier festgerannt
bleiben, bis der nächste Sturm die sichere Beute auseinander reißt,
und in alle Weltgegenden schleudert. Es ist ein englischer Schooner
— Triton — kam vor acht Tagen mit Salz beladen von Liverpool
und war nach Föhr bestimmt. Schiff und Ladung waren hoch ver¬
sichert, ersteres schon sehr alt; die Helgolander behaupten daher zuver¬
sichtlich, der Kapitän habe die bequeme Gelegenheit ergriffen, und,
um ein gutes Geschäft zu machen, den Triton hier an den Klippen
geflissentlich aufsitzen lassen. Die Mannschaft wurde gerettet, allein
das Salz war im Augenblick von den überströmenden Wellen auf¬
gelöst und verschlungen. Die Strandung geschah gegen Abend, noch
vor Einbruch der Dämmerung. Trotz den überaus stürmischen
Wogen sprangen die Lootsen augenblicklich in die Boote, und um¬
kreisten wie Raubvögel das kecke Schiff, um nach dem hier üblichen
Stau brecht zu erbeuten, was sich die Fluth von ihrem Raube
noch abtrotzen ließ.
Die Helgoländer Lootsen gelten mit Recht als die kühnsten und
erfahrendsten Schiffer, ihre Verwegenheit übersteigt alle Gränzen, eS
schreckt sie im Sommer weder die heulende Windsbraut, noch im
Winter das Bergen gleich treibende Eis ab, wenn es gilt ein Schiff
im Sturme in die Elbe zu Pilotiren. Da aber die Kapitäne diese
theuere Hilfe nur im äußersten Nothfalle in Anspruch nehmen, wenn
es nämlich an Hals und Kragen geht, so lassen sie jetzt sich diese mit
Gefahr ihres Lebens dargebrachte Rettung noch reichlicher bezahlen,
und stehen daher in dem Ruf eines — im Betracht der Verhältnisse
sehr zu entschuldigenden — kleinlichen Eigennutzes. Der Helgoländer,
dem die karge Natur auf seinem heimathlichen Boden alle und jede
Nahrung verweigert, auf dessen Felsengrund keine Blume blüht, keine
Pflanze gedeiht, kein Baum wurzelt,*) muß die Erhaltung seines
Lebens und die seiner Lieben dem Meere abringen, welches ihm eben
auch nicht die freigebigste Mutter ist. Keine Gemeinkasse schützt ihn
und seine Familie im Alter vor Frost und Hungersnot!), sein fru¬
galer Tisch ist oft jahrelang nur mit Fischen und Kartoffeln bedeckt,
die schwerste Mühsal wirst ihn kaum so viel ab, um das nackte Leben
durchzuwinden. Ist es ihm, dem Sohne der Wellen zu verargen,
wenn er sich mit dem Sturm verbindet, und für die Rettung der über¬
reichen Ladung eines bedrohten Schiffes, für welche er das eigne Dasein
in die Schanze schlägt, zweihundert Thaler fordert, von welchen ihm
nach der gesetzmäßigen Theilung mit seinen Genossen, dem Staate
und der Kirche vielleicht der zehnte Theil als Eigenthum verbleibt?
Ich miethete mir ein Boot, und fuhr mit demselben weit hin¬
aus gegen die um die Insel liegenden Klippen, von welchen man
bei Ebbezeit Versteinerungen, Ammonshömer, farbige Muscheln und
andere seltene Gegenstände sammeln kann. Die See liegt glatt wie
um Spiegel vor uns, die hellgrünen Wogen lassen uns bis auf den
Grund sehen, die breite» Blättergewächse am Boden, auf welchen
sich Millionen Secstemc wiegen, diese krabbelnden Seespinnen, die
Unzahl kleiner lustig hin und her schießenden Fische, der wolkenlose,
reine Himmel über uns — ich kann mich nicht satt sehen an diesem
Bilde! —
Diese Schiffer wissen ihre kleinen Erlebnisse, ihre gefährlichen
Fahrten auf merkwürdig klare und einfach-verständliche Weise zu er¬
zählen. Man horcht ihnen mit Vergnügen zu. Während der Kon¬
tinentalsperre war ihre goldne Zeit. Das Schmuggclgeschäst stand
in voller Blüthe und warf übermäßigen Gewinn ab. Dieses See-
völklcin verstand es aber auch meisterhaft, mit allen Klippen und Un¬
tiefen der Wasserstraße vertraut, den französischen Wachschiffen ein
Schnippchen zu schlagen. Wie Aale schlüpften sie durch dieselben, von
dunkler Nacht begünstigt, war die Ladung rasch an's sichere Ufer ge¬
bracht und der reiche Lohn dafür eingestrichen.
Da fährt in seinem Kahn der dumme Engländer vorüber, wel¬
cher blos nach Helgoland kömmt, um die Möwen wegzuschießen. Das
Fleisch derselben ist so gänzlich ungenießbar, wie dieser stolze Sohn
Albion's, den blos die rohe Lust an dem Morde zu dem Vergnügen
treibt, täglich 3V bis 40 Stück dieser armen Thiere zu todten. Un¬
willig wende ich mich von diesem barbarischen Schauspiel ab, und
horche dem Gesang der Schiffer, welche ein Helgoländisch Lied er¬
tönen lassen. Als eine Probe dieser Naturdichtungen, setze ich eine
getreue Abschrift bei, wie ich sie aus den Händen eines Lootsen er¬
hielt-
Heute früh wurde in der Kirche el» Helgoländer Knabe gekauft.
Rand geendigtem Gottesdienste, klopfte eS drei Mal an der Kirchen¬
thüre, hierauf trat ein junges Mädchen herein, welches einen Rosen¬
kranz auf dem Kopfe und den jungen Weltbürger auf den Armen
trägt. Nach kurzer Pause klopft eS abermals drei Mal an der Pforte,
welche sich der Mutter öffnet, der eine Unzahl Kinder folgen, alle in
Fcsttagökleidern mit Wassergefäßen in den Händen, welches sie in
den Weihkessel leeren. Dieses Symbol soll die Einigkeit andeuten,
mit welcher der neue Ankömmling in den Kreis seiner künftigen Mit¬
bürger aufgenommen wird. Nun erst beginnt die gewöhnliche Tauf-
ceremonie. —
Die Hclgoländer Mädchen sind beinahe durchweg schlanke, edle
Gestalten, mit blonden Haaren und ausdrucksvollen zarten Zügen.
Bei der rauhen Arbeit, deren sich das Weib hier auf wahrhaft skla¬
vische Weise hingeben muß, erscheint diese Feinheit der Glieder, dieser
blendend weiße frische Teint um so wunderbarer.
„Dem Weibe das Haus, dem Manne das Meer" heißt es hier.
Der Hclgoländer geht mit großem Phlegma leer neben seinem die
größten Lasten schleppenden Weibe die beinahe zweihundert Stufen
hohe Treppe in's Oberland hinauf, lehnt sich im süßen Nichtsthun
Tage lang in die See hinausstarrend, an's Geländer hin, während
seine geplagte Ehehälfte sich in Last und Mühe bis auf'S Blut ab¬
quält. Es ist ein reizender Anblick, diese züchtigen Gestalten Abends
mit den zwei Hängeeimern, deren sie sich zum Herausholen ihres
Wasserbedarfes bedienen, die Niesenstiegc herabschweben zu sehe».
Mit angeborner Ehrbarkeit grüßen sie bescheiden den begegnenden
Fremden, dessen Auge mit Vergnügen den in ihre reizende Landes¬
tracht gekleideten Dirnen folgt.
Die Helgoländcrin aber ist noch mehr als schön, sie ist tugend¬
haft. Diese seltnen Mädchen verdienen den guten Ruf, in welchem
sie in dieser Hinsicht stehen, mit dem vollsten Rechte. Die raffinir-
testen Fallstricke des Städters scheitern an der einfachen Würde dieser
Naturkinder. Eine Gefallene würde die unauslöschliche Verachtung
der sämmtlichen Jnselbewohner nicht ertragen können, ein Sturz von
den hohen Klippen in die Fluth würde dem Dasein der Betrogenen
ein Ziel seyen — ein Fall, der sich leider bereits ereignet hat. Eines
der schönsten Mädchen Helgolands endete auf diese Weise ihr ge-
brandmarktes Dasein. Der Fremde, der ein Mädchen nnter dem
Versprechen der Ehe bethört hat, verläßt die Insel nur als Gatte
derselben. Kein Schiff stößt vor Einlösung seines Wortes mit ihm
vom Ufer ab.
Noch lebt hier eine „Gräfin," deren Gatte zur Ehe mit dersel¬
ben gezwungen, durch die schlaueste List von dem Eilande zu ent¬
wischen wußte, um wohl nie mehr dahin zurückzukehren. Nichts desto
weniger behandelt man die Hintergangene und ihr Kind mit der grö߬
ten Achtung, und nennt sie, die simple Wirthstochter, nur die gnä¬
dige Frau, oder die Frau Gräfin, obwohl es noch immer sehr pro¬
blematisch bleibt, ob der Herr Graf auch wirklich ein Herr Graf
gewesen.
Ich bin durch einen Zauber an dieses Eiland festgebannt. Die¬
ser Zauber aber liegt in der Natur, die ihre ganze schöpferische Man¬
nigfaltigkeit auf dieses kleine Felsennest und dessen Umgebung in wun¬
derbarer Fülle ausgegossen zu haben scheint. Täglich nehme ich mir
vor, meine projectirte Reise nach England fortzusetzen, und doch kann
ich mich von dieser verkörperten Mährchenwelt nicht losreißen.
Heute früh machte ich die geistreiche Bemerkung, daß Cham¬
pagner weit besser schmecke als Seewasser. Eine mächtig dahcrbrau-
sende Sturzwelle lud mich zum Genusse des letzteren ein, faßt mich,
als ich dem unwillkommenen Frühstücke ausweichen will, mit roher
Gewalt, wie eine Rabenmutter ein unfolgsames Kind, schleudert mich
kräftig in den Sand nieder, und zwingt mich, das zugedachte bitter-
salzige Quantum herzhaft zu verschlucken. Es ist merkwürdig, wie
schnell man sich hier gegen alle Einflüsse der Witterung abhärtet.
Der weichlichste Städter springt bei rauhem kalten Nordwinde und
dem heftigsten Regen in die schäumenden hochaufgcthürmten Wogen,
und die ängstlichste Modedame scheut hier auf Helgoland das un¬
vermeidliche Naßwerden der zarten Füßchen nicht.
Diesen Morgen gab es einen tüchtigen Austritt zwischen dem
möwenjagenden Engländer und einem Badegäste, welchem dieser ein
paar Schrote in den Fuß geschossen hatte. Es war mir ein Gaudium
zuzuhören, wie der zum Glück nur leicht Verwundete den verblüfften
Jägersmann seiner Ungeschicklichkeit wegen derb abkanzelte, und der
erschrockene blonde Möwenmörder keine Entschuldigung hervorzubrin¬
gen wußte, sondern mit einem verlegenen „guten Morgen" die lan¬
gen Beine in flüchtige Bewegung setzte.
Welch' ein Unterschied zwischen einen, Balle der Badegesellschaft
im Conversationshause, und einem solchen auf dem sogenannten
„grünen Wasser." Letzteres ist eine simple Tanzkneipe, und hieß,
ehe der frühere Wirth banqucrott gemacht, „im rothen Wasser." Die
Helgvländer Jugend versammelt sich hier, wie die vornehme Welt
im Curhause, jede Woche zweimal zum frohen Tanze.
Im Salon residirt die verkörperte Langeweile. Man benimmt
sich mit einer Grandezza, als ob man auf einem Hoffeste bei der Kö¬
nigin von England sich befände, und geht endlich nach überstandener
Unterhaltung mit dem Bewußtsein zur Ruhe, die ganze Welt be¬
zaubert zu haben. Eine Toilettenpracht wird entwickelt, wie man sie
nur in Paris und Wien zu Gesicht bekommen kann, und der lun¬
genkranke Referendarius tanzt mit der nervenschwachen Tochter seines
Präsidenten im Schweiße des Angesichtes mit einem Eifer, der von
seiner Dienstpflicht ein rührendes Zeugniß ablegt. Armer, hoff-
nungsvoller Jüngling, du müsse dich umsonst, die Schwindsucht wird
dich dahinraffen, ehe noch der Posten vacant wird, nachdem du von
Helgoland die Angel ausgeworfen! —
Im „grünen Wasser" tanzt der Bursche mit seinem Mäd¬
chen so lange noch ein Zweischillingsstück in seiner Tasche klappert.
Dies ist nämlich der Preis eines jedes Tanzes, für eine Musik, deren
gräßlich disharmonirende Töne geraden Weges der Hölle entsprun¬
gen scheinen. Den eintretenden Fremden fordert eine der „Siren Dir¬
nen" mit einem artigen Knir zum Tanze auf. Für diese Ehre gibt
man dem nächst besten der jungen Leute zwei Schillinge, der für
den Aufgeforderten um mit dem Mädchen walzt. Nach ge-
endigter Musik kommt Letztere, um sich bei dem zusehenden Fremden
zu bedanken, daß er ihr die Ehre erwiesen, mit ihr zu tanzen.
Könnte man auf unseren Bällen nicht auch solche Nachtlöhner
anstellen, welche die Arbeit der Unterhaltung für die Eingeladenen
übernehmen und die Tanzwuth der Damen befriedigen müßten? Ich
glaube der Vorschlag verdiente Erwägung.
Man hat hier auch einen Nationaltanz unter den Namen: „Niet,"
aus dessen Hauptfiguren der berüchtigte „Cancan" gebildet zu sein
scheint. Jedoch ist zwischen derAnöführung dieses Tanzes aufHelgvland
und jenem, die ich in wildester Ausartung in Paris mit ansehen mußte,
ein Unterschied, wie zwischen der keuschen Hingebung eines unschul¬
dig liebenden Mädchens zu der erheuchelten Leidenschaft einer frechen
Buhldirne. Dieser Tanz hat, wahrscheinlich durch Hamburger Ma¬
trosen nach Havre gebracht, von da die Reise in die Weltstadt ge¬
macht, um auf den Maskenbällen der großen Oper in Paris hei¬
misch zu werden. Durch seine Uebersetzung inS Französische aber
mußte er einen Charakter annehmen, der mit seiner ursprünglichen
Nationalität im grellsten Gegensatze steht.
Mit dem Schlage der zwölften Stunde werden im „grünen Wasser"
die Lichter verlöscht, und jedem Anwesenden bleibt die Mühe über¬
lassen, im Finstern den Ausgang zu finden. — Nicht sehr galant,
aber originell! ____
Heute früh ist das Meer so stürmisch bewegt, daß die Bran¬
dung an der Nordwest-Seite den Obertheil der Insel bespritzt, wel¬
cher hier während der Ebbe Fuß hoch aus dem Wasser ragt.
Es wäre schade, wenn aus der Fischerpartie, welche wir heute nach
Tische vorhaben, nichts würde. Ich habe mich einem kleinen aber
munterer Theil der Gesellschaft angeschlossen, aus zwölf jovialen Per¬
sonen bestehend, inclustvc meiner Wenigkeit, der die schlimmen Drei¬
zehn fürchtet. Wir führen alle unsere Wasserpromenaden zusammen
aus, wohnen in einem Hause, und genießen mit Einschluß des Mit¬
tagstisches alle Annehmlichkeiten des Badelebens vereint.
Wir gaben uns auch gegenseitig — bei Strafe des Ausgeschlos-
senwerdenö aus dem fröhlichen Zirkel - das feierliche Verspreche»,
nicht zu spielen. Einige Thaler und Viele frohe Stunden werden
dadurch jedenfalls gewonnen.
Ich erkundigte mich nach dem alten Sarcophag deS Seeräuber¬
häuptlings, welcher, wie mehrere Hamburger Blätter melden, im
Unterlande vor Kurzem gefunden wurde, und für den Antiquitäten-
freund von unschätzbarem Werthe sein soll. Erlogen! Zeitungsge¬
wäsche! Niemand weiß ein Wort davon. —
Von der rasenden Gewalt des Sturmes kann man sich einen
Begriff machen, wenn man erfährt, daß die gläserne Kuppel des 256
Fuß über die Meeresfläche emporragende» Leuchthuriiies bei heftigem
Gewitter mit Seetang und Spritzwasscr beworfen wird, ja daß diese
ciwnn starken Glastafeln, die dicksten, welche wohl je gegossen wor¬
den, manchmal davon zerschellt werden.
Der riesige nur von Sturm und Metall aufgeführte Thurm
wankt in solchen Schreckensmomenten, in seinen tiefsten Grundfesten
erschüttert. Die 24 Lampen, sammt den mit Platina überzogenen
Reverberen, kosteten, nach Angabe des am Thurme angestellten In-
spectors, die Summe von eintausend und zweihundert Pfund Ster¬
ling. Bei Hellem Tage kann man von der Gallerie aus mit einem
Glase bis Curhafen sehen. —
Es ist merkwürdig, mit welch' unglaublich scharfem Gesicht die
Lootsen begabt sind, welche den ganzen Tag mit starrer Unbeweglich-
keit an dem Geländer des Oberlandes — Fata genannt — auf der
Lauer liegen. Nicht der kleinste Punkt entgeht ihrem Falkeitblicke, der
auf der unabsehbar ausgebreiteten Meeresfläche auftaucht. Wird nun
auf einem der vorüberfahrenden Schiffe die Nothflagge sichtbar, so
kommt Leben in diese Steinbilder; im Augenblick ist der Strand ge¬
füllt mit den kühnen Männern, die sich drängen zum todtdrohenden
Nettungswerke. Die metallnen Lootsenzeichen werden in einen Hut
geworfen, und die sechszehn Gezogenen geben ihren Eigenthümern
daS Recht, unter Anführung eines gleichfalls durch das Loos bestimm¬
ten Officiers, in das empörte Element hinauszusteuern. Am bedräng¬
te» Fahrzeug angekommen, dem jede versäumte Minute Verderben
bringen kann, wird mit dem Führer erst um den Preis gefeilscht, der
sür die Hülfe in der Noth bezahlt werden muß. Nur zu oft wird
durch das lange Handeln der richtige Augenblick versäumt, und der
zu karge Capitän, wenn er anders das nackte Leben gerettet, kann
am folgenden Tag, wenn er Lust hat, seine Ladung bei der Ver¬
steigerung der Strandgüter wieder einlösen.
Eine höchst originelle charakteristische Preisunterhandlung für die
Rettung seines Schiffes zwischen einem Capitän und der Bootsmann-
schaft findet man in Theodor v. Kobbes humoristischen Briefen über
Helgoland, einem Werkchen, das man erst hier ganz verstehen lind
schätzen lernt.*) —
Glaubte ich bis jetzt, daß sich kein Anblick auf dem an gro߬
artigen Erscheinungen so reichen Ocean mit dem Svnnenauf- und
Untergang auf der See vergleichen lasse, so wurde ich heute Nacht
durch den prachtvollen Anblick des Meerleuchtens eines Besseren
überführt. Millionen in allen Farben deS Diamanteö glänzende Feuer-
garben stiegen an dem seltsam beleuchteten Himmel auf, die Wellen
sind mit grünlich-blauem Scheine überdeckt, und in den wunderlich¬
sten Formen glitzert, flimmert und schwirrt ein Farbenspiel vor un¬
serem entzückten Auge, von welchem vie Kunst des geschicktesten Py¬
rotechnikers uns kaum eine schwache Ahnung zu geben vermag. —
Ich begreife recht wohl, daß die Luft am Fischfange zu einer
Leidenschaft heranwachsen kann, welche der Jagdlust das Gleichge¬
wicht hält. Letztere hätte vor einigen Jahren dem Fürsten Thurn
und Tarif — einem hierher oft wiederkehrenden, und seiner liebens¬
würdigen Eigenschaften und Leutseligkeit allgemein geschätzten Bade¬
gäste — beinahe das Leben gekostet. Der Seehund, ein Gegenstand
der eifrigsten Verfolgung der Jagdfreunde, haust größtentheils auf
den Felsblöcken, welche im Umkreise von einer Stunde um die Insel
liegen, und in kleinen Zwischenräumen von einander entfernt, zur
Ebbezeit ihre von Seetang bedeckte Oberfläche aus dem Wasser ragen
lassen. Der Fürst ließ sich an einen dieser Felsen führen, seinen Kör¬
per mit den breiten Blättern des Seetangs bedecken, und gibt den
Fährleuten Befehl, in einiger Entfernung Anker zuwerfen, und seines
Winkes gewärtig zu sein. In dieser unbequemen Stellung hinge¬
kauert und das Gewehr schußfertig im Anschlag, läßt er das scharfe
Auge über die benachbarten Klippen schweifen, als er das Gebüsch
auf einem der ihm gegenüberliegenden Steintrümmer in Bewegung
gerathen sieht. Er strengt seine ganze Sehkraft an, und bemerkt mit
begreiflichen Schreck einen Menschen, der in einer der seinigen ho¬
mogenen Körperlage seine Flinte gerade auf ihn zum Schuße anlegt.
Mit Blitzesschnelle erhebt sich der Fürst, und macht den, allzucifrjgen
Schütze» begreiflich, daß er ein Mensch und kein Seehund sei. Ich
für meinen Theil würde mich für ein solches Zusammentreffen be¬
danken. Die Lust, eine Seehundshaut zu erbeuten, die eigene
zu Markte tragen zu müssen, ist doch etwas unangenehm.
Uebrigens wurde die Jagdlust des fürstlichen Schützen noch an
diesem Tage mit dem glücklichsten Erfolge gekrönt, denn er erlegte
eine Stunde nach dem eben erzählten Abentheuer einen der schönsten
und größten Seehunde, der je auf der Insel geschossen wurde. —
Unsere Fischerpartie war eine der lohnendsten in jeder Hinsicht.
Bei der Hinausfahrt in das ewig wechselvolle Meer ergötzten wir
uns an dem prachtvollen Anblick der in Unmasse herumschwimmenden
Medusen; unter den Meeresbewohnern, die ich bis jetzt zu Gesicht
bekommen, unstreitig die prachtvollsten. Wie bewegliche, bunte, in
dem frischesten Farbenschmelz erglänzende Glasglocken, schwimmen sie
unter der Oberfläche des Wassers. Aus der Höhlung dieser halb-
kugelfönnlichen Wunderthiere hängen eine Unzahl Fäden herab, wel¬
che sie als Nuder gebrauchen. Bringt man eine dieser „Mceresblu-
mcn" aufs Trockne, so verwandeln sie sich in eine unförmliche, kleb¬
rige, gallertartige Masse, welche Hei dem Wiedereinsetzer in ihr Ele¬
ment augenblicklich wieder die reizendste Gestalt annimmt. Einige
derselben z, B. die weißen, darf man jedoch nicht ungestraft ihrer
nassen Heimach entziehen, denn die Berührung derselben bringt auf
der Haut des Menschen einen brennenden ziemlich lange anhaltenden
Schmerz hervor, ähnlich der Wirkung einer starken Auflage von Senf¬
mehl und Essig. Auch Seeigel, deren stachlichte Hornpanzer in den
schönsten Rosafarben schillern, schwammen in Menge umher.
Unser Fang war sehr ergiebig, wir erbeuteten in Zeit von zwei
Stunden über hundert Dorsche, eine Seezunge, ein paar Schellfische,
eine Steinbutt, und mein Reisegefährte Herr Kühl von Leipzig fing
unter allgemeinem Jubel ein prachtvolles Exemplar des wunderbaren,
gehörnten und mit den Fledermausflügeln ähnlichen Flossen versehenen
grünen Fisches: Seeteufel, benamset. Da Kühl sich denselben
ausstopfen läßt, so werden seine zahlreichen Hausfreunde bald Gele¬
genheit haben, dieses kleine Ungethüm in Leipzig zu bewundern.
Die ganze Fahrt war übrigens so lustig und anregend, daß wir
uns für den nächsten heiteren Tag eine Schaluppe bestellt haben, auf
welcher wir weit hinaus in der See auf Haifische Jagd machen wol¬
len. Erschrick nicht, theilnehmender Leser! Die Haisischgattung, welche
hier gefangen wird, ist nur ein und einen halben Fuß lang, und
außer der Gefahr für den Unvorsichtigen, beim Ablösen der Angel
tüchtig in den Finger gebissen zu werden, haben wir keine andere zu
fürchten.
Heute sing el» Fischer eine Hummer von einer Lange von 26
Zoll, ein wahrer Krebögoliath. Der Fang dieser Delikatesse geht zu
Ende, denn da sich diese Thiere jetzt ihrer Schaale entkleiden, ist der¬
selbe für die Zeit von zwei Monaten verboten. Man erhascht sie
in Netzen, welche die Form von Fässern haben, die durch drei Reifen
erhalten wird, und an den beiden Enden mit pyramidenartigen Netz-
cingängen versehen sind. Die Hummer, durch den Köder hineinge¬
lockt, verwickelt sich in den Fäden der Netze, und müht sich verge¬
bens ab, den Rückweg in'S Freie zu finden. Ein glücklicher Hum-
mernfifcher kann in einer hellen Mondnacht — die beste Zeit des
Fanges — Zwölf bis 15 Stück erbeuten, welche, je nach der Größe,
hier von einem Mark bis zu einem preußischen Thaler bezahlt wer-
den. Auch mit Anlegung von Austernbänken werden Versuche ange¬
stellt, um der Leckerhaftigkeit der Badegäste in allen Gestalten fröh-
nen zu können.
Bei unserer Heimfahrt machte uns der liebenswürdige Badearzt
Herr Dr. v. Aschen auf ein neues seltnes Wunder des Meeres
aufmerksam. Wir erblickten nämlich mitten ans dem Wasser eine
Luft Hebung, von den Helgolandcrn „Kinn" genannt, eine Er¬
scheinung, die mit der bekannten l'.den um-Ain-l eine merkwürdige
Aehnlichkeit hat. Die, sonst außer jedem Gesichtskreise liegenden, Ufer
des Landes zwischen der Elbe und der Weser werden mit ihren Bäu¬
men, Thürmen und Häusern plötzlich dem unbewaffneten Auge in
überraschender Klarheit sichtbar, und scheinen aus der Fluch empor¬
zusteigen, in welche sich die ganze Erscheinung — gewöhnlich der Vor¬
bote eines nahen Sturmes — nach kurzer Zeit wieder hinabsenkt. -
Der Preis der Lebensbedürfnisse auf Helgoland ist in Deutsch¬
land als übermäßig theuer verschrien. Ich kann dies nicht finden.
Man kann mit vier Thalern des Tages, mit Einschluß des Bades,
der Vergnügungen und gänzlicher sehr komfortabler Verpflegung ganz
anständig auskommen. Bedenkt mau, daß die geringste Kleinigkeit
wenigstens 24 Meilen weit mit hierher gebracht, und 176 Stufen
hoch heraufgeschafft werden muß, so wird man die Theuerung, welche
der in allen großen Städten das Gleichgewicht hält, gewiß nicht über¬
trieben nennen. Unendlich wohlthuend ist die allgemein hier herr¬
schende wahrhaft holländische Reinlichkeit.
Helgoland ist ein Stapelplatz für alle Bücher, welche in den
verschiedenen deutschen Vaterländern verboten worden. Anastasius
Grün'S Spaziergänge und Heinzen's Bureaukratie, Hofmann v. Fal-
lersleben und Wallesrode, Oesterreichs Zukunft und Detmolds Rand¬
zeichnungen, Heine's Deutschland und Freiligrath's Glaubensbekennt-
niß, alle, alle liegen sie hier friedlich an dem Schaufensterchen eines
kleinen FiliallädchenS. und harren des Käufers, der sie wieder zurück¬
dringt nach Germania. —
Auf der heute endlich zu Stande kommenden Haifischjagd machte
ich die Bekanntschaft eines Malers, der im wahrsten Sinne auf das
oft mißbrauchte Prädicati „Künstler" Anspruch machen darf. Er
heißt Gätke. Liebe zur Natur und zu seiner Gattin, einer reizen¬
de» Helgoländerin, fesseln ihn an die Insel, deren großartige Schön¬
heiten sein Pinsel meisterhaft wieder gibt. Seine Bilder werden von
den reicheren Badegästen sehr gesucht und gut bezahlt, und zwar mit
Recht, denn der Mann erfreute sich gewiß schon längst eines euro¬
päischen Rufes, wenn er nicht fortwährend auf Helgoland lebte und
nicht zufällig ein Deutscher wäre. Er sowohl als der Badearzt Dr.
v. Aschen wirken unermüdlich für das Beste der Jnselbewohner. Der
Letztere namentlich ist in jeder Beziehung die Seele des kleinen Länd¬
chens. Glühender schwärmt nicht der leidenschaftlichste Bräutigam für
seine erste Flamme, als Aschen für sein heißgeliebtes Helgoland; und
mit der bereitwilligsten Uneigennützigkeit findet der des Rathes Be¬
dürftige so wie der wirklich Nothleidende jeden Beistand, den der
tüchtige Arzt und der wackere Menschenfreund nur zu geben im
Stande ist.
Wir fuhren zum Fange der kleinen gefräßigen Ungeheuer auf
einer Schaluppe, der „König von Preußen" benannt, mehr als zwei
Meilen weit in die See hinaus. Das Fahrzeug trägt an seinem
Schnabel folgende naive Inschrift:
„Gott wolle Alle bewahren,
Die mit dem König von Preußen zur See fahren."
Die Haye werden an einer ungeheuer langen Schnur gefangen,
von welcher I4öl) ziemlich starke Angeln in allen Richtungen aus-
laufen. Das ganze Geräthe wird an einer leeren Tonne und einem
kleinen Anker befestigt, in's Meer hinausgeworfen, und dann die
Schnur unter dem Schiffe durchgezogen. Die gefangenen Fische wer-
den «Ulf diese Weise gekielholt. Von der ungeheuer frechen Raub¬
gierde dieser Fischpiraten bekamen wir eine Idee durch den Umstand,
daß die Schellfische, welche schon an unseren Angeln festsaßen, durch
die Haye während des Heraufziehens aus dem Wasser theilweise bis
an den Kopf abgefressen wurden. Die Kleinen scheinen blos zur
Erhaltung der Großen da zu sein — ein Bild des Lebens. — Die
größeren Fische werden an daS Schiff herangezogen und von den
Fischern dann mit ungemeiner Geschicklichkeit mittelst einer Harpune
in dasselbe hineingeschleudert. Auch ein Kabeljau von immenser
Größe wurde auf diese Weise erbeutet. Mir wurde die Lust an die¬
ser Jagd auf wahrhaft abscheuliche Weise verleidet. Madame See¬
krankheit gab mir, die bis dahin ihre Macht über mich höhnisch ver-
läugnet hatte, auf wahrhaft malitiöse Weise den Glauben in die
Hand. Der heftige Wind und das starke Schaukeln unseres vor
Anker liegenden Fahrzeuges erregten eine Empfindung in mir, für
deren Unannehmlichkeit keine Beschreibung ausreicht.
Ich weiß mich noch zu erinnern, daß ich mich über unseren
reichen Fang ungemein ärgerte, und nur darin einigen Trost fand,
daß Freund Kühl und eine junge liebenswürdige Dame unserer Ge¬
sellschaft noch weit mehr krank wurden als ich. Dann freute ich
mich recht boshaft, daß ein gefangener Hay einige bereits verschlun¬
gene Dorsche wieder von sich geben mußte. Bei den Fischen brachte
der trockene Boden dieselbe Wirkung hervor, welche das nasse Ele¬
ment bei ihren Peinigern erregte. —
Sonderbar, schon der bloße Anblick des noch weit abliegenden
Landes bannte das geheimnißvolle Uebelbefinden wie mit Zauber¬
kraft und ich befand mich im Augenblicke so frisch und munter, als
ich nur je gewesen. —
Einer unserer heutigen Fahrleute, der Schiffer Martins, hat vor
vierzehn Tagen einen Bruder verloren, der bei einer ähnlichen Partie
ertrank. Der Unglückliche stürzte durch Zufall aus der Schaluppe.
Ein vortrefflicher Schwimmer, hielt er sich neben derselben zwei Stun¬
den lang über dem Wasser, ohne daß ihm die Wuth des Sturmes
erlaubte, an Bord zu kommen. Die ungeheuren Wogen, welche das
Schiff fortwährend weg schleuderten, verhinderten, daß ihm ein ret¬
tendes Seil zugeworfen werden konnte, und so mußte der bedaurungs-
werthe Martins den eigenen Bruder vor seinen Augen versinken
sehe», ohne ihm helfen zu können. Er erzählte uns, der Arme habe
»ach zwei Stunden nutzloser und verzweiflungsvoller Anstrengung ihm
zugerufen: „Lebe wohl, ich sehe, Du kannst mich nicht retten, so will
ich meinen Leiden ein Ende machen. Lebe wohl, Bruder, und bete
für mich!" Nach diesen Worten tauchte er unter, in wenig Sekun¬
den waren nur noch die schweren Wasserstiefel sichtbar, und „auf
diese Art," schloß Martins seine Erzählung, „ist wieder ein braver
Seemann in seinem Berufe gestorben." Nicht einmal die Leiche des
Unglücklichen wurde mehr gefunden.
Auf dem so eben angekommenen Dampfschiffe befanden sich meh¬
rere Kunstnotabilitäten: Hofrath Mosen von Oldenburg, die Herren
Houel und Harrys aus Hannover, die Sängerin L. Tuczeck, und
wie ich eben höre, Hofmann von Fallersleben. Die heute (10. Juli)
auSgegegebene Liste zählt schon über 400 Badegäste.
Helgoland hat in der Person des ehemaligen Schifföcapitain
Heilens einen Nationaldichter, auf welchen es stolz sein kann.
Dieser einfache Seemann, welcher ganz ohne alle Schulbildung auf¬
gewachsen, faßt mit feuriger Phantasie und vom poetischen Drange
getrieben, alle die reichen Naturwunder seines Heimathlandes auf,
und schildert sie mit großer Lebenswahrheit in seinen Dichtungen.
Eine Sammlung derselben gäbe eine Reihe Genrebilder von Helgo¬
land, welche für die Freunde dieses Eilandes — und deren hat es
so viele als Besucher — von größtem Interesse sein müßten. So
las er mir ein längeres erzählendes Gedicht: „Der Sturm" vor,
welches bei aller Unbeholfenheit der Form durch die lebendige Kraft
des Ausdruckes und die erschütternde Wahrheit der Schilderung die¬
ses großartigen Momentes im höchsten Grade anzieht. Diese Wahr¬
heit finden wir auch in einem von demselben Heikens geschriebenen
Büchelchen: „Helgoland und die Helgolander/' welches A. Stahr
in Oldenburg vor kurzer Zeit der Lesewelt übergab. Sollte ein Buch¬
händler Lust haben, die Gedichte dieses interessanten Mannes zr;
veröffentlichen, so wird er dem Naturfreunde einen Dienst, und dem
wackern Heikens durch Zuweisung eines bescheidenen Honorars eine
wohlverdiente Freude bereiten. Als Probe ist der Verfasser dieser
Skizzen gern erbötig, das oben berührte Gedicht: „Der Sturm," auf
Verlangn, zur Ansicht einzusenden. Ein zweites setze ich hier bei,
leider nicht, weil es das beste, sondern weil es daS kürzeste ist, und
der Raum dieser Blätter mir den Abdruck eines größeren Gedichtes
kaum gestatten dürfte:
Ich stand am Felsenrande
Im nächtlichen Gewände,
Den Blick zum freien Dom,
Hier wogte in der Ferne
Das Nordlicht zwischen Sterne
Und spielte glänzend in den Strom.Ich fühlte mich erhoben,
Den Schöpfer hoch zu loben,
Der dieses Wunder schuf.
Und alle seine Werke,
Die ich mit Staunen merke,
Bezeugen seiner Allmacht Ruf.
Wer mißt die weißen Streifen,
Die bis zum Zenith schweifen
Und dann im All entfliehn!
Ich sah die Farben flimmern,
Bald gelb, bald röthlich schimmern,
In wechselnd' Glanz vorüber zieh'n.
Mein Blick im großen Raume,
Hielt starr im Fiebertraume,
Begriffen im Gebet.
Und mächtigem Gefühle,
In stiller Abendkühle
Bewundernd Gottes Majestät.
Wer kann die Wunder fassen,
Die Gott in reichen Maaßen
Durch die Natur befiehlt.
Vom Nordpols Eisgefilde
Erscheint uns Gott im Bilde,
In dessen Hand das Nordlicht spielt.Ja! ihm sei Preis und Ehre,
Dem Herrn der Weltcnhecre,
Ihm bring' ich meine» Dank.
Ihm weih' ich Dankeszährcn,
Er wird mein Loblied höre».
So donc laut denn mein Gesang! —
Das Dampfboot ruft mit Kanonendonner die Säumigen an
Bord. Ich bin einer der Letzten, die den flüchtigen Fuß von dem
lieb gewonnenen Wunderlande wenden, um sich im rauschenden Fluge
zurückbringen zu lassen, in den betäubenden Strudel des Alltags¬
lebens.
Lebe wohl, friedliche Insel! Gott schütze dich vor bösen Stür¬
men und den verderbendrohenden Wellen, die grimmig an deinen
Grundvesten wühlen und die nassen Arme gierig nach deinem Besitz
ausstrecken! Gott schütze dich! Muß jedoch die rasende See ein
Opfer h.ihm, nun so reiße sie die Spieltische und die Bankhalter
sammt ihren Knechten hinab in den tiefsten Meeresgrund, mögen sie
dort gebettet bleibe», bis zum Ende aller Tage, ihnen zur gerechten
Strafe, ihren Naubgenosse» im lieben Vaterlande zum warnenden
Beispiel. Ane»! —
Der Geschichlstrom unsers Jahrhunderts, der vom Blut der Völker
geschwellt mit hochbrausenden Wogen über die Welt stürmte, hat sich in
die Tintenfässer der Diplomaten verlaufen. Die runden Tische der Mi-
lüsterconferenzen oder wohl gar die Fensternischen, in denen man nach
diplomatischen Schmäusen die Zähne stochert ur d nebstbei Völker zer¬
reißt und Reiche flickt, oder noch häufiger die Liegsessel diplomatischer
Weiber, die bekanntlich sehr geschickt und gern ihre Eroberungen mit
denen ihrer Ehegatten zu vereinigen wissen, das sind die Schauplätze
unserer Weltgeschichte. Mit wenigen Ausnahmen sind die Völker auf
dem Welttheater wieder nichts als Statisten und Handlanger oder
höchstens Zuschauer, die für ihr gutes Geld mit entblößtem Haupt
ansehen dürfen, was man außer den Coulissen geschehen zu lassen
für gut findet, die auf alle Weise verpflichtet sind, aus Leibeskräften
zu klatschen, aber bei schweren zeitlichen und ewigen Strafen nicht
zischen dürfen. Diese Klage aber sprechen wir nicht blos zu Gunsten
der Volker aus, sondern im selben Maaße und mit derselben Dring¬
lichkeit zu Gunsten der Fürsten, welche heutzutag in dem Weltschau-
spiel ebenfalls keine andere Rolle spielen, als daß sie dabei eben in
der Hofloge sitzen. Und dies alles gilt nicht etwa blos von absolu¬
ten Staaten, sondern auch von den konstitutionellen; der Unterschied
der letztern besteht nur darin, daß hier die auserlesene» Inhaber von
Logen und Sperrsitzen in den Zwischenakten des Schauspiels über die
Akte laut und möglichst weitschweifig reden, über die kommenden Akte
Vermuthungen und bescheidene Fragen aussprechen und höchstens mit
einigem Brummen und Poltern verlangen dürfen, daß der Vorhang
endlich einmal aufgezogen werden möchte, was aber alles Schreiens
ungeachtet keineswegs früher geschieht und aus höheren Rücksichten
geschehen kann, als bis eben nur das zu sehen ist, was allein man
Höhen, und immer höhern Rücksichten sehen lassen zu können in der
augenblicklichen d. h. ewigen Lage ist.
Man wird die bittere Wahrheit des Gesagten nicht leugnen kön¬
nen, aber zu ihrer Entkräftung und Entstachelung hervorheben, daß
sie eben mir in Bezug auf das Aeußere der Staaten gelte, wo sich
die Sache nun einmal aus höhern Rücksichten nicht anders machen
ließe. Aber diese politische Aeußerlichkeit ist eben die Hauptursache
all' unsers politischen Elends. Wie sehr dieses Aeußere alles Innere
der Staaten hemmt und stört, drückt und fast ganz aufzehrt, das kann
jeder wahre Minister des Innern bezeugen, das fühlt mit Schmerz
und Zorn jeder Mann, der für das Innere seines Staates ein In¬
neres, ein Herz hat.
Unsere Regierungskunst arbeitet schon in dem Sinn mehr nach
außen, als nach innen, daß alle innern Angelegenheiten größtentheils
nur nach ihrer Außenseite beurtheilt und für die Außenseite eingerich¬
tet werden. Aeufierer Schein und Schimmer ist so vorherrschend der
Hauptzweck unsrer Regierungsweisheiten , daß wir es auf diesem Wege
bald dahinbringen werden, und in manchen Stücken schon dahinge¬
bracht haben, jenen Stutzern zu gleichen, die zwar einen feinen mo¬
dernen Rock, aber ein schmutziges und zerlumptes Hemd auf dem
Leib haben. Klagen aber aufrichtige Patrioten über dieses gefähr¬
lichste der staatsgefährlichen Uebel, welches dem Volk das Mark des
Lebens aussagt, weil es erstlich die Kosten des öffentlichen Prunkes
tragen muß und dann durch diesen zu einem ähnlichen Privatprunk
verführt wird; klagen ehrliche Vaterlandsfreunde über dieses Uebel
und weisen dabei auf die Vcrarmlmg und Entsittlichung des Volkes
hin, so zuckt man, wenn es gut geht, die Achseln und spricht feier¬
lich: „Wahr, wahr! es macht uns oft ein nicht gewöhnliches Herz¬
leid, denn wir habe«, weiß Gott, auch ein Herz, aber — die hö¬
hern, die äußern Rücksichten!"
Unter diesem StaatSübel leiden aber nicht nur die Völker allein,
sondern in gleichem, ja persönlich noch gefährlicheren Grade auch
die Negentenfamilien, und zwar aus eine um so verderblichere Art,
je weniger gemeiniglich auf dieser Seite ein klares und lebhaftes Be-
wußtsein deö gemeinsamen Leidens vorhanden ist und eben der ver^
blendeten Ursachen des Uebels wegen vorhanden sein kann.
Die Geschichte zeigt in mehrern erschütternden Beispielen, daß
die Leiden der Völker, wenn sie ihren Gipfel erreichen, immer zuerst
diejenigen vernichten, die auf dem Gipfel des Staates stehen. Ver¬
schlimmert sich die Krankheit eines Staatskörpers bis zu dem Grade,
daß die verhängnißvolle Krisis des Entweder-Oder eintreten muß, so
entscheidet sich diese immer und überall so, daß die Völker, freilich
nach feierlichen Schmerzcnszuckungen, wieder gesunden, die Regierun¬
gen aber, wenn nicht plötzlich und völlig zertrümmert, so doch in
ihrem Lebensnerv entkräftet und für immer in eine klägliche und qual¬
volle Schwebe zwischen Leben und Sterben gebracht werden.
Zu diesem äußern Scheinleben, welches in so vieler Hinsicht den
erzwungenen Kraftäußerungen gleicht, durch welche kranke Personen
sich über ihren traurigen Zustand selbst zu täuschen suchen, kommt
nun noch das eigentlich äußere, das diplomatische Staatsleben, welches
in der Geschichte unserer Zeit alleinherrschende Allmacht errungen hat,
welches sich als der wichtigste Höhenpunkt der politischen Wirksamkeit
geltend zu machen weiß und von der blödgläubigen Welt als Inbe¬
griff aller Staatsweisheit bewundert und bezahlt wird. Welch' ein
Ansehen tiefsinnigster Weisheit und weltgeschichtlicher Wichtigkeit geben
sich Personen des diplomatischen Corps, deren einziges Verdienst oft
darin besteht, daß sie Salonhelden sind. Welch' ein ungeheurer Auf¬
wand für Geschäfte, deren Natur und Wesenheit der große Churfürst
treffend durch die Aeußerung »«zeichnet, „er habe kein Geld, um dafür
an fremden Höfen Komplimente machen zu lassen." Und wie lächer¬
lich demüthig blickt die Welt zu dieser diplomatischen Geheimnißkrä-
merei auf! Wie feierlich verkünden es die Zeiiungen der bangen Welt,
wenn dieser oder jener Gesandte mit diesem oder jenem auswärtigen
Minister eine Unterredung gehabt. Nun wird die Weltgeschichte eine
neue Epoche beginnen — inzwischen haben die beiden Herren einen
Pferdehandel abgeschlossen oder die Reize einer Tänzerin gepriesen.
Welch' ein wellhistorisches Ereigniß, wenn ein N. N.scher Eilbote
durch diese oder jene Stadt gekommen! Was für verhängnißvolle De¬
peschen mag der Mann überbringen? — inzwischen besteht sein Eil¬
geschäft darin, dem Minister die in Paris geglättete Wäsche, der
Ministerin den jüngsten Modchut und andern hohen Herrschaften rund-
tige Vorräthe von Schmuggelwaaren zu bringe». — Doch wir wollen
gerecht sein. Die Diplomaten haben sehr viel zu thun, — man lese
nur ihre Noten und Gegcnnoten, Ultimatums und Riesenbandwurm-
protokolle — aber was ist das Resultat dieser angestrengten sorgen¬
vollen hochweisen Thätigkeit? — Sie arbeiten rastlos dahin, daß alle
Weltfragcn eben Fragen, alle Bedürfnisse Bedürfnisse, alle Aufgaben
Aufgaben bleiben, kurz ihre Thätigkeit besteht im Nichtsthun.
Und dann wundert man sich, bedroht, bestraft es, wenn irgend
ein ehrliches Gemüth durch diese für Fürsten und Volker lebensge¬
fährliche äußerliche Wirthschaft außer sich gebracht wird.
Die Düsseldorfer Kunstausstellung bietet in diesem Augenblick
ein paar sehr interessante neue Erscheinungen, und lockt viele Besuche
von nah und fern. Jeder will „das große Bild" sehen, von dem
man schon so viel Schönes in öffentlichen Blättern gelesen, und wer
nichts von diesen Borläufern der Kritik weiß, läßt sich durch den
Ausruf „es ist ungeheuer groß, 16 Fuß lang und 12 Fuß hoch"
enthusiasmiren. Da drängt sich nun das schaugierige Publikum aus
den großen Galleriesaal an allen kleinen Bildern vorbei in den letz¬
ten Saal hinein, man hört von jedem Eintretenden ein leises oder
lautes „ah!" und dann sieht man die Aufmerksamkeit an jedem ver¬
wundert geöffneten Munde. Das große Tableau von Carl Schorn
„die gefangenen Wiedertäufer vor dem Bischof von
Münster" steht vor uns, und der erste Eindruck desselben ist in der
That überaus imposant. Wir haben von Berlin aus verschiedene
Beschreibungen dieses Kunstwerks gelesen, worunter eine sehr aus¬
führliche des Herrn von Sternberg im Morgenblatt, die überreich
an originellen Wendungen, ihre Wirkung in der „gebildeten Leserwelt"
gewiß nicht verfehlen wird. Man hört gern das Urtheil eines geist¬
reichen Dichters über einen Künstler, es sind da verwandte Naturen
und der Eine kann sich recht tief in die Seele des Andern hinein¬
denken; aber wir baben nicht immer einen Hogarth und Lichtenberg
zusammen, und lassen uns nicht immer bei jeder Unbedeutenden in
Entzücken versetzen. Blumenreicher Styl, so sehr er die Novelle zieren
mag, ziert nicht immer die Kritik, und wenn der beurtheilende Dich¬
ter seine Worte vom Parnaß herunter holt, um das materiellste der
Malerei, die Farbe damit zu schmücken, so arbeitet er für die nüch¬
tern-prosaische Menschheit vergebens. Herr von Sternberg nennt die
Farben-Harmonie im Schorn'schen Bilde: „Farben-Ehen, im Himmel
des guten Kolorits geschlossen," und doch weiß Jeder, daß der Prie¬
ster, der diese Ehen einsegnet, ein Pinsel ist; derartige poetische Bil¬
der gehören so gut in das Gebiet der Schwärmerei, als die Geschichte
der Wiedertäufer.
Prachtvoll sind indeß die Farben trotzdem; wir gestehen auch
gern ihre Harmonie zu, behalten uns aber vor, den Mangel tiefer
Schatten und dunkler Partien zu rügen; das Auge findet bei der
stets bunten Abwechslung nirgends Ruhe, zumal es auf der ganzen
Darstellung umherint, ohne von einer besonders hervorstechenden Gruppe
gefesselt zu werden. Bei einem vollendeten Meisterwerke erregt der
Mittelpunkt, die Hauptsache, stets am meisten unsere Aufmerksamkeit,
wir heften den Blick noch lange darauf, wenn wir mit der Umge¬
bung schon fertig sind. Hier sehen wir die drei Helden des Trauer¬
spiels, den Schneiderkönig, Knipperdolling und Krechting in der Mitte,
aber sie tragen die Pointe des Ganzen nicht in sich; wir gehen von
ihnen zu der feindlichen Partei, zum Bischof mit seinem Anhang über,
und wissen nicht, welche von beiden wir verdammen sollen. Fragt
uns Einer nach dem Titel der Darstellung, so können wir ihm zweier¬
lei Antworten geben; entweder, wie der Künstler „die gefangenen
Wiedertäufer vor dem Bischof" oder ebenso richtig „der Bischof em¬
pfängt die gefangenen Wiedertäufer." Man benennt einen Gegen¬
stand nach der Hauptsache — hier wissen wir nicht, wo sie steckt;
das pro und contra ist hier nicht entschieden. Es ist dies ein um
so größerer Fehler, als die Geschichte uns keinen Augenblick in Zwei¬
fel läßt, auf welcher Seite das Recht gewesen.
Herr von Stein rügt diese verfehlte Auffassung ebenfalls; unter
der Corporation des Clerus ist keine einzige edle Figur, kein edler
Kopf. Der Bischof trägt satanische Züge, er ist ein diabolisch-hä¬
mischer Tyrann, der Capuziner hinter ihm streckt seinen Orangutang-
Kopf widerlich vor, und die älteren Geistlichen zur Seite überbieten
sich er abschreckenden Fratzen. Jenseit des Thrones grinsen andere
Scheusale aus Kutten und Chorröcken uns an, und wer es aus der
Geschichte nicht besser weiß, wünscht diese Schurken mit Ketten bela¬
den zu sehen, statt der wirklichen Verbrecher. Kein Wunder also,
wenn, wie Referent zufällig hörte, ein paar schlichte Beschauer auf
die Gruppe der Wiedertäufer deutend ausriefen: „Die armen Leute!"
Es scheint in der That, als habe der Künstler für diese unser
Mitleiden in Anspruch nehmen wollen; den hübschen jungen König
von Zion, der von dem ganzen Kreise seiner häuslichen Freuden,
von allen diesen Weibern umgeben, gefesselt lind vernichtet dasteht,
möchten wir gern bedauern. Auch thut eS uns leid, daß ein so
prächtiger Ritter, wie Knipperdvlling seiner Faustmacht beraubt ist;
und doch haben diese Männer die unerhörtesten Scheußlichkeiten be¬
gangen. Diesen Gedanken läßt der Darsteller gar nicht aufkommen,
er zerstreut uns augenblicklich durch die wunderbar schönen Wciber-
figuren, und wir dürfen mit diesen ein historisches Mitleiden haben,
denn sie waren nur Werkzeuge des sinnlichen Nadelkönigs. Unter
ihnen rühmt Herr von Stein mit Recht eine hohe Blondine, deren
im Zorne verschönerter Ausdruck zu sagen scheint, sie begreife nicht,
daß man ihren stolzen Reizen hier kein Erbarmen zolle. Die In¬
tention dieser Figur ist ausnehmend fein gefühlt, und wir mochten
sie die gelungenste des Ganzen nennen. Für andere, ebenfalls sehr
schöne Einzelheiten gebührt dem Künstler die lebhafteste Anerkennung;
so sind zwei Pagen des Bischofs ungemein lieblich. Die schönen
Kinder sitzen auf der untern Stufe des Thrones und spielen mit
den auf einem Tabulet liegenden Kleinodien, Reichsapfel und Schlüs¬
sel; unbekümmert um das ganze Schauspiel vor ihnen, tändeln die
Unschuldigen mit den wichtigen Gegenständen des Kampfes, harmlos
lächelnd ergötzen sie sich an deren goldenem Schimmer. Die Gruppe
zeigt von dem sehr reichen Geiste des Künstlers, der seinen Gegen¬
stand auf jede ordentliche Art ausbeutet; hat er doch auch den Trä¬
ger der Komik, den Schalksnarren in die tragische Scene verfloch¬
ten! Dieser lachende Mephisto witzelt in komisch vertracter Stellung
über das Ende der Herrlichkeit seiner Gefangenen und äußert sein
ironisches Mitleiden über den zersprengten Harem des Königs.
Gehen wir auf das Ganze zurück, fragen wir: was war die
Aufgabe, welche Grundidee mußte den Darsteller leiten? Die Ant¬
wort lautet: er sollte den Triumph der Gerechtigkeit über die niedrig
entartete Leidenschaft schildern. So will es die Geschichte, aber der
Künstler hat es nicht gewollt. Er machte seine Verbrecher zu Mär¬
tyrern, seine Sieger zu Tyrannen; warum das? fragt man vergebens.
Welche Schuld will der Maler dem Clerus aufbürden, welche Ver¬
zeihung für die Besiegten in Anspruch nehmen? — Wir denken hier
unwillkührlich an einen ganz entgegengesetzten Gegenstand, an die
Geschichte deS Huß und an Lessing'ö Darstellung; ja, hier waren
abschreckende Physiognomieen am Platze, hier verlangt man das In¬
teresse für den schwächer» Theil. Hier triumphirt der verstockte Fa¬
natismus, die sinnliche Leidenschaft über die rein geistige Beharrlich¬
keit eines edeln Mannes — bei den Wiedertäufern trug die gerechte
Sache über die elende Ausschweifung den Sieg davon. Und doch
sollte man meinen, Schorn habe an Lessing'S Clerisei gedacht, oder
gar scheußliche Pfaffen für „zeitgemäß" gehalten. Derartige Ver¬
besserungen der Geschichte zu rügen- ist aber nicht minder an der
Zeit. -
Sehen wir nnn von der verfehlten Auffassung ab, so müssen
wir in Einverständniß mit allen Beschauern das Gemälde sehr schön
nennen; wir sind nicht befriedigt, sagen aber dennoch beim Abschiede:
ein schönes Bild..
Wir drängen uns durch die dichte Menge der Bewunderer, und
folgen dem allgemeinen Treiben zu, dem zweiten Anhaltspuncte der
Schaulustigen. Wie klein, wie winzig erscheint dieses Gemälde ne¬
ben dem ungeheuern Tableau! kaum hat es den vierten Theil jener
Größe, und doch fesselt es dieselbe Zuschauermenge. Gleichwohl hat
die Gallerie im großen Saale eine bedeutende Anzahl anderer Bilder,
die zum Theil noch umfangreicher sind, wie dies hier; vom „großen
Bilde" ließt ihr Euch anlocken, jetzt schaart Ihr Euch ebenfalls vor
diesem kleinen? „Es geht nicht zu mit rechten Dingen."
Um aber dem Leser diese auffallende Erscheinung begreiflich zu
machen, sagen wir ihm, daß von einem netten Bilde Carl Hübner's
die Rede ist; es heißt „Jagdrecht."
Wir machen einen riesigen Uebergang: aus dem Mittelalter,
über drei Jahrhundert hinweg in die neueste Gegenwart, aus tun
prächtigen Saale zu Münster kommen wir an eine armselige Hütte,
von stolzen Rittern zu niedern Bauern. Unser Weg führt zu einem
Felsen hinauf, dessen natürliche Wände die Hütte einschließen; links
dehnt sich ein Kornfeld vor unsern Allgen und den Hintergrund be¬
gränzt ein hoher Wald. Nun die Scene! Die Hütte bewohnt ein
Kossath, ein Lehnsbauer von der ärmsten Classe, der vom Ertrage
des vor uns liegenden Ackers kümmerlich lebt. Der Acker ist seine
Goldgrube, sein Schatz, sein Alles; reiche Ernte versprechend wat-
im die üppigen Aehren im leichten Winde, ein Schweißtropfen des
Landmanns klebt an jedem Halme, darum prangen sie auch so herr¬
lich golden, diese Träger seines bescheidenen Glücks. Wohl mag der
Arme manchen Abend nach vollbrachter Arbeit das Grundstück wohl¬
gefällig betrachtet haben, wie es erst zu keimen begann, was er dem
Schooße anvertraut, wie es lustig aufschoß, bis der Schnee des
Winters es bedeckte, wie es dann doppelt dicht hervorbrach aus der
harten Rinde bis die Aehren sich entwickelten, bis sie blühten voll
und reich wie seine Hoffnung. Mußte er nicht stolz sein auf so
schonen Lohn seiner Mühe, war nicht jedes Hälmchen sein eigen,
dachte er nicht bei jeder vollen Aehre: die verdankst du deinem Fleiße?
Und die prächtigen Cvanen dazwischen, blau wie der Himmel über
ihnen, wie schmücken sie die hohen Reihen der Halme, wie werden
die Kinder Kränze daraus flechten, wenn die Zeit der Erndte kommt.
Er hofft auf diese Ernte seit einem Jahre, diese Hoffnung hat ihm
im Herbste die Mühe, im Winter die Kälte und den Hunger erträg¬
lich gemacht; er hat auf diese Hoffnung hier in Augenblicken der
Noth die Mittel zur Erhaltung des Lebens geborgt, er hat einen
Theil des zu erwartenden Schatzes bereits verpfändet, er muß ihn
also erlangen, es kann nicht fehl gehen. Wer gesäet hat soll ern¬
ten, sagt ja das Wort des Schöpfers — und doch! — Hier soll eS
nicht sein!
Aus dem nahen Forste kam der Feind; ein Eber zerwühlt mit
gewaltigem Hauer die dicht bewachsenen Schollen des Feldes, und
was die Arbeit vieler Tage geschaffen, liegt in Wenig Minuten zer¬
stört, verloren! Der unglückliche Bauer sieht die Verwüstung, sieht
die Bestie mit jedem Augenblicke ein Stück seines Eigenthums ver¬
derben, bald Wird der halbe Acker ruinirt, die halbe Ernte zerstört
sein. Da kocht ihm das Blut, seine Hand zittert, er ergreift die
Flinte, eilt hinunter und erlegt den gefährlichen Feind. Das Echo
des Felsens verdoppelte den Knall des Gewehrs — da schmettert
ein Jägerhorn dazwischen, Hunde bellen und im Nu treten mehrere
Jäger aus dem Walde hervor; sie eilen auf den Ort zu, von wo
der unberufene Schuß kam, hoch zu Rosse sprengt ein Cavalier in's
Saatfeld hinein, neben ihm ein Jäger mit gespanntem Hahn. Der
Arme hat in ihre Rechte eingegriffen, denn um schädliche Bestien
todten zu dürfen, muß man nicht blos Mensch, das heißt Herr der
Schöpfung, sondern auch Jäger, das heißt privilegirter Herr der
Schöpfung sein. Dort ist die Macht, ihm bleibt nur die Flucht —
er ergreift sie; sein Sohn unterstützt ihn, er zieht den schwerfälligen
alten Mann rascher voran, der Haltruf der Jäger wird nicht gehört.
Aus allen Kräften stürzen die Flüchtigen ihrer Hütte zu, schon sind
sie davor, schon erreicht der Sohn die Thür mit der Hand — da
kommt die tödtliche Kugel des Jägers und trifft den Alten in'S Genick.
Diesen Moment hat Hübner aufgefaßt; im Vordergründe zeigt
er uns die flüchtigen Bauern, wir haben die gräßliche Scene nahe
vor Augen, in der Ferne steht der kaltblütige Jäger, der eben den
Schuß gethan, und neben ihm der stolzprunkende und auf seinem
Gaule hochtrabende Cavalier. O! es gewährt in der That einen
erhabenen Anblick, dieser edle Edelmann, wie er so hübsch graziös"
sich im Sattel wiegt, wie ritterlich er den Arm in die Seite stemmt,
triumphirend darüber, daß ihm das Glück zu Theil geworden, auch
einmal so einen „Lumpenhund," der eS gewagt, eine edle Sau zu
erlegen, aus der Welt zu schaffen. Welch' ein prächtiges Jagdaben-
teuer, wie viel wird er seinen Cameraden davon erzählen können!
„Mein Jäger," wird er sagen, „ist ein famoser Schütz', er traf den
Bauer auf zweihundert Schritte, daß der Kerl zusammenknickte wie'n
Taschenmesser."
Ist eS die Vorliebe sür tragische Scenen, der Reiz des Schreck¬
lichen und schauderhaften, der alle Beschauer nach diesem Bilde
hinzieht? Wir glauben nicht; nein, es ist die Macht der Darstel¬
lung, die Gewalt deö Gegenstandes, die so direct aus dem Leben
gegriffene Wahrheit desselben. Wenn sie Thränen auspreßt, diese
Scene, wenn sie die härtesten MännerlMM bluten macht, wenn der
Ausdruck deö armen Opfers jede Brust erschüttert, so ist dies eine
unvermeidliche Wirkung; ebenso wie sie Erbitterung, ja Wuth gegen
die stolzen Mörder hervorruft.
Rede» dem Gemälde liegt eine gedruckte Ankündigung, das Bild
soll lithographirt werde»; diese Vervielfältigung ist „zeitgemäß," sie
wird eine sehr heilsame Wirkung haben. Das gibt eine passende
Zierde für die Jagdcabinette der Aristokraten, sie wird sich herrlich
ausnehmen zwischen den Hirschgeweihen und Waldhörnern dort an
der Wand.
Von der technische» Ausführung des Kunstwerks läßt sich nicht
genug Lobendes sagen, die Virtuosität der Malerei muß jeder Laie
bewundern. Wir kennen Hühner's frühere Schöpfungen, seine „schle-
sischen Weber," und „die Wohlthätigkeit in der Hütte
des Armen," beide Bilver waren schon gemalt, aber daS „Jagd-
recht" übertrifft sie in jeder Hinsicht. Der riesige Wald, das gelbe
üppige Saatfeld, der Felsen, die Figuren — Alles ist mit einer über¬
aus kräftigen und saftigen Farbe gemalt, Alles so treu nach der
Natur dargestellt, Alles so einfach mit Vermeidung jedes fremdarti¬
gen Effects, man sieht, es kann nicht besser geschildert werden.
Daß die Tendenz allenthalben anerkannt werde, dürfen wir nicht
erst prophezeien; wie enthusiastisch wurden vor einem Jahre die „schle-
sischen Weber" begrüßt, und wie gerechte Ehre gebührt dem Künstler,
'der fortfährt, mit warmem Bruderherzen für die leidende Mitwelt zu
streiten, der so lange fortfahren möge, derartige „zeitgemäße" Bilder
zu liefern, bis seine Schilderungen des Elends nicht mehr zeitgemäß
sein werden.
Auf's Tiefste erschüttert, verließen wir den Saal, durchdrungen
von der Macht der plastischen Darstellung; welche Gewalt der bil¬
dende Künstler hat, empfanden wir noch nie wie jetzt. Wir sahen
zwei Bilder, beide herrliche Schöpfungen; vergleichen können wir
sie nicht, aber unterscheiden durch die Worte: ein großes Bild haben
wir bewundert, von einem kleinen wurden wir gerührt.
„Hoffen und Harren macht Manchen zum Narren," sagt ein
Sprichwort, das sich auf Viele in und um Cöln in diesem Momente
anwenden laßt, denn was erhoffen und erharren sie nicht in den näch¬
sten vierzehn Tagen, in welchen die Königin von England dem Könige
von Preußen einen Besuch am Rhein abstatten wird. Daß dieser
hohe Besuch der Gegenstand aller geheimen und öffentlichen Bespre¬
chungen, versteht sich von selbst. Uns freut es, daß man ob den
geklönten Häuptern clam wahrhaft Gesalbten des Herrn — wir
meinen den einzigen Meister Beethoven, nicht vergißt. Am 11. Au¬
gust wird die feierliche Inauguration seines Standbildes in seiner
Geburtsstadt Bonn stattfinden und zwar unter allen nur erdenklichen
Festlichkeiten, mit den förmlichsten Iweckessen, die nun einmal zu den
charakteristischen Kennzeichen des neunzehnten Jahrhunderts gehören
und so alö i-i^ueui- sind, daß man in Bonn eher die Enthüllung des
Monumentes daran gäbe, als die Zweckessen. Die Königin von Eng¬
land wird vor dem 11. August London nicht verlassen und in Aachen
von ihrem königlichen Wirthe empfangen werden, um sie nach dem
zwei Stunden von hier gelegenen Lustschlosse Brühl zu geleiten, wo
sie mit ihrem großen glänzenden Gefolge, da sie in Preußen als Kö¬
nigin von England reisen wird, absteigt. Bei ihrer Ankunft in Cöln
werden rings von den Wallen die Kanonen donnern und die Geschütz¬
salven so lange währen, bis sie in Brühl angekommen. Ich könnte
den Grenzboten nun in aller Bequemlichkeit eine Abschrift des Fest¬
programms mittheilen, doch werden sie darauf verzichten müssen, da
Abschreiben eine-meiner größten Antipathien ist — auch haben sie dabei
nicht viel verloren, indem derartige Festivitäten sich allenthalben gleich
sehen und allenthalben das Verdienst haben, daß sie viel Geld kosten.
Ohne Paraden ist kein preußisches Fest denkbar, denn wofür hatte
man auch sonst das Militär; wer dasselbe liebt kann sein Gelüste
stillen. Wir werden auch mehrere Mann ^ni-des «In ^»ins aus
Berlin sehen; auch sind die in den Garden gedienten Leute einberufen,
um ein eigenes Bataillon zu bilden, und man hat aus den Regimen¬
tern die schönsten Leute gewählt, um in Brühl und"auf Stolzenfels
den Wachtdienst zu versehen, wie man denn auch aus dem Cadetten-
hause in Bensbcrg zwölf der größten Zöglinge ausgesucht hat, um bei
der Königin Pagendienste zu thun. In den fünf Tagen, welche die
Königin am Rheine verweilen wird, werden unter Leitung des könig¬
lichen Capellmeisters Meverbecr drei Concerte in Brühl und Stolzen-
fels veranstaltet, zu denen auch F. Lißt eingeladen ist, der in diesem
Augenblicke sich hier in Cöln von seiner spanischen Campagne erholt,
sich weidend an seinen rveorclneicnv«, denn der (^.'»mneiuiol- des Cla-
viers hat sich sicherlich nicht zu beklagen über seine I^-in-os «Is -ultor
^ lortim-t im Vaterlands der Cachucha und des Fandango. So hat
man die Wahl und kann sich ebenfalls für einen Zapfenstreich entschei¬
den, bei dem alle Trommler eines ganzen Armeecorps in volle Thä¬
tigkeit gesetzt werden sollen — die Trommelfelle des königlichen Gastes
sind zuverlässig gegen allen Schaden versichert — Kanonenschläge, die
Vaßnoten spielen und alle Regimcntsmusikchöre des achten Armeecorps
mitwirken. Hier in Cöln selbst ist Vielen ein Strich durch die Rech¬
nung gemacht worden, daß sich der König alle Empfangsfeierlichkeiten
verbeten hat. Etwas mußte doch geschehen, und darum trug unser
Oberbürgermeister im Stadtrathe auf Bewilligung eines Credites an,
der aber erst nach den heftigsten Debatten zuerkannt wurde, und zwar
erst später 6000 Thaler, da der König den Wunsch geäußert, die
Stadt noch einmal so erleuchtet zu sehen, wie bei Gelegenheit seiner
Anwesenheit im Jahre 1842, indem er der Königin Victoria kein
großartigeres Schauspiel zu bieten im Stande sei. Schreiber dieses
hat die Girandola in Rom, die großen Illuminationen in Florenz
und Mailand, die pompösesten Nachtfefte in Paris gesehen, und offen
gestanden: die Monumentalbeleuchtung Cölns von der Rheinseite, wie
er sie zweimal zu bewundern Gelegenheit hatte, übertraf Alles an
Großartigkeit und überraschender Wirkung. Diese Beleuchtung kostet
der Stadt 6000 Thaler, macht mit den für die Festlichkeiten im
Jahre 1842 verausgabten 24,000 Thalern in Summe 30,000 Tha¬
ler. Wo solche Summen einer Stadt zu Gebote stehen, da muß man
sich wundern, daß in so vielen andern Dingen mit der spießbürger¬
lichsten Filzigkeit geknausert wird, daß die Nheinmetropole in ihrem
Museum sich ein laut redendes Denkmal gesetzt, über das, was ihre
pittros cvnsLi'mei für Kunst und Wissenschaft thun, indem sie die
Waller'sche Büchersammlung mit den kostbarsten Jncunabeln, den werth-
vollen Kupferstichen gleichsam zermodern lassen, seit zwanzig Jahren
der Bürgerschaft, welcher der Erblasser sie gemacht, ganz vorenthalten,
als wenn sie nicht vorhanden? — Da wäre ein ordentlicher Stadt-
bibliotheker anzustellen, wie auch ein Nebenmann dem städtischen Con-
servator Namboux, damit jener das thue, was dieser nicht thut bei
80V Thalern festem Gehalt, und man hätte auch noch einige Thaler
erübrigt, um nach und nach die Stadtbibliothek zu completiren. ?la
llesidei la!
Da ich Sie, was man mir verzeihen wird, von Dingen unter¬
halten habe, die noch kommen werden, die noch in der Zukunft Schooße
ruhen, und bei deren Geburt noch immer die Feen Wenn und
Aber zu Gevatter stehen können, so will ich auch noch was erzählen
von Sachen, die wirklich da sind, nämlich von der siebenten Kunstaus¬
stellung des kölnischen Kunstvereins und, wenn Sie es nicht übel neh¬
men, vom Theater und dessen speculativem Director. Die Kunstaus¬
stellung — erschrecken Sie nicht, ich habe es auf keinen Kunstbcricht
abgesehen, dies besorgen bei uns die Ladenschwengel und ähnliches
Gelichrer, seit wir eine jährliche Ausstellung haben — hat in diesem
Jahre keine Brüller, keine Todtschläger, keine Bilder, die auf den
Quadratfuß gemalt sind, und es ist ganz natürlich, daß über sie von
den oben besagten Kunstrichtern und Rennern ohne alles Erbarmen
der Stab gebrochen wird, wahrend der sinnige Beschauer, der prü¬
fende Kunstfreund unter den 4W Nummern, die bis jetzt ausgestellt
sind, manche kostbare Partie herausgefunden, an gar manchen Bildern
in stillem Entzücken schwelgt, und sich durch manches Mittelmäßige
und vier bis fünf gar schlechte Bilder, die wirklich der Ausstellung
unwürdig, in seinen Betrachtungen, in seinem reinen Kunstgenusse
nicht stören läßt. Wer ist nicht gefesselt von Gurlitt's italienischen
Landschaften, Scenen, welche Meister und Stümper schon so oft
auf die Leinwand bannten und dem Beschauer in ihren unendlichen
Reizen dennoch immer neu bleiben. Welche Kraft in den Vorgrün-
dcn, welche Zartheit in den Tinten des Mittclplanes und welche An¬
muth in den Fernungen. Das ist des Südens Gluth, das ist Wahr¬
heit in Form und Farbe, ohne daß der Künstler kokettirend mit dem
Einen oder Andern blos das Auge momentan zu bestechen, zu blenden
sucht. Ich wünsche dem Könige von Dänemark Glück zu den gro¬
ßen Bilde, der Busen von Salerno, und hoffe, der Verein werde
das andere ankaufen. — Tief ergreifend ist Gallait's „Tasso im Ge¬
fängnisse von Montaigne besucht," aber zugleich abstoßend, denn es
soll die Kunst den Menschen und gerade einen so hoch begabten, den
wir uns so gern in der Glorie der Poesie träumen, wie den liebrei¬
zenden Sänger Aminta's, nicht in seiner armseligsten Hinfälligkeit
darstellen — in Tasso sehen wir schaudernd nur die morsche Hülle,
welche der Geist verlassen. Meisterhaft kühn und frei ist das Bild
gemalt, und doch war es eines der ersten, mit denen der berühmte Schö¬
pfer der Abdankung Carl's V. auftrat. Ein eben so unglücklich gewählter
Gegenstand, ist die Einsegnung einer Leiche von Schmidt in Delft
und eben so vortrefflich, so streng durchgeführt in der Ausführung.
Ueberaus wahr ist der Schmerz in den knieend betenden Kindern und
Angehörigen und dabei herrscht im ganzen Bilde ein wahrhaft magi¬
scher Farbcnschmelz von den tiefsten bis zu den lichtesten Tönen, eine
Klarheit und Milde im Helldunkel, daß man in Hinsicht der Färbung
das Bild neben die besten alten niederländischen Meister stellen darf.
Wie wahr im Ausdruck, wie edel in der Zeichnung ist der Priester,
der die heil. Wegzehrung einem Kranken im Gebirge bringt, von
Biard in Paris, ein sinniges Bild, in welchem weder Effecte noch
Colorit bestechen, das einzig durch die Wahrheit fesselt. De Kevscr'S
weibliches Porträt Kniestück gehört zu den Besten, welche ich je ge¬
sehen habe. Es ist in dem Bilde nicht darauf abgesehen, durch künst¬
liche Beleuchtung, durch kecke unnatürliche Behandlung der Schatten,
Wirkung hervorzubringen, Kopf und Arme sind im vollem Lichte mit
einer künstlerischen Gewissenhaftigkeit gemalt und die Arme und Hände
so vollendet schön, wie sie nur ein Meister alter und neuer Zeit zu
malen im Stande. Es ist ein Meisterportrat. — Viel versprechend
sind zwei Bilder von Wittkamp aus Riesenbeck: Michel Angelo, welcher
erblindet die Antike studirt und Papst Sirtus V. als Hirtenknabe
Einlaß in ein Kloster begehrt, und liebereizend die weiblichen Köpfe
von Schiavoni in Venedig, der in seiner ganzen Behandlung ein
treuer Nachahmer des großen venezianischen Meisters. Ein recht le¬
bendiges Bild ist die Tyroler Schlacht von Artaria in Mannheim,
es erinnert an die Tyroler Schlachten von P. Heß in München.
Schön gemalt ist die Dame an der Toilette von Köhler in Düssel¬
dorf, aber Lebensgröße. Nur kann ich nicht begreifen, wie man an
einen solchen Gegenstand so viele Zeit und Mühe verschwenden kann;
— es sollte einem fast bedünken, als wenn Spiegel und Schmuck die
Hauptsache des großen Bildes seien. Mit Vergnügen betrachtet man
die strafende Mutter von Duval le Camus in Paris, den Tabak¬
schnupfenden Priester von Jacquand, recht gemüthliche Bildchen. Poe¬
tisch schön ist die Ruine am See von Funk in Frankfurt, außerordent¬
lich wahr in der Wirkung eine Eiflerpartie von Saal in Düsseldorf bei
Sonnenuntergang. Das Alpenglühen von O. Ueberhand ist einer der
Vorwürfe, die kein Maler wählen sollte, denn es ist eins der großartigsten
Schauspiele der Natur, an deren Erhabenheit auch der größte Landschaf¬
ter scheitern muß, Wahr sind die Seestücke von Schotel, Dreibholtz,
obgleich es mir immer lächerlich vorkommt, wenn ein Maler nur eine,
auch die kleinste Erscheinung des unermeßlichen Elements wiedergeben
will. Ich könnte da noch Viel des Lobes, noch manches niedliche
Bild von Deutschen, die im Ganzen schwach vertreten sind, Belgiern,
Franzosen, Niederländern anführen, wenn ich nicht zu ermüden fürch-
tete; eine bloße Nomenclatur führt auch zu nichts. schmählich ist
es, mit welcher Unverschämtheit Correspondenten verschiedener Blätter
die absurdesten Lügen über die Ausstellung in die Welt hineinschrei¬
ben. So sind alle Berichte über den diesjährigen Ankauf von Kunst¬
werken zum Verloosen niederträchtige Lügen, da bis heute vom Verein
noch für keinen Heller angekauft wurde, und dennoch wußte ein Cor-
respondent der Augsburger Allgemeinen es schon, „daß gerade die zur
Verloosung unter die Vereinsglieder bestimmten Gemälde den schwäch¬
sten Beifall des Publicums finden." Mögen sich übrigens die Män¬
ner, die sich aus reiner Liebe zur Sache den Mühen der Leitung eines
so schönen Instituts unterzogen, durch solches Gebelfer nicht dasselbe
verleiden lassen, denn Cöln würde dann den einzigen reinen Kunstge¬
nuß verlieren, den es jetzt im Sommer hat, indem man unser Thea¬
ter, wie es jetzt besteht, wahrlich nicht zu den Kunstgenüssen zählen
kann — eine wahre Comödiantenmisere, unter der Leitung eines Man¬
nes, der auch nicht den entferntesten Begriff, nicht den Anflug einer
Idee davon hat, was eine Bühne muß und soll, will sie ihren eigent¬
lichen Zweck erreichen. Die Demoralisation unter dem weiblichen Per¬
sonale der Oper, und gerade der ersten Sängerinnen, ging wirklich
in's Abscheuliche — es nimmt mich Wunder, daß man sie nicht in der
heiligen Stadt gesteinigt, so scandalös haben sie's getrieben. Wie pas¬
send unser jetzige Director zu seinem Posten ist, mag daraus hervor¬
gehen, daß er seine Rechte auf die Concession zu einem Civilver-
sorgungsschein begründet. So weit muß es mit der Kunst kom¬
men. Was will man mehr? Im künftigen Jahre läuft seine Con¬
cession zu Ende, und dann soll — wenn Spielbergcr's Civilversor-
gungsschein nicht entscheidet — eine freie Concurrenz ausgeschrieben
werden. Cöln ist zwar hinsichtlich des Theaters verrufen, aber es
kann auch sagen: „Ich bin besser wie mein Ruf."
Ich denke mir, Ihre Zeitschrift wird ohnehin bald an der Last
von Festbcschreibungen aus der Königsherbcrge Stolzenfels und aus
der Beethovenstadt Bonn schwer genug zu schleppen haben, als daß
ich Sie mit einem Programm unserer vor der Thüre stehenden Eisen-
bahneröffnungsfeierlichkeitcn heimsuchen sollte. Wir werden essen, tanzen,
probefahrcn, musiciren, Theater spielen zu zehn Gulden, zu zwanzig
Gulden — es wird ein Jubel sein, daß die alte Libussa am Wische¬
rad und der heilige Johannes auf der Brücke aus ihren Gräbern auf-
stehen und einander fragen werden, was denn eigentlich vorgehe. Ant¬
worte man dann der Frau Libussa, daß man in einem Tage nach
Wien reisen werde, ob sie es glauben würde? Der heilige Johan¬
nes selbst, der doch sonst an Wunder gewohnt ist, würde mit allen
fünf Sternecken um den Kopf diesen schütteln und sagen: Es ist nicht
möglich! So viel steht fest, wenn die moderne Zeit jeden Wunder-
thäter canonisiren wollte, so müßte Watt auf jedem Stationsplatze
als Heiligenbild stehen und Baron Kübeck dürfte ohne Glorienschein
nicht abgezeichnet werden. Ueber die Folgen der Eisenbahnverbindung
sind übrigens die Stimmen nicht einig. Unter dem Kaufmannsstande
gibt es zage Seelen, die für den Zwischenhandel fürchten und in, Geiste
bereits die großen Wiener Modewaarenhandlungen sich in Prag eta-
bliren und die Einheimischen verdrängen sehen. Die Ezechomanen
sehen in der Verbindung mit Wien eine Vcrstärkerung des deutschen
Elements. Als ob nicht beide Theile ihre Revanche nehmen können?
Werden sich Wiener Kaufleute in Prag, so werden dafür Prager in
Wien sich etabliren. Erhalten die böhmischen Deutschen eine Verstar-
kerung aus Oesterreich, so erhalten die Slaven in Mähren und Steier-
mark einen Succurs aus Böhmen. Die Eisenbahn fährt ja nicht
blos hierher, sie fährt auch zurück.
Die Vortheile einer raschen Verbindung mit der Residenzstadt,
mit dem Sitze sämmtlicher Ccntralstellen der Monarchie sind unbere¬
chenbar. Die reisenden Ausländer pflegen gewöhnlich den Maaßstab
von Wien an alle übrigen Theile der Monarchie anzulegen. Aber
Wien genießt bis in die kleinsten Details unendliche Vortheile vor
andern Städten Oesterreichs — selbst in Polizei- und Censurdingen.
Ich will Ihnen das zunächst liegende Beispiel anführen: Einige Mit¬
glieder unseres kaufmännischen Casinos haben darauf angetragen, die
Grenzboten in ihrem Lesezimmer auflegen zu dürfen; sie beriefen sich
dabei auf das Beispiel des kaufmännischen Casinos und des juridisch¬
politischen Lesevereins in Wien, wo diese Blätter nebst vielen andern
ausländischen Zeitschriften frei aufliegen. Aber der betreffende Polizei¬
beamte rieth den Herren ab, um die Erlaubniß einzuschreiten, da er
ihnen im Voraus ein abschlagiges Resultat in Aussicht stellen müsse.
Vergebens wies man darauf hin, daß das hiesige kaufmännische Ca-
sino eben so gut eine geschlossene Gesellschaft sei, wie das Wiener —
die Stellung beider sei doch verschieden, war die Antwort. Allerdings!
Die Herren von der Kinne smimcv in Wien verkehren direct mit den
Hofräthen, Präsidenten und Ministern. Den Banquier X. und den
Großhändler V- kennt jedes Kind in Wien und es wäre lächerlich,
ihm ein Buch, eine Zeitschrift zur Lectüre abzuschlagen aus Vorsorge,
er könnte verderbt werden. Aber den Großhändler T., den Banquier
Y. in Prag, in Grätz, in Brunn kennt nur seine Behörde, diese muß
die Verantwortlichkeit bei der obersten Behörde übernehmen und ist
besorgt, daß an einem schönen Morgen irgend ein unvorhergesehener
Zwischenfall eintritt und ihr eine Nase, einen Verweis bringt, sie zieht
es daher vor, so eng als möglich den Kreis zu ziehen und lieber sechs
abschlägige als einen bewilligenden Bescheid zu ertheilen. Durch ein
„Nein" compromittirt man sich bei uns nicht. Wenn man über die
unerträgliche Strenge gegen die Anschaffung von ausländischen Bü¬
chern klagt, so bekommt man gewöhnlich die beruhigende Phrase zur
Antwort, daß accreditirten Personen fast jedes Buch er^it Zcneäiu»
ausgefolgt wird. Aber wer sind accreditirte Personen? Und bei Al¬
lem dem ist noch die Hauptstadt in paradiesischen Zuständen gegen die
Kreis- und kleinen Städte. In der Hauptstadt reicht der Gelehrte,
der angesehene Bürger seine Scheda ein, wenn er irgend ein verbote¬
nes Buch für seine Büchersammlung braucht. Aber in den Land¬
städten halt die Polizeifurcht fast Jedermann zurück, den Wunsch nach
einem solchen Buche an den Tag zu legen. Man fürchtet sogleich,
als unruhiger Kopf, als ein Revolutionär sich angeschrieben zu sehen,
wenn man das Gelüste äußert, ein Buch, aus dessen Titel der Druck¬
ort Leipzig oder Stuttgart steht, zu besitzen. Man frage doch im
Elbogner, Leitmeritzer, Santzer Kreise mit ihrer deutschen Bevölkerung
nach, wie viel Exemplare des Conversationslexicons (um ein unschul¬
diges und für jeden Gebildeten unentbehrliches Buch zu ciriren) dort
zu finden sind. Und die guten Leute haben recht in ihrer Furcht.
Der ihnen vorgesetzte Polizeibeamte glaubt in seiner Einfalt selbst, ein
Conversationslcxicon und derlei hochverräterische Bücher sind Vorbe¬
reitungen zum Spielberg. Nun denke man sich, daß einer von den
neunundneunzig Zwischenbeamten, die den Unterthan vom Throne tren¬
nen, irgend eine Privatmalice auf ein Individuum hat, wie leicht
könnte eine solche verlangte Scheda diesem schädlich werden und ihm
schlecht angeschriebene Noten zu Wege bringen. Denn am Tage des
Gerichts werden auch die kleinsten Judicia zur Rechnung gezogen.
Mit einem Worte, die Gesetzvorschrift, daß ruhige Staatsbürger er^a
Le>le«ji»in jedes Buch erhalten können, ist eine leere theoretische Formel,
die nur in einigen großen Städten zur Praxis kommt, im größten
Theile der Monarchie aber durch die langjährige Abschreckungstheorie
unbenutzt bei Seite liegen bleibt.
Vor wenigen Tagen starb hier der eben nicht ehrenvoll bekannte
Gras Schirnding, Verfasser einer Anzahl elender Pamphlete. Man
soll den Todten nichts Böses nachsagen, aber die Schriftstellerei, die
dieser Mann getrieben hat, nützte weder Freund noch Feind. Indem
er sich den Anschein gab, liberal fein zu wollen, verdarb er alle Be¬
strebungen der Opposition, indem die Polizei auf den miserablen, la-
tere- und tendenziösen Pamphletisten als ein Beispiel von der Schäd¬
lichkeit einer Preßerweiterung hinwies und ihn absichtlich oder unab¬
sichtlich in die Reihe der ernsten und aus Patriotismus gegen die
bestehenden Zustände eifernden Schriftsteller warf. Er schreibt in aus¬
ländische Blätter, das ist ein Kainszeichen der Polizei, gleichviel ob
es Anastasius Grün oder Schirnding ist. Die Biographie dieses
Grafen bietet einen traurigen Beitrag zur Geschichte der so zahlreich
verarmten Adelsindividuen Oesterreichs, die in ihrer Verzweiflung zu
Mitteln greifen, zu denen ein Bürgerlicher, Dank seiner minder noblen
Passionen, im allerseltensten Falle greift. Soldat, Klosterbruder, Schau¬
spieler, Localpossendichter, Polizeiagcnt, Noßhändler, Redacteur, augen-
dicnerischer Büchermacher und endlich Pamphletist oder sogenannter
verbotener Schriftsteller, dies ist die Carriere, die der Verstorbene durch¬
laufen hat. Er hat es mit Allem versucht, aber aus Mangel an
Charakter und tüchtiger Schulbildung nirgends rcussirt. Und doch war
es kein böser Mensch, und indem ich an ihn zurückdenke, überschleicht
mich das Gefühl, daß es eigentlich die Gesellschaft und die mangel¬
haften Zustände unseres Staatslebens sind, welche dieses verfehlte
Leben auf ihrem Gewissen haben. Hätte dieser Mann nicht vor eini¬
gen Jahren eine Bürgerliche geheirathet (die Tochter eines Gastwirths),
so wäre er vielleicht Hungers gestorben. Wie es hieß, hat die Polizei
den Unglücklichen an seinem Krankenbette besucht, um ein Protokoll
über die Schmähschrift „Prag und die Prager" aufzunehmen. Er
hat sich als Verfasser bekannt. Nun weiß sie es — ist sie darum
glücklicher? ^
Bonn ist eine deutsche Universitätsstadt mit deutschen Professoren
und all' ihren eigenthümlichen Eigenthümlichkeiten und Licbeswürdigkci-
ten, ist früher eine Residenz, gewesen, woher es auch zu deuten, daß hier
etwelche Hofluft weht, hat jetzt sehr schöne Häuser und nach Süden
eine recht geschmackvoll angelegte Vorstadt, deren Paläste den Beweis
liefern, daß man hier nicht immer mit magern Gäulen geankert hat
und ist, was zuletzt doch das Merkwürdigste, die Geburtsstadt des
Ludwig van Beethoven. —> hat also auch einen großen Mann an
Erzeugnissen. Vor zehn Jahren, als die Monumentomanie in Deutsch¬
lands in vollster Entwickelung war, siel es den Bonnern ein, und
wer kann ihnen den. Einfall verdenken, ihrem Beethoven auch ein
Denkmal zu setzen, es war einmal so Mode. Ehrlich und redlich
hat. Deutschland und, wenn, wir nicht irren, selbst das Ausland zu
dem Denkmale, beigesteuert, und nachdem man das Geld zusammen¬
gebracht, schrieb man eine Concurrenz aus. — Es kamen die Mo¬
delle per Schock, und siehe da, die Schiedsrichter erkannten dem Bild¬
hauer, Hänel in. Dresden den Preis zu und er erhielt den Auftrag,
den er auch zur vollen Zufriedenheit Aller, die das Werk gesehen,
ausgeführt hat. Am II. August soll nun des Monumentes Inau¬
guration stattfinden und zwar auf die feierlichste Weise, denn Bonn
hat eine schöne Anzahl recht prachtvoller Gasthöfe und wird den
Gästen schon zeigen, daß man hier zu leben weiß. Zur Leitung der
Monumentangelegenheiten war, wie recht und billig, ein Conn«>
gebildet und in demselben auch einige Professoren und unter andern
auch der Professor der Tonkunst, l)r. Breidenstcin. Nun können wir
eben nicht erklären, wie es noch Menschen gibt, die einem deutschen
Univcsitätsprofessor praktischen Verstand zutrauen können, denn man
staune, man hatte den deutschen Professor der Tonkunst zum Präsi¬
denten des festleitenden Comite gewählt, und nun war, wie ganz na¬
türlich, bald guter Rath theuer und unser Wochenblatt und die köl¬
nische Zeitung haben uns die seltsamen Partien der humoristischen
Studien der verschiedenen Parteien gebracht, welche eben durch die
unpraktische Ungelenkigkeit des deutschen Professors größtentheils her¬
vorgerufen wurden. Man hatte die Muse der Tonkunst mit allem
Anstande in eine Reitbahn verwiesen, und war so confuse, daß zu¬
letzt einige daran verzweifelten, ob es in diesem Jahre noch zur Auf¬
stellung des Standbildes kommen würde, welches, im Vorübergehen
gesagt, schon hier eingetroffen, und wirklich von Seiten der Stadt
recht feierlich-festlich empfangen wurde. Da erschien Franz Lißt, der
sich besonders um die Sache verdient gemacht, das Ganze mit nam¬
haften Summen unterstützt und auch Mitglied des Comite war.
Sein rascher Blick, sein scharfer Verstand sah bald, daß es hier an
allen Enden haperte, daß die Karre durch den Professor der Tonkunst
und seine Helfershelfer in den Koth gerathen, und nun trat er mit
der größten Entschiedenheit im Comite auf und sagte den Herren
in seiner Weise, Wahrheiten, wie si> dieselben zu hören wol nicht
gewohnt waren; er zeigte ihnen mit dürren, aber derben Worten, wie
sie sich durch ihre spießbürgerliche Kleinlichkeit, durch ihre Kleinstadterci
in der Art und Weise, wie sie ihr Fest zu begehen in Begriffe, vor
ganz Deutschland, ja dem gebildeten Europa lächerlich machen würden.
Lißt, dem es um den hohen Meister galt, griff das Ganze mit fri¬
scher Kraft, mit der wahren Begeisterung an, und sieh', es wird,
was man früher zu-den Mährchen der ein tausend und eine Nacht
gezählt, ein ganz neues großartiges Festlokal gebaut, gleichsam hinge¬
zaubert und die ganze Feier erhält den glänzendsten Anstrich; Lißt
hat aus allen Landen musikalische Eelebritätcn beschrieben, geladen
sowohl Componisten als ausübende Musiker und so wird das Fest
einen europäischen Charakter" erhalten. Die Ehor- und Orchesterpro¬
ben, welcher unter seiner und des königlichen Musikdirectors Weber
Leitung hier und in Köln abgehalten werden, versprechen mehr als
man erwartete und Kapellmeister Spohr, dem die Hauptleitung über¬
tragen und am 6. August hier eintrifft, wird sich wundern.
— Donizetti ist in Paris angekommen und die französischen
Journale, die jedes Nenommv auszubeuten verstehen, sind voll klin¬
gelnder Artikel, wozu die Silberglöckchen wahrscheinlich aus der Tasche
des Angeklingelten bezahlt werden. Hier ein Pröbchen. Diesen Mor¬
gen mit dem neunten Glockenschlage — erzählt der Charivari — ist
ein Postwagen in der Rue Grammont angelangt; die Pferde, die ihn
zogen, trabten in (^moll. Auf allen Straßen, durch die der Wagen
fuhr, fühlten plötzlich Frauen, Kinder und Greise ein unwiderstehliches
Bedürfniß zum singen. Donizetti war angelangt, Donizetti, der, nach¬
dem er in Italien Maestro und in Frankreich Compositeur war, in
Deutschland sich zum Kapellmeister umtaufte; richtiger gesagt in Oester¬
reich. Man muß das blonde Germania nicht mit Oesterreich verwech¬
seln, obgleich dies nicht weniger blond ist. (?) Oesterreich neigt sich
bei Weitem nicht so sehr dem Phantastischen, wie das blonde Vater¬
land von Se. A. Hoffmann. Donizetti also war nicht bloßer Kapell¬
meister, sondern Hofkapellmeister. In dieser Eigenschaft bezog er acht-
(soll heißen zwei-) tausend Gulden jährlichen Gehalt. Man sagte,
Donizetti sei auf immer für Paris verloren; man behauptete, Fürst
Metternich habe ihn auf Flaschen abziehen lassen, wie seinen ältesten
Johanniswein. Andere gingen sogar weiter und gaben vor, es
sei ihm ein kleines Fürstenthum in Italien zugesprochen worden,
nebst dem Titel Hoheit, wohin er in seinen alten Tagen sich zurück¬
zuziehen und dort zu regieren denke. Lügen, nichts als Lügen! Do¬
nizetti ist wieder in Paris, man hat ihn gesehen. Jedermann blieb
stehen und rief aus: Es ist zum Erstaunen, wie man in Oesterreich
dick wird! Kaum hat der Director der italienischen Oper, Herr
Valet, seine Ankunft vernommen, so ließ er sogleich anspannen und
begab sich zu ihm, um über eine neue Oper mit ihm zu contrahiren.
Vor der Thüre des Eomponisten begegnete er Herrn Leon Pillet, dem
Director des großen Opernhauses, der in gleicher Absicht sich einge-
stellt hatte. Die französische Oper und die italienische Oper haben
sich gegenseitig gegrüßt, wie es wohlzrzogenen Personen geziemt; aber
sie haben während einer Viertelstunde mit einander gestritten, wer
zuerst eintreten soll. Endlich hat der Maestro die beiden Flügel auf¬
gerissen und Frankreich und Italien traten zugleich ein. Dies ist eine
Vorbedeutung. . Wir werden in Paris wahrscheinlich zu gleicher Zeit
eine Donizetti'sche Oper auf dem Theater der Place Ventadour und
auf dem Theater der Rue Lelletier hören. Welche wird mit der
linken und welche mit der rechten Hand geschrieben sein? —
Politische Meuchelmorde sind seit mehreren Jahren in der Schweiz
nicht selten vorgekommen; sie sielen bis jetzt ohne Widerrede sämmt¬
lich der Partei der Eonservativen oder Altschweizer zur Last. Ihre
Opfer waren entweder Jungschweizer oder Liberale, und sie ließen
sich leicht an zwei charakteristischen Merkmalen erkennen. Denn eines-
theils sind die Thäter niemals entdeckt oder bestraft wor¬
den, weil sie erst vorkommen, seit die konservative Partei zu Kräf¬
ten und in mehreren Kantonen zur Negierung gekommen ist, so daß
entweder die Maßregeln so gut getroffen werden konnten, daß kein
Verdacht aufkam, oder die Untersuchung gegen Verdächtige schlecht
geführt oder niedergeschlagen wurde; — und anderntheils sind diese
Meuchelmorde nur das Glied einer Kette von jenen Rän¬
ken und finstern Handlungen, denen die legitime oder konservative
Partei in der Schweiz ihre Wiedererhebung in einigen Kantonen zu
verdanken hat. Sie sind ein ergänzender, unzertrennlicher Theil deö
Nestaurationögeschäftes, sie finden ihre vollständige Erklärung in dem
Vorhergehenden und Folgenden, sie sind die Opfer, womit die kon¬
servative Partei entweder eine Entscheidung hervorrufen, oder sich den
Erfolg sichern will.
Im Jahre 1839 hatte die konservative Partei im Kanton Zü¬
rich einen Aufstand gegen die verfassungsmäßige liberale Negierung
angezettelt. An der Spitze eines Psalmen singenden Pöbels zogen
die konservativen Häupter, zum Theil reformirte Geistliche, gegen die
Stadt, um die Regierung zu stürzen. Der liberale Regierungsrath
Gagetschwyler, allgemein beliebt und geachtet, mischt sich unter'S
Volk, um durch Zureden die Aufregung zu beschwichtigen. Der
Erfolg des Aufstandes hing an einem Haar, Da wird Gagetschwy,
Kr meuchlings ermordet. Der Mörder ist heutzutage noch nicht ent¬
deckt, geschweige bestraft.
In den Jahren 1843 und 44 hatte sich die conservative Partei
im Kanton Wallis im Geheim zum Kampf gerüstet. Es handelte
sich darum, eine freisinnige Verfassung umzustürzen und sie für immer
auszurotten. Man konnte dies nicht anders erreichen, als durch
den Tod oder die Verbannung der Häupter der Libe¬
ralen und nationalen Partei und dadurch, daß man
sie ihres Vermögens beraubte. Allein dies konnte im Zu¬
stande des innern Friedens, unter der Herrschaft der Gesetze nicht
geschehen, man bedürfte dazu eines gewaltsamen Kampfes. Eine
Bartholomäusnacht ist doch gar zu gehässig; auch der größte Wüth-
rich sucht immer den Schein des Rechtes zu gewinnen. - Es kam
also darauf an, die Jungschweizer und Liberalen so lange zu reizen,
bis sie selbst den Kampf ansingen, in welchem sie hingeschlachtet wer¬
den sollten. Allein die Jungschweizer und Liberalen hielten sich ru¬
hig. Da geschahen die Meuchelmorde, von denen auch die deutschen
Zeitungen von Zeit zu Zeit berichtet haben und welche auch wirklich
endlich im Frühjahr 1844 den gewünschten Erfolg hatten. Denn
nachdem bereits mehrere Jungschweizer als Opfer gefallen waren,
nachdem man entweder gar keine Spuren der Thäter hatte, oder
wenn welche da waren, die gerichtlichen Untersuchungen zu nichts
führten; legte man einer Anzahl von Jungschweizern bei Verrohaz
in der Nähe von Se. Moritz, dem Hauptorte der Liberalen, einen
Hinterhalt, und da sie diesem entgingen, schoß man bei Nacht durch's
Fenster nach einem Greise, der im Bette lag, und dessen Verbrechen
darin bestand, daß seine Söhne Jungschweizer waren^ Die Jung¬
schweizer ergriffen nun das Haupt der Altschweizer und verurtheilten
den Mann zu einer Prügelstrafe. Die Altschweizer erklärten dies
für einen Volksaufstand und fielen längst gerüstet über die unvorbe¬
reiteter Jungschweizer her. Ihre Häupter fielen in einen Hinterhalt
gelockt lind am Trient von den Altschweizern niedergeschossen, oder
flüchteten in andere Kantone. Sie sind todt oder verbannt, ihr Ver¬
mögen in den Händen ihrer Feinde. Indessen scheinen die Conser-
vativen im Kanton Wallis sich immer noch nicht sicher genug zu
fühlen, denn seit dem Mai 1844 sind im Kanton Wallis neue
politische Meuchelmorde an Jungschweizern begangen worden, wie
Jeder sich erinnern wird, der mit Anfmerksamkeit die Zeitungen gele¬
sen hat.
Kaum war im vergangenen Jahre den walliser Altschweizern
ihr blutiger Plan gelungen, so vernahm man, daß in Luzern dieselbe
Tragödie aufgeführt werden sollte. Luzerner Konservative drohten
an öffentlichen Orten, man werde es den Liberalen in Luzern ebenso
machen wie in Wallis. Dies ist eine geschichtliche Thatsache. Und
in der That, noch ist kein Jahr vorüber, und die Drohung ist buch¬
stäblich in Erfüllung gegangen. Die Luzerner Liberalen und natio¬
nalen sind entweder todt, oder in Verbannung, oder im Gefängniß,
oder im Zuchthause, und ihr Vermögen in den Händen ihrer Feinde,
— ganz auf's Haar ebenso wie im Kanton Wallis. Leider kann
man nicht verkennen, daß die Thorheit der Liberalen im Luzerner
Trauerspiel der Heimtücke der Konservativen auf eine merkwürdige
Weise in die Hände gearbeitet hat.
Es handelte sich im Kanton Luzern für die Conservativen um
S i es erung der wiedergewonnenen Herrschaft. Der zeitweilige Sieg
genügte ihnen nicht: sie bedurften zu ihrer Beruhigung der völligen
Vernichtung der liberalen Partei. Dies Ziel konnte man nur zu
erreichen hoffen, wenn es gelang, die Liberalen aus dem Gebiete der
Gesetzlichkeit, wo sie nicht anzugreifen waren, herauszulocken auf das
Gebiet deS Kampfes mit den Waffen in der Hand. Die Liberalen
waren thöricht genug, ihren Gegnern den Gegenstand einer recht rei¬
zenden Lockung selbst zu liefern. Die Zärtlichkeit selbst hätte nicht
schleuniger dafür besorgt sein können, die Bernhard Meyer, Sigwart
Müller, Adrian von Curten und ihres Gleichen von der Blutschuld
zu reinigen, die sie durch die walliser Ereignisse neuerdings wieder
auf ihre Häupter geladen hatten, als es die nationalen zu sein schie¬
nen, indem sie mit aller Leidenschaftlichkeit und Nachdrücklichkeit die
ganze Schuld auf die Jesuiten wälzten und diese zum Sündenbocke
machten, welcher die Conservativen von der Last ihrer Sünden erlöste.
Was hätte ihnen wohl Erwünschteres begegnen können? Allein die¬
ser Sündenbock that den Luzerner Conservativen noch andere sehr
wichtige Dienste.
In allen schweizer Kantonen, wo in den letzten sechs Jahren
die liberalen Regierungen durch conservative verdrängt worden sind,
ist dies in Folge der unverzeihlicher Fehler der liberalen Partei ge¬
schehen. Die Liberalen hatten im Jahre 1800 und 1801 das volle
Vertrauen der schweizer Bevölkerungen. Diese erhoben sich in Masse,
friedlich aber ernst, und die alten Regierungen traten ab, und die
Liberalen setzten sich auf die leerstehenden grünen Sessel. Allein die
Liberalen haben dem Vertrauen der Volker nirgends entsprochen, auch
nicht in der Schweiz. Sie ließen in der Schweiz im Wesentlichen
das alte aristokratische Staatsgebäude stehen, die Administration, die
Justiz, die Polizei, die Finanzen, die Milizen blieben die alten,, nur
daß die Zahl der Beamten viel größer wurde, nur daß die Aus¬
gaben sich mehrten, nur daß Gerichte und Polizei viel thätiger waren,
als vorher. Neben dieser alten Staatsmaschine baute man etwas
Neues an, was nicht ganz dazu paßte: eine demokratische Volksver¬
tretung. In den geschriebenen Verfassungen versicherte man, daß
Preßfreiheit bestehe, allein die diesen allgemeinen Grundsatz aus¬
führenden Gesetze nahmen wieder zurück, was die Verfassung gegeben
hatte. Auch stimmten die liberalen Regierungen mit den aristokra¬
tischen darin überein, daß die Bevölkerungen zur politischen Freiheit
nicht reif seien, — nur daß die aristokratischen dies sür naturgemäß
und für ewige Zeiten giltig hielten, die liberalen dagegen das Volk
in dazu neu errichteten Volksschulen reif machen und heranbilden woll¬
ten. Bis dahin dünkten sie sich mit gutem Gewissen zur Bevormun¬
dung des Volkes befugt, und nahmen gegen die Bevölkerungen, von
denen sie eben erst emporgehoben worden waren, und die sie eben
erst in den Verfassungen den Souverän genannt hatten, eine er-
habene Würde an, die um so mehr erbitterte, je weniger sie Neu¬
lingen gebührte, und in welchen sie sich so possirlich gebärdeten, und
zum Theil noch gebärden, wie Türken, wenn sie zum ersten Male
fränkische Tracht angelegt haben. Mit einem Worte, die schweizer
Liberalen machten es alle wie Schultheiß Neu Haus von Bern. Sehr
bald waren Mißbehagen und Unzufriedenheit die Folge dieser Fehler.
Die Einsichtsvolleren sahen ein, daß das bisher Geschehene nichts
weiter sei, als der Anfang vom Anfang einer politischen Reform,
während die Liberalen die Spitze der Vollendung, das Ende vom
Ende darin erblickten. Die minder Gebildeten fühlten wohl, daß sie
der Schuh drückte, aber sie wußten entweder nicht recht wo, oder sie
griffen in ihren Beschwerden sogar fehl, obwohl sie auch in manchen
Dingen Recht haben und hatten. Dies ist nun die große Masse der
Unzufriedenen, und sie besteht bei weitem in der Mehrzahl aus den
Bauern. Die schweizer Bauern hatten und haben aber gegen die li¬
beralen Regierungen folgende Beschwerden: daß die Leute, welche von
den Bauern auf dieRcgierungssessel gehoben worden sind, ein herri¬
sches und hochfahrendes Benehmen gegi?n sie angenommen haben; —
daß überall zu viel geschrieben wird, während der Bauer Münd-
lichkeit verlangt; — daß ihre Kinder gezwungen werden, in die Schule
zu gehen, während sie unter den alten Regierungen bei den Feldarbeiten
haben helfen können; — daß ihre Kinder in den Schulen genöthigt
werden, eine Menge Sachen zu erlernen, die ihnen nichts nützen,
und daß ihnen namentlich eine n en e Religion gelehrt werde; —und
daß durch die vielen „Schrieber" (so nennen sie die Beamten und
wissenschaftlich Gebildete») und durch die vielen neuen Schulen dem
Staat eine Menge unnütze neue Ausgaben erwachsen seien, die zur
Einführung von neuen Staatskassen entweder schon geführt hätten,
oder noch führen würden. Neben diesen Beschwerden bekümmern sie
sich um Preßfreiheit gar nicht, sondern verlangen entweder Volksge¬
meinden, wie in den alten Kantonen, oder doch unmittelbare
Wahl der Vollksvertreter und das Veto, oder das Recht der Ge¬
meinden, von der Volksvertretung beschlossene Gesetze durch Abstim¬
mung anzunehmen oder zu verwerfen.
Diese im Staate roh-demokratische, in der Kirche aber alt¬
gläubige und orthodore Menge war lange vor dem Jahre 1839
in Zürich, Luzern, Bern, in allen politisch-refomirten Kantonen mit
den liberalen Regierungen höchlich unzufrieden, aber es fehlte ihnen
an Führer», welche sie zu einer Partei hätten organisiren können. Da
kamen die sogenannten Conservativen zuerst im Kantone Zürich auf
den Gedanken, sich an ihre Spitze zu stellen, um sich ihrer als Werk¬
zeug zum Sturz der Liberalen zu bedienen, und siehe da! es gelang
über Erwarten gut.
Im Kanton Luzern gestaltete sich die Sache etwas anders. Dort
hatte sich unter den Bauern selbst ein von der Natur reich begabter
durch bedeutendes Vermögen angesehener Mann gefunden, welcher die
unbeholfene große Masse durch die Macht seiner ungeschmückten Volks¬
beredsamkeit unter seine Fahne zu einer mächtigen Partei vereinigte,
und dieser Mann war Leu aus dem Dorfe Ebersol. Er war das
Haupt der Bauernpartei oder der roh-demokratisch-orthodoren
Volkspartei. Im Bewußtsein der Kraft der Volksmenge, die er ver¬
trat, verschmähte er es, die liberale Partei mit Gewalt von den Re-
gierungSscsseln zu stürzen; er wartete den Augenblick ab, wo das Volk
den großen Rath neu zu wählen hatte und feierte da einen glän¬
zenden Sieg. Bis dahin abe°r begnügte er sich gegen die Regierung
der Liberalen im großen Rath hartnäckig Opposition zu bilden. Denn
anstatt durch Verbannung der schriftlichgeheimen Stubenverwaltnng
und der schriftlichgeheimen Justiz und durch Vertauschung derselben
mit einer öffentlich-mündlichen Selbstverwaltung und mit einer öf-
fentlich.mündlichen Rechtspflege nebst Geschwornen, das Volk politisch
reif und fähig zu machen, den Werth der Preßfreiheit und der Schul¬
bildung zu erkennen, beging die liberale Regierung in Luzern diesel¬
ben Fehler, wie die Liberalen anderer Kantone. Es war daher
auch dem Vvlksführer Leu ein Leichtes sie zu stürzen. Die legi¬
time Partei nahm den günstigen Augenblick wahr und schloß
sich dieser Bewegung an. Zur Bewegung wurden ihnen vom gro¬
ßen Rath, dessen Mehrheit dein Führer Leu folgte, die Stellen gege¬
ben, welche die Liberalen inne gehabt hatten. Es blieb aber auch
beinahe keine andere Wahl übrig, da man die Liberalen und natio¬
nalen entfernt halten wollte und nur sehr wenig Mitglieder der dc-
uiokratisch-orthoderen Partei die nothdürftigsten Kenntnisse besaßen.
Die Verfassung wurde im Sinne Leu's und der ihm folgenden Mehr¬
heit des Volkes umgeformt und erhielt nun auf dem Gebiete deS
Staates eine demokratische, auf dem Gebiete an Schule und Kirche
eine orthoder-katholische Färbung. Die neuen Schulen wurden ver¬
nichtet und die von der liberalen Regierung angestellten Lehrer ver¬
jagt. Allein ganz ohne Lehrer konnte man doch nicht bleiben; man
mußte wenigstens welche für die höhern Lehranstalten in Luzern
haben. Liberale und Nationale wollte man nicht, unter den Legiti¬
men und der Bauernpartei gab es keine tauglichen Subjekte; was
war also natürlicher, als daß Leu, welcher Mitglied des Erziehungs¬
rathes (Ministeriums des Unterrichts) war, an die Jesuiten dachte,
welche in dem nahen Kanton Freiburg, in dem Nachbarkanton Schwvz
als Erzieher und Lehrer sich einen bedeutenden Ruf erworben hatten,
deren Anstalten namentlich in Kanton Freiburg im blühendsten Zu¬
stande sind und welche dem katholischen Schweizerbauer noch aus
zwei andern Rücksichten beHags müssen. Für's Erste ist es bekannt,
daß sich die Jesuiten im Allgemeinen nur um die Erziehung der
Vornehmen und Reichen bekümmern, aber den Bauern, den Unbemit¬
telten, die große Masse mit Schulen ungeschoren lassen, und das
ist es ja gerade, was die Echweizerbauern wollen. Sodann ist es
in der Schweiz ferner bekannt, daß die Erziehungsanstalten der Je¬
suiren eine nicht unbedeutende Menge französischer, deutscher aus an¬
derer fremden Zöglinge in die Schweiz gezogen haben, deren Geld
größtentheils in die Beutel von Kaufleuten, Handwerkern und Bauern
fließt. Dieser Umstand allein würde schon für jeden Schweizer von
großem Gewicht sein: Leu trug also im Luzerner Erziehungsrathe
darauf an, den Jesuiten die hohem Erziehungsanstalten zu übergeben,
stieß aber im Anfange auf unübersteigliche Hindernisse. Denn die
mit der Bauernpartei verbündete legitime oder Herrnpartei, an deren
Spitze Bernhardt Meyer, Sigwart Müller und ihres Glei¬
chen stehen, erklärte sich entschieden dagegen. Begreiflich! Ihr Ziel ist
Alleinherrschaft, und der Weg dahin führt über Vernichtung aller
übrigen Parteien. Vernichtet mußte vor allen Dingen die liberale
und nationale Partei werden, vernichtet sodann mußte die Bauernpartei
werden, nachdem sie als blindes Werkzeug gegen Andere ihre guten
Dienste geleister hatte. Eine große Aufgabe, deren Losung alle Ge-
wandheit, den Aufwand aller Kräfte in alleinigem Anspruch nahm.
Sollte man sie noch schwieriger durch Hereinziehung der Jesuiten
machen, deren Macht, List, Geschicklichkeit man fürchtete? Man irrt
sich gewaltig, wenn man meint, daß ein Bernhard Meyer, ein Sig¬
wart Müller Jesuitenzöglinge oder Jesuitenknechte seien, oder daß die
schweizer Patrizier über den himmlischen Schätzen und Herrlichkeiten
die Vothcile der weltlichen Gewalt vergäßen. Aber nicht blos die
Herrnpartei war gegen den Antrag Leu'S, auch ein großer Theil sei¬
ner eigenen Leute. Die Abneigung der letzteren verwandelte sich in
allgemeiner Hinneigung zu den Jesuiten, nachdem einzelne Mitglieder
dieses Ordens auf sogenannten Missionen in den Kanton Luzern
gekommen waren und dort als Prediger, Seelsorger und Sittenver-
besserer gewirkt hatten. Ihre Prediger bewegten sich im Ganzen auf
dem Gebiet der Moral, und berührten höchst selten und nur beiläu¬
fig das Gebiet der Politik. Sie richteten ihre Angriffe gegen die
Trunksucht und Saufereien der jungen Leute auf dem Lande. In
Luzem herrscht, wie in der übrigen deutschen Schweiz und allen
deutschen Alpenländern die Sitte des sogenannten Kiltgangs. Die
jungen Burschen besuchen nämlich in der Dorfschaft in den Nächten
von den Sonnabenden oder Samstagen auf die Sonntage die Mäd¬
chen. Die Liebe, welche da gepflogen wird, ist nichts weniger als
platonisch und romantisch, wie die Schweizer in den Städten den
Fremden weiß zu machen belieben, sondern hat Rohheiten aller Art
im Gefolge, die fast immer zu blutigen Schlägereien, nicht selten zu
Meuchelmörder führen, und die Gemeinden mit vaterlosen Kindern
bereichern. Wer die sittlichen Zustände der Schweiz von dieser Seite
kennen lernen will, der lese die Schriften des Pfarrers Bitzius im
Kanton Bern, welcher unter dem Namen Jeremias Gotthelf
sich bekannt gemacht hat. Vergeblich eifern die Landpfarrer dage¬
gen, vergeblich verdammen die Schweizer in den Städten diese Un¬
sitte, die Quelle verschiedenartigen menschlichen Elendes, Gebräuche
und Sitten sind unbezwingliche Tyrannen. Die Jesuiten hatten den
guten Einfall unter den jungen Mädchen selbst einen Tugendbund
zur Ausrottung des Kiltganges im Kanton Luzern zu stiften. Er
breitete sich schnell aus. So gewannen sie die Herzen der Eltern.
Dabei begingen die Liberalen die neue Thorheit, die Predigten der
Jesuiten, welche sie im Kanton Luzern gehalten, verstümmelt und
verfälscht herauszugeben. Seht, sagten nun die Jesuitenanhänger und
verwiesen auf diese Predigten und falsche Zeitungsnachrichten, über¬
zeugt auch selbst, daß die Angriffe auf die Jesuiten nichts sind als
Lüge und Verläumdung! Und die Menge ist gewohnt vom Einzel¬
nen auf's Allgemeine zu schließen. Leu hatte gewonnenes Spiel.
So standen die Sachen im Kanton Luzern: Leu mit der de¬
mokratisch - orthoderen Bauernpartei für die Jesuiten, — Bernhardt
Meyer und Sigwart Müller mit der legitimen Herrnpartei gegen sie
und am Ende das Ganze nur eine sehr große Neben¬
sache, als im Frühjahre 1844 die Herrnpartei der Ausführung
ihres Planes durch die Vernichtung der Liberalen und Jungschweizer
im Kanton Wallis wieder einen Schritt vorwärts gegangen war.
Es handelte sich darum, den gleichen Schlag im Kanton Luzern
auszuführen, und dazu eine Veranlassung zu finden oder zu machen.
Ich habe bereits oben erwähnt, wie erwünscht es den Luzerner
Legitimen sein mußte, daß die Jesuiten von Liberalen und Nation«-
im zum allgemeinen Sündentodt gestempelt wurden; noch viel er¬
wünschter kam ihnen der Antrag, welchen die Liberalen und natio¬
nalen auf die Tagsatzung brachten, die Jesuiten aus der schweizer
Eidgenossenschaft zu weisen. Nun hatten die Legitimen, was sie
brauchten, ein Mittel, ihre Gegner in Zorn und Wuth zu versetzen
und sie aus dem Gebiete der Gesetzlichkeit aufs Schlachtfeld zu ver¬
locken. Sofort änderten Bernhardt Meyer und Stgwart Müller ihre
Ansichten. Sie sein bisher, erklärten sie, gegen die Jesuiten gewe¬
sen; nun aber, da die Liberalen und nationalen ihre Ausweisung
verlangten, nunmehr müsse jeder Katholik sich für die Jesuiten aus¬
sprechen. Sofort wurde beschlossen, den Jesuiten die höhern Lehran¬
stalten in Luzern zu übergeben. Die Berufung der Jesuiten nach
Luzern wurde das rothe Tuch, womit man den Puterhahn des Li¬
beralismus so kollerig machte, daß er aus seiner Verschanzung hervor¬
stürzte und sich selbst dem Schlachtmesser überlieferte. Im December
1844 erlitt er den ersten Aderlaß, aber es gelang ihm am wenigsten
zu entrinnen. Um Alles in der Welt hätten daher die Luzerner Herrn
auf die Berufung der Jesuiten nicht verzichtet. Diese Maßregel hatte
ja noch nicht ihren Zweck erreicht. Man bestand also darauf, und
den Liberalen und nationalen schwoll der Kamm immer mehr. Die
Sprache der Luzerner Herrn wurde immer höhnender, aufreizender
und endlich konnten ihre Gegner der Lockung nicht länger wider¬
stehen und gingen am 31. März glücklich in den 1. April.
Dieser Streich ist völlig gelungen; die liberale und nationale
Partei im Kanton Luzern ist vernichtet und ihr Vermögen in den
Händen ihrer Feinde. Und die Jesuitenberufung? die ist nach Errei¬
chung dessen, was einer gewollt hat, zu einem wahren Nichts zu¬
sammengeschrumpft. Zu einer Zeit, wo der Jesuitenorden so viele
Mitglieder zur Verfügung hat, sind zwei, sage zwei Patres nach
Luzern berufen, um den höhern Lehranstalten vorzustehen, und selbst
diese auch unter einschränkenden und ihren Einfluß unter den Dau¬
men haltenden Bedingungen. So eifersüchtig sind die Bernhardt
Meyer und Sigwart Müller und Genossen auf den alleinigen Ge¬
nuß der Herrschaft, so große Besorgnisse hegt man von dem Jesui-
tenordenl Bei allem dem meint man immer noch, es
handle sich in Luzern um die Jesuiten.
Mit der Vernichtung der Liberalen und nationalen hat die le-
gitime Partei ihre Aufgabe erst halb gelöst, es blieb die Bauern-
Partei übrig. Kaum waren also die Liberalen abgethan, so hörte
man plötzlich von Luzern aus über die dortige Verfassung und die
dortigen Zustände, ganz neue Ansichten und Urtheile aussprechen.
Conservative deutsche Zeitungen, welche es für eine große Ehre zu hal¬
ten scheinen, die Basiliskeneier der edeln schweizer Patrizierpartei in
ihre Spalten aufzunehmen, brachten von der Neuß, oder aus der
Urschweiz, oder aus Luzern selbst, Artikel, welche fanden, daß
die Macht der Bauern unter der Leitung Leu's im Kanton Luzern
denn doch etwas zu weit gehe und daß dort jetzt am Ende doch
nur ein rohes Bauernregiment herrsche. Diese Artikel waren
offenbar aus denselben Federn geflossen, welche von dieser unläug-
baren Wahrheit vorher keine Silbe gewußt, sondern Alles vielmehr
für überschwenglich vortrefflich ausgegeben hatten. Woher auf ein¬
mal diese Sinnesänderung ? Die Antwort ist leicht zu finden. Das
Werkzeug der demokratisch-orthodoren Bauernpartei hat seine Dienste
gethan; es ist nunmehr abgenutzt; man braucht es nicht mehr gegen
die Liberalen und nationalen und fängt an, es lästig zu finden.
Man sucht sich seiner auf diese oder jene Weise zu entledigen, und
bereitet durch herabwürdigende Artikel die öffentliche Meinung darauf
vor. Zu gleicher Zeit mit diesen Zeitungsartikeln scheinen von Mit¬
gliedern der Luzerner Partei, welche in die Plane ihrer Führer ein¬
geweiht sind, unvorsichtige Aeußerungen gethan worden zu sein.
Denn wie im vergangenen Sommer von Luzerner Patriziern an öf¬
fentlichen Orten vorausgesagt worden ist, daß man es der liberalen
Partei in Luzern ebenso machen werde, wie im Kanton Wallis; so
haben schweizer Blätter vor Leu's Ermordung ähnliche Drohungen
von Luzerner Patriziern gegen die Luzerner Bauernpartei veröffent¬
licht. Der „Nouvelliste Vaudois," ein nationales Blatt, welches in
Lausanne erscheint, berichtet in seiner Nummer vom achtzehnten
Juli in einer Korrespondenz aus Luzern, daß Luzerner Patrizier ge¬
äußert hätten, nachdem man mit den Liberalen und Radicalen fertig
geworden, so müsse die Reihe nun an die Bauern kommen.
Unter solchen Verhältnissen ist Leu in der Nacht vom 19. auf
den 2V. Juli, also in der Nacht von einem Sonnabend auf einen
Sonntag, bei Hellem Mondenschein in der Mitternachtstunde ermor¬
det worden.
Von einem Selbstmorde kann nicht die Rede sein; es müßten
Spuren davon da sein, und diese würden nicht verborgen bleiben.
Leu war aber ein so durchaus geistig und körperlich gesunder Mann
und lebte in so blühendem Wohlstande, daß eine bloße Vermu¬
thung nicht die mindeste Berücksichtigung verdient. Man wundert
sich, wie ein Mörder unbeachtet in ein Haus habe dringen können,
worin dreizehn Knechte und vier Mägde gewesen, und neben dem
zwei Hunde gewacht hätten. Wenn Deutsche diese Verwunderung
aussprechen, so ist das sehr begreiflich; wenn es aber schweizer Zei¬
tungen thun, die mit den Sitten ihres Landes doch bekannt sein
müssen, so kann man sich über ihre Verwunderung nur verwundern.
In den Nächten von den Sonnabenden auf die Sonntage werden
nicht blos von den Knechten und Mägden, unter denen der Kiltgang
am meisten im Gange, sondern überhaupt von den jungen Leuten
auf dem Lande alle Maßregeln getroffen, um sich gegenseitig nicht
im Vergnügen zu stören. Man sperrt die Hunde weg und hindert
sie zu bellen. Da die Wege von Kiltgängcrn belebt sind, so fürchtet
man keine Diebe, und hört ein Knecht Sonnabends in der Nacht
ein Geräusch, so achtet er nicht darauf, um einem Andern den Spaß
nicht zu verderben. Vor den Fenstern der Bauernhäuser sind Holz¬
scheite, sogenannte Scheiterbiegen, aufgeschichtet, um dem Kiltgänger
das Einsteigen förmlich zu erleichtern. Der Mord war also mit sehr
kluger Berechnung auf eine solche Nacht verlegt. Der Mörder konnte
mit Bestimmtheit darauf rechnen, ungehindert und unbemerkt in's
Haus zu dringen, und in einer Nacht, wo Hunderte von jungen
Leuten (sie heißen Nachtbuben) auf Wegen und Stegen herumschwär¬
men, sollte es da auffallen, wenn Einer davon läuft?
Der Mord erklärt sich auf diese Weise leicht, es kommt also
nur darauf an, von welcher Seite er ausgegangen sein mag.
Die Luzerner Herrcnpartet wälzt die Schuld den Liberalen und
nationalen zu. Darin ist mehr Schlauheit als Klugheit.
Die liberale Partei hat viel zu wenig Energie zu einem Mord,
und die nationale haßt alle Heimlichkeit, ist bei allen ihren Schritten
offen 'und ehrlich zu Werke gegange». Man kann nicht einen ein¬
zigen Zug aus der Geschichte ihres Entstehens und ihrer Thätigkeit
anführen, der einen solchen Verdacht rechtfertigte. Die junge Schweiz
hält Volksversammlungen, singt, kommt auf Schützenfesten zusammen,
schlägt los und läßt sich todtschlagen, aber sie hat nie gemeu¬
chelt. Dies ist ganz gegen ihre Natur. Und außerdem, was könnte
ihr am Tode Leu's liegen? Leu hielt nicht in Luzern das Staats¬
ruder in Händen; durch Leu's Tod wird die Luzerner Regierung
nicht anders; an Leu hatten die nationalen keinen Treubruch, keine
Ränke zu rächen. Leu hat nicht die Schändlichkeiten an den walli-
ser Liberalen und nationalen begangen und angestiftet. Leu hat
keinen Theil an den walliser Meuchelmörder. Wenn die nationalen
des Mordes fähig wären, wie sie es in keiner Beziehung sind, so
würden sie sich ganz andere Opfer als einen Leu, einen armen
verirrten, aber immerhin einen redlichen Mann, aussuchen müssen.
Denn für einen redlichen Mann galt Leu auch den nationalen.
Den nationalen und Liberalen den Mord Leu's aufbürden wollen,
hat gar keinen Sinn. Einer so kindischen, heimtückischen, völlig nutz¬
losen Rache sind weder die Einen noch die Andern fähig.
Viel begründeter scheint die Anklage, welche auch schon in schwei¬
zer Blättern erhoben worden ist, und welche die Luzerner Herrenpar¬
tei dieses Mordes beschuldigt. Vielfache Anzeichen sprechen dafür:
das politische und religiöse Glaubensbekenntnis; dieser Partei, ihre
Geschichte und die ihr offenkundig bereits zur Last fallenden Meu¬
chelmorde, die vorausgegangenen Drohungen, der große Nutzen, den
sie aus Leu's Ermordung zieht, die Anträge, die sie nach Leu's Er¬
mordung in den großen Rath gebracht hat, endlich die Sicherheit
der Ausführung der That und das Dunkel, in welches der Thäter
gehüllt ist.
Das politische Glaubensbekenntniß der Luzerner
Herren Partei, denn es ist dieses kein anderes, als das der Legi¬
timität; wer es kennen lernen will, wie es in seiner ganzen Schroff¬
heit unter den schweizer Patriziern in Geltung ist, der lese Carl Lud¬
wig von Galler's, des Solothurners, „Restauration der Staatswis-
senschaften." Nach ihnen ist es eine von Gott selbst eingesetzte Ord¬
nung der Dinge, daß eine Anzahl von Familien die obrigkeitliche
Gewalt hat, welche in ihnen erblich ist, und daß die Bevölkerungen
ihre Unterthanen sind, die wohl auf Gnade, nie aber auf Rechte
Anspruch machen können. Wer von angeborenen Menschenrechten,
von gleicher Berechtigung aller Menschen spricht, der lehnt sich gegen
diese göttliche Ordnung auf, und die Obrigkeit hat nicht blos das
Recht, sondern die Pflicht, solche Empörer zu strafen. Nun war aber
Leu durch und durch Volksmann und Demokrat, und konnte also
auch den Luzerner Patriziern niemals anders, denn als Aufrührer
und Empörer erscheinen, wenn sie es auch vor der Hand für gerath-
ner fanden, sich seiner als eines blinden Werkzeuges zu bedienen;
aber sie mußten von vornherein den Gedanken haben, sich seiner frü¬
her oder später zu entledigen. Vor etlichen siebenzig Jahren wäre
Leu, wenn er die Rolle hätte spielen wollen, die er jetzt durchge¬
führt hat, hingerichtet worden, wie Henzi in Bern, und dieselbe Par¬
tei, die ihn damals hätte hinrichten lassen, sitzt jetzt wieder in Luzem
am Nuder.
Ihr religiöses Glaubensbekenntniß, denn die Kirche
entbindet aller Schuld. Die Geschichte dieser Partei, — denn sie
beweist, daß die schweizer Legitimen vor keiner List, vor keinem Treu¬
bruch, vor keiner Gewaltthat, vor keinem Verbrechen zurückschrecken,
um die, wie sie vorgeben, von Gott selbst eingesetzte Ordnung, wo¬
runter sie ihre Herrschaft verstehen, wieder herzustellen oder aufrecht
zu halten. Wer dieses Urtheil zu hart findet, der mache sich mit
der Schweizergeschichte nur seit 1830 bekannt, nicht einmal das,
denn die Geschichte seit 1839 genügt, ja die walliser Ereignisse von
1843 und 44 allem reichen hin. Alles Blut, das seit 1830 in der
Schweiz vergossen worden ist, sällt den schweizer Patriziern oder
Legitimen zur Last Kaum sind sie seit 1839 wieder etwas zu Kräf¬
ten gekommen, so reisten die blutigen Auftritte nicht ab in Verbindung
mit Scheußlichkeiten und Barbareien, die man in einem Lande, das
auf Bilvung Anspruch macht, gar nicht für möglich halten sollte.
Daß die vielen politischen Meuchelmorde, welche im Kanton Wallis
seit einigen Jahren vorgefallen, von dieser Partei ausgegangen sind,
ist notorisch und offenkundig.
Der große Nutzen, den sie aus Leu's Ermordung
zieht; denn eS ist aus allen Baucrnbewegungen bekannt, daß ihr
Anfang, Fortbestand und Ende ganz und gar vom Schicksal ihrer
Führer abhängt. Eine Masse von Bauern mag noch so groß sein,
sie ist eine wehrlose Heerde, die auseinander stiebt und um Gnade
bittet, sobald ihr Führer gefallen ist. Die luzerner Bauernpartei hat
aber keinen andern Führer als Leu. Die Zukunft wird zeigen, daß
von nun an die Bauernpartei nach und nach ebenso ohnmächtig wer-
den wird, alö die Liberalen und nationalen schon sind, und daß die
legitime Partei im Kanton Luzern ihr Ziel alleinigen und unum¬
schränkten Schreckens und Gnadenherrschaft erreicht hat.
Die Anträge, welche die legitime Partei nach Leu's
Ermordung in den großen Rath gebracht hat; denn der
erste Gedanke der am Staatsruder sitzenden Patrizier ist kein anderer, als
den großen Rath um Bewilligung von Geldmitteln zur Errichtung
einer ständigen Leibwache zu ihrem Schutze anzugehen! Und
diese Leibwache sollte noch dazu nicht aus Luzernern, sondern aus
Fremden bestehen! Das errinnert denn doch etwas zu stark an die
Geschichte des Piststratus. Wem ein solcher Antrag die Allgen nicht
öffnet, der verdient nicht welche zu haben. So viel ist gewiß, es ist
viel unwahrscheinlicher, daß die Luzerner Patrizier eine ständige Leib¬
wache für sich gefordert haben, weil Leu gemordet worden ist, als
daß Leu gemordet worden ist, weil die Luzerner Patrizier sich mit
einer ständigen Leibwache haben umgeben wollen.
Endlich die Sicherheit, mit welcher die That aus¬
geführt worden, und das Dunkel, welches den Mörder
umgiebt; denn wenn auch aus den Gebräuchen, welche beim Kilt-
gang herrschen, sich vieles erklären läßt; so ist doch bei einem Ver¬
brecher, der das wachende Auge der Staatsgewalt zu fürchten hat,
eine solche Verwegenheit, wie sie diese Ermordung Leu's fordert,
kaum vorauszusetzen. Leicht ist aber die Erklärung bei der Annahme,
daß der Mörder von der herrschenden Patrizierpartei gedungen war.
Er wußte dann, daß er vor den Wächtern der Staatsgewalt, für
deren Entfernung gesorgt werden konnte, nichts zu befürchten hatte
und konnte mit der kaltblütigsten Sicherheit zu Werke gehen. Auch
vor Entdeckung ist er sicher und das vollständige Dunkel, welches den
Verbrecher deckt, ist leicht zu erklären. Wenn nicht Leu's Anhänger
dem Thäter selbst nachspüren, oder die Tagsatzung durch eidgenössi¬
sches Einschreiten den Luzerner Gräueln ein Ende macht, wird der
Thäter nimmermehr entdeckt werden.
Alle Anzeichen leiten also auf die legitime Partei der Patrizier
hin. Die Ermordung Leu's wäre eine außerordentlich günstige
Veranlassung, für die Tagsatzung einzuschreiten, und dem Unwahren,
welches namentlich die Luzerner Legitimen, von Bernhardt Meyer
und Sigwart Müller gesichert, treiben, ein für alle Mal ein Ende
zu machen, — günstiger, als sie vielleicht in langer Zeit wiederkeh¬
ren wird. Das Blutvergießen und politische Verbrechen in der
Schweiz werden nicht eher aufhören, als bis die Patrizier einsehen,
daß selbst ihre Frevelthaten ihnen nicht die gewünschten Früchte brin¬
gen; sie werden aber zu dieser Einsicht nicht eher gelangen, als bis
die Wünsche der schweizer Bevölkerungen befriedigt sind, und diese
sind nicht eher befriedigt, als bis unter dem Schutze einer besseren
Bundesverfassung alle Vorrechte abgeschafft sind, und allgemeine
Rechtsgleichheit und staatsbürgerliche Freiheit herrschen.
Die Ehre der liberalen und nationalen Partei in der Schweiz
aber fordert, daß sie in dieser Sache mit Ernst, Nachdruck und
Würoe handle. Die Luzerner Legitimen haben die eherne Stirn
gehabt, die Schuld der Ermordung Leu's den Liberalen und natio-
nalen zuzuwälzen. Nun, die politischen Bewegungen, welche bis
1839 von Liberalen und nationalen ausgegangen sind, sie waren
manchmal stürmisch, aber niemals blutig. Die Liberalen haben große
Fehler begangen, die nationalen haben manchmal thöricht gehandelt,
aber ohne das Dasein der legitimen Partei wäre in der Schweiz
Alles auf dem Wege friedlicher Reform zu Stande gekommen. Die
Geschichte wird die nationalen und Liberalen von der Anklage des
Meuchelmordes freisprechen. Das reicht aber für die Gegenwart
nicht hin; es reicht auch nicht hin, daß man das Ereigniß zu einem
Selbstmorde machen will. Es ist vies vielmehr ein neuer Fehler,
eine neue Schwachheit. Liberale und Nationale müssen vereinigt auf
eidgenössisches Einschreiten in die Luzerner Gräuel, auf eidgenös¬
sische Untersuchung des Verbrechens dringen. Die Ermor¬
dung Leu's ist keine Luzerner Angelegenheit; die Ehre aller
Parteien in der ganzen Schweiz steht hier auf dem Spiele, — es
handelt sich hier vor ganz Europa um die Ehre und Würde der
ganzen Eidgenossenscha se, welche seit 1839 durch die blutigen
Wühlereien der legitimen Partei schon compromittirt genug jhe. Der
Augenblick ist für die ganze Schweiz wichtig, das beweist die große
Theilnahme, welche alle Zeitungen Frankreichs und Deutschlands,
die politische Bedeutung haben, dieser Angelegenheit widmen.
Die Classificationen in der Literatur haben'sich trotz tausend¬
facher Bestrebungen noch immer unzureichend bewährt, sobald dieselben
auf einzelne Produktionen angewendet werden sollen. Und gerade
bei den besten. Der echt producirende Geist schafft ohne Analogien.
Er denkt gar nicht daran, ein bestimmtes Literaturgenre und eine
bestimmte Richtung zu vertreten. Er vertritt nur eben die seine. Er
sucht nicht nach dem Stoff und sucht nicht nach dessen BeHandlungs¬
weise, sondern beide drängen sich ihm von selber auf, eins mit dem
andern untrennbar vereint, als fertiges Gebild. Unter welcher Ge¬
staltung dieses sich dann auch dem Publikum vorlegt, immer ist's
ein Erzeugniß innerer Nothwendigkeit. Es mußte eben so und konnte
nicht anders werden. Trotzdem vermögen vorzüglich wir Deutschen
es nicht zu lassen, jedes einzelne literarische Erzeugniß, jeden einzel¬
nen Schriftsteller und vollends jede Richtung wo möglich in eine der
von Alters her angenommenen Klassen zu bringen. Wir wollen
durchaus für jede Production eine Stellung in den Fächern der lyri¬
schen, didaktischen, epischen oder andere Literatur, wir fragen immer
und überall, ob eine Darstellungsweise der klassischen, romantischen
oder sonst einer Schule zuzuzählen sei. Und weil nun eben dies Fest¬
halten an langhergebrachten Schulworten gebräuchlich, während den¬
noch die Literatur selbst in ihrer Wesenheit und Erscheinung Wand-
lungen erlitten hat, wie sie kein früheres Jahrhundert zeigte, so suchen
wir uns für gewisse ganz neue Richtungen doch wenigstens mit ge¬
wohnten Namen zu behelfen. So ketten wir häusig das Hetero¬
genste zusammen und schaffen Kunstworte, welche einer corii-Melo
in alljveto aufs Haar gleichen. Als Beispiel nenne ich die „poli¬
tische Lyrik." Wo aber derartige halbneue Benennungen für voll¬
kommen neue Gestaltungen und Gewandungen nicht erfunden sind,
da nimmt man gar nur auf die äußerliche Form Rücksicht und ver¬
kündet durch den Zusatz „modern," daß dem Schulbegriffe und ihrem
innern Wesen nach die bezeichnete Production keineswegs jenem Genre
zuzuzählen sei, dessen Namen sie trägt. Auf diese Weise hat man
„moderne" Tragik, Komik, Lyrik u. s. w. geschaffen. Solchergestalt
ist ein Wirrniß in diese Begriffsbestimmungen gekommen, welches,
wenn keine wirklich neuen Bezeichnungen erfunden werden, sich mit
dem vorschreitender Entwickelungsgange der modernen Literatur noth¬
wendig auf's Höchste steigern muß. Deutlich ist also vor der Hand
bereits die eine Erkenntniß, daß die althergebrachten Bezeichnungen
nirgends mehr zureichen wollen, daß sie ungenügend sind für die
neuerstandene Zeit und ihre Gebilde. Ja, selbst die Kunstworte zur
Begrenzung der Formen und des Wesens z. B. der erzählenden Poesie
in ungebundener Sprache, wie sie uns eine vergangene Zeit über¬
liefert hat, sind bereits häufig nicht mehr paßlich anwendbar. Wir
könnten sonst keine „dramatischen" Romane, keine „dialogisirten" Er¬
zählungen haben. Wohin soll außerdem z, B. jenes Erzählungs¬
genre gerechnet werden, welches, das Volksleben schildernd, neuer¬
dings zu einer höchst bedeutsamen Literaturrichtung herangewachsen
ist und als dessen Repräsentanten ich nur B. Auerbach's „Dorfge¬
schichten" und I, Rank's „Aus dem Böhmerwalde" nenne? —
Dieser ganze Literaturzweig ist ein so völlig neuer, daß wir weder
seiner Form noch seiner Anschauungö- und Darstellungsweise nach in
der bisherigen Schriftwelt Analogien auffinden mögen. Ist hier Ly¬
rik, ist hier Epik, ist hier Didaktik, ist hier Naturschilderung vor¬
schlagend? Sind es Novellen, sind es Romane? Ist hier Klassik,
ist's Romantik? — Auf alle diese Fragen ist mit Nein zu antwor¬
ten, und dennoch könnte man dazu im Widerspruch auch fast auf alle,
wenigstens bedingungsweise, eine bejahende Antwort geben. Die
Classificationen nennen diese Darstellungen der Form nach mit einem
vagen Namen „Geschichten" und bezeichnen sie ihrem Inhalte nach
eben so weitschichtigen Wortes als „Volksgeschichten," Es ist hier
nicht der Ort, dieses Thema weiter auszubeuten; es sollte nur dar¬
auf hingedeutet werden, wie auch hier der Göthe'sche Ausspruch von
der „grauen" Theorie vollständige Geltung hat. — Angeregt ward
im gegenwärtigen Momente dieser Gedankengang zunächst durch „Leo¬
pold Schefer's Ausgewählte Werke," von denen die eisten
zwei Bände vorliegen. Sie sollen in ,12 Theilen die Novellen, das
Laienbrevier und Gedichte bringen. Wir werden das vorzüglichste
Dessen gesammelt erhalten, was bisher in einzelnen Taschenbüchern
und Zeitschriften zerstreut war. — Leopold Schefer erklärt also
damit auch den größten Theil seines literarischen Lebens für eine
abgeschlossene Thatsache, welche nun der Literamrgeschichte anheim¬
fällt. Und eben auch Leopold Schefer ist eine jener literarischen Er¬
scheinungen, welche ich als erotische bezeichnen möchte, als solche,
für. welche ringsum keine Analogien zu finden sind, als solche, welche
sich keiner bestimmten Richtung anschließen und sich vollkommen selbst^
ständig aus sich selbst herausgebildet haben. Gewöhnlich bedingen
derartige Erscheinungen einen mannichfachen Anschluß jüngerer Lite¬
raturkräfte. Ist die Anregung und der Einfluß mächtig genug, um
wirkliche Wandlungen in der Literatur hervorzurufen, so entkeimen
diesem in der ersten Zeit meistens formellen Anschlusse durch selbst¬
schaffende Kräfte'nach und nach ganz neue Richtungen, Entwickelun¬
gen, Schulen, Literaturepochen. Ist dazu der Autor nicht ursprüng¬
lich und urkräftig genug, so zerfasert sich der Anschluß theils in Nach¬
ahmung, theils auch nur in Anklänge. Man braucht sich ja nur
der Jean Paul'schen, der Hoffmann'schen, oder selbst der Siegwart'-
schen und Clauren'schen Zeit zu erinnern. — Leopold Schefer steht
seltsamer Weise vollkommen isolirt. Eben so wie er keinen Vorgän¬
ger hat, so eristirt auch in der ganzen heutigen Literatur kein Schrift¬
steller, dessen Thätigkeit und Erzeugnißweise sich der seinen annäherte.
Selbst bei A. Stifter besteht alle Aehnlichkeit am Ende nur in ge¬
wissen Unähnlichkeiten, deren Bezug auf Schefer'sche Weise vielleicht
aufzufinden wäre. Soll nun aber bei Schefer — wenigstens als
Erzähler — durchaus nach einem Anschluß an früher Vorhandenes
gesucht werden, so ist's vielleicht am meisten noch an die eigentlich
sogenannte romantische Schule, an eine Periode Tiek's, an Brentano,
Achin von Arnim und Etchendorff. Und außerdem sind wohl auch
Jean Paul'sche Anklänge nicht wegzuläugnen. Aber diese Bezüge
und Anknüpfungen sind doch nur oberflächliche, außerwesentliche, ge¬
wissermaßen auch nur formelle. Bemerkenswerth bleibt es außerdem
immerhin, daß eben so wie über die Männer jener Literaturrichtun-
gen und ihre Productionen, so auch über Schefer die Urtheile des
außerhalb einer praktischen Theilnahme an der Literatur stehenden
Publikums fort und fort nur in Ertremen sich bewegen. Er ist ent¬
weder vorzugsweifer und ausschließlicher Lieblingsschriftsteller, oder
man findet ihn vollständig ungenießbar. Jene Aussprüche oberfläch¬
licher Theilnahme, wie wir sie eben für Roman- und Novcllendich-
ter so häufig erklingen hören, fehlen bei ihm gänzlich. Man wird
es höchst selten finden, daß er vom eigentlichen Lesepublikum unter
der Masse des täglich Erscheinenden flüchtig ungelesen und rasch ver¬
gessen wird, um neuen Eindrücken den Platz einzuräumen. Jedoch
ist er auch nicht so weit verbreitet als manche Andere und minder
Bedeutsame. Schefer ist eigentlich niemals literansch-populär gewor¬
den. Er hat wohl Leser, besonders auch viel Leserinnen, aber nicht
recht eigentlich ein Lesepublikum gefunden. Dafür hat er aber bei
diesen Anhängern jenen Vortheil des lebhaftesten Interesses und einer
wahren Sympathie. Jedoch selbst die Aeußerungen dieses Interesses
unterscheiden sich wesentlich von den anderswo gewohnten. Während
bei andern Erzählern sich die Theilnahme meistens zwar dem Ge¬
schichtsgang und der Formung des Ganzen zuwendet, zunächst aber
von einzelnen Personen der Erzählung in Anspruch genommen wird,
oder die weiblichen oder männlichen Figuren, oder die Situations¬
schilderung, die Lokalfärbung u. f. w. als vorzügliche Schönheiten
genannt werden und alle Theilnahme ein mehr unmittelbares und
reinmenschliches Gefühl ist, denn ein Resultat deS anschauenden und
beurtheilenden Verstandes, ist dies bei den Lesern Schefer's meistens
etwas ganz Anderes. Das Urtheil ist hier meistens ein rein künst¬
lerisches, die Theilnahme eine vollkommen objective, grundbcwußte
und aus Neflerion hervorgegangene. Dies ist erklärlich. Menschen
und Verhältnisse der Schefer'schen Erzählungen treten für eine mehr
oberflächliche und reine Gefühlstheilnahme in ihren innern Beding-
mssm und äußern Offenbarungen aus dem Reiche des Gewohnten,
Bekannten, im wirklichen Leben Geschehenden scheinbar viel zu sehr
heraus. Wir empfinden es fort und fort, daß wir eS eben nur mit
erdachten Zuständen und Verwickelungen, daß wir es nicht mit wirklich
lebendigen Menschen, sondern mit Phantastegebilden des Dichters zu
thun haben. Wir leben nicht in der uns gewohnten Atmosphäre, wir
athmen nicht in der uns gewohnten Luft, wir sehen nicht in dem uns
gewohnten Lichte. Und doch soll mit diesen Worten noch nicht gesagt
sein, daß alles Geschehende und Erscheinende seiner Erzählungen
außerhalb der wirklichen Lebensmöglichkeit und außer aller Wahr¬
scheinlichkeit der Erwartung läge. Nein, dies keineswegs. Aber es
sind uns die gewohnten Maaßstäbe, Vergleiche, Beweggründe und
Bedingungen dafür ferner gerückt; es ist nicht jene Welt, wie sie
uns das Leben, sondern jene, wie sie eben L. Schefer schafft. Im¬
mer und immer drängt sich fast unwillkührlich bei Durchlesung der
Schefer'schen Schriften ein Vergleich auf, welcher deren Eindruck und
ihr Wesen wohl nicht ganz unpassend versinnbildlichen mag. Der
Leser erblick nämlich die darin geschilderte Welt, wie die wirkliche
und lebendige aus jenen Gartenpavillons, welche mit bunten Fenstern
verziert sind. Eine eigenthümlich beengende Schwüle, ohne daß man
diese doch wirklich eine drückende Hitze nennen könnte, herrscht ge¬
wöhnlich an solchen Orten. Wenn wir nun aus dieser Atmosphäre
durch jene gelben, rothen und blauen Fenster hinausschauen in die
Landschaft und deren Leben, so erscheint uns alles Bekannte entfrem¬
det, das Gewohnte außergewöhnlich, besonders alle Färbung umge¬
wandelt. Wir müssen uns immer von Neuem orientiren, wir müssen
immer daran denken, wie dies Alles nur ein optisches Spiel, zu
dem vielleicht noch die Einwirkung jener schwülen Luft auf uns sel¬
ber tritt und wir verharren dennoch in der absichtlichen Halblänschung
und in der künstlichen Halbenlfremdung. Ein einziges geöffnetes
Fenster könnte uns die wahre Welt und die wirkliche Sommerluft
zuführen; aber ein gewisser prickelnder Reiz läßt uns nicht dazu kom¬
men, diese durch'ö gelbe Fenster in Aequatorsonne brütende Land¬
schaft, diese durch'ö rothe Fenster in Vulkanschein glühenden Berge,
diese durch's blaue Fenster unter einer Schneedecke wogenden Saat¬
felder zu sehen, wie sie wirklich sind. Es ist ein künstliches Versetzen
in eine fremde Welt der wachen Träume, was wir da treiben. Und
Leopold Schefer thut in seinen Erzählungen dasselbe. Immer und
immer sind sie von einer wundersam brütenden Ueberwärme durch-
weht, immer und immer sind deren Personen und Gegenden von
einem seltsam chromatischen Lichtspiel umsäumt und wie ein leuchten¬
der zwar, aber dennoch umflorender Nebel wogt ein gewisses Etwas
durch all' seine Productionen. Welchen Kreisen deren Menschen daher
auch angehören, unter welchem Himmelsstriche sie auch spielen mögen
— immer und immer bleiben sie dennoch und nur Schefer's in ihren
Bewegungen und Offenbarungen. Daher ist's auch eine gewisse
Monotonie, welche durch alle seine Erzählungen läuft, daher eine
durchgehende Aehnlichkeit der Figuren und ihrer Charaktere, deren
Urtypus sich jenem vergleichen läßt, wie wir ihm in indischen Sa¬
gen und Dichtungen gewöhnlich begegnen — eine durch Reflexion
scheinbar erreichte Kraft, dabei aber im praktischen Handeln fast
weibliche Weichheit, welche den harten Angriff der Welt scheut und
diesem nur den passiven Widerstand der Zähigkeit und eines philo¬
sophischen Sichhingebens leistet. Die vorliegenden sechs Erzählungen
liefern dafür mannichfache Beweise. Vorzüglich drei derselben, „Wald¬
brand," „Unglückliche Liebe" und „Künstlerehe" können als Proto¬
typen der Schefer'sehen Weise gelten. Außer den angedeuteten Ei¬
genthümlichkeiten in Situationöschildcrung und Charakterentwickelung
ist in ihnen auch jenes seltsame Verklingen des Schlusses, welches
Schefer mit der romantischen Schule gemein hat, und jenes Verflech¬
ten einer originellen, pantheistischen Theosophie mit dem Erzählungs-
gang, wie es ihm allein eigenthümlich, vorzüglich ausgeprägt. Da¬
bei macht sich ein wundersam in sich selbst vielfach verschlungener
Satzbau geltend, ohne daß doch daraus weitschichtige Perioden ent¬
ständen, sondern nur ein Jongliren mit Worten mehrfacher Bedeutung
und ein Hin- und Herwicgcn auf Redeweisen verschiedener Deutung.
Man mag bei Schefer leicht die Empfindung haben, als überstürze
ihn die außerhalb der vorliegenden Sachen umherschweifende Gedan¬
kenfülle, so daß es ihm unmöglich, den Erzählungsfaden fort und
fort festzuhalten, oder auch als sei er nirgends über dem Erzählten
gestanden, sondern mitten darunter, wenn auch nicht davon sclbstbe^
troffen und verletzt oder erhoben, so doch von den Ereignissen befan¬
gen, berührt, erregt: darum immer und immer mitempfindend, über
jede Einzelheit in seiner Weise rcflektirend.
Es möchte wohl eine schwer zu lösende Frage sein, ob ein, wie
bei Schefer, fort und fort durch lange Jahre laufender gleicher An-
schauungS- und Darstellungstypus als Resultat sehr feststehender
philosophischer Ueberzeugung und einer vollständig objectiven Jnsich-
aufnahme der Lebenserfahrungen zu erachten sei, oder ob als Be¬
grenzung in einen engen Kreis der poetischen Anschauung? Es mag
sehr schwer zu entscheiden sein, ob diese Art der Zeichnung mehr
echte Poesie enthalte, als jene, welche das Leben wohl in seinen
hervorragenden und außergewöhnlichen Momenten zunächst auffaßt,
aber dagegen auch dessen Prosa und Wirklichkeit ihr Recht geschehen
läßt? Dagegen ist's aber wohl ein nicht eben so schwer zu beant¬
wortender Zweifel, ob die Kunst deö Erzählers dort mehr Gelegen¬
heit hat sich zu offenbaren, wo aus den alltäglichen Verkettungen
des Lebens und durch die Schilderung der verschiedenartigen Reac¬
tionen, welche sie bei verschiedenartig gestalteten wirklichen Charakteren
finden, ein faktisch reichhaltigerer und allgemeiner ansprechender Roman
geschaffen wird. Und dies eben ist der große Vorzug eines Schrift¬
stellers, dessen Erzählungen vielleicht den weitesten Leserkreis im deut¬
schen Publikum gefunden haben, dessen sich überhaupt einer der mo¬
dernen Autoren rühmen kann. Der Jude, der Spion und noch zu¬
letzt der Vogelhändler von Imst sind überall so gelesen, überall so
gekannt, überall so beliebt, daß man den Namen ihres Autors nicht
dazu zu nennen braucht, um es anzudeuten, wen man unter jenein
Romanschriftsteller verstehe. Um so größer mußte also auch die Er¬
wartung sein, als bereits vor einem Jahre die Zeitschriften verkün¬
deten, daß dieser Autor an einem neuen Werk arbeite und als nun
vor wenigen Monaten „Fridolin Schwertberger von C.
Spindler" erschien. Vier Bände stark trat dies Buch dem Publi¬
kum entgegen; aber nicht mit der gewohnten Bezeichnung eines Ro¬
mans, sondern als „Bürgerleben und Familienchronik aus einer
süddeutschen Stadt." Roman im gewohnten Sinne des Wortes ist
denn auch Fridolin Schwertberger keineswegs. Dazu fehlt ihm die
künstlerische Geschlossenheit der Handlung und die Hinleitung aller
einzelnen Fäden nach einem einzigen concentrirten Interesse. Zwar
möchte man dieses in der Person des Mannes erwarten, dessen Name
den Titel lieh. Aber meiner Ansicht nach wäre dieser wohl auch
bezeichnender in „die Geschwister Schwertberger" zu verwandeln. Denn
diese sämmtlich, der ehrenhafte Fridolin, wie dessen verwilderter Bru¬
der Mathias, die - streng genommen — unliebenswürdige schwarze
Mer und die allzugefühlvolle blonde Clara, beanspruchen ein glei¬
ches Interesse von Seiten des Lesers, von Seiten des Erzählers eine
gleichermaßen sorgfältige und ausführliche Behandlung. Außerdem
verwickelt sich noch die ganze Constanzer Honvratiorenwelt durch ihre
einzelnen Individualitäten auf das Einflußreichste verschiedenartig mit
den Geschicken und Geschichten dieser Familie, während die Chronik
der Schwertberger eigentlich nur insofern in den Nordergrund tritt,
als Fridolin aus den Erlebnissen und Aufzeichnungen seiner Väter
Trost in den ihn betreffenden Drängnissen findet und zuletzt sein eige¬
nes Geschick bis zum glücklichen Ausgange niederschreibe, damit den
Geschichtsschluß bildend. — Mußten wir uns bei Schefer in eine
ganz außer aller praktischen Lebensgewohnheit liegende Welt und in
eine Welt finden, welcher der eigentliche Lokaltvn fehlt, so erblickt
man hier in Schwertberger dafür den schärfsten Gegensatz. Leben,
unser Leben oder vielmehr Constanzer Kleinstädterleben in niederlän¬
disch treuen Schilvereien, die Menschen sämmtlich — vielleicht nur
Fridolin ausgenommen — augenscheinliche Portraits, ja fast mochte
man darauf schworen, uach Constanzer Originalen: so stellt sich
uns dies Buch dar. — Trotzdem glaube ich diese Production Spind-
lerö nicht mit mehrern seiner frühern Romane, vorzüglich auch nicht
mit dem Vogelhändler auf gleiche Stufe stellen zu dürfen; besonders
sobald wir der künstlerischen Fassung des Ganzen und der psycholo¬
gischen Entwickelung im Einzelnen strenger nachfragen. ES entgeht
dem Buche jene schöpferische Wärme und jene Einheit des Gusses,
jene innerliche Auffassung der lokalen Bedingungen des allgemeinen
Lebens und der individuellen des persönlichen, wie sie sich dort so
prachtvoll offenbaren. Wir erschauen wohl eine Reihe reizender Genre¬
gruppen voll de Potter'scher Wahrheit und Mieris'scher Feinheit der
Allsführung, aber diese setzen sich nicht zu einem wirklich historischen,
wennschon bürgerlich-historischen Bilde zusammen. Trotz des Jn-
einandergreifenS der Handlungen laufen die Personen meistens in¬
nerlich beziehungsloser neben einander vorbei, als man es sonst in
Spindler's Compositionen gewohnt ist. Es ist als fehle die rechte
Jneinanderarbeitung deö Ganzen. Fast möchte man glauben, daß
jener reizenden Detailmalcrei zu Liebe und dem Portraitiren Einzel¬
ner zu Gefallen dem Dichter die Verdichtung des Ganzen zur orga¬
nischen Kompaktheit eine Nebensache geworden. Es ist zu viel Fili-
granarbeit und kein massenhafter Kern. Dies klingt nun allerdings
wie ein schwerer Tadel und würde sich doch bei einem minder be¬
gabten und minder geübten Romanisten fast eben in so viele Lob¬
sprüche verkehren müssen. Allein eben jener Haupworzug der Erzäh¬
lung großer» Styles, die fast dramatische Concentrirung des Interesses
nach bestimmten Hauptgruppen hin, wie er C. Spindler sonst über¬
all eigen, wird hier mannichfach vermißt. Trotzdem bleibt Fridolin
Schwertberger ein überall interessantes, ein bis zum letzten Momente
spannendes Buch; nur kann ich ihn nicht als einen literarischen Fort¬
schritt seines Schöpfers oder als eine neue Entfaltung von dessen so
unendlich reichem Vermögen betrachten.
Es ist gewiß nicht ohne Bedeutung, daß in derartigen Erzäh¬
lungen, welche ihr Interesse an einer innerlich nicht sehr reichen Or¬
ganisation emporranken, der massenhafte Verbrauch des literarischen
Beiwerkes und eben so die massenhafte Anwendung von Menschen
fast immer bemerkt wird- In Fridolin Schwertberger bringen z. B.
die ersten Kapitel eine detaillirte Schilderung einer großen Menge
von Menschen in der Art, wie auf den Theaterzetteln verflossener
Jahrhunderte, nach ihrer äußern Erscheinung und ihren hervorstechend¬
sten Charaktereigenschaften, von denen ein nicht unbedeutender Theil
später nur sehr beiläufig in die eigentlichen Geschichtsgänge eingreift.
Spätere Abschnitte schildern uns sogar das Innere von Kreisen,
welche dem eigentlichen Geschichlsinteressc vollkommen fremd bleiben.
Auf solche Weise fühlt sich wohl das Interesse des Lesers während
der Lectüre fort und fort angeregt, aber am endlichen Schlüsse an¬
gelangt, empfindet sich die Erwartung nicht vollständig befriedigt.
Zurückblickend auf die verschiedenen Gruppen, mit denen der Leser
bekannt wurde, mag man sich häufig umsonst nach dem Grunde dieser
Bekanntmachungen fragen. Diese Klippen wurden in einem andern
neuestens erschienenen Romane „Die Kaiserlichen in Sachsen
von Robert Heller" glücklich umschifft. Heller ist zwar erst seit
wenigen Jahren als Erzähler aufgetreten, muß jedoch trotzdem be¬
reits unter die vielgenannten gezählt werden. Nachdem er während
der letzten Jahre für seine kürzern Erzählungen häufig ein transat¬
lantisches Terrain aufgesucht und dasselbe in Schilderung der Men¬
schen und Gegenden mit Glück bearbeitet hatte, wandte er sich in
seinen Romanen vorzugsweise dem geschichtlichen Genre zu. Dem
„Prinzen von Oranien" warf die Kritik ein zu strenges Festhalten
an der geschichtlichen Thatsache vor, eine zu weit ausgedehnte Dx-
tailschilvenmg der Historie und darüber Vernachlässigung der Erre¬
gung deS Interesses für die auftretenden Individualitäten. Das
Gegentheil möchte beinah von den „Kaiserlichen" geltend sein. Die
Weltgeschichte und deren Ereignisse greifen hier nicht mit ihren gro¬
ßen Erscheinungen in den Gang des Romanes ein. Aber dieser will
sich auch nur als „Roman aus der Zeit des siebenjährigen Krieges"
und nicht als geschichtlicher betrachtet wissen. Daneben ist die treffende
Lokalfärbung der Charaktere, wie die gute Vertheilung der Staffage
als großer Vorzug aufzufassen. Die Romangeschichte selbst ist ziem¬
lich einfach, das hauptsächliche Personal beschränkt sich nur auf We¬
nige und damit ist die Concentration des Interesses gewonnen. Aber
auch hier mochte ich dieselbe Ausstellung wie bei Fridolin Schwert-
berger machen: Die psychologische Entfaltung tritt nicht genugsam
in den Vordergrund. Besonders muß dieses Urtheil auf die weib¬
lichen Figuren angewendet werden. Sie sind in der Anlage wohl
fonnenschö», die Gräfin-Aebtissin Alzau ebenso, wie die eigentliche
Heldin, Mathilde von Zedlow, erscheinen auch durch und durch
lebenssnschz allein die Entwickelung ihrer Charaktere stellt sich im
Detail nicht genugsam allsgearbeitet dar, um daraus fort und fort
die Motive zu deren Offenbarungen vollständig folgern zu können.
Wir erhalten den ganzen Roman durch immer neue Handlung, im¬
mer neue Resultate; doch die pragmatische Begründung derselben
geht dem Leser mitunter verloren. Hat nun gleich das Ganze da¬
durch an drängenden Interesse gewonnen, so erscheint doch vielleicht
eben deshalb die Ausbeutung des selbstgeschaffenen Materials nicht
vollständig gelungen. Es sind manche Anlagen vorhanden, welche
gar nicht zur Ausführung kommen. Wo uns dagegen die wirk¬
liche Handlung in ihren Offenbarungen entgegentritt, da tritt sie uns
voll, straff und markig entgegen. Die Schilderung des Ueberfalls
der Frauen, welche unter preußischer Bedeckung die Leiche eines Ober¬
sten, des Vaters der Einen, nach Dresden zu führen beabsichtigen,
durch ein österreichisches Streifcorps, sowie die Ausmalung jenes
Entführungöversuches, der Gräfin-Aebtissin glaube ich als ausgezeich¬
net bezeichnen zu dürfen. Eben so bildet das Zusammentreffen der
Gräfin Alzau mit dem General Sincores auf dem Balle deö Grafen
Mirzach und alle vielfache Verwickelung der heimlichen Getriebe die¬
ses Balles eine der lebenvollsten Episoden des Buches, und darin ist
ein unleugbarer Beweis sehr bedeutsamer romantischer Geschicklichkeit
ersichtlich. Vorzüglich aber bewährt sich auch in der stylistischen Dar¬
stellung ein außerordentlicher Fortschritt Hellers; man findet im gan¬
zen Romane kaum eine Spur jenes ungeschlossenen und flüchtigen
Satzbaues, wie er in frühern Arbeiten desselben Autors mitunter ge¬
rügt worden ist.
Während in der männlichen Schriftstellerwell das heutige Leben
der vornehmen Gesellschaft mehr und mehr zur abgethanen Neben¬
sache wird, fahren die literarischen Frauen fort, eben diese Sphären
sich vorzugsweise zum Terrain ihrer Darstellungen zu wählen. Au¬
ßer Fr. v. Palzow hat aber keine der bekannten modernen Schrift¬
stellerinnen einen historischen Hintergrund für ihre derartigen Gemälde
zu wählen gewagt und keine derselben eine historische Figur in deren
Kreise gezogen. Der von den Franzosen eine Zeit lang so ausschlie߬
lich gepflegte rouuui intime ist ihnen noch immer Hauptaufgabe ihres
literarischen Wirkens. Zu derselben Klasse von Romanen rechnet sich
auch „Eine Lebensfrage von der Verfasserin der Jenny
und Element me."
Diese Verfasserin ist bekanntlich Fräulein Fanny Lewald. Die
Kritik hatte deren beide ersten Romane sehr günstig aufgenommen
und so kam auch ein günstiges Vorurtheil diesem dritten entgegen.
Ihn durchlesend findet man sich nicht enttäuscht. Das uns darin be¬
gegnende Leben ist frisch und lebendig, natürlich und doch poetisch.
Das Interesse fühlt sich fort und fort angeregt und beinah alle Cha¬
raktere, selbst die männlichen — was sonst den Frauen so schwer
fällt — sind wahr und menschlich dargestellt, dabei consequent durch¬
geführt. Es ist viel des Lobcnswerthen vorhanden. Aber allerdings
ist bei diesem Lobe voll der Frage nach großer Tiefe und Innerlich¬
keit abzusehen. Im Mangel dieser wurzelt der Hauptmangel des
Buches und darum bleibt auch eigentlich sein Titel unerörtert. Viel¬
leicht liegt jedoch dafür ein Grund in der Unmöglichkeit irgend eine
Lebensfrage und vollends jene des gegenseitigen Verhältnisses in der
Ehe, genügend zu beantworten, bevor man sie ein ganzes Lebens¬
alter hindurch selbst erst durchlebt hat. Um dies aber wenigstens
annähernd zu können, mußte im vorliegenden Fall z. B. der Cha-
rakter Karolinens bis an die Grenze der Caricatur gedrängt werden,
obschon sich anch eine theilweise Wahrheit dieses Charakters durch¬
aus nicht wegläugnen läßt. Die lebenswahrste Figur ist aber jeden¬
falls Juliane, die lieblichste, die fast kindisch-kindliche Eva. Bet
Therese, ver Freundin Alfred'S — deS Gatten Karolinens — spricht
sich der Egoismus unschön grell darin aus, daß erst der böse Leu¬
mund, welcher ihren Ruf angreift, sie zu dem Entschlüsse bringt, ih¬
ren Freund in die rechte Stellung zu seiner Gemahlin zurückzuzwin-
gen. Darum mußte Karoline psychologisch inconsequent gezeichnet
werden, sie mußte sich dies ganz widerstandlos gefallen lassen, damit
der gute Ruf ihrer Rivalin wieder hergestellt werde. Dabei fühlt
der Leser jedoch immer, daß diese Karoline trotzdem eigentlich betro¬
gen ist und ihre Figur mußte eben so höchst unliebenswürdig darge¬
stellt sein, wie sie es ist, um nicht die innigste Theilnahme von den
Hauptfiguren weg auf sich zu lenken. — Verbrauche, obschon nicht
unpassend angewendet, erscheint — um auch vom Detail der Staf¬
fage Einiges zu erwähnen — die Maökenscene. ES ist bei allen
Romanen ein großes Glück, daß die Leute dort so treffend in ihren
Charaktermasken sprechen, wie im wirklichen Leben nicht ein einzig
Mal. Daß übrigens die Verfasserin dieses Romans literarisch noch
sehr jung, erhellt aus den Wendungen, welche sie der Konversation
giebt. Die Leute sind sämmtlich ganz vortrefflich auf dasjenige vor¬
bereitet, was sie abzuhandeln haben und sprechen z. B. über Faust,
über den Adel, als sei dies Alles vor ihnen noch niemals bespro¬
chen, und besonders als sei es noch niemals in dieser Weise aufge¬
faßt worden. — Aber trotz dieser Ausstellungen ist in Fr. Fanny
Lewald ein sehr bedeutendes Talent zu begrüßen. Jedenfalls sind
ihre Anschauungen frischer, gesünder und natürlicher als jene der
Gräfin Hahn-Hahn; dagegen steht sie dieser in geistreichen Gedan¬
kenblitzen und in der Kunst der Zusammenordnung Frau von Pal-
zow noch nach; auch glaube ich nicht, daß man sie in poetischer
Hinsicht mit Jda von Düringsfeld auf gleiche Stufe zu stellen ver¬
mag — besonders wenn diese minder viel schreiben und ihre einzel¬
nen Productionen allseitiger durcharbeitet geben möchte. Auch Frl.
Lswald muß sich vor dem Zuvielschreiben hüten- dadurch zersplittert
sich dies poetische Empfängnis) und die Darstellung verliert leicht an
Im August versammeln sich hier die österreichischen Buchhändler,
um sich über die geeigneten Maßregeln zu berathen, die zu ergreifen
wären, um den literarischen Verkehr des Kaiserstaates zu heben und
dessen Verhältnisse zu regeln. Lange konnte man nicht die Genehmi¬
gung der Hofstudiencommission erhalten, zu deren Ressort diese Sache
gehört, denn wahrscheinlich besorgte man eine Petition, die sich in
Erstrebung zeitgemäßerer Prcßzustände dem Eollcctivgesuch der österrei¬
chischen Schriftsteller anschlösse und den Ruf nach Lösung der schwe¬
ren Geistesfesseln nur noch verstärken wolle. Allein da scheint man
sich gewaltig geirrt zu haben, denn die Mehrzahl unserer Buchhändler
ist weit entfernt, solch' radicale Mittel in Vorschlag zu bringen; es
sind ehrliche Krämerseelen, die ihre Sortimentsgeschäfte, weniger schi-
kanirt als jetzt, sortbetreiben wollen und verdammt wenig darauf hal¬
ten, ob in Oesterreich selbst ein Verlag entstehen soll, der sich nicht
seiner Existenz zu schämen braucht, wenn sie nur ihre Zinsen ein¬
streichen rönnen und das Ausland gangbare Artikel aus der Presse
liefert. Vermuthlich ist der Buchhandlerversammlung ein Discussions-
reglement bestimmt worden, nach dem sie sich richten muß und wel¬
ches jede mißliebige Abweichung verhüten wird. Indeß breitet sich der
erwähnten Versammlung auch ohne Erörterung von Prinzipienfragen
noch ein weites Feld der Thätigkeit entgegen, indem die verschieden¬
artigsten Elemente der Poliglotten-Literatur Oesterreichs hier ihre Ver¬
treter finden und die Leichtigkeit des Bezugs durch derlei persönliche
Rücksprache in Zukunft ohne Zweifel ansehnlich gewinnen muß. Seit
die Volkssprachen in dem bunten Kaiserstaate sich literarisch zu regen
ansingen, hat der Buchhandel innerhalb der Landesgrenzen nicht wenig
an Wichtigkeit und Ausdehnung gewonnen; selbst in Italien, das
doch von jeher der deutschen Literatur so gut als verschlossen war, zei-
gen sich jetzt die Nachwirkungen der österreichischen Völkcrmischung
nicht blos in zahlreichen Aufschriften und Ankündigungen, die man zu
Mailand und in anderen Städten der Lombardei in deutscher Sprache
liest, sondern auch in der Möglichkeit deutscher Bühnen in Venedig,
Verona u. s. w., welche, von Trieft kommend, sich auf einige Wochen
zu halten und den öffentlichen Beifall zu erringen wissen. Italiens
erster Schauspieler, Modena, war vor einiger Zeit mit seiner Frau hier,
um an den Kunstkräften des Hofburgtheaters sein Urtheil zu scharfen,
und Löwe besuchte hinwieder Venedig, wo er ausnehmend gefiel. Auch
sind deutsche Werke jetzt keine Seltenheit mehr, die in Italien an's
Licht treten, und namentlich ist es Mailand, das sich am meisten dem
nordischen Geiste anschließt, der über die Alpen hereinflutct. L-iber
hat die deutsche Zeitschrift „Echo," die in Mailand lange Jahre er¬
schien, aufgehört, doch scheint die Ursache ihres Erlöschens weniger in
dem Mangel an Theilnahme gelegen zu haben, als in anderen Um¬
ständen und in dem Geist der Leitung selbst. Eine Kuriosität eigen¬
thümlicher Art kann ich nicht verschweigen, welche den Fremden in
den letzten Tagen zu Mailand amüsirte, wenn er durch die Straßen
der Stadt schritt, und da bei den Maueranschlägen gutgekleidete Leute
stehen sah, die sich über ein großes Räthsel der Gassenlitecatur den
Kopf zu zerbrechen schienen. Der Gegenstand ihrer philologischen Grü¬
beleien war eine literarische Anzeige, worin eine böhmische Beschrei¬
bung der merkwürdigsten Kirchen Mailands empfohlen ward, welche
wohl hauptsachlich die Soldaten der Garnison im Auge haben mochte.
Ein Vorübergehender wurde auch von einem jener darum versammel¬
ten Mezzofanti's befragt, in welcher Sprache dieser Zettel geschrieben
sei, und gab den Bescheid: „Im türkisch-deutschen Idiom" (KoU'
itlium turco-ton'eher), womit sich dann auch die Zweifler vollkommen
zufrieden gaben. Die Italiener hegen überhaupt noch die abenteuer¬
lichsten Begriffe von dem Umfang und der Zusammensetzung der deut¬
schen Nation. So rechnen sie Ungarn, Polen u. s. w. ohne Weite¬
res zu Deutschland und alle österreichischen Soldaten werden von ih¬
nen für Deutsche gehalten, mögen es auch Magvaren oder Eroaten
sein, nur die Jäger nennen sie ausnahmsweise Tirolesi, obschon die
wenigsten dieser Waffengattung Tyroler sind.
Möge also die erste österreichische Buchhändlervcrsammlung noch
so ängstlich auftreten, immerhin sei sie uns als ein segenreiches Wahr¬
zeichen eines erwachenden Lebens im Vaterlande willkommen, das ge¬
rade der Bewegung bedarf und vorerst wenig darnach fragen darf, ob
auch Alles so geartet sei, wie es wohl wünschenswert!) erscheinen mag.
Der Buchhändler Millikowski in Lemberg hat sich als der erste An¬
reger dieser Angelegenheit ein schönes und bleibendes Verdienst um die
geistigen Interessen Oesterreichs erworben, wenn auch die Frucht sei¬
ner That erst in der Folge reifen kann.
Das verkündigte Festessen, das der Kaiser am Schlüsse der
Industrieausstellung den mitwirkenden Fabrikanten in den Orangerien
von Schönbrunn geben wollte, ist in den Brunnen gefallen. Es
müssen sich da aristokratische Tendenzen gellend gemacht haben, welche
es unschicklich fanden, in den Hallen der Majestät ein Gewerkenfest zu
veranstalten, obschon es in Berlin ebenfalls stattgefunden und deshalb
hier um so mehr vermißt wurde. Ueberhaupt äußert sich die Stim¬
mung der Aussteller im Allgemeinen nicht sehr günstig, was bei den
vielfachen, sich durchkreuzenden Interessen so vieler Personen wohl kaum
zu vermeiden sein dürfte, indem die meisten Industriellen, sowohl jene,
welche gänzlich Übergängen oder auch mit ehrenvollen Erwähnungen
und bronzenen Medaillen ausgezeichnet wurden, sehr unzufrieden sind
mit der ihnen gewordenen Beachtung. Dazu kommt noch die aller¬
dings auffallende Vernachlässigung kostbarer Kunststücke, wie sie jede
Ausstellung zu bringen pflegt, und die nicht auf das Bedürfniß des
Publikums, sondern auf den Luxus der Kcösusse berechnet, dem Erzeu¬
ger bedeutenden Schaden verursachen, sobald sie nicht zur Belohnung
angekauft werden, um dem Fabrikanten das Capital zurückzuerstatten,
das er darauf zum Glanz und zur Verherrlichung der Ausstellung
verwendet hat. Auch leiden die meisten Gegenstande, wenn sie acht
Wochen hindurch einer afrikanischen Hitze und dem fressenden Staube
ausgesetzt sind, und manche darunter, deren Werth eben in der Frische
des Colorits und in der blendenden Ursprünglichkeit ihrer Außenseite
bestehen, gehen dadurch ohne alle Entschädigung verloren. Um auch
eine statistische Notiz über den Erfolg der industriellen Exposition zu
geben, füge ich auch hinzu, daß 1(19 Medaillen von Gold (das Stück
im Werthe von 75 Fi.), 188 Medaillen in Silber (das Stück 10 Fi.
im Werth) und 270 Medaillen von Bronze vertheilt wurden, woran
sich noch 203 ehrenvolle Erwähnungen schließen, die in einem Aner-
kennungsdecrete der k. k. allgemeinen Hofkammer bestehen.
Aus den politischen Zeitungen ist es Ihnen wahrscheinlich bekannt,
daß der Kaiser eine Amnestie erlassen hat, die allen Rekrutirungsflücht-
lingen, welche sich bis zum Ablauf dieses Jahres in ihren Werbe¬
bezirken freiwillig melden, zu Statten kommen soll. Außerdem, daß
ihnen vollständige Straflosigkeit zugesichert wird, sollen sie, im Falle
sie kciegstüchtig befunden werden und das Normalalter nicht überschrit¬
ten haben, so zu behandeln sein, als ob sie erst nach Erlaß des neuen
Conscriptionsgesetzes militärpflichtig geworden wären, folglich nur acht
Jahre dienen. Diese Amnestie wird ohne Zweifel wenigstens auf die¬
jenigen, welche in der Heimat etwas zu verlieren haben, sehr wirksam
sein, denn das Schreckgcspennst einer Capitulation, welche die schönsten
Mannesjahre verschlingt, ist fortan abgethan und dem Jüngling die
Aussicht eröffnet, selbst schon nach zwei Jahren Fahnendienst aus den
Heeresreihen auf unbestimmten Urlaub entlassen zu werden. Der er-
wähnte Gnadenact des Kaisers ist als eine milde Vervollständigung
des neuen Militärdienstgcsetzes zu betrachten, welches schon lange in
Aussicht gestanden und bei den meisten übrigen Machten bereits in's
Leben getreten war. Eine scharfe Abscheidung in der rechtlichen Gel¬
tung desselben mußte sehr schmerzlich empfunden werden, da die Ver¬
zögerungen seiner Publication von Unschuldigen abgebüßt werden sollte
und deshalb war es eben so gerecht als weise, dem Gesetz in diesem
Falle eine rückwirkende Kraft zu verleihen, um die Schroffheiten zu
vermeiden und nicht eine Wohlthat zu schassen, die von Tausenden
als für sie verspätet erkannt uno beklagt worden wäre. Für die Am-
nestirung der Flüchtigen sprach auch noch die arithmetische Berechnung,
welche zur Herbeiziehung der früheren Mannschaftsausfälle rathen
mußte, um die nächste Rekrutenforderung bei der verkürzten Dienst¬
zeit nicht allzu bedeutend ausfallen zu lassen und dadurch das heran¬
wachsende Geschlecht unverhältnißmäßig zu belasten.
Der so lange Zeit mit schelen Augen beobachtete Männergesang¬
verein fängt nun nachgerade an, hoffähig zu werden, wodurch denn
seine Existenz als gesichert zu betrachten wäre. Allein der harmlose
Verein erhält durch diese neueste Richtung seiner Wirksamkeit einen
wesentlich verschiedenen Charakter und die zwanglose Heiterkeit seiner
Versammlungen verliert sich in geheimen ehrgeizigen Bestrebungen, so
wie das volksthümliche Element desselben durch die eigennützigen und
wohldienerischcn Absichten der Vorsteher, die sich der Vereinsmitglieder
blos als Werkzeug zur Erreichung persönlicher Zwecke bedienen wollen,
nothwendig zu Grunde gehen muß. Der Verein hat die Hoffeste,
welch- zu Ehren der erlauchten Gäste aus England, Italien und
Deutschland veranstaltet wurden, verherrlicht und auch bei dem Gar-
tensoupe mitgewirkt, welches der Staatskanzler den fürstlichen Perso¬
nen in seiner Villa am Rcnnweg gab. Weit entfernt in dieser Rolle
etwas Tadelnswcrthes zu erblicken, freut es uns sogar, ein junges,
vielfach angefeindetes Institut endlich durchdringen und in diese Kreise
gezogen zu sehen; um jedoch diese Freude rein zu genießen, möchte es
wohl erforderlich sein, daß diese Rolle keine auf alle mögliche Weise
erbetene und herausgekünstelte sei, sondern lediglich die Frucht der
Anerkennung, welche jedem tüchtigen Streben zu Theil werden soll.
Auch dürste es der hiesigen Liedertafel weit förderlicher sein, statt die
Abende im schwarzen Frack hinzubringen, endlich einmal in den Zei¬
tungen öffentlich zum Beitritt einladen zu können, denn ohne Oeffent-
lichkeit, ohne vollständige Oeffentlichkeit, ist kein öffentliches Institut
in einer mündigen Existenz denkbar, mit der bloßen Toleranz ist da
gar nichts gethan. Ueberhaupt hat die Liedertafel noch viel zu thun,
will sie sich in einer würdigen Gestalt dem Publikum vorführen. Das
bewiesen noch alle ihre öffentlichen Proben, welche wohl die gedanken¬
lose Menge eine Stunde amüstren mochte, aber ohne geistige Erde-
dung, ohne harmonischen Nachhall, ohne moralische Wirkung blieben.
Oder muß es nicht auf jeden Gebildeten einen niederschlagenden Ein¬
druck hervorbringen, wenn er entweder veraltete Lieder aus dem Be¬
freiungskriege, die den legalen Franzosenhaß athmen, oder nichtssagende
Produkte der Gegenwart absingen hört, indeß die echt deutschen und
patriotischen Vaterlandsgesänge eines Arndt u. s. w. nirgends erklin¬
gen wollen und selbst das loyale- „Was ist des Deutschen Vaterland?"
bei so und so viel Gulden Strafe verboten ist? Nein, so lange der¬
lei im ganzen deutschen Vaterlande unverfänglich befundene Gesänge
hier verpönt sind, so lange wird kein frisches und feuriges Liedcrleben
erwachen und öffentliche Gesangsfcste blos eine krüppelhafte, engbrü¬
stige und melancholische Wirkung haben, sollten auch die Mitglieder
selbst lauter Staudigl's und Tichatschck's sein!
Das Beethovenfest in Bonn electerisirt auch die hiesige Tonwcll,
doch durchaus nicht in dem Maaße, als man es von der ersten (?)
Musikstadt Deutschlands erwarten sollte. Die Ursache liegt ganz nahe
und die obigen Andeutungen über die Verhältnisse der Liedertafel kön¬
nen zugleich als Commentar dieser auffallenden Apathie gelten. Doch sind
einige Kunstnotabilitäten nach dem Rhein gereist, um die Wiege von Beet¬
hoven's Ruhm doch nicht ganz unvertreten zu lassen. Wahrhaft scham¬
los aber ist das bettelhafte Benehmen des Pächters unsers Hofopern¬
theaters, der seit einer Reihe von Jahren, nebst Herrn Merelly, den jähr¬
lichen Gewinn von 3KM0 bis 40,ttvl> Fi. C.-M, welchen diese Kunst¬
anstalt abwirft, einstreicht und es gleichwohl nicht der Mühe werth hält,
die geringste Spende für die deutschen Componisten errichteten Denksteine
beizusteuern. Ein hiesiges Blatt sagt in Betreff dieses beispiellosen
Geizes Folgendes: „Wenn wir nicht irren, ist Karl Maria v. Weber
ein Deutscher und seine Opern sind deutsche; wenn wir nicht irren,
liegt Wien in Deutschland und hat unser Operntheater die Aufgabe,
hier die deutsche Oper zu vertreten; wenn wir nicht irren, wird We¬
ber eben jetzt ein Denkmal errichtet, und wenn wir nochmals nicht
irren, hat unsere deutsche Oper in unserem deutschen Wien für das
deutsche Monument des deutschen Meisters noch gar nicht das Ge¬
ringste gethan. Wir fragen: Warum? Berlin, Dresden, München,
ja selbst Nürnberg hat bereits durch seine Bühnen ein Scherflein bei¬
getragen und Wien nicht, Wien steht gegen Nürnberg zurück — wir
fragen wieder: Warum? Hat man vielleicht mit Weber schlechte Ge¬
schäfte gemacht? Hat man ihm vielleicht für seine Opern zu viel
Honorar gezahlt und sind sie dann durchgefallen, wie die von Doni-
zetti? Wenn der Schein nicht trügt, so ist man beinahe versucht,
das Gegentheil zu glauben und dennoch vergißt man, daß der einzige
Tribut, den man an den Meister noch als Dank zahlen kann, jetzt
zu zahlen ist, dennoch läßt man sich nicht einfallen, daß jetzt dem
Meister ein Denkmal errichtet werden soll und wegen Mangel an
Beiträgen noch nicht errichtet werden kann? Wir hoffen nicht in den
Wind gesprochen zu haben, und wenn die Vorstellung zum Besten
des Weberdenkmals nur so viel einträgt, als der Freischütz den letzten
Sonntag der Direcrion, so ist es schon genug."
So weit der Feuilletonist des Wiener Journals unter Genehmi¬
gung der österreichischen Censur. Auch für das Monument Beetho¬
ven's hat Herr Balochino nichts gethan, wie das Eomitv gern bezeu¬
gen wird, es müßte denn ein anonymer Beitrag aus der Privatcha-
toulle dieses liberalen Mannes dahin abgegangen sein, um den Ruhm
ganz allein zu haben. Doch Herr Balochino ist ein Sophist und ob-
schon er in der Regel nichts weiß, so weiß er doch recht gut, daß
Bonn im Königreiche Preußen und Dresden im Königreiche Sachsen
liegt und macht diesen Umstand zu seiner Entschuldigung geltend. Ein
österreichischer Patriot, und ein solcher will er sein, sagt Herr Balo¬
chino, muß Bedenken tragen, fremde Städte mit Kunstwerken zu
schmücken; man muß sein Geld und seinen Enthusiasmus für einhei¬
mische Genies aufsparen. Es wird gut sein, den bescheidenen Lenker
des wurmstichigen Thespiskarrens daran zu erinnern, daß, wenn schon
einmal auf dem deutschen Parnaß wie in der deutschen Geographie
38 Grenzlinien gelten sollen, Salzburg innerhalb der österreichischen
LandeSgrenzen liege und in Salzburg auf dem Domplatz ein Monu¬
ment stehe, das dem österreichischen Kammermusikus Mozart errichtet
ward und zu dem Herr Balochino gleichfalls nichts gesteuert hat. An
dem Denksteine eines österreichischen Kammermusikers sollte ein öster¬
reichischer Patriot doch etwas beisteuern!
Wir haben jetzt nur drei Theater, die aber darum auch gewöhn¬
lich trotz der Sommerhitze sehr gut besucht sind. Das Leopoldstädter¬
theater, welches Director Karl dem Publikum öffentlich von Grund
aus umzubauen versprach, ist jetzt geschloffen worden, doch keineswegs
um den versprochenen Neubau zu bewerkstelligen, sondern nur um an
dem hinfälligen Gebäude einige nothwendige Reparaturen vorzunehmen
und die dicke Schmutzhaut, welche auf dem Saale liegt, zu entfernen.
Das Theater an der Wien, an dessen Renovirung rüstig gearbeitet
wird und auf welches von Director Pokornv die Summe von 4V,VW
Gulden verwendet wurde, ist gleichfalls gesperrt und soll erst um
1. September eröffnet werden. Man erzählt Wunderdinge von diesem
schöngebauten, aber arg vernachlässigten Schauspielhause und jedenfalls
besitzt die Hauptstadt in ihm sein scliönstes Theater. Eine Glasgalle-
rie wird um den ganzen Zuschauerraum laufen und die Versenkungen
sind um ein ganzes Stockwerk vertieft worden. Die neue Decorirung
ist eben so blendend als elegant, nämlich blau mit Silber. Staudigl
ist wirklich mit 1W0 Gulden Monatsgage aus ein halbes Jahr en-
gagirt und verpflichtet sich dagegen, monatlich zehnmal zu singen.
Viele wollen in diesem Contract ein Verderben der Direction erblicken,
doch gewiß mit Unrecht, denn diese bezahlte im letzten Monat der
Hosschauspielerin Wildaucr, welche Gesangsdilettantin ist und fünfzehn
Gastrollen im Josevhstädtertheatcr gab, jeden Abend I!>l) Gulden, nebst
Garantie von zwei Benesizien zu 8W Gulden im Gesammtbetrage
und machte gleichwohl die besten Geschäfte.
'
An Staudigls Stelle beim Hofopernthcater ist Herr Formes aus
Mannheim, der noch vor ein Paar Jahren ein obscurer Schulmeister
in Nheinpreußen war, mit 6000 Gulden Gage gekommen. Er ist
ein junger, schöner Mann und besitzt eine Baßstimme, welche an Um¬
fang die seines Vorgängers übertreffen, dafür aber nicht so metallreich
sein soll.
Als einen charakteristischen Beitrag zur Bezeichnung der Ränke,
welche zwischen den verschiedenen Bühnenanstalten hier gesponnen wer¬
den, will ich eines Vorfalls erwähnen, der ganz den kleinlichen, poli¬
zeilichen Geist des giftigsten Neides offenbart. Da Pokornv wegen
baldiger Eröffnung des Theaters an der Wien die Arbeiten beschleu¬
nigt wissen wollte, so ließ der Baumeister Straberger, der das Ganze
leitet, auch an Sonntagen Handthieren. Kaum hatte sein aus diesem
Hause verdrängter Rivale, Herr Karl, diesen Umstand erfahren, als er
ihn sogleich zu einer polizeilichen Denunciation benutzte, die indeß
ohne Folgen blieb, weil der vorgeladene Architekt sich durch die mit
drohender Gefahr des Einsturzes verbundene Nothwendigkeit ununter¬
brochener Arbeit sich genügend zu rechtfertigen wußte.
"
Die von den „Grenzboten mitgetheilte biographische Skizze über
den früh verschiedenen Adolph Brvta hat hier große Sensation erregt,
denn die darin gezeichnete Seelenstimmung wird von zu Vielen mit¬
empfunden, um nicht ein schmerzlich zuckendes Verständniß zu finden.
Die Richtungslosigkeit, die geistige Vereinsamung sind es, woran jähr¬
lich eine erschreckliche Summe der blühendsten Talente in Oesterreich
untergehen, denn diese machen sie entweder zu finstern Menschenhassern
oder scssellosen Wüstlingen, wie es eben die Natur ihres Blutes be¬
dingt. Diese Tausende liegen auf dem Gewissen derer, welche ihrem
eindringenden Streben keinen Raum gönnen wollen.
In unseren Ministerien ist jetzt Umzugszeit; Herr von Wedelt
ist kaum hier angekommen, so kündigt er uns schon wieder den Dienst,
um den Grafen von Arnim zu ersetzen. Wir sehen sehr gleichgültig
drein, denn wir wissen ja bis jetzt nicht, was wir an ihm gehabt hat-
im. Und gesetzt, er wäre ein Mann, der Respect vor dem Geiste
hat, so kommt uns dieser Geist auch von dem Minister Wedelt zu
gut. Die officielle Nachricht von dem Zurückmtte Arnim's, der, man
mag die Sache drehen, wie man will, doch wohl eine Concession art
die öffentliche Meinung ist, wurde hier mit Freuden aufgenommen,
ja sogar durch Festmahle gefeiert. Die Stimmung war gerade die
entgegengesetzte von der, mit welcher wir Herrn von Merckel scheiden
sahen. Die Ueberzeugung gewinnt immer mehr Gründe, daß dieser
Veteran nicht ganz aus eigener Bewegung geschieden ist. Man erzählt
sich hier, daß eine Autorität zu einer anderen gesagt haben soll:
„Wenn Sie so fortfahren, können Sie noch Stadtverordneter werden."
Herr von Merckel habe dieses Witzwort auf sich bezogen und deshalb
den Repräsentanten der Breslauer Commune angezeigt, daß er unter
keinen Bedingungen die Wahl zum Stadtverordneten annehme. Wenn's
nicht wahr ist, so ist's doch gut erfunden.
Im September werden die deutsche» Land- und Forstwirthe be¬
kanntlich in Vreslau ihre Sitzungen halten. Die Vertreter der Bür¬
gerschaft gehen mit dem Plane um, den Gästen ein großartiges Fest
ZU geben; es soll ein Volksfest werden. Was sie sich hierunter ei¬
gentlich denken, weiß man nicht so recht. Wahrscheinlich ein großes
Festessen in einem -großen Etablissement, bei dem die Champagner-
Korke knallen, wahrend das „Volk" gaffend von weitem steht und
die Pracht bewundert. Und das soll viertausend Thaler kosten! Unsere
Stadtverordneten meinen es sonst gut, aber diese Idee taugt doch nicht
viel. Man will vor den fremden Gästen prahlen und ihnen ein Schau¬
stück geben, ich fürchte das wird ohne einige Proben nicht angehen
und auch dann noch recht hölzern ausfallen. Das Ensemble fehlt,
der einige und eine Geist, Volksfreundlichkeit der reichen Bourgeoisie
und Vertrauen derer, die man eigentlich Volk nennt.
Gegenwärtig nimmt in ganz Schlesien die Bewewegung inner¬
halb des Protestantismus die allgemeinste Aufmerksamkeit in Anspruch.
Einige hundert Breslauer traten mit einer offenen Protestation ge¬
gen den unprotestantischen Protestantismus auf, und nun haben sich
schon alle bedeutenden Städte Schlesiens dabei betheiligt, so daß an
sieben Tausend sich gegen die durch äußere Stützen starke Partei der
Pietisten erklärt haben. In Berlin soll man ein wachsames Auge
auf diese Demonstration gerichtet und nicht üble Lust haben, die An¬
stifter zu Verantwortung zu ziehen. Den alten David Schulz, der
das Unglück hat, Consistorialrath zu sein, ist man bereits mit der
Anfrage angegangen, wie er seine Unterschrift rechtfertigen könne. Das
ist so ein kleiner Anfang zu einem Glaubenstribunal. Der' „Rheinische
Beobachter" des ehrlichen Herrn Vercht hat dabei das Amt übernom¬
men, mit feiner Nase schnüffelnd umherzugehen und seinen Herren
und Meistern die Irrgläubigen zu denunciren. Eine seiner letzten Nun-
mern enthielt einen Aufsatz über die hiesigen religiösen Bestrebungen,
dessen Charakter sich ohne injuriöse Worte nicht bezeichnen laßt.
Auch in unsere Studentenwelt ist der Geist der Reform gedrun¬
gen. Es hat mit Bewilligung des Senats bereits eine Versammlung
stattgefunden, in welcher die Abschaffung des Duells zur Sprache
kam. Fast einstimmig erklärte man sich dagegen. Vor fünf oder
sechs Jahren hatte das noch Niemand wagen können, ohne sich in
den Verdacht der Feigheit zu bringen. Man war zwar eben so gut,
als jetzt, von der Lächerlichkeit der Duellsitte überzeugt, aber es lag
in der Zeit keine günstige Atmosphäre für das Gedeihen einer hiege-
gen gerichteten That.
Wissen Sie, was ein selbst mörderischer Beschluß ist? Eine
patentirte Erfindung der Berliner Stadtverordneten, ohne Gewissens¬
bisse und Schamröthe morgen einstimmig zu beschließen, daß der heute
einstimmig gefaßte Beschluß nichts gelten soll. Diese Erfindung war
bis jetzt das ausschließliche Geheimniß ihrer Urheber; durch, weiß Gott,
welche Mittel hat sie sich seit Kurzem in Schlesien eingeschmuggelt.
Die Väter unserer Stadt waren eines schönen Tages der schönen
Meinung, der König müsse unterthänigst gebeten werden, seine Be¬
hörden zur Veröffentlichung der Motive der vielbesprochenen Auswei¬
sung zu veranlassen. In einer nächsten Sitzung beschließen sie, daß
sie in der vorhergehenden übereilt beschlossen hätten. Nicht wahr, das
ist ein schöner Zeitvertreib!
Wir haben nun auch eine Versammlung protestantischer Freunde
gehabt. Fünf bis sechs tausend Menschen im Freien unier schattigen
Lindenbäumen, die Tribüne umstehend, von der das lebendige Wort
erschallt — das ist für uns Deutsche ein neuer, ungewohnter An¬
blick. Wenn nur erst die Politik so etwas wagen dürfte! Ueber den
Himmel können wir uns streiten; wir dürfen Engel und Teufel ein-
und absetzen, dürfen sogar Christum leugnen, aber auf der Erde
über die Erde zu sprechen, das duldet die Polizei nicht. Der Pastor
Uhlich aus Pömmelte ist ein tüchtiger Volksredner. Er versteht es,
sich gleichsam zum Organ der Versammelten zu machen, aus ihnen
heraus zu sprechen. Dagegen war das Haupt der protestantischen
Freunde in Breslau, der bekannte Senior Krause, durch und durch
ein Pfaffe, der zuerst sich zahlte und dann seine Zuhörer. Wir kön¬
nen auf der Hut sein, daß wir nicht wieder dem Einflüsse eines libe¬
ralen Pfaffenthums anheim fallen. Die Herren merken, daß ihr
Ansehen beim Volke verschwunden ist. Religiöse Freisinnigkeit wäre
das einzige Mittel, dasselbe wieder zu erlangen und sie scheinen
es theilweise benutzen zu wollen.
Der Name Schlöffel war in meinen Mittheilungen lange Zeit
stereotyp. Sie können jetzt die Lettern vorerst auseinandernehmen
lassen, denn Schlöffel ist frei. Wo ist der Hochverrath und die Auf-
relzung zur Unzufriedenheit, wo sind jetzt all' die Verbrechen, die ihr
dem Manne angedichtet? Das Gouvernement hat Schlösset gegen¬
über eine schwere Verantwortung.' Es hat ihm einen Tropfen in den
Lebenskelch gemischt, der noch schmecken wird bis an den Rand des
Grabes. Man hat mit unzarter Hand in die heiligsten Verhältnisse
eines der edelsten Menschen gegriffen — wo ist der Ersatz dafür?
Schande und Schmach über die selten Denunciantenseelen, welche die
Veranlassung zu dem Verfahren gegeben! Die Schlesier beten jetzt
das Vaterunser etwas länger, denn sie fügen noch die Bitte um Er¬
lösung von allem Uebel j'«!r nilreiiüiüsiii bei: „vornehmlich vor einer
politischen Eciminaluntersuchung." Kaum hörte man von der Ankunft
Schlöffels in seiner Heimath, so vereinigte sich alsbald Alles zu einem
würdigen Empfange. Man brachte ihm einen Fackelzug. Schlöffet
soll sehr angegriffen und bleich aussehen, was bei seiner lebhaften Na¬
tur nicht zu verwundern ist. Hoffentlich hat jetzt Herr Sticber seine
Mission in Schlesien beendet, gäbe Gott, seine Brauchbarkeit wäre
überhaupt zu Ende. Wie ich höre, fühlt er sich Ihnen und mir für
die Charakteristik im dreißigsten Hefte Ihrer Grenzboten sehr verpflich¬
tet, denn sie soll Veranlassung gewesen sein, daß man ihm nicht
mehr traut.
Ueber unsere Theaterzustande ist kaum etwas zu sagen. Wir sa¬
hen viele Gäste theilnahmslos kommen und gehen. Einiges Furore
machte Fräulein Marra aus Wien. Der große Schreier Wilhelm
Kunst beglückte uns mit einigen Vorstellungen, mißfiel jedoch unge¬
mein. Von Charakterauffassung keine Spur, Alles roh und unge¬
schlacht, die Kritik hat ihm hier derb den Text gelesen. Die jetzige
Direktion hat noch immer an der Holteischen Verwirrung zu lösen.
Von dem „schlestschen Meister" sahen wir dieser Tage ein Lustspiel:
Tauber und Taube — das beinahe ganzlich durchgefallen ist. Herr
v. Holle! hat sich für ein ganzes Jahr in Charlottenbrunn niederge¬
lassen, um seine Memoiren fortzusetzen.
Wir schreiben diese Zeilen inmitten einer Aufregung, welche in»
deutschen Städten zu den allerungewöhnlichen Erscheinungen gehört,
inmitten einer heißtrübcn Gährung der Gemüther, wie sie uns nur
in exotischen Zeitungsberichten aus Paris und Lyon, aus Madrid
und Barcelona geschildert writ. An unserem Fenster ziehen bewegte
Wolksgruppen vorüber und sammeln sich zu Hunderten auf Straßen
und Plätzen der sonst so ruhigen Stadt, mit ernsten Mienen eilen
die bewaffneten Bürgergarden an ihre Posten, um die äußere Ruhe
aufrecht zu erhalten, die doch im Innern ihres Gemüthes ihnen selbst
fehlt; ein finsterer Geist liegt auf dem sonst so freundlichen Leipzig,
indessen sein Pflaster noch von dem Blute fthuloloser Bürger trieft,
welche in der eben zu Ende gelaufenen fürchterlichen Nacht einem
mörderischen Gewehrfeuer zum Opfer sielen. Dreißig Familien sind
plötzlich in Jammer gestürzt. Sieben Todte liegen auf der Bahre und
zwanzig Verwundete aus dem Marterbette. — Wir wollen die Ereig-
nisse dieser unglückseligen Nacht in den kurzen und gemäßigten Rah-
men zusammendrängen, die Eile und Umstände uns noch gestatten.
! Die alljährliche große Revue der Communalgarde fand gestern
Statt. Der Prinz Johann, der Chef sämmtlicher sächsischen Eom-
munalgarden, traf, wie bisher jedes Jahr, auch diesmal zur Inspec-
tion ein. Im Publikum aber ging ein Gerücht, man wolle diese
Gelegenheit benutzen, um eine Manifestation zu geben, wie unzufrie¬
den man mit den neuesten Wendungen der religiösen Angelegenhei¬
ten sei. Die Revue ging in trefflicher Ordnung zu Ende, nur ein
Student, der gezischt hatte, ward verhaftet. Der Prinz zog sich in's
Hotel de Prusse zurück, wo er abgestiegen war. Die Lage dieses
Gasthofs muß zur Beurtheilung der Ereignisse besonders beachtet wer¬
den. Das Hotel befindet sich nämlich gegenüber der Promenade und
wird von dieser durch eine breite Tiefebene von ungefähr hundert
Schritten getrennt. Um neun Uhr versammelte der große Zapfenstreich
eine zahlreiche Menge auf der Promenade. Nachdem er beendigt, lie-
ßer sich zahlreiche zischende und pfeifende Stimmen hören. Man
rückte bis auf einige zwanzig Schritte vor dem Hotel vor und sing
das Lied „Eine feste Burg ist unser Gott" zu singen an. In den
Zwischenpausen ertönten Rufe: Fort mit den Jesuiten! Es lebe
Ronge! Bisher war der Exceß trotz des Lärms sehr friedlicher Na¬
tur! Da erhob eine unglückselige Hand einen Stein und warf ihn
gegen die Fenster des Hotels, einzelne Leichtsinnige folgten dem straf¬
würdiger Beispiele, das Gejohle und Geschrei dauerte fort, bis end¬
lich, statt eine Abtheilung der Communalgarde, ein Bataillon Schützen
anrückten und den Platz sauberem. Der ganze Volkshaufe war bis
innerhalb der Promenade zurückgedrängt und das breite Terrain, wel¬
ches diese von dem Hotel trennt, blieb frei und war von Militär be¬
setzt. Das Geschrei dauerte zwar fort, aber in weiter Entfernung,
Viele machten sich aus den Heimweg und in einer Stunde hätte sich
vielleicht Alles verlaufen. Da geschah das Unbegreifliche, Fürchterliche.
Ein plötzliches Commando befahl Feuer! Die Schützen rückten vor
und schössen unter die promenirende Menge!! Keine Aufforderung,
keine directe Drohung hatte die zum allergrößten Theile aus Neugie¬
rigen, darunter auch Weibern, Kindern bestehenden Masse ahnen las¬
sen, daß zu diesem fürchterlichen, alleräußersten, nur in Momenten
> eines Bürgerkriegs oder einer Revolte zu entschuldigende Mittel ge-
Z griffen werden könnte. Dies bezeugen Hundert von Zuschauern mit
H dem heiligsten Eide.*) Kein Anstürmen, keine Beleidigung eines Sol-
A baten hatte dieses unheilvolle Eommando nothwendig gemacht. Ja
» selbst im Falle eines Vordrängens war das in Reih und Glied ste-
n heute, mit Bajonnetten und Munition versehene Militär dem gänz-
Z lich unbewaffneten, ungeordneten, führerlosen Haufen unendlich über-
g legen. Aber auch von einer solchen Nothwehr konnte nicht die Rede
A sein. Die Unglücklichen, welche die mörderischen Kugeln trafen, zeigen
« deutlich, aus welchen unschuldigen Elementen diese Masse bestand.
Unter den Todten, die man bis jetzt kennt, sind zwei Postsccrctäre,
Priem und Janig, friedliche Beamte vom unbescholtensten Ruf, der
S greise P o liz el d le ner (!) Urlaub, Nordmann, Privatgelehrter, Frei¬
gang, ein Handlungscommis, und Müller, ein Schriftsetzer. Ein Eom-
munalgardist, der eben nach Hause ging, wurde von einer Kugel ver-
» würdet; ein Familienvater, ein armer Mann, der aus seinem Hause
«trat, um sich nach dem Lärm zu erkundigen, stürzte tedtgeschossn
I nieder.
» Auf eine fürchterlichere Weife ist niemals Bürgerblut vergossen
» worden; selbst die Geschichte völlig absoluter Staaten ist arm an
« solchen Scenen, und um nur auf ein vor Kurzem stattgcfundenes
« Beispiel hinzuweisen, möge man doch die Präger Arbeiteraufstande im
ß vorigen Jahre mit der Scene der gestrigen Nacht vergleichen. In
A Prag waren es nicht harmlose Bürger, sondern die gefährlichste Hefe
A des untersten Volkes, gegen welche dies Militär ausrückte. Es wa-
» ren nicht Neugierige, Spaziergänger, es gab nicht einige oberflächliche
Excesse abzuwenden, sondern es galt, Häuser und Fabriken vor Demo-
lirung und Brand zu schützen. Und doch! mit welcher Mäßigung
wurde verfahren. Die Offiziere baten das Boll um Gotteswillen,
sich zu entfernen, man suchte zuerst durch Eommando zu schrecken,
ließ dann scheinbar vor den Augen Aller die Gewehre laden, schoß
blind und als man endlich nach mehreren Stunden wirklich schießen
V mußte, geschah es so, daß nur einige Wenige getroffen wurden, trotz¬
dem die Menge des Militärs so wie des Volkes zehnmal größer war,
als die vor dem Hotel de Prusse. Und das österreichische Militär
steht nicht in so innigem Verhältnisse zu dem Volke, wie das sach-
fische, es hatte nicht zu fürchten, mit seinen Kugeln einen Bruder,!
einen Verwandten zu erschießen. Und Oesterreich ist eine absolute
Monarchie.
Wir können nicht alle die Umstände hervorheben, welche diese über¬
eilte Anwendung der äußersten und letzten Gewaltmittel zu einer der
unerhörtesten Ereignisse in der Geschichte der neuern Zeit machen. Der
Commandant, der das Signal zum Feuern geben ließ, wird für
das Blut der gemordeten Bürger, für das Unglück so vieler Fami¬
lien vor Gott und den Gerichten zu verantworten haben, aber noch
weiß man nicht, von wem dies Commanvo ausgegangen. Einer so
großen Blutschuld gegenüber wollen wir noch keinen Namen nennen.
Aber die Bürgerschaft, das Land, ja das Militär selbst muß zur
Wahrung seiner Bürgerthümlichkeit auf eine genaue Untersuchung die¬
ses verhängnißvollen Befehls bestehen. ^
Auf rührende und ehrfurchtgebietende Weise hat die Bürgerschaft «
der Stadt Leipzig in den darauf folgenden schweren Stunden sich be- K
tragen. Die Studenten, ihrer Jugend gemäß feuriger als alle Andere S
fühlend, waren am heftigsten von dem Vorfall electristrt. Der Ruf
„Bursche heraus!" ertönte, von dem Fechtboden wurden in der Eile D
die Waffen und Sturmhüte herbeigeholt und ein Haufe junger Man- K
ner wollte, trotz der unzureichenden Bewaffnung ohne Pulver und A
Schießgewehr, gegen die Schützen stürmen. Zu gleicher Zeit wurde A
durch die ganze Stadt der Generalmarsch geschlagen. Es war Mitter- g
nacht als die Communalgaroisten in zahlreicher Menge aus den Han- ^
sern stürzten und sich auf ihren Stationsplatzcn versammelten. Das A
vierte Bataillon setzte sich zuerst in Marsch, der Commandant desselben >
forderte die versammelten Studenten auf, sich ihm anzuschließen, dies ^
geschah und durch diese Vermittlung wurde weiteres Unglück verhütet. I
Die Schützen, welche das Petersthor besetzt hielten, räumten den Platz I
der Communalgarde und der Rest der Nacht verfloß ohne blutige Störung. I
Fünf Uhr Abends. Eine Versammlung von 4WV Bürgern hat ^
in einem öffentlichen Saale stattgefunden und eine Deputation an den
Magistrat geschickt, das Militär zur Räumung der Stadt und zur
Uebergabe derselben an die Communalgarde zu veranlassen. .> Ersteres
war jedoch außer dem Pouvoir des Magistrats und es ist vielmehr
ein Cavalleriedelachement angelangt zur Verstärkung der Militärmacht.
Doch sollen die Nacht hindurch nur die Communalgarde und Stu-
dentenvatrouillen die Straßen durchziehen und für die Sicherheit der
Stadt wachen. Eine Deputation der Stadtverordneten ist nach Dres¬
den abgegangen. — Wir eilen, unfer Blatt unter die Presse zu brin¬
gen und müssen die weiteren Details auf das nächste Heft verschieben.
In früherer Zeit hatte Leipzig, wie andere deutsche reichsmittel¬
bare oder reichsunmittelbare Städte, Bürgerbewaffnung oder Volks¬
wehr. Sie ist hier, wie an andern Orten, durch den Grundsatz der
Stellvertretung untergegangen. Sobald sich der Bürger im
Waffendienst vertreten lassen darf, verleitet ihn die Bequemlichkeit scho
bald, eines der schönsten und wichtigsten Rechte aus der Hand zu
geben, dasjenige, die Waffen zu tragen. Trennten doch unsere Alt¬
vordern nie die Ehrfähigkeit von der Wehrfähigkeit! Die
vollziehende Gewalt beeilt sich begreiflicher Weise, die Freundlichkeit zu
haben, den Bürger, welcher sich selbst wehrlos macht, der Mühe deS
Waffendienstes zu überheben. Bald geht sie in ihrer Dienstfertigkeit
noch weiter und nimmt dem Wehrpflichtigen die Sorge ab, den Stell¬
vertreter selbst zu stellen. Sie wirbt Söldlinge an und die Umwand¬
lung der Volksbewaffnung in eine stehende Truppe von Söldlingen,
welche der öffentlichen Gewalt gegen eine wehrlose Menge unbedingt
gehorchen, ist vollendet. So war es auch in Leipzig gegangen. Die
Stadt Leipzig beherbergte in ihren Mauern keine Staatstruppen, wie
jetzt, aber sie hatte ein Corps angeworbener Stadtsold.-neu — feit
langen Jahren ein Häuflein alter Zöpfe in, aschgrc.im Röcken und
abgeschabten Dreimastern, mit Kamaschen und spindeldürren BkM'
chen, an denen die Stellen, wo andere Leute Waden haben, deutlich
zu bemerken waren, und deren im Volke übliche Name in anstän¬
diger Gesellschaft nicht ausgesprochen werden kann und weibische Feig¬
heit bedeutete. Sie hatten das einzige Gute, daß, wenn alle Quel¬
len, die Langeweile zu todten, versiechi waren, dem Bruder Studio
doch immer die letzte Zerstreuung gewiß blieb, die Thorwache» der
Stadtsoldaten zu stürmen, und die armseligen Perücken weidlich durch-
zuwackcln.
Im Uebrigen lebten diese Unaussprechlichen ein behagliches Phi¬
listerleben, wie das heilige römische Reich im Allgemeinen und unser
Sachsen im Besondern. Ja, als das heilige römische Reich an
Altersschwäche selig verschied, und aus Kmsachsen ein Königreich
wurde; hatte das Zopfthum doch bei uns ein so zähes Leben, daß
es auf seinen Schultern die Leipziger Stadtsoldaten i» die neue Ge¬
staltung der Dinge hinübertrug. Sie bestanden fort, ein Wahrzei¬
chen der Stadt Leipzig, eine naturhistorische Merkwürdigkeit, nach
welcher sich jeder Reisende gewiß zuerst umsah. Ihr Ruf war aus¬
gebreitet.
Im Jahre 1813 wurden in Sachsen Nationalgarten gebildet.
Diese fremde Pflanze konnte das Klima nicht vertragen und krän¬
kelte fort, wie in Dresden — (man liebt in Dresden die verschnitte¬
nen Hecken, die Orangerie in Gewächshäusern, die japanischen Pa¬
lais) — oder starb ganz ab, wie in Leipzig. Man hielt es daher
für nothwendig, im Jahre 1828 durch ein Mandat die Errichtung
von Bürgergarden an die Stelle von Nationalgarten anzubefehlen.
Die Leipziger Unaussprechbaren aber erhielten ungefähr um die¬
selbe Zeit eine andere, neuzeitigere Bekleidung. Ich glaube, sogar
der Zopf wurde den subversiven und eorrosiven Ideen hingeopfert;
doch will ich das nicht mit Bestimmtheit behaupten, wie man sich
denn überhaupt nur mit Wehmuth und schmerzenreich von den lieb-
gewordenen Alterthümern trennen komme. Dies hinderte indessen
nicht, daß der Buckel der neuzeitig Bekleideten der Tummelplatz eines
Vergnügens blieb, welches zwar vorzugsweise die der Weisheit und
Wissenschaften Beflissenen mit Beschlag belegten, in welches sich aber
doch auch die sogenannten Knoten und diejenigen nicht selten theil¬
ten, welche dem Merkuriusstabe folgen. Der Rücken der Leipziger
Stadtsoldaten gehörte zu den öffentlichen Vergnügungsörtern.
Das Jahr 1830 hat so manches Alte in Sachsen weggefegt,
viel gutes Neue in's, Leben gerufen, aber auch unter der Firma des
Constitutionalismus manches Neue gebracht, was den Lobrednern
der alten Zeit Stoff genug zum Tadel gibt. Es hat manches Alte
weggefegt, auch die unaussprechlichen leipziger Stadtsoldcitcn, —
viel gutes Neue gebracht, auch die Communalgarden, — manches
Neue, was die gute alte Zeit in's Gedächtniß ruft, eingeführt, dazu
gehört die Verlegung einer Ablheiltung deö stehenden Heeres in die
Mauern Leipzigs. Man glaube nicht, daß das Verlangen, die ste¬
henden Truppen des Staates aus der Stadt zu entfernen, das in
diesen Tagen vom Volk und den Leipziger Behörden wieder ausge¬
sprochen worden ist, ein plötzlicher Einfall sei. Leipzig war eine Art
von Freistaat. Aus seiner Bürgerbewaffnung waren Stadtsöldateu
geworden, das ist wahr; aber Leipzig hatte das Privilegium, daß
es von StaatStruppen verschont blieb, — es hatte seine eigene be¬
waffnete Macht, wie noch jetzt sein eigenes Gericht und seine eigene
Polizei. Leipzigs Befreiung von Staatstruppen ist historisch be-
g r ü n der.
Schon vor der Jüliievolution war es in Sachsen unruhig ge¬
wesen; nach derselben kam die Unzufriedenheit in der ersten Hälfte
des Septembers 1830 zuerst in Leipzig, sodann in Dresden zum
Ausbruch. Die Auflösung des völlig unzureichenden Korps der
Stadtsoldaten war eine der ersten Folgen. Wie in diesen Tagen
traten Bürger, Studenten, Handlungsdiener, Handwerker, von ein¬
ander abgesondert, zusammen, und bewaffneten sich, um die öffent¬
liche Sicherheit und Ruhe aufrecht zu halten. Man wollte die
Bewegung nicht hindern, fühlte aber das Bedürfniß der Ordnung.
Man kam überein, als Zeichen des gemeinschaftlichen Zweckes eine
weiße Armbinde zu tragen, was man auch in Dresden gethan hatte.
Bewaffnung und Kleidung waren verschieden. In diesem Entwicke¬
lungsprozeß blieb die von selbst entstandene Bewaffnung der Ge¬
meinden von größeren Städten bis zum 29. November 1830, wo
ein königliches Mandat nebst Regulativ, die Errichtung von Com-
munalgarden betreffend, erschien und die Organisation der bisher
ungeordneten Masse ihren Anfang nahm. Es heißt im Eingang
des Maubads, der König habe sich bewogen gefunden, in Berück¬
sichtigung des mit besonderer Zufriedenheit bemerkten wesentlichen
Nutzens, welchen die an mehreren Orten gebildeten Communalgar-
den für die Erhaltung der öffentlichen Ruhe gewährt haben, zu dau¬
ernder Begründung und festerer Organisation dieses Instituts, Be¬
stimmungen zu treffen.
Der zweite Paragraph des Maubads sagt über den Zweck:
„Communalgarden sollen in den Städten als eine Vereinigung
der wohlgesinnten Einwohner aller Stände, für den Zweck der Er¬
haltung allgemeiner Sicherheit und öffentlicher Ordnung und als
«n Mittel zur Beförderung des Gemeinsinns errichtet werden."
Man sieht daraus, daß von vornherein die Volksbewaffnung
auf die Stadtgemeinden beschränkt wurde und dies ist bis auf den heu¬
tigen Tag so geblieben. Das Landvolk wurde ausgeschlossen. Die
Standesvorurtheile waren damals noch zu überwiegend. Die Be¬
wegung war keine konstitutionelle, sondern eine ständische, und
noch jetzt ist der Unterschied des Bauerkinder und Städtischen nicht
in der gemeinsamen Eigenschaft des konstitutionellen Staatsbürgers
aufgegangen. Man gibt wol Beiden den gemeinsamen Namen, aber
die bestehenden Rechte bilden noch eine bedeutende Scheidewand,
obwol zur Ausgleichung Vieles gethan worden ist.
Und im Regulativ heißt der zweite Paragraph: „der Zweck
der Communalgarden ist, durch eine ehrenvolle Vereinigung von
Einwohnern aller Stände, die öffentliche Ruhe und gesetzliche Ord¬
nung zu erhalten. Sie hat demnach den mit der Handha¬
bung der öffentlichen Sicherheit beauftragten Perso¬
nen, auf deren Verlangen, bewaffnete Unterstützung zu
gewähren, bet Feuersgefahr die nöthige Wache zu geben, und
entstehenden Tumult durch Aufstellung von Comman-
dos, auch, da nöthig, mit ihrer ganzen Masse zu unterdrücken, in
dringenden Nothfällen, und in gänzlicher Ermangelung des stehenden
Militärs, die nöthigen Patrouillen zu geben, Visitationen zu halten,
und in Kriegszeiten Gewaltthätigkeiten abzuhalten."
In der Dienstvorschrift für die Communalgarde be¬
sagt eine Vorschrift des zwölften Paragraphen: „In Orten, wo
Garnisonen von der Armee sich befinden, steht die zum Sicherheits¬
dienste aufgestellte Communalgarde unter dem Garnisonscomman¬
danten, welcher ihr seine Befehle durch daS Mittel deS Communal-
garden-Commandanten zu geben hat."
In demselben Paragraphen heißt es: Der Communalgar-
den-Commandant bestimmt die Waffenübungen und den innern
Dienst, hat auch das Recht in dringenden Fällen die
Communalgarde durch Generalmarsch zu versammeln."
Und im h. 18: „Den Befehl zum Schlagen deS Generalmar-
sches hat der Tambour nur vom Commandanten durch seinen Adju¬
tanten oder Hauptmann anzunehmen."
Ferner sagt §. 26 des Regulativs- „Alle Mannschaften, welche
auf Befehl ihres Commandanten unter die Waffen getreten sind,
stehen von diesem Augenblick an, und so lange sie sich unter Waffen
befinden, an Orten, wo Garnisonen sind, unter dem Commandanten
der Stadt, und haben nach dessen Befehlen den Sicherheitsdienst
entweder gesondert, oder in Verbindung mit dem stehenden Militair
zu thun."
Endlich sagt s. 21 der Dienstvorschrift deutlich und be¬
stimmt: „Bei Störungen der öffentlichen Ruhe und Vergehungen
gegen die Gesetze soll die Communalgarde vorzugsweise
in Wirksamkeit treten. In solchen Fällen wird der Befehls¬
haber der Abtheilung die Ruhestörer zuvor laut und vernehmlich mit
den Worten: „Im Namen des Königs" auffordern, seine Anordnun-
nungen zu befolgen; sobald dieser Aufforderung nicht Folge geleistet
wird, ist die Communalgarde berechtigt, Gewalt zu brauchen und
sich ihrer Waffen nach Anordnung ihrer Befehlshaber zu bedienen.
Diesen liegt hierbei die Pflicht ob, Mißbräuche und Ausschweifungen
zu verhindern." Und im §. 31 heißt es: „Erlauben es die Um¬
stände, so wird vom Obercommando die Führung des Ganzen
bestimmt werden."*)
Zum Generalcommandanten oder Obercommandanten sämmt¬
licher Communalgarden war bei ihrer Entstehung vom König Se.
Königl. Hoheit Prinz Johann, Herzog zu Sachsen, ernannt wor¬
den. Unter seinem Oberbefehl oder Obercommando stehen noch jetzt
alle Communalgarden.
Zur ersten Organisation der Communalgarden wurde in Leip¬
zig, wie an andern Orten, eine besondere Organisationscommission
niedergesetzt, welche den 12. Dezember 1830 in Thätigkeit trat. Zum
provisorischen Commandanten der improvisirten Communalgarden war
der OberpostamtSrath und Rittmeister von der Armee von Loben
ernannt worden, welcher vom Prinzen Johann auch an die Spitze
der Organisationscommission gestellt wurde. Die Leipziger Commu-
nalgarde erhielt sechszehn Compagnien und eine leitende Abtheilung.
Jede Compagnie besteht aus fünf Zügen, der Zug hat ungefähr drei¬
ßig Mann, und zerfällt in zwei Rotten. In Dresden und Leipzig
ist die Formirung der Compagnien in Bataillone gestattet worden.
Jede Compagnie hat einen Hauptmann, fünf Zugführer, zehn Rolt-
meister, einen Feldwebel und einen Tambour. Auch Gefreite können
ernannt werden. Die Commandoangelegenheiten werden von einem
Commandanten besorgt, dem ein Stellvertreter zur Seite steht;
für nicht eigentliche Commandosachen besteht ein Communalgar-
denausschuß. Derselbe hat die Coiurole und Revision der Com¬
pagnielisten und Waffenverzeichnisse; die Aufsicht über die Verwen¬
dung der nöthigen Gelder, die Bestätigung der Wahlen der Haupt-
leute und Zugführer; bei Dienstvergehen nach dem Tisciplinancgu-
lativ die Erkenntnisse auszusprechen. Ebenso liegen ihm alle Ver¬
handlungen mit andern Behörden ob. Bei der Wahl eines Com¬
mandanten schlägt der Ausschuß drei Personen vor, aus denen von
den Hauptleuten und Zugführern eine durch Stimmzettel gewählt
wird Die Wahl unterliegt der Bestätigung des Prinzen Jo¬
hann. Der Commandant hat im Ausschusse Sitz und Stimme.
Die Organisationscommissio» löste sich nach vollbrachtem Auftrag
auf und der CommunalgardenanSschuß wurde am 26. Juli 483 t
mit großer Feierlichkeit eingeführt. Zum Commandanten wählte
man Herrn v. Loben wieder.
Wenige Tage darauf brachen Unruhen aus, welche bedeutender
waren, als die vom vorhergehenden Jahre, weil sie in der Commu-
nalgarde selbst Theilnehnier fanden. Auch kosteten sie ein Paar
Menschenleben.
Der eigentliche Grund davon lag in den damaligen aufgereg¬
ten Zeitverhältnissen und in der Unzufriedenheit mit dem Gang und
Stande der Verfassungsangelegenheit. Zum Vorwande mußte eine
Veränderung des Wachlokals der Communalgarde dienen.
Bei Entstehung der Communalgarde hatte man einen Theil
des Polizeigebäudes in Beschlag genommen und als Wachlokal be¬
nutzt. Dies war mit vielen Unannehmlichkeiten verbunden, die bei
dem strengen Dienst doppelt lästig fielen. Hauptsächlich war es zu
eng. Der Ausschuß sah sich daher nach einer besseren Räumlichkeit
um, konnte aber nichts Geeignetes finden. Der in der Nähe der
Polizei gelegene Burgkeller schien am passendsten und es gelang durch
Entschädigung des zeitherigen Pächters, dessen Pachtzcit noch nicht
verflossen war, denselben für die Communalgarde zu erwerben. Es
wurden die nöthigen Vorkehrungen zum Einzuge getroffen, die Un¬
befangenen freuten sich ein besseres Lokal zu bekommen, aber die Un¬
zufriedenen fanden in dem Umzug politische Beweggründe. Man
wolle, hieß es, der Communalgarde den Einfluß auf die Polizei
nehmen, den sie durch ihre Anwesenheit im Polizeigebäude ausgeübt
habe. Daran wurden dann andere Beschwerden geknüpft. Es zeigte
sich unter der Communalgarde und der übrigen Bevölkerung große
Aufregung. Commandant von Löcher vergaß zu befehlen und
wollte auf dem Wege der Beredsamkeit beschwichtigen. Er ließ alle
Compagnien einzeln zusammen kommen, und stellte ihnen die Sach¬
lage vor. Diese Schwäche hatte die entgegengesetzte Wirkung. Der
wilde Geist wurde dadurch so angefacht und ermuntert, daß einige
Compagnien auf die Frage: ob sie die Beziehung der neuen W.lebe
verweigerten? mit Ja! cmtwortkken. Deßungeachtet befahl Prinz
Johann den Umzug. Man bestimmte den 3V. August dazu. An
diesem Tage deutete Alles auf einen Volksauflauf hin. Alle Stra¬
ßen waren voll von unruhigen Menschen. Die sechste Compagnie
der Communalgarde gab die Hauptveranlassung zum Ausbruch. Es
war nämlich Befehl gegeben worden, daß alle Compagnien von ih¬
ren Sammelplätzen ohne Musik herbeikommen und sich vor der neuen
Wache aufstellen sollten, welche dann feierlich bezogen werden sollte
Die sechste Compagnie aber war, auf Anordnung ihres Hauptmanns,
des Legationsraths Gerhardt, mit klingendem Spiele herbeigezogen.
Die Menge hielt das für eine Wiversetzlichkeit und schloß daraus,
das die sechste Compagnie gekommen sei, um die alte Wache zu be¬
ziehen. Nun brach der Aufruhr aus. Man empfing die andern
Compagnien mit Steinwürfen, brachte der sechsten Lebehoch aus, und
drang in sie, die alte Wache mit Gewalt der Waffen einzunehmen.
Dies geschah denn auch mir Hülfe des Volkes. Man erbrach, stürmte
und besetzte das alte Lokal, während die neue Wache auch besetzt
blieb. Mehrere Gardisten der andern Compagnien gingen aber zur
sechsten über. Der Tumult verbreitete sich überall in der ganzen
Stadt, Commandant von Loben wurde insultirt, man versuchte
es, ihn vom Pferde zu reißen, und er wäre vor der neuen Wache
ermordet worden, wenn ihn nicht einige Gardisten gerade von der
sechsten Compagnie gerettet hätten. Er verschwand aber bald dar¬
aus vom Kampfplatz. Dagegen zogen Schützen und Jäger unter
dem bekannten Hauptmann von Selmnitz auf, und trafen mit der
Menge auf der Grimmaischen Gasse zusammen, wo im dichten Ge¬
dränge Kopf an Kopf stand. Auch damals ist Bürgerblut geflossen,
allein die Militärgewalt verfuhr mit Ordnung und Mäßigkeit. Haupt¬
mann von Selmnitz ließ die Menge zuerst auffordern, sich zu zerstreuen;
aber man wich nicht von der Stelle. Nun gab er Befehl zu feuern.
Das erste Mal wurde blind geschossen, erst das zweiie Mal scharf, und
obwohl die Menge so dicht stand, daß von einmaligem Schießen Hun¬
dert hätten getroffen werden können, blieben doch mir zwei Todte.
Mehrere, aber auch nicht Viele, waren verwundet. Damit war die
Sache abgemacht. Am andern Tage wurden nach Beschluß des Aus¬
schusses beide Wachen bezogen. Indessen erschien Hof- und Justizrath
von Langenn als königlicher Beauftragter in Leipzig, um die Un¬
tersuchung gegen die Aufrührer einzuleiten. Auf seinen Befehl wurde
die sechste Compagnie aufgelöst, die alte Wache verlassen, und nur
die neue bezogen. In Folge der Untersuchung wurden einige Bür-
ger und mehrere Communalgardisten, nicht blos aus der sechsten,
sondern auch aus andern Compagnien, mit Zuchthaus bestraft. Herr
von Loben hatte sofort nach dem Aufstand sein Commando nieder¬
gelegt, obwohl sein Verfahren von oben gerechtfertigt wurde, und
die Communalgarden mit ihm zufrieden waren. Bis zur Wahl des
neuen Commandanten führte der Stellvertreter des Herrn von Loben,
Herr F. A. Brockhaus, das Commando zu allgemeiner Genug¬
thuung, Am 9. März 1832 wurde Herr von Goldacker, Major
beim zweiten Schützenbataillon, zum Commandanten erwählt, und
Brockhaus blieb stellvertretender Commandant bis zum 24.
März 1834.
Am 19. März 1832 eröffnete der Ausschuß in Gegenwart des
königl. Commissarius Herrn von Langenn, den in Folge der Un¬
tersuchung freigesprochenen Mitgliedern der sechsten Compagnie, daß
die sechste Compagnie aufgelöst bleibe, daß die einzelnen Gardisten
aber in andere Compagnien eintreten könnten. Die Waffen erhiel-
ten sie zurück. Zuerst die cikademische Legion, und die fünfzehnte
Compagnie, sodann auch alle übrige Compagnien, gaben die Er¬
klärung ab, wie erfreulich es ihnen sein werde, vormalige Mitglie¬
der der sechsten Compagnie in ihre Mitte aufzunehmen. Ihr Eintritt
erfolgte nach ihrem Wunsche.
Seit der Zeit geht Alles im ordentlichen Geleis und die Com-
munalgarde hat ihre Nützlichkeit bei mehreren kleinen Gelegenheiten
verschiedenartig bewährt. Stets hat sich eine loyale und biedere Ge¬
sinnung in ihren Reihen bemerklich gemacht, die von ihren Vorge¬
setzten, auch dem Obercommandamen, oftmals lobend anerkannt wurde.
Seit 1832 sind folgende Commandanten auf einander gefolgt: Otto
von Goldacker, 'gewählt am 9. März 1832; — Adolph von
Schulz, Major beim ersten Schützenbataillon, gewählt am 9. Fe¬
bruar 1833; — Johann von Dallwitz, Hauptmann beim zwei¬
ten Schützenbataillon, gewählt am 28. März 1837; — Adolph Wil¬
helm Aster, der tüchtigste von den genannten; — endlich Christian
Gustav Haase, ol. der Medicin, gewählt den Is. Januar 1844.
Er ist der erste Commandant aus der Mitte der Bürger, und man
befindet sich dabei ganz vortrefflich. Es ist dadurch ein ganz anderes
Verhältniß zwischen den Communalgardisten und dem Commandan¬
ten entstanden. Der Bestand der Leipziger Communalgarde seit 1833
ist: 16 Hauptleute, 1 Rittmeister, 79 Zugführer, 206 Feldwebel und
Rottmeister, 24 Tambours und Musik, 1990 Gefreite und Gemeine,
zusammen 2317. Zur Bewaffnung hat der Staat 275, Gewehre
geliefert, die Stadt 112, die übrige Bewaffnung ist Eigenthum der
Mannschaft.
Bet der vom Obercommandanten Prinzen Johann am 12.
August dieses Jahres abgehaltenen Musterung hat die Leipziger Com¬
munalgarde eine auffallende Verstimmung gezeigt. Mag sie begrün¬
det oder unbegründet sein, so ist doch die Art der Aeußerung nicht
von Tadel freizusprechen. Man sagt, der Commandant habe ein
Lebehoch ausgebracht, und die Mannschaft habe nicht eingestimmt.
Man sagt ferner, der Obercommandant habe die einzelnen Com¬
pagnie,, nach der Reihe begrüßt, und nur eine Compagnie habe
den Gruß erwidert. Warum der Commandant nicht früher Ge¬
neralmarsch schlagen ließ, da er doch dazu berechtigt ist? warum
der Stadtcommandant nicht die Communalgarde hat rufen lassen,
da dieselbe gesetzlich vorzugsweise bei solchen Gelegenheiten
angewendet werden soll? — das sind Fragen, über denen noch
Dunkel schwebt. Hat die Communalgarde noch in derselben Nacht,
hat sie in den folgenden Tagen die Ruhe aufrecht erhalten und die
Ordnung hergestellt; so würde sie zu demselben Zwecke noch viel
mehr vor dem Einschreiten der Schützen ausgereicht haben.
Die Verhältnisse der Völker zu einander zeigen im Großen die¬
selben Erscheinungen, welche wir in den Beziehungen der Einzelnen
zueinander beobachten; in beide» nehmen wir zwei entgegengesetzte
Richtungen wahr: das Streben nach Sclbstständtgkeit und Unabhän¬
gigkeit auf der einen Seite, das Streben nach Vereinigung und Ge¬
sell schastung ans der andern.
Sie sind sich völlig entgegengesetzt, wie Centripetalkraft und
Centrifugalkraft. Sollen wir also beiden zugleich folgen,
oder muß eine Wahl getroffen werden? und wenn wir
beiden folgen müssen, wie ist eine Vereinigung des Entgegengesetzten
möglich?
DaS Streben nach Selbstständigkeit allein führt in die Tonne
des Diogenes oder in die Zelle des Einsiedlers; und doch stehn Dio¬
genes und der Einsiedler immer noch in Beziehungen zu der mensch¬
lichen Gesellschaft; sie sind noch nicht ganz unabhängig, selbstständig;
das könnte nur ein Robinson auf der einsamen Insel sein. Aber
Robinson, den uns Fop und nach ihm Kämpe und Andere geschil¬
dert haben, ist ein Unding, eine Unmöglichkeit. Der Mensch bedarf
der menschlichen Gesellschaft zum Leben, wie der Fisch des Wassers.
Setzt einen Einzelnen auf eine einsame Insel, er wird die Sprache
verlieren, zum Thier herabsinken, wahnsinnig werden und in seinem
Jammer den Geist aufgeben!
Ein Volk ist aber auch ein Einzelwesen oder ein Individuum;
es hat jedes seinen eigenthümlichen Wuchs, und, wie jede Baumart
ihre Blüthen und Früchte, so jedes Volk seine Sprache und Sitten.
Wo ist nun aber das menschliche Geschlecht am weitesten in der Bil-
dung vorangeschritten? Da, wo die meisten Volker im Verkehr zu ein¬
ander getreten sind, in Europa. Jahrtausende lang mögen wilde
Völkerstämme auf einsamen Inseln oder in entlegenen Gegenden ge¬
wohnt haben, ohne je ein anderes, als ihr eigenes Volk gesehen zu
haben, und sie stehen auf der untersten Stufe der Bildung.
Die Selbststandigkeitsrichtung allein bringt also weder dem Ein¬
zelnen noch dem einzelnen Volke Heil; aber auch nicht das Streben
nach Vereinigung allein.
Denn dieses äußert sich entweder in Unterdrückung sucht
oder Unterwürfigkeit, wenn es nicht durch die entgegengesetzte
Richtung in Schranken gehalten wird. Eine Macht, die blos Ver¬
einigung will, ohne die Selbstständigkeit Anderer zu achten, unter¬
jocht und herrscht; in wem der Selbstständigkeitömcb erloschen ist,
der unterwirft sich und gehorcht. Aus dieser einseitigen Richtung
sind die Gedanken der Universalmonarchie, der Universaltheokratie und
des communistischen Phalanstore hervorgegangen. Sie erkennen weder
die Selbstständigkeit des Einzelnen noch der einzelnen Volker an und
'sind somit unnatürlich. Eine päbstliche Wclrherrschaft, welche die
verschiedenen Nationalitäten auflöst, ein cvmmunistischeö Weltphalan-
stere, welches alle Individualitäten, alle verschiedene Nationen in
einen einzigen Menschenbrei zusammenrührt, — sie können gedacht
und mit ungeheuren Anstrengungen auf eine Zeit lang versucht wer¬
den; aber sie werden nie völlig und aus die Dauer zu Stande kom¬
men und immer eine traurige Erscheinung bleiben, ebenso traurig,
als wenn auf der andern Seite in einer Bevölkerung das Selbst-
ständigkeitsgefühl mit Gewalt unterdrückt wird. Sie hört dann auf
eine Nation zu sein und zerstreut sich in alle Himmelsgegenden, um
sich Arde/er zu unterwerfen oder Anderen anzuschließen.
Jede von diesen Richtungen allein führt also den Einzelnen und
die Völker zum Verderben; den richtigen Weg finden wir nur in der
Vereinigung beider.
Bisher kannte die Geschichte eine Verbindung verschiedener Völ¬
ker nur vermittels Eroberung; es wurden große Reiche aus ver-
schiedenen Völkern gegründet, aber es wohnten darin nur Sieger
und Besiegte, Unterdrücker und Unterdrückte; eine Vereinigung war
da, aber keine Selbstständigkeit mehr. Die nordamerikanischen Frei-
staaten, in so vielen Dingen ein Muster, geben auch hierin ein gro߬
artiges und glänzendes Beispiel. Ihre Zahl wird immer großer und
größer! — durch Eroberung? — nein, man schließt sich anein¬
ander an. Jeder neue Staat, der sich anschließt, schießt einen Theil
seiner Selbstständigkeit her als Beitrag zu der gemeinsamen
Bundesgewalt, bewahrt und behauptet aber ausdem ihm eigen¬
thümlichen Gebiete seine völlige Unabhängigkeit und Selbststän¬
digkeit. So soll in einem freien Staat jeder Einzelne einen Theil
seiner Selbstständigkeit und Unabhängigkeit zur Bildung der gemein¬
samen Staatsgewalt hergeben; aber in seinen eigenen Angelegenhei¬
ten, in seinem eignen Hause ein freier, würdiger Mensch bleiben.
Von Unterdrückung, Eroberung, Unterjochung ist auf diesem Wege
keine Rede mehr; auf der Grundlage gleicher Berechtigung
vereinigen sich verschiedene Völker zur Bildung einer Bundesgewalt,
die ein gemeinsames Gut ist, und welche die Selbstständigkeit der
Einzelnen nicht aufhebt, sondern in vernünftige Schranken weist.
Man sollte meinen, daß solche Vereinigung der Gegensätze das ein¬
zige Naturgemäße wäre.
Sollte sie nicht auch in Europa möglich sein? Es scheint so,
da sie in der Schweiz sogar schon wirklich ist. Die schweizerische
Eidgenossenschaft hat französische Kantone, die so französisch sind als
Frankreich, und sie hat völlig deutsche Kantone; und beide Nationa¬
litäten vertragen sich herrlich zusammen. Der Grund der schweizer
Wirren liegt nicht in der Vereinigung von Franzosen und Deutschen,
sondern in dem Kampf der Rechtsgleichheit mit den Privilegien, der
neuen Zeit mit der alten, der französischen Revolution mit der Legi¬
timität. Niemand verträgt sich besser zusammen als Waadlländer,
Neuenburger, Genfer mit Zürichern, Bernern, Solothurnern und
andern deutsche» Schweizern, sowohl auf den eidgenössischen Schützen¬
festen, als in Nathssälen und im eidgenössischen Lager. Man muß
die Brüderlichkeit, die unter ihnen herrscht, sehen, um zu erkennen,
daß der gegenseitige Haß von Franzosen und Deutschen, den Einige
für angeboren halten, das bedauernswerthe Ergebniß unglücklicher
Ereignisse ist.
Denn wenn Franzosen und Deutsche in der Schweiz brüderlich
zusammen leben und statt Haß Zuneigung haben, warum sollte das
nicht auch in Deutschland der Fall sein können?
Vor der Hand stehen dem freilich eine Masse von Vorurtheilen
und geschichtlichen Erfahrungen entgegen. Der Absolutismus hat
unzählige Male Deutsche und Franzosen gegeneinander in den Kampf
geführt, und die übrig gebliebenen Erinnerungen bilden die Grund¬
lage zu der Gereiztheit der Gemüther, welche Deutschland und Frank¬
reich unläugbar noch auseinander hält. Den besten Beweis davon
liefert die Art, wie die Verhältnisse beider Länder diesseit und jenseit
des Rheins besprochen werden. Man kann sich eine Berührung,
ein Zusammentreffen beider Länder gar nicht anders als feindlich
vorstellen. Die Wiedereroberung des linken Rheinufers, das ist es,
woran man auf beiden Seiten denkt. Wer den Franzosen freundlich
gesinnt ist, von dem setzt man ohne Weiteres voraus, daß er mit
der Abtretung der auf dem linken Rheinufer gelegenen deutschen Pro¬
vinzen einverstanden sei; — und umgekehrt, wer mit Entschiedenheit
erklärt, daß von einer Eroberung der Franzosen auf deutschem Gebiet
gar nicht mehr die Rede sein dürfe, und daß die Franzosen, wenn
sie mit den Waffen in der Hand kommen, mit den Waffen fortgetrie¬
ben werden müssen, der gilt ohne Widerrede für einen Feind der
Franzosen, für einen Franzosenfresser.
Bei dieser Anschauungsweise wird aber nur ein einziger kleiner
Umstand vergessen, daß man nämlich ein Freund beider Völker sein
kann. Wer das ist, er sei nun Franzose oder Deutscher, der wird
überhaupt jeden Eroberungsgedanken von der Hand weisen, denn
Eroberungen können einem Kabinet von Nutzen sein, nie aber den
Völkern, weder den Siegern, noch den Unterdrückten. Er wird sich
also ebenso bestimmt gegen eine Eroberung der Franzosen auf deut¬
schem Gebiete, als gegen eine solche der Deutschen auf französischem
aussprechen. Er wird aber wünschen, daß beide Völker auf der
Grundlage gleicher Berechtigung mit gegenseitiger gleicher
Achtung ihrer Selbstständigkeit und Freiheit in eine Verbindung
treten, um ihre vielen gemeinschaftlichen Interessen gemeinschaftlich
etwa in der Art zu ordnen, wie die gemeinschaftlichen Interessen der
einzelnen Staaten, unbeschadet ihrer sonstigen Selbstständigkeit, in den
Vereinigten Staaten von Nordamerika geordnet sind.
Mir scheint, daß ein solcher Bund von Deutschen und Fran¬
zosen das Einzige ist, was im wahren Interesse beider Völker läge.
Denn die gegenseitige Absperrung beider Länder, wie sie jetzt besteht,
wird kaum von langer Dauer sein können und kann nur durch fried¬
liche Annäherung oder auf dem Wege des Krieges gehoben werden;
ein Krieg aber wird stets nur neue Kriege, nie etwas Gutes zur
Folge haben, weil Deutschland weder auf die Länge von Frankreich,
noch Frankreich von Deutschland sich wird unterjochen lassen.
Allein eine solche Ansicht der Dinge ist in Europa so fremd,
daß jeder, der sie ausspricht, darauf gefaßt sein muß, zahlreiche Geg¬
ner, und sehr wenig Anhänger zu finden. Es wird lange Zeit
brauchen, ehe wir die Politik der Cabinete verlernen, und
uns an eine Politik der Völker gewöhnen. Bei den Franzosen,
welche uns Deutschen in politischer Bildung weit voraus sind, haben
sich einzelne hochgebildete Männer, wie Lamartine, in der ange¬
deuteten Weise über die Verhältnisse Deutschlands und Frankreichs
ausgesprochen, und man kann nicht sagen, daß sie ganz ohne An¬
klang geblieben sind; die öffentliche Meinung läßt aber noch keines¬
wegs von der Eroberung des linken Rheinufers ab. In Deutschland
ist, so viel ich weiß, ein einziger Versuch gemacht worden, solche
Ansichten geltend zu machen, oder doch wenigstens sie in öffentlichen
Blättern zur Besprechung zu bringen; allein die Allgemeine Zei¬
tung, das bedeutendste Organ, hat ihn nicht ein Mal der Erwäh¬
nung würdig gefunden, die Deutsche Allgemeine Zeitung
hat ihn mit kurzen Worten abzufertigen gesucht, und alle übrige
deutsche Zeitungen haben darüber geschwiegen, während die bedeu¬
tendsten französischen Blätter wiederholt darüber leitende Artikel ge¬
bracht und selbst schon von Bildung eines französisch-deutschen
Zollvereins gesprochen haben.
Um so verdienstlicher ist es, wenn mehrere französische und
deutsche Gelehrte am Rhein sich nicht abschrecken lassen, und, ohne
an ein politisches Bündniß Frankreichs und Deutschlands zu denken,
wenigstens auf eine Annäherung beider Völker einstweilen nur auf
dein Gebiete der Wissenschaften hinarbeiten. Sie haben zu dem
Ende vorgeschlagen, nach Art der bereits bestehenden gelehrten Ver¬
eine, sich von Zeit zu Zeit zu versammeln und einen Verein zu bilden
unter dem Namen 8»el<W «ne)c>o>>^it!«n>o äos unitis <1u tilli»,
gesammtwissenschaftlicher Verein der Rheinufer.
Die Sache ist, namentlich auf deutscher Seite, auf mannigfache
Hindernisse gestoßen, welche in Obigem bereits angedeutet sind. , Die
Leipziger Schlacht und die Einnahme von Paris sind noch zu frische
Erinnerungen. Sie wird aber aus dem wissenschaftlichen
Congreß (Oon^-of scioiUillcjUl!), der in diesem Jahre in Frank¬
reich abgehalten wird, neuerdings zur Sprache kommen, und ich
glaube daher, daß es an der Zeit ist, die Bedingungen auszuspre¬
chen, unter welchen man glauben könnte, daß von deutscher Seite
aus die Hand zur Bildung eines solchen Vereines geboten werden
würde und damit einige dahin gehörige Vorschläge zu verbinden.
Die gegenwärtigen Verhältnisse und Bedürfnisse Deuischlands
haben den Trieb nach Erringung einer deutschen Nationalität erweckt,
um so lebhafter und reizbarer, je größer die Hindernisse sind, welche
ihm entgegenstehen. Es läßt sich auch nicht verkennen, daß die denk>
schen Völkerschaften zu einem klareren Bewußtsein ihrer Kräfte ge¬
kommen sind, und den besten Willen haben, sich zu einer deutschen
Nationalität zu vereinigen, wenn uns auch weder unsere politischen
Institutionen, noch die deutschen Regierungen im mindesten dazu be¬
hilflich sind, sondern es vielmehr hindern.
Eine Annäherung der Franzosen und Deutschen ist daher bei
dieser Stimmung der Gemüther in Deutschland nur bei der unbe¬
dingtesten Gleichheit der Berechtigung ausführbar. Alle Vorschläge
zur Bildung eines französisch-deutschen Gelehrtenvcreins, welche einen
andern Ausgangspunkt hätten oder zu haben schienen, würden, Weit
gefehlt, in Deutschland Anklang zu finden, vielmehr nur benutzt wer¬
den, um von Neuem feindselige Leidenschaften hervorzurufen.
Betrachten wir von diesem Standpunkte die drei Hauptfragen,
welche von französischer Seite aus bei Bildung des rheinischen Ge¬
lehrtenvereins bereits zur Sprache gebracht und erörtert worden sind:
1. Welches soll der Ort der Versammlungen des Vereins sein?
2. In welcher Sprache soll die Gesellschaft ihre Arbeiten ver¬
öffentlichen ?
3. Wo soll der Sitz der Verwaltung sein?
Zum Versammlungsort wurde von französischer Seite aus¬
schließend Straß bürg vorgeschlagen. Die Gleichheit der Berend-
tigung verlangt aber einen deutschen und einen französischen Ver¬
sammlungsort und es eignen sich dazu am besten auf deutscher Seite
Frankfurt, auf französischer Straßburg. Rheinstädte müssen es
sein und Frankfurt kann als solche vermittelst des Rheins, Mains
und der Eisenbahn betrachtet werden- Heidelberg würde zu südlich,
Düsseldorf zu nördlich liegen; auch ist das erstere badisch, daS
letztere preußisch, Frankfurt dagegen Sitz des deutschen Bundes¬
tages und also gewissermaßen allgemeindeutsch.
Ohne Zuziehung der norddeutschen Gelehrten in Menge wird
die Gesellschaft nicht gedeihen. Preußen, die sächsischen Länder und
Hannover sind immer noch die Stammhalter der deutschen Wissen¬
schaft. Aber die norddeutschen Gelehrten werden und können nur
theilnehmen, wenn einer der beiden Versammlungsorte deutsch und
wenn er bequem gelegen ist. Frankfurt ist der Ausgangspunkt Nord-
deutschlands, wird bald durch Eisenbahnen mit Kassel, Hannover,
Gotha, Leipzig, Dresden, Berlin und ganz Ostpreußen, durch den
Rhein mit den Rheinländern verbunden sein. Zudem ist es einer
der Hauptsttze deutscher Kunst und Wissenschaft, so wie deS deutschen
Buchhandels. Ein Blick auf das Verzeichniß der bei der letzten
Versammlung des wissenschaftliches Kongresses in Straßburg anwe¬
senden Deutschen zeigt, wie wenig norddeutsche dagewesen sind/ und
daß mehr Franzosen als Deutsche da waren , Das Umgekehrte wird
bei Versammlungen in Frankfurt stattfinden und dadurch die Ver¬
schiedenheit der Nationalität sich ausgleichen.
Indessen würden zwei Versammlungsorte zu wenig Abwechse¬
lung darbieten; ihre Entfernung würde es vielleicht Manchem un¬
möglich machen, die Gesellschaftstage zu besuchen Es scheint des¬
halb rathsam, neben zwei festen Versammlungsorten, die in bestimm¬
ten Zeiträumen an die Reihe kommen, bewegliche Versammlungs¬
orte einzuschalten. Mit diesen Erwägungen würde sich vielleicht am
besten vereinigen, wenn alle sechs Jahre die Gesellschaft abwech¬
selnd ein Mal in Straßburg, das andere Mal in Frankfurt tagte,
in den dazwischen liegenden fünf Jahren aber die Wahl der Ver¬
sammlungsorte dem Beschlusse der Gesellschaft überlassen bliebe.
Der Allsschuß, welcher auf dem letzten wissenschaftlichen Kon¬
greß zu Straßburg vorläufig gewählt wurde, um die Statuten des
deutschfranzösischen Gelehrtenvereins zu entwerfen, hat sich für die
Wahl der französischen Sprache als der ausschließlichen Geschäfts¬
sprache dieses Vereins entschieden. Selbst ein deutscher Gelehrter,
Professor Buß in Freiburg, Mitglied des genannten französischen
Vereins, ist diesem Vorschlag beigetreten. Allein nicht blos die Na¬
tionen, auch die Sprachen haben ihre Rechte,- auch die Sprachen
verlangen Freiheit und Gleichheit. Vor dieser Betrachtung müssen
alle andern in den Hintergrund zurücktreten, und es ergeben sich
daraus folgende Forderungen? die Mitglieder beider Nationen tau¬
schen ihre Gedanken in beiden Sprachen aus, die zur Veröffent¬
lichung bestimmten Schriften der Gesellschaft werden in beiden Spra¬
chen abgefaßt, von der beabsichtigten Zeitschrift der Gesellschaft wer¬
den eine deutsche und eine französische Ausgabe veranstaltet.
Das Bedürfniß und die Nothwendigkeit zu übersetzen, fordern
unmittelbar auf nachzudenken, welcher deutsche Ausdruck einem
französischen entspricht und umgekehrt. Uebersetzungen bilden
eine Sprache fort und reinigen sie von fremden Steffen. Wenn
eine Abtheilung der Gesellschaft für die französische und deutsche
Sprache aufgestellt würde, welche die Abtheilung für die bei¬
den Sprachen heißen könnte, so konnte man dieser nicht allein
die Nebersetzungsarbeiten übertragen, sondern sie zu gleicher Zeit er¬
suchen, ihre Bemerkungen und Betrachtungen über die beiden Spra¬
chen schriftlich abzufassen. Die Abtheilung für die beiden Sprachen
könnte dann für die Reinigung und Fortbildung der Sprachen beider
Völker maßgebend werden, und die Gesellschaft ihrem Einflüsse da¬
durch ein neues Gebiet eröffnen.
In der Tagsatzung der Schweiz, in den Nathsversammlungen
der Schweiz, bei den öffentlichen Festen der Schweiz hören wir eben
so viel deutsche als französische Redner sprechen, indem der eine zwar
deutsch versteht, aber lieber französisch redet, bei dem Anrern das
Entgegengesetzte gilt. Man findet sogar, daß Männer aus der fran¬
zösischen Schweiz, deren Muttersprache das Französische ist, öffentlich
deutsch reden. So der Schultheiß Neu Haus zu Bern, welcher
seine Reden im Berner Großen Rathe deutsch hält, obwohl seine
Muttersprache die französische ist, und obwohl eine Menge anderer
Mitglieder aus dem französischen Theile des Kantons auch im großen
Rathe nur französisch reden. Dieser in seinen Rechten durch Gesetz
und Sitte geschützte Gebrauch beider Sprachen ist in der Schweiz
die Hauptquelle der brüderliche» Vertraulichkeit, welche die Männer
deutschen und französijchen Ursprungs unter dem gemeinsamen Na¬
men des Schweizers an einander kettet.
Wenn unter vielen Mundarten derselben Sprache die vorzüg¬
lichste sich zur Herrin aller andern macht, so ist das nothwendig und
nützlich. Es bedarf dazu keiner Gewalt, die Mundarten wählen sich
selbst eine Fürstin. Aber man möge sich hüten zu glauben, daß
Sprachen in demselben Verhältnisse zu einander stehen, wie Mund¬
arten. Zu den beklagenswerthesten und traurigsten Beispielen, welche
uns die Geschichte vor Augen führt, gehört der Todeskampf, in wel¬
chen die Sprache eines unterdrückten Volkes mit der Sprache des
Eroberers ringt.
Eine nothwendige Folge des Gesagten ist, daß französisch ge¬
schriebene Arbeiten in's Deutsche, deutsche in's Französische übersetzt
werden müssen. Der Elsässer eignet sich durch fortwährende Uebung
besonders zu Uebertragungen aus dem Deutschen in's Französische.
Aus demselben Grunde werden die Deutschen besonders geeignet sein,
das Französische deutsch zu machen. Der Sitz der .Redaction der
deutschen Ausgabe der Schriften des Vereins wird also in Frank¬
furt, der der französischen in Straßburg sein müssen. Die Ausgaben
des Drucks und der Versendung werden dadurch verringert, die Ein¬
nahmen vermehrt werden. Da die französische Ausgabe der Schrif¬
ten in Straßburg, die deutsche in Frankfurt besorgt werden soll, so
muß ein Zweig der Verwaltung beständig in der einen, der andere
in der anderen Stadt sein.
Es ist ferner nicht aus den Augen zu lassen, daß die Mitthei¬
lungen, welche die Verwaltung an die einzelnen Mitglieder in Form
von Rundschreiben oder sonst zu machen haben wird, schneller und
leichter an den Ort ihrer Bestimmung gelangen werden, wenn die
Verwaltung ihren Sitz zu gleicher Zeit in Frankfurt und Straßburg
hat. Von Frankfurt aus lassen sich schnell alle Schreiben über ganz
Deutschland, Belgien, Holland und Skandinavien verbreiten, indem
Frankfurt ein Hauptsitz der deutschen Posten ist. Was nach Frank¬
reich, der Schweiz, England, Spanien, Italien geht, wird besser von
Straßburg ausgefertigt werden.
Auch wird der Verein sich nicht ganz der Beihilfe des Buch¬
handels entschlagen können, wobei nicht vergessen werden darf, daß
der deutsche Buchhandel auf ganz andere Weise betrieben wird, und
sich in einem anderen Kreise bewegt, als der französische. Wollte
man von den Schriften des Vereins blos eine französische Ausgabe
in Frankreich veranstalten, so würde sich der deutsche Buchhandel
wenig oder gar nicht damit besassen und die Verbreitung in Deutsch¬
land sehr unbedeutend sein. Eine in Frankfurt veranstaltete deutsche
Ausgabe wird von einem deutschen Buchhändler schnell in ganz
Deutschland vertrieben werden. Am besten würde es sein, wenn eine
Buchhandlung, die in Leipzig und Paris ihren Sitz hätte, dem Vereine
hilfreiche Hand böte.
Nur wenn jede Nation einen Theil ihrer Nationa¬
lität nicht verloren gibt, sondern einsetzt zur Bildung
einer Nationalität höheren Ranges, kann eine Gesellschaft
entstehen, deren Verfassung Lebenskraft hat, Dauer verspricht und
segensreiche Früchte trägt. Unsere Vorschläge sind kurz zusammen¬
gefaßt folgende:
1) Die allgemeinwissenschaftliche Gesellschaft des Rheines ver¬
sammelt sich regelmäßig alle sechs Jahre einmal abwechselnd in Stra߬
burg und Frankfurt. Die übrigen Versammlungen, welche jährlich
einmal in den dazwischen liegenden fünf Jahren stattfinden sollen,
werden in Städten sein, deren Wahl dem Beschlusse der Versamm¬
lung angeheimgestellt bleibt.
2) Die französische und deutsche Sprache sind die Geschäfts-
sprachen. Von allen Schriften, welche im Namen der Gesellschaft
der Oeffentlichkeit übergeben werden, sollen eine französische und eine
deutsche Ausgabe veranstaltet werden.
3) Zu der Verwaltung der Gesellschaft gehören zwei Zweige,
wovon der eine fortdauernd in Frankfurt, der andere in Straßburg
bleibt. Ein an der Spitze der gesammten Verwaltung stehender
Vorstandrath hält seine Sitzungen nach der Bestimmung seines Vor¬
sitzenden in Straßburg oder Frankfurt.
Der sehr werthvolle Nachlaß des verdienstvollen Slavisten Kopi-
tar, der im verflossenen Jahre als Hofcath und erster Custos bei der
Hofbibliothek starb, soll jetzt nach einer Bekanntmachung des Dr. Bach
versteigert werden, falls sich nicht ein Käufer für das Ganze fände.
Dies letztere wäre allerdings möglich, denn der Verstorbene befand sich
in einer für seine literarischen Neigungen höchst günstigen Lage und
hat eine äußerst interessante Sammlung seltener und wichtiger Schrif¬
ten für das Studium slavischer Literaturen angelegt, wozu ihm seine
Abordnung im Jahre I8Il> nach Paris, um die Herausgabe der von
den französischen Armeen bei ihren wiederholten Einfallen in Oester¬
reich weggeführten Bücherschätze zu betreiben, nicht geringen Vorschub
leistete, indem er bei dieser Gelegenheit die persönliche Bekanntschaft
gelehrter Bibliothekbesitzer machte und sie für vortheilhafte Erwerbun¬
gen und Umtausche benutzte. Wie man hört, soll die russische Ge¬
sandtschaft auf Vorschlag des hier wohlbewanderter Sresniwosky vom
Unterrichtsminister Uwarow in Petersburg den Austrag zum Ankauf
dieser für slavisches Schriftwesen so wichtigen Schatze erhalten haben.
Ein gelehrter Gast aus Nußland hat sich gleichfalls seit einigen
Wochen hier eingefunden, um die Manuscriptsammlung der Hofbiblio¬
thek zum Behuf seiner Forschungen im Gebiete der hebräischen Litera¬
tur auszubeuten. Salomon Werblumer ist aus Rosheim in Nußland
und kam über Dresden und Prag hierher, hat aber alsbald die Er¬
fahrung machen müssen, daß er sich in keinem Lande befinde, in dem
bereits die vielerörterte Frage der Judenemancipation glücklich gelöst
sei; denn die hiesige Polizeibehörde wollte ihm den Aufenthalt nicht
gestatten, weil in seinem russischen Passe, ich weiß nicht aus welchem
Grunde, er als Handelsmann bezeichnet war und israelitischen Kauf-
leuten der hiesige Aufenthalt gewöhnlich schwierig gemacht wird, um
Klagen von Seite der hier seßhaften Jsraeliten über Beeinträchtigung
ihrer mit schweren Geldopfern erkauften Handelsrechte zu verhüten,
Werblumcr ist eben damit beschäftigt, einen auf der Rathsbibliothek
in Leipzig aufgefundenen, von einem berühmten spanischen Gelehrten,
Joseph Ihr Caspe, verfaßten, beinahe 60t) Jahre alten Commentar
d.'s „More Nebuchim" des Maimonides herauszugeben. Das Werk
des Maimonides wird als Mittelpunkt jüdischer Religionsphilosophie
betrachtet. Der bis jetzt durch den Druck unbekannte Commentar wird
einen interessanten Beitrag zur hebräischen Literaturgeschichte bilden.
Was die Weiterführung der Staatsbahnen nach Nord und Süd
betrifft, so ist der Bau derselben von Ollmütz nach Prag bereits als
vollendet anzusehen und wird die Eröffnung dieser bedeutenden Strecke
am 20. August, als dem Namenstage des Landesschefs vom König¬
reiche Böhmen, stattfinden, wobei der Kaiser durch den Erzherzog Carl
vertreten werden soll. Am 1. September wird alsdann diese Eisen¬
straße dem allgemeinen Verkehr übergeben werden. Die streck« von
Gratz nach Cilli dagegen ist noch ziemlich weit davon entfernt, um
als fahrbar zu gelten, und es werden ungewöhnliche Anstrengungen
nothwendig sein, soll diese Richtung noch im Herbst dieses Jahres dem
Verkehr geöffnet werden. Wenn man indeß bemerkt, daß der Ener¬
gie des Hoskammerprasidenten, Baron Kübeck, in dieser Art schon man¬
ches gelungen, was von anderer Seite als unwahrscheinlich betrach¬
tet ward, so darf man auch in diesem Falle keinen Zweifel hegen
gegen die baldigste Befahrung der Südstaatsbahn bis an die äußerste
Grenzstadt der schönen Steiermark, und es wird blos einer Inspec-
tionsreise von Seite des Finanzministers bedürfen, um, wie im ver¬
gangenen Jahre, wo Nachts beim Licht von Pechfackeln gearbeitet
wurde, das Versäumte eiligst nachzuholen. Im Sommer 4847 muß
auch die Strecke bis Limbach bereits im fahrbaren Zustande sein.
In Angelegenheiten der bis vor Kurzem sehr übel bestellten Stra¬
ßenbeleuchtung hat endlich ein bedeutender und lobenswerther Fort¬
schritt stattgefunden; der Magistrat ist nämlich mit der bekannten eng¬
lischen Eonlincntal-Gas-Association dahin überein gekommen, daß mit
den 4. October 1846 alle Theile der innern Stadt mittelst Gas be¬
leuchtet sein müssen. Schon am I. Juli dieses Jahres ist die Gas¬
beleuchtung aus vielen Plätzen und in einigen Gassen in's Leben ge¬
treten und am 1. October wird ein weiterer Theil hierin nachfolgen,
bis der l. Juli 1846 und der I. October desselben Jahres als die
letzten Fristbestimmungen das löbliche Werk vollenden werden. Kgy
bis 6tlo Flammen find hinreichend befunden worden und die Kosten
derselben übersteigen kaum die bisher aus die Oellampen verwendeten
Summen. Doch vernimmt man noch immer nichts Entschiedenes in
Betreff der Basteien und des Glacis, welche in den Bereich der For-
tisicationsbehörde fallen und außerhalb des Wirkungskreises liegen, in
dem der Bürgermeister zu sprechen hat. Und doch wären es gerade
diese beiden Punkte, denen die Gasbeleuchtung ganz besonders zu
Statten kommen würde, da das Glacis eben wegen seiner schlechten
Oelbeleuchtung dem nächtlichen Wanderer so gefährlich ist und die
Basteien durch den hellen, prachtvollen Schimmer der Gasflammen
ein angenehmer und gernbesuchter Spaziergang der schönen Welt in
den Abendstunden des Spätherbstes und wohl auch des Winters wer¬
den müßte.
Die zur Niederkunft der Erzherzogin Hildegard hierhergereistc Kö¬
nigin von Baiern hat, als sie vor einigen Tagen in einem Hofwa¬
gen nach Schönbrunn fuhr, einen sehr unangenehmen Auftritt erlebt,
welcher sie heftig ergriff, und der gewiß nicht so leicht aus ihrem
Gedächtniß verlöschen wird. Der wie gewöhnlich etwas schnell fah¬
renden Hofequipage kam eine leichte Kutsche entgegen gefahren und
als der Lenker dieses Wagens, der zugleich der Eigenthümer desselben
war, nicht sogleich zur Seite weichen konnte, ward eines von den
Pferden durch das metallne Geschirr der Hosequipagc beträchtlich ver¬
letzt. So weit war die Sache in der Ordnung und der Ausgleichung
ihre vollste Möglichkeit gesichert. Der Herr d.s Wagens gerieth aber
über die ihm ganz zufälliger Weise widerfahrene Unbill dergestalt in
Zorn, daß er alsbald umlenkte und der Königin bis in den Schloß-
Hof von Schönbrunn nachfuhr, wo er sie beim Aussteigen über den
Vorfall zur Rede stellen und augenblickliche Entschädigung fordern
wollte. Die Königin entschuldigte sich, daß sie selbst eine Fremde sei,
und wies den Mann an ihren Kammerherrn. Am andern Tage ließ
die Polizei den ungalanter Wagenherrn vor sich kommen, der ein reicher
Börsenspekulant, Namens Blühdorn, ist. Diesem war der Muth in¬
dessen bedeutend gesunken. Er hatte eine Audienz bei der Königin
verlangt, um für 'seinen Jähzorn sich zu entschuldigen, war aber nicht
vorgelassen worden. Die Polizei hat nun eine Untersuchung gegen
d.in Ungezogenen eingeleitet, die hoffentlich keine schweren Folgen ha¬
ben wird, da der Mann eigentlich nur ein aufgeblasener Narr, aber
kein böswilliger Mensch ist. Das Komischeste bei der Sache und ein
trauriger Beleg zur Charakteristik unserer Börse ist, daß die Papiere
in Folge dieses närrischen Vorfalls nicht unbedeutend zurückgingen.
Herr Blühdorn hat nämlich aus Furcht, es könnte ihm was gesche¬
hen, seine Actien verkauft und da er ein ziemlich bedeutender Spccu-
lant ist, so äußerte dieses Losschlagen eine nachtheilige Wirkung auf
die ganze Börse.
Mehrere Gäste aus dem deutschen Auslande, welches die gebil¬
dete Klasse indeß durchaus nicht als Ausland anerkennen möchte, ha¬
ben uns bereits wieder verlassen, ohne daß sie Ursache gefunden haben
dürsten, über die Art ihrer Aufnahme unzufrieden zu fein. Spind-
ter, der mit seiner Tochter hier einen mehrwochentlichen Aufenthalt
genommen, ist über Grätz und Salzburg nach Baden-Baden abge¬
reist, nachdem er hier manches Band der Freundschaft geknüpft und
vielseitige Theilnahme geweckt hatte. Es ist kein Geheimniß mehr,
daß er einen neuen, mehrbändigen Roman unter der Feder hat,
dessen Schauplatz in den Mauern der österreichischen Kaiserstadt liegt,
und so wie nun der praktische Romanschreiber vor der Abfassung sei¬
nes „Vogelhändlers von Jmbst" einen längeren Aufenthalt in Tyrol
genommen, wo er die Lokaltinten zu seinem Volksgemälde rieb und
mischte, so ist er auch diesmal nach Wien gekommen, um sich die
Oertlichkeiten und den Geist der Bewohner in der Nähe zu besehen.
Der Dichter Gustav Schwab aus Stuttgart fand gleichfalls einen
bedeutenden Kreis von Freunden und verweilte acht Tage in der Re¬
sidenz. Ihn führte die Reise seines Sohnes nach Athen hierher, dem
er eine gute Strecke das Geleite gab. Lautere Ausnahme ward dem
königl. sächsischen Obersteuerprocurator Eisenstück zu Theil, welcher blos
als solcher in den hiesigen Blattern angekündig werden durfte, indem
die Censur den Beisatz: „freisinniger Landtagsredner" jedes¬
mal sorgfältig ausmerzte. Dem wackern Manne zu Ehren ward in
dem Landhause des l>>. Wildner zu Döbling, der sich in der letzten
Zeit durch seine Thätigkeit in Betreff der Preßpelition rühmlich aus¬
gezeichnet, ein glänzendes Souper veranstaltet, das durch einen Kreis
bedeutender Persönlichkeiten gewann, indem sich viele Advokaten, Aerzte,
Schriftsteller und die Professoren der juridischen Facultät angeschlossen
hatten. Erst spat nach Mitternacht löste sich die heitere und geistig
angeregte Gesellschaft auf, deren Toaste von dem edlen Greis in der
würdigsten Weise erwidert wurden.
Der schon lange erwartete Hintritt des greisen Generalfeldmar¬
schalls Graf von Vellegarde hat dem großen Publikum wieder einmal
das militärische Schauspiel eines stattlichen Leichenbegängnisses ver¬
schafft, nach dem es sich bei der Seltenheit von Paraden und ähn¬
lichen Wassenspiclen ganz gewaltig sehnt. Der Zug ging durch die
kaiserliche Hofburg und Erzherzog Albrecht mit der ganzen Generalität
und Mann Truppen begleiteten den Leichenwagen, der seinen
Weg nicht auf das Gut des Grafen, sondern ganz einfach auf den
Militarkirchhof auf der Schmelz nahm, wo die Beisetzung erfolgte.
Das Geschlecht der Bellegarde stammt aus den Niederlanden und sie¬
delte erst spater nach Savoyen über. Schon 149? findet man einen
Herrn von Bellegarde als Avnvr.ri clos Knäuel?« ot in.titre «l'nudo!
und ein späterer leistete dem Kaiser Carl V. so wichtige Dienste, daß
er die Erlaubniß erhielt, den doppelten Adler in sein Wappen aufzu¬
nehmen, welchen die Familie noch heutigen Tages in ihrem Schilde
führt. Der Verstorbene, welcher auch Staats- und Conferenzminister
war, wurde 176V zu Chamberg geboren und erreichte mithin ein Al-
ter von 85 Jahren. Bereits 1796 stand er als Feldmarschalllieute¬
nant in Deutschland; seine bekanntesten Waffenthaten fallen in das
Jahr 1815, wo er den aus Neapel anrückenden König Murat zuerst
bei Ferrara und Occhio bello und spater in der Schlacht bei Tolentino
auf's Haupt schlug, womit Italien seinem frühern Zustande wieder
anheimfiel. Gegen die Franzosen war Bellegarde unglücklicher und
Znaim, Giuliano, Naleggio erzählen von seinem Mißgeschick, weshalb
sein Name unter den Truppen keines großen Rufes genoß. Er ward
viel in diplomatischen Angelegenheiten und in Geschäften des Hof¬
kriegsrechts verwendet. An verschiedenen Zeiten stand er an der Spitze
dieser obersten Kriegsbehörde; 18l)> supplirte er den zur Armee abge¬
henden Erzherzog Carl, 18,13 verwaltete er ebenfalls geraume Zeit
diesen Posten, bis er 1820 bei Schwarzenberg's Abtritt diese Stelle
bleibend erhielt. Fünf Jahre darauf schied Bellegarde wegen zuneh¬
mender Augenschwäche freiwillig aus diesem Verhältniß und verlebte
seine letzten Tage in Ruhe.
Das kaiserliche Heer zahlt dermalen nur noch drei Feldmarschälle,
Erzherzog Johann, Graf Radetzkv und Baron Wimpfen; wie man
hört, ist nächstens die Erhebung des Erzherzogs Ludwig und des Kriegs¬
ministers Graf Hardegg zu dieser ersten militärischen Würde mit Ge¬
wißheit zu erwarten, welche beide derzeit noch in der Reihe der Gene¬
rale der Cavallerie und Feldzeugmeister figuriren. Auch scheint es jetzt
entschieden zu sein, daß die Truppen wie in Preußen Waffenröcke er¬
halten sollen, nur in Betreff der Farbe waltet noch eine Meinungs¬
verschiedenheit ob, die indeß in Kürze ausgeglichen sein dürfte, indem
die Vertreter der bisher beliebten weißen Uniformen mit ihrer Recht¬
fertigung dieser heiklen Farbe kaum durchdcingen werden. Man
macht nämlich dafür geltend, „daß der Soldat durch die Sorgfalt, die
die Reinhaltung weißer Kleidungsstücke erfordert, nützlich beschäftigt sei
und von Excessen abgehalten werde, welche stets die Folge des Mü¬
ßiggangs beim Militär find." Das mochte allenfalls in früheren Zei¬
ten ein guter Grund sein, wo man es mit gewordenen Söldlingen
zu thun halte, die man bezahlte und um deren ferneres Wohl man
sich nicht zu kümmern brauchte; jetzt aber, wo das Heer aus Landes¬
kindern besteht, wovon die Mehrzahl den Kriegsdienst nur als einen
transitorischen Zustand betrachtet und in's bürgerliche Leben zurückkehrt,
jetzt hat der Staat die Verpflichtung auf sich, seine Soldaten auf
eine nützlichere Art als durch Kleider- und Riemzeugputzen zu beschäf¬
tigen, damit der Soldatenstand für Viele eine Schule sei, aus der
sie unterrichteter heraustreten, als sie hineingetreten. So zweckmäßig
demnach eine anhaltende Beschäftigung des Soldaten in Friedenszeiten
sein mag, um ihn vor Excessen zu bewahren, fo gibt es doch gegen¬
wärtig geeignetere Mittel, dasselbe Ziel zu erreichen, als Bedienten¬
dienste: nämlich Unterricht und Turnen.
Wahrscheinlich dürfte die graue Farbe den Sieg davon tragen,
womit sodann grüne Kragen und Aufschläge verknüpft waren, so daß
in der Folge die bunte Mannigfaltigkeit in diesen Dingen ganz weg¬
fallen würde und die Unterscheidung der Regimenter durch Bezifferung
der Knopfe bewirkt werden dürfte, wie bei andern Armeen. Statt
der Patrontaschen, die im Laufen das Rückgrat des Soldaten wund
prellen, sollen die Patronengürtel eingeführt werden und statt der stei¬
fen, unbequemen Bajonetscheiden weiche, aus einfachem Leder verfer¬
tigte, die nicht im Gehen hindern. Die Officiere würden kurze
Schwerter erhalten. Ueber die Kopfbedeckung entspinnt sich abermals
ein herber Kampf, da die Heime keineswegs alle die Vortheile besitzen,
die man ihnen andichtet; doch dürfte schwerlich der Vorschlag des auch
als Dichter bekannten Oberstwachtmeisters Pannasch annehmbar be¬
funden werden, welcher in der österreichischen Militärzeitschrist zu lesen
ist, wornach der Soldat ein Ding auf den Kopf bekäme, welches auch
als Kochgeschirr zu verwenden.
Im kommenden Herbst wird in der Umgebung zwischen Schön¬
brunn, Beritzensee und der Schmelz eine große Truppcnversammlung
Statt finden. Man spricht von 22,000 Mann und 400V davon
sollen ein Zeltlager beziehen, indeß die übrigen einquartirt würden.
Ohne Zweifel will man durch diese Heerversammlung dem Erzherzog
Albrecht eine Gelegenheit zur Entfaltung feiner kriegerischen Talente
bieten und zugleich die Anwendung mehrerer Neuerungen im größeren
Maßstab erproben.
Da ich schon einmal über militärische Dinge spreche, so will ich
auch noch einer Mordthat erwähnen, welche von zwei Husaren an
einem jüdischen Hausierer in der Nähe der Stadt begangen wurde,
der von 17 Wunden bedeckt an der Straße gefunden ward. Die
Mörder wurden alsbald entdeckt und gefänglich eingezogen, um sie
kriegsgerichtlich abzuurtheilen. Ihr Verbrechen ist um so bedeutender,
als sie selbst zur Bewachung der öffentlichen Sicherheit ausgesendet
worden und ihre Waffen statt zum Schutz der Gesetze zu gebrauchen
als Mordeisen verwendeten.
Seit einigen Tagen liest man an den Thüren der Stephansdom¬
kirche eine erzbischöfliche Kundmachung, worin alle Gläubigen bei
Androhung der kirchlichen Strafen aufgefordert werden, alle etwa in
ihrem Besitz befindlichen Papiere und Urkunden von der Hand der
1802 verstorbenen Herzogin von Savoyen, gcbomen Prinzessin von
Frankreich, Eleonore, w.'lebe jetzt von Sr. Heiligkeit selig gesprochen
werden soll, abzuliefern. Bekanntlich geht die Seligsprechung der Ca-
nonisation voran, welche erst nach langen Jahren und unter bestimm¬
ten Umständen möglich ist. Wenn ich gut unterrichtet bin, so ist die
erwähnte Prinzessin die Großmutter der regierenden Kaiserin von
Oesterreich.
In diesem Jahre wurde das zweihundertjährige Jubiläum des
einzigen der vielen hier concessionirten Volksfeste gefeiert, indem
es jetzt eben 20V Jahre sind, seitdem die Schweden unter Torstcn-
sohn, die nach der Schlacht bei Jankau bis Wien vorgedrungen waren,
durch den Erzherzog Leopold von Oesterreich, der mit 40W Mann
aus Linz herbeigeeilt war, im Bunde mit den bewaffneten Bürgern
und der Studentenschaft zurückgeschlagen wurden. Eine Stückkugel,
die in das Zelt des in der Wolssau lagernden Prinzen siel, ohne ihn
zu beschädigen, veranlaßte die Errichtung einer Kapelle an diesem
Orte, welche von diesem Tage der heiligen Brigitta als Schutzheiligen
geweiht ward, wodurch fortan die ganze An den Namen Brigittenau
erhielt. In Folge des Jubiläums siel das diesjährige Volksfest in
der erwähnten Brigittenau besonders lebendig aus und man schätzte
die Zahl der dort versammelten Menge, die, die einbrechende Nacht
nur wenig zerstreut, auf mehr als I0VM1V Menschen. Seitdem das
Buschwerk meistens ausgerottet und ein großer Theil des Platzes als
Baustellen verkauft worden, hat das Fest sehr viel verloren, indem
ihm dadurch sein günstiger Schauplatz entrissen und in eine baumlose,
staubbedeckte und sonnenverbrannte Wiese verwandelt war. Das Be¬
wußtsein von dem Ursprung dieser Feier hat sich im Volke schon^ längst
verwischt und laßt sich durch keinen in. gern Acilu igSartikel künstlich
wiederbeleben; man schlendert ohne einen patriotischen Gedanken, blos
aus Lust an tollem Treiben dahin und es vergeht kein Jahr, wo nicht
einige Verhaftungen wegen grober Verbrechen dabei Statt finden. Es
wäre wünschenswert!), wenn man mit dem Volksfeste irgend eine
nützliche Seite zur Beförderung der Gewerbe und der Landwirthschafr
zu verknüpfen wüßte, wie am Octoberfest zu München. — Offizielle
Betheiligung sah man nicht; das erste Jubiläum vom Jahre .1745
war durch eine feierliche Prozession verherrlicht worden, der die Stif-
terin Maria Theresia persönlich beiwohnte.
Die Zeitungen haben den am 1. d. M. erfolgten Tod des Ober-
Präsidenten von Altona gemeldet und seinen Nekrolog gebracht. Diese
Leiche verdient in der That den Weihrauch, der sie umwirbelt. Graf
Blücher-Altona — der König von Dänemark gab ihm diesen Titel
nach Altona's Schreckensperiode, während Davoust in Hamburg hauste
^ war ein Charakter, der fest, ehrenhaft, klug und energisch dastand
>n allem Drangsal schwerer Zeiten, mit gewandter Hand, allerdings
auch vom Glück begünstigt, das Steuer führte, das ihm anvertraute
Schiff, trotz der unbarmherzigsten Stürme, von gänzlichem Untergänge
bewahrte. Altona wäre im Jahre 1813—14 ganz sicher (wie 1713
durch die Wuth der Schweden) von den Franzosen in einen Schutt-
Hausen verwandelt worden, ohne des Oberpräsidenten unablässige Sorg¬
falt im Abwenden der Gefahr. Davoust hatte seine Tigerkrallen in
die Weichen des unglücklichen Hamburgs geschlagen, und selbst als die
Nachricht vom Sturze seines Kaisers und ehemaligen Schulgenossen
zu Brienne schon dem letzten seiner Trainsoldaten kund geworden, um¬
klammerte er noch mit hartnäckigem Trotz wider das Weltgeschick sein
Opfer, mit dessen Dasein das der Nachbarstadt eng zusammenhing.
Es bedürfte eines directen Befehls des wieder eingesetzten Bourbons
Ludwig XVIII-, um ihn zu bewegen, am 3>. Mai 1814 Hamburg
zu verlassen. Noch wenige Tage zuvor sagte er dem Oberpräsidenten
bei persönlichem Begegnen, welches oft zwischen Beiden Statt hatte,
um von der einen Seite übertriebene Forderungen zu stellen und durch
Drohungen einzuschüchtern, von der andern, um mildere Bedingungen
zu erlangen und geringe Aufwallungen des Marschalls zu beschwichti¬
gen: „Ich werde Ihnen sechs Bomben gerade nach Ihrem Hause
schicken, damit Sie sehen, daß meine Mörser nicht von Holz sind,
wie Ihre Bürger glauben, und wenn diese nicht genug sind, noch
fünfhundert andere Bomben."— Man sieht, Davoust geizte durchaus
nicht mit derartigen Geschenken und es ist bekannt, daß er auch wirklich
hielt, was er versprach. I^a tondo war ihm uns vviitv. Ich werde
an einem andern Orte Gelegenheit finden, die Stellung der beiden so
scharf divergirenden Männer einander gegenüber, ihre Epoche und ihre
Umgebung näher zu beleuchten. Gras Blücher-Altona stand im 28.
Jahre. Am Hose der Königin Juliane Marie von Dänemark begann
er seine Laufbahn, war Hofmarschall, spater Amtmann zu Apenrade
und Cyzumkloster und ersetzte im Jahre 1808 einen im Drange der
schweren Zeit nicht mehr genügenden Vorgänger auf dem Prästdenten-
posten zu Altona. Selten war der oberste Beamte einer Stadt popu¬
lärer, selten verstand es aber auch Einer, im besten Sinne volks-
thümlich zu handeln und zu schreiben, wie dieser. Segen seinem An¬
denken! Friede seiner Asche! Sie ruht einstweilen, von einer Corpo¬
ration der Altonaer Zünfte dorthin getragen, in der lutherischen
Hauptkirche der Stadt und wird später in dem Gewölbe beigesetzt
werden, zu welchem der Graf sich auf dem allgemeinen Friedhofe
selbst einen Platz ausgesucht hat. — Mit Bestimmtheit kennt man
seinen Nachfolger in dem wichtigen Amte noch nicht. Die meisten
Muthmaßungen sollen auf den Amtmann von Roher, der vom seli¬
gen Könige die Zusage für diesen Posten erhalten haben soll.
Am Montag, den I I. Aug., findet hier im Stadttheater eine recht
würdige Beethovenseier statt. Die zu Bonn eingerichtete ist dazu als
Muster genommen und auch das der Natur nachgebildete Standbild
des großen Meisters wird auf der Bühne erscheinen und hier gekrönt
werden. Eins ist mir hier räthselhaft geblieben. Da nämlich das
Standbild Beethoven's zu Bonn erst am II. Aug. enthüllt worden,
wenn ich recht gelesen habe, wie konnte man nach demselben hier eine
Eovie, sei sie welcher Art immer, anfertigen? Vielleicht hatte man
ein Modell jener Bildsäule vor Augen. Das wäre der einzige auf¬
klärende Lichtstrahl. Uebrigens sollte man es der Stadttheater-Direc-
tion nicht zum Vorwurf machen, daß sie durch ellenlange Ankündi¬
gungen und Kritikfrühgeburlen, bei aufgehobenem Abonnement sich
ein gefülltes Haus verschaffen will. Die Einnahme des Abends irgend
einem Kunstzwecke, vielleicht dem Wcbermonumente bestimmen, wäre
allerdings edler, aber am Ende ist die Bühne Privatunternehmung,
welche schwere Lasten — jährlich 300,000 M.-B. — zu tragen hat
und eine so prächtige Gelegenheit beim Schöpf ergreifen muß, um
aus der Pietät des Volkes für eins seiner Genies einen möglichst
großen Haufen Geld zu münzen- — Am Vorabend des Beethoven¬
concertes wird Fidelio mit Härtinger als Florestan gegeben. Er ist
ein vortrefflicher Sänger, an Stimmmaterial unbedingt Hrn. Tichat-
schcck an die Seite zu stellen, auch in kunstgerechter Ausbildung sei¬
ner brillanten Mittel weit vorgeschritten, im Spiel hingegen mitunter
noch ziemlich ungelenk, was sich bei längerer Routine wohl bessern
wird. Die Marra ist hier und im September kommt die Cerito, der
die Direction es äußerst übel genommen hat, daß sie der Welt einen
neuen Bürger — übrigens in legitimer Ehe — zu geben gedenkt.
Man proponirte ihr deshalb Honorarabzug oder Eontraktsaufhebung.
Beides wurde zurückgewiesen und der Protest unserer Direction soll
sogar in Form einer Notoriatsacte. erfolgt sein. Mancher Blick hinter
die Coulissen ist doch recht interessant! — Die muntere, graziöse
und talentvolle Günther-Bachmann hat auf unserem Thaliatheatcr
in hohem Grade gefallen. Sie gab drei Lustspielrollen und machte
dann als „Regimcntstochter" binnen acht Tagen fünf sehr gutbe¬
setzte Häuser. So etwas kann auch nur in Wien, Berlin oder Ham¬
burg geschehen. Die anmuthige Künstlerin bleibt hier in freundlich¬
sten Andenken.
Sechs Wochen waren wir ohne Premierminister und befanden
uns ganz wohl dabei. Als nach Nothomb's Austritt kein Eabinet
zu Stande kam, ward der König ungeduldig. Plötzlich verschwand die
Fahne vom Schlosse in Laeken und vom Palais in der Stadt; der
König ließ Alles stehn und liegen und ging nach London. Ein König
von Belgien lebt doch wie ein 1i«ii et'VvvM; sein Land geht wie
ein glattes Fuhrmannsrößlein auch allein bergauf; es regirt sich leicht
und gubernirt sich von selbst. Ware es nicht um der deutschen Cor-
respondenten willen, so läge uns noch jetzt wenig daran, ob wir einen
Premier bekommen oder nicht. Doch wir haben einen. Leopold war
nicht blos zum Vergnügen in London; er beredete nebenbei seinen
persönlichen Freund, Herrn Van de Weyer, seiner angenehmen Stel¬
lung als Gesandter in London zu entsagen und Nothomb's schweres
Portefeuille auf seinen Rücken zu nehmen. Van de Weyer ist ent¬
schieden liberal, hat sich aber bequemt, drei starke „Katholiken," Ma-
lon, als Finanzminister, Dechamps, als Minister des Auswärtigen,
und d'Anethon, als Justizminister, in sein Eabinct zu nehmen. Man
glaubt damit, beide Parteien, wenigstens auf einige Zeit, zu beruhi¬
gen. Am 31. Juli ward dieses Cabinet im Moniteur eingeläutet
und nun hat König Leopold, wenn er will, noch immer Zeit, einen
Sprung auf Schloß Stolzenfels zu machen, um die geistreiche Gesell¬
schaft des preußischen Königs und seiner Muhme Victoria zu genießen.
Wir haben indeß Besuch von einer kleinen hohen Person aus
Paris gehabt. Es war der in beiden Welten berühmte amerikanische
General Tom Thumb oder Tom Ponce, wie er hier heißt. Brüssel,
als Mond, der sich um die Sonne Paris dreht, konnte diesen Be¬
such mit Recht erwarten. Allein er blieb den Leuten etwas lange
aus, so daß man auf die Idee kam, einen belgischen Nachdruck zu
veranstalten. In der Rue de Lanken hatte man einen garstigen Zwerg
aufgetrieben und studirte ihm die Rollen des >»!tit >>«>»<:et ein. Aber
kaum hatte sich der Pscudo-Tom einmal auf der Bühne gezeigt, so
kam der wirkliche, veritable Tom Ponce mit der anmuthigen Hoheit
eines Prinzen von Liliput angefahren, und der falsche mußte sich ver¬
kriechen. Tom Ponce, der bei einem Alter von dreizehn Jahren die
Statur eines fünfvierteljähriger Kindes hat, sieht dabei recht hübsch
und artig aus. Allein ich muß Ihnen mehr sagen: Tom Ponce ist
ein Eharakter, ein Mann von Gesinnung. Er war zu einem Besuch
im östlichen Europa nicht zu bewegen; er vermisse dort die republika¬
nischen Institutionen, sagte er. Und doch würde er gerade dort eine
größere Rolle spielen, als hier, wo sich nur Weiber und Kinder um
ihn kümmerten. Denken Sie sich Tom Ponce in Wien, wo auch die
Männer Kinder sind! Was für leitende Artikel gäbe das im Humo¬
risten, in der Theaterzeitung, welche Bewegung in der Kaiserstadt!
In Berlin würde der kleine Mann, der Friedrich den Großen so artig
zu spielen weiß, vielleicht ein Erbe Lißt's werden und die öffentliche
Aufmerksamkeit von Landtagsabschieden, Bürgerversammlungen und
andern politischen Thorheiten glücklich abziehen. Ja, Berlin konnte
wieder einmal zeigen, daß es noch Enthusiasmus gibt für das wahr¬
haft Große und Erhabene. Geist- und gefühlvolle Damen würden
das Elsenkind buchstäblich auf Händen tragen.
Tom Ponce unterscheidet sich von den meisten Zwergen des Jahr¬
hunderts durch sein Bewußtsein; er weiß, daß er klein ist und was
ihm seine Kleinheit nützt. Als er im Costüme Napoleon's mit Ma¬
jestät eine Prise nahm und mit Grazie lächelte, glaubte ich auf sei¬
nem altklugen Gesicht folgende kleine Rede zu lesen: „Seht meine
Schätze rings an den Wänden hängen. Diese Brillantnadeln, diese
Uhren, Ringe und goldenen Tabatieren, und diese Blumenkränze, die
mich erdrücken! Nicht den Kindern, sondern „den Kleinen" gehört das
irdische Himmelreich. Seid klug und klein und Ihr beherrscht die
Menschen. Die Zeit der Riesen ist vorüber. Die Zwerge, mit den
kleinen, kleinen Herzen und den großen Köpfen, die mit sich selber
Industrie zu treiben wissen, das sind die Helden von heut—"
Erlauben Sie, daß ich von dem kleinen Tom Ponce einen Sprung
auf Nothomb mache. Ein englisches Blatt verglich unlängst den klu¬
gen, kleinen Nothomb mit Sir Robert Peel, was eben so viel Lob
als Tadel war. Nothomb's Eapacitat, seine Gewandtheit, sein Ge¬
schick, seine politische Technik, so zu sagen, werden selbst von seinen
erbittertsten Gegnern anerkannt, aber mehr gefürchtet als geachtet. In
der That gehört dieser einflußreiche Mann in eine und dieselbe Reihe
mit Louis Philipp und Robert Peel; zu jenen modernen Technikern,
die mehr Diplomaten als Gesetzgeber, mehr klug als weise, mehr er¬
findungsreich in kleinen Mitteln für den Tag, als schöpferisch und
eine Stütze für die Zukunft, die einem Gewirr egoistischer Parteien
gegenüber eine Zeit lang an ihrem Platze sind, aber einen unverdor¬
benen guten Bourgeois, wie das belgische Volk noch ist, bald absto¬
ßen müssen. Nothomb ist zu fein für Belgien. „Die Zeit ist vor¬
bei für eine Politik der „Rollen," sagte jüngst ein hiesiges Blatt,
„wir wollen eine Politik der Ueberzeugungen," Nothomb spielte
mit den Ueberzeugungen beider Parteien, weil er nicht an sie glaubte,
und benutzte so lange die Katholiken gegen die Liberalen und umge¬
kehrt, bis beide von ihm ab- und über ihn herfielen. — Sie wissen,
daß der Exminister als Gesandter nach Berlin ging; einen geschickteren
Vertreter im Auslande wird das Cabinet nirgendswo haben. Dies
weiß man allgemein, und nur wirklich böse Zungen spotten: „rin'it
Vit ti-ilViull«!r i,our >o rin ?,u88v."
Herr Van de Weyer, der neue Premier, ist ein Mann von etwa
vierzig Jahren, geistreich, gelehrt, vollkommen unabhängig. Im Jahre
1830 war er Custos der hiesigen Stadtbibliothek mit einem sehr be¬
scheidenen Einkommen. Bald darauf heirathete er eine vornehme,
schöne und steinreiche Engländerin, l'vur comhlv d« bonnom- war's
eine Heirath aus Liebe. Seit dreizehn Jahren belgischer Gesandter
in England, wo er in den höchsten und höheren Kreisen sehr beliebt
ist, wird er sich nach dem Portefeuille, das ihm der König brachte,
schwerlich gesehnt haben. Der jetzige Premier hat noch unlängst eine
liberale Lanze gebrochen in einer Fehde, die zu charakteristisch ist für
die „katholische" Partei, die Kammer und Herrn Nothomb, als daß
ich sie hier nicht erwähnen sollte.
Sie wissen, daß Belgien sich bemüht, allen Berühmtheiten des
Landes seit Gottfried von Bouillon Denkmale zu errichten. Vor ei¬
nigen Monaten nun erhebt sich der Deputirte von Tornoi, M. Du-
mortier, ein dünner Geist und dicker Katholik, um vor der Kammer
sich zu beklagen, daß man das Geld zum Fenster hinauswerfen lasse;
so wolle man Denen von Brügge erlauben, einem gewissen Simon
step in, einer mittelmäßigen, zweideutigen Berühmtheit, eine Statue
zu setzen. Wer sei dieser Mathemciticus, wo seien die großen Erfin¬
dungen desselben? „Er wolle wetten," unter Tausenden werde kaum
Einer den Namen Stevin kennen und wer ihn kenne, der wisse nur,
daß er ein Feind der vaterländischen Kirche gewesen! Sollte man es
glauben? Auf dieses Wort theilt sich die Kammer gleich in Liberale
und Katholiken. Wirklich weiß die Majorität sehr wenig oder nichts
von den großen Verdiensten des Vorgängers von Newton; aber auf
daS Zeugniß Dumortier's, daß Stevin ein Diener des'Prinzen von
Oranien gewesen und daß die Väter Jesu ihn wegen seiner Glaubens-
ansichten verfolgten, wird Stevin verworfen. Herr Nothomb selbst
versichert, er habe deshalb Denen von Brügge Einwendungen gemacht
(was aber nicht glaublich ist) und Belgien war in Gefahr, einen gro¬
ßen Mann weniger, und die katholische Majorität, eine Blamage
mehr zu zählen. Glücklicher Weise war die Jnterpellation zu spät
gekommen, die Gelder bereits ausgegeben und die Statue Stevin's,
nach einem Modell des Herrn Simonis, schon beim Erzgießer.
'
Aber das Andenken Simon Stevins wurde an Herrn Dumor-
tier blutig gerächt. Bald nach jener Jnterpellation des Deputirten
von Tournoi erschien, in Form eines Briefes an die Brüsseler Aka¬
demie der Wissenschaften, eine von Gelehrsamkeit strotzende und von
Geist sprühende Broschüre von Herrn I. du Far; worin die Verdienste
Stevin's gründlich auseinandergesetzt und alle Autoren, die seit dem
17. Jahrhundert Stevin's Ruhm vermelden, citirt werden. Schlimm
genug, sagte du Far, wenn man auswärtige Autoren citiren muß,
um die Celebrität eines Landsmannes vor der Ignoranz und dem Fa¬
natismus patriotischer Deputirten zu retten. Freilich würden die gro¬
ßen Männer der Wissenschaft vom großen Haufen am wenigsten ge¬
kannt, und „er (du Far) wollte wetten," daß Herr Dumortier und
mit ihm Tausende seines Gleichen'mehr von Elßler als von Rulcr,
mehr von Lablache als von Laplace wüßten. Stevin sei von den
Jesuiten verfolgt und gezwungen worden, im Lager des Prinzen von
Oranien Schutz zu suchen. Ob man heute, im Lande der Glaubens¬
freiheit, es mit den Jesuiten des 17. Jahrhunderts halten und, im
Sinn der heutigen Jesuiten, die Gebeine der großen Männer mi߬
brauchen wolle, um mit ihnen die Lebendigen zu schlagen? u. s. w.
Diese Broschüre, angeblich in Ninuport erschienen, war in London
gedruckt und du Far heißt aus Flämisch Van de Weyer.
Ein hiesiges Blatt erzählt, daß in Brüssel heimlich ein Die-
tlouniüro alö ur iwdlesso!><!>AK erschienen sei, dessen Mitarbeiter und
Redacteure die Adeligen selbst wären. —
Sie haben jüngst Vorfälle in Leipzig erlebt, deren erschütternde
Wirkungen sich durch ganz Deutschland fühlen lassen werden; am
nächsten wird aber von ihnen Dresden berührt, da wir hier am Heerde
der Folgen sind, welche das Geschehene nach Oben und von Oben
haben wird. Die ersten Nachrichten fanden viele Ungläubige; als sie
sich aber bestätigten, drückte eine bange Besorgniß, wie eine schwüle
Luft, auf allen Gemüthern.
Ehe diese jüngsten Tage das ausschließliche Interesse Aller in An¬
spruch nahmen, waren Kunst und Industrie die Loosungsworte des
Tagesgespräches. Die Gewerbausstellung, reichhaltig und geschmack¬
voll in dem Orangeriehause des ehemaligen herzoglichen Gartens auf¬
gestellt, erfreut sich fortwährend eines lebhaften Besuches, und mag
das Ihrige zu dem merklichen Fremdenzuflusse in letzterer Zeit beitra¬
gen. Vermag sie auch hinsichtlich der Pracht und massenhaften Gro߬
artigkeit nicht mit der letzten Berliner Industrieausstellung zu wett¬
eifern, so liegt ein Grund hierfür schon darin, daß sie jhrem Zwecke
nach nur ein Brennpunkt des sächsischen Kunstfleißes sein sollte; und
wenn man sich das Bild der vor ungefähr zwanzig Jahren stattge¬
fundenen, ersten sächsischen Industrieausstellung zurückruft, so wird
man wenigstens diese reichen Früchte einer langen Friedensperiode nicht
verkennen dürfen. Unsere Kunstausstellung hat zwar keinen nummer¬
reichen Katalog aufzuweisen, doch ist das Wenige meist gut. Ein
Volkssänger von Gönne, der durch seine „Reue des Räubers" sich
schnell einen Namen gemacht hat, eine Sorentincrin vom Prof. Vo¬
gel von Vogelstein, der Mundschenk, ein Brustbild vom Prof. Hüb¬
ner, eine Abendlandschaft von Oehme, sprechen von den Beiträgen
der hier lebenden Künstler am Allgemeinsten »in. Weniger gelungen
in Zeichnung und Composition ist ein großes historisches Bild, Maria
Stuart auf dem Schlosse Loch-Lepine, von Max Hauschild, dem be¬
kannten Architekturmaler. Es ist ein seltsamer Irrthum, daß dieser
Künstler, welcher sich in diesem letzteren Genre bereits einen Namen
erworben hatte, mit einem Male einen ganz anderen Weg einschlagt;
namentlich scheint ihm für das Portrait durchaus jener Blick zu feh¬
len, welcher nicht nur die Züge, sondern den Geist des Gesichts auf¬
faßt und wiederzugeben weiß. Seine Portraits erregen, in Betreff
der Aehnlichkeit, beim Betrachten ungefähr das Gefühl der unaufge-
lösten Dissonanz für das Gehör. Das Genialste der diesjährigen
Ausstellung ist wohl eine Suite von zehn Bleistiftzeichnungen von B.
Genelli, mit der Bezeichnung eine junge Hexe — eine phantastische
Composition, als wäre sie einer Hoffmann'sehen Teufelsgrillc nachge¬
zeichnet. Genelli's Name ward auch unter den Candidaten für die
erledigte Professur an hiesiger Kunstakademie genannt; aber weder er,
noch Moritz von schwinde dürften sich für diese Stellung eignen;
solche komctenhafte Naturen, die ihre selbstgebrochenen Bahnen durch¬
schießen, sind nicht geschaffen, den Schüler in die Technik der Kunst
einzuführen; eben so wenig als ein Lißt oder Paganini sich zu Pro¬
fessoren eines Musikconservatorium qualisicirten. Ein anderes war
mit Schmorr von Carolsfeld: er hatte wohl seinen Platz als Lehrer
ausgefüllt, aber leider! hat er die ihm gemachten, sehr vortheilhaften
Anerbietungen abgelehnt, und die erledigte Professur ist jetzt noch im¬
mer der Erisapfel der Kunstfreunde.
Die Saison neigt sich zu Ende, wenngleich manche Fremde,
worunter auch Notabilitäten, wie z. B. Berzelius, mehr zum flüchtigen
Besuche, als zur eigentlichen Kur hierher kommen. Mir war es ver¬
gönnt Franzensbad noch in Floribus zu sehen; hochflatternde Fahnen
wimpelten lustig von den Dächern, die Anwesenheit eines liebenswür¬
digen Prinzen aus dem Kaiserhause verkündend. Prinz Stephan und
sein Gefolge brachten einiges Leben in die Gesellschaft. Doch außerhalb
des Kreislaufs dieser Erscheinungen behauptete Franzensbad seinen
alten wohlverdienten Ruf der Monotonie und Langweile. Es wäre
zu wünschen, daß ein Berzelius anderer Art, die Quellen derselben
zu Nutz und Frommen künftiger Badegäste eben so gründlich unter¬
suchte, als der wirkliche es mit der chemischen Analyse der Wasser-
Quelle gethan. Einstweilen erlaube ich mir einem solchen ein wenig
in'6 Handwerk zu pfuschen. Wie Sie wissen, ist die Natur um Fran¬
zensbad reizlos, und die Fläche ringsumher fallt um so unangeneh¬
mer auf, wenn man, wie es meist geschieht, aus dem prächtig gele¬
genen Karlsbad oder aus dem freundlichen und geschmackvollen Ma¬
rienbad kommt; billig aber sollte man erwarten, daß mindestens durch
Baumgänge und Alleen der Mangel an Bergen etwas verdeckt, und
den sengenden Sonnenstrahlen vorgebeugt würde. Allein außer einem
sogenannten Park, welchen man in fünf Minuten bequem umkreist,
ist es nicht möglich, irgend einen schattigen Spaziergang in der un¬
mittelbaren Nahe von Franzensbad ausfindig zu machen. Was man in
weitem Umkreise von ein bis zwei Stunden findet, namentlich in und
um Eger, ist wohl recht hübsch, ohne jedoch auf eine besondere Weise
das Gemüth in Anspruch zu nehmen. Die Gesellschaft aber ist, gleich
w-le auf einem Schiffe, dem es am rechten Steuermann gebricht, und
ist noch weit schärfer als aus gewöhnlichen Dampfschiffen in erste und
zweite Cajüte eingetheilt, deren respective Publikümer sich jedes unter
sich verstehen müssen, zwischen welchen aber ein unüberschrcitbarer
Pcstcordon gezogen ist. Natürlich wird durch so vorwaltenden
Kastengeist an die Stelle des freiwirkenden Badegeistcs der glückliche
Wurf zu interessanten Bekanntschaften it>- plin et ki'iuitro sehr er¬
schwert. — Gleiche Mangel finden wir aber auch in den übrigen
Comforts, namentlich im Vergleich mit andern deutschen Bädern.
Nicht daß ich etwa den Mangel einer Spielbank hier rügen wollte,
deren Beseitigung in allen österichischen Bädern ich vielmehr der Re¬
gierung alö ein namhaftes Verdienst zuerkenne. Um so weniger sollte
aber die daraus entstandene Lücke unausgefüllt bleiben, und das Bad
in allen andern Annehmlichkeiten nicht jedem so weit nachstehen. Eine
äußerst dürftige Leihbibliothek, fünf bis sechs Zeitungen, worunter nicht
ein einziges Unterhaltungsblatt sich befindet, ein Theater tief unter
der Mittelmäßigkeit, wenn eine wandernde Truppe, die in einer Art
von Scheuer spielt, gar diesen Namen verdient; wöchentliche Reunio-
nen, die nur aus dem Subscriptionsbögen bestehen, und selbst in
diesem musikalischen Lande nur eine ganz erecrable Musik: das sind
so ziemlich die AgrvmentS, auf welche der hiesige Badegast angewie¬
sen ist. Rechnen Sie noch dazu, daß die Briefe, welche jeder in dieser
Einöde mit doppelter Sehnsucht erwartet, durch unverantwortliche Nach¬
lässigkeit der Eger und Prager Postbchörden oft um einen, ja selbst
um einige Tage in der Ankunft verspätet werden, so begreifen Sie
leicht, wie nur ein äußerst glücklicher Erfolg der Kur, wie es sich
nur selten während derselben bemerkbar macht, für so viele Entbeh¬
rungen schadlos halten kann, und wie bald man sich nach den egypti-
schen Fleischtöpfen zurücksehnt. Da mir aber nun einmal ein so pro¬
saisches Wort entschlüpft, fo muß ich noch weiterhin grau in Grau
malen und bemerken, daß es mit Fleisch und in der nächsten Um¬
gebung selbst mit dem Kaffeetopf hier ebenfalls schlechter, als an ir¬
gend einem andern Kurorte bestellt ist. Gewiß aber treten die hier
ohne alle schwarze Galle geschilderten, so sehr fühlbaren Mängel den
wohlthätigen Wirkungen entgegen, welche man bei kräftiger Abhülfe
mit weit größerer Entschiedenheit erhoffen dürfte. —
Die gewöhnliche Würze (?) von Badeorten: Concerte und Aka¬
demien bleibt allerdings hier auch nicht aus. Baron Klesheim, ein
gemüthlicher Oesterreicher, und der belgische Violinist Prumc gaben jeder
eine Akademie. -— Ist auch die idyllische Zeit vorüber, wo Rose
und Vergißmeinnicht noch eine Rolle spielten, so muß man doch
gestehen, daß die niedlichen, gemüthvollen Genrebildchen des Baron
Klesheim immer ein eigenthümliches Interesse erregen; zumal, wenn
sie, wie hier, durch die charakteristische Vortragsweise gleichsam aus
dem Rahmen treten. Die Akademie fand im Cursaale bei schwachem
Besuche, aber höchst anständiger Beleuchtung statt. Einen grellen
Gegensatz bildete Prume, der trotz des theuern Preises von 2 Fi. C.-M.
das ganze verehrte Publikum im Dunkeln ließ, wohl nickt über sein
meisterliches Spiel, doch in dem Saale selbst, der finster und trostlos
das Auditorium empfing. T—t—l.
Die bis jetzt erschienenen sechs Lieferungen dieses Nationalwer¬
kes lassen uns nicht mehr in Zweifel, welchen Werth wir dem gan¬
zen Werke beilegen dürfen. Frisch und lebendig, urkräftig und eigen¬
thümlich breitet sich das wundersame Niescngewächs des deutschen
Sprachstamms in dieser reichen Sammlung vor unsern überraschten
Blicken aus. Da offenbaren sich Wurzeln und Stämme, die im
Hochdeutschen längst überschüttet und verdeckt sind und auch in den
ältesten Sprachdenkmälern nicht mehr zu Tage liegen; und mannich-
faltige Lautvcrhältnisse und Wort- und Redeformen, die im Hoch¬
deutschen längst nicht mehr erklangen, gemahnen den historischen For¬
scher als Bekanntes, Befreundetes und überraschen ihn bei genauem
Zulauschen durch die Uebereinstimmung mit den ältesten Ueberresten
germanischer Zunge, wogegen sie den philosophischen Sprachforscher
durch die organische Gesetzlichkeit ihrer Erscheinung und als natürlichste
Manifestationen von Gedanken und Anschauungsweisen erfreuen aus-
sen, die sich lebendig und frei in dem Leben und durch das Leben
des Volkes entwickelt haben. Wer irgend Verlangen trägt, einen
tiefen Blick in das Volksleben zu thun, wer irgend Sinn hat, seine
Eigenthümlichkeit zu erfassen und sich an der Mannichfaltigkeit seiner
Erscheinung zu erfreuen, der wird „Germaniens Vöckerstimmen" sicher
nicht ohne Befriedigung und nicht ohne Dank gegen den Herausgeber
aus den Handen legen, der keine Mühe gescheut hat, seine ungemein
schwierige Aufgabe in der würdigsten Weise zu losen. Das Sammeln,
die Auswahl und nicht minder die Darstellung, selbst die Schreibung
des Erlangten kann nur mit ungemeiner Mühe, Anstrengung und
Ausdauer zu Stande gekommen sein.
Nach der öffentlichen Anzeige des Herausgebers hat derselbe jetzt
bereits 443 deutsche Mundarten gesammelt. Wie die Blatter melden,
folgt man auch in andern europäischen Ländern dem Beispiele Firme-
nich's, wodurch derselbe der Gründer eines großen neuen Gebietes der
Wissenschaft geworden ist.
Wir können nicht umhin, aus der geistvollen Beurtheilung eines
Gelehrten, der das Werk in seinem Wesen erfaßt, einige Stellen hier
mitzutheilen: „Betrachtet man das umfassende Werk Firmenich's von
seinem höheren Standpunkte, so tritt besonders die gewaltige Kraft,
womit die deutsche Sprache sich in ihrem ursprünglichen Wesen und
in ihrer Einheit zu erhalten wußte, immer mehr in das glänzendste
Licht. Die deutsche Zersplitterung und Individualisirung hat eine un¬
geheure Vervielfachung der deutschen Mundarten herbeigeführt, in allen
diesen Mundarten zeigt sich jedoch eine überraschende Einheit im we¬
sentlichen Charakter der deutschen Sprachcntwickelung, in allen diesen
Mundarten erscheinen uns die charakteristischen Züge des ursprünglichen
deutschen Sprachgenius. Und so hat Firmenich durch „Germaniens
Völkerstimmen" auf erfreuliche Weise nachgewiesen, daß die genetische
Kraft der deutschen Sprache selbst über die deutsche Zersplitterung und
Individualisirung den Sieg davon zu tragen vermocht, und das ge¬
genwärtig noch eine wahre, lebendige Einheit des deutschen
Volkes vorhanden ist. Diese wahre, lebendige Einheit der Deut¬
schen ist ihre Sprache, ist der Genius, der in der Sprache lebt.
Das ist hauptsächlich die hohe Bedeutung, die das Werk Firme¬
nich's für Deutschland hat. Derselbe hat sich um die Verherrlichung
unserer Sprache das größte Verdienst erworben, das die Nachwelt erst
vollständig zu würdigen wissen wird; denn welche Schatze hat Firme¬
nich zugleich, für uns wie für unsere Nachkommen, dem sichern Un¬
tergange entrissen!" u. s. w.
Auf den poetischen, sprachwissenschaftlichen und historischen Werth
des Werkes ist in andern Blättern bereits früher hingewiesen worden.
Wir kommen so eben von dem Rathhause zurück, wohin sämmt¬
liche Redacteure Leipziger Blätter berufen wurden. Man hat uns
einen Erlaß vorgelesen, nach welchem alle Journale zu verwarnen sind,
in Bezug auf die letzten traurigen Ereignisse aufregende Artikel und
Verdächtigungen aufzunehmen. Die Verwarnung war überflüssig bei
einer Presse, die ohnehin keinen Schritt weiter gehen kann, als der
Censor gestattet. Indessen, gegenüber einer so großen (Kalamität, welche
das Land und die Regierung betroffen, gegenüber einer Menge für
den Augenblick dringend zu erörternder Fragen, wollen wir diesen
Punkt nicht aufgreifen.
Wir verkennen nicht die delicate Stellung der Regierung und
die schwierige Aufgabe inmitten der aufgeregten Gemüther. Ihr näch¬
stes Trachten muß sein, die Aufregung zu beschwichtigen, die einen
Augenblick unterbrochene Ordnung wieder zu befestigen und das Ver¬
trauen des Landes sich zu sichern.
Die Untersuchungen haben begonnen, warum soll die öffentliche
Meinung nicht durch ihr unmittelbares Organ, durch die Presse, alle
jene Dinge zu den Ohren des Richters bringen dürfen, die ihm die
beste Aufklärung und Einsicht in die Ereignisse verschaffen kann ? Die
Untersuchungscommission hat das geeigneteste Mittel in der Hand, das
Vertrauen zwischen Negierung und Volk aufrecht zu erhalten — sie
braucht nur offen und einfach zu Werke zu gehen. Das Königthum
und das Gesetz verlangt die Ermittelung und Bestrafung der Tumul¬
tanten und Fenstereimverfer. Die Bürgerschaft, die Nation hingegen
verlangt Ermittlung, ob es nöthig war, das äußerste Mittel der Mi.
lilärgewalt gegen das Volk anzuwenden. Verfahre man dann offen
und gebe Jedermann seine Genugthuung!
Aber neben der Aufgabe innerer Beschwichtigung hat die
Regierung noch eine zweite hochwichtige Pflicht zu lösen: sie muß
den Ruf des Landes nach außen hin sichern. Sowohl aus
politischer Klugheit, wie aus Patriotismus muß ihr die Sache am
Herzen liegen, daß Sachsen gegenüber den ausländischen Mächten nicht
verleumdet und verdächtigt werde, daß die Leipziger Ereignisse nicht
falsch geschildert, die Motive nicht verunstaltet, die Bewegung nicht
in's Fratzenhafte gemalt werden; ihr selbst muß daran liegen, daß die
Achtung für Gesetz und Ordnung, welche die sächsischen Bürger selbst
in diesen Tagen der Prüfung so kräftig bewährten, nicht ohne Aner¬
kennung bleibe.
Betrachtet man die Situation mit unpartheiischen Blicke, so
muß man gestehen, daß der Regierung wie der Nation durch die
Oeffentlichkeit der beste Dienst geschehen würde, mich außen wie nach
innen. Man überblicke doch die Vorgänge. Ein Pöbelhaufe, den Je¬
dermann desauvouirt, begeht einen Exceß, der Bruder des Monarchen
wird auf eine Weise beleidigt, für die jeder Bürger die schärfste gesetz¬
liche Ahndung wünscht. Aber auf diese Beleidigung beschränkt sich auch
das Verbrechen; ein Angriff, ein Vorstürmen findet nicht statt. Aber
die Militärgewalt schreitet gleichwohl zum äußersten Mittel. Die Bür¬
gerschaft versammelt sich in größter Aufregung, aber unter den gesetz¬
mäßig ihr zustehenden Formen. Ganz Leipzig ist unter Waffen, aber
kein Exceß stört die Ruhe. Inmitten der tiefsten Bewegung, beim Lei¬
chengefolge der gefallenen Mitbürger selbst, behalt die Bürgerschaft die
Besonnenheit und die Achtung vor dem Gesetze. Unter allen Gruppen
hört man die Aeußerung: Ja, wenn unser König nach Leipzig käme!
überall bemüht man sich, die Liebe und Anhänglichkeit für den Mo¬
narchen zu manifestiren. Zehntausend Menschen versammeln sich auf
dem Marktplatz, um die Entscheidung ihres Ansuchens an den Ma¬
gistrat zu hören. Ein einfacher Bürger verkündigt vom Balkon des
Rathhauses die Antwort und ruhig geht die Masse auseinander, sam¬
melt sich Tags und Abends eine ganze Woche lang mit Aufopferung
seiner Geschäfte und seiner Nachtruhe, um die Ordnung der Stadt
als Communalgardisten aufrecht zu erhalten. Fürwahr, wenn solche
Selbstbeherrschung nicht Anerkennung verdient, wenn eine solche Stadt
zu den turbulenter gezählt werden soll, dann wissen wir nicht, was
man unter Loyalität und Ordnungsliebe versteht, es müßte denn sein,
daß man im Gegensatz zu dem Sprichwort nur die ungeprüfte
Tugend für eine Tugend halt.
Die Thatsache, die wir hier — nach einem Privatbriese —
erzählen, ist in allen ihren Details wahr und verbürgt. Der Buch¬
händler Korn in Preßburg, Vater einer zahlreichen Familie, hatte
im vorigen Jahre die Speculation gemacht, eine Kreuzerbiblio¬
thek herauszugeben. Alle Sonnabende erschien ein halber Bogen
irgend einer Erzählung oder sonstigen populären Lectüre, für einen
Kreuzer! Das kleine Unternehmen schlug so gut ein, daß von den
ersten Bogen eine zweite und dritte Auflage erscheinen mußte. Da
wurde er von einem neidischen College» denuncirt: er gäbe eine „Wo¬
chenschrift" heraus, ohne Concession. Die Kreuzerbibliothek mußte
unterbrochen werden. — Korn eilte nach Pesth, um die Concession zu
betreiben. Nach langen Mühen gelingt eS ihm endlich, den Referen¬
ten für sich zu gewinnen, der ihm mit Hand und Mund die Zusage
gibt, sein Gesuch zu unterstützen. Um seiner Sache noch sicherer zu
sein, bittet Korn um eine Audienz beim Erzherzog Palatin, als Präses
der Statthalter?!. Der Erzherzog antwortet ihm, es sei System, die
Concessionen zu periodischen Blattern in Ungarn zu beschränken, in¬
dessen käme Alles auf die Ansicht des Referenten an. Frohen Muths
verläßt Korn die Audienz, da trifft er im Vorsaale seinen Referenten
in Gallauniform, gleichfalls zu einer Audienz sich einstellend. Am
andern Tage sollte in der Statthaltern über sein Gesuch entschieden
werden und noch am späten Abend begibt sich der besorgte Mann
noch einmal zu seinem Referenten und findet diesen wie umgewandelt.
Korn merkt, daß eine dritte Hand hier eingewirkt und den Beamten
U.ngestimmt hat. Noch einmal bietet der Supplicant Alles auf; er
stellt dem Beamten seine ganze Lage dar, er beschwört ihn, der selbst
Familienvater ist, den Erwerbszweig einer zahlreichen Familie nicht
durch Versagung einer so kleinen Concession zu stören. Der Referent
scheint nachzugeben, er sagt von Neuen, zu und Korn entfernt sich.
Am andern Morgen wird wegen des starken Eisgangs die Commu-
nication zwischen Pesth und Ofen unterbrochen und Korn, der in letz¬
terem wohnte, konnte nichts über die Entscheidung seiner Sache hören.
Am zweiten Tage verbreitete sich das Gerücht, ein Beamter in Pesth
sei in seinem Zimmer verbrannt. An gleicher Zeit wird auch die
Brücke wieder hergestellt. Korn eilt rasch hinüber und hört mit Schrecken,
der verbrannte Beamte sei — sein Referent. Er begibt sich zu einem
andern ihm bekannten Rath, um über die Entscheidung jenes Gesu¬
ndes Gewißheit zu erlangen; dieser antwortete ihm: „Mein lieber
Korn, ich bedauere, Sie sind durchgefallen, man konnte bei dem besten
Willen Ihnen nicht helfen, da Ihr eigener Referent gegen Sie war."
Der arme Korn warf einen Blick zum Himmel; sein Referent war
inmitten von Akten, die er spat Abends las und die sich entzündeten,
verbrannt.
— Ein Theil des Göthemonumcnts in Frankfurt am Main
wurde mit einer ätzenden Flüssigkeit begossen. Ein Witzbold, der am
andern Morgen die Statue sah, rief aus: „Seht wie Göthe jetzt
schillert!"
— Einem Mitarbeiter der Jllustrirten Zeitung wurde bei der
letzten Leipziger Emeute der Hut durchschossen. Die Kugel streifte
das Haar, ohne den Kopf zu berühren. „Kein Wunder," sagte Je-
mand, der sich über die Holzschnitte dieser Zeitung längst ärgerte, „die
Köpfe der Jllustrirten sind nie getroffen." —
Vor Zeiten gab es ein prächtiges Etablissement unfern der
Residenz, bei dem sehr altsehnlichen Dorfe Colthausen, welches seiner
hohen, dunklen Baumgänge und schattigen Plätze und Lauben hal¬
ber cliür-obscul- hieß. — Der Wirth daselbst hatte in einem Feen-
palaste sich wahrhaft fürstlich eingerichtet, ,in der Hoffnung, den gan¬
zen lieben Sommer lang die schöne Welt der Residenz bei sich zu
sehen. Aber Aufwand ist Sache des Einzelnen und nicht der Menge;
das Volk kann nicht fürstlich leben und das Publikum keinen Pri-
vatlurns begünstigen. Auch kostete der Garten große Summen zur
Unterhaltung und zu spät bemerkte der Wirth, daß er sich verrechnet
hatte. Er mußte endlich froh sein, einen Käufer zu finden, der den
fürstlichen Sommersitz nicht eben unter dem Preise bezahlte, und ver¬
kaufte ihn dem reichen Finanzrath Rusland, einem Millionär.
Den Geldmenschen gönnt man die Ansprüche nicht, die sie nur
deshalb machen, weil sie sie bezahlen; das bloße'Glück ohne Ver¬
dienst erregt immer Haß und Mißgunst. Man verargte es dem
Millionär, daß er das schöne et.ur-obscur zum Privateigenthum ge¬
macht und es dem öffentlichen Vergnügen entzogen, und rächte sich
mit denjenigen Waffen, die dem Publikum zu Gebote stehen, mit
Spott und Medisance. Aus clmr-odscui- bei Colthausen machte
man coeui-odscm- bei Goldhaufen, welcher Name gang und gäbe
ward, so daß der Millionär selber seine prächtige Villa vveur-ndseur
nannte, vielleicht aus Troß, vielleicht weil der Name ihm besser ge¬
fiel, vielleicht auch weil er nicht Französisch verstand.
Wirklich hatte der Finanzrath das besondere Glück, daß alles
auffallend Seltene und Kostbare mit der Zeit in seine Hände geriech.
Er besaß eine Gallerie von auserlesenen Gemälden, eine merkwür¬
dige Amikcnsammlung, ein ausgezeichnetes Curiositätencabinel und
die seltensten Gemmen und Edelsteine; sein Silberzeug, seine Equi¬
pagen waren reich und geschmackvoll. Was aber mehr wie dies Alles
bedeutete: seine Frau, obschon den Vierziger, nahe, galt immer noch
für eine der schönsten und elegantesten Damen der Residenz und
Bertha, seine einzige Tochter, war — wie wenig beliebt auch im
Allgemeinen! — ein Engel an Leib und Seele.
Mehrere reiche und vornehme Kavaliere hatten bereits Herz und
Hand ihr angeboten, aber nur einen sehr artigen, schonungs- und
rücksichtsvollen Korb entgegen genommen. — In der ganzen Stadt
sagte man: Sie wäre gerne unter die Haube, aber sür ihren Vater
ist nichts gut genug. Er verläßt sich auf sein unverschämtes Glück,
welches ihm sicher auch den auserlesensten und seltensten Tochter-
mann bescheeren wird; — und man ärgerte sich im Voraus schon
über die glänzende Partie, welche Bertha aller Wahrscheinlichkeit nach
einst machen würde. —
Bertha war in einer großen Pension, als einzige Bürgerliche
unter lauter adeligen Fräuleins erzogen und galt schon als Kind für
die schönste und talentvollste ihrer Gespielinnen. Sie wurde von
Eltern, Erzieherinnen und Lehrern ihren Mitschülerinnen stets als
Muster aufgestellt und war gewohnt, in Allem was sie dachte und
fühlte, Recht zu haben.
Das änderte sich freilich, als sie die Pension verließ. Die bür¬
gerliche Gespielin wurde nur zu kleineren Gesellschaften gebeten, wo
keine Herren waren, und von den Hauptinteressen der vornehmen
Mädchenwelt, den Hosvergnügungen und Festen konnte Bertha nicht
mitreden. Aber sie las viel und bildete sich ein, die Welt aus Bü¬
chern zu kennen. Damit verdarb sie vollends ihren Credit, man
nannte sie leichtgläubig; es hieß: sie glaube Alles, was in Büchern
stehe; und selbst ihr Urtheil über Bücher und Gegenstände der Kunst
wollte man ihr streitig machen.
Eine seltsame literarische Erscheinung erregte damals im höchsten
Grade die Theilnahme des Publikums. Ein Büchlein unter dem
Titel: „Philosophie für Damen" behandelte die wichtigsten Fragen,
die schwierigsten Probleme, die neuesten Erscheinungen im Gebiete
der Wissenschaft, Religion und Gesittung auf so anmuthige Weise,
in einer so naiven Sprache, daß die neuere Philosophie, welche ver¬
möge ihrer vornehmen Dialektik und spitzfindigen Terminologie bis¬
her Eigenthum der Studirten geblieben war, durch große Geschick-
lichkeit und Gedankenklarhcit nicht sowohl den Damen, sondern Le¬
sern jedes Standes und Alters, kurz dem Volke zugänglich gemacht
wurde. — ES waren Gespräche zwischen Lehrer und Schüler: dieser
ein poetisch gestimmter unverdorbener Jüngling, jener ein übersättig¬
ter blasirter Schriftsteller der Jetztwelt, aber voller Witz, Geist und
Laune. Er stand als Mentor neben seinem Telemach, dem er alle
Ideen eingab oder mittelst sokratischer Hebammenkunst entlockte. Und
die naturfrische poetische Sprache des Schülers war eben so correct
in der Wahl der Ausdrücke, wie die humoristische mephistophelische
Medisance des Lehrers treffend und glücklich in ihren Wendungen
und Effecten. Der milde Geist des Schülers bildete den liebens¬
würdigsten Gegensatz zu der brillanten Ironie seines Meisters und
die seltsame Mischung von Unschuld und Genußsucht; Jugendglück
und Uebersättigung, Naivheit und Ueberbildung waren auf jeder
Seite und fast in jeder Zeile bewunderungswürdig.
Dazu kam, daß der Verfasser des Buches, ein gewisser Doctor
Zänker, als Philosoph und Schriftsteller bereits sich bekannt gemacht.
Man wußte, daß er aus Mißmuth und unglücklicher Verhältnisse
halber plötzlich seine Carriere aufgeben mußte und als Gesellschafter
eines reichen, vornehmen, jungen Kavaliers auf dessen Gütern lebte.
Dieser vornehme Gönner war der junge Graf Oskar von Wüsterode
und war in jenem Buche als Schüler mit seinem Vornamen Oskar
benannt. Das Buch schien demnach zwei Verfasser zu haben. Aber
von einem Grafen Oskar von Wüsterode hatte man bisher noch nie
etwas gehört und man wollte einem blutjungen Aristokraten nicht so
viel Weisheit und Geschicklichkeit zutrauen. Zänker hingegen war ein
berühmter und beliebter Mann, von dem sich Alles erwarten ließ.
Darüber erhob sich in allen Journalen ein Federkrieg. Einige
Recensenten erklärten das Buch für einen philosophischen Roman und
stellten es weit über Solger's „Ervin;" rühmten auch das Interesse,
welches ein Ideal wie Oskar einflöße und beklagten, daß ein
Genius wie der Doctor Zänker sich den Interessen der Zeit und
Geselligkeit entzöge, um in der Einsamkeit seine Kräfte an poetische
Erfindungen zu verschwenden. Andere dagegen verfochten lebhaft
Oskar's Wirklichkeit, nannten das Buch eine philosophische Denk¬
würdigkeit, eine literarische Begebenheit, ein geistiges Ereigniß, eine
ideale Thatsache und bedienten sich noch anderer Euphemismen,
woran die heutige Tagesliteratur unendlich reich ist.
Der Streit wurde lebhaft, zuletzt mit Erbitterung geführt. Alle
Welt wurde auf den Zankapfel aufmerksam, nahm Partei für und
wider und auch die Damen mischten sich darein. Die jüngeren ver¬
liebten sich in den vornehmen jungen Philosophen, der so fromm und
edel dachte, die anspruchsvollen, vornehmen und hochgebildeten aber
behaupteten, ein Krautjunker könne nicht so meisterhaft und correct
denken lind sprechen und erklärten jenen Oskar für ein Ideal.
Bertha zählte achtzehn Jahr, traute sich ein entscheidendes Ur¬
theil zu und verfocht mit dem lebhaftesten Eifer Oskar's Wirklichkeit.
— Es ist Dein Unglück, Mädchen, wandten ihre Freundinnen
ein, daß Du alles glaubst, was in Büchern steht. Du hälst alle
Ideale für wirklich.
— Oskar hat aus meiner Seele geschrieben — antwortete
Bertha — und so gut wie ich wirklich bin, kann er es auch sein.
— Und weshalb soll Zänker nicht aus Deiner Seele geschrie¬
ben haben?
— Was er in dem Buche sagt, ist mir entweder so unverständ¬
lich, daß es mir verloren gehl, oder so verständlich, daß ich nichts
damit zu machen weiß. Allein was Oskar sagt, erschließt mir eine
ganze Welt lichter seelenvoller Gedanken, woran ich mich zeitlebens
erbauen und erfreuen kann, um immer frömmer und glücklicher zu
werden. — streitet nicht! Es giebt Wahrheiten, die man nicht be¬
zweifeln soll. Am wenigsten dürfen junge Damen von Erziehung
die Pietät verleugnen. Oskar hat mit Liebe geschrieben und war
von seinen Gedanken entzückt. Zänker verhöhnt ihn auf eine leise,
aber schändliche Art. Wem das Heilige heilig ist, der wird es nicht
verhöhnen, und wer das Heilige verhöhnen kann, der fühlt nicht
dessen Heiligkeit. Folglich hat dies Buch zwei Verfasser und Zän¬
ker ist kein Schriftsteller für junge Damen von Erziehung.
— Werde doch selbst eine Heilige! rief Pauline, die Tochter
des französischen Ministers. Entsage der Welt, hoffähig bist Du
ja so nicht. —
Ich hätte es längst sein können, wenn ich einen Edelmann ge-
heirathet hätte; und in Deinem Vaterlande, Pauline, kann man sich
ja ungestraft den Adel anmaßen. Allein was ich eben gesagt habe,
sind nicht meine eigenen Gedanken, ich habe eS nur in den vor¬
nehmsten und geistreichsten Journalen so gelesen.
— Die Journale! die Journale! singen alle Fräulnn mit einem
Male zu lachen an. Von wem hast Du diese Leichtgläubigkeit, doch
nicht von Deinem Vater, denn der glaubt nur was in seinen Bü¬
chern steht.
Bertha schwieg beleidigt. — Sie ärgern sich doch nur, dachte
sie, weil ich Geist habe und talentvoller bin als sie.
Indeß nahm sie Pauline beim Wort und was Spott und Feind¬
seligkeit ihr gerathen, erfüllte sie mit heiligem Eifer. — Sie schrieb
Oskar's Reden auf feines Velin sauber ab und sandte das zierliche
Heft zum Buchbinder, eS so kostbar wie möglich binden zu lassen.
Sie erhielt es zurück, öffnete es, las und lächelie. Dies Büchlein
voll erhabener Gedanken war so kinderleicht und faßlich geschrieben
und hatte jetzt einen so merkwürdigen Zusammenhang, der schone
Inhalt war jetzt ganz was sie wünschte. Von Zänker's Werk wollte
sie nichts mehr wissen. Sie warf ihr Exemplar in's Feuer. Ihr
kostbares Büchlein aber wollte sie auswendig lernen, ihr Leben da¬
nach einrichten; es sollte ihr Glaubensbekenntniß sein.---
Eine wichtige Neuigkeit erfüllte die Stadt und beherrschte das
Tagesgespräch. Oskar, hieß es, sei anwesend und im Theater ge¬
sehen worden. Aber die ideale Partei triumphirte dennoch. Man
lobte die schöne Gestalt und den edlen Anstand des jungen Grafen
von Wüstervde, aber von seinen Talenten und Fähigkeiten hatte man
nicht die vortheilhafteste Meinung. Er benahm sich überall sehr stolz
und cinsvlbig und sagte man ihm Artigkeiten über die Philosophie
für Damen, so zuckte er mit Geringschätzung die Achsel und sprach:
„Ich kenne das Buch nicht, ich habe es nie gelesen," und daß ein
Krautjunker aus Stolz auf seinen guten Adel und seine reichen Gü¬
ter so verächtlich von einem allgemein beliebten Werke sprach, waS
er vielleicht nicht einmal verstand, empörte mit Recht alle Welt ge¬
gen ihn.
Nur Bertha war noch auf seiner Seite und sprach als sie sich
mit ihren Gespielinnen wieder in einer Tageögesellschaft befand.
— Er kann seine Gründe haben, seine Autorschaft zu verleug¬
nen. Aus eigner Machtvollkommenheit hätte der Doctor Zänker sich
nicht erlauben dürfen, seinen Vornamen und seinen Charakter in einem
Werke zu veröffentlichen.
— Zänker! antwortete man ihr, ist ein feiner Mann. Er hat
dem reichen jungen Grafen geschmeichelt, um sich bei ihm oder sei¬
nen Anverwandten in Gunst zu setzen.
— Welche niedere Schmeichelei! — Die garstige Verhöhnung
des Edlen sür sich zu behalten und das Edle selbst seinem Zögling
in den Mund zu legen.
— So sind die Männer! rief Pauline. Sie haben die edel¬
sten Gedanken und sind die Falschheit selbst.
— Die Falschheit hat nur schöne Redensarten, antwortete Ber¬
tha und Schwäche und Sklaverei nur verleugnen ihre edlen Gesin¬
nungen.
— Du sprichst wie ein Buch! rief Pauline, Moral, langwei¬
lige, triviale Moral. Wir sind jetzt aus der Schule, meine Liebe.
Wir kennen die Welt und merke Dir die Regel, liebe Bertha: Alle
schöne Männer sind dumm; alle geistreiche Männer falsch!
— Du bist nun einmal eine Mäimerfeindin, versetzte Bertha
arglos, ohne zu ahnen, wie sehr sie ihre Gespielin damit beleidigte.
— Pauline hatte erst kürzlich die grausame Erfahrung gemacht, daß
ihr Erwählter, ein junger Attache bei der französischen Gesandtschaft,
ihrer Hand wie ihres Herzens völlig unwerth sei. Seitdem haßte
und- verachtete sie alle Männer und machte kein Hehl daraus. Aber
für eine Männerfeindin wollte sie nicht gelten, dazu war sie noch zu
jung und in ihrer reizbaren Stimmung bildete sie sich ein, Bertha
habe auf ihre unglückliche Liebe angespielt. Sogleich entgegnete sie
heftig:
— Sprich Du doch nicht mit, wenn von Männern die Rede
ist. Die Comptoiristen und commis-vo^.-^vui-s, die Sonntag Mit¬
tags auf coLur-udsoir sich satt essen, die Studenten, Schauspieler,
Künstler und die verdorbenen Cavaliere, die Dein Vater vollends
zu Grunde richtet, sind keine Männer und etwas Distinguirtes kommt
nicht zu Euch! —
Vertha schwieg für den Augenblick, doch als man aufbrach er¬
klärte sie- „Ihr werdet mich nie wieder in Eurer Gesellschaft sehen."
— Wenn Du so tugendhaft bist! rief Pauline, so mußt Du
Deinen Feinden vergeben und segnen, die Dir fluchen!
Bertha antwortete ganz profan: „Wo ich nicht gerne gesehen
bin, bleibe ich weg," und ging.
Sie erzählte auf c»cur-»I>salir ihrer Mutter, daß sie mit allen
ihren Freundinnen gebrochen und die Räthin fragte: „Etwa der
Philosophie für Damen halber?"
— Ja!
— Du nimmst die Partei des jungen Grafen viel zu eifrig,
liebes Kind.
— Darf ich einem öffentlich anerkannten Talente nicht auch
meine Verehrung eingestehen!
— Aber es ist ein junger und wie ich höre, liebenswürdiger
Cavalier.
— Soll ich ihn deshalb nicht verehren dürfen? Aber man gönnt
mir nicht, daß ich eine eigene Meinung habe. Man läßt mich füh¬
len, daß ich kein gnädiges Fräulein bin.
— Du hast nun gar keinen Umgang mehr!
— Besser ich bleibe allein, denn wirklich liebe Mutter! sie sind
alle dumme, Heizlose Geschöpfe! — ^ ^-
Auch Pauline sagte zu Hause ihrer Mutter: „Mama! ich fürchte
eine Unbesonnenheit begangen zu haben. Aber Du glaubst nicht, mit
welcher Dreistigkeit Bercha Rusland von Dingen spricht, die sie gar
nicht versteht. Ich habe eS ihr gut gegeben. Sie will uns alle
nicht mehr besuchen und thut recht darau. Wir alle können sie nicht
leiden.
— Aber Du weißt, in welchen Verhältnissen Dein Vater und
der Finanzrath stehen.
— Leider! und unglücklicherweise habe ich von verdorbenen Ka¬
valieren gesprochen, die ihr Vater vollends zu Grunde richtet,
— Welche Unvorsichtigkeit mein Kind! Wenn sie das zu Hause
wieder sagt.
— Für's erste habe ich meinem Herze» Luft gemacht.
— Aber der Finanzrath ist empfindlich. Er wäre im Stande
uns den Credit aufzukündigen.
Laß mich nur machen. Ich versöhne sie schon wieder. Die
deutschen Mädchen, bah! — Belchen sind sie, aber Geist haben sie
nicht. ^_
Schon am folgenden Morgen mit dem frühesten war Pauline
auf c»LUl-»>»«e»r, um Bertha zum t>i«;v et-in«und einzuladen.
— Ich will Deine Freundin wieder sein, antwortete Bertha;
aber diesen Abend kann ich nicht.
— Warum nicht? Im Sommer giebt man keine großen Bälle.
Alle werden heut erst eingeladen. Soll ich umsonst den weiten Weg
herausgefahren sein. Das ist kein Spasi, wenn man Abends ein
Fest giebt.
— Du bist Heransgefahren, um Dich mit mir zu versöhnen
und ich bin wieder gut; allein ich komme diesen Abend nicht.
— Du mußt kommen, liebe Bertha. Das Unrecht war auf
beiden Seiten. Du bist in der That sehr unerfahren und beurtheilst
die Well sehr unrichtig. Du hast einen klugen Vater, eine geist¬
reiche Mutter, talentvolle- Lehrer, mit denen Du umgehst und Du
forderst von allen Menschen, daß sie klug, geistreich, talentvoll sein
sollen; das geht nicht an! —
— Ich mache keine Ansprüche.
— Und wie! Du fühlst das nur nicht, Du zeigst unaufhörlich,
wie geschickt und talentvoll Du bist und daS gehört sich nicht. In
der Gesellschaft muß jeder etwas von seinen Ansprüchen zu verleug¬
nen wissen, damit andere auch Ansprüche machen könnet?.
Also ich soll meine Meiimng nicht mehr sagen!
Wie schwer begreift ihr deutschen Mädchen Dinge, die wir mit
zur Welt bringen. — Du verträgst Dich mit uns allen nicht gut.
Soll das an uns liegen? — Und weshalb haben wir uns gezankt?
Ist es eine Ehrensache für uns, ob die Männer falsch oder aufrich¬
tig sind? Warum nimmst Du das so wichtig? Die Männer sind
nicht werth, daß wir ein Wort an ihnen verschwenden! Und steh',
diesen Abend ist Oskar bei uns. Mein Bruder hat ihn eingeladen!
Du kannst Dich selbst überzeugen, welch' ein Unterschied zwischen
einem jungen Philosophen in einem Buche und einem hölzernen jun¬
gen Grafen in Natura ist. Lerne die Männer kennen! mache Er¬
sahrungen! Du siehst ich meine es gut mit Dir. Und Du wirst
hoffentlich einsehen, daß ich Deine wahre Freundin bin. Ich führe
harte Worte auf den Lippen, aber auch gute Gesinnungen im Her¬
zen. Ich will Dich von Deinen Irrthümern befreien!
Bertha war gerührt, und wußte nicht wovon. Sie umarmte
Paulinen und sprach: „Ja! Du meinst es aufrichtig, es thut mir
leid, daß ich gestern empfindlich ward. Es wäre nicht geschehen,
hättest Du nur mich beleidigt, aber Du sagtest Uebles von meinem
Vater.
— Siehst Du, unterbrach sie Pauline, das ist schon wieder
ungehörig! — Wenn man sich einmal versöhnt hat, so erwähnt man
des Zankes nicht wieder. Also Du kommst diesen Abend, und wir
zanken uns nie wieder und sind Freundinnen auf ewig.
Bertha hatte ihre Toilette vollendet und zeigte sich ihrer Mut¬
ter. Sie trug ein weißes Kleid mit natürlichen Rosen besetzt. Ein
Kranz von Weißen Rosen umgab wie eine Glorie ihre reichen, kohl¬
schwarzen Haarflechten und eine kostbare Perlenschnur umschlang
mehrmals Hals und Nacken, die aus demselben Stoffe geformt schie¬
nen. Dies war all' ihr Schmuck, aber die Weiße ihrer Haut, die
Feinheit ihrer Züge und Formen, wurden durch diese zarte Toilette
gehoben und ihre dunklen Augen, von langen schwarzen Wimpern
halb verschleiert, wirkten vollends zauberisch.
— Aber so einfach! sprach mißbilligend die Räthin.
— Es soll nicht heißen, daß ich Ansprüche mache.
— Und ganz weiß.
Bertha betrachtete sich lächelnd im Spiegel und rief, ich finde,
daß mich das gut kleidet.
— Schön genug bist Du! seufzte die Räthin halblaut, mögest
Du aber so glücklich sein.
Bertha hatte diese Worte gehört. Dein Segen wird mir Glück
bringen, antwortete sie erröthend, öffnete einen Bücherschrank, nahm
ihr schön gebundenes Büchlein heraus und fing an zu lesen bis der
Wagen vorfuhr.
Bertha verursachte ihrer Mutter heut Besorgniß. Wenn sie sonst
lesend dasaß, hatte ihr Wesen etwas Ernstes und fast Feierliches.—
Doch wenn sie lächelte, bildeten sich zwei vollkommen symetrische Grüb¬
chen in ihren Wangen. — Sie lächelte als sie das Buch zur Hand
nahm und die Grübchen wollten seitdem nicht ganz wieder schwinden,
wenigstens angedeutet blieben sie immer. — Mit Recht fürchtete die
Räthin, daß die Theilnahme, die Bertha der Philosophie für Da¬
men schenkte, keine ganz philosophische sei und jetzt sollte ihre Tochter
den jungen Philosophen selbst kennen lernen. Ist eS möglich, dachte
sie, daß man sich aus einem Buche in den Verfasser verliebt? da
fiel ihr Bürger ein und daS schwarzbraune Mädchen aus Schwaben.
Heiliger Gott! rief sie, eS ist schon dagewesen!
Was? fragte Bertha.
— Du freust Dich wohl sehr auf den Ball?
— Unbeschreiblich. Es ist mein erster Ball, mein erstes Debüt
in der Welt, und ich darf hoffen, es wird kein unglückliches sein.
Doch das hat nicht den geringsten Werth für mich. Allein ich werde
den Grafen Wüsterode sprechen und das Geheimniß wird an den
Tag kommen. Ich schlichte eine literarische Fehde und beweise, daß
ich mich auf meine Ueberzeugung verlassen darf.
— Und das interessirt Dich so?
Es interessirt alle Welt, man streitet darüber hin und her.
Schon seit sechs Monaten habe ich unaufhörlich diesen einen Verdruß
mit meinen Freundinnen gehabt. Ist es mir zu verargen, daß ich
die Sache beilegen will?
— Bertha sei nicht indtScret.
— Befürchtest Du das von mir?
— Du wirst den jungen Grafen in Verlegenheit bringen, wenn
er der Verfasser nicht ist!
— Also Du glaubst mir auch nicht? —
Aber der Wagen fuhr vor und machte dem Gespräch ein Ende,
die glückliche Bertha legte ihr Büchlein auf das Clavier, umarmte
ihre Mutter und hüpfte fort. — Die Räthin suchte sich zu trösten,
so gut sie konnte: Wenn Bertha entdeckt, daß ihr Ideal ein Geck
nur ist, so dürfte das eine heilsame Lehre für ihre Schwärmerei sein.
Freilich sind die talentlosen Stutzer immer die gefährlichsten, aber
Meine Tochter hat Geist. —
Oskar hielt ein Tagebuch, gleichsam um geistige oder sittliche
Toilette zu machen. Sauberkeit im Innern wie im Aeußeren war
ihm Gewohnheit und Bedürfniß, und sein Tagebuch begann mit fol¬
genden Worten:
„So lange die Seele noch rein, der Geist schön ist, würdig
des göttlichen Hauses, der ihnen Dasein gab; so lange der Jüng¬
ling gesund an Leib und Seele des Erdenkloßes noch nicht bewußt
ist, genießt er hienieden eine Glückseligkeit, aber eine schwärmerische,
eine chimärische. Sie hat nur lyrische, phantastische Wahrheit. Sie
will aber zur Eristenz gelangen: einer der schwierigsten Processe des
Erdenlebens. Uebereile dich nicht, o Jüngling, dränge dich nicht zur
Erkenntniß. Die Natur läßt sich Zeit, sie arbeitet träge, aber dauer¬
haft und sauber. Es hat Jahrtausende gedauert, ehe die natürliche
Weisheit (die Devination, die Offenbarung) zur geschulten (zur wis¬
senschaftlichen, bewußten) Weisheit wurde und du hast nur ein kur¬
zes Menschenleben. Bewahre, pflege, schone dir die Devination der
Jugend und Unschuld, du vermagst es. Wage dein eigener Schüler
zu sein. Die bewunderungswürdigen, unsterblichen Meister aller
Zeiten wurden Lehrer der Menschheit, weil sie die Schüler ihrer
selbst waren. Vertraue dir selber und überlasse dich getrost der Vor¬
sehung, welche Zwecke mit dir hat, die du nicht eher erkennen wirst,
als bis sie vollbracht sind."
Als Oskar seinen Vater verlor, zählte er zwanzig Jahre. Er
hatte Naturwissenschaften und Oekonomie studirt; war jetzt unabhän¬
gig und reich, die ganze Welt stand ihm offen; allein er kehrte heim
auf seine Güter, übernahm die Verwaltung derselben und wollte ruhig
daselbst die weiteren Verfügungen der Vorsehung über sich abwarten.
Aber diese Thätigkeit genügte ihm nicht, er fühlte eine Leere in
sich, eine Sehnsucht, er wußte selbst nicht wonach. — Diese Ruhe
taugt nicht — dachte er — ich muß einen Freund haben, der mir
widerspricht, der mir zu schaffen macht, der mich reizt und anregt,
einen Freund, der ganz dem socialen Leben angehört und durchaus
nichts von den Nachtseiten der Naturwissenschaften wissen will.
Seine Wahl fiel auf einen gewissen Doctor Zänker, der sich als
Tagesschriftsteller bereits einen Namen erworben und dessen Bekannt¬
schaft er während seiner Universttäsjahre gemacht hatte. An diese»,
der sich gegenwärtig notorisch in sehr traurigen Verhältnissen befand,
schrieb er, bot ihm ein Asyl auf seinen Gütern an und versprach, es
ihm an nichts fehlen zu lassen.
Zänker erblickte hierin nur eine Anerkennung seiner Verdienste
und konnte nicht umhin, öffentlich bekannt zu machen, daß er die
müßige nüchterne Gegenwart für völlig unwürdig seiner ferneren
Theilnahme erachte, weßhalb er von nun an der Muße und Freund¬
schaft zu leben gesonnen sei. Auch den Namen seines vornehmen
jungen Gönners verschwieg er nicht, welcher einem der ältesten und
und reichsten Geschlechter des Landes angehörte und daher sehr ge¬
eignet war, Zänkers Rückzug aus der Oeffentlichkeit, in welcher er
sich lange mit Glück und Ruhm behauptete, als einen höchst glän¬
zenden erscheinen zu lassen.
Oskar empfing ihn mit offenen Armen. — Allein Zänker hatte
nichts wider Devinationen. Sie waren ihm völlig gleichgültig; er
glaubte sie weder noch bestritt er sie.
Oskar machte ihm Vorwürfe.
— Herr Graf, klagte Zänker mit affectirter Vornehmheit, ich
bin ein Opfer der Hyvercultur meines Jahrhunderts! Als ich an¬
fing zu denken, ward ich überfüllt mit Kenntnissen und überladen
mit allen Schätzen des Wissens; als ich anfing zu fühlen, stürmten
alle Illusionen der Kunst, Bühne, Lectüre, alle Stimulanzen, und
Pikanterieen eines lururiösen Lebens auf mich ein und verwüsteten
meine Nerven, was also kann ich von Ahnungen und Träumen
wissen?
— Aber interesstren muß Sie doch der geistige Selbsterhaltungs¬
trieb, die wahrnehmbare Vorsehung!
— Nein! mich interessirt gar nichts. Es giebt nichts auf der
Welt, was mich erfreuen oder reizen kann.
— Sie sind doch noch jung.
Aber die Zeiten der Romantik sind vorüber, Ahnungen und
Träume gelten nichts mehr. Ich bin ein Märtyrer der Gegenwart,
ich muß in jedem Worte pikant sein, mit jedem Gedanken frappiren,
ich muß mich zerstören, damit die Menschen mich bewundern und
darf mich nicht rin Träumen zerstreuen! — ,
— Wollen Sie behaupten, daß Sie eine Erscheinung sind ohne
Inhalt?
— Menschen, Herr Graf! sind wie Bücher, der Inhalt ist
Nebensache; es kommt auf den Titel und den Namen des Ver¬
fassers an. Sie sind ein Titel: Graf von Wüsterode. Für solch'
einen Titel möchte ich leben und sterben, denn er macht stets Auf¬
sehen wie und wo sie ihn nennen. Ich bin nur der Name eines
Verfassers, was viel unbequemer ist; denn ich muß stets neues
Aufsehen machen, damit die Welt mich nicht vergißt. — —
Bald jedoch änderte Zänker sein Benehmen. Er fand einst
Oskar's Tagebuch und rücksichtslos wie er war, schlug er eS auf
und begann zu lesen. Schon bei den eisten Zeilen erstaunte er und
rief: „Wenn ich nicht Zänker wäre, möchte ich wohl Oskar sein." —
Er las weiter und fand alles so bedeutend, daß er es wirklich ab¬
schrieb. —- Jetzt fing er an Oskar's Ansichten lebhaft zu bestreiten
und was von diesen Gesprächen in Oskar's Tagebuch überging,
eignete er sich sorgfältig bei jeder Gelegenheit an. Nach Verlauf
einiger Zeit war er im Besitz einer vollständigen populären Philo¬
sophie und durfte nicht viel hinzufügen. Edel und einfach hatte Os¬
kar alles gesagt, und ihm nur die Würzen gelassen: Witz, Humor,
Spott und Ironie, und Zänker mußte alle seine Kräfte aufbieten,
um als Mentor neben solch' einem Telemach Figur zu machen. —
Den Namen Oskar aber behielt er in seinem Werk bei, denn seine
Stellung in der Oeffentlichkeit als Gesellschafter eines reichen, vor¬
nehmen, jungen Cavaliers dünkte ihn ehrenvoller als der simple
Charakter eines deutschen Pnvatgelehrten.
So entstand die Philosophie für Damen, welche Aufsehen machte,
viermal hinter einander aufgelegt werden mußte und bei der stets
vergrößerten Auflage dem Verfasser ein beträchtliches Honorar erwarb.
Zänker hatte jetzt Geld, wurde von allen Seiten zu neuer lite-
rarischer Thätigkeit aufgefordert; Buchhändler machten ihm Anträge,
längst verschollene Freunde meldeten sich wieder. Er hielt es daher
für gerathen, sich von seinem großmüthigen jungen Freunde zu tren¬
nen, um die Huldigungen, die ihm von allen Seiten dargebracht
wurden, persönlich in Empfang zu nehmen und seinen Credit bei den
Buchhändlern zu formen.
Oskar vermißte ihn schmerzlich, zumal er in der letzten Zeit so
wacker mit ihm disputirt hatte. Wo finde ich mehr Anregung, dachte
er endlich, als im Leben selbst? Wo größeren Widerspruch mit der
Natur, als in der großen Welt? Auch ich will nach der Residenz,
ich will sehen, wie lange ich es aushalten kann; ich will mitten in
der Cultur und Socialist mich am Fremdartigen und Widersprechen-
den sättigen. Dann kehre ich zurück in den Schooß der Natur, um
in Muße und Einsamkeit Alles wieder in Saft und Blut zu vertiren.
Oskar war von Natur wenig gesprächig. Auf seinen Gü¬
tern war er allein, der Mächtige, Kluge und Reiche. Er war ge¬
wohnt, zu befehlen, wo Andere sprachen. Daher sein Anstrich von
vornehmem Hochmuth, der in der Residenz das vorerwähnte
Aufsehen machte. Er spielte, ohne es zu wissen, die brillanteste
Rolle, die in der heutigen Gesellschaft möglich ist; die Rolle eines
stolzeleganten, vornehmzurückhaltenden Nichts, welches bereits der
Oeffentlichkeit angehörte und literarisch berühmt war; und hörte er
von der Philosophie für Damen reden, so gedachte er mißmuthig
seines treulosen Gesellschafters, dessen Philosophie durchaus keinen
Neiz für ihn hatte, ja ihm sogar verhaßt war.
Am dritten Tage seiner Ankunft war er auf dem Balle bei dem
französischen Gesandten. Er machte aber in der Stille die Bemer¬
kung, daß die Damen in der Residenz Toilette zu machen verstehen.
Es schienen lauter Portraits, obschon keine Ideale; als es mit einem
Male rings um ihn flüsterte: I'-ni^e <Jo coeur-oliseur-, I'-in^o
ce>our-al»k>cur.
Das war ein Wort, seine ganze Theilnahme zu erregen und er
erblickte eine reizende Erscheinung, die höchst einfach gekleidet, leicht
und ätherisch hereinschwebte und in deren schwarzen schwärmerischen
Blicken ein süßer unheimlicher Zauber ruhte. Er war ganz Auge
und frohlockte mit innerem Entzücken: Ja diese Blicke verrathen deut¬
lich, daß sie ein Engel mit finsterem Herzen ist. Alle Herren um¬
schwärmten sie, nur er wagte nicht ihr zu nahen und begnügte sich,
sie aus der Ferne zu bewundern. Als er endlich fragte, wer diese
zauberische Dame sei, erhielt er/zur Antwort Bertha von coeur-ob-
«ein-. Diesen interimistischen Namen hatte man ihr beigelegt, um
die bügerliche Banqnierötochter gleichsam salonfähig zu machen.
Der Ball begann, aber Oskar vergaß die ganze Welt um sich,
nur Bertha fesselte ihn mit magischer Gewalt. Es war anfangs
als suchten ihre schwarzen Augen etwas, bis sie auf ihm ruhten.
Dann wandte sie sich an die Tochter des Hauses und Oskar glaubte
den Namen Wüsterode auf den kleinen Purpurlippen schweben zu
sehen. Er glaubte jetzt ihr nahen zu müssen, um sie zum Tanze
aufzufordern. Doch Bertha hatte alle ihre Tänze bereits vergeben
und entschuldigte sich sehr verbindlich, fast wehmüthig. — In den
Blicken, womit sie den jungen Philosophen betrachtete, lag unver¬
kennbare Theilnahme; denn diese anmuthige Jünglingsgestalt mit
so viel Ernst und Würde war das, was sie wünschte. Sein Aeußeres,
was sie erblickte, sein Inneres, was sie kannte, verschmolz dermaßen
zu einem Ganzen in ihrer Seele, daß sie tief gerührt und mit voller
Befriedigung weiblicher Eitelkeit im innersten Herzen jauchzte: Ich
habe Recht.
Der arme Oskar war ganz bezaubert. Der Zögling der Na¬
tur wußte nicht, wie ihm geschehen war. Er konnte heut nicht
tanzen; still und ernst stellte er sich in einen Winkel und sah Bertha
zu, und wer ihn anredete, mußte seine Worte wiederholen; er hörte
nicht. —
Ein spanischer Buchhändler ist für den eifrigen Vüchersammler
eine eben so seltsame als unerquickliche Erscheinung. Er sitzt hinter
seinen Pergamentbänden verschanzt, gleichgültig wie ein Türke, und
sein größtes Vergnügen besteht darin, mit Geistlichen und Mönchen
zu rauchen und zu plaudern, — d. h. so lange es noch Mönche in
Spanien gab, denn sie waren beinahe die einzigen Bücherkäufer.
Er thut gerade, als ob er der Verfasser oder Sammler, keineswegs
aber der Verkäufer seiner Bücher wäre und beachtet kaum den Ein¬
tritt eines Fremden in seinen Laden. Auch weiß er nicht, was er
vorräthig hat; er besitzt keinen Katalog und giebt sich kaum die
Mühe, den Arm nach einem Buche auszustrecken, das man ihm an¬
deutet; er führt keine Bücher anderer Buchhändler, sendet nicht dar¬
nach aus und kann kaum bewogen werden, zu sagen, wo solche zu
bekommen sind. Er denkt nicht daran, den Rabatt zu verdienen, in¬
dem er ein Buch holen ließe, ja er würde sich nicht rühren, und
wenn er fünfundzwanzig Hundert anstatt fünfundzwanzig Prozent
Rabatt erhalten könnte. Jetzt, da mehr Bücher eingeführt werden
können, ist das xenu8 in'lilionnlii, um ein weniges aufmerksamer ge¬
worden. Wenn wir, zu Ferdinand's VII. Zeiten, bisweilen grün
genug waren, dem Buchhändler den höchst unverständigen Vorschlag
zu machen, uns ein Buch zu besorgen, so waren wir sicher, die Ant¬
wort zu erhalten: „^II lttiv! Ich muß meinen Laden hüten; ihr habt
nichts weiter zu thun, als in den Straßen umherzuschlendern!" —
t«;»Ao Pio ^uinlliu- 1^ tieiiila, Vend. pfeil c»ri'l«zi»In !<»« tütllez.
Wenn der spanische Buchhändler einmal zufällig keinen Besuch
und gerade die Laune hat, artig zu sein gegen einen Kunden, der
nach irgend einem Buche z. B. „Caro's Alterthümer von Sevilla"
fragt, so wird er antworten: „Vol'vwos," „kommen Sie gefälligst
in einigen Tagen wieder." Fragt man zum dritten oder vierten Male
darnach, so ist er im Stande „Pedraza's Alterthümer von Granada"
vorzulegen. Alle Vorstellungen sind alsdann vergeblich. Er ant¬
wortet stets: lo NilcL, lo mismo tleno, 8on sivmnre »utiAuv-
cl-kath" — „nun, es ist ganz dasselbe; beide Bücher handeln von
Alterthümern." Wird nach einem Geschichtswerke gefragt, so zeigt
er eine Dichtung mit der Versicherung vor, daß solche ganz vortreff¬
lich sei. Ein Buch ist ein Buch und man kann ihn davon nicht
abbringen; „omiw finito e«t i«Jon" ist sein Grundsatz. Sträubt
man sich, das Buch zu kaufen, so sagt er vielleicht: „Warum wollen
Sie es denn nicht nehmen? Ein Engländer kaufte mir vor fünf
Jahren ein Eremplar davon ab." Er kann nicht begreifen, warum
der Kunde nicht dem Beispiele eines „niüs-mo," eines Landsman-
nes folgen will. Ist er gut gelaunt und hat man sein Herz gewon¬
nen, dadurch daß man plaudernd und rauchend viele Zeit mit ihm
vergeudet hat, so nimmt er wohl ein Buch herunter und sagt, ge¬
rade im Begriffe es zu überreichen: „Sie verstehen ja aber kein
Spanisch!" (eine sehr gewöhnliche Ansicht der Spanier, die, gleich
den Mauren, nur selten eine andere Sprache außer der ihngek ver¬
stehen), was um so kränkender ist, da man sich schmeichelt, ihm
während einer halben Stunde den Beweis vom Gegentheile geliefert
zu haben. Um die Pille zu versüßen, bringt er alsdann eine eng¬
lische Grammatik oder ein französisches Wörterbuch zum Vorschein;
da er beide nichr versteht, so zieht er daraus den Schluß, daß sie
dem Ausländer, in dessen Muttersprache sie geschrieben sind, höchst
nützlich sein müßten. So pflegte ein gewisser Buchhändler, nachdem
er sich überzeugt hatte, daß sein Kunde eine sichere Person war, einen
einzelnen Band von Rousseau oder Voltaire stets mit der geheimniß-
vollen Miene eines Verschwornen und mit solchem Triumphe vorzu¬
legen, als ob es ein In-linke lo LI-no gewesen wäre. Nur ein
Hogarth war würdig, den Schrecken zu malen, der ihn ergriff, wenn
diese Früchte verbotener Erkenntniß verächtlich zur Seite geschoben
wurden. Der Sammler guter und seltener Bücher darf überzeugt
sein, daß er zu London in einem Monate eine bessere und billigere
spanische Bibliothek herstellen kann, als in Spanien in einem Jahre.
Bücher waren in Spanien stets selten und theuer; nur wenige
Käufer sind vorhanden und die Preise müssen hoch sein, um den
Verleger oder Jmpresor zu entschädigen. Kaum die allergewöhnlich-
sten Ausgaben der Klassiker kann man haben. Die Spanier waren
als Kritiker und gelehrte Emcndatoren nie bedeutend, und es gibt
überhaupt nicht viele spanische Bücher, ans denen der Ausländer,
der an bessere Werke über dieselben Gegenstände gewöhnt ist, Nutzen
oder Vergnügen schöpfen könnte. Die spanische Literatur, von der
Inquisition geknechtet und stark gefärbt, war stets eine Creatur deS
Zufalls und gute Bücher kamen so selten vor, wie Palmen in der
Wüste; mit Ausnahme ihrer Balladen, der Heldenpoesie, die aber
von den Gelehrten verachtet wurde, übten sie nie einen durchgreifen¬
den Einfluß aus das Nationalbewußtsein aus. Ein unverhältniß-
mäßig großer Theil derselben war stets scholastischer Theologie, Mönchs-
Legenden und unnützer Polemik gewidmet. Durchweg ist ein Mangel
an kritischer Schärfe, kühner Forschung und Wahrheit erstrebender
Philosophie zu erkennen. Wir wagen diese Behauptung, während
mehrere hundert Bände spanischer Literatur uns dräuend umgeben.
Auch sind sich die Spanier der Unbcdeulsamkeit ihrer Literatur gar
wohl bewußt, obgleich keiner, aus Furcht vor dem Schaffotte oder
Scheiterhaufen, es wagen mochte, den wahren Grund zu verkünden.
Beinahe die Hälfte aller spanischen Werke sind erläuternder und apo-
logischer Natur. „lÄis.'i^o llistorico-^nolvAetico I^en^im
LspinmI-t, Xavier I^nun'H-is, 7 voll. 4., Nailriil, 1789; „Ol-i,,-
cion ^»oloxoticu, par I» IZsmu"»-», ^n-ni I>!et>Jo I^viror, Uiulrül,
1768." Dieser Katalog könnte dermaßen angeschwellt werden, daß
wir am Ende selbst genöthigt sein würden, eine Apologie zu halten.
Den besten Maaßstab sür den Noth- und Wohlstand einer Nation
gewahrt der Einblick in ihre Läden. Im September wird zu Ma¬
drid stets ein Jahrmarkt abgehalten; alle Klassen, hoch und niedrig,
arm und reich stellen dann, was sie zu verkaufen wünschen, in der
Straße aus; und, dem Himmel sei's geklagt, die Ausstellung ist
bettelhaft genug. Wer gerne Bücherläden durchstöbert, hat Gelegen¬
heit, zu sehen, wie ordinär die dargebotene Waare ist. Seit den
neuesten Vorgängen haben die Dinge einen etwas besseren Anstrich
gewonnen. Die am meisten cultivirten Fächer sind Theologie, Ju¬
risprudenz und Medicin. Man findet nicht viel klassische Bücher,
dagegen hauptsächlich Schulbücher und diese meistens in lateinischer
Sprache. Die Kenntniß der griechischen Sprache war in Spanien
nie sehr verbreitet; selbst die Gelehrten citirten meistens nur aus la¬
teinischen Uebersetzungen und wenn griechische Wörter nöthig waren,
so druckten sie solche oft mit lateinischer Schrift. Griechische Bücher
wurden entweder in Flandern gedruckt oder aus Italien verschrieben,
da die griechische Type in Spanien äußerst selten war. Die deutsche
Sprache ist das Neugriechische der Spanier — non lote-se intelliFi.
Hier und da finden sich einige englische Bücher, Grammatiker,
ol,' W-llcvtniKIund Ijacli-in^ „vomostio Uoäieüiv."
Neue Erscheinungen sind sehr schwer zu erhalten. „^Valtvr Scott"
ist zweimal aus dem Französischen in das Spanische übersetzt und
nicht besser dabei gefahren, als der Schwan vom Avon — „Ltio-
s^in-o, sue- los /Vu^Ilus vorivent KclmKsnir;" der „vn drin^is"
einem durch den Filtrirsack getriebenen Niagarastrome gleicht. Fran¬
zösische Bücher sind dagegen ziemlich häusig und namentlich diejeni¬
gen, welche medicinische, chemische n»d mechanische Gegenstände be¬
handeln. Ein großes Unglück für Spanien ist es, daß solches ver¬
mittelst des schlechten Destillirkvlbens französischer Uebersetzungen falsche
Nachrichten erhält über das, was in geistiger Beziehung in Deutsch¬
land, sowie in praktischer in England vorgeht. Diese Gewohnheit,
sich hinsichtlich wissenschaftlicher Originalwerke ganz auf andere Na¬
tionen zu verlassen, hat eine große Furchtsamkeit unter den spanischen
Autoren erzeugt. Es ist allerdings auch bequemer und leichter, zu
übersetzen und zu borgen, als selbst zu erfinden. Der eine traut den
Werken des Andern so wenig, als er ihm persönlich traut, und nimmt
seine Zuflucht lieber zu ausländischen Büchern, obgleich ihm die Per¬
son des Ausländers zuwider ist. Die Käufer solcher Bücher sind
der ihnen gebotenen Waare sehr ähnlich. — Geistliche, dünn und
hungrig, brodlose Juristen und Doctoren; die andern Klassen der
Gesellschaft kümmern sich gar nicht um Bücher. Die große Masse
des spanischen Volkes würde ebenso leicht sich entschließen, einen
Keller, als eine Bibliothek anzulegen. Der Schund, der zum Ver¬
kaufe ausgeboten wird, hat wenig Anziehendes für den Ausländer.
Die besseren spanischen Privatbibliotheken wurden während des Be¬
freiungskrieges zerstreut; diejenigen, welche nicht in Patronen ver¬
wandelt oder unter den Feldkesseln der französischen Soldaten verbrannt
wurden, flüchtete man nach England; allein auch die besten sind
nur in seltenen Fällen gut erhalten; die Exemplare sind gewöhnlich
zerrissen, wurmstichig, befleckt und unvollständig. Die Spanier, gleich
den Orientalen, waren nie Sammler und Erhalter, auch hatten sie
nie Wohlgefallen an Gegenständen der Kunst und geistigen Genusses,
noch überhaupt einen Begriff davon; sie verhalten sich zu den mo¬
dernen Nationen, wie die alten Römer zu den Griechen — Solda¬
ten, Eroberer und Kolonisten eher, denn Beförderer von Eleganz,
Kunst und andern ästhetischen Bestrebungen.
Ihrem Corrector hat es gefallen, mir in meinen letzten Bericht
Dinge hineinzucorrigiren, an die mein Herz nicht gedacht hat.*) Mit
einigen Buchstabenfehlern mag es schon hingehen, aber wenn man
unsern seligen Wallraf in einen Waller umläuft, könnten die Grenz¬
boten bald und leicht in Conflict gerathen mit unserem Buchhändler
Ludwig Kohner, über welchen die Weihe der Publicistik gekommen
und der sich in seiner publicistischen Begeisterung berufen fühlt, sich
eben der verstorbenen Größen Cölns anzunehmen und für ihren
Nachruhm zu sorgen. Die Bildhauer und Erzgießer Deutschlands
können sich freuen; er hat ein halbes Dutzend Monumente auf ein¬
mal in Vorschlag gebracht, und wird sich an die Spitze der zu
diesem patriotischen Zwecke zu bildenden Comite stellen, sobald seine
buchhändlerischen Geschäfte es ihm erlauben. Welche Höhe des Pa¬
triotismus! und Kohner ist nicht einmal ein Cölner, sondern
Verlags- und Sortimentsbuchhändler, bei dem man eiixlish non-
zmiwrs lesen kann und welcher sich über die Maßen ärgert, daß der
Dombauverein es gewagt hat, am Kreuz des Chors eine Gedenkta¬
fel über die drei ersten Jahre seines Bestehens einmauern zu lassen.
Wehe über die Barbarei des neunzehnten Jahrhunderts! und drei¬
mal wehe über ihren Gedenksteine setzenden Wandalismus! Zum
Heile der Menschheit hat aber Deutschland noch Männer, wie den
Buchhändler Ludwig Kohner aufzuweisen!
Der Lebensstrom ist, nachdem die Festlichkeiten alle glücklich vor¬
über, wieder für Cöln in seine gewohnten Grenzen getreten; die
Leute machen in Ouadratfüßcn Zucker, Kaffee, Häuser u. s. w., ge¬
hen in's Casino, um sich zu langweilen, besuchen ihre Clubs und
Schöppchenhäuser, um über die sogenannten deutsch-katholischen Be-
wegungen zu politistrcn, ihre Ideen über Handelsfreiheit und Schuh¬
zölle auszutauschen, um sich zu ärgern, daß die Aussichten auf einen
guten Herbst zu Wasser werden und daß die kleine Königin deö
großen brittischen Reiches nur üOV Pfund zum Dombau gegeben,
da doch alle Dombauvereine, welche jetzt bei uns ein beliebter Mo¬
deartikel speculativer Wirthe sind, vor ihr paradirt und sich ange¬
strengt haben, der weiblichen Majestät ihre Vereinszeichen zu über¬
reichen. Wir trösten uns mit dem alten Worte: Besser etwas als
Nichts. Trotz dem, daß wir echt englisches Wetter hatten während
der Anwesenheit der hohen Gäste, so ist doch Alles von Seiten un¬
seres Königs geschehen, um seiner königlichen Schwester den Aufent¬
halt möglichst angenehm zu machen. Die Feste waren glänzend, kö¬
niglich! scheinen aber, wie man im Allgemeinen bemerkt haben will,
vor den Launen der Herrscherin der drei Reiche keine besondere Gnade
gefunden zu haben. Da sich nun dergleichen königlichen Festlichkei¬
ten einander gleich sehen, wie ein El dem andern, so wird man uns
auch alle Schilderungen zu gute halten. Wir könnten doch nur von
reiche» Equipagen, Gold- und Silber strotzenden Lakaien, Kammer¬
dienern, schönen Hofvamen, und wie die sonstige Hofstaffage zu Hof-
dincrs und Hofconcerten heißen mag, reden. Ein bedeutungsvoller
Moment war das im Brühl unter Meyerbeer's Leitung veranstaltete
Hofconcert. Denn nicht nur, daß hier die hohen Herrschaften: drei
Königinnen, und zwar zwei constitutionelle und eine absolute, zwei
Könige und ein königlicher Gemahl, nämlich die Königinnen von Eng¬
land, von Preußen und die der Belgier, so wie die Könige von Preußen
und Belgien und Prinz Albert — im englischem Glänze vereinigt
waren, war hier auch ein Berzelius, ein Alexander von Humboldt
und manche Namen ausgezeichneter Musiker und anderer Künstler
fand man unter den Gästen, wie denn auch den geistvoll sein sollen¬
den Seifenschaumfabrikanten Jules Janin, welcher uns in den letz¬
ten Nummern des .sourrml lies vvliitts allerliebste Pröbchen seines
neuesten Fabrikartikels über die Beethovenfcier gegeben hat. Aus
der Feder eines Franzosen werden diese Lappalien bewundert, hätte
ein Deutscher dieselben geschrieben, würde man die Achseln zucken.
Michel, wir kennen dich; du bist unverbesserlich!— In der Gesammt-
wirkung war das Nheinfest mit der Beleuchtung der Stadt einzig in
seiner Art und mag schwerlich von irgend einem dortigen Feste er-
reicht, weit weniger übertreffen werden. — Kostete» diese Spielereien
nur nicht so viel Geld! Die Illustratoren deutscher und englischer
Jllustrirten werden die schönsten Momente schon auf die Holzstöcke
bringen, wie denn überhaupt bei Gelegenheit der Festlichkeiten die
Pinsel sehr in Anspruch genommen worden sind. Zum Abschiede
haben die Bürger Cölns, d. h. diejenigen, welche anfangen zu ge¬
wahren, daß der alte Sauerteig auch für den stärksten Magen zuletzt
unverdaulich ist, dem Könige eine Petition überreicht um Einführung
der neuen Communalordnung. Wird die Bitte gewährt, woran nicht
zu zweifeln, dann möchten wir an die Bäuerin erinnern, die dem
gestorbenen bösen Amtmann heiße Thränen nachweinte, weil sie meinte,
gewußt zu haben, was sie an ihm hatte, aber nicht was man in
dem neuen Amtmann kriegte.
An dem nach dem pensylvanischen Zellcnsystem gebauten neuen
Flügel unseres Gefangenhauses ist man noch mit den letzten Ein¬
richtungen beschäftigt, die bald vollendet sind. Hier hat man sich
aufs Bündigste gegen diese Ausgeburt des herz- und gcmüthSloscstcn
amerikanischen Pietismus, gegen dieses höllische Raffinement der
fürchterlichsten Seelenfolter, die nur eine gemütharme Muckerseele er-
erfinden konnte, ausgesprochen, und wundern wird es uns, ob das
System auch wirklich in Anwendung kommt. Nach dem bei uns
geltenden Strafgesetzbuch ist dies nicht möglich. — Es müßte denn
erst eine völlige Reform desselben, wie unsrer Prozeßordnung vor¬
angehen — und das hat noch Zeit und Weile. ES gibt aber Leute,
die für das System schwärmen — natürlich weil es ein fremdes ist
und die sich von dem schlauen Gomen etwas haben aufbinden lassen.
Bekannt ist es, daß die große Mehrzahl der nordamerikanischen Staa¬
ten das System als durchaus zweckwidrig wieder aufgegeben oder
nicht angenommen haben. Es besteht nur noch in zwei Staaten.
Jenny Lind sang bei uns — noch bis heute ist Niemand ver¬
rückt worden. Der Hyper-Enthusiasmus ist in, Ländern, wo man
Wein trinkt, nicht heimisch; er macht sich nur geltend, wo des Le¬
bens Seligkeit in den Conditoreien bei frischem Grog, hinter -dem
Theetisch, garnirt mit den Erzeugnissen des Modernsten oder hinter
einer „kühlen Blonden" oder einem Doppelkümmel gesucht wird, wo
die sogenannten Gebildeten aus Gemüthsdemuth die Blasirten spie¬
len und nur in eraltirtem Enthusiasmus ihren ästhetischen Blähun-
gen Luft machen können, um von sich in irgend einem schwindsüch¬
tiger Blatte reden und sich selbst glauben zu machen, man hätte
Geschmack. — Man hat hier der Sängerin hohes seltenes Talent
hoch bewundert; ihr Gesang ist Seele, entzückt, reißt hin, bezaubert,
und wir sind überzeugt, daß die Swenska Nechtengal über die ihr
bei uns gewordene Anerkennung und Aufnahme wohl zufrieden ist,
denn des Beifalls war kein Ende. Jenny Lind ist eine erste drama¬
tische Sängerin des germanischen Nordens, und hat in diesem Augen¬
blicke in Europa wenige, die mit ihr in die Schranken treten dürfen.
Extravaganzen des Beifalls kennt man aber hier nicht, man spannt
keiner Sängerin den Wagen aus und wie die ähnlichen Demonstra¬
tionen heißen; ihr Portrait zieht einige Gaffer an die Fenster der
Buch- und Kunsthändler, ein sentimentaler Ladendiener oder ein
Gymnasiast macht im Fremdenblatte seinem Gefühle in einem hol¬
pernden Sonnet Luft —und damit Vasta. Man glaube aber darum
nur ja nicht, daß man die Künstlerin hier nicht sehr hoch schätze,
ihre Leistungen nicht zu würdigen wisse — das hat das überfüllte
Haus bei dreifachen Preisen bewiesen. Wie wir aus Meyerbeer's
Munde erfuhren, welcher sich noch immer hier aufhält, wird Jenny
Lind die fünf Wintermonate in Berlin singen und zwar mit 6WV
Thalern Gage.
Nachdem unser König die Provinz verlassen, sind Commerzien-
räthe und rothe Adlerorden und ähnliche Gnadenbezeugungen immer als
Gefolge angelangt; wir hatten aber ganz andere Dinge gehofft und
erwartet, denn hoffen, erwarten und denken ist nicht verboten, steht
nicht unter dem Censor, der, wie wir vernehmen, unsern Zeitungs¬
verlegern und Redakteuren das Leben sehr angenehm machen soll und
die Post begünstigt durch die häufigen Beschwerden an das Ober¬
censurgericht. Immer ein Verdienst um den Staat. Da kann man
aber sich auch trösten: „Was lange währt, wird endlich gut!"
Unsere Polizei ist von einer wahren Moralisirungswuth be¬
fallen, gibt fast täglich der lieben Schuljugend die erbaulichsten Bei¬
spiele, die Moral befördernsten Scenen in den Straßen, indem sie
mit dem Eclat — sie muß doch zeigen, daß sie da ist — aus Stell-
dichetnhäusern leichte Dirnen aufsucht und die armen Geschöpfe zum
Jubel des Pöbels und zur moralischen Erhebung der Jugend durch
die belebtesten Straßen transportirt. Sie sollte in ihrem heiligen
Eifer darauf achten, daß Abends in den Gast- und Schenkhäusern
Colporteurs einiger unserer Heckcnbuchhändler Fremde und Heimische
nicht belästigten, ja anekelten mit Broschüren über geheime Krankhei¬
ten und ähnliche Stoffe, die zu nennen uns der Anstand verbietet.
Was mögen die Fremden sich für einen Begriff von der hohen
Moraliläts.-Beschützerin machen, denn es ist ein wahrer Skandal um
diese Colporteurs, zu welchen man sogar kleine Mädchen verwendet,
welche den Fremden die widerlichsten medizinischen Schriften anbieten.
Unser Stadtbaumeister a. D. Weder, der eine artige Gemälde-
gallerie hat, ist in diesem Augenblicke im Besitze eines eben so in¬
teressanten als seltenen Kunstschatzes, nämlich der Skizzenbücher des
niederländischen Thiermalers Paul Potter. Man kann nichts
AuSgeführteres und Gewissenhafteres sehen, als diese Studien. ES
ist unbegreiflich, mit welchem unsäglichen Fleiße diese Zeichnungen
und Aquarellen gearbeitet sind, sowohl was Thiere aller Arten
als Pflanzen- und Staffagen betrifft. Wir haben noch nichts Aehn-
liches, weder von einem alten noch von einem lebenden Künstler
zu sehen Gelegenheit gehabt. — Der Dichter Moritz Hartmann ver¬
weilte einige Tage hier und hat durch seine angenehme Persönlich¬
keit Aller Herzen, die mit ihm zusammenkamen, gewonnen. Ein
stilles tiefes Gemüth, voller Ernst und dennoch lebenöheiter und frisch
in seinen Anschauungen. Er wird diesen Winter in Belgien zu¬
bringen.
Was wir der Beethovenfeier zu Bonn prophezeiht, ist in seinem
ganzen Umfange eingetroffen; — die Festredner haben sich vor ganz
Deutschland, vor dem gescimmten Europa lächerlich gemacht. Da
war es leicht Prophet zu sein, denn die Dummheiten, mit denen
man die Sache einleitete, gingen in die Hunderte und wurden durch
das, was man beim Feste selbst den taufenden Verehrern des Meisters
zu verschlucken gab, noch überboten. Es wird genug sein, wenn wir
Ihnen melden, daß Franz Lißt, welcher in der Beethovenfeier eine
neue Lebensphase sah, sich die Gelbsucht an den Hals geärgert —
und dabei noch für seinen Aufenthalt im Gasthof zum goldenen
Stern 150V Thaler bezahlt haben soll, denn es ist kaum zu begrei¬
fen, was er Alles in's Schlepptau zu nehmen hatte, welche Menge
vazirender Genie's, sowohl literarische als musikalische, sich der Sonne
seiner Munificenz erfreuten, d. h. auf seinen Beutel zehrten. In
seinen Zimmern war außerdem das Rendezvous der esoterischen Kunst-
Welt. Wer ist jener Gesetzte mit dem struppigen Schnurbart, der
halblettischen GcsichtSconstruetion? — Den keimen sie nicht? Es ist
ein Orakel Berlin'S, Rellstab — er sinnt wahrscheinlich auf ein
neues Feldlager. — Apropos, der junge, braune, schmächtige Mann,
mit den sanften Augen? — Vienrtemps. Der schwarze — eine
italienische Physiognomie? — Mendez, berühmter Violoncellist. Die
schwarze Dame, Madame Pleyel, eine Pariser und Brüsseler Be¬
rühmtheit. Wer ist der große, gesetzte, ernstruhige Mann, mit dem
sich Lißt eben unterhält? — Hofkapellmeister Spohr. Sie ent¬
schuldigen meine Fragen — und Jener mit der bunten Halsbinde, dem
starken braunen Haarwuchs und nichtssagenden Gesichte? — Ber-
lioz. Der schwarze mit dem tiefliegenden Auge? Mitten David mit
dem starkvortretenden Niechorgan, neben dem ein paar Feuerräder
Gluthfunken sprühen. — Und die Dame? — Lota Montez, eine
schlechte Tänzerin, aber praktisch im Fandango geübt, worin sie auch
den menschenfreundlichsten Unterricht ertheilt. Die beiden Genügli¬
chen, die sich dort unterhaltenden Männer, denen deS Lebens Mai
schon Valet gesagt? Fvtis und Chcllard. - Wer ist der gedrungene,
mit dem breiten, immer lächelnden Vollmondgesicht, reich mit schwar-
zen Haaren staffirt und gehoben durch einen stattlichen Kt-ini
dro? — Wie Sie fragen können, non'vio»! — Niemand anders
als Jules Janin; schreibt himmlische Feuilletons und hat jetzt eine
steinreiche, schöne, junge Frau genommen, nachdem die I»-neu >,ü-
bles8e es lange Zeit nicht unter ihrer Würde gehalten, die Honneurs
im Hause des Journalisten zu machen. — Der schlanke Schwarze,
mit starkem Bart, fortwährend mit den Zähnen kokettirenv? — Ein
Italiener, Fiorentino, der verschiedene Pariser Blätter versorg«, aber
nicht immer, wie die Mehrzahl seiner College», leeres Stroh drischt.
— Wer kennt die Volker, nennt die Namen der journalistischen
Stiefelputzer, die Hummeln gleich hier Herumsummen und das zu
sammeln scheinen, was die französischen und belgischen Journale
bis jetzt in allen möglichen Formen, mit göttlichem Unsinn gespickt,
über die Beethovcnfcier gebracht haben. Wie drängen sie sich um
Janin, der sich katzenfreundlich gegen jeden benimmt, und dennoch
um keinen zu kümmern scheint und sich mit einem großen dunkel¬
blonden Krauskopf mit eingedrückter Nase und dunkelgrünem Frack
mit große» herzoglich weimarischen Livreeknöpfen angelegentlichst un¬
terhält. Es ist O, B. L. Wolff, der nach allen Seiten hin den
Referendar macht und das Embryo, der Himmel weiß, wie vieler
Artikel in dem Gehirne dieser literarischen Schmeißfliegen aufdäm¬
mern macht. Die kauderwelschen deutschen Namen, die possirlichen
Metamorphosen der minvirkenden Künstler, mit welchen Jules Janin
die Pariser lumlo volvv und uns regalirt hat, wollen wir dem
deutschen Professor nicht zuschreiben. — Das sind Kleinigkeiten, und
der Franzose schwort doch darauf, und wenn Janin den jämmerlich¬
sten Unsinn zu Tage förderte, ,^no Wi. .I-min «to IV'füllt ^jus^u'nux
Iiouts dö s<!8 «Zol^es, denn er nimmt frommgläubig hin» was ihm
seine Schöngeister zu bieten vermögen. — Wir müßten einen home¬
rischen Schiffslatalog schreiben, wollten wir alle die literanschcn und
musikalischen Celebritäten mit Namen anführen, die in dem kleinen
Bonn herumwirthschaftctcn und dem ganzen Feste doch einiges Re¬
lief zu geben vermochten, welches dasselbe sonst an und für sich gar
nicht bot. Uns thut nichts weher, als daß die, mit Recht gerühmte,
rheinische Gastfreundschaft und Gastlichkeit durch das hölzerne Be¬
nehmen der Männer, welche des Ganzen Leitung übernommen hat¬
ten, in so großen Mißcredit gerieth und den Schnapphähnen der
französischen und belgischen Presse den überreichsten Stoff zum gerech¬
ten Tadel gaben. Wie sich einzelne der Herren und vor allen der
Vorsitzer Breitcnstcin, Doctor und Professor gar, in mehreren Fällen
benommen, übersteigt alle Begriffe und wirtlich hat es uns gewun¬
dert, daß aus den ganzen Feierlichkeiten doch wenigstens etwas ge¬
worden ist, daß der unerreichte Meister nicht durch seine Erinnerungs¬
feier geschmäht wurde. Welche begeisterte Verehrung ganz Europa
dem allgewaltigen Gebieter im Reiche der Töne darzubringen für
religiöse Pflicht hielt, das bewiesen die Jünger und Meister der Ton¬
kunst, welche zu den Ennnerungsopferfcst nach Bonn gepilgert wa¬
ren, und sich leider! in ihren Erwartungen betrogen finden mußten.
Was nun die Festlichkeiten selbst angeht, so sind dieselben schon in
so mancherlei Weise besprochen worden, daß wir kein Wasser mehr
in den Rhein tragen wollen, denn, wenn er auch um ein Atom da¬
durch größer werden könnte, so würden seine Fluthen doch nie den
Fleck verwischen, welche die königlich preußische Universitätsstadt Bonn
sich durch die Art und Weise, wie sie die Gedächtnißfeier Beethoven'S
beging, angeheftet. Ein würdiges Seitenstück zu der Göthefeier in
Frankfurt am Main! .Und das ist genug gesagt. Hölzern und
spießbürgerlich, trotz alles Gelehrtendünkels, vom Anfang bis zum
Ende. Bei der Enthüllung bekamen die anwesenden Majestäten die
Statue nur von hinten zu sehen. Beethoven'S Gesinnung war durch
diesen, durch das Ungeschick der Festredner herbeigeführten Zufall
selbst in seinem ehernen Standbilde trefflich charakterisirt. Das Stand¬
bild darf man in der Ausführung gelungen nennen, wenn wir es
auch anders wünschten, denn wir sind ein abgesagter Feind der mo¬
dern historischen Plastik. Einen unangenehmen Eindruck machen die
langen Hosen, die Knöpfe des Oberrocks u. f. w. Die Behand¬
lung des Mantels ist im Faltenwurfe kräftig schön, der Kopf in
seinem düstern Ernste, in seinem schroffen, wilden Charakter vortreff¬
lich zu nennen. In der Vorderansicht hätten wir die Statue schlan¬
ker gewünscht. Meisterhaft in der Erfindung, anmuthsvoll in den
Formen sind die weiblichen Gestalten, welche die Basreliefs des
Piedestals bilden und allegorisch die vorzüglichsten Kunstgattungen,
in denen Beethoven unerreicht groß war, versinnlichen sollen. Ein
deutscher Künstler hat das Werk geschaffen, und ward ihm auch der
wohlverdiente Lohn nicht, — so ward ihm doch, wie auch den Be¬
mühungen Lißt's, die Anerkennung des gebildeten Europa, und
dies muß ihn und auch Lißt reichlich lohnen für das, was sie in
Bonn selbst entbehrten, was sie hier erfuhren.
Die Heirarhsfrage der unschuldigen Jsabella soll nunmehr ihrer
Lösung nahe sein. Man versichert jetzt mit Bestimmtheit, daß alle
übrigen Combinationen als beseitigt zu betrachten sind und die Zu¬
sammenkunft der Herrscher am Rhein und die gleichzeitige Besprechung
in Nordspanien zwischen der jungen spanischen Königin mit dem Her¬
zog von Nemours die langen diplomatischen Verhandlungen endlich
zum Abschluß bringen werden. Die französischen Prinzen sind aus
leicht erklärlichen Gründen freiwillig zurückgetreten, nachdem der Graf
von Trapani gleichfalls den ihm Anfangs gemachten Hoffnungen ent¬
sagte und von Oesterreich das Anerbieten des spanischen Agenten höf¬
lich abgelehnt worden war. Lange Zeit sprach man von einer Ver¬
bindung der Königin mit dem Prinzen von Lucca, welcher in der
Person der ihm blutsverwandten Kaiserin von Oesterreich eine mäch¬
tige Fürsprecherin besaß, doch auch dieser Plan wurde in der Folge
wieder aufgegeben, so wie geheime Gründe obwalten, die das Heiralhs-
projekt mit einem der Söhne des Infanten Francisco de Paula un¬
möglich machen. Die nordischen Machte, die ihre Absicht in Betreff
des Prinzen von Asturien keinen Augenblick aus den Augen verloren
haben und deshalb die Abdankungsacte des staatsgefangenen in Bour-
ges betrieben hatten, sehen, wenigstens zum Theil, die Unmöglichkeit
ein, ohne Gefahr erneuten Bürgerkriegs den Sprößling der absoluti¬
stischen Linie auf den Thron der Halbinsel einzusetzen und wollen auf
ihren ursprünglichen Gedanken Verzicht leisten. Die Abdankung des
Don Carlos scheint ein Meisterstück englisch-französischer Diplomatie
zu sein, die ihm die Dinge von geeigneten Personen so schildern ließ,
daß diese langerwünschte Handlung zeitgerecht und nützlich für feine
Nachkommen erschien, während man andererseits die Stimmung der
Nation zu gut kannte, um nicht zu wissen, daß diese alsdann Gegen¬
gewicht sein könne für die Plane der absolutistischen Partei und ein
Hinderniß für die Realisirung der Lieblingsidecn nordischer Politik.
Gegenwärtig scheint es kaum mehr einem Iweisel unterworfen, daß
der jüngste Sohn des Herzogs Ferdinand von Koburg-Koharp, der
gewöhnlich in Wien lebt, Prinz Leopold, ein blonder, schlankgewach¬
sener Jüngling von 23 Jahren, die Hand Jsabellens erhalten wird,
so wenig dies auch manchen Leuten, welche gewohnt sind, den jungen
Husarenossizier Morgens an ihrem Fenster zum Manöver ganz schlicht
vorüberreiten zu sehen, einleuchten will. Doch auch den ehrlichen
Bewohnern von Svngedin und zumal der schönen Fiskalstochter wollte
es ganz unglaublich erscheinen, als sie an einem schönen Morgen hör¬
ten, der Husarenlieutenant Prinz Ferdinand von Koburg sei König
von Portugal geworden, wahrend die ganze übrige Welt daran nichts
Unerklärliches fand. Das Haus Koburg ist dermalen sowohl mit dem
Königsgeschlechte der in Frankreich regierenden Bourbons, als auch mit
der in England herrschenden Dynastie verschwägert und bildet derge¬
stalt und im wahren Sinne die vntvntv Lvidi-rio der beiden Höfe,
welche in der C'mporhebung eines Mitglieds dieses Fürstenhauses ihre
beiderseitigen Interessen zu fördern meinen.
Aus Agram ist eine städtische Deputation hier eingetroffen, welche
sich am Thron des Kaisers in Bezug auf die unlängst dort vorgefal¬
lenen Auftritte rechtfertigen, aber zugleich auch ihre Klagen und Be¬
schwerden gegen die Localbehörden -anbringen will, denn nach Allem,
was man von dorther vernimmt, hat eine schreiende Berlctzung aller
gesetzlichen Rücksichten stattgefunden und die handelnden Autoritäten
werden eine schwere Verantwortung zu tragen haben. Man weiß hier
nur zu gut, daß vergossenes Bürgerblut immer von schlechten Folgen
begleitet ist, weil der Gegner durch die Anwendung von Gewaltmaa߬
regeln gleichfalls auf das Gebiet brutaler Mittel hinübergedrängt wird,
so daß man dadurch blos die Waffen schärft, ohne den Kampf zu
stillen, der früher wenigstens in milderen Formen tobte. Es heißt,
daß der jetzige Barus von Croatien, Graf Haller, der schon lange
Zeit durch sein Hinneigen zum Magyarismus die Unzufriedenheit der
illirischen Partei stachelte und das Mißfallen der Negierung erregte,
welche zwar dem ungarischen Element freien Spielraum gönnen, aber
keine Obergewalt einräumen will, im Nächsten von seinem Posten
abberufen werden soll und nur die Schwierigkeit, ihm einen passenden
Nachfolger zu geben, dürfte diese Abberufung einige Zeit verzögern.
Und in der That, dieser Posten verlangt einen Mann, welcher nebst
den erforderlichen Eigenschaften von Festigkeit und diplomatischer Ge¬
schmeidigkeit, die sich häusig auszuschließen scheinen, auch noch die
erschöpfendste und tiefste Kenntniß der agirenden Parteien und ihrer
geheimsten Ideen und Triebfedern besitzt. Ja, noch mehr, es wird
sogar nothwendig sein, daß er die hervorragendsten Persönlichkeiten, die
Leiter der Parteien gründlich kenne, um auf diese individuelle Berech¬
nung hin die von der Lage der Dinge und dem Drange des Augen¬
blicks geforderten Entschlüsse fassen und rasch in's Werk setzen zu
können. Wo aber in der Eile gleich einen solchen Mann hernehmen,
der allen diesen Bedingungen entspricht? Endlich muß man aus sei¬
ner Hut sein, will man nicht aus dem Regen unter d'in Traufe kom¬
men, denn es grenzt fast an Unmöglichkeit, hier einen Mann zu fin¬
den, der zu keiner Partei gehört oder mindestens für diese oder jene
gewisse Sympathien hegt, welche sich unter Umstanden immer geltend
zu machen wissen, wenn sie auch nachträglich stets mit dem Mantel
der strengsten Pflichterfüllung bedeckt werden. Da kann es sehr leicht
geschehen, daß statt eines Magyarvmanen ein Jllveomane an's Ruder
gestellt wird, der die Sache am andern Ende anfaßt und seine Wirk¬
samkeit in eine amtliche Reaction verwandelt, die zu den schlimmsten
Verwicklungen führen würde. Auch scheint die Regierung ihre Leute
zu kennen und weiß recht gut, daß die illyrische Hand keine Freundes¬
hand ist, deren Druck man vertrauen darf; der Magyare trägt sein
Mißtrauen offen zur Schau und das Wort, das er spricht, ist wohl
manchmal rauh und heftig, aber es ist mindestens wahr und man
weiß, woran man ist. Der illyrische Parteimann dagegen ist ein ge¬
borener Intriguant, der nie sagt, was er denkt, und welcher dem Ur¬
sprünge seiner Partei getreu in der Nacht des Geheimnisses zu han¬
deln streben muß.
Der serbische Fürst Milosch ist von seiner Augenoperation fast
ganzlich hergestellt und hat die Stadt bereits verlassen, um in Ma¬
rienbad die Eur zu brauchen. Er war dem Erblinden nahe und nur
der Geschicklichkeit unseres ausgezeichneten Operateurs, s>>-. Jager, ge¬
lang es, ihm das gefährdete Augenlicht zu erhalten. Auch Ismael
Bei, der Neffe des Vicekönigs von Egypten, hat dem genannten
Arzt die schnelle und gründliche Heilung seines Augcnübels zu danken,
wofür er sich dem Vernehmen nach auch sehr dankbar bewiesen und
der Gattin des Heilkünstlers, außer dem demselben bezahlten Honorar,
einen sehr kostbaren Schmuck zum Geschenk machte. Minder Rüh¬
menswertes weiß ein hiesiger Maler, Robert Theer, von dem Nil¬
prinzen zu erzählen, dessen Begleiter, ein gewesener französischer Oberst,
einst in sein Atelier kam und den Künstler aufforderte,- seinen Herrn
zu malen. Der Künstler war bereit, den Auftrag zu übernehmen,
und nachdem er erfahren, daß das Porträt in Lebensgröße sein solle,
bestimmte er auch darnach den Preis. Als das Bild beinahe fertig
war, beehrte Se. Hoheit das Atelier des Malers noch mit ihrem
Besuche und ertheilte ihm in wahrhaft orientalischen Ausdrücken das
schmeichelhafteste Lob. Als aber der Künstler bald daraus das fertige
Bildniß in die Wohnung des Prinzen bringen ließ, erstaunte er nicht
wenig, als ihm der Mentor des jungen Prinzen zu verstehen gab,
daß Se. Hoheit das Bild gar nicht bestellt habe und es auch nicht
zu kaufen gedenke. Vergebens erinnerte der Maler den Obersten an
seine eigenen Worte und an den Besuch des Prinzen, bis er endlich
voll Verdruß das Haus verließ. Man rieth ihm den Weg der Klage
zu beschreiten und Theer glaubte diese am besten bei der Staatskanzlei
anbringen zu müssen, erhielt indeß daselbst den kurzen Bescheid, daß,
wenn der Prinz das Bild nicht kaufen möge, hierin auch nichts wei¬
ter geschehen könne.
Um noch ein Beispiel zu liefern, in welche Lagen ein hiesiger
Künstler oft kommt und wie er von manchen hohen Gönnern auf
verblümte Weise geprellt wird, will ich noch in Kürze einen Fall er¬
zählen, den ich aus des Künstlers eigenem Munde vernahm. Es war
der Porträtmaler Krumbholz, der gegenwartig in Frankreich reist und
unlängst am Hofe zu Lissabon die ganze königliche Familie abcontcr-
feien mußte, der damals noch in ziemlich bescheidenen Verhältnissen
lebte, aus denen er sich später durch aristokratische Verbindungen em¬
porhob. Eine Dame von Rang ließ sich von ihm malen; während
des Sitzens fragte sie ihn um mancherlei, was seine persönlichen Ver¬
hältnisse betraf, und als sie erfuhr, daß er noch nie in Italien gewe¬
sen, so warf sie die Frage hin: „Da wäre Ihnen wohl mit einer
Reise nach Rom sehr gedient?" Der Maler konnte nicht anders, als
diese Frage bejahen, denn sein Herz sehnte sich schon lange nach der
heiligen Stadt, nach welcher jeder begeisterte Künstler zu wallfahrten
pflegt. Als das Bild vollendet war, lobte es die Dame über alle
Maaßen und dann, zu ihrem Schreibtisch tretend, übergab sie ihm
statt der erwarteten Banknoten eine Anweisung auf — einen Platz
im Kurierwagen nach Rom. Man kann sich die Bestürzung des ar¬
men Malers denken, der vorerst sein Geld zu etwas Anderem, als zu
einer Romfahrt brauchte.
Seit ein Paar Tagen wimmelt das öffentliche Gerücht von Mord¬
geschichten und fast immer sind es defertirte Soldaten, welche dabei
die handelnde Rolle spielen. Unlängst fand man in einem Walde,
nicht fern von der Stadt, die Montursstücke und Waffen mehrerer
Soldaten, welche diese verrätherische Hülle abgethan und dafür Bauern¬
kleiber angezogen hatten, die sie in einem Dorfe stahlen. Am mei¬
sten Aufsehen macht die That einiger Drahtbinder, welcher jeder kennt,
der jemals in Wien geweilt hat. Es sind dies meist junge Burschen,
die aus den slavischen Gegenden Obcrungarns nach der Hauptstadt
wandern, um dort durch das Flicken zerbrochener Geschirre ihr Brod
zu verdienen, das freilich manchmal nicht hinreichend sein mag, wes¬
halb dann Bettel und Diebstahl das Fehlende ersetzen müssen. Ein
Paar dieser zigeunerartigen Zunft überfielen einen wandernden Hnnd-
werksburfchen, der eben sich aus Wien zur Wanderschaft aufgemacht
und in einem benachbarten Wirthshaus? von seinen Eltern, die ihn
vor die Stadt begleiteten, Abschied genommen hatte. Ohne Mord¬
waffen benutzten sie die Werkzeuge ihres Handwerks und erdrosselten
den Unglücklichen durch eine Drahtschlinge, die sie ihm um den Hals
legten; daraus bemächtigten sie sich seiner Habe und da sie unter den
Habseligkeiten des Ermordeten auch Eßwaacen fanden, so schlugen sie
alsogleich 'iii der fröhlichsten Laune von der Welt den Weg nach dem¬
selben Wirthshause ein, wo das Opfer ihrer That noch vor einer hal¬
ben Stunde an der Seite seiner Eltern gezecht hatte. Dort angelangt,
machten sie sich's bequem und waren eben daran, ihren Raub mit
Hilfe eines Glas Weines hinabzuschlemmen, als der Wirth in den
Eßwaaren sowohl als in dem farbigen Tuch, worin sie eingehüllt
waren, das Eigenthum des Handwerksgesellen erkannte, der noch kurz
vorher diese Dinge aus den Händen seiner besorgten Mutter empfan¬
gen hatte. Er verfehlte nicht, diese Bemerkung auch andern mitzu¬
theilen und in wenig Augenblicken bemächtigte man sich der Schmau¬
senden, um sie dem Arme der Justiz zu überliefern.
Ich mache auf ein Bändchen Gedichte aufmerksam, die in der
Pichler'schen Buchhandlung im Druck erschienen sind, nicht als ob eS
kostbare Gaben de.r Muse darbrachte, sondern blos aus dem Grunde,
weil es die geistigen Regungen in einer sonst ziemlich verfinsterten
und stillsitzenden Provinz kund gibt und eine tröftlichere Aussicht für
die Zukunft eröffnet. Achtzehn junge Poeten aus Tyrol geben in die¬
sen: „Frühliedern" ihre ersten poetischen Klänge und manche dar¬
unter beweisen recht achtbares Talent. Interessant ist es auch, unter
den jugendlichen Sängern einen Abkömmling des heldenmütigen
Speckoacher zu finden, der in unserer Zeit des politischen Liedes eben
nur singen, wie sein Vater handeln konnte.
Allgemeines Mißvergnügen erregt die Erhöhung der Fleischtaxe
auf I I Kreuzer pr. Pfund. Man hat über das Monopol der Fleischer-
zunft schon so vielfältig schlagendes gesprochen und geschrieben, daß
man nur befremdet sein kann, daß noch immer Nichts geschehen ist,
um den schändlichen Druck zu heben, den diese rohe, habgierige Klasse
auf die ganze Bevölkerung ausübt. Man weiß genau, daß eine jü¬
dische Gesellschaft sich um das Fleischermonopol beworben hat und sich
dagegen anheischig machte, das Pfund Rindfleisch das ganze Jahr
hindurch ohne Unterschied der Jahreszeit um 6 Kreuzer zu verkaufen.
Wenn -man schon Bedenken trägt in diesen Dingen Gewerbsfreiheit
zu gewahren, so möge man doch darauf Bedacht nehmen, daß der
Habsucht der Monopolisten Schranken gesetzt werde, denn was die
Einen können, müssen die Andern auch können. Freilich wissen die
Metzger ihr Steigerungsbegehren ziffermäßig zu begründen, allein man
darf nicht vergessen, daß sie und die Viehhändler in Ungarn und Po¬
len unter derselben Decke spielen und diese diejenigen Angaben liefern,
welche die Ersteren zur Unterstützung ihres Verlangens wünschen
Auletzt fragen wir noch, ob es vernünftig genannt zu werden verdient,
wenn dem Monopol, wie es die Metzger hierorts ausüben, noch zum
Ueberfluß eine gleitende Scala bewilligt wird? Das Monopol muß
mit fixen Preisen bestehen können oder ganz aufhören; wenn die Metz¬
ger in diesen Jahren unverhältnißmäßig gewinnen, müssen sie auch
in andern Jahren den Verlust tragen, nicht aber den Gewinnst für
sich behalten und den Verlust dem Publikum aufwalzen; nur Ge-
werbefreiheit darf Preise gewinnen, das Monopol muß sie firiren.
Je eifriger wir tagtäglich nach den Leipziger Blättern greifen,
um neue Aufschlüsse über die trübseligen Augustereignisse Ihrer Stadt
zu erhalten, um desto enttäuschter und verwunderter sehen wir den
Lakonismus, ja das fast gänzliche Stillschweigen, das die sächsische
Presse beobachtet. Wir verstehen zwar zwischen den Zeilen zu lesen
lind reimen uns die Vorladung und Verwarnung sämmtlicher Leipzi¬
ger Redactionen mit diesem Lakonismus sehr wohl zusammen. In¬
dessen begreifen wir dies Alles nicht. Das kleine Sachsen hat eine
große Popularität in Deutschland errungen, zumeist durch die freiere
Bewegung der Presse, die ihm durch seine Constitution gesichert wurde.
Es haben sich in letzterer Zeit vielfache Anläufe gezeigt, um Leipzig
seiner Centralgewalt im deutschen Buchhandel zu berauben. Indessen,
so lange die Presse dort eine verhältnißmäßig freiere Thätigkeit sich
erfreute, war vorauszusetzen, daß die Macht der Gewohnheit wohl
Alles beim Alten lassen werde. Jetzt erheben sich bereits Stimmen
unter den hiesigen Buchhändlern, die ernstlich von einer Verlegung
des buchhändlerischen Mittelpunkts sprechen, da man — ich will es
Ihnen nicht verhehlen — eine größere Reaction in den sächsischen
Preßzuständen besorgt und mit Erstaunen bemerkt man, daß selbst
conservative Blätter wie die Augsburger Allgemeine weit ausführlicher
und unverholener über die Leipziger Vorfälle sich aussprechen, als die
zunächst betheiligte Leipziger Journalistik selbst.
Ein sonderbares Factum fällt übrigens auf. Die beiden Ereignisse,
die in letzterer Zeit einen so gewaltigen Lärm in ganz Deutschland
machten, fanden in Gasthöfen Statt, die den preußischen Namen auf
ihr Schild hinsetzten. Die Ausweisung von Itzstein und Hecker
im Hotel de Brandenbourg, die Leipziger Nachtscencn im Ho¬
tel de Prusse. —
Unsere von Cöln heimgekehrten Festgäste schütten ihre Anekdoten¬
säcke aus; tausend kleine Pikantcrien sind zu erzählen, schwerlich aber
druckcrlaubt. Die Königin Victoria soll ziemlich übler Laune gewesen
sein, einer kleinen Eifersucht wegen. Prinz Albert hat sich nämlich
so offenbar hingerissen von der Liebenswürdigkeit der Prinzessin von
Preußen gezeigt, daß er dieser und nicht wie die Etiquette es vor¬
schrieb, einer andern hohen Dame den Arm reichte, um sie zur Ta¬
fel zu führen. Darüber soll Victoria auffallend geschmollt haben. —
Zum Gardedienst waren von Berlin aus 18t> der schönsten und hoch-
gewachsendsten Männer bestimmt worden. Es sind aber aus Potsdam
und Coblenz gegen l)W herbeigeströmt, die alle Gardedicnste thun
wollten und sich anboten, auf die Löhnung zu verzichten, um nur
die Festivitäten mitmachen zu können. Die musikalischen Productio-
nen sollen keineswegs gelungen ausgefallen sein und ein gleiches Schick¬
sal soll in Coburg geherrscht haben, wo Tichatschek sich alle Mühe
gegeben hat, die Hugenotten anständig in die Scene zu bringen; die
Vorstellung selbst ist jedoch so unglücklich ausgefallen, daß selbst Ti¬
chatschek seine Partie verdorben wurde.
Die Ernennung des Herrn von Eanitz zum Minister des Aus¬
wärtigen ist jetzt unser Tagesgespräch. Man erwartet mancherlei Fol¬
gen von diesem Ministerwcchsel; mancherlei Persönlichkeiten, die dem
effectiven Staatsdienst längere Zeit fern blieben, werden wieder als
eintretend genannt; unter andern Varnhagen von Ense, der in diesem
Augenblicke in Kissingen zur Cur ist, wo auch der General von Tet¬
renborn, der intime Freund Varnhagen's und des Herrn von Eanitz
sich befindet. —
Von literarischen Erscheinungen ist wenig zu melden. „Die preu¬
ßische Verfassungsfrage, von einem Oesterreicher" wird als ein ganz
treffliches Buch gerühmt. Von A. von Sternberg erscheint ein dritter
Theil zu seinem „Paul;" Herr von Sternberg hat nämlich gefunden,
daß man ihm Tendenzen unterschoben (unter andern sogar kommuni¬
stische), an die er am allerwenigsten gedacht hat und um diesem Allen
ein Ende zu machen, soll der ohnehin nicht ganz abgeschlossene Ro¬
man noch einen ergänzenden Supplementband erhalten. Auch ein
Mährchen, zu dem Herr von Sternberg die Illustrationen selbst zeich¬
net, soll erscheinen. Herr von Sternberg versteht nämlich den Erayon
eben so geistreich als die Feder zu führen und beide sollen diesmal im
Gewände des Mährchens die Narrheiten des Jahrhunderts geißeln. —
Von dem Redacteur des „Magazin für Literatur des Auslandes," Herrn
Lehmann, der kürzlich von einer großen Reife durch England und
Schottland zurückgekehrt ist, werden Briefe über Großbrittanien erwar¬
tet, die reich an praktischen Bemerkungen und an Fingerzeigen für
Deutschland sein sollen. — I)r. Dronte hat seine Protestation nichts
genutzt, er mußte sich der polizeilichen Verordnung fügen, die endlich
ihm anwies, sich binnen vierundzwanzig Stunden von Berlin zu ent¬
fernen. Die Polizei hat offenbar blos einen Beweis ihrer Macht lie-
fern wollen) gerade weil Dronte sich auf das Recht berufen hat, wollte
sie zeigen, wie ausgedehnt das ihrige ist. Ader: bange machen gilt
nicht! »>. Dronte ist abgereist und ein Polizeibeamter kam noch auf
die Eisenbahn, um sich von der affectiven Abreise zu überzeugen. Der
vielbesprochene Schriftsteller, gegen den man zu solchen Maßregeln grei¬
fen zu müssen glaubte, ist ein junger Mann von 23 Jahren, der hier
seit zwei Jahren von den Einkünften seines nicht unbedeutenden Ver¬
mögens lebte und von Allen, die ihn kennen, als ein liebe-nswürdiger
und durchaus gutherziger Charakter geschildert wird. Er denkt sich
eine Zeit lang in Leipzig niederzulassen, um eine juristische Arbeit
(über das Erbrecht) zu vollenden.
ES finden jetzt schon die umfassendsten Vorbereitungen zu dem
Jubiläumsfeste des Erzherzogs Statt, welches im kommenden Monat
gefeiert werden soll und man erwartet blos die Bewilligung aus Wien,
um die Zurüstungen in die Oeffentlichkeit treten zu lassen. Die Per¬
son des Palatins ist noch so ziemlich die einzige Person im ganzen
Lande, auf der ein unbeschranktes Vertrauen von Seite des Volkes
ruht, das nicht durch Zeitungsnotizen oder einige Landtagsreden zu ver¬
scherzen ist; aber mit Unruhe blickt die konservative Partei in die Zu¬
kunft, denn wer wird alsdann die Stelle einnehmen, die zur Stunde
den einzigen Haltpunkt im wirren Treiben der Gegenwart bildet?
Es ist da keineswegs mit Talent und Beredtsamkeit, mit Muth und
Tact abgethan; um dieselbe Popularität zu erwerben,, welche der ge¬
genwärtige Palatin genießt, bedarf es mehr als dieser übrigens höchst
schätzenswerthen Eigenschaften, es sind dazu die ernsten Schicksale
nothwendig, welche Haupt und Glieder in verhängnißvoller Zeit eng¬
verbunden bestanden haben, denn nur solche Leidensschule verleiht jene
Vollmacht des Vertrauens, die von keiner späteren Erfahrung getrübt
zu werden vermag.
Auffallend findet Jedermann die Ungebundenheit der Sitten und die
Masse von Gesindel, welche sich in unserer Stadt breit machen, welche
bereits alle Laster einer großen Weltstadt darbietet, ohne die Lichtsei¬
ten derselben zu besitzen. Der Bewohner der beiden Uferstädte prahlt
zwar gern mit der Pracht und Herrlichkeit der ungarischen Haupt¬
stadt und der magyarische Jnsasse zumal ist ganz erpicht darauf, sie
fortwährend mit London, Paris und Wien in Parallele zu stellen,
«bschon der minder befangene über derlei patriotische Phantasien
lächelnd den Kopf schütteln muß. Unsere Stadt lM nur Einzelnes-
was selbst großen Städten Ehre machen würde, aber im Ganzen sin,
det man hier noch viel Krähwinkelei, ein Beweis, daß jene großarti¬
gen Schöpfungen lediglich das Werk nationaler Anstrengung, nickt
aber die reise Frucht des großartig entwickelten hiesigen Lebens sind.
Pesth ist wie jede größere Handelsstadt, die eben in rascher Ent¬
wicklung begriffen ist, ein Sammelplatz von Gaunern und Vagabun¬
den, und- bis nicht lange war unsere Polizei so beschaffen, daß ihnen
hier so wenig Hindernisse als möglich in den Weg gelegt wurden.
Erst in jüngster Zeit hat die Energie des Stadthauptmannes einen
neuen lebendigem Geist in unsere Sicherheitsbchörde gebracht, der
denn auch bereits seine Früchte trägt und die Hauptstadt Ungarns
bald um den wenig beneidenswerthen Ruf bringen wird, der freieste
Tummelplatz alles europäischen Gelichters zu sein. Nach einem amt¬
lichen Ausweis sind im Juli dieses Jahres 72 Personen, worunter
17 weibliche, zur peinlichen Haft gebracht worden. Von dieser
Anzahl wurden 18 entlassen, 33 zu sogenannten Commissionalstrafen
verurtheilt, die zwei Wochen Gefängniß oder 2ü Stockprügel nicht
überschreiten dürfen, und 2t einer ernstlicheren Untersuchung unter¬
zogen. Die meisten davon waren wegen Diebstahl unter erschweren¬
den Umstanden, wegen Raufereien mit Verwundungen u. tgi. festge¬
nommen worden. Blos 17 waren davon wirklich in Pesth geboren,
39 aus Ungarn gebürtig und die übrigen 16 Fremde aus Oesterreich
und dem Auslande. Die Pesther deutsche Zeitung theilt sie auch noch
nach Confessionen ab und findet, daß es ü!> Katholiken, 2 Protestan¬
ten, 2 Griechen und 13 Juden sind. Sie begleitet diese Elassisication
mit einem Lobsalm auf die Reformirten, welche gar kein Contingent
zu dieser unrühmlichen Liste geliefert, und mit einem Ausfall auf die
Juden, welche allerdings ganz unverhältnißmäßig repräsentirt sind.
Doch scheint dieses Blatt zu vergessen, daß eine unterdrückte Volks¬
klasse kaum als vollkommen zurechnungsfähig zu betrachten sein dürste,
indem Druck Laster erzeugt, welche von dem confessionellen Unterschied
ganz unabhängig erscheinen würden, sobald der Staat den confessio¬
nellen Unterschied nicht zur Bedingung der Unterdrückung gemacht
hätte. Die vollständige Zurechnungsfälligkeit beginnt erst mir der
vollständigen Freiheit und selbst da müßte noch die Sünde der Ver¬
gangenheit in die Rechnung gezogen werden. Ein großes Uebel, das
die Anhäufung verdächtigen Gesindels ungemein erleichtert, liegt in
der Art, wie der Schub hier zu Land beschaffen ist. Blos bis vor
das Weichbild der Stadt werden die Schüblinge mittelst Polizeiindi¬
viduen transportirt, dort aber von Bauern übernommen, welche in
Anzahl denselben nichts weniger als gleichgestellt sind, was den Va¬
gabunden das Entspringen sehr erleichtert, zumal der Bauer kein In¬
teresse dabei hat, die transportirren Landstreicher weiter zu bringen,
und froh ist, wenn er seines Auftrags ledig heimkehren kann, um
die Anzeige zu machen, daß der Transport entwischt sei. In so lange
in Betreff der Fortschaffung keine andere Gepflogenheit getroffen wird,
kann auch mittelst des Schubs kein anderes Resultat erzielt werden;
im schlimmsten Falle sollte man Militär zur Eskorte benutzen, wie
denn überhaupt gar Vieles, was hier und dort den Gemeinden zur
Last fällt, den Soldaten aufgetragen werden könnte, die man gewöhn¬
lich dort gar nicht sieht, wo sie nützlich und vollkommen am Platze
wären, indeß sie dort, wo die Kräfte der Bürgermiliz vollkommen
ausreichen würden, eine oft sehr zweideutige Heldenrolle spielen.
Diese Bemerkung führt mich auf die jüngsten Vorfälle im be¬
nachbarten Croatien, die uns eine Saat von Drachenzähnen dünkt,
aus welcher früher oder spater geharnischte Männer erstehen werden.
Bei der Beamtenwahl zu Agram trug Herr Sumich, der Kandidat
der magyarischen Partei, den Sieg davon, was bei dem Umstand,
daß die kön. ungar. Hofkanzlei zu Wien zu Gunsten des von den
Turopolyer Bauernedelleuten geübten Stimmrechts käme, zweifelhaft
sein konnte. Auf dem Marktplatz siel aus dem Hause eines der ma¬
gyarischen Partei angehörigen,Fiskals auf die besiegte Schaar der Jl-
lyrier ein Pistolenschuß, welcher eine greuliche Verwirrung hervorrief,
indem die Beleidigten das Haus stürmten und der Schrecken die un-
betheiligte Menge ergriff, welche jetzt nach allen Seiten drückte, um
den Platz zu räumen, der der Ort ernster Ereignisse zu werden drohte.
In diesem Augenblick sperrte aber das zur Restauration ausgerückte
Militär die Zugänge des Marktes und als der Andrang, was vor¬
auszusehen war, trotz dieser unzeitigen Maßregel nicht abließ, so gaben
die Truppen Feuer zu wiederholten Malen und in angemessenen Pau¬
sen. Niemand beschreibt das Schauspiel, das in diesem Moment der
Marktplatz mit seinem verworrenen Menschenknäuel, der sich in Todte,
Verwundete und Geängstigt- auflöste, darbot. Zehn Leichen, und
nahe an 5l) Verwundere wurden hinweggetrage.n, es war ein grä߬
licher Anblick, der das Gefühl begreifen läßt, welches sich der Bevöl¬
kerung bemächtigte, die sich der Gewalt einer wilden Soldateska preis¬
gegeben sah.. Niemand will jetzt das verhängnißvolle Eommandowort:
F.ner! ausgesprochen haben, obschon, die mörderischen Gewehrsalven
mehrmals und in ordentlichen Awischenräumcn erfolgten. sowol
Graf Heller, als der das Bataillon befestigende Oberstlieutenant Sar-
tory leugnen, den Befehl zum Dreinschießen ertheilt zu haben. Jeden¬
falls hat der Schuldige eine schwere Verantwortlichkeit auf sich gela¬
den, die von der zur Untersuchung des Thatbestandes ernannten Com¬
mission gewiß näher ermittelt wird. Es hätte nicht die gesetzlich vor¬
geschriebene Aufforderung zum Auseinandergehen Statt gefunden und
selbst in diesem Falle hätte die Räumung des Platzes durch einen
Bajonetangriss erzweckt werden können, ohne gleich zur Anwendung
des mörderischen Schießgewehrs schreiten zu müssen. Allem Anschein
nach hat der kommandirende Stabsoffizier in der Verwirrung selbst
den Kopf und jene Besonnenheit verloren, welche freilich nicht Jeder¬
manns Sache ist, aber ohne welche man kein Pferd besteigen muß,
um eine Truppe unter schwierigen Verhältnissen zu befehligen, sondern
im stillen Zimmerchen seinen Ruhegehalt verzehren soll-
Im grellen Gegensatz zu diesem Blutvergießen bei einem Anlasse,
der kein so heroisches Mittel erheischte, steht nach der allgemeinen
Meinung das Benehmen der Behörden an der türkischen Grenze, wo
der Adler Oesterreichs seit lange her den Nimbus verloren hat, wel¬
chen die Waffenthaten des Prinzen Eugen von Savoyen und des
Feldmarschalls Laudon ihm verliehen. Die anwohnenden Bosnier
tragen eine für das österreichische Bewußtsein so verletzende Gering¬
schätzung bei jeder Gelegenheit zur Schau, daß die neuerlichen Brüche
des Landfriedens ohne Zweifel weit energischer hatten geahndet werden
sollen, als dies in der That geschehen. Mehrere an österreichischen
Unterthanen verübte Mordthaten, die ohne Genugthuung blieben, nö¬
thigten endlich den Obersten Zellochich mit einer Angriffscolonne von
2(tW Mann ins böhmische Gebiet einzurücken und den Ort Pomiszd
zu berennen. Doch schon nach Einäscherung einiger Hauser verließ
der Oberst, da in den vom k. k. Hofkriegsrath erlassenen Verhaltungs¬
normen für die Militärgrenze nur 24 Stunden zu einer von den
Umständen geforderten Razzia bemessen sind und diese Frist bereits
überschritten war, wieder das feindliche Gebiet, wurde aber auf seinem
Rückzüge von den nachdringenden Bosniern dergestalt angefallen, daß
er über IW Mann an Todten und Verwundeten verlor, ja es fehlte
wenig, daß nicht die ganze Schaar umzingelt und gefangen worden
wäre, denn man hatte bei dem Uebergang über die Sau den in den
ersten Anfangsgründen der Taktik aufgestellten Grundsatz vergessen,
welcher besagt, daß jeder Uebergangspunkt, sobald man ihn nicht mehr
braucht, zerstört, oder, wenn man ihn noch bedarf, auf die beste
Weise geschützt, wo möglich selbst befestigt werden muß. Oberst
Zellochich ließ indeß bei der Schiffbrücke über den Saufluß blos
ein geringes Detachement und marschirte mit dem Kern seiner Trup¬
pen auf den Angriffspunkt los. Jetzt, wo er wieder das jenseitige
Ufer erreichen wollte, fand er das Detachement zersprengt, die Brücke
in den Händen der Bosnier, die, ohne jemals einen taktischen Eours
gehört zu haben, sich bei Zeiten und mit überlegenen Streitkräften der
Schiffbrücke bemächtigt hatten. Nur einem mit großem Menschenver¬
lust und jenseitiger Hilfe durchgeführten Kampfe gelang es, den Rest
der ausgezogenen 2WV Mann auf österreichischen Boden herüberzu¬
bringen. Doch statt mit dem Frühesten nach dem böhmischen Ufer
wieder aufzubrechen und die erlittene Scharte, die nichts weniger als
einer genommenen Rache ähnlich sah, begnügte man sich, einige Tau-
send Mann als drohende Demonstration an der Grenzlinie zusammen¬
zuziehen und den Weg der Unterhandlungen einzuschlagen, der bei die¬
sem rohen Volke, wo blos der Säbel wirkt, immer ein Verlorner ist.
In diesem Geiste handelte der Feldmarschalllieutenanc Baron Wald-
stellen, als er an der Militärgrenze das Commando führte, und ihm
allein verdankt Croatien die lange Ruhe, denn es in Folge der der¬
ben Züchtigung der böhmischen Räuber von dieser Seite genoß. Der
jetzige commandirende General-Feldmarschnlllieutcnant von Dahler scheint
diesen hier allein wirksamen Weg ritterlicher Einschreitung verlassen zu
wollen und einem diplomatischen Temporisiren den Vorzug zu geben,
das nirgends schlechter angewendet ist, als gegen diese schlauen und
gewaltthätigen Barbaren, welche blos durch Furcht zu zügeln sind.
In diesen Tagen verloren wir einen echt deutschen Biedermann,
der als ein Muster von Bürgertugend und schlichter Ehrenhaftigkeit
gelten mochte. Er hieß Teufelsdorfer und war seines Handwerks ein
Geigenmacher. Durch seine Rechtschaffenheit, seinen Freimuth und
die Bereitwilligkeit dem Unglücklichen zu helfen, hatte er sich ein an
Verehrung grenzendes Ansehen erworben, das ihm Niemand beneidete,
obschon es ihm manche ungesuchte Auszeichnung zu Wege brachte.
Er bekleidete die Hauptmannsstelle beim Schützcncorps und deshalb
verherrlichte sein Leichenbegängnis; selbst militärischer Pomp. Zwanzig¬
tausend Menschen folgten dem Leichenwagen.
Zwei Dinge beschäftigen derzeit am meisten die Zungen der zahl¬
reichen Philisterweir, nämlich die beabsichtigte Erhöhung der Tasse
Kaffee in den Kaffeehäusern von vier auf sechs Groschen, die von
den Kaffetiers durch den immensen Aufwand in ihren elegant herge¬
stellten Etablissements gerechtfertigt wird, und die Entscheidung der
lange Jahre schwebenden Vackerfrage, welche alle Liebhaber von eßba¬
ren Luxusbrod in Verzweiflung setzte. Die löbliche Bäckerzunft der
guten Stadt Pesth halte sich die Einrichtung beigelegt, daß nur im¬
mer drei Bäckermeister im Jahre das Recht besitzen sollen, Luxusback¬
werk zu erzeugen und diese monopolisirte Befugniß jedes Jahr an drei
andere Mitglieder ihrer Zunft überzugehen habe. An und für sich
mochte in dieser Bestimmung der Innung eben kein wesentlicher Nach¬
theil zu finden sein, doch dieser zeigte sich bald, wie denn jedes Mo¬
nopol zum Schlimmen führen und der menschlichen Natur gemäß
führen muß. Drei Bäckermeister, welche sich auf die Erzeugung die¬
ser Luxuswonne hauptsächlich eingerichtet, kauften nun in jedem Jahre
den an die Reihe kommenden Befugten ihre Befugniß ab und wußten
sich dergestalt in dem Besitz des Monopols bleibend festzusetzen, was
freilich nicht zum Vortheil der Consumenten ausschlug, die sich fortan
die Zähne ausbeißen konnten an den harten, spröden Producten ihrer
Kunst. Diese Angelegenheit brachte zuletzt einen allgemeinen Haß ge¬
gen diese Gilde hervor, bei welchem sich Alt und Jung betheiligen
konnte, weil Alle unter dem Druck des Monopols litten, das blos
den Säckel Einiger füllte. Nachdem die Sache zu mancherlei Rei¬
bungen und Prozessen geführt, kam sie endlich vor die kompetente
Behörde und diese that ihre Schuldigkeit und vernichtete diese Mißge-
geburt zünftiger Anmaßung, so daß jetzt jeder Bäckermeister ohne
Ausnahme sich Jahr aus Jahr ein mit der Erzeugung des sogenann¬
ten Luxusbackwerks beschäftigen kann, ja selbst muß, weil er sonst in
Verruf erklärt und auch seine sonstigen Kunden verlieren würde.
Den hiesigen Studenten ist es während der Unruhen in Leipzig
streng verboten'gewesen, dahin zu reisen.*) In Leipzig selbst ging
zu jener Zeit ein Hallischer Pedell beobachtend umher. Man wollte
nicht, daß die Hallischen Studenten in Leipzig mit „auf Ordnung
halten sollten," vermuthlich weil man glaubte, daß sie dazu in Halle
selbst Gelegenheit genug hätten.
Während Heinrich Leo in Halle Decan der philosophischen Facul-
tät ist, führt man „die Kritik" zu Fuße deines unsere Provinz auf
die Festung und ein Pastor bei Magdeburg hat Dorfarrest. Ich theile
die Begeisterung für Pastor Uhlich nicht; aber ich bin erstaunt über
die Gleichgültigkeit des bisher für ihn schwärmenden Publikums gegen
die in Bezug auf ihn und die Versammlungen der protestantischen
Freunde in Preußen ergriffenen Maaßregeln. Vor Kurzem hielt man
eine solche Versammlung im Braunschweigischen auf der Asse. Ein
Magdeburger, der sie besuchte, zeigte mir eine Adresse, die von dort
an den in Pömmelte festgehaltenen Pastor Uhlich entworfen und deren
Besorgung ihm übertragen war. Sie zahlte kaum hundert Unterschrif¬
ten; die Versammlung selbst wurde auf fünftausend Personen geschätzt.
Und auch diese hundert Unterschriebenen begnügten sich damit, dem
Pastor Uhlich einige Schmeicheleien zu sagen über sein Talent und
gegen dies Verfahren der preußischen Regierung die größte Rücksicht
zu beobachten. Von dem Ausbleiben des sehnlich erwarteten „Gei¬
stes," der noch dazu die Versammlung schriftlich haranguirt hatte,
wurde mit so harmloser Resignation gesprochen, als ob Zahnschmerzen
ihn auf seiner Pfarre zurückgehalten hätten. — Uebrigens war diese
Versammlung die erste im Braunschweigischen. Die Braunschweiger
besuchten bisher die Zusammenkünfte in der Provinz Sachsen, nament¬
lich in Halberstadt und Groß-Oscherslebcn. Seit sie hier verboten sind,
zieht man von hier auf der Eisenbahn über die braunschweigische
Grenze nach der Asse, einem lieblichen Gebirge bei Wolfenbüttel, das
bisher nur jährlich einmal um Pfingsten einer Anzahl stiller Prediger¬
familien zum idyllischen Sammelplatze dienen mußte.
Die deutschen Architekten haben eine Versammlung in Halber¬
stadt gehabt. Ich sah sie auf einem Ausfluge, den sie von dort, be¬
gleitet von der Familie des Bürgermeisters, mit einem Extrazuge nach
Braunschweig gemacht hatten, vermuthlich um das prächtige Schloß
zu sehen, das die Braunschweiger ihrem neuen Herzog bauen, nach¬
dem sie den alten Herzog fortgejagt und sein Schloß in Brand ge¬
steckt haben.
Mit einem Prolog von Ludolf Schleyer wurde vor Kurzem das
Halliscke Theater eröffnet, auf dem in Zukunft eine Magdeburger
Truppe regelmäßige Vorstellungen zu geben gedenkt. Das erste Stück,
das dieselbe spielte, war „Mutter und Sohn" von Madame Birch-
Pfeiffer. Nur das Spiel der Frau Klingemann hat uns gefallen;
sie gab die Gräfin Mansfeld, eine gute Hausmutter, welche über ihre
Söhne herrscht wie ein Regierungsb.vollmachtigter über die Studen¬
ten, z. B. strenge Haussuchungen halten läßt, wobei nicht einmal die
Taschen des jungen Grafen als Asyl für Liebesbriefe und dergl. ver¬
schont bleiben.
— Alle Welt ist erstaunt, daß man aus Eöln und Bonn, aus
München und Coburg nicht mehr pikantes Material, nicht mehr cha¬
rakteristische Anekdoten zu lesen, zu hören, ja nicht einmal zugeflü¬
stert bekommt. Man vergißt, daß unter allen Reisenden keiner ein
so monotones und geplagtes Dasein führt als ein reifender Fürst. Sein
Leben besteht aus drei Elementen: Aus der Anrede, aus dem offi¬
ziellen Gastmahl und aus dem Ehrenball: eine und. dieselbe
Langweiligkeit wird in drei Schüsseln aufgetischt. Die Anrede — wer
kennt sie nicht? Gibt es etwas Unerträglicheres als alle vier bis sechs
Meilen all' die Abgeschmacktheiten und Süßigkeiten anhören zu müssen,
mit welchen die Bürgermeister von Krähwinkel die Hoheit regaliren?
Wer nur ein wenig gereist ist, weiß, daß die Geißel aller Landstra¬
ßen das Heer von Bettlern ist, welche uns mit monotonen Gebeten bei
jedem Bergaussahren umzingeln, oder die herumziehenden- Hausirer,
die uns auf jeder Station ihre Waaren aufdringen wollen. Doch
hat man bei diesen Leuten wenigstens den Trost, sie zu allen Teufeln
jagen zu können; aber der reisenve Fürst ist nicht so glücklich daran.
Da gibt es eine Ehrenbegleitung, die wahrend des ganzen Weges
ihn mit einer Wolke von Staub und mit einem betäubenden Ge¬
trappel umgibt, an jedem Meilenzeiger ein Haufe von Maulaffen,
die man grüßen muß, wenn man nicht als unfreundlich gelten will,
an jeder Barriere eine Truppe sckwarzcr Fracks, den Bürgermeister
oder Kreishauptwann an der Spitze, die den Herrn haranguiren und
die er wieder haranguiren muß, Fragen und Antworten, die sich über¬
all wiederholen und immer in demselben Ton. Da gibt's keine Mög¬
lichkeit, diese Leute zu allen Teufeln zu jagen. Man muß im Ge¬
gentheil ihre Redekunst bis auf die Nagelprobe aushalten, ja man
muß ihnen sogar noch mit etwas schmeichelhaften antworten. Gott
ist groß! Dem Bürgermeister Michel, dem in seinem Leben Nie¬
mand etwas schmeichelhaftes gesagt hat, wurde vom König von Bel¬
gien geschmeichelt. Man sagt, es werde den Fürsten auf der Reise
so viel geschmeichelt. Aber sie selbst schmeicheln noch mehr. Und nun
das Gastmahl! Wie schlecht speist man bei großen Banketten — ent¬
weder weil man zu viel oder zu wenig ißt. Kommt nun erst das
Dessert — Himmel, welche Toaste gibt's da zu hören oder gar zu
erwiedern. Was den Ehrenball betrifft, so braucht man die Qual
desselben nicht erst zu schildern. Große Toilette machen zu müssen,
um sich einen Augenblick bei Lichte zu zeigen, die Männer mit
Freundlichkeit und Herablassung zu grüßen, den Damen mir Liebens¬
würdigkeit und Würde zuzulächeln, zu Tanze auffordern, nicht dieje¬
nigen, die man möchte, sondern diejenigen, welche die Etiquette will,
dann erst sich zurückziehen, um drei, vier Stunden zu schlafen, in
einem Gemache, wo gerade die von gegenüber strahlende Prachtillu-
mination den Schlummer am ersten verscheucht. Auf diese Weise ge¬
schieht es, daß die Anreden so ermüden, daß man nicht essen kann,
daß das Festessen solche Unverdaulichkeit erregt, daß man an dem
Balle keine Freude finden kann, daß der Ball endlich so den Kopf
betäubt, daß man nicht schlafen kann. Und dann will das Publi¬
kum Reisebilder lesen. Fußreisende und Diligencenfahrer erleben Pi¬
kantes. Einem reisenden Fürsten würde ein Verleger keine fünf Tha¬
ler für den Bogen bezahlen.
— In der Leipziger periodischen Presse werden manche Aende¬
rungen signalisirt. Biedermann's „Monatsschrift" wird zu einer Vier¬
teljahrsschrift sich umgestalten. — Keil's „Wandelstern" hat zu erscheinen
aufgehört — wenigstens ist der bisherige Redacteur zurückgetreten.
Die Concession dieses Blattes lautete nur auf Belletristik; da es je¬
doch in letzterer Zeit sich häusig mit Politik beschäftigte — und wer
kann heute genau die Grenzlinie zwischen Literatur und Politik be¬
zeichnen? — so gaben die letzten Vorgange Veranlassung, die Zeitschrift
auf ihre ursprüngliche Concession zu verweisen. In Folge dessen hat
Herr Keil die Redaction niedergelegt. — Die Jllustrirte Zeitung wird
neben der Novellenzcitung noch einen Ableger machen: eine Theater¬
zeitung. Diese soll dann die wahre Jllustrirte Thealerzeitung werden,
wie in Cöln von den beiden Farina's jeder das wahre Cölnisch Wasser
ankündigt. Uebrigens hat Bauerle Herrn I. I. Weber das Anerbie¬
ten gestellt, ihm die Wiener Theaterzeitung gegen eine Rente zu über¬
lassen. Herr I. I. Weber hat zwar das Anerbieten abgelehnt, kei¬
neswegs aber abgeschlagen und es könnte noch möglich sein, daß wir
diese unternehmende Verlagshandlung sich in Oesterreich etabliren se¬
hen. Noch eine andere Theaterzeitung wird zu Anfang des nächsten
Quartals unter Redaction des Herrn Kosska angekündigt. — Von neuen
politischen Blättern hört man wenig. Eine Reaction scheint die
Leipziger Presse in die Belletristik wieder zurückdrängen zu wollen.
Wird dieser Wind vorübergehen, oder wird er zum bleibenden Wetter
werden?
—- Houel's „Buch für Winterabende," das seit vier Jahren ein
lieber Gast in so vielen deutschen Bürgerfamilien geworden, ist nun
auch für das Jahr 1846 erschienen. Es ist ein offenbarer Beweis
unserer fortschreitenden politischen Bildung, wenn solche gesunde Schrif¬
ten, die mit den öffentlichen Justanden in einem populären, aber ern¬
sten Tone sich beschäftigen, eine so große Theilnahme unter dem Mit¬
telstande finden. Das Buch für Winterabende ist in mehreren tau¬
send Exemplaren verbreitet und der Inhalt dieses reichhaltigen Volks-
kalcnders wird mit jedem Jahre tüchtiger und gewählter. In dem
vorliegenden Jahrgange sind namentlich die Aufsätze: .„Ueber deutsche
Auswanderungen" (von Carl Andree), „Eine Weserfahrt" (von Op-
permann), „Zeugnisse für Oeffentlichkeit und Mündlichkeit," dann
„Die preußische Verfassungsfrage" (von Houel) ganz vortrefflich. Die
drei beigegebenen Bildnisse jedoch hätten wir entweder besser oder ganz
weg gewünscht.
— Heinrich Laube hat dieser Tage seinen Leipziger Freunden ein
neues Stück vorgelesen: der Held ist Gell ert. Es soll unverzüg¬
lich an alle deutsche Bühnen versendet werden. Gutzkow's „Drei¬
zehnter November" hat in Dresden ein ganz entgegengesetztes Schick¬
sal als in Berlin gehabt; es wurde mit großem Beifalle aufgenom¬
men und die Darsteller wurden gerufen.
Es ist über diesen Gegenstand viel gesprochen, geschrieben und
gefabelt worden; man hat sogar behauptet, Reisende hätten in Wei¬
mar nicht einmal Schiller's Ruhestätte erfahren können und deshalb
hat man die Einwohner als Vandalen bezeichnet; ja der Obermedi-
cinalrath von Froriep hat sogar im Schiller-Album (Seite 77) be¬
hauptet, außer ihm und dem Schwager des Verstorbenen, Geheime-
rath von Wollzogen, sei Niemand der Leiche gefolgt, eine Behaup¬
tung, über deren Irrthum er sich leicht hätte in Weimar belehren
lassen können, da selbst mehrere seiner Bekannten bei der Beerdigung
zugegen waren. Um endlich einmal das Publikum über die wahren
Umstände in Kenntniß zu setzen und die Einwohner Weimars von
dem Vorwurfe des Jndifferentismus gegen ihren großen, verstorbenen
Mitbürger zu rechtfertigen, dazu wird in der Folge ein actenmäßiger
Bericht dienen, welchen Herr Hofrath Schwabe, erst ganz neuerlich
öffentlich dazu aufgefordert, jetzt zu veröffentlichen um deswillen An¬
stand zu nehmen scheint, weil er besorgt, es könnten sich manche noch
lebende Personen dadurch unsanft berührt fühlen.
Schreiber dieses, welcher von den Umständen durch Mittheilun¬
gen glaubwürdiger, sowohl bei dem Begräbniß Schiller's als bei
dessen Beisetzung in die großherzogliche Gruft zugegen gewesener Per¬
sonen genau unterrichtet ist, will daher folgende Notizen einstweilen
hier mittheilen.
Es ist ein Irrthum, wenn behauptet wird, eS habe sich darüber,
durch wen Schiller's Leiche an seine Ruhestätte gebracht werden solle,
eine Irrung entsponnen, indem sowohl die Schneider als Zimmer-
lente eine zunftmäßige Befugniß zur Tragung der Särge gellend
gemacht hätten: von einer solchen Berechtigung ist hier Niemandem
etwas bekannt, auch weiß hier Niemand etwas davon, daß bei
Schiller'S Beerdigung damals ein solches Ansinnen gemacht worden
sei. Es war zu jener Zeit üblich, daß diejenigen Handwerker, welche
für den Verstorbenen gearbeitet hatten, sich freiwillig zu Trägern
erboten, außerdem wurde das Tragen durch gedungene Träger ver¬
sehen, auch Pflegte bei Beerdigung vornehmer Personen das Tragen
der Leichen durch Candidaten der Theologie gegen eine Remunera¬
tion versehen zu werden; bei Schiller'S Leiche waren die Handwerker
zum Tragen bestimmt worden, kaum halte aber der damalige Sekre¬
tär, jetziger Hofrath Schwabe, dies erfahren, als er sofort Aiistalten
traf, eine weniger ordinäre Art der Bestattung einzuleiten; er nahm
mit mehrerern seiner Bekannten Rücksprache, um dem großen Manne
die letzte Ehre zu erzeugen, und alle fühlten sich bereit und nahmen
den Antrag dankbar an. Herr Schwabe begab sich nun zur Hof¬
räthin von Schiller, um von ihr die Genehmigung zu der veränder¬
ten Maßregel einzuholen. Dieselbe befand sich jedoch in einem Zu<
stände, welcher ihr nicht erlaubte, Jemand zu sprechen und ließ zur
Antwort sagen, daß sie den Oberconsistorialrath Günther ersucht habe,
alles zur Beerdigung Erforderliche zu besorgen. Herr Schwabe ver¬
fügte sich sogleich zu diesem und bat ihn, daß er die besprochenen
Handwerker abbestellen lassen möge, weil er und mehrere seiner Be¬
kannten sich es nicht würden nehmen lassen, Schillern die letzte Ehre
zu erzeigen und das Tragen zu verrichten. Günther machte Anfangs
Schwierigkeiten, weil die Träger schon bestellt wären, allein Schwabe
beharrte auf seinem Entschlüsse und so wurde Schiller von ihm, sei¬
nem Bruder, dem nachmaligen Geheime» Hofrathe or. Schwabe,
Geheimen Hofrath Helbig, Hofbildhauer Klauer und mehreren An¬
dern wirklich bis in das sogenannte Kassengcwölbe getragen. Dieses
Gewölbe war dasjenige Local, welches der Weimarschen Landschaft
angehörte und deshalb jenen Namen führte; es wurde bei Beerdi¬
gung angesehener Personen unentgeldlich zur Ruhestätte überlassen
und steht noch jetzt, nachdem der alte Friedhof durch Wegräumung
der meisten Erbbegräbnisse und durch Sandwege und Zierpflanzen
zur Erleichterung der Communication für das Publikum geöffnet
worden ist, an seiner alte» Stelle am Haupteingange, wird jetzt nicht
mehr benutzt und dürste vielleicht bald ganz verschwinden, um einer
Blumenanlage Platz zu machen. Die in diesem Gewölbe beigesetz¬
ten Särge waren alle mit einer metallenen Platte mit der Jahrzahl,
dem Namen und Charakter der darin ruhenden Personen versehen,
und es ist daher in der That unbegreiflich, wie schon nach dreißig
Jahren eine Ungewißheit darüber entstehen konnte, wo Schiller's sterb¬
liche Ueberreste sich befänden. Als der Kanzler, jetzt Geheimerath
von Mütter, man weiß nicht durch welche Veranlassung, ans die
Idee gerieth, eine Apotheose Schiller's dadurch auszuführen, daß der
Schädel der Vergessenheit und dem Untergange entrissen und in der
fürstlichen Bibliothek als eine heilige Reliquie der Nachwelt aufbe¬
wahrt werden solle, konnte Schiller's Sarg nicht aufgefunden wer¬
den. Durch die Nässe in der an dem tiefsten Theile deS Friedhofes
befindlichen tiefen Gruft, waren die meisten Särge verfault und zer¬
fallen, und somit entstand allerdings der Zweifel, welche der vorhan¬
denen menschlichen Ueberreste Schillern angelwrt haben könnte; doch
war man der Meinung, daß bei der eigenthümlichen Formation von
Schiller'6 Kopfe jener Zweifel beseitigt werden würde, und der da¬
malige Bürgermeister, Hofrath Schwabe, übernahm aus eigenem
Antriebe das mühevolle Geschäft, durch eine genaue Untersuchung
Alles aufzubieten, um wenigstens das Wichtigste von Schiller's irdi¬
schen Ueberresten, nämlich den Schädel, aufsuchen zu lassen.
Diese Mühe wurde auch durch guten Erfolg belohnt, denn nach
langem Suchen sand sich auch der Schädel. Da jedoch bei diesem
Nachsuchen nicht mit der nöthigen Sorgfalt zu Werke gegangen wor¬
den sein mochte, so war es schwierig, die übrigen Gebeine heraus¬
zufinden. Göthe hatte kaum hiervon Kenntniß erhalten, als er auch
beschloß, sich nun selbst mit der Sache zu befassen. Er ließ zu dem
Ende den Prosector Schröder und den Bibliotheksdiener Färber von
Jena kommen, indem er glaubte, daß, da ersterer Schillern genau
gekannt hatte und letzterer bei demselben Bedienter gewesen war, beide
im Stande sein würden, das ganze Gerippe vollständig herzustellen.
Zu diesem Zwecke wurden sämmtliche im Kassengcwölbe vorgefunde¬
nen Gebeine bei Nachtzeit in das Bibliotheksgebäude gebracht und
von Schröder das vollständige Skelett zusammengesetzt. Der Schä¬
del, an welchem sich noch einige blonde Locken zeigten, befand sich
einige Zeit bei Göthen und man kennt das Gedicht:
Daß dieser Schädel einige Zeit darauf auf der Bibliothek in
einem Schranke, auf welchem die colossale Büste Schiller's von Dan¬
necker aufgestellt ist, feierlichst niedergelegt wurde, ist nebst dem dar¬
über abgehaltenen Protokoll, durch den Druck veröffentlicht worden
und es soll hier nur bemerkt werden, daß sich Göthe dabei durch
seinen Sohn vertreten zu lassen für gut fand. — Einige Monate
darauf kam der König von Baiern nach Weimar und besuchte in
Begleitung des Großherzogs die Bibliothek, wo ihm denn auch
Schiller's Schädel vorgezeigt wurde. Wie erstaunte man aber, als
der König sich nicht allein tadelnd, sondern sogar entrüstet über diese
Procedur aussprach, solche für eine Profanation erklärte und fragte,
wie es möglich sei, daß an einem Orte, wo Herder die Humanität
gepredigt, so etwas habe vorgehen können. Diese königliche Aeuße¬
rung gab den Impuls zu der Translocation sowohl deS Schädels,
als der übrigen Ueberreste in der großherzoglichen Familiengruft.
Es wurde zu dem Ende eine Art von Sarkophag von Eichenholz,
ganz nach welcher Form später auch Göthe's Sarg gearbeitet wurde,
gefertigt und das vollkommene Ekelet darin förmlich verschlossen, und
dann ohne weitere Feierlichkeiten Sonntags den 26. December 1827
früh zwischen drei und vier Uhr beigesetzt.
Nach dieser treuen Darstellung der Sache wird man wohl den
Einwohnern Weimars, bei welchen der große Verstorbene wie im¬
mer in hohem Ansehen steht, den erwähnten Vorwurf nicht machen
können und wir wollen hier noch zweier Umstände gedenken, welche
es bestätigen, daß man weit entfernt war, Schillern nach seinem
Ableben sogleich der Vergessenheit dahinzugeben. Sogleich nach dem
Ableben wurde die Gypsmaske des edlen Verblichenen von dem
Bildhauer Klauer gefertigt, wovon das Original noch jetzt im Besitz
des Hofraths Schwabe ist; den Tag nach der Beerdigung wurde
in der auf dem Kirchhofe nur wenige Schritte von dem Kassenge¬
wölbe befindlichen Jacobskirche Mozart's Requiem von der großher-
zoglichen Hofkapelle aufgeführt und von dem Generalsuperintendent
Voigt die Trauerrede bei einem ungeheuern Zudrange von Zuhörern
gehalten.
Bertha hatte schon als Kind leidenschaftlich getanzt und seitdem
ihren Tanzunterricht fortgesetzt, ohne in Gesellschaft zu tanze». Sie
war eine Ballettänzerin und weil sie heut zum ersten Mal auf einem
Balle war, tanzte sie auch wie eine Künstlerin. Ihre Mienen hatten
das graciöse Lächeln, ihre Bewegungen den leichten schwebenden
Aplomb, und ihren Füßchen entschlüpfte unwillkürlich eilt Battcment
oder gar eine Pirouette. — Zum Glück hatte sie Geschmack und
Delicatesse genug, sich zu mäßigen, und schien nur mit Leib und
Seele zu tanzen. Dennoch hatte dieß Tanzen wie ihre Gespräche
und ihr ganzes Wesen etwas, was über das Niveau der Gesellschaft
hinausging, eine Folge einsamer Erziehung, die stets etwas zurück¬
läßt, was einer Ueberspannung ähnlich sieht.
Bertha bezauberte heute alle Herren und besonders die Fran¬
zosen; aber die Damen waren empört, zuckten die Achseln, rümpf¬
ten die Nasen und flüsterten: In Allem verräth sie die Rotüriere.
Warum ist sie hier, sie gehört nicht zu uns. Und wie freundlich sie
mit den Herren thut, die doch nur ihren Millionen huldigen! —
Welche Feindseligkeit! dachte Bertha, die sie flüstern hörte. Ich bin
doch gewiß einfach genug gekleidet, allein sie gönnen mir nichts; ich
komme nie wieder hierher. — Mehr als dieß aber verletzten sie
andere Aeußerungen. Man machte sich auch über Oskar lustig:
DaS Gräflein, wie eS dasteht. Ein Ritter Toggenburg; das wiro
tragisch, er kann sie nicht heirathen. Und Bertha schenkte ihm de߬
halb aus ihren schwarzen zauberischen Augen hin lind wieder einen
mitleidigen vorwurfsvollen Blick.
Man ging zu Tische; der leichte französische Ton herrschte.
Die Herren brachten Toaste aus und wechselten häufig die Platze,
um bald mit dieser, bald mit jener Dame sich zu unterhalten. Nur
die beiden Kavaliere an Bertha's Seite behaupteten eigensinnig ihre
Stühle und waren alles Bittens ungeachtet nicht zu bewegen, sie
abzutreten.
Pauline saß unfern von ihr und hatte den alten Streit wieder
vorgebracht; aber Bertha war heut eigensinniger als je. Ihr Ca-
valier zur Rechten nannte sich einen Jugendfreund Oskar's. Meines
Vaters Güter, sagte er, und die seinigen grenzen an einander. Er
ist weiter nichts als ein tüchtiger Oekonom, Wenn seine Ziegelöfen,
Fischbehälter, Mühlen und Schleusen im baulichen Stande sind, liebt
er die Natur. Wenn die Aussaat richtig abgemessen und ausgesäet,
das Getraide rein auSgedroschcn, die Wolle richtig abgeliefert!, auf¬
gewogen und verwahrt, die Schlosser an Böden und Vorrathshäu¬
sern gut schließen und sonst keine Locher da sind, etwas zu entwen¬
den, so havert er nicht mit der Menschheit; die Interessen der Zeit
sind ihm nicht so wichtig, wie die Interessen der Kälber. Er schwärmt
für Schweine und Federvieh und die Pferdezucht erfüllt seine Seele.
— Gott bewahre vor solchen Jugendfreunden, erwiederte Bertha.
— Wollen sie selber von ihm hören? Ich habe das Buch nie
gelesen; ich will ihn vorstellen.
— Bitte, bitte, thun Sie das, Herr Baron, rief Pauline und
Herren und Damen baten einstimmig darum.
— Thum Sie es! sagte endlich auch Bertha, ich will mit ihm
reden und Sie werden sehen, daß er Geist hat. Aber die Philo¬
sophie sür Damen darf nicht erwähnt werden, er kann seine Gründe
haben, nicht als Autor genannt werden zu wollen. Ich kann mich
zu einer Mystifikation, aber nicht zu einer Indiskretion entschließen.
— Das kann ein interessanter Auftritt werden, sprach der junge
Baron. Wohlan! craminiren Sie ihn, ich räume ihm meinen Platz
ein, es ist el» großes Opfer.
Er holte Oskar, um ihn vorzustellen, und räumte ihm seinen
Platz ein. — DaS glänzende Paar saß beisammen. Er eine hohe,
vornehme Jünglingsgestalt, sie eine reizende, zarte Jungfrau, und
doch lag eine gewisse Aehnlichkeit in Beiden; eine Sympathie der
Seelen spiegelte sich auch in ihrem Aeußeren wieder. Zwei dunkle
schwärme»ische Augenpaare begegneten sich, vor Innigkeit blitzend, und
ließen betroffen von einander ab, während die Wangen höher glüh¬
ten. — Es schien in der That ein interessanter Austritt zu werden.
Bertha begann: Sie haben nicht getanzt, Herr Graf?
— Um Sie zu bewundern. Sie haben gewiß als Kind schon
tanzen gelernt und viel getanzt.
Eine ganz richtige Bemerkung. Bertha war zufrieden und sprach:
Als Kind, wo ich noch Augen hatte für den Glanz der Welt, nicht
aber für ihren Leichtsinn, liebte ich das Vergnügen mehr als jetzt.
— Es gibt auch Glanz ohne Leichtsinn, entgegnete Oskar.
Ich sehe ihn, er ist wahrhaft blendend.
Bertha war sehr zufrieden. Dieses Compliment verrieth Geist;
sie warf einen Blick des Einverständnisses auf Pauline und fühlte
sich zu einem entscheidenden Schritte entschlossen.
— Ich glaube mit ihnen einverstanden zu sein, Herr Graf,
weil ich mich auch nicht nach dem sehne, was man Erfahrung und
Lebensklugheit nennt. Es macht mich glücklich! Aber die Devi-
„ationen der Jugend und Unschuld machen glücklich und
auch ich bemühe mich die Schülerin meiner selbst zu sein. — Wenn
er dan versteht, dachte sie, so hat er die Philosophie für Damen wenig¬
stens gelesen. — Und Oskar verstand sie nicht nur; bei diesen Wor¬
ten war es um seine vornehme Ruhe geschehen; die glänzende Er¬
scheinung, die auf den ersten Blick ihn bezaubert, brachte ihm Ge¬
danken entgegen, die er nur sich gestanden hatte und aller Welt ver¬
borgen glaubte. Endlich hatte er ein Abenteuer, wie er es sich
wünschte und wie es alle seine bisherigen Träume auf's Grellste
bestätigte. Anfangs gab er sich ganz dem holden Zauber seiner Lage
hin und wagte nicht, dem Wunder nachzuforschen. Bertha aber ver¬
folgte eifrig ihren Sieg und fuhr immer dreister sort, aus der Phi¬
losophie für Damen zu plaudern. . Sie ist eine <:I.'in-ol,)'»rite, dachte
er endlich. Aber sie hat doch gar nichts Gespenstisches und Grauen¬
haftes, — und entschloß sich, sie zur Rede zu stellen.
— Warum treiben Sie dies Spiel mit mir? Sie besitzen die
Wunderkraft, die Seele eines Menschen zu durchschauen, warum ent¬
hüllen Sie meine inneren Geheimnisse hier Allen, die uns hören I
Das schien ein Bekenntniß und Bertha konnte nichts Anderes
darauf erwiedern, als: Verzeihen Sie mir meine Indiscretion, aber
ich war zu stolz darauf, Sie zu durchschauen, in welcher Gestalt
Sie sich auch zeigen. Jetzt will ich Ihre Geheimnisse ehren und
schweigen.
— Ich habe keine Geheimnisse! entgegnete Oskar. Was ich
denke, denke ich für mich, ich hoffe damit weder den Beifall der
Welt zu erwerben, noch will ich mich ihrem Mißfallen aussetzen.
Meine Gedanken können nur Werth für mich haben' und dienen mir
zum Trost und zur Beruhigung. Sie aber lassen mich eine Wun¬
derkraft empfinden, vor der ich mich demüthige. Doch wenn Sie
nur zum Scherze so mit mir verfahren, so schonen Sie mich! Be¬
denken Sie, wie tief hier jeder Spott verwundet. Reden Sie aber
aufrichtig. Sind Ihre Worte Ueberzeugung, dann — erlauben Sie
mir das Geständniß, daß diese Sympathie mich glücklich macht.
— Herr Graf! entgegnete Bertha lächelnd, jede Dame darf
ohne Crröthen eingestehen, daß sie mit Ihnen sympathisirt. Ich habe
alle Ihre Ideen zu den meinigen gemacht, bis auf eine; darf ich sie
Ihnen nennen?
— Sie sehen, wie viel mir daran liegt.
Bertha wollte überhaupt gern Recht haben und hier ihren Phi¬
losophen bei der schwächsten Seite seines Werkes packen; sie blickte
erst triumphirend ihre Freundinnen an, dann wandte sie sich zu Os¬
kar: Ich kamt mich nicht zu Ihrem Glauben an unpersönliche Un¬
sterblichkeit bekennen und will Ihnen, um Sie von meiner Aufrich¬
tigkeit zu überführen, ganz kurz sagen weshalb. Haben Sie Nach¬
sicht mit einem ungelehrten Frauenzimmer. Ihre Worte lauten —
Und ihre Hände sanken in den Schooß, ihre reizenden schwar¬
zen Augen blitzten schwärmerisch zum Himmel empor. Sie suchte
in ihrem Gedächtniß genau nach Oskar's Worten und glich jetzt in
der That einer Seherin. Dann sprach sie ernst und feierlich, als
läse sie die Worte in der Luft: Warum dat die göttliche Allweisheit
die Scheidewand gezogen zwischen uns hienieden und den reingeisti¬
gen Wesen jenseits? Sie erschrecken uns nickt als unselige Gespen¬
ster und wir legen wahrscheinlich mit Gehirn und Nerven auch daS
irdische Denken und Fühlen ab. Welch' ein« Wohlthat! Würdest
du nicht wünschen, als Kind gestorben zu sein, wenn du im Bewußt-
sein deines Sündenlebcns unter reinen, redlichen Engelsseelen bist.
Je höher die Wonne deiner Seligkeit, um so tiefer der Abgrund
deiner Erinnerung. Der allweise Gott hat die Himmel verklärt,
die Erde nur beseligt. Liebe daS Schöne, Gute, Wahre und opfere
dich für das, was du liebst. — Du findest es verklärt dort wieder
und hier hast du die Seligkeit der Opferlust.
Oskar ließ sie nicht weiter reden. Sie liest mein Tagebuch,
das unausgepackt noch in meinem Koffer liegt, mit der Herzgrube,
dachte er. — Sie macht magnetische Erperimente' mit mir auf einem
Balle. Und bleich und tief erschüttert rief er: ^»^c- tlo Luour-»l>-
seul ! vous ödes un llvmmi.
Das war ein Knalleffect, er beschloß den Auftritt. Bravo!
bravo! lärmten die Herren und einige vom Personal der französische»
Gesandtschaft brachten den Toast aus: Vivvnt I'iuiFv du c»en»»l>salir,
8un ol-urit t-t sit Ile-uno eblouisisiuito! Alles stimmte ein, Trom¬
peten schmetterten, Pauken wirbelten und die Herren verließen lär¬
mend ihre Stühle und erzählten sich: Er ist Mitverfasser der Phi¬
losophie für Damen, aber er war zu stolz und vornehm, es einzu¬
gestehen. Sie hat ihm die Maske abgezogen.
Nur Bertha war unzufrieden mit einem Triumphe, den sie zu
lebhaft verfolgt zu haben glaubte, und mit dem zärtlichsten Tone ih¬
rer Stimme sprach sie: Zürnen Sie mir nicht! Ich bin sonst nicht
leichtsinnig! Aber diesmal! — Sie wissen nicht, was mich dazu
vermocht.
— Genug, holde Seherin! seufzte Oskar. Ich kam hierher,
die Welt anzuschauen. Jetzt habe ich so viel erfahren, daß ich nor«
gen heimkehre und Wüstenrode nie wieder verlasse.
— Wäre daS meine Schuld? fragte Bertha ängstlich.
— Sie fragen? Ich habe Sie gebeten, mich zu schonen. Nach
diesen Worten nahm er seine vornehme Haltung wieder an.
Der Austritt beschloß auch das Fest. Die Herren nahmen Ab¬
schied und die Damen umarmten und küßten sich. Oskar wich der
geliebten Seherin nicht von der Seite. Er wartete im Vorzimmer,
bis sie Shawl und Mantel umgenommen. Zürnen Sie mir nicht,
Herr Graf, flehte Bertha noch einmal, auch ich bin in der Gesell¬
schaft eine andere als einsam.
— Sie sind eben so fürchterlich wie reizend! versetzte Oskar
gelassen.
— Sie sah ihn erschrocken an. Er reichte ihr den Arm, führte
sie bis zur Hausthür, sprang hastig die Haustreppe hinunter und
stieß den Bedienten zurück, um selber den Schlag ihr zu öffnen und
den Tritt herabzulassen. Dankbar reichte Bertha ihm die Hand. Er
zog sie an die Lippen. Nicht wahr, Herr Graf, fragte sie, wir
sehen uns wieder? —
— Nein, reizender Dämon! versetzte Oskar entschlossen. Trei¬
ben Sie nie wieder solch grausames Spiel mit einem Manne.
Während er den Wagen schloß war ihm, als höre er Bertha
schmerzlich seufzen. Und in der That war sie von seinen harten
Abschiedsworten tief erschüttert.
— Was habe ich ihm gethan? fragte sie sich. Verargt er mir,
«me Meinung auszusprechen, die längst gedruckt ist? Warum wider¬
sprach er nicht? Warum gab er sich gefangen? Warum giebt er
mir überhaupt seine Zuneigung und Ergebenheit auf so übertriebene
Weise zu erkennen?
Bis coour-obscur war «in weiter Weg und sie hatte im Wa¬
gen Zeit genug, nachzudenken. Bald glaubte sie, das ganze Räthsel
zu durchschauen. Einige Stellen in der Philosophie für Damen,
welche sehr aristokratisch lauteten, schienen ihr Alles zu erkläre!'..
— Er liebt mich — seufzte sie — doch habe ich keine Ahnen,
also bin ich nicht werth, seine Gattin zu sein. Alle meine Freun¬
dinnen, diese geiht- und herzlosen Geschöpfe, die stets mit mir strit¬
ten, solch' einen Jüngling gibt es nicht, und bei jedem Worte ihn
verkleinerten, diese Alle sind seiner würdig. Ich allein, die Beste un¬
ter ihnen, die stets seinen Werth erkannte, ich allein bin nicht werth,
eine Gräfin zu sein. — Es war die erste schmerzliche Erfahrung
ihres stolzen, jungen Herzens, sie weinte und erschrack über ihre
Thränen. Ich liebe ihn also! Arme Mutter, Deine Tochter ist
nicht glücklich. Aber Du sollst es nie erfahren, Du sollst nicht mit
mir weinen und Dich grämen. Er liebt mich auch! Wird er eS
seinen Eltern sagen. Nein, er wird ein leeres Herz der ebenbür¬
tigen Gattin schenken, die seine Eltern ihm zuführen. Dasselbe ver¬
mag ich auch. Wohlan, Herr Graf, ist ihr Ahnenstolz mächtiger
als Ihre Liebe, mein Jungfrauenstolz soll mächtiger sein als Ihr
Ahnenstolz. Ich bin das erste Mädchen nicht, was unglücklich liebt.
Es ist eine Prüfung und nicht seine schlimmsten Kinder sind es, die
der Himmel prüft. Niemand soll erfahren, daß Bertha auch nur
ein eitles, schwaches Mädchen war, die in dem Philosophen doch
am Ende nur den Jüngling liebte. O welch' ein Triumph für alle
meine Gespielinnen, wenn sie diese Thränen sähen.
Der Wagen hielt. Bertha stieg aus und schwebte die Treppe
hinan. Auf der Gallerie, die zu ihrem Zimmer führte, trat ihr die
Räthin entgegen im Nachtkleide und ein Licht in der Hand. Be¬
sorgnisse hatten sich wach erhalten.
Augenblicklich waren Schmerz und Niedergeschlagenheit aus Ber-
Iha's Wesen verschwunden und beseelt von ihren stolzen Vorsätzen
rief sie: Bist Du noch wach, Du holde gütige Mutter. Das ist
mir lieb, nun kann ich Dir gleich Alles sagen und quäle mich nicht
die ganze Nacht damit.
Sie betraten das elegante Schlafzimmer. Bertha warf Shawl und
Mantel ab und zeigte sich ihrer Mutter im unbeschädigten Ballstaate.
— Ich will Dir helfen, sagte die Räthin. Alles ist zu Bette.
— Laß mir nur noch eine Weile meinen Putz, Dein Segen
ruht darauf I
— Du bist ja so glücklich!
Ich habe eine glänzende Eroberung gemacht.
— Hat er Geist, der junge Graf?
— Ein geistloser M^um ist eine Eroberung, aber keine glän¬
zende. Ob der junge Graf Geist hat? Ich habe in Allem Recht.
Ich habe vollständig gesiegt und bin für Alles entschädigt. Sie er¬
zählte den ganzen Austritt, so weit er ihr Ehre und ihrer Mutter
Freude machte. Er dauert mich, der arme junge Graf, fügte sie
hinzu. Er tanzte nicht, weil ich nicht mit ihm tanzen konnte. Er
wurde verspottet, weil er kein Auge von mir wandte. Er erblaßte,
weil ich nicht mit ihm sympathisire; zuletzt verrichtete er Lakaicndiens
um mich.
— Du findest ihn also nicht liebenswürdig? fragte aufmerksam
die Räthin.
— Sehr liebenswürdig! Denn wahrlich, ich beklage ihn. Ein
so frommer, argloser Jüngling sollte nicht mystificirt werden. Mein
Benehmen war kokett unverzeihlich. Doch jeder ist sich selbst der
Nächste und handelt in seinem Interesse. Er ist gar zu schwach und
gar zu arglos. Drum nahm ich keinen Anstand, einen Triumph auf
seine Kosten zu feiern, der nicht glänzender ausfallen konnte.
seelenvergnügt umarmte die Räthin ihre reizende Tochter. Du
bist mein Stolz, mein Glück, meine Freude.
— Jetzt entkleide mich, wenn Du so gut sein willst! flehte
Bertha. Ich bin sehr müde.
Sie eilte in's Bett zu kommen und ihr Licht zu löschen, um
ihr volles Herz durch einen Thränenstrom zu erleichtern.
Mit eben so zerrissenem Herzen kehrte Oskar nach Hause. Sie
liest mein Tagebuch mit der Herzgrube, macht magnetische Erperi-
mente auf einem Balle und hat doch nichts Grauenhaftes und Ge¬
spenstisches, wiederholte er stets bei sich und war keines anderen
Gedankens fähig.
Sein Diener überreichte ihm einen Brief, der während seiner
Abwesenheit gekommen. Gedankenlos erbrach er ihn, aber bald fes¬
selte der Inhalt des Schreibens seine Aufmerksamkeit. Es lautete:
„Mein hoher Freund!
Ich begrüße Sie heut' wie Meinesgleichen. Sie sind Philo¬
soph, Gelehrter, Schriftsteller. Sie haben den schönen Charakter
eines deutschen Autors, dessen Fürsten und Könige sich nicht schämen.
Lesen Sie die Philosophie für Damen. Sie theilen meinen Ruhm,
Sie sind Mitverfasser des Buches. Mein Oskar sind Sie; mein
Ideal und Sie sind identisch, denn ich habe Ihr Tagebuch drucken
lassen. Um was Hunderte von Jünglingen fußfällig mich bitten wür¬
den, meinen Namen und meine Autorität für sie zu verwenden; das
that ich unaufgefordert für Sie, denn Sie haben Originalität, lyrische
Kraft, inneren Adel, und ich bin Ihr Freund"
Oskar zürnte nicht. Er brach in ein convulsivischcs Lachen
aus und schlug sich in einem fort wider die Stirn. Sein alter Die¬
ner sah ihm mit einer Miene zu, als getraue er sich nicht zu fragen.
— Soll ich einen Arzt rufen? —
Seine Nachlust legte sich endlich, aber Herz und Seele lachten
fort. DaS Räthsel, das ihn tief erschütterte, hatte sich mild und
freundlich gelöst. Bertha übte keine dämonische Gewalt über ihn.
Nur die Philosophie für Damen hatte sie gelesen und Alles war
wieder zur Ordnung, Einfachheit und Unschuld zurückgekehrt. Sie
liebt mich, wie ich sie liebe, jubelte er. Es gibt Sympathien und
Devinationen der Jugend und Unschuld. Es ist gut, wenn »um
der Schüler seiner selbst ist, mein Leben ist ein sonnenhelles Para¬
dies! —
Das Schloß des Millionairs lag stolz und frei auf einem Run-
dal von Blumenbeeten, Gewächshäusern, Spalieren und Vogelhecken,
während Ställe, Gesindehättser und Gärtnerwohnungen versteckt in
hohen Baumgruppen lagen. Schon bei der Einfahrt übersah man
den ganzen Park, der terrassenförmig bis zu den Ufern des Flusses
sich senkte. Die düstern Gänge, die stolzen allen Bäume, Brücken,
Pavillons, Bassins und Grotten, alles bot sich auf einmal dem
Auge dar und war so wunderbar schattig und durchsichtig zugleich,
daß der silberklare Strom mit seinen sonniggrünen Jnselchen und la¬
chenden Ufern jenseits den wirksamsten und magischsten Contrast dazu
bildete.
Mit Kennerblicken prüfte Oskar dieses Paradies und wollte
anfangs über den unverschänuen Aufwand zürnen. Dieser unerme߬
liche Garten nichte gar nichts, alles galt nur dem Schein und er¬
forderte zur Unterhaltung große Summen. Doch Bertha wohnte
hier. Sie war nicht von Adel. Liebreiche Feen aber hatten ihre
Wiege umstanden, und sie mit ihren wünschenswerthesten Gaben ge¬
schmückt. Die Natur durfte sich von den Feen nicht beschämen las¬
sen. Auch sie bot ihre Pracht und ihren Zauber auf und hatte sich ge¬
horsam der sinnreich waltenden und ordnenden Kunst gefügt, um
still und reizend, prachtvoll und feierlich ihrer Lieblingstochter einen
entzückenden Morgengruß zu bieten. — Ein weites Bassin mit einer
Fontaine war ringsum mit Orangerien besetzt, und zwischen den
Säulen des Portals und rechts und links auf der breiten steinernen
Treppe standen prächtige Blumen und blühende tropische Gewächse
in Körben, Vasen und Töpfen. Oskar erstieg die Treppe und be¬
fand sich in einem Tempel, der ringsum mit Marmorstatuen in
Nieschen geschmückt war. Das Licht fiel von oben durch die Fen¬
ster einer runden Kuppel; und eine Gallerie ringsum war eben so
reich mit Büsten und Vasen geschmückt. Die Treppe, die hinauf¬
führte, war in der Nundung der Mauer verborgen und eben so
wenig sah man Küche, Bedientenschlafzimmer, welche sich im geräu¬
migen Souterrain befanden. Die Thür dem Eingang gegenüber war
geöffnet. Sie führte zu einem großen Bildersaal. Hier befand sich
die berühmte Gemäldesammlung des Banquiers in kostbar goldenen
Rahmen. Rechts und links waren Putzzimmer. Auch das Schloß
schien wieder nur sür Pracht und Erhabenheit dazustehen, gleich einem
Tempel eine Gottheit zu verehre». — Die Thüren, die oben auf der
Gallerte nach zwei kleinen Zimmern führten, waren von unten nicht
sichtbar. Oskar wußte nicht, daß Beriha diese Zimmer bewohnte,
daß sie in einem derselben noch schlief und von ihm träumte.
Ein Diener öffnete ihm eins der Prunkgemächer und ging, die
Räthin zu rufen. Der Finanzrath war schon auf seinem Comptoir
in der Stadt.
Oskar sah sich im Zimmer um. Auf dem prächtigen Flügel
lag ein auffallend kostbar gebundenes Buch. Noch nie hatte er so
schöne Vergoldung und so geschmackvolle Buchbinderarbeit gesehen.
Er schlug es auf. Wäre es ihre Handschrift? fragte er sich. Da
fiel ihm bei, wie unschicklich er sich benähme und wie er sich dersel¬
ben Rücksichtslosigkeit schuldig mache, die Zänker gegen ihn began¬
gen. Und doch hatte er schon zu viel geschen. Ein unwiderstehlich
holder Trieb, Rührung, Freude, Ueberraschung zwangen ihn, die
Entdeckung zu vollenden. — In ihrer damaligen Erbitterung gegen
ihre Gespielinnen und aus Trotz, weil man ihr kein Recht lassen
wollte, hatte Bertha ihrem Büchlein den Titel gegeben: „Oskar's
Philosophie für Damen, gesammelt und ausgezogen von Bertha
Rusland." — Er blätterte weiter: eS war sein Tagebuch. Wie be-
zauberten ihn heut diese längst gehegten Ideen, wie entzückte eS ihn,
daß Bertha sie so zierlich und kostbar zu ihrem Besitzthum verklärt
hatte. — Er fand auch die Stelle, die sie gestern auswendig herge¬
sagt. Die reizende Seherin stand wieder vor seinen Augen, wie sie
feierlich und begeistert seine Worte sprach. Diesmal aber war eS
kein Engel mit einem finsteren Herzen, sondern ein Engel des Lich¬
tes und der Liebenswürdigkeit. Er zog seine Schreibtafel hervor,
riß ein Blatt aus und schrieb mit Bleifeder darauf:
— So dachte Oskar ehe er Bertha sah. — Ihre Person ist
die reizendste Widerlegung seines Irrglaubens. Hienieden fand und
erkannte ich Bertha, sollte ich sie jenseits nicht persönlich wiederfin¬
den und erkennen, so wäre die Erde schöner als der Himmel. En-
gel von coeur-vligclii-, der Ihrige auf Ewig! Oskar von Wüste¬
rode! —
Diesen Zettel legte er auf die Stelle von der unpersönlichen
Unsterblichkeit, schlug das Buch zu und drückte eS zu wiederholten
Malen an Herz und Lippen.
Geräuschlos trat die Räthin ein und überraschte ihn bei dieser
zärtlichen Beschäftigung.
Oskar erröthete, verlor aber die Fassung nicht. Vergebung!
Frau Räthin, flehte er. Was werden Sie von mir denken, weil
ich im ersten Augenblick meines Hierseins mich betrage als wäre ich
hier zu Hause!
— Wo sich Graf Wüsterode heimisch fühlt, entgegnen die Rä¬
thin, muß man es sich zur Ehre schätzen.
— Ein Fremdling bin ich hier auch nicht, versetzte Oskar mit
einer Kühnheit, worüber sie fast eischrack. Er deutete auf das Ta¬
gebuch. Geistig kennt man mich hier schon, fuhr er fort; und ich
segne daS günstige Ungefähr, welches Sie herführte in einem Au¬
genblick, wo ich mich unbelauscht glaubte, wo Sie mich überraschten,
während mein Benehmen Ihnen alles verrieth, waS ich Ihnen zu
gestehen habe. Ich liebe Ihre himmlische Tochter, Halten Sie diese
Leidenschaft für keine abenteuerliche, weil ich nur einmal Ihre Toch¬
ter sah. Die Ruhe und Fassung im Augenblicke, wo es sich um
das Glück meines Lebens oder um mein Elend handelt, muß Ihnen
Bürgschaft sein, mit welcher Besonnenheit und Ergebung ich verfahre.
Meine anscheinende Kühnheit ist nur Aufrichtigkeit; ich kann mich
nicht verstellen und noch weniger verheimlichen, was ich für Bertha
fühle. Sie wird es wissen wie alle, die mich gestern sahen.
Die Räthin war gewonnen. Oskar gefiel ihr ausnehmend. Sie
begriff nicht, woher so viel Treuherzigkeit, Adel und Anmuth Ber¬
tha gleichgültig lassen konnte.
— Haben Sie aber auch bedacht, fragte sie, welche Hinder¬
nisse solch' einer Verbindung im Wege sind?
— Welche? fragte Oskar. Ich bin reich, unabhängig und be¬
reits seit meinem achtzehnten Jahre mündig. Erinnern Sie mich
nicht an Vorurtheile, die, hätte ich sie je gehegt, beim ersten Blick
auf Bertha vergessen wären.
Mit jedem Worte stieg er in die Gunst der Räthin; er glich
völlig der Schilderung, die Bertha von ihm entworfen. Sie ver¬
sprach ihm, zu thun, was in ihren Kräften stände und bat ihn, sich
für jetzt zu entfernen, aber noch heute, die Entscheidung seines Schick¬
sals zu erwarten, die aller Wahrscheinlichkeit nach günstig ausfallen
würde.
Mit schwerem Herzen schied Oskar von coeur-oliscur, wie man
aus seinem Paradiese scheidet. Die Räthin war entschlossen, Bertha
mit aller Vorsicht auf das Vortheilhafte dieser Verbindung aufmerk¬
sam zu machen, aber auf keine Weise sie zu veranlassen, einen so
wichtigen Schritt gegen ihre Neigung zu thun.
Endlich erschien Bertha. Sie halte die Nacht geweint und war
erst gegen Morgen eingeschlafen. Matt und bleich, doch lächelnd
trat sie zu ihrer Mutter und sprach: Ich kann das Schwärmen nicht
mehr veitragen, es greift mich an. Ich bin aus der Gewohnheit
gekommen!
Liebe Tochter! begann die Räthin, ich habe dir etwas Wichti¬
ges zu sagen. Höre mich an. — Du hast Geist. Mittelmäßige
und geringe Geschöpfe, deren Begriffe nicht über Küche, Keller und
Vorrathskammern hinausgehen, mögen Vernunftheirathcn schließen,
um glücklich zu sein. Ein höher begabtes Frauenzimmer ist durch
eine bloße Versorgung nicht glücklich. Sie muß ihren Mann nicht
nur achten und ehren, sondern auch lieben können. Du wirst aus
dieser Einleitung ersehen, daß ich Dir eine neue Partie in Vorschlag
bringe, aber unter der ausdrücklichen Bedingung, Dein Herz zu
Rathe zu ziehen. Wer meinst Du hat um Dich geworben?
— Ist es ein Edelmann? fragte Bertha hastig.
— Ja! Du wirst ihn leicht errathen können I
— Ich weiß genug! versetzte Bertha mit Hoheit, um ihm einen
Korb zu geben und zwar einen recht schnöden.
— Warum das!
— Weil ich jeden hasse, der wie meine Freundinnen gesinnt
istj er mag unter ihnen wählen, von mir hat er nur einen Korb
zu hoffen und das ist allemal ein Fest für mich. Ich wollte nur, ich
hätte das Dutzend erst voll.
— Liebes Kind, ich verstehe Dich nicht mehr! rief die Räthin
befremdet. Bertha fürchtete, sich verrathen zu haben, um ihre Ver¬
wirrung zu verbergen trat sie ein's Clavier und blätterte in ihrem
Büchlein. Wer war bei meinem Buche? fragte sie, hier liegt ein
beschriebenes Blättchen.
— Ich überraschte den Grafen Wüsterode, wie er es an die
Lippen drückte. Er ist der Freier, von dem ich zu Dir sprach und
nachdem, wie er sich gestern gegen Dich benommen, war von ihm
nichts anders zu erwarten, als daß er heute schon um Dich anhal¬
ten würde. Er ist in jeder Hinsicht ein Mann von Herz und Geist
und Ehre.
Bertha warf sich schluchzend ihrer Mutter um den Hals und
reichte ihr das Blättchen.
— Warum weinst Du denn so heftig, ich kann mich nicht mehr
in Dich finden!
— Laß mich weinen, er hat mich gestern sehr beleidigt. — Vor
den Menschen verhehlte er nicht, daß er mich liebe, aber heimlich
gestand er mir, daß ich fürchterlich sei und nannte mich einen Dä¬
mon. Alis keiner weiteren Ursache als weil ich seinen aristokratischen
Grundsätzen gefährlich war. Aber ich bin doch kein Kammermädchen,
keine Näherin. Muß er sich schämen, mich zu lieben? — Solch'
eine Demüthigung unter vier Augen war mir noch nicht widerfahren.
Meine Freundinnen begegnen mir nicht mit solcher Geringschätzung.
Hätte er die Nase gerümpft wie sie, und gefragt: wie kommt die
hierher? mir aber heimlich gestanden, daß er mich liebe; ich hätte
ihm nicht gezürnt. Allein öffentlich huldigt er mir, heimlich gibt er
mir zu verstehen, Schade, daß Du ein Bürgermädchen bist, ich will
Dich nicht wiedersehen. Das ist Stolz! Das ist Grausamkeit! Was
er fühlt ist kein Naturgesetz, dem jede Creatur sich fügen muß. —
Und solchen Schimpf sollte ich wehrlos ertragen? — Doch sieh', hier
hat er Alles wieder gut gemacht. Er hat diese Nacht so wenig ge¬
schlafen wie ich. Ich schlief nicht aus Zorn und Schmerz. Er nicht,
weil er rang und kämpfte. Jetzt hat seine Liebe zu mir gesiegt und
ich vergebe und vergesse Alles!
— Und warum hast Du mir das verschwiegen?
Wenn man mir meine Geburt zum Vorwurf macht, so belei¬
digt man zunächst meine Eltern. Ich wollte Dir diesen Verdruß er¬
sparen.
— Also nur aus Delica teste?
— Nein! Du weißt, ich habe die Grundsätze der Philosophie
für Dame» zu den meinigen gemacht. Sie blätterte in ihrem Büch¬
lein und reichte es der Mutter aufgeschlagen hin, die Räthin las:
Dem Arzt verrathe man seine körperlichen Leiden. Er darf nicht
ekel sein. Dem Advokaten seine Ränke und Hinterlist, er darf nicht
moralisiren. Dem Eizielier eindecke man seine Rohheit und Talent-
losigkeit, er darf nicht geistig vornehm thun und muß sich mit uns
befassen wie wir sind. Unglücklich sind wir für den Freunv und die
Geliebte; sie werden uns trösten und uns erheben, Glücklich aber
sind wir für unsere Eltern. Nur ihnen dürfen wir die kleinen
Triumphe unserer Eitelkeit mittheilen und sie fordern eS, denn sie
wollen sich in uns vergnügen und wieder mit dem Leben rändeln.
Ein wahres Unglück dürfen wir ihnen daher nicht eindecken, sie wür¬
den nur mit uns trauern und weinen und selber des Trostes und
der Aufregung bedürfen.
So spricht Oskar, sagte die Räthin, denn er hat keine Eltern!
Du bist einer großen Gefahr entgangen, Bertha, Charaktere Deiner
Art verfehlen nur allzuleicht ihr Lebensglück. Danken wir dem Him¬
mel, der Alles zum Besten gefugt. Ich denke, Du kannst zufrie¬
den sein.
— Ich bin glücklich, lächelte Bertha, der Vater sagt, ein rei¬
cher Mann darf nicht wissen wie reich er ist; aber ein glückliches
Mädchen weiß noch weniger wie glücklich sie ist. Mein Glück geht
Weil über meinen Horizont! —
Spät Abends kehrte der Finanzrath sehr fröhlich nach Hause.
— Sieh mir wie vergnügt der Vater ist! flüsterte Bertha ihrer
Mutter zu. Er kann unmöglich doch etwas wissen.
— Bertha, komm einmal her! rief der Finanzrath, zog ein
großes Portefeuille hervor und nahm ein Päckchen Staatspapiere
heraus. Hier hast Du 10,dei)0 Thaler! ich schenke sie Dir!
— Mehr bekomme ich nicht? fragte Bertha befremdet.
— Du kannst Glück haben und das Landgut gewinnen.
— Und das wäre die ganze Aussteuer Deiner einzigen Tochter?
— Aussteuer! Thorheit! Ich will Dir was schenken. Aber
ihr Frauenzimmer habt schon alles. Darum gebe ich Dir Geld,
kaufe Dir was Du willst. — Du hast mir gestern Ehre gemacht.
Die ganze Stadt spricht davon, wie schön Du Dich mit dem Gra-
fen von Wüsterode unterhalten. Auch bei Hofe war davon die Rede,
und der Kronprinz hat gesagt, Du bist eine zweite Frau von Stal-l.
Dies soll ein sehr seines lon-mot, von seiner königlichen Hoheit sein,
denn wie der Kammerherr von Härtung sagt, von dem ich alles
dieses habe, ist Frau von Stal-l eine sehr geistreiche Dame und die
Tochter eines sehr reichen Finanzraths.
— Lieber Vater! rief Bertha und sank entzückt zu seinen Fü¬
ßen. Der Graf von Wüsterode hat um meine Hand angehalten,
ich bitte um Deinen Segen.
Der Banquier stand sprachlos vor Ueberraschung. Das ist wirk¬
lich ein Glück, sagte er. Der kann Carriere machen, Du wirst eine
der glänzendsten Damen bei Hofe sein. —
— Es ist deshalb ein Glück, sagte die Räthin, weil Bertha'S
Charakter und Erziehung nicht für einfache bürgerliche Verhältnisse
ist, das hat mir viele Sorge und Reue verursacht. Jetzt aber, Gott
sei Dank! ist Alles gut. —
Als sich die Liebenden über die Mißverständnisse aufklärten, um
die sie anfänglich sich fast entzweit hatten, erstaunten sie nicht wenig,
denn sie hatten sich durch Mißverständnisse besser verständigt alö
durch die hochtrabendsten Liebeserklärungen. In der Stadt sprach
man vielerlei von dieser schönen Verbindung. Die einen sagten: der
gute philosophische Oskar geht dem Gelde nach, Zänker's idealer
Schüler encanaillirt sich mit bürgerlichen Geldsäcken. Schade, er ist
von so gutem alten Adel. Andere sagten: das war vorherzusehen,
der Finanzrath hat einmal das unverschämte Glück. Was andere
wünschen, wird ihm zu Theil. Nun hat er endlich auch einen Schwie¬
gersohn, der ihm gut genug ist.
Erwarten Sie von mir keine Erörterung der Frage, ob Eisen¬
bahnen eine Wohlthat für die Menschheit seien oder nicht. Ich gebe
Ihnen auch keine technische Beschreibung des neuen wunderbaren
Werkes, denn erstens bin ich kein Techniker, zweitens sind Sie
auch keiner, drittens müßte selbst ein Techniker, der eine genaue
Detailbeschreibung der Bahn liiern wollte, nicht aus ihr dahin ge¬
flogen, sondern vielleicht Wochen lang auf, neben und unter ihr be¬
dächtig gewandelt sein; viertens kann, wer über Träne, Situation,
Längcnprofil, Wegübersetznngen, Viaducte, Durchlässe, Brücken, Tun¬
nels und Bahnhöfe dieser Staatseisenbahn umständliche Belehrung
Wünscht, diese in dem schön ausgestatteten Buche von Förster und
Demarteau finden, welches jedem Gaste der Eröffnungsfahrt in Oll-
mütz überreicht worden ist, ein eben so willkommener Wegweiser als
freundliches Andenken an die Tage vom 19. bis 23, August 1845.
Ich bringe Ihnen nichts als dasjenige, was der Vielschreiber Alex¬
ander Dumas bei seinen Landsleuten zuerst unter dem Titel: Im-,
nressiovZ <Jo vo^sF« eingeführt hat, nur mit dem Unterschiede, daß
ich die Empfindungen, welche ich Ihnen mittheile, wirklich an Ort
und Stelle hatte, während Dumas manche seiner Reisen, namentlich
die durch die Wüste von Suez, gemacht haben soll ohne aus seiner
Stube in Paris herauszukommen.
Der Leopoldsberg, dem Wiener historisch und sozial bedeutend,
sah im Morgenglanze des 19. August eine lange Reihe Waggons,
vorne eil» Doppelgespann von bekränzten Locomotive», in der Mitte
den prächtigen grüngoldener Hof-Waggon, über die Donaubrücken
dahin eilen. Vorüber ging's im Fluge an jenen Feldern, wo vor
36 Jahren andere Feuer blitzten und andere Rauchwolken dunkelten,
als die spielenden Funken, die wirbelnde Rauchsäule und das taft¬
mäßige Keuchen der Locomotive. Nicht lange währt es, so erheben
im Osten die Jablunka- und Tatra-Gebirge ihre bläulichen Häupter.
Aber auch die Ebene in nächster Nähe der Bahnstrecke ist nichts we¬
niger als sinnermüdend. Hier ein mächtiges Herrenschloß, dort eine
ferne Ruine, hier ein freundlich Gewässer, dort ein junger Eichen¬
wald gewähren Abwechselung der Szenerie, und selbst die ärmlichen
mit Stroh gedeckten mährischen Dörfer werden anziehend durch den
Contrast ihrer naturrohen mit der hohen Kunstvollendung der Ei¬
senstraße, welche an ihnen vorüber führt. In Lundenburg ging eS
schon lustig genng her. Ein reichliches Frühstück erquickte die aus
so verschiedenartigen Elementen zusammengesetzte Reisegesellschaft. Das
Trompetercorps der Aueröberg'schen Kürassiere blies heitere Weisen.
Bauernbursche und Mädchen im buntesten Sonntagsstaate waren
versammelt, und erstere allein führten bei dem Schnarren der Fidel
einen Tanz aus, der nur in möglichst hohem Springen auf einem
und demselben Flecke zu bestehen scheint, und sich merkwürdig genug
von den Tänzen der Südländer, zumal der Spanier unterscheidet,
welche einen so reichen Wechsel von Leidenschaften ausdrücken. Laut
und freudig, doch feierlich empfing Ollmütz zur vorausbestimm¬
ten Stunde den Reisezug. Was für ein allerliebstes Städtchen ist
daS, und wie liebenswürdig hatte es steh für uns geschmückt: schone
weite Plätze, nette Häuser, in allen Formen, mit Laub- und Blu¬
mengewinden und bunten Tüchern behängt, zahlreiche Springbrunnen,
treffliches Pflaster, ein imposantes, von allen Seiten freistehendes
Rathhaus, vor allem aber — schöne Damen und vielleicht noch
schönere Bäuerinnen aus der Hanna, schlanke, zart gebaute Gestalten,
weiße feine Gesichter und, wie es schien, ziemlich vertraut mit jener
Frauenweisheit, die gegen den Fremdling den Mund zum Lächeln
und die Augen zum Sprechen gebraucht. Oder war das eiwa nur
heute so? Draußen am Wall-Rande der Stadt war ein von den
mährischen Ständen mit Munifizenz ausgestattetes Volksfest, ein von
der Donauinsel nach der Marchinsel übertragener Brigittenkirchtag.
Da gab es Gaukler und Menagerien, Ningspiele und Sacklaufen,
Orchester und Tanzböden, auf welchen die Fran?aise noch nicht neben
der Polka hat Fuß fassen können. Von einer in Form eines Tem¬
pels im besten Geschmacke erbauten Tribüne konnte der weite Platz
mit seinem bunten Gewühle übersehen werden. Hier zogen zwei von
den Ständen ausgestattete Brautpaare vorüber und mit ihnen Re¬
präsentanten aller Kreise Mährens im festlichen Staate, theils zu
Fuße, theils in zwei- und vierspännigen Wagen, auf deren manche
Schaaren singender Weiber zusammengedrängt saßen, die Federbett¬
stücke des jungen Ehepaars hoch emporhaltend. Ueber alles effectvoll
waren aber mehr als fünfhundert Hannaken, in ihren verschieden¬
farbigen Dorftrachten, alle auf schönen starken Pferden, Trompeter¬
chöre voran, eine eigenthümliche berittene Bauerngarde, ein eben so ent¬
schiedenes als erfreuliches Zeichen der Landeskraft. Jammerschade
war es, daß die Nacht alsbald hereinbrach, und diese wirklich schöne
Volksprozession, diesen langen Faden wandelnder Dorfgeschichten un¬
sichtbar machte. Das zu lange währende Festessen in dem Redou-
tensaale hatte das Herauskommen der Gäste verzögert. Als das
Stuwer'sche Feuerwerk verkrallt war, und sich die gedrängten Schaa¬
ren in das Innere der Stadt zurückwendeten, war an dem blauen
Himmel die Mondeslampe aufgehängt und beschämte, sie allein, die
Tausende von Kerzen an den Fenstern von Ollmütz. Ferne sei es
von mir, auf die Gastfreundschaft der Ollmützer den mindesten Schat¬
ten werfen zu wollen, eS herrschte über sie nur Eine Stimme des
Lobes. Aber der Wahrheit und meiner Pflicht, als mein eigener
Historiogrcivh bin ich es schuldig, auch das Nachstehende zu erwäh¬
nen. Daß der Zufall eS eben mir bescheerte, geschah gewiß nur,
damit ich die unvermeidliche Eintönigkeit meiner Erzählung auf er¬
götzliche Weise unterbrechen könne.
So wie das Uebermaß die Tafelfreuden leicht in Tafetteiden
verkehrt, so kann sich Gastfreundschaft unter gewissen Bedingungen
leicht in unwillkürliche Gastfeindschaft verwandeln. Meine Haus¬
wirthin Frau W,, (Weh!) führte mich und meinen Begleiter in eine
feuchte Stube, in der wir vier Federbetten und nur ein Waschbecken
u. s. w. fanden. Diese Einfachheit in der Vielheit erweckte in uns
ein gelindes Grauen, das sich aber nur in zarten wechselseitigen An¬
deutungen Luft machte. Als wir um it Uhr Nachts nach Hause
kamen, empfing uns Frau W. mit Klagen, welcher arge Zusammen¬
fluß von Gästen vom Lande her heute in Ollmütz und insbesondere
auch in ihrem Hause Statt finde. Dieser- diplomatischen Einleitung
folgte die tröstliche Versicherung, daß in unserem Zimmer Niemand
mehr, als ihr Verwandter, der Herr Syndikus übernachten werde.
Nun wurden unsere Empfindungen und unsere Worte bestimmter,
aber wohlverstanden, immer nur im Zweigespräche unter uns. Doch
erübrigte nichts, als mich in das früher bezeichnete Bett zu legen,
wozu ich mich denn auch anschickte. Himmel! da guckte ein schla¬
fender >!iopf mit einer Haube aus der hohen Federdecke hervor.
War das der Herr Syndicus? Die Form der Haube und einige
auf einem Stuhle aufgethürmte Steiftvcke gaben schnellen Aufschluß.
Als ich, lachend über ein solches nie erlebtes und an das patriar¬
chalische .des Beduinenlcbens erinnernde Nachtquartier in meinem
Bette lag, trat erst der eigentliche Herr Syndicus ein und bestieg
nicht etwa das noch unbesetzte vierte Bette, sondern das, worin be¬
reits die Schläferin lag. Muthmaßlich war es seine kleine Tochter,
mit der er landesüblich das Bett theilte. Beide schnarchten bald
um die Wette, ich aber wartete nicht die prächtige Militärmusik ab,
welche mit Tagesgrauen die Straßen durchzog, um mich zur Wei¬
terreise fertig zu machen.
Am 2V. war die Fahrt von Ollmütz bis Prag auf der Staats«
eisenbahn ein einziger unumerbrochener Festzug. An allen Stations-
plätzen grüne Pforten mit Inschriften aufgebaut, an der böhmischen
Gränze eine große mittelalterliche Burg mit vier ausgezackten Thür¬
men, das Stadtwappen von Prag plastisch darstellend, in allen Bahn¬
höfen die Schuljugend, weiß gekleidete Mädchen, die Bürgercorps,
die Bergleute, die Kreis- und Stadtbehörden, an einigen Orten auch
die Gutsherrschaft aufgestellt, überall Pöllerschüsse und Dorfmusik,
an einigen Stationen, wie in Pardubitz, wo man frühstückte, die
Cavallerie aus der Umgegend, Dragoner und Uhlanen, mit ihren
köstlichen Trompeterchören aufmarschirt, von Biechowitz, der letzten
Station vor Prag angefangen, die Zahl der fröhlich Harrenden am
Wege immer größer, in dem Weichbilde der alten Königsstadt auf
allen Höhen, an allen Abhängen, in allen Thälern, an allen Fen¬
stern, von wo man auf die Bahn sehen kaun, Kopf an Kopf ge¬
drängt, in den riesigen Bahnhöfen Prags endlich zwei mächtige
Kreise von Tribunen, voll von geschmückten Damen, auf der ganzen
letzten Strecke tausend und abertausend Stimmen laut, tausend und
abertausend weiße Tücher in Bewegung, El» Gefühl, Eine Bewe¬
gung der Freude, der Liebe, der Hoffnung in diesen Massen, —
wahrlich, da fand sich unter den Ankömmlingen, deren Mehrzahl doch
aus Männern bestand, welche der Ernst und die Mühe'des Lebens
längst ruhig und fest gemacht hat, es fand sich, sage ich, unter ihnen
kein Herz, das nicht in froher Beklommenheit pochte, und manches
Auge wurde von Freudenthränen feucht. Welch' ein süßer Anblick
ist es, zwei einzelne Menschen zu sehen, die sich nach langer Tren¬
nung wiederfinden und deren Seelen sich in Freudenstromen in ein¬
ander ergießen. Nun aber mit einem Male ganze Bevölkerungen
zu erblicken, welche sich in gleicher Weise begegnen, welche, von der
Ahnung einer neugestalteten Zukunft erfüllt, so einmal den Pulsschlag
der Menschheit selbst belauschen — das war ein großer, ein er¬
habener Moment, ein Moment, an dessen Weihe, weil sie plötzlich
und ungerufen ans tausend Menschenherzen kam, keine der anderen
Festlichkeiten dieser Tage hinanreichte. Eine Erfindung aber, welche
solche Momente des Völkerlebens und alle sozialen Erscheinungen,
die sich daran knüpfen lassen, herbeigeführt, kann doch wohl nur als
ein Niesenfortschritt der Menschheit zum Ziele ihrer Veredlung und
Vervollkommnung bezeichnet werden, und der Mann, welcher sie in
Oesterreich eingebürgert hat, mag sich eines anderen ehernen Monu¬
mentes getrosten; sein Platz in der Geschichte ist ihm gesichert, die
Eisenstraßc von Prag nach Trieft wird seinen Namen nennen. Noch
denselben Abend empfingen die Prachtsäle des Königsschlosses, der
weiße und der spanische, Einheimische und Fremde zum glänzenden
Festmale, bei welchem aber den Wiener nichts mehr überraschte,
nichts ihm mehr mundete, als der köstliche eiskalte Gerstensaft,
der erfrischende Trank des Königs Gambrinus. Den Schluß des
reichen Tages machte sür die Mehrzahl der Gäste eine halbe Stunde
auf der Sophien-Insel, deren Salon heute zum erstenmale seit der
Überschwemmung wieder geöffnet war. Dort fand eine sogenannte
böhmische (czechische) Reunion Statt. Männer und Frauen haben
es sich zum Gesetz gemacht, hier nur böhmische (czechische) Worte zu
wechseln. In den Ruhepunkten zwischen den Tänzen wurden auf
einer Gallerie Nationallieder im Chöre vorgetragen. Ich hörte eines,
dessen Schluß ein seltsamer, wilder, mehr beunruhigender als befrie¬
digender Schlachtruf bildete. Aber auf einem Balle zwischen Polka
und Walzer hat die Czechenspmche so wenig zu bedeuten (?), als
die deutsche oder französische.
Am 21. fand die feierliche Grundsteinlegung im Bahnhofe un¬
ter den üblichen Ceremonien Statt. Ihr folgte die priesterliche Ein¬
weihung einer Locomotive, des Hofwaggons und zweier anderer
Waggons I., II. und III. Klasse. Wieder war die weite Tribüne
von geputzten Damen angefüllt. Fast rührend war der mit Blu¬
menkränzen behangene Locomotiv-Koloß: Böhmen anzusehen, der
heute so langsam und leise, so demüthig heranschlich, um die kirch¬
liche Weihe entgegen zu nehmen, er, der im Grimme einherströmcnv,
Tausende hätte zermalmen können. Prag mit seinen auf Anhöhen
thronenden, mit seinen in unscheinbaren Winkeln versteckten Pallästen,
mit seinem stolzen Fluße, seinen zwei herrlichen Brücken ist in man¬
cher Beziehung das Florenz *), oder Venedig des Nordens. Der
Reisebeschreiber Mar Löventhal reiht in seinem vergessenen, eigentlich
nie bekannten Buche (Bd. II. S. 270.) die Stadt Prag in dem
Prachtvollen und romantisch Malerischen ihrer Erscheinung unmittel¬
bar der Hauptstadt Schottlands an. Ich muß dies Urtheil unbe¬
dingt unterschreiben. Eine Wanderung durch die engen Straßen
führte mich auch in die wimmelnde Judenstadt und auf den uralten
Kirchhof der Juden, eine mitten in das Leben des kleinen Verkehrs
hineingeworfene Todesstätte, wo mehr als tausendjährige Grabsteine
in milder Verwirrung zwischen grasbedeckten Erdhügeln, zwischen
Bäumen und Schutthaufen hervorwachsen, ein ganz eigenthümliches,
in solcher Art wohl nirgends wieder vorkommendes Chaos von Ma¬
lern, worin die Gebeine von tausend und tausend gequälten Bettlern,
von hundert und hundert heimlichen Rothschilden des Mittelalters
versunken sind. Die danebcnstehende Synagoge, aus der Zeit der Grün¬
dung der Prager Judengemeinde, ist ein Bauwerk vom ältesten deutichen
Style. Die Gemeinde war vom Rheine her eingewandert. —
Eine um die Mittagsstunde im Theater gegebene böhmische Cantate,
von Veit componirt, erhielt einstimmigen und lebhaften Beifall.
Leider war ich abgehalten, sie zu hören.
Nachmittags bestieg ich den Laurenzberg, von welchem das Pa¬
norama der Stadt, die vor vielen den Namen einer königlichen ver¬
dient, sich am Vortheilhaftesten darstellt. Auf dem glänzenden Balle
in den Sälen der Königsburg, der den Abend ausfüllte, ward es
mir in kläglicher Weise klar, wie doch die »leisten Menschen nur als
Glieder eines großen Ganzen Geltung finden können, als Individuen
aber nichts sind. Hunderte von Damen, von denen ich überzeugt
bin, daß sie mir, dem in der Masse Unkenntlichen, bei der Ankunft
mit ihren Tüchern ein begeistertes Willkommen mochten, würdigten
mich heute keines Blickes, wo ich so gern ähnliche Gunst für meine
eigenste Persönlichkeit gewonnen hätte. Ist es ein Trost für solches
Leid, daß es den Frauen und Mädchen auch nicht viel besser erging,
daß sie, die in der Gesammtheit uns als ein buntprächtiger Blüthen¬
flor erschienen waren, in der Nähe und einzeln besehen, eher verlo¬
ren als gewannen? Den Vormittag des 22. widmete ich dem Be¬
suche der Se. Veitskirche, die bekanntlich mit dem Cölner Dome, der
schönste und reichste Architckturtorso auf (mit Erlaubniß der Zechen
sei es gesagt) deutscher Erde ist. Man kann sich nicht satt sehen
an diesem Wunderbau. Auch die alten Säle der Landstände mit
ihren wunderzierlichen Gewölben versäumte ich nicht, und das die
herrliche Aussicht auf die Stadt gewährende Fenster, an welchem
durch Hinauswerfen der kaiserlichen Commissäre das Signal zu
30jährigem Blutvergießen, zur beinahe zweihundertjährigen Verwir¬
rung und Zerrüttung Deutschlands gegeben worden ist.
Das am Nachmittage abgehaltene Fischerstechen, für Prag ein
ganz neues Vergnügen, konnte den nicht anziehen, der im Jahre
1838 in Venedig die dem Kaiser zu Ehren veranstaltete Regatta ge¬
sehen, und die abendliche Theatervorstellung, in welcher die Sirenen¬
stimme der Altistin Therese Schwarz das einzige Ausgezeichnete war.
War kein würdiger Schluß der Präger Feste.
Am nächsten Tage, den 23. August, brauste der Wagenzug,
weniger feierlich empfangen, aber um so schneller nach Wien zurück
durch das gesegnete Böhmcrland, das längs der ganzen Bahnstrecke
von einer überraschenden Lieblichkeit ist. Um 6 Uhr Morgens von
Prag weggefahren, gelangten wir nach einem Aufenthalt von einer
'
halben Stunde in Ollmütz, um halb zehn Uhr Abends in den Wie¬
ner Bahnhof. Man behauptet, daß durch die Eisenbahnen die Poesie
des Reifens verloren gehn. Aber eine Ervffnungsfahrt, wie die,
welche wir so eben mitzumachen das Glück hatten, trägt eine solche
Fülle von Poesie in sich, daß sie für unzählige spätere Einzelnreisen
ausreicht. Und ist nicht auch der jedesmalige vogelgleiche Flug durch
weite blühende Länder, ist nicht diese unerbittliche Menschengewalt
über die furchtbarsten Naturkräfte an sich schon die schönste Poesie?-)
Die Eröffnung der Staatseisenbahnstrecke von Ollmütz nach Prag
hat bereits stattgefunden, wozu sich von hier aus ein Jug von 7l)y
zu dieser Feierlichkeit geladenen Gästen in Bewegung setzte, der sich
in Ollmütz noch bedeutend vergrößert haben muß, da sich dort noch
mehrere hohe Staatsbeamte und die Stände des Landes anschlössen.
Die glückliche Ankunft des Festtrains wurde durch eine zu diesem
Zwecke von Prag hierher entsendete Locomotive gemeldet, die den gro¬
ßen Weg zwischen diesen beiden Städten in sieben Stunden zurück¬
legte. Der Festtrain selbst brauchte, einschließlich der den Tafelfreu¬
den gewidmeten Zeit, 14 Stunden, um diese Strecke zu durchfliegen.
In Ollmütz und in Prag haben von Seite der Landstände besondere
Festlichkeiten stattgefunden und die Staatsverwaltung selbst hatte für
die Feier dieser Tage die Summe von 36MY Fi. C.-M. angewiesen.
Außer einem Versehen, das in seinen Folgen halb ärgerlich, halb ko¬
misch war und darin bestand, daß der mit der Anweisung der Nacht¬
quartiere in Ollmütz beauftragte Commissär die Wohnungsliste ver¬
lor und nun die Gaste beim Aufsteigen nicht wußten, wohin sie sich
begeben sollten, ging Alles glücklich vorüber. Der Erzherzog Franz
Carl war Stellvertreter des Kaisers und wurde von seinem Oheim,
dem Erzherzog Palatin, begleitet.
Dieser Eisenstraße steht eine glänzende Zukunft bevor und sie
erscheint uns in jedem Falle in mehr als einer Beziehung wichtiger,
als die Linie nach Triest, bei welcher blos das Handelsinteresse in's
Spiel kommt, indeß hier das nationale Element und der materielle
Anschluß an das benachbarte Sachsen als vorwiegend auftritt. Die
Preise der Staatsbahn sind wie auf der andern zwischen Marzzuschlag
und Grätz sehr billig gestellt und man bezahlt aus den beiden letzten,
wohl zumeist benutzten Plätzen (es sind drei Wagenklassen) für die
Reise von Wien nach der Hauptstadt Böhmens II Fi. und 6 Fi.
40 Kr. C.-M.")
Noch muß ich einer Angelegenheit erwähnen, welche bei der Eröff¬
nung dieser Eisenstraße zur Sprache gebracht wurde und die dem
Gebiete der Journalistik angehört, weil sie auf den Austand derselben
ein Helles und bedeutsames Licht wirft und zugleich einen Beitrag lie¬
fert zur Entscheidung der oft angeregten Frage, ob der Gehalt der
österreichischen Tagespresse lediglich eine Folge der Gesinnungslosigkeit
ihrer Vertreter, oder aber das Resultat der Verachtung und des Druckes
sei, die sie von oben erfährt. Der Redacteur eines hiesigen Journals
hatte sich brieflich an den Hoskammerpräsidenten gewendet, um gleich¬
falls eine Karte zu der Fahrt zu erhalten. Dieser, der in der Sache
natürlich nicht persönlich handeln wollte, überwies das Gesuch des
Schriftstellers dem mit Anordnung der Feierlichkeit betrauten Comite,
welches die Sache als eine Prinzipiensache auffaßte und als solche in
der Rathssitzung der allgemeinen Hoskammer verhandeln ließ. Die
Frage drehte sich darum, ob den hiesigen Zeitschriften Karten zugestellt
werden sollen oder nicht. Nachdem die Meinungen lange schwankten
und namentlich der Umstand Beherzigung fand, daß die auswärtigen
Blätter auch in diesem Falle sonst die heimischen beschämen würden,
entschied endlich die Behauptung, es hieße der hiesigen Journalistik
eine Art politischer Bedeutung beilegen, wollte man ihr bei
einer offiziellen Feier Einladungen zuschicken! Damit war die Sache
abgethan und um die Consequenz dieser Ansicht zu retten, blieb selbst
die offizielle Wiener Zeitung und der mit der Staatskanzlei verschwi-
sterte Beobachter ohne Einladung, welche, sowie alle andern Zeitschrif¬
ten, dazu verurtheilt waren, den schlecht siylisirten Bericht, den die
Prager Zeitung aus amtlicher Feder brachte, getreulich nachzudrucken.
Auch erhielt der Bittsteller den mündlichen Bescheid, die Gesellschaft
möchte sich unter den Journalisten fremd fühlen, worauf derselbe dem
Beamten erwiederte- Das sei schlimm für die Gesellschaft, wenn die
Literatur in Wirklichkeit ihr fremd bliebe.
Uns drängt sich aber hier die Frage auf, wo die Schuld zu su¬
chen sei, wenn unsere Journalistik so unlustig und strcbungslos er¬
scheint, da man doch Alles thut, um ihr alle Lebenssäfte zu entziehen
und sie gerade da ausschließt, wo ihre Betheiligung von der Sache
selbst geboten scheint? Möge der Verfasser künftiger Wiener Briefe
in der Allgemeinen Augsburger Zeitung diesen Verhältnissen Beach¬
tung schenken, damit die Lesewelt einmal aufhöre, die Journale arm-
klagen, ob ihrer Sterilität in Dingen heimischer Interessen und das
Ausland endlich erfahre, woher die Leerheit unserer Blätter und ihre
scheinbare Indifferenz stamme. Aus diesem Grunde und einzig blos
zur Rechtfertigung der hiesigen Presse, welche unmöglich unter solchen
Umstanden ihrer Verpflichtung nachkommen kann, haben wir diesen
Die große Frage des Tages, welche jetzt alle Gemüther vollauf
beschäftigt, sind nicht etwa die diplomatischen Besprechungen am Rhein,
nicht die preußische Verfassungsfrage, nicht die religiösen Bewegungen
in Deutschland, sondern ist ganz einfach die für übermorgen ange¬
kündigte Eröffnung des feit zwei Monaten geschlossenen Theaters an
der Wien. Unsere Blatter haben so viel Wunder des restaurirten
Schauspielhauses, natürlich gegen Erlag der Einrückungsgebühren, zu
erzählen gewußt, daß den Neugierigen wohl einige Ungeduld zu ver¬
zeihen wäre. Wie ich höre, sollen bereits alle Sperrsitze vergriffen
sein, und jedenfalls steht den Wienern ein heißer Tag bevor. Da
ich zu den Glücklichen zahle, welchen es vergönnt war, einen Blick
in das verschleierte Geheimniß vor, seiner öffentlichen Enthüllung zu
werfen, so will ich Ihnen in Kürze die Herrlichkeiten schildern, die
alle hiesigen Preßvengel in Bewegung bringen. Die Decorirung des
Saales ist blau mit Silber und macht den freundlichsten Eindruck,
auch die Farbe der Tapisserien in den Bogen und der Sitzpolster ist
blau. Was besonders lobenswert!) erscheint, das ist die Einrichtung,
wodurch die Sperrsitze im Parterre ihre besonderen Zugänge haben
und von dem Stehraum mittelst einer Schranke geschieden sind, was
den Besitzern solcher Plätze erlaubt, zu jeder Stunde in'S Theater zu
kommen, ohne die gedrängte Masse der Stehenden in Aufruhr zu
bringen. Weit wichtiger sind indeß die Veränderungen auf der Bühne
selbst. Das Podium hat 23 Versenkungen und die Handhabung
sämmtlicher Coulissen geschieht mittelst einer Walze, die eine einzige
Menschenhand dirigiren kann. Auf ähnliche Weise wird die Licht¬
dämpfung ausgeführt und die Lichtkasten, welche das Lampenlicht ver¬
decken, sind vollständige halbe Cylinder, durch welche es möglich ist,
vollständige Finsterniß zu erzeugen, was bisher auf den hiesigen Büh¬
nen nicht der Fall war, indem stets ein matter Schimmer übrig blieb,
der den Effect einer einzelnen Flamme für das Auge des Zuschauers
beeinträchtigte. Großartig sind aber in der That die Vorkehrungen
zu nennen, die, dem Blicke des Publicums entzogen, in der Höhe und
in der Tiefe für die Illusion arbeiten. Der Raum für die Versen¬
kungen, sowie der Schnürboden haben dieselbe Höhe und Breite, als
das Podium selbst, so daß fortan alle Verwandlungen, wobei Versetz¬
stücke nothwendig sind, in der Tiefe während des Auszugs vorbereitet
werden können, wahrend man sonst einen Entreakt brauchte. Diese
Vervollkommnung der Maschinerie legt der Einbildungskraft des Dich¬
ters kein so großes Hinderniß mehr in den Weg und sie darf sich
jetzt innerhalb eines Aktes szenische Kühnheiten erlauben, welche.vor¬
dem zu ihrer Realisirung eine Unterbrechung forderten, die nun weg¬
fällt. Obschon die Corridors und Vorhallen mittelst Gasflammen be¬
leuchtet werden, so erstreckt sich diese Beleuchtungsart hdoch zur Zeit
noch nicht auf das Innere des Hauses selbst, wo vorderhand das
Oellicht seine Herrschaft behauptet. Für den Erössnungsabend ist die
neue Oper: Alessandro Stradella, von Flutov angesetzt, und der Com-
ponist hat die Reise nach der Kaiserstadt nicht gescheut, um die per¬
sönliche Leitung dabei zu übernehmen.
Der Bürgermeister Czapka tritt in einigen Tagen eine Reise
durch Deutschland, Frankreich und Belgien an, deren Zweck, dem Ver¬
nehmen nach, darin bestehen soll, die administrativen Verhältnisse an¬
derer großer Hauptstädte durch Augenschein kennen zu lernen, und
namentlich Erkundigungen einzuziehen über die Art und Weise, wie
dem Zunftdruck der Metzger gesteuert werden könne, ohne sich den
Gefahren einer vollkommen unbeschränkten Eoncurrenz gefangen zu
geben. Uns scheint, als ob zur befriedigenden Lösung dieser Frage
nicht eben eine Ruhe erforderlich wäre, indem dieser Gegenstand so
vielseitig erörtert und beleuchtet worden und das statistische Material
von andern Stadtgemeinden so vollständig vorliegt, daß sie mit leich¬
ter Mühe vom grünen Tisch aus gelöst werden kann, und auch schon
längst gelöst sein sollte. Die letzte Preiserhöhung des Fleisches, so
wie die steigende Theurung aller Lebensbedürfnisse scheinen endlich den
Anstoß gegeben zu haben, wie denn allerdings nicht geleugnet werden
kann, daß dies der Punkt ist, wo des Oesterreichers Langmuth sterb--
lich ist, denn bei Niemand scheint der Ausspruch mehr am Platz zu
sein, daß die Gedanken aus dem Magen kommen, als bei uns. Da
man es aber nicht gerne sieht, daß der Oesterreicher zu grübeln be¬
ginne, so muß man dafür Sorge tragen, daß er nicht Mangel leide.
Ein Engländer erzählte mir jüngst, daß in London die Einrichtung
bestände, das Fleisch eines Ochsen zu verschiedenen Preisen zu verkau¬
fen, die sich darnach richten, ob das begehrte Gewicht von dem besse¬
ren Hintertheile oder dem weit schlechteren Vordertheile des Schlacht¬
viehs weggeschnitten wird. Dieses Verfahren scheint mir durchaus
billig und vernünftig zu sein, indem jener, welcher den besten Theil
will, auch die Mittel besitzt, ihn zu bezahlen, indeß der Arme, der
mit dem schlechteren vorlieb nimmt, auch weit weniger bezahlen soll.
So könnte es geschehen, daß das Pfund des Wohlhabenden 20 Kreu¬
zer kostet, und das Pfund des Armen blos 5 Kreuzer, wahrend jetzt
Arm und Reich für das Pfund II Kreuzer bezahlt, und der Reiche
wegen bedeutenderer Abnahme vom Fleischer für wenig Geld gleich¬
wohl mit dem besten Bissen bedacht wird, der Arme aber für viel
Geld doch nur den Abfall erhalt. Eine in solcher Art geregelte Fleisch-
rare wäre dann nichts anders als eine Anwendung des Prinzips der
Einkommensteuer auf eins der nothwendigsten Lebensbedürfnisse, und
wenn irgendwo dieses Prinzip an seinem Platze ist, so wäre es eben
hier, allein unsere Regierungen, im Allgemeinen gesprochen, müssen
noch manche Erfahrungen sammeln, ehe sie sich in Betreff der Be¬
steuerung dem Grundsatze nähern werden, daß die Armuth schon an
und für sich eine vom Schicksal auferlegte Steuer ist, die der Staat
nicht weiter verstärken soll, um nicht die Ideen des Communismus
zu wecken, die ohne Zweifel nie mächtig werden in der Brust des
Prolerariers, so lange er sieht, wie der Besitzende für ihn bezahlt.
Nur wenn der Besitzlose bemerkt, daß mit dem Besitz, der an sich
schon ein Vorrecht ist, noch andere Steuervorrechte verknüpft sind,
so regt sich in ihm die Philosophie der Verzweiflung; der Commu¬
nismus richtet sich nicht, wie man immer glauben machen möchte,
oder vielleicht selber glaubt, gegen das Eigenthum, das er als ein
Vorrecht des Schicksals gerne gelten lassen will, sondern gegen die
Herrschaft und den Druck des Eigenthumes, das die Gesetzgebung
dominirt und sein natürliches Vorrecht noch durch künstlich geschaffene
legislative Vorrechte verstärkt, indeß nach der Stimme der Vernunft,
die vom Eigennutz leider erstickt wird, die Gesetzgebung gerade darauf
hinwirken sollte, durch ein humanes, die Erstarkung der ärmern
Volksklassen bezweckendes Steuersystem die ursprüngliche Ungleich¬
heit der Menschen in Bezug auf irdische Glücksgüter einiger Maßen
zu paralysiren.
Der plötzliche Mangel an Schlachtvieh, welcher den Aufschlag
der Taxe motiviren mußte, war übrigens von den Metzgern selbst her¬
beigeführt, indem ihre Habsucht und Unverschämtheit die Viehpächter
in Ungarn und Polen abhält, wie sonst ihre Heerden vor die Thore
der Hauptstadt zu treiben, da ihnen, hatten sie einmal ihre Ochsen
zu Markte gebracht, diese von den Fleischern abgedrückt wurden, weil
sie wohl wußten, daß der Viehhändler seine Heerden nicht wieder sech¬
zig Meilen weit zurücktreiben werde, nachdem er eben diesen Weg
zurückgelegt und des Geldes bedürftig ist. Durch den Schaden ge¬
witzigt, blieben nun die Viehhändler in ihren Ländern ruhig daheim
und wollen, der Wiener Fleischer möge zu ihnen kommen, den Kauf
abschließen und das Erstandene selbst einheimsen. In Hause kann der
Züchter dem Metzger die Preise stellen, während er in der Ferne ganz
und gar in der Hand der speculativen Metzger liegt.
Der Kaiser hat dem Fischer Paul Ferri zu Ajuccio in Corsilan
wegen seines muthvollen Betragens bei der Rettung der Mannschaft
des im October verflossenen Jahres gescheiterten oft. Handelsfahrzeugs
„Buon Citadino" die kleine goldene CivilehrettmedaiKe verliehen und
ihm mit seinen Gehülfen eine Geldbelohnung von Gulden Conv^
Münze zustellen lassen, als Aufmunterung für ähnliche Fälle, denn
unsere Kauffahrer machen allerdings in Augenblicken der Noth häusig
sehr ungünstige Erfahrungen, wie mehrere Mittheilungen des „Triest-
ner Beobachters" in der letztern Zeit beweisen, welche wirklich schau¬
derhafte Beispiele von Gefühllosigkeit und Barbarei erzählen.
In den jüngsten Tagen erregte die von der hiesigen Musikzeitmig
gebrachte Nachricht von der Entdeckung von Glucks Grabmal aus dem
Mutzlcinsdorfer Friedhof in musikalischen Kreisen lebhafte Sensation.
Von Gras und Unkraut überwuchert steht im verfallenen Gemäuer
eine kleine Marmortafel, die folgende Inschrift trägt: Hier ruht ein
rechtschaffener deutscher Mann, ein eifriger Ehrist und treuer Gatte,
Christoph Ritter von Gluck, der erhabenen Tonkunst großer Meister.
Er starb am'15. November 1787. Frank'is Sonntagsblätter haben
eine Subscription zu Gunsten eines auf der Grabstätte zu errichtenden
Denksteins errichtet.
Unter den fremden Notabilitäten, welche sich einige Zeit hier auf¬
hielten, bemerkte man auch den Vorstand der Bücher- und Hand¬
schriftensammlung des brittischen Museums zu London, Herrn Ponizzi,
der nach längerem Aufenthalt uns bereits verlassen hat, nachdem er
mehrere literarische Erwerbungen im Interesse des ihm anvertraute!,
Instituts gemacht und namentlich eine für die Kenntniß altdeutscher
Literatur höchst wichtige Büchersammlung des Hofantiquarbuchhandlers
Kuppitsch erstanden.
Die Theaterzeitung tritt in eine neue Phase ihrer Geschichte,
indem ihr Redacteur, Herr Bäuerle, obschon die frühern Passive
noch nicht abgezahlt sind, neuerdings mit einer Schuldensumme
von I6VMV Fi. E.-M. Concurs angesagt hat, was denn auch
zur unmittelbaren Folge hatte, daß sein in der Vorstadt Mieder
liegendes Landhaus sammt dem schönen Garten und dem ganzen Ameu-
blement im Aufstrich verkauft ward. Ein steinreicher Bäckermeister
soll es erstanden haben. Wie sich die Verhältnisse in der Zukunft
gestalten werden, laßt sich kaum errathen, da wir die Angaben eines
Eorrespondenten der Hamburger Jahreszeiten nicht wiederholen, aber
auch nicht bestreiten mögen. Unter allen Umständen bleibt es indeß
ein unaufgeklärtes Räthsel, wie ein so lucratives Unternehmen, wie
die hiesige Theaterzeitung ist, die 25U0 Abnehmer zählt, (nicht 4VVV,
wie die Ankündigungen prahlen), und wie amtlich erwiesen, einen
Nettogewinn von jährlich 2V,VVV Gulden C. M. abwirft, sich nicht
halten kann, indem doch auch kein übermäßiger Aufwand zu einer
Lösung hilft. Doch wir fürchten, man könne uns auf diese indirecte
Frage dieselbe Antwort geben, welche ein witziger Schriftsteller dem
Rath des Wechsclgerichts ertheilte, der seine Verwundrung ausdrückte,
wie er bei seinem Einkommen noch so viel schuldig sein könne? Da,
wie Sie selbst sagen — war die Antwort des Literaten — ich ohnedies
so viel schuldig bin, so kann ich Ihnen auch noch die Antwort darauf
schuldig bleiben,
Die Deutschkatholiken in Leipzig und Breslau werden sich freuen,
wenn sie hören, daß die Iwuno iwuvvll« «je Kuviu'vimiKt vt Koog'«
von einem Theil der belgischen Journalistik gefeiert wird. Unlängst
las ich folgendes Akrostichon-
'
K^on^e Iinfitmv xapautö;
O graixl Initiier ressu^cito?
ZVotro si>!ol<>, <züi 8'oft fait Iiomms, .
E^iaixlit, vn süconknt I^ij-nolilv j»>ix <><! uomo,
MZt Is (^ni'main, i>^>' toi, cour»it la voi'its.
Freilich muß ich hinzufügen, daß dieses Akrostichon, welches zwi¬
schen Luther und Ronge so wenig Unterschied macht, im Mephistopheles
steht! Dieses Blättchen hat nicht den Witz und nicht die Grazie
des Pariser Charivari; durch sein französisches Idiom schlagt die
vlaemsche, rücksichtslose Grobheit gewaltig durch. Held's famose „Lo¬
komotive," ein unschuldiges Kind gegen den Mephistopheles, ward
unterdrückt, ohne daß man damit den bösen Geist in Deutschland be¬
ruhigt hatte, wahrend die ungestörte Existenz des Mephistopheles dem
kleinen Belgien, welches seine Rücksichten beobachten muß, so gut
wie das kleine Sachsen, nicht die geringste Unruhe macht. Noch
mehr: in kirchlichen Dingen ist Mephistopheles fast noch ungezogener
als in politischen, und doch ist Belgien tiefkatholisch und der Papis-
mus im Lande volksthümlich. Aber man glaubt es nicht, was für
Gegensatze sich in der Freiheit begegnen können, ohne daß der Kessel
springt. Brüssel wimmelt von geistlichen Pensionaten und vor allen
Buchbindereien und Kunsthandlungen sieht man katholische Tractätlein,
aber die Esiaminets hängen inwendig und auswendig eben so voll der
gräulichsten Carricaturen auf das Pfasfenthum. Die Landpfarrer
spritzen Blut und höllisches Feuer in ihre Predigten, und bei den
Wahlen führen sie ihre Gemeinden wie eine Schafheerde nach der
Hauptstadt; aber vergebens suchte ich im Journal de Brurelles, dem
Hauptorgan der Kirchlichen, jene Hexen- und Mirakelgeschichten, jene
grasse Dominikanerlogik und Kapuzinerpolemik, die bei uns der Rhein-
und Moselzeitung, der Augsburger Postzeitung und der Luxemburge¬
rin einen so pikanten Reiz verleihen. Woher dieser Abstand? Das
Blatt will auf die Gebildeten wirken und respectirt die öffentliche
Meinung. — Jüngst zog eine Kirmeßproccssion am Markt vorbei;
auch die Gräfin Merode konnte man bemerken, eine dicke Wachskerze
in den Händen und einen Lakai, n hinter sich. Aber von demselben
Altar, wo einst Alba der Enthauptung Horn's und Egmont's zusah,
da sahen heute die Freimaurer, deren Lokal in dem alterthümlichen
Hause ist, auf den glänzenden Zug von Priestern und Gläubigen herun¬
ter. „Ha," schrieb Mephistopheles, „Frankreich verbreitet die Jesuiten,
damit ihnen das unglückliche Belgien die Arme öffne. Und unsere
Constitution, dies Machwerk von Cretins und Heuchlern, gibr uns
nicht einmal eine Waffe gegen die Vampyre. Es ist Zeit, daß eine
That des Volkes die Charte erweitere. Jagt diese tonsiii-es loin-ni«-«
zum Teufel, reißt die Klöster ein, diese Mönchshöhlen, die das Land
urttermim'ren, dann wird Belgien ein glückliches Land sein," u. s. w.
Die Ohren gellen und die Augen flimmern mir. Ich blicke und
horche auf, ob noch keine Sturmglocke lautet, ob keine mordbrenne¬
rische Flamme gen Himmel leckt. Nichts. Alles still, nur ein paar
Herrn klappern mit den Dominosteinen. Ein Abendsonnenstrahl fallt
durch's Fenster und gießt, in lächelnder Ironie, ein unschuldiges Noth
auf Mephistos freche Wangen. Neben ihm, unter andern Zeitungen,
liegt, blaß vor Aerger, der Rheinische Beobachter, wie eine ehrsame
alte Jungfer, die sich im Gedränge plötzlich an der Seite einer grell
geschminkten Hetäre sieht. Und gerade erzählte sie den guten Leuten
an der Spree und Elster, wie sich sogar in Antwerpen eine kleine
fromme deutschkatholische Gemeinde gebildet habe. Eben so finde ich
plötzlich neben mir einen humoristischen alten Herrn, mit dem ich zu¬
weilen plaudere. —
— Wissen Sie schon? Die Jesuiten in Frankreich müssen ihre
Häuser schließen. — Ja wohl, sagt der alte Herr. — Und in Bel¬
gien? — Bah, wer denkt an die Jesuiten? Die Wahlen sind ja
längst vorbei. Ich wette, in Baiern, wo sie noch gar nicht sind,
haben sie mehr zu sagen, als hier in Belgien, wo sie dem Sand
am Meere gleichen. Sie machen von Jahr zu Jahr schlechtere Ge¬
schäfte, die armen Teufel. Aber wenn sie nicht selber gehn: vertreiben
wird sie Niemand. Hier ist Gewerbefreiheit! — Ich glaube, Sie
unterschätzen die Macht des Ordens. — O nein, aber die Macht der
Freiheit ist noch größer. Sie stecken mit Ihren Vorstellungen noch
etwas zu sehr in Deutschland. Es fällt mir nicht ein, den schädli¬
chen Einfluß des Ordens in Abrede zu stellen, da wo er kein Gegen¬
gewicht hat. Wenn Einer auf strenge Diät gesetzt ist — mein Gott,
was kann ihm nicht Alles schädlich sein! Ein gebratener Apfel kann
ihm den Tod bringen. Aber ein freies Volk hat einen guten Magen,
kann selbst die Jesuiten vertragen... Die armen Franzosen! Ich
habe lieber freies Vereinsrecht und die Jesuiten, als Louis Philipp
und kein freies Vereinsrecht. Verstehen Sie mich? — Haben Sie
davon gehört, daß in Antwerpen sich eine deutschkatholische Gemeinde
gebildet hat ? — In Antwerpen ? Vielleicht unter ein paar Deutschen,
die dort leben. Sonst wußt' ich nicht.. . Die Belgier sind viel zu
praktisch und haben auch keine Zeit zum Reformationspielen. — Sie
nennen Spielerei, was man in Deutschland eine große Bewegung
nennt. — So eben hat sich ihr ein gelehrter und ehrwürdiger alter
Geistlicher aus Breslau angeschlossen. — So, so! Ein Philosoph?
Versteht er auch was von Politik? Sehen Sie, mein Lieber! Ich
kann nicht darüber urtheilen, ob die deutschkatholische Bewegung groß
oder klein ist, obwohl ich glaube, daß beim Wiederkauen und Nach¬
äffer Dessen, was vor 10t) Jahren geschah, nichts Großes heraus¬
kommen kann. Aber selbst die großen Bewegungen bei Euch, weil
sie nie die ganze Nation ergreifen, lassen stets nur neue Spaltungen
und Trümmer zurück; und Deutschland hat deshalb mehr Grund auf
seine Torsos stolz zu sein als auf Das, was es vollendet... Uebri-
gens hab' ich lieber Jesuiten im Land und Freiheit, als keine Frei¬
heit und einen frommen deutschkatholischen Herrn Criminalrichter,
einen frommen deutschkatholischen Herrn Polizeidirector und einen from¬
men deutschkatholischen Herrn Censor. Verstehen Sie mich?---
Eine Schrift von höherem politischen Standpunkte ist das so
eben erschienene Werk: „Belgien in seinen Verhältnissen zu Frankreich
und Deutschland mit Bezug auf die Frage der Unttrscheidungszöllc
für den Zollverein von Gustav Höslen" (Stuttgart bei Eotta). Die
Tendenz., die ursprünglich den Grenzboten zu Grunde lag: Vermitte¬
lung Belgiens mit seinem großen stammverwandten Nachbar ist in
diesem Buche sowohl vom nationalen als vom Gesichtspunkte der ge¬
genseitigen Handelsinteressen mit großer Energie und Sachkenntniß
durchgeführt. Herr Höhlen, der, wenn ich nicht irre, seit mehreren
Jahren die Rubriken Niederlande und Belgien in der Augsburger
Allgem- Zeitung redigirt, ist auf das Gründlichste mit den deutsch-
belgischen Handelsfragen vertraut, er gibt daher nicht bloße Declama-
tionen, sonder» auf Ziffern und Zahlen beruhende Nachmessungen
über die Vortheile, die Deutschland und Belgien von einander ziehen
können. Diese materiellen Vortheile vergeistigt er durch die Idee der
großen germanischen Nationalität, deren Kinder die Bewohner diesseits
wie jenseits der Maas sind. Di.se Idee weiß er mit großer Beredt-
samkeit und Warme beiden Völkern an's'Herz zu legen. „Nicht zu
Frankreich geschlagen, nicht selbst miteinander vereint" — sagt Hös¬
len — „noch getrennt ist die Stellung der beiden niederländischen
Königreiche eine in sich gedeihliche und gesicherte; soll sie es werden,
so müssen sie als Küstengebiet dem großen Binnenlande sich anschlie-
ßer, auf welches wesentliche Abstammung, Lage und Interessen sie
hinweisen und in dessen Verbindung sie ihre Unabhängigkeit, volksei¬
gene Entwickelung und selbstständiges Wesen am meisten gesichert hal¬
ten dürfen." — Bücher wie das Höslen'sche, so häufig bei den Eng¬
ländern, gehören doch bei den Deutschen nicht zu den alltäglichen,
tiefes Nationalgefühl und praktische Handelspolitik gehen hier wie bei
Friedrich List Hand in Hand, um so aufrichtiger ist es zu wünschen,
daß die Regierungen ein aufmerksames Ohr dieser Stimme schenken.
Zwar sind Theaterkritiken unsere Sache nicht; aber in so ernster
Zeit muß man dem Vaterlande ein Opfer bringen. In ganz Deutsch¬
land scheint nämlich der Glaube verbreitet, die Leipziger Blatter seien
deshalb plötzlich so einsilbig über die Vorgänge in ihrer Stadt ge¬
worden, weil sie verhindert wären, sich freimüthig darüber auszuspre-
chen. Um nun diesem schwarzen Vorurtheile mit einem Schlage ein
Ende zu machen, und um zu beweisen, welch ein weites Feld uns
noch immer frei geblieben ist, wollen wir sogleich einen Theater¬
artikel schreiben.
Mitten in der gedrückten Stimmung, welche während der letzten
Wochen über unserer Stadt sich lagerte, ist es dem Talente eines
Schauspielers gelungen, jene behagliche Laune und heitere Selbst-
vergessenheit, die ein Eigenthum sturmloser Zeiten sind, unter dem
Publikum zu verbreiten. Der ermüdende Communalgardcndienst und
die politische Aufregung hat die Leipziger Bevölkerung nicht abgehal¬
ten, durch acht Abende, an welchen der Wiener Komiker Franz Wall¬
ner spielte, das Theater in allen seinen Räumen zu füllen und sich
von ihm aus dem trüben Schauplatze unglücklicher Vorgänge in die
jodelnde österreichische Alpenwelt und in das harmlose Kinderreich Wie¬
ner Späße und Phantasmagorien führen zu lassen. Wir thun Herrn
Wallner eigentlich Unrecht, wenn wir ihn mit dem stereotypen Gat¬
tungsnamen eines Wiener Komikers bezeichnen. Der sogenannte „Lo-
calkomiker" in Wien ist im Grunde nur eine Fortsetzung des Kas-
perls, seligen Andenkens. Spaß und Lachreiz sind die einzigen Ziele
dieser Schauspielergattung; an Charakteristik und Individualität denkt
Niemand. Die Wiener Possendichter, meist Talente untergeordneten
Ranges und ohne Bildung und Geschmack, tragen hauptsächlich bei, um
das angeborene Talent dortiger Komiker bis in den Grund zu verder¬
ben. Da es ihnen blos gilt, das Zwerchfell zu erschüttern, so werden
die komischen Rollen wie ein Sack vollgestopft mit einem Gemengsel
der buntesten und widernatürlichsten Spaße und Witzworte. Ob diese
oder jene Phrase und Handlungsweise zu dem Charakter paßt, wer
fragt darnach? Ein solcher Possencharakter schillert in tausendfachen
Farben. Bald ist er dumm und weltunbekannt wie Kaspar Hauser,
bald wieder pfiffig und raffinirt wie Figaro und Peru; bald ist er
so unwissend, daß er — ein stereotyper Kunstgriff die allereinfach-
sten Fremdworte entstellt, bald wieder spricht er Jean Paul'sche Phra¬
sen und Saphir'sche Wortspiele, als wäre er zwanzig Jahre besoldeter
Mitarbeiter an Bäuerle's Theaterzcitung. Wie soll der Schauspieler
in diese Wurst eine Einheit bringen, da er mit jeder Situation,
mit jeder Wendung des Dialogs ein anderer Mensch wird? Er muß
Hanswurstereien treiben, sich begnügen, jeden einzelnen Moment gel¬
tend zu machen, muß springen und zerren und die bunten Fetzen des
Harlekinkleidcs im Geiste weiter tragen. Seit dem Tode Raimund's
ist Herr Wallnec der erste Schauspieler wieder, der Poesie und Cha¬
rakteristik in dieses Genre zu bringen weiß. Wallner war schon in
Wien ein beliebter Darsteller, aber sein besseres Selbst, seine höhere
Ausbildung hat er erst in Deutschland gesunden. Mag sein, daß
vielfache Reisen und ein längerer Aufenthalt in Paris fruchtbar auf
ihn eingewirkt haben, ein Hauptmotiv wird immer seine Losreißung
von dem österreichischen Boden und seine Versetzung in einen andern
bleiben. Die Wiener Komiker, die nie von der Scholle wegkommen,
stets in Mitte von Oesterreichern lebend, sind zur Erlangung komi¬
scher Effecte genöthigt, das österreichische Element zu übertreiben,
zu verzerren. Nestroy hat die dem naiven Oesterreicher nichtsweniger
als geläufige Zote, als Würze und spanischen Pfeffer in seinen Stücken
angewendet und die trostlose Gemeinheit Wiener Darsteller macht so¬
gar Gesten als Eommentar hinzu. Wie wohlthuend dagegen ist eine
Darstellung von Wallner; naiv, liebenswürdig, schalkhaft und stets
einfach bis zum letzten Wort. Gerade im deutschen Norden hat Wall¬
ner den Gegensatz des österreichischen Elements erst recht kennen ge¬
lernt; die drollige Naivität, die kindliche Beschränktheit, die gutmü¬
thige Derbheit derselben reichen, auf ihre einfachen Elemente zurück¬
geführt, zu einem liebenswürdig komischen Bilde aus, ohne daß es
der Zuthat von Fiakerspäßm bedarf. Diese Bestandtheile bilden den
Grundcharakter des Wallner'schen Spiels und erklaren namentlich den
wohlthuenden und behaglichen Eindruck, den jede seiner Vorstellungen
bei dem Zuschauer zurück läßt. Uebrigens kommt Herrn Wallner die
Leichtigkeit zu Gute, mit welcher er stets durch neue für Ort und
Gelegenheit eigends gemachte Couplets eine Art journalistischen Reiz
in seine Rolle zu bringen weiß. Wie weit sein schriftstellerisches Ta¬
lent auch außer dem Theater ausreicht, werden wir bald beurtheilen
lernen, denn wir lesen so eben die Ankündigurg eines Buches: „Aus
dem Tagebuch eines alten Comödianten von Franz Wallner" (Leipzig
bei Otto Wigand 184.;.)
— Ein Seitenstück zur Geschichte von Schiller's Schädel, die in
unserer heutigen Nummer sich befindet, liefert so eben ein Proceß,
der in Paris um den Schädel Richelieu's geführt wird. Cardinal
Richelieu wurde seinem letzten Willen gemäß in einer Capelle in der
Sorbonne begraben. In diesem Grabe liegt nun der Leichnam des
berühmten Cardinals wohl einbalsamirt, aber der Kopf fehlt. An
einem der schrecklichsten Tage der Revolution wurde dieses Monument,
wie so viele andere, umgestürzt. Dem vorhandenen Leichnam wurde
der Kopf abgeschnitten und auf einer Pike durch die Stadt getragen.
Der Vater des gegenwärtigen Kammerdeputirten Armez hat den Kopf
dann an sich zu bringen gesucht und hat ihn als eine kostbare Reli¬
quie seinem Sohne hinterlassen. Die Sorbonne hat nun gegen den
Deputaten Armez einen Prozeß eingeleitet, um „ihr Eigenthum"
wiederzuerhalten.
— In Gheel, einem kleinen Städtchen unweit von Brüssel, ist
eine Jrrencolonie. Vor einigen Wochen hat daselbst ein Wahnsinni¬
ger den andern erschlagen, es war ein Protestant und der Erschlagene
ein Katholik. Nun hört man von einem zweiten Mord. Der Wahn¬
sinnige stosset, in der Colonie als der friedlichste unter allen Irren
bekannt, wurde von einem Manne, bei dem er wohnte, ermordet.
stosset war Protestant und sein Pfleger scheint diese Missethat aus
Fanatismus verübt zu haben. In Chemnitz schlagen sich die Stra¬
ßenbuben die Köpfe wund und spielen Leipzigs. Wenn unsere
deutschen Religionsstreitigkeiten so hübsch vorwärts gehen, wie sie sich
anlassen, werden die Wahnsinnigen bald Deutschlands spielen.
— Während sie am Rheine musicirten und sangen, ist der Sän¬
ger des freien deutschen Rheins in aller Stille zu Grabe getragen
worden. Armer Nicolaus Becker — er hatte nur einen Ton in der
Kehle, als dieser nicht mehr klingen wollte, legte er sich nieder und
starb. In kürzerer Zeit hat nie ein Dichter sich überlebt.
— Franz Lißt hat in Bonn folgenden drolligen Toast ausgebracht!
„Ich trink auf das Wohl eines Studenten, der von Allen, die je auf
dieser Universität studirten, die glänzendste Carriere gemacht hat —
es ist der Prinz Albert." — In der Chronique scandalöse gehört es,
daß dem berühmten Pianohelden nicht weniger als drei Frauen nach¬
gereist sind, und zwar drei Frauen mit berühmten Namen!
Rings blühen Gärten auf aus dürren Herzen,
Aus grauen Mumien goldner Titel Pracht.
Alls dem höchsten Standpunkte des Pore Lachaise angelangt,
erblickt man ganz Paris zu seinen Füßen, von wo einem die öffent¬
lichen Monumente dieser Hauptstadt bedeutungsvoll entgegcnragen;
sie, welche die Verkündiger der neuern wie ältern Geschichte Frank¬
reichs sind, die stummen Zeugen des Treibens der Pariser Welt, die
durch ihre Tollheiten, ihre Gräuel, ihre Moden, ihre Mängel und
Vorzüge, ihre Tugenden und Laster so berühmt geworden; und selbst
der Pore Lachaise muß diesen Monumenten beigezählt werden.
Ein Friedhof und zugleich ein Lustgarten, unter dessen Boden
das Reich der Gleichheit wohnt, dessen Oberfläche jedoch das stolze
Gepräge eitler Auszeichnung zur Schau trägt; denn in diesem Cy-
pressenhaine erheben sich anmaßend, neben bescheidenen schwarzen Kreu¬
zen aus Holz, oder einfachen Platten von Sandstein, hohe Pyrami¬
den, Obelisken und Marmorsäulen und an der Seite prachtvoll er¬
bauter Familiengrüfte stehen mit Blumen blos verzierte Grabeshügel.
Ja, selbst an diesem Orte der ewigen Ruhe wollen die Nangsstufen
sich noch geltend machen, auch dort will der Staub des ehedem
Mächtigen oder Vornehmen einen Vorzug genießen. Eitles Trach¬
ten! goldene Buchstaben in Granit oder Marmor gegraben, glänzen
zwar die Augen blendend in den Sonnenstrahlen, aber man weiß,
daß all' diese herrlichen Grabesmonumentc nur Staub, der sich mit
der Erde mischt und zur Erde wird, bedecken; man weiß, daß zwi¬
schen dem Staube des Reichen und deS Armen kein Unterschied mehr
ist, daß alle unterirdischen Bewohner des Pi-re Lachaise durch dieselbe
Pforte, in dieselbe Behausung eingehen, in welcher kein Ansehen mehr
gilt und daß sich diese Pforte hinter ihnen auf ewig zuschließt; des¬
halb vermögen die ruhmrediger Grabschriften, Bronze- oder Mar¬
morstatuen den Vorübergehenden nicht mehr zu tauschen. Aber nicht
allein die pompösen Grabmäler rühmen die großen Verdienste und
Vorzüge der unter ihnen ruhenden Todten, auch die Inschriften der
einfachen Steine oder Kreuze melden, daß auf dieser oder jener Stelle
entweder eine mit allen Tugenden geschmückte Hausfrau, oder ein
musterhafter Gatte und Vater, oder aber ein hoffnungsvoller Jüng¬
ling, eine tugendsame Jungfrau u. f. w., begraben liegt und daß
Alle insgesammt von den zurückgebliebenen Verwandten und Bekann¬
ten aufrichtig bedauert und betrauert werden. Demnach müßten in
Paris nur tugendhafte Menschen sterben, oder der Pore Lachaise ein
blos den Tugendhelden geweihter BecrdigungSpIatz sein.
Dem Eingange des Pere Lachaise gegenüber auf einem freien
Platze, von einem eisernen Geländer mit reichvcrgoldeten Spitzen
umgeben, steht ein großartiges Monument, es ist dem Andenken Ca-
simir Perrier's geweiht, seine Statue in Lebensgröße und im Costüme
als Ministerpräsident steht oberhalb desselben. Die gute Stadt Pa¬
ris ließ ihm aus Dankbarkeit dies kostspielige Denkmal errichten,
so wenigstens liest man es auf den vier Marmorwänden. Da jedoch
die Gelder, über welche der Pariser Gemeinderall) zu verfügen hat,
meistens nur von der ärmeren Bevölkerung dieser Stadt erhoben
werden, so wurden die Armen im Grunde dazu gezwungen, ihm,
dem Geldaristokraten, der während seines Lebens das gemeine Volk
hart behandelt und verachtet hat, dieses Monument setzen zu lassen.
Geschah es aus Dankbarkeit??
Dieses einfache aber geschmackvolle Grabmal am Abhänge rechts
hat nur zwei Sylben zur Aufschrift: Börne. Eilig geht der Fran¬
zose vorüber, gedankenlos, theilnahmlos. Er weiß nicht, daß sie hier
das treueste deutsche Herz in fremder Erde begraben haben. Von
den Kunstschätzen, welche die Heere Napoleons aus Deuischland nach
Paris entführten, mußten die meisten wieder ausgeliefert werden »ach
dem Pariser Frieden. Aber eines der größten, unschätzbaren Klei¬
nodien deutscher Nation, das Herz Börne's, liegt tief eingegraben
auf einem Friedhofe Frankreichs, kein Potentat verlangt seine Rück¬
gabe. Glücklicher als Napoleon, dessen Asche sie aus dein hiftori-
schen Erik von Se. Helena herübergebracht, schläft Börne unter dem
grünen Rasen, wohin ihn Deutschland erilirte, als ein Monument
der traurigen Geschichte seines Vaterlandes im Grabe noch anregend,
wie in seinen Schriften. Die Uebersiedlung der Asche deS großen
Kaisers hat seiner Erinnerung eine dem gegenwärtigen Throne Frank¬
reichs gefährliche Poesie entzogen, Börne'S Asche auf dem Pere La-
chaise aber sichert ihm eine ewige Glorie; noch im Tode protestirt
er, und das Herz des deutschen Wanderers zieht sich krampfhaft zu¬
sammen an der Stelle, wo er den Frieden gefunden.
Rechts von diesem Monument auf einem Hügel bemerkt man
eine freistehende Pyramide, der Todesengel mit umgekehrter Fackel,
der ein junges Mädchen verschleiert an die Pforte der Ewigkeit führt,
ist künstlich darauf ausgehauen; man kann dies Denkmal dem kost¬
spieligsten deS Pere Lachaise beigesellen. Unter demselben ruhen die
irdischen Ueberreste einer siebenzehnzährigen Tochter der deutschen Für¬
stin die ihr Kind gleich nach der Geburt einer auswärtigen Amme
überließ, später in ein vornehmes Pensionat ein Paar Hundert Stun¬
den weit nach Paris schickte, wo es in seinem Blüthenalter starb, ohne
seine Mutter öfter als viermal im Leben gesehen zu habe». Die
Inschrift dieses Denkmals spricht von der Zärtlichkeit der untröst¬
licher Mutter!!
Auf der entgegengesetzten Seite erblickt man einen kolossalen
Obelisken, mit glänzender Metallschrift nennt er den Namen Mon¬
sieur Petit, dessen zahlreiche Verdienste und Tugenden der Nachwelt
aufzubewahren er bestimmt ist. Wer war dieser Tröster aller armen
Wittwen und Waisen, wie solches die Grabschrift von ihm rühmt?
Ein steinreicher, geiziger Wucherer, der weil er seine Schätze in's Grab
nicht mitnehmen konnte, wenigstens unter einem reich mit Gold ve»
zierten Monument begraben sein wollte und dem die lachenden Erben,
froh, ihn losgeworden zu sein, satyrisch obige Grabschrift einmeißeln
ließen.
Von Cypressen dicht umschattet, in einem einsamen Winkel deS
Pere Lachaise, liegt eine breite Steinplatte, auf deren Oberfläche
zwei Gestalten in Lebensgröße, er in der Kleidung als Mönch, sie
als Nonne, ausgemeißelt zu sehen sind; obschon der gothische Styl
das hohe Alter dieses Monumentes beurkundet, findet man es den¬
noch stets mit frischen Trauerkränzen geziert. Es sind nicht Na-
mensverwandte, die es noch jetzt mit Blumen schmücken, es sind Lei¬
densverwandte, es sind unglücklich Liebende: Denn unter dieser Gra¬
besplatte ruht die Asche Abelards und Heloisens. Jeder darauf ge¬
worfene Kranz bedeutet ein gebrochenes Herz.
Doch lassen wir die Todten ruhn, wenden wir unsere Blicke von
ihren Gräbern ab, um sie den Monumenten der belebten und le¬
bensfrischen Stadt Paris zuzuwenden.
Das erste, welches man von der Höhe des Pore Lachaise er¬
blickt, ist eine hohe aus Erz gegossene Säule, von welcher herab eine
vergoldete Figur, blos mit einem Fuß darauf befestigt, eine in den
Lüften schwebend, über Paris, in der rechten Hand den Kranz des
Ruhmes hebt und in ihrer linken die Palmen des Friedens hält.
Dies ist das jüngste Monument in ganz Paris, es verdankt seine
Entstehung der Julirevolution, nennt sich deshalb auch die Julisäule
und die Namen der während der drei blutigen Tage gefallenen
Opfer sind darauf zu lesen; es soll den Sieg der Freiheit über
die Despotie darstellen, deshalb hat man eine Göttin der Freiheit
hinaufgestellt; daß man sie aber mit Gold überzog, geschah Wohl
nur deßwegen, um den Franzosen das Herannahen der Herrschaft
des Goldes zu verkünden, unter welcher nur derjenige wahrhaft frei
ist, der von diesem Metalle in Ueberfluß besitzt. In diesem Sinne
haben sich die Pariser während der Julitage allerdings die goldene
Freiheit erkämpft, und der Bastillenplatz, auf welchem dieses Monu¬
ment errichtet ist, hat seine Bedeutung nicht verloren, nur verändert;
wo sonst das Denkmal der Despotie, der Willkür stand, steht jetzt
ein Denkmal der Despotie des Goldes.
Am westlichen Horizont, auf einer Anhöhe, zu welcher die Haupt¬
allee der clisäischen Felder führt, umgibt der blaue Himmel wie mit
einer Glorie das stolze Haupt des Triumphbogens de l'Etoile. Na¬
poleons Genie entwarf den Plan seiner Errichtung. Dazu bestimmt,
nach römischer Sitte dem heimkehrenden Sieger die Ehre eines Tri¬
umphzugs zu gestatten, mag sich der Kaiser wohl im Geheimen ge¬
schmeichelt haben, einst als Ueberwinder der stolzen Bnrcmia unter
seiner Bogenwölbung triumphirend einzuziehen, aber nur sein Kata¬
falk zog durch dieselbe, als sein Leichnam, aus der englischen Gefan¬
genschaft zurückgebracht, von vielen Hunderttausend Menschen jubelnd
begrüßt, nach dem Invaliden-Hotel geführt wurde. Fünfzehn Jahre
früher beglückwünschte die Pariser Municipalität an demselben da¬
mals noch nicht vollendeten Monument den Herzog von Angoulöme,
er kam gerade aus Spanien zurück, wo er den despotischen Ferdinand
wieder auf den Thron gesetzt; und dieser betrübte Sieg wurde von
Schmeichlern an die Seite der Schlachten von Marengo, Austerlitz,
Jena, Eilau gestellt; doch auf sein Haupt, welches bei dieser Gele¬
genheit mit einem unverdienten Lorbeerkranz geschmückt wurde, drückte
man einige Jahre später eine ebenfalls nicht verdiente Dornenkrone
der Verbannung. Auf den inneren Seitcmvänden dieses Triumph¬
bogen sind jetzt alle Schlachten, die die Franzosen vorgeben gewon¬
nen zu haben, aufgezeichnet.
Zwischen den elisaischen Feldern und den Tuilerien, rechts den
Anblick nach dem Palast der Deputirtenkammer, links den nach der
im griechischen Styl neuerbauten Magdalenenkirche gewährend, liegt
der Concordienplatz, dem an Schönheit, Geschmack und Pracht wohl
nur der Marcusplatz von Venedig würdig zur Seile gestellt werden
kann. In Mitte desselben erhebt sich der Obelisk von Luror, ein
egyptisches Monument, aus den Zeiten der Pharaonen, welches man
mit unendlicher Mühe und Kostenaufwand von den Ufern deS Nils
bis an den Strand der Seine brachte, um alldort auf einem Pie-
destal von polirtem Granit zu prangen. Die goldenen Inschriften
auf seinen vier Seiten melden den Ort seiner Heimath, seine Ge¬
schichte, wie den Tag, an welchem dessen Grundstein von Louis Phi¬
lipp auf derselben Stelle gelegt wurde, auf welcher 1793 das Haupt
Ludwigs XVI. unter der Guillotine fiel. Ein breites vielfarbiges
Bithumpflaster umgibt sowohl den Obelisken, wie auch die zwei
herrlichen Springbwnen, die ihm zur Seite stehen und mächtige
Wassermassen bis über ihren vierzig Fuß hohen Gipfel emporheben,
um sie wieder in weite Becken sprudelnd herabstürzen zu lassen, wäh¬
rend sie eine liebliche Kühlung lind perlenmutterglänzenden Wasser¬
staub rings herum verbreiten. Dieser Platz, auf welchem das Schaf¬
fst während der Revolution so viele Opfer verschlang, er trägt nicht
die geringste Spur seiner ehemalige» grauenvollen Bestimmung mehr,
er ist ein Lieblingsspaziergang der Pariser Welt.
Jener Palast, der seine breite Fronte dem Obelisken von Luror
zukehrt, von welchem er nur durch einen Kunstgärten getrennt wird,
ist der Tuilerienpalast. Heinrich IV. dachte gewiß nicht daran, als
er eine Ziegelhütte außerhalb der damaligen Barrieren von Paris
demoliren ließ, um eine Villa an deren Stelle bauen zu lassen, daß
dieselbe jemals die gegenwärtige Ausdehnung und geschichtliche Be¬
deutung erlangen werde. Wenn die zum Untergang sich neigende
Sonne ihre Purpurstrahlcn durch den Triumphbogen de l'Etoile
dem Concordienplatze entlang bis zu den hohen Fenstern der Tuile-
rien entsendet, sie im rosigen Licht erglänzen macht, erscheint dieser
Palast, vom magischen Farbenspiel umflossen, in Mitte des Gartens,
wie auf einer glückseligen Ferninsel zu stehen. Aber aus diesem Pa¬
last wurde Ludwig XVI. von den Jacobinern vertrieben; in diesem
Palast faßte der revolutionäre Convent seine die Welt erschütternden
Beschlüsse; in diesem Palast entwarf Napoleon die Pläne, welche die
Eroberung der Welt bezweckten, und decretirte Gesetze für den
ganzen Continent. Der König von Rom, der Herzog von Bordeaux,
der Graf von Paris erblickten das Licht der Welt in ihm. Wo sind
diese drei Günstlinge des wandelbaren Glücks, die mit einer Krone
geschmückt geboren wurden? Der eine ist Staub, der andere ein
heimathsloser Flüchtling, der dritte ein vaterloses Kind zwischen dem
französischen Thron und einer verhängnißvollen Zukunft schwebend.
Wie glänzt und leuchtet schon aus der Ferne die vergoldete
Kuppel des Invaliden-Hotels. Frei von allen Seiten, nur von
einem schmalen Graben umgeben, von welchem die darauf aufge¬
pflanzten Kanonen den Parisern einen Sieg oder eine sonst erfreu¬
liche Nachricht zu verkünden pflegen, steht dieses ehrwürdige Gebäude,
in Mitte von Gartenanlagen und schattenreichen Spaziergängen wie
ein freundlicher, sich noch des Lebens freuender Greis da. — Ja
doppelt ehrwürdiges Gebäude deiner Bestimmung, wie deiner Be¬
wohner wegen; dich hat selbst die vandalische Zerstörungssucht der
Schreckenszeit verschont, die doch alle historischen Erinnerungen zu
vernichten strebte, sie verschonte dich, weil deine Vergangenheit stets
glorreich wie fleckenlos gewesen. Von Ludwig dem Prachtliebenden —
nur Schmeichler nennen ihn den Großen — gegründet; vom Kaiser
großmüthig dotirt, vergrößert und verschönert, bleibt das Invaliden-
Haus ein schönes Denkmal 5er Dankbarkeit des Vaterlandes.
In dem höchsten Stadttheil von Paris, gerade dem Pere La-
chaise gegenüber, dein es aus weiter Ferne zuzuwinken scheint, steht
das Pantheon, ein Monument, dem die Ehre zu Theil wurde, das
Andenken großer Männer der Nachwelt aufzubewahren; aber auch
ein Murat fand eine Stätte in diesem Tempel des Nachruhms und
Rousseau wie Voltaire wurden schon ein paarmal hinausgeworfen
und wieder beigesetzt. So wird oft das, was eine Generation für
groß verehrt, von der nächsten in Staub getreten, in Koth geschleift.
Wer ist wirklich groß? Nur die, welche auch ohne Ehrentempel
oder historische Ruhmrederei sich im Gedächtniß der Nachwelt er¬
halten, deren Wirken und Thun das Eigenthum der NolkSsagen
geworden, die sie sicherer und unparteischer als einseitige Ge¬
schichtsschreiber von Generation zu Generation fort und fort ver¬
pflanzen. Das Pantheon in dem Quartier Ladin gelegen, worin
die Pariser Musensöhne und Grisetten ihren luftigen Spuck treiben,
sieht zu seiner Rechten den Palast von Luxemburg, berühmt durch
seine an Originalgemälden von Rubens reicher Bildergallerie und
berüchtigt durch die ehemaligen oceanischen Nachlgclage während der
Regentschaft zur Zeit Dubois. Jetzt dient derselbe den ehrwürdigen
Pairs als Sitzungssaal, und hinter ihm reihen sich die von der hohen
Aristokratie meistens bevölkerten Straßen der Vorstadt Se. Germain
an. Links aber gränzt er an eine an Armuth und liederlichen
Gesinde! aller Art reiche Vorstadt. So steht also das Panthean
in Mitte der muthwilligen Jugend, umgeben von der einen
Seite von den größten Reichthümern und Lurus, von der andern
von Armuth, Noth und Elend, Leichtsinn und Gelehrsamkeit, alle
modernen Laster der vornehmen Welt, alle rohen Verbrechen des ge¬
meinen Pöbels berühren sich in seinem Umkreis, wohnen nah bei¬
sammen.
Ganz nahe am Boulevard des Italiens nur durch einen Theil
der Straße Vivienne davon getrennt, erblickt man auf einem regel¬
mäßigen, großen Platz ein architektonisches Meisterwerk. Dieses
Gebäude ist die Börse; auch ein Monument, ein Denkmal einer
hypocritischen Zeit, in welcher man die Spielhäuser verboten, aber
die Spielmärkte weit öffnet, worin man in einem Tag zum Mil-
lionär oder Bettler werden kann. Allgemein nimmt man an, daß
bei dem Börsespiel die Glückchangen für alle Spielenden ohne Unter¬
schied gleich sind, allein sie sind eS nicht, wenigstens in Paris nicht,
dort befindet sich das Geheimniß des sicheren Gewinnes in dem aus¬
schließlichen Besitze einiger reichen Bankiers, die das Steigen oder
Fallen der Staatseffekten ihrem Vortheil gemäß herbeizuführen im
Stande sind. Es ist nicht der Zufall, der auf der Pariser Börse
Gewinnst und Verlust bestimmt, sondern eine unfehlbare Vorbe¬
rechnung, nach welcher nur der Millionär auf Unkosten der kleinen
Spieler gewinnen kann. Im französischen modernen Wörterbuch wird
ein derartiger Erwerb eine glückliche Börsespeculation genannt, im
Grunde genommen ist eS jedoch eine Prellerei, die schon viele hun¬
dert Familien in's Verderben gestürzt, während sie den Besitzern
großer Reichthümer das sicherste Mittel bietet, ans bequeme Art schnell
und ohne Mühe ihre Capitalien zu verdoppeln und wieder zu ver¬
doppeln. — Wie Naben die Kirchhöfe umschwärmen, an Nahrung
dort zu suchen, ebenso umlagern alle Gewerbe, die auf leichten
Gewinn ausgehen, die Börse. Die ganze ehemalige Bevölkerung
des Palais Royal, zur Zeit als noch die Hazardspiele dort geduldet
waren, hat sich jetzt in der Nähe der Börse angesiedelt, dort findet
man die „vornehmsten" öffentlichen Häuser, eine Menge TavernierS,
Caffee's und Restaurants, mit einem Wort alles was den Sinnen
Genuß bietet auf kleinem Raum beisammen und selbst die Chaussee
d'Slntin, dieses Hauptquartier der immer mächtiger werdenden Geld¬
aristokratie liegt blos durch den Boulevard davon getrennt.
Die Seine, die sich in der Nähe der Kathedrale von Notre^
dame de Paris in zwei Arme theilt, um sich unter der Bogenwöl¬
bung des Pontneuf wieder zu vereinigen, bildet da eine kleine Insel,
auf welcher die sogenannte City, das vormalige ganze Paris steht.
Alle Plätze, Gassen, ja selbst die meisten Gebäude dieses ältesten
Stadttheils haben ihre historische Bedeutung. Zuerst Notredame, in
neuerer Zeit durch Victor Hugo'S Roman noch populärer geworden,
dann das Hotel-Dieu, die großartigste Krankenanstalt in Frankreich,
ferner der Gerichtspalast, woraus jährlich viele hundert Verbrecher
theils dem Schaffotte überliefert, theils auf die Galeeren oder son¬
stige Strafanstalten abgeführt werden. Die Conciergerie, das be-
rüchtigste Gefängniß, worin die unglückliche Königin Marie Antoinette
ihre letzten Tage verlebt hat, woraus man Madame Roland, Char¬
lotte Condary wie überhaupt die meisten Helden und Heldinnen der
Revolution nach der Guillotine führte. Die Polizeipräfectur, dieses
unheimliche Gebäude, in dessen unterirdischen Gefängnissen Hunderte
von unfreiwilligen oft ganz unschuldigen Personen seufzen. Und
mitten unter diesen theils Schauer erregenden, theils Andacht, Mit¬
leid oder Ernst erweckenden Monumenten, liegt der berühmteste Blu¬
menmarkt von Paris. Was sollen diese unschuldigen Kinder der
Pflanzenwelt zwischen Kirchen, Spitälern, dem Gerichtshof, der Po¬
lizeipräfectur, Gefängnissen und dem Pranger? Sie sollen fortblühen
wie die echte Tugend, die umringt von Lastern oder Elend noch im¬
mer Tugend bleibt.
Der unter dem Namen Vede^let am Schlüsse des abgetan--
selten Jahres unter der Leitung des Grafen L. Vathyany und des
Journalisten Kossuth gebildete Verein, der die Tendenz hat, die
ungarische Industrie gegen das Uebergewicht der österreichischen zu
schützen und seinen Mitgliedern das Gelübde abnimmt, keine andern
Stoffe zu kaufen, als solche, die im Lande selbst erzeugt worden, ist
gegenwärtig zur Zeitungsnote geworden und man kann kaum ein
deutsches Journal in die Hand nehmen, ohne in jeder Nummer min¬
destens eine kurze Notiz, eine satyrische Anekdote oder eine absprechende
Bemerkung darüber zu finden. Die Quelle aller dieser Corresvondenz-
berichte sind Wien und Pesth, und wenn man auch hier oder dort einen
andern Ort bezeichnet liest, so ist dies doch nur eitel Spiegelfechterei
und der Kampf wird lediglich aus diesen beiden Lagern geführt, in
denen sich die beiderseitigen Interessen verschanzt haben. Es ist über
diesen Gegenstand schon so viel geschrieben und debattirt worden,
und namentlich hat die von Baron Zedlitz und Herrn Pulsky in
der Augsburger Allgemeinen Zeitung geführte Polemik die Sache in
sofern nach allen Seiten aufgehellt, daß sich jener Theil des Publi¬
kums, der sich aus'gegenseitigen Widerlegungen ein selbstständiges
Urtheil zu bilden im Stande ist, bereits ziemlich im Klaren befinden
dürfte; auch die geheime Geschichte dieses Vereins — denn er hat eine
solche — ist, wenigstens an den Endzipfeln des Tuches, welches sie
verdeckt, gelüftet worden und der Schreiber dieses fühlt sich keineswegs
berufen, die Enthüllung zu vervollständigen, selbst wenn es unter den
jetzigen Umständen, wo das Schicksal des Schutzvereins eben entschie¬
den werden soll, nicht taktlos und absichtlich erscheinen müßte. Es
ist die stumpfe und ehrlose Waffe der Intrigue, welche die Erschei¬
nungen des öffentlichen Lebens immer und immer nur als die gar¬
stigen Ausgeburten des Egoismus und Ehrgeizes hinstellen mochte
und den Leser, so oft auf der Bühne politischer Bewegung eine er¬
greifende, bedeutsame Scene vorfällt, auf den Schnürboden und in
das Podium hineinführen will, um ihm die Versenkungen und die
Flugmaschinen zu zeigen und die groben, behaarten Arme der Arbei¬
ter, durch welche, wie sie pfiffig hinzusetzt, allein die ganze Wirkung
erzielt worden, über welche wir eben früher aufrichtige Thränen ver¬
gossen. Allein so wenig ein Vernünftiger jemals glauben wird, die
dramatischen Effecte seien das Werk des Maschinisten und wenn er
lachen müsse, so wäre der Coulissenschiebcr daran schuld, sondern recht
gut weiß, daß all' dieser mechanische Firlefanz nur schales Beiwerk
ist und die Handbewegung, die Stimme und das Narrenspiel des
Künstlers auf den Brettern bei der Sache mehr sei, als aller
Schweiß unter denselben, eben so wenig kann es den politischen
Ohrenbläsern je gelingen, die Geschichte in Memoiren aufzulösen und
jede That auf einen verdorbenen Magen oder einen leeren Beutel
zurückzuführen.
Man hat alles mögliche versucht, um den ungarischen Schutz¬
verein zu verdächtigen. Und fürwahr, wenn die hohe Behörde zu
Wien nur die Stimme der reichen Faullenzer hört, die bisher im
bequemsten Müßiggang ein syberitisches Leben führen konnten und
vom Fabrikanten oft nichts hatten, als den Namen, so muß sie den
VeäuMlvt unfehlbar auflösen, schenkt sie aber den Bedürfnissen Un¬
garns und den Forderungen seiner steigenden Entwicklung gleichfalls
ein geneigtes Ohr, so kann sie den Voilv^Jot ebenfalls auflösen,
aber nicht ohne etwas Anderes an seine Stelle zu setzen. Sie würde
dadurch eine Lücke lassen, die bald zur Kluft werden müßte und aus
den Klüften, sagt das Landvolk, steigen oft böse Dünste und die
Sonne selbst wird manchmal von diesen Dünsten verdunkelt. Die
österreichischen Fabrikanten sind Legitimisten geworden und berufen
sich wie Don Miguel und die Bourbons auf ihr historisches Recht,
worunter sie den Zolltarif verstehen, und das bisherige Wechselver¬
hältniß, wonach Ungarn seine Rohprodukte herübersandte, den Tage¬
lohn und die Gewinnprämie für den österreichischen Fabrikherren be¬
zahlte und dafür seine Rohstoffe wieder zum Theil als Waare in
Empfang nahm. Dieses historische Recht der österreichischen Fabri¬
kanten war echt patriarchalisch und allerdings so beschaffen, daß man
dabei nicht viel Kopsbrechens bedürfte, reich werden konnte, ohne den
Fuß vor das Stadtthor zu setzen und von dem Welthandel eben so
wenig zu verstehen brauchte, wie ein Schuljunge. Wer nur einmal
in seinem Leben mit Wiener Fabrikanten zu thun hatte, weiß zur
Genüge, wie Wenige sich darunter befinden, die einen weitem Ge¬
sichtskreis besitzen und Kenntnisse von den industriellen Zuständen der
Schweiz, Deutschlands, Frankreichs oder gar Englands haben. Wozu
auch? Diese Leute handeln ja mit Pesth und werden dabei reich,
was brauchen sie sich noch um Asien oder Amerika zu kümmern;
ohne die Triester Kaufleute hätte Oesterreich noch zur Stunde keinen
Seehandel. Die kommerzielle Unwissenheit erstreckt sich in Wien bis
auf die Commis, so weit diese selbst wieder Landeskinder sind, denn
nur sehr Wenige reisen in's Ausland und serviren an den größeren
Handelsplätzen. In den westlichen Staaten sieht man selbst die
Söhne der wohlhabendsten Kaufhäuser in fremden Häusern eine Zeit
lang beschäftigt, damit sich der Erfahrungskreis der jungen Männer
erweitere und ihre Geschäftskenntniß ausbilde. In Wien dagegen
kommt ein Kaufmannssohn nie aus dem väterlichen Hause, denn dies
gilt als eine Schande und wenn er reist, so ist es nur nach Paris,
um die Schönheiten deö Palais Royal zu studiren und den Geschmack
der Grisetten kennen zu lernen. Die Handlungsdiener endlich, gegen
die ein Commis Voyageur aus Deutschland wie ein Newton oder
Peel erscheint, sind in Wien ihrer Geckenhaftigkeit und Unwissenheit
wegen zum Symbol der Dummheit geworden und treten aus der
Realschule unmittelbar in das Handlungsgeschäft über, ohne oft eine
Fabrik gesehen zu haben und mehr zu wissen, als die vier Species
und die drei Regeln. Dazu kommt noch die ungemeine Bequemlich¬
keit, womit die österreichischen Industriellen ihre Geschäfte zu betrei¬
ben pflegen, und nicht selten Hort man den Ausruf, daß, wenn es
einmal so weit käme und man sich dergestalt umthun und plagen
müsse, wie in den Ländern des Zollvereins, es sich gar nicht lohne,
mehr zu sein als ein Bauer. Darum haben auch die Wiener Fab¬
rikanten eine wahre Höllenangst vor dem Anschluß an den Zollverein
und noch unlängst hörte man aus dem Munde eines solchen die
naive Versicherung: „Zehn Schutzvereine machen noch keinen deut¬
schen Zollverein."
Seit der Befreiung vom türkischen Joch hat Ungarn alle Hände
voll zu thun gehabt, sich der absolutistischen Zumuthungen Oester¬
reichs zu erwehren; unter Maria Theresia verschaffte den Ungarn
die äußere Gefahr, die den Bestand der Dynastie bedrohte, eine
Reihe von Jahren hindurch innere Ruhe, allein schon Kaiser Jo¬
seph II., der sich nicht krönen ließ, um nicht den Eid auf die Ver¬
fassung leisten zu müssen, und welcher darum von den ungarischen
Geschichtsschreibern auch gar nicht als ungarischer König aufgeführt
wird, die den zehnjährigen Zeitraum seiner Regierung als Interreg¬
num bezeichnen, rüttelte wieder an den Säulen der Constitution und
stellte sogar durch seine Gerinanistrungsversuche die ungarische Na¬
tionalität und Sprache selbst in Frage. Der Tod dieses Monarchen
beschwichtigte den Gegenkampf der Meinungen und die gewaltigen
Anstrengungen Oesterreichs gegen die siegreich vordringende Revolu¬
tion in Frankreich absorbirten wieder eine geraume Zeit hindurch die
Kräfte Ungarns und die Treue dieses Landes war so fest, daß es
im Jahr 1809, als der französische Schlachtenkaiscr von Wien aus
seine berühmte Proclamation an die Ungarn erließ, worin er sie zur
Lossagung vom Hause Lothringen und zur Königswahl auf dem
Felde Rakos aufforderte, die Verlockung stolz von sich abwies und
die Leiden der Monarchie bis zum Ende antrug.
Obschon sich der Fortschritt in Ungarn in Folge der Verhält¬
nisse und aus dem Instinkt der Selbsterhaltung gewöhnlich sehr schroff
und grollend dem deutschen Nationalleben entgegenstellt, so ist er im
Grunde doch nichts mehr, als ein Nachhall dessen, was in Deutsch¬
land zur Bewegung gelangte. Der in den Jahren des deutschen
Befreiungskrieges erwachte Nationalschwung, welcher sich nach glück¬
licher Abwendung der äußern Gefahr hauptsächlich auf die Literatur
warf und aus dem deutschen Sprachschatz eben so unbarmherzig die
französischen Wörter hinauswarf, wie vordem die französischen Sol¬
daten aus dem deutschen Lande, erlebte unter den Magyaren bald
seine Nachahmung und die ungarische Akademie zu Pesth ist bisher
wenig mehr als eine Versammlung von Männern gewesen, die
wie Campe u. Andere den Purismus zur Fahne machten und die
Sprache zum Palladium der Nationalität. Wie in Deutschland erst
gegen die Ausländerei und den Gebrauch der lateinischen und fran¬
zösischen Sprache rüstig gestritten worden, so kämpfte» jetzt auch die
Magyaren für die Rechte ihrer theuern Muttersprache, bis sie end¬
lich den Sieg über alle anderen todten und lebendigen Sprachen im
Lande davontrug.
So wie sich die Deutschen lange Zeit bei dem Besitz ihrer
Sprache und einer eigenthümlichen Literatur beruhigten und glaubten,
das sei genug, um als Volk groß und unabhängig dazustehen, so
begnügten sich auch die Magyaren einige Zeit mit dem Gedanken,
ihr Idiom zur Geschäfts- und Unterrichtssprache erhoben zu haben.
Als jedoch kurz nach den Zuckungen der Julirevolution in Deutsch¬
land von den besorgten Regierungen die Pflege der materiellen In¬
teressen aufgenommen und der wichtige Bund des Zollvereins gestif¬
tet ward, als das Eisenbahnfieber die germanischen Geister verwirrte,
als die Fragen der Industrie und Handelspolitik vielfach angeregt
und besprochen wurden und die großartigen Ideen des I)>. List die
deutschen Träumer mit einem Male zu Industriellen, Seefahrern und
Colonisten n-rr excollvncl! umschufen, da rieben sich bald darauf
auch die Magyaren ganz verwundert die Augen und sprachen an
einem schönen Morgen unter einander! „Laßt uns gleichfalls Fabri¬
ken bauen und eine eigene Handelspolitik haben."
Die deutschen Länder der österreichischen Monarchie sind für
Ungarn das, was für den Zollverein die Engländer sind, nur noch
in einem weit höheren Grade, und wie England lange genug die
Deutschen blos als Ackervolk kennen wollte, so können sich die Oester¬
reichs nicht entschließen, in Ungarn etwas anderes zu erblicken, als
eine Kornkammer und einen Weinberg, eine Tabakspflanzuug und
eine Erzgrube. Was nun List's Scharfsinn ausgeheckt, um die deut¬
schen Regierungen zur Einführung eines Schutzzollsystems gegen das
Ausland, zumal die Engländer, zu bewegen, das benutzen die Un¬
garn jetzt als Waffe gegen die Deutschen selbst, die ihre industriellen
Engländer sind, und blos aus diesem Grunde hat List'S National¬
ökonomie in Ungarn so ungeheures Aufsehen erregt, weil eS den
Magyaren trefflichen Stahl in die Hände gab, um die Mariner
des bisherigen Negicruugssystems in Handelssachen mit Erfolg an¬
zugreifen. List's Schriften haben in dieser Beziehung für Ungarn
die Bedeutung von Pamphleten gegen die Regierung und diese letz-
lere hat allerdings Ursache, dem Augsburger Redacteur mehr zu
zürnen, als dem Redacteur des „Pesel Hirlap," der seine commer-
zielle Weisheit lediglich aus List'S Werken geschöpft. Was indeß
das Verhältniß Ungarns zu Oesterreich von dem Deutschlands zu
Britannien sehr wesentlich unterscheidet, das ist der Umstand, daß
Oesterreich und Ungarn denselben Herrscher haben, während die eng¬
lische Krone und die deutschen Fmstenhüte auf mancherlei Häuptern
sitzen. Das Bestreben, sich aus der industriellen Abhängigkeit, die
früher oder später zur politischen führt, zu emancipiren, muß daher
hier und dort eine g,luz veränderte Farbe annehmen, und wenn schon
die Britten so unverschämt sind, zu den emancipationslustigen Deut¬
schen zu reden, als wären diese ihre Handelsgcsellen oder eine un¬
dankbare Kolonie, so scheint es weit natürlicher, sehen wir die Oester-
reicher ergrimmt über das Unterfangen Ungarns, eine Honi-Jndustrie
zu gründen und sich seinen Bedarf selbst zu produciren.
Unter diesem Titel hat der Professor Th. Nötscher, dem vie
Literatur schon mehrere treffliche dramaturgische Arbeiten dankt, ein
Buch herausgegeben, daS, interessant für jeden gebildeten Leser, ins¬
besondere aber das Interesse aller Bühnenkünstler und Theaterfreunde
in Anspruch nimmt. Dasselbe ist bei Alexander Dunker in Berlin
erschienen und sauber ausgestattet. Wir wollen hier, wo uns we¬
niger Schöpfung und Kritik als vielmehr Sammlung und geistvolle
Redaction vorliegt, keine umfassende Beurtheilung liefern, sondern
uns gleichsam mit dem Werke unterhalten, um das Publikum
durch diese flüchtige Bekanntmachung zum Genusse des Ganzen an¬
zuspornen. Wir lassen das Buch, im eigentlichsten Sinne, selbst
für sich sprechen.
„Die große Bedeutung Seydelmann's," sagt der Verfasser in
einem Borworte, „war eine unbestrittene; selbst die ihn bekämpf¬
ten, gestanden dieselbe ein." Und weiterhin: „Es ist der vollen Auf¬
merksamkeit werth, in unserer, an energischen, ihr Alles an eine
Sache sehenden Persönlichkeiten armen Zeit einen Charakter vor sich
zu sehen, in welchem jede Fiber für einen idealen Lebensinhalt glüht,
mit dem der ganze Mensch sich auf Tod und Leben energisch zusam¬
mengeschlossen hat."
Daß Carl Seydelmann nun ein solcher voller und fester Cha¬
rakter war, beweist uns der Verfasser in der Biographie des
Künstlers, welche sich, durch die am geeigneten Orte mitgetheilten
Briefe aus den verschiedenen Epochen der Lehr- und Wanderjahre
Seydelmann's, zu einem organischen Kunstleben vor uns gestaltet.
Denn Seydelmann hat nicht, wie die meisten andern gebildeten und
hervortretenden Schauspieler Theaterstücke, dramaturgische Abhand¬
lungen und Reflexionen geschrieben, sondern das ganze Treiben und
Ringen seines in der That seltenen, tiefen Geistes nur zur Gestal¬
tung dramatischer Charaktere gedichtet und nebenher in Briefen
an seinen Sohn und seine Freunde ausströmen lassen. Was Göthe
von Schiller sagt: „er setzte die Krone höchsten Strebens, das Leben
selbst an das Licht des Lebens" kann, und wohl mit mehr Recht,
auf Seydelmann's Denkstein geschrieben werden. Er halte eine rei¬
chere Seele, mehr schriftstellerischen Ausdruck und mehr Formsinn
als seine College», aber er wollte nichts als ein großer Schauspieler
werden. Alles momentane Glänzen im Halben war ihm zuwider:
zu der Einen Würde und Geltung concentrirte er all' seine Lebens¬
kräfte. „Seydclmann," sagt Rötscher, „reibt sich innerlich an dem
verzweiflungsvollen Zustande seiner Kunst auf; sein Leben zeigt uns
das Erliegen eines großen Charakters, welcher für seine Person zwar
genugsam Ehre empfängt, aber nur zufrieden gestellt worden wäre,
wenn er umgestaltend auf das Ganze hätte einwirken können. In
ihm faßt sich der Widerspruch der Erkenntniß dessen, was Noth ist
mit der Wirklichkeit im Gebiete seiner Kunst, in den großartigsten
Zügen zusammen."
Diese Briefe, dies zerstreute Tagebuch Seydelmann's, hat Mi¬
scher seinem Werke als historische und charakteristische Unterlage ge¬
geben und das Buch dadurch eben so angenehm wie anregend belebt.
Was er sonst noch benutzt, lassen wir ihn selbst andeuten. „Wie
viel," sagr er, „außer so manchen geistvollen Kritiken über viele der
Schöpfungen Seydelmann's, sinnvolles und Würdiges über den
ganzen Menschen schon ausgesprochen ist, wobei ich unter Anderem
an den von edler Wärme zeugenden Artikel Glasbrenuer's in dem
Theater-Lenkon von Blum, an den schönen Nachruf Laube's, an
die geistvollen Erinnerungen an Seydelmann von Gutzkow erinnere,
erkenne ich um so bereitwilliger an, als ich den Werth des Darge¬
botenen bei meiner Arbeit besonders zu würdigen Gelegenheit hatte."
Hierbei wollen wir bemerken, was Rvtscher's ehrende Bescheidenheit
nirgend angegeben, wir aber aus bester Quelle wissen, daß Derselbe
den größten Theil deö Honorars für sein Werk der Wittwe Seydel¬
mann's überlassen und sich mit einer kaum der Erwähnung werthen
Belohnung für die Redaction der mannichfachen Papiere, für seine
bedeutenden selbstständigen Arbeiten und die Ordnung und Schließung
deö Ganzen begnügt hat.
Carl Scydelmann ist, wie uns die Biographie mittheilt, am
24. April 1793 (nicht wie bisher überall irrthümlich angegeben 1795)
zu Glatz in Schlesien geboren. Sein Vater war ein bemittelter Kauf¬
mann und des Knaben Neigung zum Schauspiellhum keineswegs
entgegenkommend; er verbietet ihm sogar das Lesen derartiger Bücher.
Nichtsdestoweniger spielt Carl kleine Rolle» ans dem Liebhabertheater
seiner Vaterstadt. Er reift zum Jüngling heran; der Haß gegen den
fremden Tyrannen Deutschlands zieht ihn zum Militär, er wird I8IY
Artillerist. Aber daS Jahr 1812 läßt lange auf sich warten, Sey--
delmann fühlt sich unglücklich in der Knechtschaft für mögliche Frei¬
heit! er desertirt. Er gibt in Troppau Elementarunterricht und rettet
sich durch ihn vor äußerlicher Noth. Sein Vater, lange heftig er¬
zürnt, wird endlich erweicht und bewirkt ihm die straflose Rückkehr
unter der Bedingung des Wiedereintritts in seinem Regiment. Deutsch¬
land erhebt sich endlich, Seydelmann'ö Herz schlägt hoch, als er mit
einer Abtheilung der Artillerie der Hauptarmee gegen Napoleon zu¬
gesendet wird. Eine heftige Krankheit befällt ihn, er muß in's La-
zareth und wird später, besonders seiner schönen Handschrift wegen,
zum Bureaudienst verwendet. Die Lust zur Schauspielkunst aber
kommt wieder gebieterisch über ihn, einflußreiche Männer befreien ihn
auf legale Weise aus der Uniform — die seine Proteuskraft nicht
bewältigen konnte, und der Graf von Herberstein ersucht ihn, das
Personal seines Schloßtheaters zu Grafenort zu vermehren. Hier
ist er glücklich, bildet sich nach allen Seiten hin aus und ringt nun
darnach, das öffentliche Urtheil über sich als Schauspieler herauszu¬
fordern. Er wird, nach dem Tode seiner Eltern, an der Breslauer
Bühne engagirt, wendet sich schnell vom Licbhaberfache dem der Che¬
valiers und Naturburschen zu, erringt aber auch darin, seines man¬
gelhaften Organs wegen, keinen lauten Erfolg, Dieser wird ihm
erst 1819 in Gray zu Theil, noch mehr 1820 in Ollimch; seine
eigentliche Künstlerperiode beginnt aber erst in Prag. Herr von
Holbein, damals Direktor des dortigen Stadtlheaters, erkennt das
große Talent Seydelmann's, eröffnet ihm weitere Kreise, unterstützt
und fördert es in jeglicher Art, bis es so unverkennbar hervorstrahlt,
daß der Casseler Director Feige dem Künstler ein lebenslängliches
Engagement bietet. Von Cassel geht Seydelmann nach Darmstadt,
von dort nach Stuttgart, endlich nach Berlin, wo er, trotz des
frischen Andenkens an die Heroen seiner Kunst: Jffland, P. A.
Wolfs, Lenne und Ludwig Devrient und trotz der kritisch-erregten
Stimmung gegen ihn, den großartigsten Sieg erkämpft. Er spielt
dreißig Mal hintereinander vor überfüllten Häusern; er wird, so
viel böse Recensenten ihn auch unausgesetzt angreifen, mit Beifall,
Blumen und Lorbeer überschüttet. Die letzten Phasen dieses bedeu¬
tende» Lebens sind unserm Publikum zu bekannt, als daß wir sie
näher erörtern sollten. Carl Seydelmann stirbt am 17. März 18t3;
Tausende von Menschen, unter ihnen die Notabilitäten aller Kunst
und Wissenschaft in Berlin, folgen der entseelten Hülle des großen
Mannes bis zum Grabe auf dem neuen katholischen Kirchhofe vor
dem Oranienburger Thore. Die Rolle des Advokat Wellenber¬
ger, des Künstlers letzte Leistung, wird aus den einfachen schwarzen,
nur mit einem Lorbeerkranze geschmückten Sarg gelegt.
Der Biographie läßt Th. Notscher eine dramaturgische Abhand¬
lung „Seydelmann, der Künstler" folgen, eine tiefdurchdachte,
klarvcrständige Arbeit. Besonders geistvoll ist die Betrachtung, wie
sich auch in den mimischen Meistern ihre jemalige Zeit spiegelt. Schon
Shakespeare nennt im Hamlet den Schauspieler die „abgekürzte Chro¬
nik seiner Zeit." Fleck, Eckhoff, Schröder, Jffland, Ludwig Devrient
und zuletzt Seydelmann werden uns als diejenigen Männer vorge¬
führt, aus welchen die verschiedenen Perioden deutscher Cultur und
Lebensgestaltung reflectiren. „In Ludwig Devrient," sagt Rötscher,
„faßte sich gewissermaßen die ursprüngliche, ununterworfene Naturkraft
des Genies noch einmal in ihrer ganzen Stärke zusammen, um mit
dieser bedeutenden Individualität von einem Schauplatze abzuweichen,
auf welchem der Geist, nicht minder wie'in den übrigen Künsten,
die Forderung der Bewältigung und Läuterung ursprünglicher Na--
turkraft gebieterisch geltend macht. Gegen diese mächtige, aus der
Unmittelbarkeit dichterischer Anschauung allein schöpfende Individua¬
lität, gleichsam die höchste Potenzirung des Naturalismus, reagirte
nun der Geist ans diesem Gebiete der dramatischen Darstellung durch
die bedeutende Erscheinung Seydelmann's. In ihm gewinnt der in
allen Formen des Lebens sich hervorchuende Kampf deS selbstbewu߬
ten, nach aller Freiheit und Klarheit ringend»» Geistes gegen den
noch in instliMichem Verhalten befangenen, noch an die Naturge-
walten gebundenen Geist auf dem Felde der dramatischen Darstellung
seinen erschöpfendsten Ausdruck. Indem der Geist überall in der Ge¬
genwart danach ringt, in seiner letzten Wurzel sich seines Wesens
bewußt zu werden und sich ganz in seine Gewalt zu bekommen, so
treibt er auch aus demselben Boden in der dramatischen Darstellung
die Richtung hervor, sich in seinem Schaffen selbstbewußt zu verhal-
ten und durch vollständige Unterwerfung des bloßen Naturells dasselbe
zum gefügigen Ausdruck einer universellen Menschendarstellung um-
zuschaffen. Diesen Standpunkt repräsentirt Seydelmann."
Weiterhin — wir müssen hier natürlich viel Schönes und Tref¬
fendes übergehen — charakterisirt Herr Rötscher die Auffassungö-
und Darstellungsweise Seydelmann'S. Nichts, sagt er unter Anderm,
widerstrebte ihm in seiner Kunst mehr als das Abstracte. Aber wenn
Seydelmann der Gattungsallgemnnheit auch ein ganz individuelles
Leben gab, steigerte er in seinen reifsten Schöpfungen doch die Aeu¬
ßerungen des individuellen Lebens zum Ausdruck der Gattungsall-
gemeinhcit. Sein Moor im Fiesko war nicht nur (wie bei andern
berühmten Darstellern desselben) ein schwarzes, boshaftes, verschmitz¬
tes, heimtückisches Wesen, sondern auch eins, das den afrikanischen
Boden an seinen Sohlen nach Europa mitgenommen hatte, so katzen¬
artig rührig, von so dumpfer Wildheit, so sittlich stumpf, daß man,
auch ohne die schwarze Farbe, dieser Unnatur einen außereuropäischen,
glühenden Himmelsstrich, einen noch ganz unentwickelten sittlichen
Weltzustand als Wiege vindicirt hätte. In dieser individualisirenden
Kraft lag auch Seydelmcmn'ö außerordentliche Stärke, historische Fi¬
guren hinzustellen. Hier verfilmte er in der That die geschichtliche
Wahrheit mit der poetischen. Sein Ludwig XI. und sein Cromwell
waren große geschichtliche Gestalten, welche wieder auferstanden zu
sein schienen und in ihrer gewaltigen Realität den Geist der Ge¬
schichte, wie er sich in ihnen einst zusammengefaßt hatte, verkörperten.
Mit seinem Alba in Göthe'ö Egmont schritt der finstere Geist des
religiösen und politischen Despotismus unerbittlich seine Schlachtopfer
ergreifend und das erwachende Leben der jungen Freiheit erwürgend,
über den Boden des frischen, lebensfroher niederländischen Volkes
hin. Sein Nathan war nicht nur sentenzenreicher Denker; Seydel¬
mann machte den ganzen Gedankengehalt Nathan's so sehr zum
Allsdruck eines individuellen Menschen, daß der letztere nur von dem
ersteren durchströmt war, und man dem Principe in jedem Momente
den Herzschlag eines vollen, ganzen Menschen anfühlte." In gleicher
Weise wird Seydelmann's Dominiane, der gutherzige Polterer, Shy-
lok, Antonio und Mephisto charakterisirt und in Betracht des Car¬
los und Marinelli auf des Verfassers „Cyklus dramatischer Charak¬
tere" verwiesen.
Den Schluß des Werkes bilden Aphorismen und Briefe Sey-
delmann's. Die letzteren, außer denen die zur Begleitung der Bio¬
graphie und zur Charakteristik des Künstlers benutzt wurden — sind
an den Baron von Goldner in Darmstadt, einen der intimsten
Freunde des großen Mimen, an Gutzkow, an den Hofrath Teich¬
mann, Secretär des Berliner Hoftheaters, an Glasbrenner und an
Rötfcher selbst gerichtet. Sie datiren sämmtlich aus den letzten Le¬
bensjahren Scydelmann's und legen, um mit Rötscher zu sprechen,
„das beredteste Zeugniß ab, wie der Mensch und der Künstler sich
völlig in Seydelmann durchdrangen. Denn der erstere zeigt sich von
jedem Begegniß und Eindruck künstlerisch berührt und der letztere
empfindet alle künstlerischen Beziehungen als etwas von seiner gan¬
zen Persönlichkeit Untrennbares. Daher die Wärme, der Schmelz
der Empfindung und der Adel des Gemüths, welche in diesen Brie¬
fen walten. Er zeigt sich darin aller Töne mächtig. Der Sarkas«
mus in allen seinen Abstufungen, die weichste, zarteste Empfindung,
wie der volle Strom der Begeisterung durchdringen sich in ihnen zu
einem so reichen Farbenspiel, daß wir durch sie in jedem Moment
den Eindruck eines ganzen Menschen, einer durch die Mitwirkung
aller Geisteskräfte unablässig bewegten bedeutenden Persönlichkeit em¬
pfangen. In ihnen hält der Künstler der Sprache dem großen Schau¬
spieler das Gleichgewicht."
Wir geben nun aus diesen und frühern Briefen Seydelmann's
einige Mittheilungen, die, wenig gewählt, sicher zur Bekanntschaft mit
dem ganzen Buche anregen werden.
„Cornelius!" ruft er in einem Briefe aus Stuttgart diesem Scharu
Spieler zu: „ich hatte die Feder niedergelegt, das Herz voll des schmerz¬
lichsten Jammers über das verfehlte Leben, das nutzlose Mühen eines
Schauspielers — da legt sich der Tumult im leicht verletzten und
aufgeregten Gemüth, und die Thräne bitterster Wehmuth floß über
in die Thräne des Unrechts vor Gott — in die Thräne deS innig?
sten, innigsten Dankes! Daß wir erkennen, was wir sollten, daß wir
sehen: ist es nicht eine Auszeichnung vor hundert Blödsichtigen, die
sich des klaren Lichtes nie zu erfreuen haben? säße ich doch einmal
nur, aber recht lange, zwischen Ihnen und Ihren würdige» Freun¬
den! Hier aber — ach hier! Sie verstehen mich nicht— oder wollen
mich nicht verstehen; sie wenden sich ab und — lächeln, die armen
— reichen Leute! Mit meiner Frau schwatze ich dann wohl manch¬
mal aus der vollen bewegten Brust, allein — sie ist doch keine
Schauspielerin und auf'S Hauswesen verstehe ich mich nicht. Da
drücke ich denn meinen Jungen an mich, um mich wenigstens für
einen Augenblick zu beschwichtigen und gehe in mein einsames Stu-
dirstübchen. Dort sitz' ich trüb und schwer, bis die Bilder der He¬
roen unserer Kunst vor mir auftauchen, freundlich umstrahlt von
himmlischem Glänze; — die Spannung der Seele läßt nach, meine
Kraft erwacht und ich arbeite mit Gott und einem versöhnten Her¬
zen!"
Aus einem Briefe an Gutzkow: „Dann spiele ich Ihnen auch
den Schiller'schen Wallenstein, der jetzt das Leid meiner Tage be¬
schwichtigen hilft. Ich verkrieche mich ordentlich in das reiche, reiche
Geschenk unseres gottbegabten Säugers. Wenn mich nicht jede Hoff¬
nung trügt, so werde ich — wenigstens ein. anderer sein als Alle ;
ein ungewohnter, ob deshalb ein gern gesehener? Wollen warten.
Himmel, über welchen allgemeinen Leisten spannt man mich diesen
Wallenstein! Gestreckt, gereckt, von Kopf zu Fuß beledert, daS Au-
tomatenmaul voll schöner Worte, im Paradeschritt herausgestvße»,
ohne Blut und ohne Hirn: daS heißt man Wallenstein. Und ich,
Swachgeborner, will stromauf zu schwimmen wagen? Ja! Voll
Muth, dem Schlendrian zum Trotz, vielleicht auch zum Gelächter?! —
Thut nichts! Mein Bundesgenosse ist der Dichter selbst."
Von vünkelvollen dramatischen Dichtern schreibt Sevdelmann an
v. Goldner: „Ach was für Zeug muß man oft hinunterkauen und
den Kochen gegenüber lächeln und sich glücklich preisen! Ist die
Arroganz mittelmäßiger Schauspieler unerträglicher oder die der
Dutzend-Dichter? — Und wenn dann bei allem Fleiß, bei aller
Sorgfalt der Darstellung das (bescheidene) Meisterwerk doch nicht
gefällt, bcwirft man Garrik und das Publikum mit Schmutz." —
Hiermit correspondirt eine Stelle aus seinem Nachlasse: „Ist die
Eitelkeit und Arroganz vieler Schauspieler groß, sehr groß, so wer¬
den sie darin von einer Unzahl dramatischer Dichter doch noch über¬
treffen. Man muß Gelegenheit gehabt haben, dies Nicsenmaaß von
Selbstliebe — diesen geistigen Staar kennen zu lernen, der dem
Publikum da alle Wonne des Paradieses verheißt, wo ein gesundes
Auge nichts als die traurig-lächerlichste Armuth erblickt. Ich meine
immer: sähen sich manche »och so eitle Schauspieler Komödie spie¬
len, es ergriffe sie doch ein panischer Schrecken und sie liefen vor
sich selbst davon. Gewisse Schriftsteller aber Halten den Gorgonen-
blick ihrer Figuren nicht nur ganz gemüthlich aus: sie sind zum
Voraus unsers glühenden Dankes gewiß, wenn sie uns würdigen
mochten, ihrer immensen Schöpferkraft unsere tiefste Verehrung, unser
ewiges Erstaunen zuzuwenden. Und sie haben zuweilen Recht, denn
ich kenne Regisseure, die durch die spitzbübischste Heuchelei, durch die
hartnäckigste Anbetung der fadenspinnigstcn Schriftsteller den eigenen
Ruhm anbauen und sich einen Platz im Prunksaale der Unsterblichen
zu erschwänzeln wissen. Denn auch der armseligste Stückfabrikant
ist, wie die Sachen heute stehen, immer noch ein Fürst als Recen¬
sent und Redacteur, und Mime merke Dir's: nur litter., «»i^t-l
mince. Zu solchem Schleichhandel habe ich die mir zugewiesene
Regiestelle nie und nirgends herabgewürdigt, und freilich deshalb
auch die Erwartungen so Mancher, die sich die „junge Literatur"
nennen, empfindlich getäuscht."
Seinem Sohne sagt Seydelmann folgendes schone Wort: „Ein
Mensch, der Komödie spielt und uns nicht schon durch sich zu
fesseln versteht, wird uns fatal. Ueberblicke daS ganze Heer von
Schauspielern und welcher von ihnen kann bleibend Deine Theil¬
nahme erregen, wenn Du ihn nicht auch außer der Bühne Deiner
Aufmerksamkeit werth finden kannst? Darum gibt es so selten einen
tüchtigen Schauspieler, weil tüchtige Menschen selten
sind. Ist es nicht der innere Reichthum, oder die innere Armuth,
die wir Bühncnleute in jedem Blick, in jeder Bewegung, in jedem
Accent zur Schau tragen? Alles an uns wird zum Spiegel unsrer
Seele und — I»me nul« I-tarin-to! Das beste Mittel, edel zu
erscheinen, ist edel zu sein."
„Eher gibt ein armseliges Clavier eine Melodie wieder, als
ein dummer Schauspieler ein feines, kluges Wort."
„DaS Reich der Kunst ist kein Schlachtfeld, auf dem blinde
Wuth und Verzweiflung mit dem Rufe: „Samiel hilf!" nach dem
Siegeskranze zu ringen haben. Das heiße, geängstigte Blut eines
Bedrängten ist das Gegentheil von dem, was den Künstler
erfüllen soll. Dieser bedarf der geläuterten, vom Verstände klug
und zweckmäßig beherrschten, heiligen Flamme."
- „G. machte damit, was man so „dummes Zeug" nennt, und
davon bin ich selbst, sperr es die Posse betrifft, kein Freund. Die
Schauspieler dürfen keine Narren sein, die Handlung — das,
was sie treiben, bildet das Belachcnswcrthe, Lustige. Je ernster,
je'naturgemäßer, je solider sie die Nichtigkeiten ihres Alltags¬
lebens darstellen, je wahrheitsgemäßer sie sich dabei gebehrden, je
größeres Vergnügen hat dabei der gebildete — und ungebildete Zu¬
schauer. Denke an eine drollige Volksheere, der Du da oder dort
beiwohnen konntest. Was reizte Dich am meisten zum Lachen? Der
Ernst, mit welchem Du die Leute sich benehmen sahst. Sei überall
natürlich, wahr! Sei unbesorgt um den komischen Effekt; un-
gerufen kommt er am willigsten."
Einen Schauspieler P— charakterisiert Seydelmann vortrefflich
folgendermaßen: „Herr P. sieht noch immer aus wie eine auf den
Schwanz gestellte Sardelle, und seine Töne klingen wie eine Sar¬
delle aussieht: dünn, sehr dünn und scherbenartig. Dabei hat er
jene kleine, fire Haarkräuslerbeweglichkeit in allen tausend Glied¬
maße», daß man meint, es würde Alles durcheinander gebeutelt:
Wort, Blick und Gebärde. Trotz des schwarzen Frackes und der
häufig gebrauchten Lorgnette sah ich ihn doch immer nur, als wär'
er im Vorzimmer und asse die vornehmen Herren im Saale nach." —
An einer andern Stelle: „Daß Herr P. im Augenblicke, als er, in
tiefer Mitternacht, vom Lager aufgeschreckt, an's offene Fenster tre¬
tend, Glacehandschuh' anhatte, fand ich der Würde eines Hofthea-
ters äußerst angemessen."
„A. W. Schlegel wird doch Recht haben, wenn er sagt, daß
nichts seltner sei als ein großer Schauspieler. Und wer eS weiß,
waS Alles dazu gehört, kann er von sich glauben, daß er einer sei?
Aber rechte Liebe zur Kunst, Talent und gesunder Verstand können
ihn dein Ziele nähern. Doch muß er sich von jenem bunten Lap¬
pen — von dem Wörtchen „genial" nicht irritiren lassen. Wunder¬
bar, daß ein so kleines Wort noch immer der Irrwisch ist, der Leute
zu Schafsköpfen verkehrt, die sonst ganz gescheidte und liebe Kerle
sind. Es möchte sein, wenn die Sache nur nicht dabei litte I Denn
kaum weiß sich ein schwindelnder Priester der Kunst ein „Genie"
genannt, gleich wirft er Alles von sich ab: Fleiß, Studium, Beschei¬
denheit und Vorschrift; ein schrankenloser Narr, in puris naturalibus,
stolzirt er hin und was er fallen läßt, heißt — genialer Wurf, und
Shakespeare, Göthe und Schiller mögen sich bei ihm bedanken.
Arme Kerle, diese Dichter! Wozu sie Tage, Wochen und Jahre
brauchten, das macht ein solches Vlitzgenie von Sechs bis Neun
nach, und besser! Dazu haben diese Wichte so viel Zeit, und wie
sie diese — und dazu sich selbst versudeln, ist bekannt."
„Künstlerische Ruhe ist ein warmer Heerd, an dem sich Leib
und Seele wärmen und behaglich fühlen; die Ruhe aber'der mei¬
sten Schauspieler ist nur ein gemalter Kamin."
„Wir gingen viel herum, den ganzen Nachmittag, zuletzt besahen
wir uns wieder das Theater. In zwei Nischen, rechts und links
beim Eingang zu der Kasse, sitzen Schiller und Göthe. Schöne
Figuren! Im Geiste ihrer Dichtungen aufgefaßt und sehr gut aus¬
geführt. Schiller scheint sich vom Sitze zu erheben, Kopf und Blick
und rechten Arm den Sternen zugewendet, während seine Linke sich
mit einem großen Buche auf das Bein stützt. Der Ausdruck des
Gesichts spricht von frommer, kräftiger Begeisterung: Alles in ihm
strebt zu Gott und hebt uns mit. Ich habe von keinem Bilde Schil¬
ler's einen wohlthuenderen, tieferen Eindruck empfangen, als von
diesem „Bilde von Stein." Dagegen Göthe! So viel älter dar¬
gestellt als der zu früh gestorbene Schiller. Diese feste, stolze, freie
Ruhe! Wie ein Gott der Erde sitzt er da und scheint uns ihre
Räthsel, ihre Wunder zu erklären, ernst und mild!"
„Gutzkow, Sie hatten sehr Recht, als sie sagten: man finde und
erkenne mich nur auf der Bühne: Dorthin, auf die schmale Grenze,
wo Ideal und Wirklichkeit sich freundlich kummervoll umschlungen
halten: dorthin hat das Leben mich zurückgedrängt: nur dort bin ich
Ich selbst, sonst überall nur ein Theil von mir, verschüchtert, kalt,
zerstückt. Und ich will nicht klagen. Wohl dem, der eine ZufluchtS-
statte hat; der sie so klar erkennt die Heimath seiner Seele, und zu¬
gleich den Platz, wo alle seine Kräfte wirken — wirken dürfen, ohne
Fessel, frei! O ich fühl's, ich bin ein Glücklicher — durch Schmerz!"
Sehr reizvoll spricht S. über einen bekannten Philosophen: In
Carlsbad habe ich S—s Tochter gesehen und auch ihn. Ein alter,
unscheinbarer Blumentopf, und drin ein schönes — wunderschönes
Röschen! Töchterlein und Vater. Ob das schöne Röschen duftet?
Des Topfes Erdreich läßt es uns vermuthen. Daß das Röslein
seine Schönheit und den väterlichen Reichthum kennt, liest sich aus
jedem Blättchen der von Käfern wild uinsummten Blume. O der
alte S. wird die Berliner vielfach beschäftigen, die Gaffer wie die
Prüfer. Er scheint, trotz höchsten (irdischen) Schutzes, doch nicht ohne
Beklommenheit auf den sandigen Kampfplatz hinzublicken. Ahnt er
seines Lebens Wichtigsten Moment? Schmal ist die Stelle Gegenwart,
und hohe Jahre bringen schwankende Bewegung. Wie die Zukunft
hienieden nur noch ein kurzer, matter Schritt ist, thut er nicht am
klügsten, sich die Vergangenheit zu retten?'
An Glaßbrenner: „Leipzig, den 8. Juli 1841. Wie man mich
immer als „Mimen" lobt, damit man den Seydelmann desto tiefer
hinabtreten dürfte! „Glaubst Du, dieser Adler sei Dir geschenkt?"
Nichts umsonst auf diesem jüdischen Marktplatze: Welt! — Sagen
Sie mir's doch auch, Glaßbrenner („Freund" darf ich Sie in die¬
ser Verbindung wohl nicht nennen — ?) Sagen Sie mir's doch, daß
ich „schlecht, grundschlecht sei. So rund um, liebevoll über mich
aufgeklärt, wird eS doch endlich Tag in mir werden. Dann bin ich,
wie Richard „ich selbst allein!" aber — kein König. Wenn ich
König wäre — o Goitü
Um 3 Uhr fahre ich nach Dresden und will dort schnurstracks
in's neue Theater gehen. Freitag Nachmittag gedenke ich Hieher zurück
zu fahren, um endlich einmal den im „Faust" zu sehen, den ich
immer nur darin gespielt habe. Dazu: Döring. Ich werde Ihnen
dann schreiben, was ich gewonnen habe. Gewinnen werd' ich jeden¬
falls, sollt' ich auch verlieren. Wenn ich früherem Eindrucke in Be¬
ziehung auf meinen „Doppelgänger" nicht zu treu bin, ist Dörings
Natur, ganze Art und Weise eine acht theatralische. Döring ist weit
amüsanter. Ich könnte es in gleichem Grade sein, da ich mich im
Besitze von allen Mitteln dazu fühle; allein — mir fehlt dazu der
Muth!--Mein Muth hüllt sich gern in Mistes, tiefes Schwarz;
der Muth meines Rivalen steckt in bunteren Kleide. Und zwei so
durch und dnrch verschiedene Menschen koppelt man zu armseligen
Bergleichen an einander. Uns trennt mehr als die Deichsel."
„Fanny Elster," schreibt S. in einem Briefe ans Berlin, „eine
acht österreichische Künstlerin, ein Liebling des greisen Metternich, der
sich auf beruhigende Naturen versteht, tanzt in unsre politischen, phi¬
losophischen, ästhetischen und strengwissenschaftlichen Kreise so schalk¬
haft-kühn hinein, daß sich ihr die Fäden aller der Gespinste wie zum
Schleier weben, unter dem sie drollig-lockendes Verstecken spielt. Nicht
weniger als dreimalhunderttausend Leute suchen sie. Doch ob sie
Jemand hascht, dem sie zugleich den Schleier überläßt — ? Ich möchte
es nicht wissen, weil ich nicht gern neidisch bin."
Wir schließen diese Mittheilungen mit einem Briefe, den Sey-
delmaim am 5. Januar 1843, zwei Monate vor seinem Tode, an
Glaßbrenner schrieb: „Ich bin gewiß schon halb todt, denn ich er¬
halte Liebeszeichen und Beweise von „aufrichtigster Achtung" von
Personen, die mich bisher nichts Aehnliches erwarten ließen. Auch
höre ich, man spräche gut von mir. So machen Sie sich denn ge¬
faßt zu lesen: Seydelmann ist todt. Nur den Jago möcht' ich noch
spielen! spiegle ich ihn ab, wie er in mir lebt, so werd' ich noch
einmal von Nutzen sein, so nützlich wenigstens, als ein Bericht in
der Berliner Spitzbnbenzcitung. Woher nur mein immer wacher
Appetit, die Nachtseite unserer lieben Natur an'ö Licht zu führen!
Können Sie mir das zum Abschied sagen? Bitte, thun Sie es! Ich
habe während meines (unjubilirten) 2'>jährigen „Lebens in dem Bilde
des Lebens" große Worte großer Männer, die ich gespielt, mit stolz¬
erfüllter Seele nachgesprochen; ich liebte mich und alle Welt, wenn
ich den Ausbund aller Liebenswürdigkeit und Menschenweisheit, Les-
sings jugendlichen Nathan in mir aufnahm; ich war grundehrlich
mit dem Ehrlichen, Narr mit dem Narren; ich lachte mit dem Lu¬
ftiger und war verliebt in jedes Alter und in alle Farben: aber nur,
wenn es der Sünde galt, der offenen und verkappten, fühlte ich
jede Kraft des Lebens in mir wach; mein ganzes Wesen stellte sich
zum künstlerischen, bittersüßen Kampfe mit der lieben Welt. Der
Gleißnerei das schlau versteckte Innere herauszudrehen; dem Tölpel
in's Gehirn zu leuchten, daß er Andre und sich erkenne; den Star-
ken, Sichern, Stolzen aufzuschrecken, daß er nicht mehr albern träume;
den Guten warnen vor des Augenblickes Macht; durch Unrecht Recht
— durch Lasterhaftigkeit das Gute fördern; das Alles thun zu dür¬
fen auf dem Wege schöner Wahrheit — der Kunst: das war mei¬
nes Lebens Glück, und der Himmel lasse mir's noch einige Jahre i
Nicht? Sie sagen: Ja l Aber, aber — meine Uhr scheint abgelaufen
und ich soll an einem Fehler meines Herzens sterben. Ohne
Scherz! — Der Tod stellt sich zu meinen Feinden, die immer sagten,
daß ich als Mensch nichts werth sei. Warum habe ich mir so selten
in die Brieftasche gucken lassen! Neugierig, wie sie sind, und geborne
Denunzianten, haben sie sich den Inhalt selber gemacht. Einigen
Widerspruch wird's aber geben, und so sei den Wackern denn der
Ein artiger Haufe schöngeistiger Literatur, durch den wir uns
nicht ohne Mühe durchgelesen haben, liegt vor uns, ohne daß der Raum
dieses Blattes uns mehr als einige skizzirte Bemerkungen erlaubt.
Der Kreuzweg. Eine Novelle von Ludwig Heiberg. Frei
aus dem Dänischen übersetzt. — Ludwig Heiberg wird neben Andersen
unter den besten Dichtern der dänischen Gegenwart genannt. Allein
die vorliegende Erzählung — eine Novelle ist's nicht — legt für den
Poeten kein günstig Zeugniß ab. Sie enthält wohl viel psychologisches
Werk, aber kein echt poetisches Element, bewegt sich dabei im klein¬
bürgerlichen Leben und Styl, erinnert auch auffällig an die Art der
schwedischen Frederike Bremer. Außerdem ist, trotz der freien Ueber¬
setzung, keine gute deutsche Satzfügung zu Stande gekommen.
Neue Märchen, (Zweite Auflage) und Bilderbuch ohne
Bilder, (dritte Auflage) von L. H. Andersen. Aus dem Däni¬
schen übertragen von Johann Reuscher. Zwei sehr dünne Heftchen
voll von frischester und wohlthuendster Poesie, dabei eine vortreffliche
Sprache und der Beweis für die Anerkenntniß des Publikums in einer
zweiten und dritten Auflage. Warum also noch ein kritisches Ur¬
theil?
Der „Uebersetzungbibliothek der modernen polni¬
schen Literatur" erster und zweiter Band enthalten zwei Romane
des Grafen von Srarbek. Der erste nennt sich humoristisch und
gibt Leben und Schicksale des Felix Fürsten Dodssinsky
von Dodoscha. Sein Uebersetzer sagt, wir thäten Unrecht daran,
die „namentlich die der Gegenwart in so hoffnungsvoller Blüthe ste¬
hende Literatur unserer polnischen Nachbarn" vom klassischen Boden
zu verdrängen und sie in „die Rauhheit eines sibirischen Klima's zu¬
rückzuweisen." Thun wir's wirklich, so ist's vielleicht eben jener, wenn
nicht sibirische doch östliche Wind, wie er uns aus dem als naturge¬
mäß angenommenen Regiment der Leibeigenschaft und der Stockschläge,
aus all' diesen unvermittelter Gesellschaftselementen, aus dieser äußer¬
lichen Ueberfeinerung bei innerlich tiefster Rohheit anwehe, welcher für
die Schönheit dieser Blüthe, wenigstens soweit sie sich im Vorliegen¬
den offenbart, keine Empfänglichkeit erwachsen läßt. Vom zweiten
Roman, der Starost und sein Nachbar, sagt der Uebersetzer:
„hoffentlich wird keiner, dessen Geschmack noch nicht verdorben, ver¬
krüppelt ist, das Werkchen ganz unbefriedigt aus der Hand legen."
Mein Geschmach muß verkrüppelt und verdorben sein.
Fregatte Nadjeschda. Ein Seeroman von Alexander
Merlinsky. Uebersetzt von Philipp Löbenstein. Dies Buch
kommt gleichfalls von Osten und doch ist's, als käme es von Süden,
so warm und reich und voll rollt sich sein Leben vor dem Leser auf.
Besonders bilden die naturschilderndcn Scenen des Romanes schönste
Episoden; darin beruht wohl Marlinskv's unbestrittenste Meisterschaft.
Die Uebersetzung ist außerordentlich glatt, nur selten etwas flüchtig
im Satzbau.
Hugo, Novelle von der Verf. des Schlosses Goczvn,
umfaßt den dritten und vierten Band der „Skizzen aus der vorneh¬
men Welt." — Es ist wirklich schade, daß Fräulein von Döringsfeld
nicht bei dieser Erzählung, sondern beim „Graf Ehala" ihren Namen
offenbarte. Ich halte diese Novelle nächst „Magdalene" für ihre beste
Production, wenn nämlich der Idee mehr, als der Form nachgefragt
wird, ja sie berührt den Leser in so fern ästhetisch selbst wohlthuender
als jene, weil sie für die gelöste Ausgabe nicht so halsbrecherischer
Natur wie 1)ort ist. Nur bin ich mit dem Tieck nicht einverstanden.
Hugo ist eine passive, Lea dagegen die active Hauptperson. Lea er¬
scheint dabei als eine der lieblichsten Zeichnungen, welche Fr. v. Dö¬
ringsfeld noch geliefert hat. Sie ist die Personification der Wahrheit
in dem Lügenwirrniß der Gesellschaft in beinah herb mädchenhafter
und doch fort und fort liebenswürdiger Gestalt. Die Nebenfiguren,
Hugo's Mutter ausgenommen, sind dagegen nur flüchtig angedeutet,
ja manche erscheinen vernachlässigt. Dies geschieht dieser Verfasserin
häufig und lieferte sie nicht eben „Skizzen," so mußte die Kritik ta¬
delnd darauf hinweisen. Allein in der Skizze ist damit der Vortheil
einer knappen Zusammengruppirung der Personen und einer Eoncen-
trirung des Handlungsganges erreicht, wie unter andern Umständen
kaum möglich wäre. Auffällig erscheint dagegen, daß Jda von Dö¬
ringsfeld in dieser Erzählung, sobald sie von der Dienerschaft spricht,
beinah in den Hahn-Hahn'schen vomehmthuigen Ton verfällt, welcher
in seinem Roturierjargon die Kammermädchen nur als „Geschöpfe"
anerkennt und den Bedienten nur „Fäuste," keine Hände zugesteht.
Außer dem Zuvielschreiben hat Fräulein v. D. nichts so sehr zu fürch¬
ten, als die Annahme dieser gemacht-vornehmen Manier.
Der belgische Graf. Von Heinrich Laube. Gewisser-
maßen ein' jüngerer Bruder des Romans „Gräfin Chateaubriand."
Dieser umfaßte die Periode der höchsten Blüthe der französischen Seig-
neurie, wahrend der belgische Graf unter der Regentschaft, in der Zeit
Law's spielt., und dicht vor dem Ausruf der zerrütteten Seigneurie:
^nres IWN8 I«z (IvIttAv! unter dem Henkerbeil endet. — Ein Theil
des Lesepublikums kennt die Novelle bereits aus der Zeitung für die
elegante Welt; allein die dort nöthige Zerstückelung ließ keinen vollen
Eindruck derselben gedeihen. In ein Buch zusammengefaßt gewinnt
sie dagegen eine vollkommen andere Gestalt, erscheint viel geschlossener
und eilt in beinah dramatisch raschem Fortschritt der Handlung bis
zum Schlüsse vorwärts. Als Fortschritt Laube's erachte ich sie nicht,
aber als eine glückliche Folge sehr spezieller historischer Studien der
Epoche ihrer Handlung.
Mundere Lebensbilder von C. Spindler, der Gesammt-
werke 6. und 7. Band, enthaltend „die Erben des steinernen Gastes,"
bildet eine Art von tlo-l omistrivtoi-, nur in weniger engen Gliedern
als diese verbunden. Wie immer, ist C. Spindler auch in den vor¬
liegenden kleinen Erzählungen, von denen „Geschichte des Diurnisten
Felix Fortuna" und „der Mann mit dem Gesicht" besonders vorzu-
sehen sind, fort und fort anregend und interessant. Trotzdem drangt
sich auch fort und fort der Gedanke auf, das Komische sei durchaus
nicht sein eigentliches Fach.
Der Prophet von Florenz. Wahrheit und Dichtung von
Johannes Scherr. Drei Bande. — Dieser florentinische Prophet
ist Savonarola und das vorliegende Buch wahrscheinlich ein werden¬
der historischer Roman, wo jedoch vor der Hand die historischen Ma¬
terialien und das romantische Beiwerk noch in jedem einzelnen Ab¬
schnitt so geschieden neben einander liegen, daß man beide gesondert
nebeneinander lesen kann, ungefähr wie die Geschichte des Vater Murr
und deren eingelegte Löschblatter. Es fehlt das Geschick der Ver¬
schmelzung und Jneinandcrarbeitung. Savonarola ist auch eigentlich
keine Rvmanaufgabe; es liegt dafür zu wenig äußere Bewegung in
seiner Geschichte. Und weil dies der Fall, ist im vorliegenden Buch
der im Titel genannte Held viel zu wenig eigentliche Hauptperson ge¬
worden, wahrend durch eine Masse von historischem und unhistorischen
Beiwerk das Interesse des Lesers munter zu erhalten versucht wird.
Am unerquicklichsten sind die komischen Partien und Figuren. Derforcirte
Humor des Phlips macht eine zusammenhangende Lectüre des Buchs gera¬
dezu unmöglich. Um diese Figur komisch zu zeichnen, sammelte der Ver¬
fasser die Flüche aller europäischen Sprachen und denkt dadurch eine
zwerchfellerschütternde Wirkung zu erzielen. Dabei ist die Sprache des
Ganzen im Satzbau unschön, im Ausdruck häufig mit Provinzialis¬
men gemischt und dadurch unedel, z. B. „vernordelt" ein Deutscher
Toskana's Sprache, Phlips ist „bespitzt" u. s. w. Letzteres wundert
uns um so mehr, als Herr Scherr sonst eine sehr geübte Feder besitzt
und in seinen Poeten der Jetztzeit ein kritisches anmuthiges Darstcl-
Die Eisenbahnfestlichkeiten sind vorüber, und nun können wir
armen Prager doch wieder freier athmen; es gab hier ein solches Ge¬
dränge und Gewirre, daß man gar nicht zu sich selbst kommen konnte
und vor lauter Bäumen den Wald nicht sah. — Ich ließ, bevor ich
meinen Bericht in die Welt schickte, die langen Akte des großen Schau¬
spiels zu Ende spielen, um den Erfolg abzuwarten. Was sahen
wir Alles? — Menschen durchzogen die Straßen und suchten nach
Festlichkeiten. Einer sah den Andern an, als wollte er von ihm er¬
fahren, was und wo es Neues gibt. — So jagte Jeder zwecklos
durch die Straßen und gaffte die Fähnlein an, die von den Thürmen
wehten. Der lang ersehnte Train langte endlich an, und die neugie¬
rigen Proletarier waren mit ihrer Aufgabe, zu sehen und die It)I
Schüsse zu hören, zu Ende. Dagegen aber fing jetzt erst das Fest
der Bureaukratie an, die eine glänzende Tafel erwartete, während
die armen Leute mit leerem Magen das Spiel mit ansehen mußten,
und ihnen nur das geboten wurde, was nichts kostet; daß doch bei
,olchen Anlässen die großen Herren nur an sich denken und die Annen
vergessen! Einige Anzeichen ließen befürchten, daß es zu Ruhestörun¬
gen kommen werde, aber man dankt es der Umsicht des neuen Stadt¬
hauptmanns, des Grafen Denym, daß Alles in bester Ruhe ablief.
Die Proclamationen und Affichen waren in dem beschcidendstcn bür-
gersreundlichsten Tone abgefaßt, man sah sehr wenig Polizeidiener,
und das Vertrauen, das man in die Neugierigen setzte, haben diese
gerechtfertigt. Unter den Festlichkeiten selbst trug der Ball des Han¬
dels und Fabrikstandes den Sieg davon. Die großen Säle des kai¬
serlichen Schlosses mit solenner Beleuchtung nahmen eine Auswahl
von 1600 blühender Madchen und Frauen und eine größere Anzahl
von Männern auf, die man aus allen Ständen da antraf. — Meh¬
rere Gesandte fremder Mächte schlössen sich an die Erzherzöge an, die
bei dem Feste zugegen waren. Es herrschte ein guter und freundlicher
Ton da. Auf diesem Ball war auch der Fürst Erzbischof zugegen,
und jüdische Kaufleute und Fabrikanten figurirten dabei auch als Aus¬
schüsse. Unter den übrigen Festlichkeiten machte das Fischerstechen
Fiasco. — Einige Kähne fuhren nach einem Ziele um die Wette und
zur größeren Belustigung des Publikums- wurden Enten und sonsti-
ges Geflügel in's Wasser geworfen. — Das sollte das ausgewählte
Publikum belustigen. Ein Herr Laura gab es zum Besten, wozu
er sich verpflichtet glaubte, weil ihm die Auszeichnung zu Theil wurde,
nebst den bisher begünstigten Gebrüdern Klein, einen Eisenbahnbau zu
erhalten. Etwas für Etwas!*)
Die ersten Fahrten der Trains haben mancherlei Unfälle erlitten.
Eine Locomotive liegt bei Auwal in Trümmern, und einem Zufall
dankt man es, daß nicht der ganze Train verunglückte. Bei Prerau
wurde gleichfalls eine Locomotive beschädigt, und anstatt daß die Züge
Abends hier ankommen sollten, langten sie hierher erst den nächsten
Tag früh an. Die Ursachen liegen, wie die Eonducteure behaupten,
in der Anlage der Bahn; nicht in der planmäßig projectirten, sondern
in der wirklich ausgeführten, indem die Bahn so viele Radien hat,
daß sich ein langer Zug nicht schnell genug bewegen kann. — Der
Weg kann wenigstens jetzt noch nicht in der projectirten kurzen Zeit
zurückgelegt werden. Die Pächter haben zur Kostenerlcichterung anstatt
großer Durchstiche die Bahn aus Umwege geführt. Noch immer ist
man ängstlich wegen der neu eingewölbten Schanzendurchsahrten, die
abermals Sprünge bekommen. Als bei deren früherem Einstürze meh¬
rere Menschen im Schütte begraben wurden und todt blieben, so wollte
die Behörde dies weder gesehen noch erfahren haben, und in der Zei¬
tung las man den nächsten Tag, daß mehrere leicht beschädigt, aber
Niemand davon gestorben sei. — Vor einiger Zeit beschäftigte eine wich¬
tige Angelegenheit, nämlich die böhmische Judensteuer, das böhmische
Gremium. Bekanntlich strebt man schon lange darnach, der Judensteuer,
die ein so schiefes Licht auf die Staatsverwaltung wirft, eine andere
Fassung zu geben, da es doch nicht denkbar ist, daß man 10 Pro¬
cent vom effektiven Vermögen Steuer zahlen kann. Es ist daher von
dem betreffenden Referenten ein neues Project zur Sprache gebracht
und so unzeicig und so unpraktisch es auch ist, von dem Gremium
angenommen und bei der Hofkanzlei bevorwortet worden, wo es aber
seiner Unpraktibilität wegen wohl gleich andern unreifen Plänen durch¬
fallen wird. Es soll diesem Plane gemäß jeder Jude seinen essectiven
Vermögensstand in offenen, ungesiegelten Schreiben bei den Magi¬
stratsbehörden genau angeben. Jedem soll demnach das Vermögen
des jüdischen Kaufmanns bekannt gegeben werden. Jede Cammcral-
Wachc, die den Vermögensstand in Zweifel zieht, soll das Recht ha¬
ben, den Juden zu überfallen und wenn sich mehr Vermögen findet
als angegeben ist, so soll dieses dem Denuncianten zufallen. Dagegen
soll aber die Steuer anstatt in 10 Procent blos in Iß- Procent beste¬
hen, und somit ein Kaufmann, der Doctor u. s. w. von dem ge¬
setzlichen Jnteressengenusse per 5 — Procent dem Staate abge-
ben. Wer 1000 Fi. C.-M. hat, zahlt 16 Fi. 40 Kr. C.-M., von
Fi. 10,000 — Fi. 166 40 Kr., von Fi. 100,000 Fi. 1666 C.-M.
u. s. w. Die Folgen, die aus einer solchen Einleitung hervorgingen,
wären unberechenbar. Der Jude bliebe fortwährenden Denunciationen
ausgesetzt. Die Kinder wüßten den Vermögensstand der Väter und
der Unmoralität würde Vorschub geleistet. Der Kaufmann, der sich
nur durch Credit forthilft, würde untergehen. Sonderbar, daß so
kindische Pläne den Beifall alter Räthe finden.
In der Beilage der Augsburger Allgemeinen Zeitung lasen wir
vor einigen Wochen einen Nekrolog des unlängst verstorbenen Oberst-
kammerers Grafen Czernin, der jedenfalls aus einer mit den innige¬
ren Lebensbezügen des Geschiedenen wohl vertrauten Feder geflossen
ist, aber wie die meisten Arbeiten dieser Gattung an dem Fehler opti¬
mistischer Auffassung kränkelt. Wir verlangen nicht, daß derjenige,
welcher sich der Aufgabe unterzieht, den Berichterstatter über den Le¬
benslauf eines hochgestellten Mannes für ein öffentliches Blatt zu
machen, alle einzelnen Handlungen desselben auf die Goldwage mora¬
lischer Prüfung lege und bereits an dem frischen Grabeshügel die
Rolle der unerbittlichen Nachwelt übernehme. Dazu ist in dem Au¬
genblicke, wo solche biographische Uebersichten gebräuchlich sind, die
rechte Aelt kaum gekommen, noch besitzen die, welche mit der Abfas¬
sung solcher Journalartikel in der Regel betraut werden, weder Lust
noch Beruf, ihren Mann im Lichte einer historischen Auffassungsweise
zu betrachten und darzustellen.'
Aber dennoch sollte in diesem Falle das schöne Wort Voltaires
nicht vergessen werden, daß man den Lebenden Schonung, den Todten
aber Gerechtigkeit schuldig sei. Der Leser hat das Recht, von derlei
biographischen Denksteinen zu verlangen, daß sie ihm ein skizzirtcs
Charakterbild von der geistigen Individualität des Geschilderten in kla¬
ren Umrissen vor's Auge bringe und nicht in den Fehler der chinesi¬
schen Malerei verfalle, deren Pinsel blos Lichter austrägt, ohne die
nöthigen Schattenpartien anzubringen.
In dem erwähnten biographischen Artikel wird es dem verstorbe¬
nen Grasen als hohes Verdienst ausgelegt, den vortrefflichen Drama¬
turgen Schreivogel als Vicedirector an die Spitze des HofburgtheaterS
gestellt zu haben und ich bin der Erste, der diesen Lobspruch anerkennt,
denn wer die segensreiche Wirksamkeit dieses wackern Mannes aus
eigener Anschauung gekannt und nun Zeuge sein mußte von der Wirth¬
schaft seiner Nachfolger, der wird nicht Worte genug finden, um die
Energie und Kenntnißfülle eines Bühnenleiters zu preisen, der allen
übrigen als Muster hingestellt zu werden verdient. Doch eben deshalb
hätten wir auch an demselben Orte gern die Ursachen gefunden, warum
der Graf in der Folgezeit diesen unbescholtenen und unersetzbaren Dra¬
maturgen von der Stelle wieder entfernt hat, für welche Schreivogel
geschaffen war und für welche sich ohne Widerrede kein Würdigerer
auffinden ließ. Was hatte es dem trefflichen Rufe des Gestorbenen wohl
schaden können, wenn neben dem Verdienst, das er sich durch die Beru¬
fung Schreivogel's um das Hofburgthcater erworben, auch des Um¬
stände« erwähnt worden wäre, wie der Graf im vorgerückten Alter und
von Schmeichlern irregeleitet, die barsche Redlichkeit und das gerade
Wesen Schreivogel's nicht mehr leiden wollte, und den verdienstvollen
Mann nach einer ausgezeichneten Laufbahn durch eine hinter seinem
Rücken gesponnene Intrigue von dem Platze verdrängte, die ihm von
Rechtswegen gebührte? Man würde höchstens sagen, der Graf sei
derselben Schwache unterworfen gewesen, welcher gar Viele unterwor¬
fen sind, die in den höhern Regionen leben, nämlich der Schwache,
keinen ausgesprochenen Charakter, keine feste, in sich abgeschlossene
Persönlichkeit in ihrer Nahe dulden zu können, sondern Leute von
geschmeidigen Manieren und eingehender Natur vorzuziehen.'
Graf Czernin hat durch die Pensionirung Schreivogels dem
Kunstinstitut ebenso geschadet, als er ihm durch dessen frühere Beru¬
fung genützt hatte. Dabei darf man nicht außer Acht lassen, daß es
nicht etwa dienstliche Rücksichten, sondern einzig persönliche Motive
gewesen, welche die Entfernung Schreivogel's veranlaßten. Letzterer
besaß in keiner Art die weltmännische Klugheit, wodurch sich An¬
dere in ähnlichen Verhältnissen zu retten wissen, indem sie im un¬
mittelbaren persönlichen Verkehr mit ihren Obern ihre Ansprüche ganz¬
lich fallen lassen und einen Ton erkünstelter Bescheidenheit anschlagen,
der jene für den öffentlichen Beifall entschädigen muß, welcher dem
Untergebenen gespendet wird. Schreivogel verschmähte derlei Hofkünste
und lebte zu sehr den Interessen der Anstalt, um persönlichen Bezie¬
hungen so große Wichtigkeit beizulegen. Bald sollte er indeß die Fol¬
gen seines männlichen und geradsinnigen Benehmens fühlen.
Deinhardstein gehörte damals zu dem Eirkel, der sich im Hause
des für artistische und literarische Dinge stets betheiligten Grasen ver¬
sammelte. Er war Professor der Aesthetik an der Theresienakademie
und sowohl die gedrückte Stellung eines pädagogischen Berufs, als
auch die geringe Besoldung von 7vit Gulden, welche mit derselben
verknüpft, wollten dem aufstrebenden Ehrgeiz des jugendlichen Drama¬
tikers genügen, den seine bühnlichen Erfolge und sein gewandtes Wesen
unterstützten. Graf Ezernin warf sein Auge auf den jungen Dichter
und bestimmte ihn im Stillen als Schreivogels Nachfolger. Es war
an einem Sommerabend, wo der Graf dem Professor im vertraulichen
Gespräch seine Pläne mittheilte, welche dem Letzteren ebenso überra-
»
scheut als erfreulich sein mochten. Vorderhand durfte indeß Schrei-
Vogel von dem Ganzen nichts ahnen und das Geheimniß wurde in
der That so gut bewahrt, daß außer Deinhardstein kein Mensch davon
etwas erfuhr; ein Wort hatte hier Alles vereiteln können, denn Schrei¬
vogels Wirksamkeit war untadelhaft und das Institut befand sich in
einem befriedigenden Zustande. An größerer Sicherheit ward noch
überdies der Zeitpunkt abgewartet, als sich der Kaiser in Mailand
befand und die amtlichen Mittheilungen wurden zum Behuf sicherer
Geheimhaltung gar nicht mit den anderen Schriften durch die Post
nach Italien befördert, sondern bei schicklicher Gelegenheit alle die Pen-
sionirung Schreivogels betreffende Aktenstücke einem dahin abgehenden
Cabinetscoürier mitgetheilt, weshalb selbst die Beamten des Oberkäm¬
mereramtes von der gesammten Verhandlung keine Sylbe wußten.
Schreivogel hatte eben für den kommenden Tag eine Gesellschaft lite-
rarischer und artistischer Freunde zu Tisch gebeten, als er das Decrer
empfing, welches ihn in den nicht verlangten Ruhestand versetzte. Als
die Geladenen um die bestimmte Zeit in Schreivogels Wohnung er¬
schienen, worunter sich auch die Hofschauspielerin Peche befand, eröff¬
nete ihnen der Bediente, daß sein Herr unwohl sei. Der Grund sei¬
nes Unwohlseins blieb nun auch nicht länger ein Geheimniß, und alle,
welche dem Trefflicher im Leben näher gestanden, hegen keinen Zweifel,
daß dieser unerwartete Schlag ihn getödtet habe, denn für einen Mann,
wie Schreivogel, war solche Ruhe zugleich die Ruhe des Grabes.
'
?. 8. Gutzkows gesammelte Schriften dritter Band, der vor eini¬
gen Tagen hier angelangt ist, hat Viele in Erstaunen gesetzt, durch den
Artikel: Wiener Eindrücke, den er enthält. Wir haben wohl ge¬
dacht, daß Gutzkow seinen Wiener Aufenthalt literarisch ausbeuten
werde, daß aber dies so rasch geschehen werde, hat man nicht erwartet.
Andererseits konnte man annehmen, daß, wenn dieser geistreiche Pu-
blicist sich einmal über Oesterreich ausspricht, dies in einem größern
Umfange, als in 65 Seiten, die jetzt vor uns liegen, geschehen werde.
Dem sei, wie es wolle, der kleine Aussatz ist pikant und es verdient
namentlich Anerkennung, daß Gutzkow die Kleinen schont und seine
ganze Polemik gegen die Großen, gegen das System richtet. Nach
diesem Aufsätze läßt sich mit Gewißheit annehmen, daß das Gerücht,
Gutzkow strebe nach der Stelle eines Dramaturgen an dem hiesigen
Hoftheater, ein ganzlich unbegründetes gewesen ist. Wer so über
den Fürsten Staatskanzler spricht, der hat alle derartigen Hoffnungen
aufgegeben, oder richtiger gesagt, er hat wahrscheinlich nie welche
gehegt.
Wir sahen gestern Abend als ersten dramatischen Versuch eines
jungen Leipziger Poeten, das fünfaktige Trauerspiel Agnes Bemauer
von Adolf Böttger über die Bühne gehen. Herr Böttger ist kein
Neuling in der Literatur. Seine Uebersetzung des Byron hat seinen
Namen bei allen Freunden des großen brittischen Dichters bekannt
gemacht. Es ist fast nur eine Stimme darüber, daß die Böttger'sche
Uebersetzung des Childe Harald, des Don Juan nicht nur die gelun¬
genste ist, die wir von diesen Dichtungen bisher besitzen, sondern sich
den ausgezeichnetesten Uebersetzungen fremder Klassiker, mit welchen der
Fleiß und das tiefe Verständniß eines Voß, Gries, Schlegel, Tieck:c.
unsere Literatur bereicherten, sich anreiht. Mit einem um so günsti¬
gern Vorurtheil gingen wir gestern in's Schauspielhaus. Wer sich
so in den wild romantischen Geist Byrons hineingelebt hat, wer so
Herr des Verses und des Reims ist, von dem war mehr als Mittel¬
maßiges zu erwarten. Unser Drama aber bedarf nöthiger als je, daß
etwas Byron'sche Urvoesie ihm in die Adern fahre, die Wiener Jam¬
benromantik riecht doch gar zu stark nach dem Toilettentisch und die
Stücke einiger norddeutschen Dramatiker machen das Prinzip des Geist¬
reichen allzusehr auf Kosten des poetischen Prinzips geltend. Der
Stoss, den Böttger gewählt, war allerdings weder ein neuer, noch ein
besonders glücklicher. Schon in den letzten 25, Jahren des vorigen
Jahrhunderts kam eine Agnes Bernaurin auf der Leipziger Bühne
zur Aufführung, und feit dieser Zeit, wie oft wurde das Thema be¬
handelt, ohne daß es Einem gelungen wäre, einen dauernden Succeß
auf dem Repertoir damit zu erringen. Herrn Adolf Böttger wird und
kann es leider nicht besser ergehen. Wir müssen vor Allem voraus¬
schicken, daß der gestrige Succeß ein äußerlich sehr glücklicher war.
Das Haus war gefüllt und eine Elite des Leipziger Publikums und
der Literatur klatschte dem Dichter Beifall zu, einige Darsteller wur¬
den nach dem zweiten und nach dem vierten Akte gerufen und der
Dichter selbst am Schlüsse stürmisch hervorgefordert. Allein die Kritik
muß die Sache von der Person zu trennen wissen, und das Interesse
uns den Werth des Werks nicht mit dem Wohlwollen, welches das
Publikum einem jungen, bescheidenen und in einer andern Branche
verdienstvollen Landsmanne bezeugt, in eine Wagschale werfen. Das
Publikum ehrt seine Aufmunterung, die Kritik ehrt ihre Wahrheits¬
liebe. Dem Böttger'schen Trauerspiele fehlt es an drei Dingen, ohne
die wir uns kein poetisches Drama denken können, es fehlt ihm an
einer Grundidee, es fehlt ihm an Neuheit der Erfindung, es fehlt ihm
an Individualität der Charaktere. Was die Erfindung betrifft, so
hat er sich's sehr bequem gemacht: Er ist den Weg Aller seiner Vor¬
gänger gegangen. Albrecht, der Sohn und Erbe des Herzogs Ernst
von Vaiern, vermählt sich heimlich mit der schönen Bäckerstochter
Agnes. Der Kanzler des Reichs, ein Haupt- und Generalböse¬
wicht, belauscht die stille Vermählung in Augsburg. Er haßt den
jungen Herzog, weil dieser ihn einst in einem Turnier besiegt und
wie er nun im Gebüsche die Liebkosungen des jungen Paares betrach¬
tet, so findet er, es sei
. . . ein verteufelt hübsches Ding!
Wünscht selber, daß sie mir im 'Arme hing —
Verliebt im Blick, geschmeidig wie ein Reh,
Und blendend rein wie frisch gefallener Schnee,
Ganz für mich passend. —
Dieses „ganz sür-mich passend" ist ein Hauptmotiv, weshalb dieser
Staatsmann dann Dinge unternimmt, die der gewöhnlichste Abruzzen-
bandit schlauer und mit mehr Menschlichkeit unternehmen würde. Auf
einem Turnier, wo die gesammte Ritterschaft sich weigert, dem jungen
Herzog die Schranken zu öffnen, weil er mit einer Dirne lebe, erklärt
dieser seinem Vater, Agnes sei sein angetrautes eheliches Weib. Der
lüsterne und haßerfüllte Kanzler begibt sich hierauf in die Burg Strau-
bing, wohin sich Albrecht mit seiner Frau zurückgezogen hat; er hat
vom Herzog Ernst den Auftrag, Agnes in ein Kloster bringen zu
lassen. Aber er spiegelt beiden vor, der Herzog habe verziehen. Zu
gleicher Zeit weiß er einen falschen Brief in die Hände Albrechts zu
spielen, worin diesem gemeldet wird, in München sei Rebellion aus-
gebrochen und seine Gegenwart wird als nothwendig gefordert. Al¬
brecht nimmt Abschied von seiner Frau und eilt nach München. Aber
kaum hat er das Schloß verlassen, so erscheint der Kanzler, macht
Agnes die plumpesten Wollustantrage und als sie sich weigert, dringen
Bewaffnete ein und schleppen sie fort. Im vierten Akt ist Agnes auf
einem Strohlager im Kerker, der Kanzler kommt noch ein Mal mit
seinen Anträgen und als sie ihm ihren Abscheu wiederholt ausdrückt,
laßt er sie in die Donau werfen. Ein alter, treuer Diener Albrechts,
der sich in's Gefängniß zu seiner Herrin zu Schleich?» wußte, muß
vom Fenster aus den Todeskampf der Agnes zusehen, und der Kanz¬
ler weidet sich mit Tigerfreuden an dem doppelten Anblick.
Nun ist eigentlich die Geschichte zu Ende, denn was im folgen¬
den Akte vorgeht ist nur so ein Nachspiel. Albrecht zieht mit der ihm
treu gebliebenen Ritterschaft in offener Empörung gegen seinen Vater,
läßt sengen und brennen, bis er plötzlich erfährt, der Herzog habe
keinen Befehl zum Morde seiner Frau gegeben, sondern alles sei ein
Werk des Privathasses oder der Privatliebe des Kanzlers, dieser wird
eingefangen und der Rache des Volkes überliefert, das ihn hinter der
Scene erwürgt. Der alte Herzog ist indessen seinem Sohne entge.
gengezogen:
Richt ich, meiq Sohn, des Schicksals dunkle Macht
Brach deine Ruhe — rechte mit den Sternen.
Ich ehre sie — sie werd' in voller Pracht
Als Baierns hohe Herzogin bestatt«,
Auf ihrer Gruft heb' sich ein Bild von Stein
Bon grünen Fricdcnsjweigen überschattet
Und Priester sollen ihr Gebete weihn.
Doch das erlauchl'ste Denkmal ihrer Schmerzen,
Es leb' in den versöhnten Herzen.
Albrecht stürzt in die Arme seines Vaters und der Vorhang fallt.
Entkleidet man das Stück seiner hübschen klingenden Verse, so bleibt uns
weit eher das Gerippe eines Operntertcs als ein Trauerspiel übrig.
Wo ist die Grundidee, die es abspiegelt, wo ist der erschütternde mo¬
ralische Gedanke, der durch dasselbe geht? Wir haben allerdings die
Auswahl: Heirathe kein Bürgermädchen, wenn du ein Herzog bist,
oder auch: Heirathe keinen Herzog, wenn du ein Bürgermädel bist,
oder auch: laß kein Weib in's Wasser werfen, wenn du nicht erwürgt
werden willst u. f. w. Für welche Idee stirbt Agnes? Welche Idee
repräsentirt dieser Albrecht, dieser Herzog oder gar dieser Hauptspitz¬
bube von Kanzler? Letzterer ist eigentlich der Held deS Stückes, aber
was für ein Held! Der Dichter hat, um seines Successes sicher zu
sein, diesen Charakter (?) mit einem doppelten Zwirn genaht; er hat
ihn aus Motiven des Hasses und der Liebe, d. h. der Wollust gefloch¬
ten, aber weil sich das eine Motiv immer auf das andere verläßt,
reißen beide. Solche Bösewichter mit rothen Hosen sind seit der -Zeit
der seligen Ritterkomödien, Gott sei Dank, geschwunden. Man verlangt
von einem Intriguanten, daß er wenigstens Geist oder auch nur Schlauheit
habe, sonst erinnert er zu sehr an die Nestrov'sche Parodie Robert der Teu-
xel, wo „Bcrlramerl" mit dem Finger schnippst und dabei immer ruft:
„Krr! Nur Böses!" — Es ist nicht die Aufgabe der Kritik, dem
Verfasser zu sagen, wie er es hatte machen müssen — aber wäre es
nicht poetischer gewesen, wenn der Dichter statt zu solchen abgedrosche¬
nen Haß- und Wollüstlingsmotiven zu greifen, den Kanzler zum Reprä¬
sentanten der Adelskaste gemacht hätte, die empört über das Eindringen
bürgerlichen Blutes ist und sein eigenes Leben mit Bewußtsein in die
Schanze schlägt, um nur die eingebildete Schmach und den Flecken
an der Krone seines Landes nicht zu erleben. Der Kanzler hätte dann
vor den Herzog hintreten können und sein Haupt selbst dem Schaffst
bieten dürfen, weil er die Befehle des Herrn übertreten; er hatte
tragisch enden können für eine falsche Idee, aber doch für eine Idee
und als ein Charakter! — Ueber die Oekonomie des Stückes wollen
wir mit dem Dichter nicht rechten, obgleich die ganze Turnicrscene, so wie
die Traumscene des Herzogs überflüssig sind und auch der dritte Akt
weit effektvoller schließen würde, wenn nach den Worten der Agnes:
'
Und alles was ich dafür zu geben hab,
Ist meine Liebe bis in's Grab
der Kanzler mit den Bewaffneten hcreintrate und nach den kurzen
Worten: „Ergreift sie!" der Vorhang fiele. Doch derlei Verstöße
sind dem ungeübten Anfänger recht gern zu verzeihen — da sie schon
beim zweiten Stücke seltener vorkommen. Herr Böttger aber wird
hoffentlich ein zweites Stück schreiben; er hat, wenn er auch gegen
die Aufgabe der Poesie sich hart versündigt hat, doch ein unzweideu¬
tiges Talent für die Bühne selbst in diese», verfehlten Stücke kund
gegeben und die flüssige Sprache, der gewandte Vers — ist er auch
nicht gedankenreich — bleiben doch immer ein gefälliges Gewand für
den dramatischen Dichter, an dem Viele zu scheitern pflegen. Die
gelungenste Figur im Stücke ist die episodische Gestalt eines jungen
weinliebenden Spielmannes, die mit Humor und einer dem Leben
abgelauschten Wahrheit gezeichnet ist.
Das Stück war sorgfaltig in die Scene gesetzt und wurde auch
theilweise sehr gut gespielt, namentlich von Fräulein Unzelmann, die
gerufen wurde und den fleißigen Herrn Paulmann mit herausführte.
Herr Marr machte aus seinem Kanzler, °°was man nur aus einer
solchen Puppenspielsigur machen kann. Der Souffleur wird hoffent¬
lich bei der zweiten Vorstellung, die auf übernlorgen angesagt ist,
-— Nheingraf Dumont-Schauberg, Erb Herr der Cölnischen Zei¬
tung (eins der fruchtbarsten Papierlande, das seine Souvrainsrechte
auf 9 bis IVMl) Abonnenten erstreckt) hat in seinem Staate einen
großen Ministerwechsel vorgenommen. Mit' Ausnahme des Ministe¬
riums der äußern Angelegenheiten, d. h. der Artikel Frankreich und
England, welche ein in den Geschäften ergrauter Staatsmann nach
wie vor aus den französischen und englischen Blättern leitet, sind
die übrigen Portefeuilles in andere Hände übergegangen. Das Mi¬
nisterium des Innern (der Minister ist zugleich Präsident des Con¬
seils), welches durch das Ausscheiden des Grafen Andree erledigt wurde,
ist an den Grasen Brüggemann aus Berlin übergegangen, der An¬
fangs November die ersten Ordonnanzen unterzeichnen wird. Das Mi¬
nisterium der öffentlichen Arbeiten, mit welchem auch das Departe¬
ment der Literatur und schönen Künste verbunden ist: das Feuilleton,
ist in die Hände des Vicomte Levin Schücking übergegangen, der,
seit er sich aus seinem Schloß am Meere zurückgezogen hat, auf den
Gütern des Baron Cotta in Augsburg lebte, wo er bisweilen Aus¬
flüge und Jagdpartien in die eben so an Hochwild wie an Hasen
reichen Gegenden der Allgemeinen Zeitung und ihrer Ergänzungsblät¬
tern gemacht hat. Einige Lhriker, die er in letzterer Zeit geschossen,
werden den Neugierigen für Geld gezeigt. (Ein Brief, den wir so
eben erhalten, nennt nicht Herrn Schücking, sondern Herrn W. H.
nicht als Redacteur des Feuilletons.)
Charakterlustspiel von Heinrich Laube. Anm erstenmale aufgeführt auf dem
Leipziger Stadttheater, am 13. September.
Wir sind in das Johr 1762 zurückversetzt, in jene Schlu߬
epoche des siebenjährigen Krieges, dessen vorletzter Akt die für Preu¬
ßen siegreiche Schlacht bei Freiberg in Sachsen war. In der Uni¬
versitätsstadt Leipzig hat man noch keine Ahnung von der Wendung
dieser Schlacht. Man denkt vielmehr den Sieg der Reichsarmee
ganz nahe, und ein italienischer Offizier und Hauptagent gegen
Preußen, Graf Bolza, auf dessen Verfolgung der General Seidlitz
es besonders abgesehen hat, wagt sogar einen galanten Ausflug
nach Leipzig, um der liebenswürdigen Professorin Gottsched, die er
in Dresden kennen lernte, den Hof zu machen. Herr Gottsched
selbst, (Johann Christoph Gottsched, Professor der Philosophie und
Dichtkunst, der Logik und Methaphvsik, Decemvir der Universität,
Senior der Philosophen-Facultät und des Fürstencollcgiumö — so
nennt ihn der Theaterzettel mit Ausführlichkeit) hat so eben die
ganze Facultät zusammenrufen lassen, um einen Protest gegen eine
Zumuthung der preußischen Regierung einzulegen, die eine Abän¬
derung in den Vorträgen über Geschichte und Jurisprudenz ver¬
langte. Herr Gottsched sieht darin einen Angriff auf die Lehrfrei-
heit, dem die Universität entschieden begegnen müsse. Alles hat be¬
reits unterschrieben, nur der außerordentliche Professor der Moral,
Gellert, fehlt noch. Da tritt der bescheidene Mann, der populärste
Dichter im ganzen damaligen Deutschland ein, der hochfahrende
Gottsched tänzelt ihn ob seinem langen Ausbleiben mit großer Ar¬
roganz ab, der schüchterne Gellert wendet ein, daß es wohl jetzt
gefährlich und unzweckmäßig sei eine solche Protestation zu wagen,
aber Gottsched bramarbasirt und bestimmt ihn endlich zur Unterschrift.
Noch eine zweite Protestation aber soll unterschrieben werden. Eine
gefährliche politische Flugschrift, die eben erschienen, wird von Preu¬
ßen verfolgt, es soll auf den Verfasser gefahndet werden und der
Leipziger Universität wird zugemuthet, ihn ausfindig zu machen.
Der Protest dagegen ist zwar nicht nach Gottsched's Geschmacke, denn
er findet, daß in letzterer Zeit überhaupt viele junge Gelbschnäbel
ohne Stand und Beruf sich in die Literatur mischen, um so eifriger
aber ist Gellert, seinen Namen unter jenen Protest zu setzen, der
die Polizeidicnste, die man der Universität zumuthet, als eine Ent¬
würdigung derselben erklärt. — Mittlerweile sind allerlei Gäste in'ö
Haus gekommen. Die Gräfin Manteufel, deren Mann in der
Reichsarmee commandirt, mit ihrer Tochter, die sie dem erwähnten
Grafen Bolza verloben will. Aber zu gleicher Zeit hört man auch,
die Preußen rücken nach Leipzig. Graf Bolza, der für seine Si¬
cherheit besorgt ist, soll mittelst eines Briefes, den Gottsched an
seinen Freund, den kaiserlichen General, durch einen Reitknecht ab¬
sendet, aus seiner Verlegenheit gerettet werden; aber es ist zu spät.
Seidlitz mit seinen Husaren ist bereits in Leipzig und eins seiner
ersten Geschäfte ist, das Haus des Professors Gottsched, in wel¬
chem er Bolza verborgen weiß, besetzen zu lassen. Hier findet sich
eine der hübschesten und wirkungsreichsten Theaterscenen. Der bie-
derbe Wachtmeister, der das Haus zu besetzen beordert ist, beträgt
sich dictatorisch und grob. Aber kaum hört er den Namen Gellert,
so bricht er in ein Freudengeschrei aus:
„Um das Rhinoceros zu sehen in."
Der Name des geliebten Fabeldichters ist in der niedrigsten
Hütte wie im Palaste, am Wachtfeuer wie im Boudoir gleich ge¬
ehrt und der hochmüthige Gottsched steht gekränkt und beschämt dieser
Scene gegenüber. Ueber das Haus dieses Mannes haben sich in¬
dessen schwere und bedrohliche Wolken zusammengezogen. Der abge¬
sandte Brief an den kaiserlichen General war aufgefangen worden,
das Verbergen des Grafen Bolza, die Protestation u. s. w. haben
seinen politischen Charakter verdächtigt und eine Untersuchungscommis¬
sion, die im Nathhaussaale zusammengesetzt wurde, soll nun über ihn,
über Gellert und über Bolza entscheiden. Letzterer ist am bedrohtesten
und darum sucht man ihn zuerst zu retten. Gottsched, früher so
großsprecherisch, hat jetzt alle Besinnung, allen Muth verloren; Gel¬
lert, der schüchterne, sanfte, findet jedoch, je mehr die Gefahr wächst,
immer größere Energie. Der Graf Bolza soll vor der Hand in
seinem Hause sich verbeigen. Zwar haßt er diese Fremdlinge, die
von Deutschlands Mark sich nähren, aber die Menschlichkeit ist stär¬
ker als sein Haß und er setzt sich selber der Gefahr aus, die Gott¬
sched von sich abzuschütteln sucht. — Zwischen diesen Gruppen geht
noch eine andere mysteriöse Figur umher. Ein junger Mann hat
sich unter dem Namen Cato (so ist der Titel einer Tragödie von
Gottsched) in das Gottschedische Haus als Bedienter einzuschmuggeln
gewußt. Dieser Cato ist aber ein Offizier der Reichsarmee, ein
Vetter der Reichsgräfin Mantcufel und in ihre Tochter verliebt, die er
in dem Haufe Gottsched's zu treffen hoffte. Die ahnenstolze Gräfin
will von diesem Vetter, der dem niedern Adel angehört, nichts wis¬
sen und noch viel weniger von der Liebe ihrer Tochter zu ihm. Um
das Unglück zu steigern, wird von der Militärcommisston herausge¬
funden, daß dieser Cato der Verfasser jener incriminirten patriotischen
Schrift ist und so werden sämmtliche Personen auf's Rathhaus escor-
iirl, um ihr Urtheil von dem strengen Kriegsgericht zu erwarten. Alle
zittern vor der Brutalität Seydlitzens, aber mittlerweile ist der Prinz
Heinrich angelangt. Gellert spricht im Namen Aller, im Namen der
getretenen Bürgerschaft, deren Haus von der Barbarei der Soldatesca
heimgesucht wird, er spricht im Namen der Moral und des Friedens.
Der Prinz erkennt entzückt den verehrten Dichter und Alles nimmt eine
glückliche Wendung. Die incriminirte Schrift Cato's, der gewissermaßen
als ein Repräsentant des jungen deutsche» Schriftstellerthums dasteht,
hat wegen ihrer patriotischen Ideen das Herz deö Prinzen gewon¬
nen, auf seine Vermittlung willigt die Gräfin in die Verbindung
ihrer Tochter, Gellert bekommt den bekannten Schimmel geschenkt
u, s. w> Graf Bolza darf sich zurückziehen, da ohnehin der Friede
in Aussicht steht, und unter patriotischen Wünschen für Deutschlands
Zukunft fällt der Vorhang.
Dies ist das Gerippe eines Stückes, um dessen Erfolg sich bei
der ersten Aufführung die Parteien mit Leidenschaft stritten.
Wenn man durch den bunten Wechsel pikanter Genrescenen,
durch das geistreiche Jor« d'oeuvros und durch die Phantaömagorie
politischer Hohlspiegel dieses Lustspiels seinem innern Kern auf den
Grund sieht, so stößt man auf zwei Hauptmangel, von welchem der
eine in dem Stoffe, der andere in der Richtung des Dichters liegt.
Es hat unendlich viel Verführerisches für jeden deutschen Dramatiker,
sich einen jener literarischen Helden, die im vorigen Jahrhundert ein
neues geistiges Deutschland geschaffen, zum Gegenstand seines Dra¬
mas zu wählen. Das Feld ist noch so neu und das Verdienst ist
im Falle des Gelingens doppelt groß. Sind es doch gerade natio¬
nale Stoffe, die unserm Drama besonders fehlen. Trotz der bessern
und verbreiteteren Schulbildung ist in Deutschland die große Masse
dennoch weil weniger mit der Geschichte des Vaterlandes bekannt,
als in Frankreich. Das deutsche Volk hat zu viel Geschichten, um
Geschichte zu kennen. Wie vertraut ist selbst der halbgebildete Fran¬
zose mit den hervorragenden Namen seiner „großen" Epochen von
Ludwig XIV. bis auf Napoleon, während in Deutschland Preußen,
Sachsen, Baiern, Oesterreichs jede ihre eigenen provinziellen Helden-
nomenclatur haben und die Kenntniß der Nachbargeschichte dem Nach¬
bar überlassen wird. So ist der deutsche Dramatiker bet der Wahl
eines nationalen Helden in dem großen Nachtheil, ihn in der einen
Provinz populär und in der andern ganz unbekannt zu sehen. Doppelt
groß aber ist dieser Nachtheil, wenn dieser Held der Literaturgeschichte
und noch insbesondere dem vorigen Jahrhundert angehört. Der
Dichter ist da in einem schlimmen Dilemma, die Zeit ist nicht ent¬
fernt genug, um ihm alle Freiheit romantischer Erfindung zu gestat¬
ten, die Kritik wird ihm gewiß die kleinsten Verstöße gegen die hi¬
storische Richtigkeit zum Vorwurf machen, und doch ist die Zeit auch
nicht nahe genug, als daß dem größeren Publikum alle Stichwörter
derselben ohne Commentar verständlich werden können. Er hat somit
die gefährliche Wahl, entweder auf alles literarische Beiwerk, das zur
Charakteristik nothwendig ist, verzichten zu müssen, und dann fragt
man ihn mit Recht: Warum hast Du diesen und nicht einen an¬
dern gleichgiltigen Helden gewählt? oder er muß, um dem Gebilde¬
ten zu genügen, auf die Theilnahme und das Verständniß der Masse
verzichten. Durch diese gefährliche Klippen hat Laube's „Gottsched
und Gellert" nicht durchschiffen können, ohne bald dort, bald da auf
eine Sandbank zu gerathen. Namentlich leiden die ersten zwei Akte
art je-ner Breite, die dem Dichter für vielfache kleine Züge zur Charak¬
teristik des Gottsched nöthig war, und erst in der Mitte des dritten
Aktes, wo der populäre, mit wenig Strichen, aber prägnant gezeichnete
Gellert mehr in den Vordergrund tritt, kommt Leben in das Ganze.
Der zweite Fehler des Stückes liegt in der Laube'sehen Behand¬
lung des Theaters. Laube besitzt in der Kunst der Scenerie eine
Gewandtheit, ja eine Meisterschaft, wie kaum ein anderer deutscher
Theaterdichter. DaS Verschlingen und Auflösen, das Aus- und
Einschieben der Scenen versteht er wie der gewandteste Franzose; er
spielt mit den Schwierigkeiten, ja er scheint sie oft aufzusuchen, um
dem spröden Material, an dem ein Anderer scheitern würde, den Sieg
abzugewinnen. Aber dies Bewußtsein seiner Geschicklichkeit führt ihn auf
Abwege. Er legt offenbar zu viel Gewicht auf die samische Mosaik
und opfert ihr die breitere Entwickelung der Charaktere, die tiefere
psychologische Motivirung. Um für ein pikantes Genrebild Raum
und Zeit zu gewinnen, muß er manches Seelenmotiv zurücklassen
und die Charaktere blos skizziren, statt sie auszuführen. Die Laube'-
schen Theaterzettel wimmeln daher von einer Menge Personen, die
er als Apparat seiner scenischen Maschinerie nothwendig hat, die
aber nicht selten das Hauptinteresse zerstückeln, weil jede einen Fetzen
davon für sich abreißt. Dies ist auch der Fall im „Gottsched und
Gellert." Die Haupthandlung dreht sich nicht um das Schicksal die¬
ser beiden Männer, sondern um das einiger episodischen Personen
und auch diese lösen einander ab. Im ersten Akte sind es Graf
Bolza und Frau Gottsched, dem sich der Magnet zuwendet, aber
schon im zweiten Akte treten diese beiden in den Hintergrund, um
Cato Platz zu machen, der ihn aber nur bis zu Ende des vierten Aktes
behauptet, um dann von dem Prinzen Heinrich verdrängt zu werden.
Und dennoch ist dieses Stückwerk, das in jeder andern Hand
sogleich auseinanderfallen würde, geistvoll und mit außerordent¬
lichem Geschick zusammengefügt. Das Kaleidoskop mit seinen viel¬
farbigen Körnern tritt immer wieder in anziehende Gruppen zusam¬
men. Nebst einigen sehr dankbaren komischen Nebenfiguren ist der
Charakter Gellert'S besonders gelungen. Hier hat Laube die kräf¬
tigsten Striche gethan. Die Gestalt entwickelt sich allmählig und
steht endlich wie aus einem Gusse frisch und kräftig da. Neben ihm
ist Cato — der zwar die Verwandtschaft mit Struensee und dem
Valerius im jungen Europa nicht verleugnen kann — die interessan¬
teste und poetischeste Figur, eine Art Posa, die für deutsche Einheit
und Erhebung schwärmt. Daß es bei einem so geistvollen Kopfe
wie Laube an schlagenden Wendungen, an feinen Einzelnzügcn nicht
fehlt, bedarf wohl keiner Erwähnung. Entschiedener Protest muß
man aber im Interesse der Kunst wie der fernern Entwickelung des
deutschen Theaters gegen das Uebermaß von politischen Anspielungen
einlegen, von denen das Slück von Anfang bis zu Ende durchwirkt
ist. Da ist auch nicht ein Ereigniß der letzten drei Monate, das
nicht seine bezügliche Stelle im Dialoge fände. Abgesehen von der Lehr¬
freiheit, von der Verwendung der Universität zu einer Polizeianstalt,
von Preußens Beruf, mit allen dran und drum liegenden Beziehun¬
gen, finden die Leipziger Ereignisse, die Itzstein-Hecker'sche Angelegen¬
heit, die Untersuchungscommission u. s. w. ihre Stelle. Sogar das
berüchtigte Wort „fahnden" hat Laube nicht verschmäht. Dies ist
ein Mißbrauch der politischen Reizmittel in einem Stücke, das An¬
spruch auf ein Kunstwerk und nicht auf eine Gelegcnheitspiece macht.
Gewöhnt man das Publikum erst Pfeffer und nur Pfeffer zu essen
— dann seht zu, wie Ihr später seinen Gaumen finden werdet für
natürliche und einfach poetische Kost. Schon Gutzkow thut des Gu¬
te» manchmal zu viel; aber so weit wie Laube in seinem Gottsched
hat es die politische Phrase auf der Bühne noch nicht gebracht. Für
den Augenblick zwar zünden diese Raketen und sichern den lauten,
momentanen Erfolg. Was wird aber aus solche» Stücken nach drei
Jahren, ja nach einem Jahre werden, wo die journalistische Be¬
deutung verflogen ist und die Anspielung nicht mehr verstanden wird?
Wahrlich, wenn Laube die politische Phrase auf der Bühne absicht¬
lich hätte zu Tode jagen wollen, um sie in Zukunft unmöglich zu
machen, so ist ihm dies gelungen. Nachdem was hier geboten wird,
bleibt nichts mehr zu bieten übrig — ni.roh um Jo «Ivluxo!*)
Welche Laufbahn ist stärker der Versuchung ausgesetzt als die
eines Journalisten? Wo sind die Abwege so häufig? Wo gibt eS
einen schärferen Probirstein für Charaktere? Dem freisinnigen Beam¬
ten, Offizier, Deputaten, Professor u. s. w. bietet sich allerdings man¬
cher Moment im Leben dar, der ihn zum Uebergange in'S andere
Lager, zur Aenderung seiner Prinzipien verlockt. Aber, diese Mo¬
mente sind spärlich, kommen bisweilen nur nach Jahren, bei außer¬
ordentlichen Gelegenheiten. Auf den Journalisten aber stürmen sie
jeden Tag ein. Jeden Tag kommen Verführungen, Conflicte, die
den Boden unter seinen Füßen lockern. Wie seine Feder nur eini¬
gen Ruf, seine Stimme nur einiges Echo gefunden, da kommen
die Syrenen und spiegeln ihm das herrliche Leben vor und die Vor¬
theile, die seiner warten, wenn er „hübsch vernünftig" sein wolle.
In meinem Schlosse ist's so sein,
Kommt Ritter, kehret bei mir ein!
Darum gibt es auch nirgends mehr der Gefallenen als auf
dieser schlüpfrigen Bahn, darum gibt es auch so wenig Journalisten,
die am Abend ihrer Laufzeit noch in derselben Reihe, unter derselben
Fahne stehen, wie am Morgen.
Da liegt ein ganzes Leben eines solchen Gefallenen vor uns:
„Blicke aus der Zeit und in die Zeit" von 0i. K. H. Hermes.*)
Mit welchen Hoffnungen und wahrscheinlich mit welchen guten Vor¬
sätzen ist dieser Mann in die Journalistik getreten und nun nach
funfzehn Jahren, nachdem er in München, Braunschweig, Cöln,
Berlin so viele Anlaufe gemacht, so viele Fragen bedient, so viele
Blätter redigirt, bei allen Parteien gewesen, in allen Lagern sich
herumgetrieben hat, manchmal nicht ohne Wichtigkeit seine Rollen
spielte, wie isolirt, wie verlassen steht er nun da, ohne Halt und
ohne Wurzel, mit Allen zerfallen und von Allen gemieden. Denn
zur Bewahrung eines selbstständigen Charakters gehört in der Jour¬
nalistik nicht nur innere Sittlichkeit, Energie und Muth, es gehört
auch ein scharfer, klarer Verstand dazu, der durch die Verwirrung
der Verhältnisse, der politischen Elfentänze und Phantasmagorien
scharf genug blickt, um seinen Leitungsstern nicht aus dem Auge zu
verlieren. Nirgend sind Selbsttäuschungen häufiger. Mancher libe¬
rale Schriftsteller, der es wirklich ehrlich mit seiner Sache meint, hat
sich verlocken lassen, eine Stelle bei einem Blatte, das seiner Rich¬
tung entgegengesetzt ist, anzunehmen, weil er sich selbst einredete, daß
es ihm gelingen würde, auch auf jenem Posten für seine Sache zu
wirken, daß sein Einfluß jenem Organe eine andere Richtung geben
werde. Mit derlei Sophismen sucht der schwache Charakter sich
selbst zu täuschen. Aber die Verhältnisse sind in der Regel stärker
als er und einmal in die Strömung gerathen, reißt ihn diese so
weit von dem Einschiffungöorte fort, daß er nicht mehr zurück kann.
Herr Hermes legt uns in der Vorrede zu seinem Buche (das
aus einer Zusammenstellung von Vorlesungen und Journalartikeln
besteht) eine journalistische Autobiographie vor, die in München be¬
ginnt und in Berlin endet. Der Verfasser glaubt sich dadurch von dem
Vorwurfe der Treulosigkeit und Inconsequenz reinzuwaschen. Ob
ihm dieses gelingt — mögen die Leser jenes Buches entscheiden.
Hier wollen wir blos eine Episode hervorheben, die einen Beitrag
zu den mMers der preußischen Presse bildet und als solcher auch
denen interessant ist, die sich sonst um die Person des Herrn Her¬
mes nicht scheeren.
„ES war gegen das Ende des Maimonates im Jahre 1843," —
erzählt Herr Hermes, der zu jener Zeit Redacteur der Kölnischen
Zeitung war — „als der Regierungspräsident von Cöln, Herr von
Gerlach, durch einen seiner Secretaire mich mündlich zu sich einla¬
den ließ, um, wie mir gesagt wurde, mir eine interessante Mitthci-
lung zu machen. Ich besuchte den Herrn Präsidenten noch desselben
Tages und wurde nach den herkömmlichen Höflichkeitsbezeugungen
von ihm befragt, ob ich wohl nicht abgeneigt wäre, nach Berlin zu
reisen? Meine Erwiederung war, daß ich zwar gerade im Augen¬
blicke nicht wüßte, was mich nach Berlin führen sollte; daß es mir
aber allerdings nichts weniger als unangenehm sein würde, nach
mehr als zwanzigjähriger Abwesenheit die Hauptstadt meines Vater¬
landes wieder zu sehen. Herr von Gerlach eröffnete mir hierauf,
daß er, falls ich geneigt wäre, diese Reise anzutreten, beauftragt sei,
mir volle Entschädigung für meine aufgewandten Kosten zuzusichern;
mehr könne er mir nicht sagen, weil er das, waS man von mir
wolle, selbst nicht wisse. Ich war einigermaßen überrascht, überlegte
jedoch nicht lange, sondern erklärte mich bereit, dem auf so geheim-
nißvolle Weise mir angedeuteten Wunsche zu entsprechen; worauf
Herr von Gerlach sich begnügte, mich zu ersuchen, meine Abreise so
sehr als möglich zu beschleunigen, vorher aber, sobald meine Vorbe¬
reitungen beendigt wären, ihn noch einmal mit einem Besuche zu
beehren. Zwei Tage darauf hatte ich einen Platz in der Schnell¬
post nach Berlin belegt, und ging der Verabredung gemäß zu dem
Herrn Präsidenten, um meinen Abschiedsbesuch zu machen. Herr
von Gerlach wiederholte mir, daß er zwar außer Stande sei, mir
irgend eine Aufklärung zu geben, mich aber ersuchen müsse, bei mei¬
ner Ankunft zu Berlin mich Er. Ercellenz dem Herrn Minister des
Innern vorzustellen. Ich kann nicht leugnen, daß ich eine Weisung
dieser Art erwartet hatte. Es war mir nicht entgangen, daß man
in Berlin die hohe Bedeutung der periodischen Presse wohl zu wür¬
digen wisse, und ich war mir bewußt, bei meiner vieljährigen Er¬
fahrung auf diesem Gebiete auch Staatsmännern einen guten Rath
geben zu können. War doch, wie man aus dieser Sammlung erse¬
hen wird, selbst die Errichtung des Obercensurgerichtes, die ich in
der Kölnischen Zeitung mit Freuden begrüßte, viele Jahre vorher von
mir zuerst in Vorschlag gebracht worden. Ob man dessen sich zu¬
fällig erinnerte oder nicht, lasse ich dahin gestellt sein; es ist nur,
wenn meine Gedanken nur zur Ausführung kamen, nie viel daran
gelegen gewesen, ob gerade mir die Ehre der Erfindung zugeschrie¬
ben wurde; auch war ich weder eitel noch anmaßend genug, daS
Prioritätsrecht für eine Schöpfung anzusprechen, die durch ein allge-
mein gefühltes Bedürfniß hervorgerufen wurde, nachdem der Zei¬
tungsaufsatz, welcher dies Bedürfniß hervorhob, längst vergessen war.
Ich traf am 26. Mai des Abends um sechs Uhr zu Berlin
ein und suchte am andern Morgen um acht Uhr, da ich dem Herrn
Minister zu einer so frühen Stunde nicht meine Aufwartung machen
konnte, zuvörderst den geheimen Regierungsrath Bitter auf, von dem
ich wußte, daß er mit dem Referat über alle die Presse betreffende
Angelegenheiten beauftragt war, und daß er sich mit Theilnahme
über meine literarische und politische Wirksamkeit in Cöln geäußert
hatte. Der Herr Geheimerath war „sehr erfreut, mich persönlich
kennen zu lernen," beschämte mich durch verschiedene schmeichelhafte
Aeußerungen und sagte mir: er werde Se. Ercellenz den Herrn Gra¬
fen von Arnim sogleich von meiner Anwesenheit unterrichten und mich
von der Stunde in Kenntniß setzen, in der Se. Ercellenz mich zu
empfangen wünsche, was sich aber wegen augenblicklicher dringender
Abhaltungen wohl bis zum Montage verziehen könnte. Montags,
am 29., machte Herr Geheimerath Bitter mir einen kurzen Besuch
in meinem Gasthofe und kündigte mir an, daß der Herr Minister
mich des Abends um sieben Uhr zu sehen wünsche. Ich begab mich
zu der bestimmten Stunde in das Hotel des Ministers und wurde
von Sr. Ercellenz sehr wohlwollend empfangen. Der Herr Graf
versicherte mich: er habe mit Vergnügen durch den Geheimenrath
Bitter vernommen, daß es nicht unmöglich sein werde, „meine Ta¬
lente für den Dienst der Regierung zu gewinnen," und forderte nach
einer kurzen Unterhaltung über Gegenstände von geringerer Erheb¬
lichkeit mich auf, ihm meine politischen Ansichten zu entwickeln. Ich
sprach meine Meinung offen und ohne Rückhalt aus, indem ich
sagte, daß mir im gegenwärtigen Augenblicke der Cardinalpunkt der
innern Politik Preußens die Constitutionsfrage zu sein scheine. Diese
sei zwar in der Hauptsache durch seine Majestät den König erledigt,
doch gingen immer noch so viele Wünsche auf eine allgemeine Lan¬
des- und Volksvertretung, daß es mir unerläßlich erscheine, in dieser
Beziehung die öffentliche Meinung aufzuklären und den Beweis zu
führen, daß eine Konstitution in dem gewöhnlichen französischen Sinne
weder dem deutschen Volkscharacter entspreche, wie derselbe sich ge¬
schichtlich gebildet habe, noch irgend einen der Vortheile gewähre,
welche die freilich beinahe allgemein verbreitete Meinung voraussetze.
'
Dagegen scheine mir die ständische Verfassung Preußens nach Allem,
was in den letzten Jahren bereits geschehen sei, noch einer kräftigeren
Entwicklung zu bedürfen, die sie zum wahren Eigenthume des Volkes
mache, und deren Gipfel dann die vereinigten Ausschüsse sein wür¬
den. Mit den Forderungen, die in Bezug auf Zusammensetzung der
Stände, auf Erweiterung ihrer Befugnisse und Aehnliches von ver¬
schiedenen Seiten erhoben würden, habe es keine große Eile, da die
gegenwärtigen Einrichtungen sür den Augenblick allen wirklich vor¬
handenen Bedürfnissen genügten und die gegebenen Formen erst von
einem lebensfrischen Hauche durchdrungen sein müßten, ehe man an
eine weitere Fortbildung denken dürfe; nur scheine mir eine größere
Oeffentlichkeit, wenn auch nicht durch Zulassung von Zuhörern, was
weniger wesentlich sei, doch durch möglichst treuen und vollständigen
Abdruck der Verhandlungen wünschenswert!), "da ich ohne diese eine
wahre Theilnahme des Volkes an dem Ständewesen mir nicht zu
denken vermöge. Hier unterbrach mich Herr Graf von Arnim, indem
er mir sagte: „Das ist Alles recht gut, und was den letzten Punkt
betrifft, so kann ich Ihnen sagen, daß wir Ihrem Wunsche zuvor¬
gekommen sind; den Rheinischen Ständen ist die Oeffentlichkeit, wie
Sie dieselbe meinen, bereits bewilligt: die Verfügung wird, wenn
Sie nach dem Rheine zurückkehren, Ihnen vorausgegangen sein." Ich
war angenehm überrascht und zugleich, wie ich nicht leugnen darf,
durch das Vertrauen, das mir von einem so hochgestellten Staats¬
manne bei der ersten Begegnung bewiesen wurde, geschmeichelt. Ich
fuhr mit freierem Muthe in meiner begonnenen Auseinandersetzung
fort und sprach mich in wenigen Worten für die kräftigste Belebung
eines freien Städtewesens aus; für Annäherung in den Formen der
Rechtspflege an die rheinischen, da die Herstellung einer Ueberein¬
stimmung für die Einheit des Staates nothwendig sei, während die
Rheinländer auf den Kern ihrer Einrichtungen aus freiem Willen
niemals verzichten würden; für möglichste Befreiung der Presse von
allen Beschränkungen, die doch nur ihren Zweck verfehlten, wenn ich
gleich mir selbst nicht verhehlte, daß für den Augenblick eine völlige
Aufhebung der Censur noch nicht möglich sei. Der Graf von Arnim
hörte mich ruhig aus, indem er mir mit seinem klaren blauen Auge
unverwandt in das Gesicht sah, und fragte mich nur bei der Er¬
wähnung der Censur, was denn meiner Meinung nach an deren
Stelle gesetzt werden solle? Ich antwortete, daß die Zwecke, die der
Staat bei der Handhabung der Censur im Auge habe, zum größeren
Theile bereits erreicht würden, wenn der Verfasser jedes in einer
Zeitschrift erscheinenden Aufsatzes nur gehalten wäre, seinen Namen
zu unterzeichnen; auch habe der Staat ohne Zweifel das Recht, die
Herausgeber und Mitarbeiter der Journale einem Eramen zu un¬
terwerfen, wie dasselbe ja nicht allein von Privatlehrern, Advocaten
und Aerzten, sondern selbst von den Apothekern gefordert werde, die
zu dem Staate doch keinesweges in so unmittelbarer Beziehung stän¬
den, wie die Zeitungsschreiber. Die Nennung der Namen würde die
Verbreitung lügenhafter Berichte und Entstellungen wirksamer hem¬
men, als jede Censur; und das Eramen würde die große Masse
kenntnißloser Schwätzer zurückhalten, die gerade am meisten geneigt
wären, ihre Unwissenheit und Gedankenarmuth hinter aufregenden
Uebertreibungen zu verbergen. „Solche Maßregeln," versetzte Herr
von Arnim, „möchten freilich die Censur entbehrlich machen; aber
das Geschrei darüber würde ärger werden, als über die strengste
Censur." Ich hielt es nicht für angemessen, den ganzen Vorrath
meiner Gründe auszupacken, und fügte daher zum Schlüsse der be¬
gonnenen vratio pro domo nur hinzu: daß ich durch meine Mitwir¬
kung an der Kölnischen Zeitung meine Uebereinstimmung mit allen
wesentlicheren Grundsätzen der Negierung bethätigt zu haben glaube;
nur sei ein Umstand vorhanden, der mich bedenklich mache, und die¬
ser sei die Begünstigung, welche der allgemeinen Behauptung nach
der sogenannte Pietismus in Berlin erfahre; ich für meine Person
sei nichts weniger als irreligiös, aber zur Kopfhängerei fühle ich
mich auf keine Weise hingezogen. Der Herr Minister des Innern
beruhigte mich, indem er mir sagte, daß es damit nicht so arg sei,
und fragte mich nach einer Pause, in welcher Weise ich, sofern wir
uns verständigten, für die Regierung thätig zu sein wünschen würde;
ob ich es vorzöge, durch besondere Abhandlungen und Flugschriften
zu wirken, oder ob ich mich entschließen könne, an der Leitung der
Staatszeitung Theil zu nehmen. Ich entgegnete, daß ich die Wirk¬
samkeit in einem täglich erscheinenden Blatte für ungleich bedeutender
halte, als die mehr abgerissene in Flugschriften, die selten eine große
Verbreitung erlangten; daß aber auf der andern Seite die preußische
Staatszeitung als ein amtliches Blatt der freien Besprechung nur
einen sehr beschränkten Spielraum gewähren könne. Herr von Arnim
versetzte: „Das hat auch das Gouvernement längst erkannt, und es
ist deshalb im Werke, die Staatszeitung völlig umzugestalten und sie
in ein Blatt zu verwandeln, das von allem directen Einflüsse der
Negierung frei sein und nur im Allgemeinen ihr System und ihre
Prinzipien vertreten soll." — „In diesem Falle," erwiederte ich, „würde
ich allerdings gern meine Dienste für die neue Zeitung anbieten." —
„Nun, das ist mir lieb," bemerkte der Herr Minister; „ich hoffe, daß
sich Alles gut machen wird." Herr Graf von Arnim sagte mir
darauf, daß er allein einen entscheidenden Beschluß nicht fassen könne,
sondern erst mit seinen Kollegen Rücksprache nehmen müsse, mich
jedoch in den nächsten Tagen wiedersehen und dann mir definitiven
Bescheid ertheilen werde. Ehe ich mich empfahl, fragte Herr von
Arnim mich noch, welche äußere Ansprüche ich bei der Uebernahme
der mir zugedachten Stellung machen würde. Ich erwiederte, daß
ich sehr mäßige Bedürfnisse habe, und nur die Mittel erwarte, diese
auf anständige Weise zu befriedigen. Ich nannte die Summe von
1200 Thlr., die ich als Jahrgehalt anspräche, und verschwieg nicht,
daß mein bisheriges Einkommen in Cöln, obwohl aus verschiedenen
Quellen fließend, ein gleiches gewesen sei.
Des Donnerstages, am 2. Juni, in einer späten Abendstunde,
wurde ich wieder zu seiner Ercellenz dem Herrn Minister des Innern
beschieden. Graf Arnim kam mir mit der Aeußerung entgegen, daß
Alles arrangirt sei. „Ihr Gehalt ist bewilligt, und wir wünschen
jetzt nur, daß Sie sobald als möglich einen Anfang machen. Sie
sollen durch das Mechanische nicht belästigt werden, und werden da¬
für Gehülfen erhalten, damit Sie sich um so ungestörter und freier
bewegen können." Im Verlaufe der Unterhaltung, der eine Tasse
Thee leichtere Bewegung lieh, äußerte der Herr Minister, daß die
Umgestaltung der preußischen Staatszeitung jedenfalls mit dem ersten
Juli in das Leben treten müsse; es würde daher gut sein, wenn ich
bereits in den nächsten Tagen meine Thätigkeit begönne. Ich ver¬
sprach zu thun, was irgend möglich sei, verhehlte jedoch die Schwie¬
rigkeiten nicht, die meinem Eintreten in die neue Wirksamkeit für
hin Augenblick entgegenstände, da ich nothwendig vorher nach Cöln
zurückreisen müsse, um meine persönlichen Angelegenheiten zu ordnen.
Das Aeußerste, was ich zusagen könne, sei, um die Mitte des Mo-
nates wieder in Berlin zu sein. Damit war der Herr Minister denn
auch zufrieden, und Se. Excellenz waren so freundlich, mich darauf
aufmerksam zu machen, daß ich auch dem Herrn Staats- und Ca-
binetsminister Generallieutenant von Thile mich vorzustellen habe, der
den Wunsch ausgesprochen, mich kennen zu lernen. „Thile," bemerkte
Herr Graf von Arnim mir beiläufig, „hat über das Pecuniaire eine
entscheidende Stimme." Nach einigen sehr wohlwollenden Aeußerun¬
gen, deren Wiederholung hier nicht am Orte sein würde, entließ
mich Herr von Arnim und <ab mir die freundlichsten Wünsche auf
den Weg. Ich benutzte den letzten Tag meines achttägigen Aufent¬
haltes in Berlin, um dem Cabinetsminister von Thile und dem Mi¬
nister des Auswärtigen, Herrn von Bülow, meine Aufwartung zu
machen, bei denen ich mich deö schmeichelhafteste» Empfanges zu er¬
freuen hatte, mußte aber bedauern, bei Sr. Ercellenz dem Herrn
Minister deö Cultus Eichhorn nicht vorgelassen zu werden, indem
ich beschieden wurde, daß es dazu eines schriftlichen Gesundes um
eine Audienz bedürfe, dessen Erfolg ich bei der Beschränkcheit meiner
Zeit unmöglich abwarten konnte.
Am Morgen des 4. Juni trat ich meine Rückreise nach Cöln
an, und am Abende deö 14. war ich wieder in Berlin. „Es ist
gut, daß Sie da sind," sagte mir Herr von Arnim, als ich mich
bei ihm meldete. „Alles ist vorbereitet, daß Sie mit dem ersten
Juli eintreten; es wird aber nicht schaden, wenn Sie vorher einige
Artikel in die Staatszeitung schreiben." Ich sprach die Absicht aus,
zuvörderst den Uebergang von meiner Thätigkeit in der Kölnischen
Zeiiung zu jener in einem Regierungsblatte durch einige vermittelnde
Aufsätze einzuleiten und demnächst, sobald das neue Blatt erschiene,
das dnrch die Auslassung des „Staates" aus dem alten Titel der
allgemeinen preußischen „StaatSz?itung" seinen Verzicht ans jede amt¬
liche Geltung andeuten sollte, in diesem den Beweis zu führen, daß
die ausschließlich sogenannten constitutionellen Verfassungsformen in
ihrem todten Mechanismus der innersten Natur des deutschen Volks¬
geistes zuwider wären, und daß dagegen der einzig richtige Weg
einer wahrhaft volksmäßigen Entwicklung der zwar langsam fortschrei¬
tende, aber organische sei, den Se. Majestät der König seit seinem
Regierungsantritte eingeschlagen. Graf Arnim versprach mir, daß
alle Materialien, deren ich bedürfen würde, mir zur Verfügung ge¬
stellt und daß außerdem mir die Mittel gegeben werden sollten, durch
persönliche Besprechung mit den Rathen der verschiedenen Ministeriell
in allen zweifelhaften Fällen den erforderlichen näheren Aufschluß zu
erlangen. Zum Schlüsse eröffnete mir der Herr Minister, daß seine
überhäuften Geschäfte ihm nicht erlauben würden, fortwährend per¬
sönlichen Antheil an den Details der Zeitung zu nehmen, und daß
ich mich deshalb nur an den geheimen Rath Bitter halten möge,
der sein volles Vertrauen habe und zum Curator des neuen Insti¬
tutes ernannt sei.
Ich ging wohlgemut!) an meine Aufgabe; denn ich hatte alle
Ursache, meinen allerdings kühnen, in der Eile etwas husarenmäßig
entworfenen Plan für genehmigt zu halten; auch ahnte ich nicht,
daß mir nicht allein die Unterstützung, die mir so entgegenkommend
verheißen war, versagt bleiben, sondern gerade von jener Seite, von
der ich diese Unterstützung mit Zuversicht erwartete, unüberwindliche,
weil materielle, Hindernisse in den Weg gelegt werden sollten. Die
Enttäuschung begann, ehe ich mein Amt eigentlich noch angetreten
hatte. Eines Morgens, (am 24. Juni) als ich den Geheimenrath
Bitter besuchte, legte dieser mir einen Vertragsentwurf über meine
künftige Stellung vor, den er selbst als eine „Förmlichkeit ohne Be¬
deutung" bezeichnete, die nur für mögliche Fälle nöthig befunden
wäre, der aber in der That — ich kann mich nicht milder aus¬
drücken — eine wahre Falle war, in die ich nie hineingegangen
wäre, wenn mir noch ein Rückweg offen gestanden hätte. Aehnliche
Bedingungen würde der eigennützigste und engherzigste Buchhändler,
was ziemlich viel sagen will, nicht gewagt haben, einem Schrift¬
steller anzubieten, den er nicht ganz in seiner Hand wußte. Ich
war aber in der Hand meiner sehen Gönner im Ministerium des
Innern; denn ich war unvorsichtig genug gewesen, meine Annahme
des von dieser Seite an mich gerichteten Rufes öffentlich anzukündi¬
gen, und hatte überdies bereits die wichtigsten Verbindungen abge¬
brochen, die sich unmöglich wieder anknüpfen ließen. Von der Un¬
abhängigkeit, die ich nach meiner ersten mündlichen Verabredung mit
dem Minister des Innern ansprechen durfte, war keine Rede mehr;
es wurde mir die Verpflichtung aufgelegt, bei jeder Besprechung
wichtigerer Gegenstände eine höhere Genehmigung einzuholen, was
sich freilich, sobald es nur auf die Tendenz ankam, von selbst ver¬
stand, was aber, sobald es als eine vertragsmäßig übernommene
Verbindlichkeit auch auf die Form ausgedehnt wurde, mich mit einem
Male jeder Freiheit der geistigen Bewegung beraubte, die, wie ich
dies mehr als einmal ausgesprochen, die unerläßlichste Bedingung
jeder schriftstellerischen Wirksamkeit ist. Eben so ungünstig, wie in
Bezug auf meine publicistische Thätigkeit, war der Vertrag, der Spa,
ter eine Verhandlung genannt wurde, in Bezug auf meine äußere
Stellung. Ich hatte mich in gutem Glauben hingegeben, weil ich
vorausetzte, daß ich meinem Könige und meinem Vaterlande gute
Dienste leisten könne. Es war mir nicht eingefallen, Bedingungen
zu stellen, weil ich mich entehrt gefühlt hätte, wenn ich markten
wollte, wo das Vaterland meiner bedürfte. Dies Vertrauen wurde
dadurch belohnt, daß meine Stellung zum voraus als eine tempo-
raire bezeichnet wurde, die von selbst aufhöre, sofern sie nicht vor
dem Verlaufe von drei Vierteljahren erneut werde. Ich übersah im
Augenblicke alle die Nachtheile, die aus einem solchen Vertrage für
mich hervorginge»; aber ich unterzeichnete, ohne ein Wort zu sagen,
in der freilich wohl etwas überspannten Voraussetzung, daß mein
Schweigen beredt genug sein würde. Auch will ich nicht leugnen,
daß ich Selbstgefühl genug besaß, um mir die Kraft zuzutrauen,
daß ich auch mit gebundenen Händen immer noch etwas zu leisten
vermöchte, was meiner nicht unwürdig und für die Sache, deren
Dienste ich mich von früher Jugend auf gewidmet habe, von Nutzen
wäre. Daß man mich nur deshalb nach Berlin gerufen habe, um
mir mit möglichst geringem Kostenaufwande jede Thätigkeit abzu¬
schneiden und dann mich im Stiche zu lassen, das konnte ich un¬
möglich voraussetzen. Zu meiner Rechtfertigung, wenn mein Selbst¬
vertrauen als ein übertriebenes erscheinen sollte, darf ich mich darauf
berufen, daß der Irrthum, in den ich fiel, von Männern getheilt
wurde, die in der Lage waren, mit einer Unbefangenheit zu urthei¬
len, welche gewöhnlich mehr oder weniger getrübt wird, sobald es
sich um Angelegenheiten des persönlichen Interesses handelt. ...
Schorf einige Tage vorher hatte ich dem Geheimenrathe Bitter
einen Aufsatz überreicht, mit dem ich meine Thätigkeit in der „preu-
ßischen Zeitung" zu eröffnen gedachte. Nur um nicht in eine Erör¬
terung einzugehen, die mir hier nicht am Platze scheint, entsage ich
der Genugthuung, die es mir gewährt haben würde, den Aufsatz
gegenwärtig in seiner ursprünglichen Gestalt abdrucken zu lassen, da
ich ihn in der Form, welche er durch den Geheimenrath Bitter zum
Behufe des Abdruckes in der „preußischen Zeitung" erhielt, auf keine
Weise als mein Eigenthum anerkennen kann. Der Grundgedanke
war nicht neu; denn ich hatte denselben vor dreizehn Jahren bereits
in einer öffentlichen Vorlesung und noch früher in einer geschichtlichen
Abhandlung der Zeitschrift „Britainiia" ausgesprochen. Die Ausfüh¬
rung konnte schon deshalb nicht anders als sehr mangelhaft sein,
weil sie durch das Hinelnflickm fremdartiger Bestandtheile entstellt
war. Außerdem war es unmöglich, in einem einzelnen Zeitungsauf¬
satze, der nach meinem Plane nur die Einleitung zu einer ganzen
Reihe folgender bilden sollte, für jede darin aufgestellte Behauptung
den Beweis zu liefern. Stoff zu Entgegnungen, Erörterungen und
zu gerechten Ausstellungen war daher in hinreichendem Maße gebo¬
ten; und ich war daraufgefaßt, manchen harten Strauß zu bestehen,
dem ich mich keineswegs entziehen wollte, wie leicht es mir auch
geworden wäre, mich von dem Wechselbälge loszusagen, den man
mir statt meines wohlgeschaffenen Kindes untergeschoben. Die Haupt¬
sache war nicht die Form, die ich freilich Preis geben mußte, son¬
dern die Ansicht; und diese, die das Ergebniß vieljähriger gründlicher
Studien und eines ganzen bewegten Lebens war, gegen ein Heer
gelehrter und ungelehrter Thebaner zu vertheidigen, fühlte ich mich
Mannes genug. Aber so gut sollte es mir nicht werden. Die An¬
griffe, die ich erwartete, blieben nicht aus; es war jedoch kein all¬
gemeiner Krieg der Zeitungen und der Journale, der gegen mich
erklärt wurde, sondern es war das Nasen einer toll gewordenen
Meute. Nur zwei Blätter unter den hundert, die wie auf ein ge¬
gebenes Zeichen über den ersten Aufsatz der ersten Nummer der all¬
gemeinen preußischen Zeitung herfielen, ließen sich auf irgend etwas
ein, das einer Erörterung von Gründen ähnlich sah: die Trierer
Zeitung, das einzige consequente Organ des deutschen Radikalismus,
das die Bedeutung meines Programmes richtig crkanizte, dasselbe
mit gewandter Dialektik zu widerlegen versuchte, zugleich aber er-
klärte, daß mit demselben, wenn auf dem eingeschlagenen Wege fort¬
gefahren werde, eine neue Aera der deutschen Presse beginnen müsse;
und die Elbinger Zeitung, ein wenig verbreitetes und sonst kaum
genanntes Blatt, in dem ein Herr von S. mit arger Befangenheit,
aber unverkennbar redlichem Willen seinen langen verhaltenen Un¬
willen gegen die Partei des Rückschrittes ausschüttete, die jetzt dar¬
auf ausgehe, die Meinung durch ein Gewebe nicht einmal geschickt
zusammengefügter Trugschlüsse zu berücken und zu verwirren. Alle
übrige Blätter begnügten sich entweder, statt jeder Widerlegung, al¬
berne Lügen in Umlauf zu setzen, wie die hundertmal wiederholte,
daß ich meine Gesinnungen für irgend eine bald hoher, bald niedri¬
ger angegebene Summe Geldes verkauft habe.... Ich hoffe, daß
man mich keiner allzu sträflichen Anmaßung zeihen wird, wenn ich
bekenne, daß ich gewiß war, mit solchen Gegnern ohne übergroße
Anstrengung fertig zu werden. Eine blos referirende Zeitungsschau
mit wenigen erläuternden Bemerkungen würde ihre Wukung schwer¬
lich verfehlt haben. Aber es war mir nicht gestattet, ein Erempel
zu statuiren. Herr von Armin äußerte mir bereits am 29. Juni,
ehe noch die erste Nummer der allgemeinen preußischen Zeitung aus¬
gegeben war, den Wunsch, daß ich meine Thätigkeit nicht übereilen,
sondern vorerst mich darauf beschränken möge, „das Terrain genauer
kennen zu lernen," da ein paar vorausgeschickte kleine Aufsätze in
der preußischen Staatszeitung zwar zum Theil gefallen, zum Theil
aber doch — durch die darin ausgesprochene Billigung des Petitions¬
wesens — Bedenken erregt hätten. Herr Geheimerath Bitter, an
den ich zunächst gewiesen war, hatte eine Reise nach Posen gemacht
und bemerkte mir nach seiner Rückkehr ganz naiv, daß es der Stel¬
lung der preußischen Zeitung nicht angemessen sei, sich in eine Jour¬
nalpolemik einzulassen.
Es liegt außer meinem Plane, die Geschichte der allgemeinen
preußischen Zeitung und meiner von Anfang gelähmten, keinen Au¬
genblick freien und bald völlig auf nichts zurückgebrachten Thätigkeit
für dieselbe in allen ihren Einzelheiten zu erzählen; es würde dadurch
für jetzt nach keiner Seite das Geringste genützt und höchstens eine
am Scandal sich erfreuende Neugierde befriedigt werden. Für mei¬
nen gegenwärtigen Zweck genügt es, wenn ich sage, daß selbst die
doch wahrlich nichts weniger als vortheilhaften Bedingungen, die
mir sehr ungroßmüthig aufgenöthigt waren, nicht gehalten wurden,
und daß ich während der ganzen Dauer meiner geschäftigen —
Nichtbeschäftigung bet der allgemeinen preußischen Zeitung es mit
einem Gemische der niedrigsten und erbärmlichsten Leidenschaften zu
thun hatte, denen ich, gegen hinterrücks geführte Streiche nicht ge-
waffnet, nothwendig erliegen mußte."
Wenn jetzt ein Fremder an einem schönen Nachmittage nach
Weimar kommt, so findet er die Straßen unserer Residenz noch stil¬
ler und ruhiger als gewöhnlich; wendet er den Fuß einige Hundert
Schritte außer dem Weichbild der Stadt, so meint er nicht blos, daß
ganz Weimar, nein, er kommt auf die Idee, daß ganz Thüringen
auf der Wanderschaft sich befinde. Das Vogelschießen hat begonnen,
und der große Platz vor dem Schieschause, wie die Allee
„Faßt nicht die Zahl der Gäste,
Die wallend strömen zu dem Wunderfeste."
Es ist etwas Eigenthümliches um diese Volksfeste. Wie gerne
stürzt man sich in dieses summende Gewühl und laßt sich fortreißen
von dem bunten Treiben der Menge. Hier geht die hübsche Thürin¬
gerin in ihrer sonderbaren Landestracht, mit der riesigen Federnmütze,
ähnlich dem Kopfschmucke der peruanischen Häuptlinge, und dem brei¬
ten wallenden Bandschleier, verfolgt vom schlanken Offizier, der das
Herz unter dem hochwattirten Busen für die ländliche Schöne schnel¬
ler schlagen fühlt; der Staatsmann und der schlichte Bürger sitzen in
friedlicher Eintracht neben einander in einer der vielen Wurst- und
Punschbuden, lassen die drängende Menge vorüber passiren, oder er¬
götzen sich an den Seiltänzerkünsten, die eine wandernde Bande auf
freiem Felde zum Besten gibt. Ein Rabenvater laßt sein neunjähri¬
ges Kind, ein hübsches blondes Mädchen, auf einem thurmhock) gezo¬
genen Seile auf- und abwandeln. Es erregte in mir ein unbeschreib¬
liches Grauen, als ich das arme liebliche Wesen von der schwindeln¬
den Höhe herab dem gaffenden Volke Küsse zuwerfen sah. Wie viel
Prügel und Mißhandlungen von der Hand des rohen Vaters mag die
Bedauernswerthe erduldet haben, ehe sie zu dieser Kunsthöhe gemartert
wurde? Welcher Zukunft reift die Unglückliche entgegen? Wie kann
eine vernünftige Behörde die öffentliche Zurschaustellung einer solchen
Barbarei dulden? In Frankreich wurde vor Kurzem ein Vater vor
den Assisen freigesprochen, der einen Mann todt geschlagen, welcher
ihm sein Kind geraubt und zu diesem Handwerk abgerichtet!
Wenden wir unsere Blicke auf die andere Seite, hier stehen eine
Unzahl Buden mit Sehenswürdigkeiten: eine Menagerie, in der wir
einen Elephanten sehen können, welcher von einer Kuh geboren wurde.
Der Eigenthümer versichert in der Ankündigung auf seine Ehre, daß
hier „keine Täuschung" obwalte. Nebenan ist eine bildliche Darstel¬
lung der neuesten Weltereignisse zu sehen: Die Ausstellung des hei¬
ligen Rockes zu Trier 1844, sammt den dadurch erfolgten wunderba¬
ren Heilungen; Johannes Ronge, „der edle Streiter für Gott und
Wahrheit" 1845; das Innere einer Jnquisitionssitzung, die neuesten
Begebenheiten in Leipzig u. s. w. Gleich neben an zeigt ein sehr
hübsches Madchen die Kunst der Wahrsagung, indem sie Jedem aus
der Hand erklärt, wie alt er sei, ob ledig oder verheirathet u. s. w.
Die feurigen Blicke der Schönen lassen Euch vermuthen, daß sie Euch
noch manch' interessantes Geheimniß unter vier Augen anzuvertrauen
habe, ein verstohlener Händedruck, mit dem Ihr entlassen werdet, gibt
dieser Vermuthung noch mehr Wahrscheinlichkeit. In den vielen im-
provisirten Gast- und Kaffeehäusern lassen eine Unzahl Harfenmädchen
ihre meistens nicht sehr lieblichen Stimmen ertönen, in den nächsten
Buden wird gegen einen Einsatz von 18 Pfennigen Lotto gespielt;
in früheren Jahren war auch im Schießhause, im sogenannten gelben
Zimmer, der Teufel des Hazardspieles losgelassen; Heuer wurde den
Bankhaltern, Dank der Regierung, ihr Treiben verboten.
In dem Gewächshause des eine halbe Stunde von der Stadt
liegenden Lustschlosses Belvedere blüht jetzt eine prachtvolle Aloe und
in den Parkanlagen kann man den gewaltigen schaftenblättrigen Strcit-
kolbenbaum (l^.^uirrinir v<>in8nit'»Ili>, l^in.) bewundern, der im Jahre
I8W als zwei Fuß hohe Samenpflanzc von den Südseeinseln hierher
gebracht wurde und seitdem sich prachtvoll und stark entwickelte. Im
Lustschlosse selbst ist noch das Werk einer Laune Herzog Ernst's (1740)
sichtbar, ein „Tischlein deck dich," welches, durch eine einfache Maschi¬
nerie geleitet, in die Tiefe sank, um die zärtlichen Rendezvous des
verliebten Fürsten vor jedweder Aufpasserei und unwillkommener Unter¬
brechung der Dienerschaft zu sichern, ohne daß er deshalb den Tafel¬
freuden zu entsagen brauchte, indem der Druck einer Feder den in
den untern Räumen bereit stehenden Domestiken die Befehle zuführte,
welche diese natürlich immer rasch in's Leben treten ließen. — Ueber¬
haupt mahnt uns jeder Schritt hier an Weimars klassische Zeit und an
die „Asche ausgebrannter Sterne." Eines der ehrwürdigsten Erinne¬
rungszeichen an diese glänzende Periode ist der noch lebende Schau-
Spieler Graff, für welchen Schiller seine Helden, z, V. seinen Wollen¬
stein, den ältern Chorführer u. f. w., schrieb. Der würdige alte
Mann, den ich nie ohne Pietät betrachten kann, war an der hiesigen
Hofbühne vom Jahre 1792 bis 1842, also ein volles halbes Jahr¬
hundert wirksam, und es ist rührend anzusehen, mit welcher Aufmerk¬
samkeit der noch immer sehr rührige Greis jeden Abend im Schauspiel¬
hause den Darstellungen seiner ehemaligen College» folgt.
Dieser alte Herr ist eine lebendige Chronik jener Zeit, und wenn
irgend ein Schauspieler mit der Herausgabe seiner Memoiren der
Lesewelt einen Dienst erweisen könnte, so wäre es Graff, der seine
Erinnerungen und Erlebnisse jedoch leider nicht aufgezeichnet hat und
dem jetzt nur dann und wann in warmer Stimmung Einzelnes zu
entlocken ist. Während Göthe's Leitung der hiesigen Hofbühnc war
der Besuch der Proben Jedermann auf'6 Strengste untersagt. Einst
hörte er über seiner Loge leise kichern und schwatzen. Er donnert dem
Theaterdiener zu, die „fremde Menschheit" zu entfernen, die sich im
Hause befinde. „Eure Excellenz entschuldigen," antwortete dieser de¬
müthig, „es sind die Hofdamen Gräfinnen Heikl und Beust, die kann
ich doch nicht hinaus schaffen. — „Zweimal hinaus mit ihnen!"
herrscht ihm der zornige Göthe zu, dessen Befehl auch sofort vollzogen
wird. Wer sollte glauben, daß dieses unbedeutende Ereigniß Schuld
an Göthe's Entfernung von der Bühne war? Die erbitterten Damen
suchten nämlich aus Rache den Großherzog zu bestimmen, auf der
Aufführung der famösen Hundekomödie zu bestehen, welche den be¬
kannten Rücktritt Göthe's zur Folge hatte.
Bei dem Leichenbegängnis) des Dichterfürsten war begreiflich ganz
Weimar und die Umgebung in Bewegung. Ein schlichter Bürger,
der Weinhändler Krüger, kam auch von Eisenach herüber, und rief
verwundert aus: „Ich begreife nicht, wie der Tod eines einzelnen
Menschen ein ganzes Land in Allarm bringen kann. Weimar hat
doch noch gescheidte Menschen genug, warum kann sich denn nicht ein
Anderer auf Göthe's Fach werfen?"
'
In Göthes ehemaligem Wohnhause sind sowohl die Studir-
wie auch das Sterbezimmer unverändert gelassen worden, wie sie wäh¬
rend den letzten Augenblicken desselben waren. Leider bleiben diese
Heiligthümer durch einen nicht zu billigenden Starrsinn der Angehö¬
rigen des großen Mannes für Jedermann ohne Ausnahme unzugäng¬
lich und verschlossen, dessen Gartenhaus hingegen ist an einen Offizier
für den jährlichen Miethpreis von 48 Thalern verpachtet, wobei der
Inwohner noch zwanzig und einige Thaler für das im Garten wach¬
sende Gras erhält.
'
Schillers Haus jedoch wird von Fremden bewohnt und soll so
baufällig sein, daß man bei Besteigung des Bodens eine unfreiwillige
Fahrt in den Keller zu riskiren hat.
Eine liebe Hoffnung, nämlich die auf Erlangung eines Schiller'-
schen Autograph ist mir leider zu Wasser geworden. So häufig man
hier noch Handschriften von Göthe und Herder findet, so selten sind
Schiller und Wieland geworden. Ein vier Seiten langer eigenhän¬
diger Brief Schiller's wäre noch zu haben, jedoch der Besitzer verlangt
dafür 15 Louisdors und — so hangen die Trauben zu hoch.
Seit einigen Wochen wohnt hier Fürst Pückler-Muskau, der
dem Vernehmen nach seinen bleibenden Aufenthalt in Weimar zu
nehmen gedenkt. — Gestern ist Raupach in seiner ganzen Unliebens-
würdigkeit hier angekommen. Er gedenkt sich und Andere acht Tage
hier zu langcweilen. — Der seit fünf Monaten in Jena lebende
Wiener Schriftsteller Dr. Franz Schuftlka hat seinen Paß von der
österreichischen Polizei nicht erneuert und somit die Weisung bekom¬
men zurückzukehren, da er durch seine beiden letzten Schriften („Die
Jesuiten in Deutschland und Oesterreich" und „Mittelmeer" u. s. w.)
die österreichischen Censurgesetze übertreten und die geistliche Partei sich
auf den Hals gehetzt hat. Schuselka war gestern hier, um beim
Minister des Auswärtigen den Aufschub seiner Ausweisung nur auf
so lange zu bewirken, bis er das Resultat der von ihm beim Polizei¬
präsidium in Wien bereits gethanen Schritte erfahren wird. — Die¬
ser Aufschub wird ihm wahrscheinlich gewahrt werden.
Preußen ist um ein Gesetz reicher geworden — die Gemeindeord¬
nung für die Rheinprovinz, datirt aus Sanssouci vom 23. Juli, ist
uns aber erst am 3. September bekannt geworden. Wie viele Erwar¬
tungen sind getauscht, denn wir sind mit dieser neuen Gemeindeord-
nung um keinen Schritt weiter gekommen. Die Bürgermeister werden
von der Regierung eingesetzt und stehen in den meisten Gemeinden
unter dem Landrathe; sind also königliche Beamte, welche die Gemeinde
besoldet. Bei Städten-, die mehr als IVMl) Bewohner haben, be¬
hält sich der König die Ernennung des Bürgermeisters auf Vorschlag
der Regierung vor. Die Beigeordneten hat die Regierung ebenfalls
zu ernennen, wie denn überhaupt das ganze Gemeindewesen unter
der strengsten Vormundschaft der Regierung steht. Es hängt vom
Gemeinderath ab, ob er seine Verhandlungen veröffentlichen will, oder
nicht — wir sind also in dieser Beziehung auch nicht weiter, als
wir waren, und es fragen sich Viele, ob es bei dergestalter Sache
wohl der Mühe gelohnt, so viele Petitionen einzureichen, um eine
Neuerung, die uns nur Bestehendes in etwas umgemodelter Form
gebracht hat. — Was die Leute von dem Schutzzollsystem erwarten,
wenn vielleicht den Bitten und Gründen so vieler Provinzen des
Staates endlich Gehör wird, wenn die theoretischen Staatsökonomen
» ur San und Smith <K Eomp. vor der gesunden Praxis einer ver¬
nünftigen Empirik die Segel streichen müssen, dies könnte auch leicht
nur wieder etwas Halbes sein. Wie hier die größere Menge der
Kaufleute und Industriellen über diese Frage denkt, findet man am
klarsten ausgesprochen in dem am 28. August d. I. in einer Plenar¬
sitzung unsrer Handelskammer gehaltenen Vortrag von Gustav Me-
vissen, Director der Rheinischen Eisenbahn, welcher denselben als
Manuscript für seine Freunde hat drucken lassen. schlagend sind hier
die Gründe für eine weitere Ausdehnung des Schutzzollsystems ent¬
wickelt von theoretischem wie vom praktischen Gesichtspunkte. Wie
wir vernehmen, dürfen unsere Zeitungen dieses Vertrags mit keiner
Sylbe erwähnen, nicht einmal den Namen des Verfassers nennen.
Dies Verbot soll vom Oberpräsidium ausgegangen sein. Man erwar¬
tet auch für unsere Provinz geschärftere Eensurinstructionen — als
wenn dieselben nicht schon scharf genug wären! — Verwichenen Dien¬
stag haben sich hier einige Leute lächerlich gemacht, wie dies denn
überhaupt nichts Seltenes, da bei uns Viele an der Groß mann¬
sucht leiden und jede Gelegenheit vom Zaune greifen, um sich nur
bemerkbar, um ihre Namen genannt zu machen. Es hatten sich pa¬
triotisch gesinnte Bürger — mit diesem Ehrentitel nämlich hatten sie
sich in der Zeitung gebrüstet — versammelt, um eine Adresse an die
Königin von England zu besprechen, in der Absicht, derselben die
35W Thaler, welche sie bei ihrer Anwesenheit dem Dombau zukom¬
men ließ, aus freiwilligen Beiträgen gesammelt, zurückzuschicken, und
zwar, darüber waren die Patrioten noch nicht einig, entweder zum
Besten einer anglikanischen Kirche oder für die Nothleidenden Irlands.
Die Adresse war vorgelesen—als sich ein Polizeicommissar einfand und
den Patrioten andeutete, daß die Versammlung sofort aufzuheben,
indem dieselbe eine unerlaubte. Als der Secretär der Versammlung,
ein Herr Raveaur, dem Commissär die Frage stellte, wer ihm die Be-
fugniß zu diesem Verbot gegeben? drehte sich dieser um mit dem Worte:
„Gensdarmen" und sogleich traten einige Gensdarmen und Polizisten
in den Saal, bei welcher Erscheinung der Patriotismus über Hals
und Kopf die Thür suchte, indem ruchbar geworden, daß vor dem
Hause eine Abtheilung Soldaten stand, um nöthigenfalls die Polizei
zu unterstützen. Der ganze Vorfall ist lächerlich und erwähnen wir
desselben nur eben deswegen. Die Mehrzahl der Anwesenden war von
der Neugier gelockt. — Gestern Abend traf die Königin von England
auf ihrer Rückreise hier ein und zwar mit ihrer eigenen Dampfyacht.
Sie stieg in Deutz ab, und war auch eine Wenge Neugieriger aus
der Rheinbrücke und am Ufer versammelt, so hörte man doch nicht
einen Laut; es war als wenn die Todtenstille befohlen oder bezahlt
worden, denn Schreier gibt es sonst bei solchen Fällen immer die Hülle
und Fülle. Während selbst der gemeine Mann für unsere Königin
schwärmt, jeder mit der höchsten Verehrung von ihr spricht, sind die
drolligsten Anekdoten über die britische Majestät im Umlauf und würde
der Punch sich den reichsten Stoss zu den possirlichsten Zerrbildern
bei uns über ihren Aufenthalt am Rhein sammeln können. Es wun¬
dert uns, daß John Bull keine Zeichner an den Rhein geschickt hat,
da die englische Presse doch sonst doppelt und dreifach ihre Reporters
herübergesandt hatte. Man hat es sich etwas kosten lassen, und wür¬
den im Nothfalle auch hiesige Zeichner dem Punch ausgeholfen haben.
— Verschiedene Maler sind beauftragt, die Hauptmomente der Fest¬
lichkeiten, die einzelnen Gemächer und Partien der Schlösser Brühl
und Stolzenfels zu zeichnen und in Aquarell auszuführen, wie man
glaubt, für ein Album der Königin von England. — Bei jedem Be¬
suche unsrer Kunstausstellung findet man immer mehre Kunstwerke mit
dem dem Künstlern so süß klingenden Wörtlein: „angekauft" bezeich¬
net. Von Privatpersonen ist noch in keinem Jahre so viel gekauft
worden, ein Zeichen, daß der Kunstsinn hier immer lebendiger wird,
daß die Künstler überhaupt hier gute Geschäfte machen. Der hiesige
Kunstverein zählt auch über Mitglieder, -V 5 Thaler die Actie,
und kann daher auch immer für 8le0et Thaler ankaufen. Viele der
bessern nicht angekauften Bilder haben ihre Bestimmung nach der
Leipziger Kunstausstellung. Wir haben auch die, seit Mitte August
und bis zum 6. October dauernde, Kunstausstellung in Brüssel be¬
sucht, die glänzend zu nennen ist, da Medaillen und Orden in Aus¬
sicht stehen. Sie besitzt auch bei manchem Mittelgute viel des Aus¬
gezeichneten, wozu wir mit einer wahren Freude ein paar Arbeiten
deutscher Künstler zählen.
Die erste Kunde der Leipziger Augustvorfälle kam uns aus Bre¬
men zu. Merkwürdig genug, sind die beiden dortigen Zeitungen über
alle wichtigen Tagesbegebenheiten gewöhnlich um 24 Stunden früher
unterrichtet, als die hiesigen Journale, welche besonders die Weserzei¬
tung unablässig als willkommene Vorrathskammer für Originalcorre-
spondenznachrichten benutzen. Auch aus Hamburg hat dieses tüchtige
Journal vor allen deutschen Zeitungen wohl die regelmäßigsten und
mannichfaltigsten Mittheilungen. — Unsere eigene politische Presse geht
noch immer den altgewohnten Gang. Der Hamb. Correspondent küm¬
merte sich um keinerlei Angrisse und man muß, mag man nun seine
Richtungen theilen oder nicht, wenigstens die Beharrlichkeit loben, mit
der er ihnen treu bleibt. Leute, die ihn nicht (?) kennen, glauben am
Ende, er bringe nur Mittheilungen im conservativen Sinne. Keines¬
wegs. Runkel's Prinzip scheint (!) vielmehr, die verschiedensten Nuancen
der Auffassung eines Ereignisses in seinem Blatte wiederzuspiegeln.
Von Preußen und Hannover aus wird dasselbe häufig zu offiziellen
und berichtigenden Mittheilungen benutzt, welchen natürlich die Spal¬
ten mit Bereitwilligkeit überlassen werden. In Mecklenburg und Han¬
nover ist der Correspondent Landeszeitung; hier am Orte wird er in den
Hausern verhältnißmäßig nicht stark gelesen, da das Hauptintelligenz¬
blatt „Die Nachrichten" gleichfalls eine politische Uebersicht bringen. Ori-
ginalcorrespondenzen dürfen sie nicht geben, sind auch durchaus nicht
bekümmert deshalb, denn die Auflage betragt jetzt ohnedies nahe an
7,999 Exemplare. — Die „Börscnhalle" ist für den hiesigen, wie
auswärtigen Kaufmann von großem Interesse; es ist ein Blatt, wel¬
ches an einem soliden Stamme sitzt und wahrscheinlich in eine ferne
Zukunft hineinwachsen wird. Von der „Neuen Zeitung" glaubt man
das hier nicht, obwohl sie von unsern politischen Organen gewiß die
meiste Gesinnung hat, welche denn auch der Anerkennung nicht ent¬
behrt. In Mecklenburg und Holstein zahlt die „Neue Zeitung" eine
nicht geringe Leserzahl. Die ganze Auflage wird übrigens wenig mehr
als 6—799 Exemplare betragen. — Vor einiger Zeit war einmal von
der Gründung eines neuen politischen Journals hier die Rede. Das
Project zerschlug sich jedoch wieder, eh' es noch zur eigentlichen Reife
gekommen, wahrscheinlich war Concessionsverweigerung die Klippe, an
welcher es so schnell gescheitert ist. Nur für politische Blätter giebt
es hier Concessionen und Privilegien. Belletristische können nach Lust
und Belieben erscheinen; die, welche Hamburger Local-Angelegenheiten
zur Besprechung bringen wollen, zahlen für jedes Exemplar ihrer Aus¬
lage drei Pfennige oder den vierten Theil eines Schillings. Nur eines
dieser Blätter ist durch besondere Vergünstigung von dieser Verpflich¬
tung ausgenommen, nämlich die „Neuen Hamburger Blatter," welche
als directes Organ der patriotischen Gesellschaft zu betrachten sind.
Viele Mitglieder derselben sind zugleich Senatoren, Obcralte, sogar
Bürgermeister und Syndici — und so erklärt, nicht aber rechtfer¬
tigt sich jener Vorzug. — Da die Grenzboten erst vor Kurzem einen
Artikel über unsere Journalistik brachten, will ich, mag er auch mit
meinen eigenen Ansichten nicht völlig übereingestimmt haben, bereits
Bekanntes hier nicht wiederholen. Neu hinzugekommen ist seitdem
ein Organ der Vorstadt Se. Pauli. Der „ Bürgersreund " betitelt,
woran G. Werner, der mit einem eigenen Journal schlechte Förderung
fand, regen Antheil nimmt, und es vielleicht dem Zustande der Un¬
bedeutendheit zu entziehen vermag.
Nicht die ohnedies hinlänglich gesegneten Rheingegenden allein
sollen von königlichen Besuchen geehrt werden. Auch Hamburg, das
republikanische Hamburg, wo die gekrönten Häupter sonst gewöhnlich
nur im strengen Jncognito sich aufzuhalten pflegen, sieht jetzt maje¬
stätischen Gästen entgegen. Das dänische Königspaar wird, mit zahl¬
reichem Gefolge, in den nächsten Tagen hier erwartet. Es ist das
zweite Mal, daß der jetzige Souverain von Dänemark Hamburg mit
seiner Anwesenheit beglückt. (Bekannter Zeitungsstyl.) Unsere Thea-
terdirectoren und unsere Kuchenbäcker freuen sich besonders lebhaft auf
seine Ankunft. Erstere, weil sie das Haus bei seinem Besuche sehr
gefüllt, Letztere, weil sie es muthmaßlich sehr geleert sehen werden.
Es ist nämlich bekannte Thatsache, daß Se. Majestät von Dänemark
ein leidenschaftlicher — Kuchenliebhaber sind.
Unser königlicher Gast ist wieder fort. Ihm mögen wohl die
allerhöchsten Ohren etwas geschmerzt haben bei dem unablässigen Hur¬
rahgeschrei, welches ihn hier maltraitirte, wo er sich zeigen mochte.
Daß die Hamburger dem Könige von Dänemark erkenntlich sind, ist
ganz in der Ordnung. Er war, als ihr unmittelbarer Nachbar, auch
der erste von allen Fürsten, welcher ihnen eine selbst für einen Herr¬
scherbeutel namhafte Spende von 5>0,00l) Thaler übersandte. Begleitet
war dieselbe von einem Schreiben, worin sich der theilnehmende Pri¬
vatmann mehr als der König kundgab und worin der letztere die sehr
richtige Bemerkung machte, „daß er den Wohlstand und das Glück
der Nachbarstadt und deren Bewohner als eng und unzertrennlich ver¬
bunden mit denen seiner eigenen Staaten betrachte." — Also, die
Hamburger sind dem König von Dänemark wahrhaft verpflichtet, aber
zwischen einem herzlichen Empfang, wie er ihm gebührte, und einem
halbnarrischcn Paroxismus der Begier, ihn zu sehen, ihn mit Hur¬
rahgeschrei zu betäuben, die Hüte und Mützen zu schwenken, ist doch
wohl ein Unterschied zu machen. Die interessantesten Momente der
Gegenwart des Königs waren zunächst der Empfang am Altonaer
Thore, von wo die Equipage durch die mit dichtgedrängten Auschauer-
massen angefüllten Straßen zum festlich erleuchteten Stadttheater fuhr,
dann der Eintritt in die reich dccorirte Loge, worauf sich Alles in
den Rangen erhob und ein dreimaliges Lebehoch ausgebracht wurde;
endlich die Zurückfahrt nach Altona durch glänzend illuminirte Stra-
Ken^ wo es bis tief in die Nacht hinein lebendig blieb. — Am nach-
sten Abend brachte die skandinavische Gesellschaft dem Könige einen
Fackelzug mit Musik, als er bei seinem Ministerresidentcn auf der
Esplanade verweilte. Der Monarch sprach vor der Thür des Hauses
den Landsleuten auf Dänisch einige recht passende, hübsch gesetzte
Worte zu. Den 150—2l)v Dänen und Schweden hatten sich die
Hamburger wiederum on in.'lsso angeschlossen und der Enthusiasmus
für den fremden Herrscher brannte noch immer lichterloh. Doch hat
dergleichen im romantischen Halbdüstcr der Nacht immer einen liebens¬
würdigem Anstrich als bei voller Tageshelle. — In Altona, wo na¬
türlich die Illumination und der Straßenlärm auch nicht fehlte, soll
der erste Empfang nicht eben exaltirt stürmisch gewesen sein. Der
König erschien hier nicht als Wohlthäter und Gast, sondern als Stadt¬
oberhaupt und bei aller Wärme der ihm dargebrachten Huldigungen
mochte wohl auch ein dunkles politisches Gefühl in Manchem erwacht
sein und die Verweigerung der Eisenbahn nach Lauenburg, namentlich
aber das Fahnenvcrbot — bei der Illumination am 10. Septbr.
sollen die Schleswig-holsteinischen Farben irgendwo im Transparent er¬
schienen sein — hat in den Becher der Freude leicht auch einige Wer-
muthstropfen mischen können. — Fama erzählt auch, daß ein paar
Kieler Studenten bei der Vorstellung von „Stadt und Land" im Al-
tonaer Stadttheater, welcher der König beiwohnte, dem allgemeinen
Hurrahruf einige Mißlaute einverleibt haben, worauf jedoch ein un¬
mittelbares, nicht allzu sanftes Hinauswerfen erfolgt sei. Ich erzähle
dies, wie es mir berichtet worden, ohne jedoch die ehrenwerthe Uni¬
versität Kiel und ihre Burschenschaft irgendwie verletzen zu wollen.
Die Art, sich einen Spaß zu machen, variirt tausendfach, wie
hinlänglich bekannt. Davon haben auch die trübseligen Leipziger Vor¬
falle uns wiederum den Beweis verschafft. Sie staunen? Sie können
nicht begreifen, wie etwas so blutig Ernstes auch mit dem Spaßhaf¬
ter verbunden sein könne? Und dennoch ist es so. — Die Ruhe war
seit geraumer -Zeit wieder bei Ihnen hergestellt, als sich plötzlich in
ganz Hamburg das Gerücht verbreitete, in Leipzigs Straßen wäre eine
wahre Blutüberschwemmung, Militär träfe von allen Seiten ein, ein
Kampf auf Tod und Leben sei zwischen den Bürgern und dem Mili¬
tär entbrannt u. s. w. Einigen Senatoren wurde diese Schreckens¬
nachricht von einem umherfahrenden Herrn mit äußerst aufgeregter
Miene und do»-» into mitgetheilt, Herr von Hostrup, Herausgeber
der „Börsenhalle," wurde von eben Demselben dringend aufgefordert,
die Schreckenspost ohne Verzug in seinem Abends erschienenen Blatte
mitzutheilen, weigerte sich aber entschieden, weil ja noch jede offizielle
oder briefliche Bestätigung fehle. Und diese blieb denn auch natürlich
aus. Schon am nächsten Tage zeigte es sich, daß der ganze blinde
Lärm durch ein einzelnes Individuum veranlaßt war, welches sich hier
unter mancherlei literarischen Titeln seit einigen Wochen aufhielt. Es
ist ein Herr Se., welcher vor Kurzem dem Jntendanturcath Röchy
in Braunschweig erzählte, er sei als Dramaturg und Ueberscher fran¬
zösischer Stücke an das Hamburger Stadttheater berufen. Ich weiß
nicht, ob das möglich ist oder nicht, aber im Directionsbureau hatte
jener Herr einen Brief aus Leipzig vorgelesen, den er von seinem
Vater erhalten haben wollte und dessen singirter Inhalt sich dann vom
Theatergebäude erstaunlich schnell durch Hamburg verbreitete. — Welche
Absichten jenen Mann bei seiner Lüge geleitet haben mögen, darüber
hörte ich Muthmaßungen seltsamer Art, die sich jedoch zur öffentlichen
Mittheilung nicht eignen. Die Sache selbst ist in hiesigen Journalen
mehrfach und natürlich nicht zur Ehre des aus Riga eingewanderten
Literators besprochen. Fran^vis Wille wollte gar einen politischen
Mouchard in demi Biedermann finden. So weit geht mein Verdacht
nicht.
Die Steiermark gilt in der Regel für ein stilles Ländchen, von
dem das Sprüchwort von den besten Frauen seine Richtigkeit habe,
denn nur dann und wann läßt sich eine Stimme aus unsern Bergen
vernehmen, die in ihrer patriotischen Schüchternheit wenig mehr als
von der Vortrefflichkeit des Franzensdenkmals, der neuen Kettenbrücke
und dem Reichthum des Johanneums zu erzählen weiß. Am Hitzig¬
sten ging es noch her, als man sich in einheimischen und auswärtigen
Blättern über die Sprachfrage: „Grätz oder Graz" mit großer Erbit¬
terung herumzankte und dabei wieder die alte Wahrheit sich heraus¬
stellte, daß der deutsche Gelehrte nicht anders in's Feuer zu bringen
sei, als durch die polemische Behandlung irgend eines philologischen
oder abstracten Gegenstandes. Auch ich könnte, wie die übrigen Zei¬
tungsbriefsteller der friedlichen Murstadt, mit einem ganz unverfäng¬
lichen Thema beginnen und die Pracht und Eleganz des durch die
Munificenz der steiermärkischen Landstände restaurirten Tempels der
Thalia mit breiten Worten schildern, die Decoration des Saales, die
Malerei des Plafonds und die Kunst des wackern Ottavio Cadescca
preisen, der sich in dieser geschmackvollen Verzierung der schöngebauten
Musenhalle ein Denkmal gesetzt hat, das mehr artistischen Werth hat,
als die in Idee und Ausführung mißlungene Franzensstatue von Mar-
chesi in Mailand. Allein ich will einmal eine Ausnahme machen vom
Handwerksspruch der hiesigen journalistischen Berichterstatter und dem
Leben etwas tiefer auf den Grund schauen, damit es sich zeige, ob
denn wirklich in unsern Thälern Milch und Honig fließe und die
Alpcnidylle durch keinen Schrei der Leidenschaft, durch keinen Mißton
der Oeffentlichkeit getrübt werde.
Da weist es sich denn bald, wie wenig auf uns das Sprüch¬
wort von dem in lieblicher Häuslichkeit glücklich und still waltenden
Weibe Anwendung findet. Jeder, der hier lebt, weiß zur Genüge,
wo der Schuh drückt. Nicht über Pauperismus haben wir zu kla¬
gen, denn die Bevölkerung des Bergländchens erfreut sich bei gerin¬
gem Wohlstande einer angestammten Genügsamkeit und eines gesicher¬
ten Auskommens, ja die wachsende Frequenz des Schienenweges, der
jetzt die Provinz in ihrer ganzen Lange durchschneidet, zieht manche
Erwerbsquelle in's Land und bringt tausendfachen Segen; die Ver¬
waltung ist milde und wo die gutsherrliche Gewalt auch mitunter
schroff und eisern eingreifen mag, da weiß die Humanität und der
bewährte Takt des aufgeklärten Staatsmannes, der an der Spitze der
Provinzialregierung steht, die Extreme zu vermitteln und das gestörte
Gleichgewicht wieder herzustellen.
Worüber wir uns in Wahrheit zu beklagen haben, das sind die
hierarchischen Uebergriffe, der mit jedem Tage wachsende Geist des
Ultramontanismus, der in unzeitigem Fanatismus überschlagende
Pflichteifer des Clerus, dessen Gebahren selbst die Autorität der
weltlichen Behörden zu übergipfeln droht. In einem Dorfe bei
Hartberg geriethen die Bauern in offene Gährung, weil der dortige
Pfarrer, mit der einfachen Beichte einer Braut nicht zufrieden, noch
ein zweites Beichtbekenntniß verlangte und die Braut bis neun Uhr
Abends im Beichtstuhl behielt. Die Einwohner stürmten die Kirche
und begingen allerlei Unfug in dem Gotteshause, so daß Militär ein¬
rücken mußte, um die gestörte Ordnung wieder herzustellen. Doch
nicht etwa blos einfältige Landgeistliche, welche oft nicht den Verstand
besitzen, um die Grenze zu erkennen, welche sie nicht, um größeres
Aergerniß zu vermeiden, überschreiten sollen, geben Beispiele solcher
Uebergriffe priesterlicher Macht, der Herr Bischof I»""", schon in
L"*, seinem frühern Sitze, sehr unpopulär, geht der niederen Geist¬
lichkeit durch sein eigenes Verhalten gewissermaßen voran. Ein Mann
wurde von ihm wegen Ehesachen in den Kirchenbann gethan und keine
Vermittelung der Behörden konnte den halsstarrigen Kirchenfürsten
zum Nachgeben bringen. Möchte man doch in Wien am geeigneten
Orte diese Angelegenheiten ja nicht zu gerinsügig betrachten, denn es
setzt sich hier in vielen Gemüthern ein tiefer Groll gegen die priester¬
liche Anmaßung fest, der leicht bittere Früchte tragen möchte! Schrei¬
ber dieser Zeilen ist ein Mann, der dem katholischen Glauben aus
voller «Seele ergeben ist, aber im Interesse unserer heiligen Religion
muß man eine Disciplin ihrer Diener wünschen, damit nicht die
Feinde unserer Kirche der gereizten Gemüther sich bemächtigen. Ener¬
gie ist es, was man dem hierarchischen Gebahren gegenüber entfalten
muß, soll dieses in seine Schranken zurückgewiesen werden. Wie wir
hören, soll der Herr Bischof, statt mit einem derben Verweis, mit der
glimpflichen Andeutung davongekommen sein, daß er sich geirrt habe.
Die unter dem verstorbenen Kaiser aufgenommenen Franciskaner
eines dritten Ordens, die sich in Südstciermark festgesetzt haben, wol¬
len fortan keine andere Autorität anerkennen, als die ihrer Obern,
was fast einer Auflehnung gegen die Staatsgewalt gleichkommt. So
weit ist es also unter uns gekommen, daß diese Mönche, welche an¬
derswo ihre Rolle ausgespielt haben, hier der Regierung entgegenzu¬
treten wagen.
Das ist nicht Alles; wie weit die Kühnheit bereits gehe, das
beweist eine Predigt des gewesenen Professors Frindt, der in der Uni¬
versitätskirche den versammelten Studenten, in deren Mitte die küns¬
tigen Gefetzkundigen und Beamten des Staates sich befinden, in dem¬
selben Augenblicke, wo sie in die Paragraphe des bürgerlichen Gesetz¬
buches und des kanonischen Rechts eingeweiht werden, in seinem Eiser
fast an Majestätsbeleidigung streifende Aussprüche zu bieten wagte.
Wenn denn schon einmal Censur bestehen soll, so wende man
sie auch auf Alle gleichmäßig an und gestatte solchen Geistern nicht
ein Maaß von Redefreiheit, das den hellsten Köpfen der Nation ver¬
Seit dem I. September hat zwar der Verkehr aus der Eiscn-
straße zwischen hier und Prag begonnen, allein der Betrieb leidet an
so vielen Gebrechen, daß das Publikum, wenn es so fortgeht, bald
alle Lust verlieren muß, sich dieses Transportmittels zu bedienen, da
nicht nur an keine feste Ordnung zu denken ist, fondern der Reifende
mit großer Geringschätzung behandelt wird, indem man ihn stunden¬
lang mitten aus der Bahn sitzen laßt, ohne daß er selbst nur erführe,
warum er sich diese Verzögerungen gefallen lassen solle. Am schlimm¬
sten kommen indeß die Eilfahrten der PostVerwaltung dabei fort, denn
da bisher noch alle Trains, welche um halb zehn Uhr Abends hier anlan¬
gen sollten, statt dessen um drei oder vier Uhr Nachts ankamen, so
erleidet der ganze Postenzug, zumal gegen Osten und Süden, die em¬
pfindlichsten Störungen und während man hoffte, mittelst der Eisenbah¬
nen eine vollkommen mathematisch berechnete Postbeförderung erzielen zu
können, sieht man plötzlich, wie vollkommen im Vergleich der frühere
Postenlauf gewesen. Die Schuld dieses Mißstandes liegt nun freilich
nicht in der Sache selbst, sondern in der Betriebsweise der durch Pacht¬
vertrag mit der Leitung des Verkehrs betrauten Direction der Fcrdi-
nandsnordbahn, weshalb auch bereits von Seite des Hofkammerpräsi¬
denten die nöthigen Einleitungen getroffen worden sein sollen, um ent¬
weder eine genaue Vertragserfüllung zu erzwingen oder das geschlossene
Pachtverhältniß wieder aufzulösen. Die Direction der Nordbahn sucht
den Grund in der Mangelhaftigkeit des von einem Theoretiker gelei¬
teten Oberbauch, indeß Wohlunterrichtete die Ursache d?r besprochenen
Mißstände darin finden wollen, daß die 40,0W Gulden, welche von
Seite der Staatsverwaltung ausgeworfen worden waren, um das nö¬
thige Betriebspersonal mehrere Monate vor ihrer Verwendung bei der
Staatseisenbahn in Sold zu nehmen und auf der Nordbahn selbst
einzuschulen, nicht die ursprüngliche Bestimmung erhielten und somit
meist unerfahrene und wegen ihrer Unerfahrenheit höchst ängstliche
Leute beim Bahnbetrieb zwischen Ollmütz und Prag angestellt wurden.
Wir haben bei diesem Anlasse eine rühmenswerthe Anordnung der
Regierung zu melden, welche darin besteht, daß die Paßplackerei, die
alle Wohlthaten der Eisenbahnen verschlingt, wesentlich gemildert ist
und es gegen Erlag von 1 Fi. Jedermann frei steht, sich einen auf
ein ganzes Jahr gültigen Paß nach Prag zu lösen.
Die Abgesandten des Musikvercins zum Beethovenfest in Bonn,
Staatskanzleirath Vasque von Püttlingen und Dr. Schmidt, der Re¬
dacteur der hiesigen Musikzeitung, sind bereits zurückgekehrt, wissen
aber von jener Nationalfeier gar wenig Rühmenswerthes zu erzählen.
So einstimmiges Lob man dem genialen Lißt wegen seines rüstigen
und taktvollen Eingreifens in die Festangelegenheiten zollt, eben so
einhellig erklingt der entschiedenste Tadel über das Benehmen des Fest¬
ordners, I)>. Breidenstein, dein Mangel an Urbanität und ein hoher
Grad von Arroganz zur Last gelegt wird. Auch Vaucrnfeld ist wie¬
der hier, nachdem er Frankreich, England, Westdeutschland und die
Schweiz durchflogen und vielfache persönliche Verhältnisse angeknüpft,
doch verweilte er nur kurze Zeit in der Hauptstadt und machte einen
Ausflug nach Ungarn.
Es befindet sich gegenwärtig der königl. preußische Generalmusik-
director Wieprecht in unserer Mitte, welcher von Seite der preußischen
Regierung nach Oesterreich geschickt wurde, um den Zustand der öster¬
reichischen Militärmusik kennen zu lernen, um darnach Reformvor-
schläge in Bezug auf die preußischen Regimentsmusikbanden zu ma¬
chen, von denen man behauptet, daß sie die Vollkommenheit der öster¬
reichischen nicht erreicht hätten. Ein anderer fremder Gast, den wir
in den nächsten Tagen erwarten und welcher gleichfalls von seiner
Regierung abgesendet ward, um in Oesterreich besondere Studien zu
machen, ist der Dr. Debrauz aus Paris, ein ministerieller Journalist
von Ansehen, dem es vergönnt war, dem Fürsten Staatskanzler auf
dem Schlosse Iohanmsberg feine Aufwartung zu machen. Debrauz
soll den Stand der Rechtsstudien ein unseren Lehranstalten beobachten,
wenn nicht noch andere spezielle Auftrage damit verbunden sind, denn
in Bezug auf diesen Gegenstand dürfte die Mission ziemlich kärglich
ausfallen, da unsere Universitätseinrichtungen nicht von der Art sind,
um die Rechtswissenschaft von einem höheren Gesichtspunkte auffassen
zu können und es ist bezeichnend genug für den Geist unserer Juris¬
prudenz, daß die Rechtsgeschichte hier ein ganz junger Lehrzweig ist
und man sich in der Regel mit der prinziplosen Einlerncrei der Ge¬
setzbücher begnügt, ohne eine kritische Erläuterung derselben zu wollen
und zu dulden.
Ueber die für den 15. August angekündigte Versammlung der
österreichischen Buchhändler kann ich noch nichts schreiben, aus dem
ganz einfachen Grunde, weil sie noch nicht stattgefund.n und auf den
20. September verschoben wurde. Sobald sie geschlossen, werde ich
nicht ermangeln, die Resultate derselben mitzutheilen. Sonstige lite-
rarische Neuigkeiten weiß ich in der That wenige, denn unsere besten
Kopfe sind aus leicht begreiflichen Gründen sparsam geworden in ihren
Mittheilungen.
Im Hofburgtheater, dessen innere Einrichtung in der letzten Zeit
mancherlei wünschenswerthe Verschönerungen erhalten, soll nächstens
Gutzkow's „Dreizehnter November" in die Scene gehen, wenn nicht,
wie das Gerücht spricht, die eben erschienenen „Wiener Eindrücke" im
dritten Bande von Gutzkow's gesammelten Schriften und das darin
gefällte herbe Urtheil über den Fürsten Metternich eine andere Anord¬
nung mit sich bringt. Wenigstens war das Stück bereits auf das
Repertoire dieser Woche gesetzt und ist nun plötzlich wieder daraus
verschwunden. Aehnliches wird der zweiten Novität dieser Bühne ge¬
wiß nicht widerfahren: wir meinen dem neuesten Lustspiel der Prin¬
zessin Amalie von Sachsen: „Der Brief aus der Schweiz," welches
hier unter dem Titel: „Der Majoratserbe" zur Darstellung kommen soll.
Im Hofoperntheatcr, das sich durch die Eoncurren; des Theaters
an der Wien glücklicherweise zu rascherer Thätigkeit angespornt fühlt,
hat man bereits dem von dort gegebenen Beispiele gefolgt und gleich,
falls die Oper „Stradella" gegeben, welche den Namen Flotow's schnell
populär machen wird, wenn ihr auch kein hoher Kunstwerth beizule¬
gen ist. Man erwartet auch die schwedische Nachtigall Jenny Lind
auf Gastrollen bei erhöhten Eintrittspreisen, was bis jetzt noch bei
keiner Sängerin der Fall gewesen. Sie erhält 500 Gulden C.-M. für
jeden Abend."
Dr. Fränkl, der Redacteur der „Sonntagsblätter, unternimmt
noch im Laufe dieses Monats eine größere Reise nach Deutschland,
und begibt sich vorerst über München nach Stuttgart, um bei Cotta
den Druck seines seit längerer Zeit vollendeten romantischen Epos:
„Don Juan d'Austria" zu besorgen. Während seiner kürzern Abwe¬
senheit führt Dr. Berger die Redaction des genannten Journals.
"'
Von dem als „Gegenwart unter Schuhmachers Leitung wie¬
dererstandenen „Adler" des >)>. Großhossinger erscheint in den nächsten
Tagen der Prospectus, der große Dinge versprechen soll, von denen
wir nur wünschen müssen, daß sie sämmtlich in Erfüllung gehen mögen.
Wegen der bereits stark vorgerückten Jahreszeit hat man beschlos¬
sen^ die auf den 22. September fallende Jubelfeier des Erzherzogs
Palatins in diesem Jahre nur offiziell zu begehen, und die volks-
thümliche, wahrhaft nationale Theilnahme auf das künftige Jahr zu
verschieben, wo sodann im ganzen Lande Festlichkeiten stattfinden sol¬
len. Dazu hat man gefunden, daß das Jubiläum in diesem Jahre
sich nicht auf den funfzigjährigen Besitz der Palatinswürde beziehen
könne, indem der Erzherzog diese nicht im Jahre 1795, sondern 1796
erhalten hat, in dem erstem Jahre aber den Namen eines Statthal-
halters hatte, so daß die jetzige Jubiläumsfeier sich mehr auf den
Aufenthalt unsers greisen Prinzen im Lande selbst bezieht und das
Jubiläum als Palatinus von Ungarn erst im nächsten Jahre mit
Recht gefeiert werden kann.
Die industrielle Agitation hat sich fo ziemlich verloren, wenig¬
stens in den Versammlungen der legislativen und administrativen Eor-
poralionen, nur in den Köpfen der feurigen Jugend spukt die unbe¬
griffene Idee noch immer und tritt oft auf eine andere fehr unbehag¬
liche Weise hervor. So waren auf der letzten Messe in Papa die
deutschen Kaufleute, zumal jene aus Wien, der Gegenstand höchst
gewaltthätiger und sträflicher Angrisse von Seite der Studentenschaft.
Papa, so unbekannt dieser Name, ist eine bedeutende Stadt von
26,606 Einwohnern mit großen Jahrmärkten und besitzt eine Art
Universität, welche blos von Reformirten besucht wird. Die jungen
Leute stürmten die Buden der ausländischen Kaufleute, die nach ihrer
Ansicht das Verderben des Landes sind, und mißhandelten nicht blos
die Verkäufer, sondern traten die Waaren in den Koth und verbrann¬
ten werthvolle Fabrikate durch reichlich ausgespritztes Vitriolöl, so daß
der Schaden der Betroffenen sehr beträchtlich sein muß. Vergebens
war die Ansprache der Professoren und die Drohungen der Ortsbe¬
hörden und da sich in Papa keine Garnison befindet und die Sym¬
pathie der Einwohner auf Seite der Angreifenden war, so konnte
gegen die Vcrletzer des Gastrechts und die tölpischen Erecutorcn des
Volkswillens nicht sogleich eingeschritten werden. Doch wollen wir
hoffen, daß dies nachträglich mit der ganzen Strenge des Gesetzes
geschehen werde, damit es nicht dahin komme, die unverständige Roh¬
heit der Jugend über den Schatz männlichen Fleißes gebieten zu sehen.
Seitdem die Regierung selbst, von dem ersten Schreck über den
Schutzverein zurückgekommen, die Hand zur Verständigung bietet und
Alles fördert, was den Flor und die industrielle Emporhebung des
Landes bezweckt; hat die Agitation ihren Stachel verloren und man
darf sich mit der Hoffnung schmeicheln, das naturgesegnete Ungarn
in kurzer Zeit auch auf der Bahn des Gewerbfleißes höchst achtbare
Fortschritte machen zu sehen. Die Regierung hat schnell, wie es sich
gebührt, die Initiative ergriffen und eine Commission ernannt, welche
sich lediglich mit der Berathung der Mittel und Wege beschäftigen
soll, wie die inländische Industrie zu fördern und zu unterstützen sei.
An der Spitze dieser Commission steht der bekannte Patriot Graf
Szechenyi, an dessen Patriotismus indeß die meisten seiner Lands¬
leute nicht mehr glauben wollen, indem er den nationalen Bestrebun¬
gen in der neuesten Zeit zu schroff entgegen trat, was ihm als Rache
aus verletztem Ehrgeiz ausgelegt wird, weil er es nicht leiden mochte,
daß die Bewegung ohne seine Beihilfe und Leitung ihren Fortgang
nahm und jüngere Männer in der Volksgunst stiegen. Wie dem auch
sei, so viel ist gewiß, daß Graf Szechenyi dem Angriff und der Ver¬
dächtigung durch feine große Geldliebe eine bedeutende Blöße gab und
sein gänzlicher Uebertritt auf Seite der Negierung, die ihn zum k.
Statthaltereirath ernannte, hat auch nicht dazu beitragen können,
ihn in der Volksmeinung zu rehabilitiren.
Der Branntweinpest soll nun auch bei uns durch Mäßigkeits¬
vereine künftig entgegengewirkt werden, nachdem andere gesetzliche Mit¬
tel sich als unwirksam bewiesen haben. Man sieht, daß der Anstoß
in Schlesien, Mähren und Wcstgalizien bereits nach dem benachbarten
Ungarn herüberwirkt, dessen nördlichster Asen ehedem von Slaven
bewohnt wird, unter denen gerade der Branntwein vollkommen zu
Hause ist, denn der Ungar verschmäht dieses Getränk und trinkt lie¬
ber den Saft seiner köstlichen Reben, während der Deutsche in der
Regel nüchtern oder wohl auch ein Liebhaber des Gerstensaftes ist.
Die bisherigen Anordnungen sind allesammt kraftlos gewesen, denn
sie konnten umgangen werden und wurden deshalb auch umgangen.
Ein Gesetz im Zempliner Comitat, welches den Schenkwirthen und
Krämern verbietet, mehr als um fünf Gulden Branntwein zu borgen,
hatte blos die Folge, daß das Plus als Brod oder Waare in der
Rechnung erschien oder daß der Säufer bei allen Schenkwicthcn des
Ortes die Runde machte und bei jedem die gesetzlich erlaubten fünf
Gulden Branntwein vertrank. Auf diese Weise sind die sauflustigen
Bauern ihre Saat auf dem Halm bereits dem Krämer schuldig und
er kommt niemals zu dem behaglichen Gefühl des Wohlstandes. Wir
hoffen, daß die Mäßigkeitsvereine auf moralischer Basis ruhend, in
ihren Bestrebungen glücklicher sein werden als die auf äußerem Zwang
basircnde Polizeigewalt.
Im Monat August fand in Fünfkirchen die sechste Versammlung
der ungarischen Naturforscher Statt, welche 442 Mitglieder zahlte,
worunter viele Aerzte waren. Die Verhandlungen dauerten mehrere
Tage und wechselten mit lehrreichen Ausflügen ab. Jedenfalls gewah¬
ren die regelmäßigen Versammlungen so vieler Männer von Kenntniß
und Geist dem Lande einen schätzbaren Vortheil, wenn er auch nicht
beziffert und mathematisch ausgerechnet werden kann. Jedes Mitglied
erhielt beim Abschied zwei Werke als Angedenken, nämlich eine na¬
turhistorisch-, statistisch-geschichtliche Beschreibung der Baranver Ge-
spannschast von Haas und eine medicinische Schilderung dieses Land¬
strichs von I)>. Hölbling. Außer dem wurden noch Bronzemedaillen
ausgetheilt, auf deren einer Seite die Worte: „Wer sucht, der findet,"
zu lesen sind, indeß man auf der andern das Bild eines Löwen er¬
blickt, aus dem Eybele reitet. Der Hofmedaillcnkabinets - Director
Böhm h.it diese Denkmünze gestochen. Auch das Volk nahm lebhaf¬
ten Antheil an der gelehrten Versammlung, indem man dieses auf
kluge Weise in's Interesse zu ziehen wußte, nicht etwa durch popu¬
läre Vorlesungen und physikalische Experimente, sondern durch die
Preisgebung einiger gebratener Ochsen und von sechzig Eimern Wein,
die auf offenem Markt verschmaust wurden.
Sie wissen, wie unglücklich das deutsche Element in Ungarn
von Seite der deutschen Presse vertreten wird; doch nicht genug, daß
die Gesinnungslosigkeit und Talentarmuth der Journalistik an dem
deutschen Namen fressen, nun kommt noch ein sogenannter Literat,
Benkert mit Namen, und wirft sich zum Organ deutscher Bildung
unter uns auf. Herr Benkert will zur Vertretung deutschen Elements
in Ungarn ein deutsches Jahrbuch herausgeben, doch ist er durchaus
nicht der Mann zu solchem Werk, weshalb denn auch schon Di. Hcn-
selmann, Baron Heigenau u. A. gegen die unbefugte Aufnahme ih¬
rer Namen in den veröffentlichten Prospectus Protest eingelegt haben.
Carl Beck, Graf Mailath und Pyrker haben gewiß keine Ahnung
von der ihnen zugemutheten Mitarbeitcrstclle am Jahrbuch des Herrn
Benkert, das eben nichts bezweckt als eine kleine Jahresrente für den
Herausgeber.
Wer sagt, man sei in Deutschland nicht großmüthig gegen die
Juden? Es ist wahr, man hält ihnen die allereinfachsten und heilig-
sten Menschenrechte vor. In einigen Staaten dürfen sie sich nur dann
verheirathen, wenn die Obrigkeit es erlaubt; in andern dürfen sie nur
einzelne kleine Gewerbe treiben, in andern nur im Ghetto wohnen,
wieder anderswo müssen sie fünffache Steuern zahlen, und noch an¬
derwärts dürfen sie sich gar nicht niederlassen. Dies Alles sind aber
Kleinigkeiten gegen die brillanten Geschenke, mit welchen die Nation
sie von Zeit zu Zeit bedenkt. So eben hat die deutsche Großmuth
den armen Juden ein herrliches Caocau gemacht: man hat ihnen Ju¬
lian Chownitz geschenkt. Dieser Chownitz ist nämlich ein so gut ge-
borner Christ, wie nur der heilige Hengstenberg oder der wunderthä-
tige Görres selbst es sind. Er ist der Sohn eines altkatholischen
Pesther Bürgers, Namens Chowanetz, war früher österreichischer Fähn¬
rich, mußte oder wollte aus dem Militärdienst treten, wurde dann
Leipziger Literat, trieb sich spater in Mainz, in Ulm u. f. w. herum,
schrieb bodenlos schlechte Romane und versuchte es endlich, durch den
Deutsch-Katholicismus sich einen Namen zu machen. Der ganze
Mensch ist eigentlich nicht der Mühe werth, daß man von ihm spricht,
aber als er Deutsch-Katholik wurde, waren die Zeitungen ungeschickt
und lächerlich genug, diese große Nachricht in alle vier Winde hinaus-
zublasen. Nun man sieht, daß man sich blamirt habe, glaubt man
sich zu rächen, indem man den Schwindler für einen ursprünglichen
Juden ausgibt und Witze darüber macht, daß er erst vom Judenthume
zum Christenthum?, vom Römisch-Katholicismus zum Deutsch-Katho¬
licismus, vom Deutsch-Katholicismus wieder zurück zum römischen
gelaufen ist. Es ist dies ein alter, in Deutschland höchst populärer
Kunstgriff, Jemand, den man vernichten will, für einen Juden aus¬
zugeben. Wenn heute Johann Jacob») in Königsberg (möge der
treffliche Mann es verzeihen, daß wir seinen Namen in so schlechter
Gesellschaft nennen) irgend einen Fehltritt thun sollte, so würde sich
uanz Deutschland plötzlich erinnern, daß er ja ein Jude ist. Als
Wolfgang Menzel seine Kreuzpredigten gegen das junge Deutschland
hielt, wußte er kein schlagenderes Mittel, als daß er Gutzkow und
Laube für Juden ausgab. — Nun, die Juden haben eine zähe Na¬
tur, sie sind an den Scheiterhaufen des Mittelalters nicht zu Grunde
gegangen, sie werden auch an Julian Chownitz nicht ersticken. Wohl
aber hat diese Chownitz'sche Judcntaufc noch eine moralische oder viel¬
mehr eine unmoralische Seite. Dieses Zuschieben einer zweideutigen
Persönlichkeit an eine ohnehin unterdrückte R^ligionspartei, diese beab¬
sichtigte Achterklärung eines Menschen, indem man ihn einen Juden
schilt, diese Herabwürdigung einer Nation, der man jeden Schwindler
als Eigenthum hinwirft, ist ein Kunstgriff, der nur der allertiefsten
Intoleranz entspringen kann. Und diese Intoleranz wird in demselben
Augenblicke begangen, wo man für eine andere unterdrückte Glaubens-
partei die freie Gleichstellung beansprucht! Dies ist eine traurige
Wahrnehmung; sie zeigt, wie tief im Herzen der Nation die Uebel
der Gegenwart liegen. Der Fanatismus, gegen welchen gegenwärtig
die Dissenter aller Art: Deutsch-Katholiken, Lichtfreunde, protestantische
Freunde u. s. w. ankämpfen, ist das nicht der nämliche, unter dessen
eisernem Tritt die Juden so lange ächzen ? Er treibt seine Blüten nur
in verschiedene Zweige, der Hauptstock ist stets derselbe: Intoleranz!
Wo die Idee der gleichen Berechtigung fehlt, da gibt die Uebermacht
allein den Ausschlag; dasselbe Faustrecht, das von dem Beispiele Frank¬
reichs und Englands nichts hören wollte und die Juden fort und fort
knechtet, weil sie sich herausnehmen, diesen oder jenen Glaubenssatz
nicht anzuerkennen, wendet sich nun auch gegen das christliche Häuf¬
lein, das die Satze des Tridentinischen Eonzils oder der Augsburger
Eonfession u. s. w. nicht für unfehlbar hält. Christenthum und Ju-
denthum sind ja auch auf einem Stamme gewachsen, aber der jüngere
grünere Zweig sagt zu dem älteren dürren: du bist ein schlechter Zweig
und mußt dich beugen, du hast kein Recht neben mir, denn ich bin
stärker. Nach diesem Beispiele geht es nun weiter auf dem Baume,
die Blätter haben den Streit der Zweige angehört und nun streiten
sich die Blätter auf ein und demselben Zweige; die saftigen, breiten
und ausgebildeten sagen zu den jungen cmporsprießenden: Ihr habt kein
Recht u. f. w. „Es ist eine alte Geschichte, doch bleibt sie ewig neu!"
— Der Redacteur der Wiener musikalischen Zeitung, Herr
Schmidt, hat seine Reife durch Norddeutschland unter dem Titel „Reise-
Momente" im Druck der Oeffentlichkeit übergeben. — So reich auch
die Literatur aller civilisirten und cultivirten Länder an Reisebeschrei-
bungen in typographischer, geographischer, historischer und sonstiger
wissenschaftlicher Beziehung sein mag, so erschien doch außer den in¬
teressanten Briefen von Hector Berlioz in neuester Zeit nichts, das
so ausschließlich die Musik zu Grund und Folie der mitgetheilten Er¬
lebnisse habe, als die vorliegenden „Reisemomcnte." — Sie sind in
sofern nicht uninteressant zu lesen, als es überhaupt nicht ohne In¬
teresse sein mag, die Ansichten eines ausländischen (?) Journalisten über
unsere Musikzustände und Kunsthäupter zu erfahren. Nur scheint
Herr l)>. Schmidt in seinen Urtheilen zu befangen, zu subjectiv; doch
zum Glück für Norddeutschlands und seine eigene Ehre, im besseren
Sinne des Worts — der gemüthliche Oesterreicher und harmlose
Wiener schaut halt immer 'raus; wer höflich, freundlich und nicht
ungefällig gegen ihn war, Her ist zur Stelle ein „höchst liebenswür-
diger, öfterer Charakter;" und wer vor allem Wien lobt, der ist ein
Mann von „höchst einnehmenden Wesen, tiefem Wissen" :c. In
Wien ist's schön, das wissen die Götter! In Wien gibt es liebe, ge¬
müthliche Menschen, viele Kaffeehäuser und Weinsäufer, mit köstlichem
Mocca, herrlichem Ungarausbruch, vorzüglichen Mehlspeisen; — in
Wien gibt's schöne Kirchenmusik (leider bei uns sehr wenig), große
Künstler, seltene Mittel und Kräfte, entsetzlich viel berühmte Herren, die
charlatanisiren und auch weit weniger entsetzlich viel unberühmte Her¬
ren, die Ausgezeichnetes leisten, und die Achseln zucken, wenn sie an
die deutsche Kunst denken, die in Wien so stiefmütterlich gepflegt
wird. — Das ist und bleibt wahr, und es laßt sich nichts davon
disputiren. Dem Buche des Herrn Schmidt zufolge hat es ihm bei
uns sehr gut gefallen; „das freut uns um so mehr," da es uns in
Wien auch sehr gut gefallen hat; bonus oft, — wir sind quitt, und
aus diesem Grunde hatte Herr Schmidt immerhin getreu schildern
und mehr entschiedene Färbung in sein Buch bringen können; statt,
wie es stark der Fall zu sein scheint, die Dankbarkeit bei den Charak¬
teren, die er persönlich kannte, und die besonders zuvorkommend gegen
ihn waren, — so wie die eigene Empfindlichkeit bei entgegengesetzten
Fallen (Campe, Gutzkow u. A.) vorherrschen zu lassen. Mündlich
und privatim, da mag man immerhin einige Rücksicht nehmen; aber
öffentlich die ungeschminkte Wahrheit; — sonst trifft den Autor der
Tadel des Mangels der Beobachtungsgabe oder der allzugroßen Sub¬
Ein norddeutscher Musiker.
'— Ein junger, reicher Engländer, Herr Horrok, dessen Familie
in Weimar ansässig ist, kam unlängst nach einem mehrjährigen Auf¬
enthalte in Indien wieder nach Weimar zurück. Unter einer Menge
interessanter Natur- und Kunstprodukten, welche dieser junge Mann
mitgebracht, ist ein wundervoll gearbeitetes Schachspiel aus China
besonders merkwürdig. Das Brett ist aus einer in wunderbaren
Marmorfarben spielenden Holzmosaik verfertigt und die Figuren aus
Elfenbein höchst kunstreich geschnitzt. Sowohl die Königin als die
Krieger und die Bauern, kurz alle Figuren des Spieles, mit Aus¬
nahme des Königs, stellen Chinesen vor, der König aber ist ein klei¬
ner meisterhaft gearbeiteter Napoleon! Das ganze wahrhafte Kunst¬
werk ist von Horrok zu einem Geschenk für den Erbgroßherzog bestimmt.
Berichtigungen. S. 474, A. 19 v. o. lies Düringsfeld- — Um mög¬
lichen Zunftstreitigkeitcn vorzubeugen, muß bemerkt werden, daß die schöne
Agnes eine Baderstochtcr gewesen.
Ich gehöre zu den unglücklichen Leuten, denen es nie ganz
recht gemacht werden kann. Ueberall muß ich ein Aber und ein
Fragezeichen anhängen, und wo die ganze Welt jubelt, kann ich
nicht umhin, einige dissonirende Stoßseufzer ertönen zu lassen. Ich
bin also ein Oppositionsmann von Natur, der immer'noch zu wün¬
schen und zu kritcln hat, wenn auch alle Wünsche, die er eben aus¬
gesprochen, vollständig erfüllt sind. Dabei mache ich nicht blos Op¬
position gegen die Regierung und deren Staatsregeln, wiewohl ich
oft genug über sie leise und, wenn es erlaubt ist, auch laut brumme ;
ließe ich es dabei bewenden, so wäre mein Loos noch nicht gar so
schlimm. Ein solcher Regierungs-Opposttionsmann ist gar nicht so
übel dran, wie man meint; was er auf der einen Seite an Mi߬
gunst erntet, dafür wird er auf der andern Seite durch den Beifall
seiner Genossen entschädigt. Diese Genossenschaft, die stets Opposi¬
tion macht gegen das, was von oben kommt, und Alles lobt und
vertheidigt, was von Einem aus ihrer Mitte herrühret, ist groß genug,
um das beifallbedürftige Herz zu trösten und zu erfreuen. Zu ihr
gehören alle die braven Leute, die da meinen, die Welt sei im
Grunde ein Paradies, von lauter vollkommenen Menschen bewohnt,
und nur durch den unglücklichen Zufall, der eben die jetzige Negie¬
rung an's Nuder gebracht habe, sei die Büchse der Pandora über
diese Stadt von lauter Engeln ausgeschüttet; sobald nur eine andere
Verfassung, andere Minister oder dergleichen da seien, so nähme daS
tausendjährige Reich alsbald seinen Anfang. Sodann gehören
dazu alle diejenigen, die gern in Kutschen, am liebsten in Staats-
wagen fahren möchten, lind sich ärgern, wenn sie zu Fuß gehen
müssen, während andere Leute an ihnen vorbeieilen. Die Zahl
dieser Oppositionsleute ist einstweilen wohl die größte, die irgend
eine Partei in der Welt aufzuweisen hat, und wer sich in seinem
Schreiben uno Sprechen auf sie stützt, wird sich nie verrechnen. Ein
Murrkopf, wie ich, steht aber zu der ganzen Welt in Opposition;
während er den Zorn irgend eines Mächtigen erregt, stößt er oft in
dem Augenblicke das gute, arme Volk, wie Robespierre es nennt,
dieses gute, arme Volk, welches gar zu gern vierspännig fahren
möchte, gar zärtlich in's Angesicht, und ist in Gefahr, von der einen
Seite polizeilich verfolgt, von der andern Seite polizeiwidrig geschol¬
ten und gesteinigt zu werden. Selbst in den wenigen Fällen, wo
sonderbarer Weise Alles einig und zufrieden zu sein scheint, drängt
und stachelt es mich, die allgemeine UeberzeugungSseligkeit durch
einen Widerspruch zu kränken, und je allgemeiner der Jubel, desto
unwiderstehlicher die Lust, mein Veto luneinzukrächzen. Eine un¬
glückliche, malcontente Gemüthsverfassung, nicht wahr?
Zu jenen wenigen Einrichtungen, womit so ziemich alle Welt
bei uns zufrieden zu sein scheint, gehört nun der preußische, oder, wie
man jetzt lieber sagt, der deutsche Zollverein. Die Stimmen, die
sich früher hier und da dagegen erhoben haben, verstummen nach und
nach, die Posaune des Ruhmes hallt dagegen immer vernehmlicher
durch alle unsere Zeitungen, und selbst unsere Professoren der Poli¬
tik erklären von ihrem Katheder der horchenden Jugend herab, daß
der preußische Zollverein der großartigste politische Fortschritt sei,
der in diesem Jahrhunderte geschehen. Wahrlich Reiz genug für
unser Einen, um einen kleinen Widerspruch einzulegen.
Bevor ich über die eigentlichen Hauptpunkte dieses gepriesenen
Zollvereins weiter aushole, will ich mich nach einer Ncbenpartie
desselben ergehen.
Also eine Nebenpartie. Ich meine damit den Transitzoll, der
auch zu den Bestimmungen deS preuß. Zollvereins gehört. Die Er¬
findung des Transitzolles ist uralt; wahrscheinlich haben ihn schon die
Scythen und andere barbarische Völker gekannt. Die tiefere Idee,
die dem Transitzolle zu Grunde liegt, ist die, daß Alles mir gehört,
dessen ich habhaft werden kann. Zieht ein Fremder durch mein Land,
um in ein anderes fremdes Land zu ziehen, so nehme ich ihm das
weg, waS er dort hinbringen wollte. Später modificirte sich dieses
System. Es lag in der Natur der Sache, daß die Leute keine Waa¬
ren mehr durch ein Land transportirten, wo diese ihnen weggenom¬
men wurden. Man schloß also einen Vergleich mit ihnen ab.
Daraus entsprangen z. B. die deutschen Geleitsgelder, wie denn
überhaupt unser Mittelalter den Transitzoll zur höchsten Blüthe ge¬
bracht.
Der Sinn und Inhalt eines solchen Vertrags war folgender:
Der Geleitsmann garantirte Leben und Eigenthum, wogegen der zu
Geleitende eine Abgabe sich gefallen ließ. Der Schutz, den der Ge¬
leitsmann gewährte, war nun in der Regel nicht gegen frenide Räu¬
ber gerichtet, sondern gegen seine eigene werthe Person.
„Wenn Du nicht bezahlst, nehme ich Dir Alles, umgekehrt
kommst Du mit einem kleinern Theile Deines Eigenthums davon."
Einen solchen Transitzoll zu erheben, waren früher alle Ritter
gewissermaßen durch das Recht der Stärkern berechtigt. Jetzt ist die¬
ses Recht in unserm Vaterlande auf die souveränen Staaten beschränkt.
In Italien dagegen und in Spanien erheben noch immer die Ritter
von der Heerstraße solche Transitzölle. Man reist dort nicht siche¬
rer, als wenn man gegen eine gewisse Abgabe sich einen Passirschein
von einem Chef ausfertigen laßt.
Ernsthaft gesprochen, ich begreife nicht, welchen rechtlichen und
sittlichen Grund man für die Erhebung eines Transitzolles anführen
kann. Der Staat hat gewiß das Recht, seine eigenen Unterthanen,
d. h. sich selbst zu besteuern. Wie er aber die Besteuerung zweier
ganz fremder Nationen in Anspruch nehmen kann, ist nicht wohl
abzusehen. Gottes Erde sollte frei sein für den Verkehr, wie die
Luft, wie das Meer. Die Zeit wird nicht fern sein, wo die zufäl¬
lige Dazwischenläge eines mir gehörigen Landstrichs keinen Vorwand
geben kann, fremden Durchpassirenden mit Gewalt etwas abzuneh¬
men. Denn weiter ist doch der Transitzoll nichts, als ein bloßes
Faustrecht. DaS Völkerrecht muß ihn verbannen; er ist eben so un¬
politisch, wie unchristlich; Christenthum und Politik sind ein und das¬
selbe. Der menschliche Verstand hat noch kein höheres politisches
System ausgegrübelt, als was einfach in der christlichen Moral be¬
gründet ist.
Alles höhere Staatsleben gründet sich ja doch nur einzig und
*
allein auf Liebe, Freiheit, Gerechtigkeit, lauter Namen, die ein und
dasselbe sind.
Auch national-ökonomisch ist der Transitzoll zu verwerfen, wenn
er auch nicht von der Gerechtigkeit verboten wäre. Nur was der
Staat durch eigene Arbeit erringt, ist von bleibendem Werthe. Ein¬
nahme ohne Arbeit entsittlicht auf die Länge; nur das im Schweiße
unseres Angesichts Errungene findet auch wieder eine vernünftige An¬
wendung. Alle Schatze Amerika's waren bei Spanien Tropfen auf
einen heißen Stein; ein Transitzoll ist für jeden Staat im Kleinen
das, was die Goldgruben in Peru für Spanien im Großen waren.
Dänemark hat seinen Sundzoll mit der Faulheit und gänzlichen
Jndustriclosigkeit seiner Bewohner theuer erkaufen müssen. Dieses
fruchtbare, herrlich gelegene Land ist jetzt so weit gekommen, daß es
ohne diesen Zuschuß fremder Nationen, ohne die Brandschatzung sei¬
ner deutschen Provinzen nicht mehr bestehen zu können glaubt. —
Die Handelsstraßen, die durch ein Land ziehen, bringen rei¬
chern Segen, als durch jene Plusmacherei an der Grenze erzeugt
Werden kann. Es versteht sich von selbst, daß die Abgabe für Chaus¬
seen, für die Controle, die darauf achtet, daß die durchpassiren-
den Waaren nicht unversteuert im Lande bleiben, nicht als Transit¬
zoll zu betrachten ist. In dieser Beziehung muß der Fremde den
Staat entschädigen, aber nicht mehr, wie vollständig entschädigen;
Was darüber ist, das ist von Uebel. Jeder Transitzoll schadet dem
allgemeinen Gedeihen der Menschheit, ohne dem eigenen Staate zu
nützen.
Das wäre der Nebenpunkt. Nun der Hauptpunkt, der eigent¬
liche Zoll. Daß es besser sei, wenn nur eine große Zollbarriere ganz
Deutschland umgibt, als wenn dreiunddreißig Schlagbäume im In¬
nern allen Verkehr der Nationen unter sich hemmen und fast gänz¬
lich aufheben, das muß wohl Jeder zugestehen. In sofern also der
preußische Zollverein an der Erweiterung und Befreiung des innern
Marktes von Deutschland arbeitet, wollen wir ihm Gerechtigkeit wi¬
derfahren lassen. Hätte er kein anderes Prinzip, als dieses allein,
so wäre nichts an ihm auszusetzen. Die meisten Freunde derselben
haben bei ihren Lobeserhebungen dabei auch immer nur den freien
Markt den Innern im Auge und lassen neu anderes, sehr schlimmes
Prinzip, welches ebenfalls durch den preußischen Zollverein verfolgt
wird, dabei ganz außer Acht. Der preußische Zollverein hat unserer
Ansicht nach eine gute und eine schlimme Seite. Ließe sich das
Gute nicht erreichen, ohne das Schlimme mit in den Kauf zu neh¬
men, so wäre vorerst abzuwägen, ob die Vortheile oder die Nach¬
theile größer wären, die er uns brächte. Nur im ersten Falle wäre
die Ausdehnung desselben vernünftiger Weise wünschenswert!). Wir
werden später darüber sprechen und nachzuweisen suchen, daß es kei-
nesweges so ausgemacht ist, ob das Gute, was er uns bringt, das
Böse in seinem Gefolge so sehr überwiegt. Aber so viel scheint uns
schon jetzt klar, daß sich alle Vortheile eines freien innern Marktes
recht gut denken lassen, ohne daß man alle Bestimmungen des Zoll¬
vereins adoptirt. Er verdient jedenfalls also nur ein einseitiges, kei¬
neswegs ein bedingtes Lob.
Doch anch dieses unbestreitbare Gute, was er mit sich führt
die Erweiterung des innern Marktes für ein und dasselbe Volk,
müssen wir Preußen in sofern etwas verkümmern, als eben Preußen
vielleicht die größte Schuld trägt, daß wir damit nicht schon viel
weiter und früher durchgedrungen sind. Die erste Zeit nach den
Freiheitskriegen war eine gute Zeit für alle großartigeren, vaterlän¬
dischen Ideen. Damals hätte sich Manches durchgreifend und im
Allgemeinen festsetzen lassen, was jetzt unvollkommen und im Einzel¬
nen erst erkämpft werden muß. Das Fallen aller Schlagbäume im
Innern Deutschlands war in Aller Munde und man erwartete nicht
ohne Grund, daß die Versammlung, welche über die künftigen in¬
nern Verhältnisse Deutschlands zu verfügen beliebte, diesen Grundsatz
feststellen und die Mittel und Wege, durch welche er in Ausführung
kommen könne, zum unumstößlichen Gesetze erheben werde. Die klei¬
neren Staaten hatten nichts dagegen, und wenn auch eine oder die
andere Regierung aus übertriebener Besorgmß für das beliebte
deutsche Wort „Souveränität" und für beaueme Plusmacherei im
Herzen nicht ganz einverstanden gewesen wäre, so war bei der allge¬
meinen Stimmung ein ganz unpopulärer Widerspruch in dieser popu¬
lären von dort aus, wo man sich glücklich schätzen mußte, daß man
ein gnädiges Gericht gefunden hatte, durchaus nicht zu fürchten. Der
Freiherr von Stein, ein großer Deutscher, ein großer Staatsmann,
ein tiefes christliches Gemüth, ein Mann, dem wir Ehrensäulen setzen
sollten, wäre damit nicht ein profanirender Mißbrauch getrieben, hatte
schon von Rußland aus, als er, wiewohl flüchtig und von Napoleon
in die Acht erklärt, im frommen Vertrauen die endliche Befreiung
Deutschlands voraussah, einen Entwurf für die künftige Verfassung
Deutschlands ausgearbeitet. Dieser Cutwurf enthielt außer andern
einfach großen Gedanken auch die gänzliche Aufhebung aller innern
Zollstätten und die Verlegung der Mauth an die deutsche Grenze.
Wer trug denn eigentlich die Schuld, daß diese Absicht, an deren
Ausführung man jetzt wieder mit so großer Mühe arbeitet, nicht
schon damals realisirt wurde? Keine andere Regierung als die
preußische. Die preußische Regierung war es zuerst, welche Bedenk-
lichkeiten gegen den Ik). Artikel der Bundesacte erhob und sich ihr
besonderes Zollsystem reservirte. Hatte Preußen, statt seinen ganzen
Einfluß in die Wagschale engherziger Separatzollsysteme zu werfen,
denselben für die Freiheit des Handels in Deutschland geltend ge¬
macht, so wäre trotz aller Schwierigkeiten menschlicher Voraussicht
nach die große Maaßregel schon damals, vielleicht mit Ausnahme
Oesterreichs, durchgesetzt worden. Freilich schlug unter dem Finanz¬
ministerium Motz die preußische Handelspolitik wieder einen bessern
Weg ein und suchte durch Separatverträge mit einzelnen Staaten
sich der Idee des freien, innern Verkehrs wieder zu nähern; aber
man muß eingestehen, daß es den günstigsten Moment doch hatte
vorübergehen lassen. Sind wir Preußen für seine jetzigen Bemühun¬
gen Dank schuldig, so verdient es für sein früheres Entgegenwirken
desto mehr die Mißbilligung jedes deutschen Patrioten. Es ist löb¬
lich, wenn niam frühere Fehler wieder zu redressircu sucht, aber das
Andenken an dieselben wird dadurch bei dem, der einiges Gedächtniß
hat, noch nicht völlig verlöscht.
Zudem ist schon oben gemeldet, daß der jetzige preußische Zoll¬
verein keineswegs die Freiheit des innern Marktes allein zum Zwecke
hat; es liegt ihm noch eine andere Idee zum Grunde, die Idee der
Schutzzölle, begleitet von einer bequemen Plusmacherei, und diese
beiden involvircnden falschen Prinzipe schaden der Ausbreitung des
Vereins in demselben Maaße, als die Absicht eines freien innern
Perkehrö für Deutschland demselben förderlich ist.
Der Staat bedarf der Abgaben, um damit seine Zwecke aus¬
führen zu können. Nach welchem Prinzipe diese Lasten unter den
Unterthanen vertheilt werden sollen, ist in der Theorie leicht arm-
gebe», findet aber in der Ausführung unendliche Schwierigkeit und
bildet noch immer el» ungelöstes Problem der heutigen Staatsweis-
heit. Jeder soll verhältnißmäßig nach Vermögen beitragen, jemehr
man einnimmt, desto mehr soll man zum allgemeinen Besten aus¬
geben. Dieser Sah ist unumstößlich in der Gerechtigkeit, in der
christlichen Moral begründet; je weiter sich die Praris von ihm ent¬
fernt, desto schwerer rächt sich dieses Abweichen von der Bahn der
Gerechtigkeit durch die Verarmung ganzer Klassen von Staatsbür¬
gern und durch Erzeugung eines Prvletarieistandeö auf der einen
Seite und Entstehen einer pressenden, lururiösen Geldaristokratie auf
der andern Seite, wie denn jede Ungerechtigkeit später auch ihre
äußere Strafe nach sich zieht. Wie aber soll ermittelt werden, wozu
ein Jeder nach Vermögen verhältnißmäßig verpflichtet ist?
Wäre der christliche Staat schon da, wo Jeder sein Heil und
sein Glück in der Liebe und im Gedeihen aller Andern suchre, so
wäre das Problem bald gelöst. Man würde sich bald verständigen;
Patriotismus und christliche Liebe würden die Quote schon ermitteln,
womit sich ein Jeder für's Gedeihen des großen Gemeinwesens zu
betheiligen habe. In einer Zeit aber, wo eine kurzsichtige Selbstsucht
noch das Hauptmotiv der einzelnen Individuen im Staate ist, wo
gewissermaaßen noch ein Krieg Aller gegen Alle unter äußerlich ge¬
setzlicher Form eristirt und Jeder sich jeder Leistung sür's Allgemeine
nach Kräften zu entziehen sucht, um nur seine eingebildeten Sonder-
interessen zu fördern, in einer solchen Zeit muß der Staat sich frei¬
lich nach ungefähren Annahmen und Schätzungen umsehen, um das
Prinzip der Besteuerung nach dem Können möglichst annäherungs¬
weise zu erreichen. Aber Alles, was nicht auf Liebe, nicht auf mo¬
ralische Triebfedern basirt ist, wird im Zusammenleben der Menschen
nie große Resultate haben, alle Steuersätze des Staats werden bei
heutiger Selbstsucht immer theilweise ungerecht, theilweise irrig sein.
Schon allein um eine gerechte und freudige Stcuergebung zu errei¬
chen, sollten die Regierungen Alles aufbieten, um Theilnahme und
freie Thätigkeit an allen Staatsangelegenheiten bei jedem Staats¬
bürger zu erwecken. Der preußische Staat nun hat ein sehr com-
plicirtes Steuersystem adoptirt, um sich der Idee einer reinen Ein¬
kommensteuer möglichst zu nähern. Ein Hauptgedanke dieses Systems
ist, daß man alle verschiedenen productiven Gewerbe lind Thätigkeiten
der Menschen besteuern müsse, indem mit jedem Gewerbe auch ein
Einkommen verbunden sei. Dieser Gedanke mag eben so gut und
zuletzt besser sein, wie die meisten andern AusmittelungSversuche,
wenn er auch noch immer himmelweit von der wirklichen Realisirung
einer reinen Einkommensteuer entfernt ist. Jedenfalls ist eS besser
wie andere Ingredienzen des preußischen Steuersystems, z. B. Salz¬
steuer u. s. w. Zieht man alle Gewerbe zur Steuer herbei, so muß
natürlich der Handel, dieses nächst dem Ackerbau — welcher letzterer
durch Grundsteuer u. s. w. betheiligt ist — bedeutende Gewerbe,
ebenfalls herbei gezogen werden. In sofern nun also die Besteue¬
rung des Handels in ungefähren Verhältnisse zu seinen Kräften
steht und auf seine einzelnen Branchen verhältnißmäßig vertheilt ist,
in sofern man durch indirecte Besteuerung, durch Zölle diese teil¬
weise besser erreichen zu können glaubt, in sofern ließe sich also bei
heutigen sittlichen Zuständen des Staats gegen den Zoll weiter nichts
einwenden. Aber leider hat man beim preußischen Zoll noch ganz
andere Zwecke im Auge, als eine richtige Steuervertheilung, und
diese sind es, welche seiner Verbreitung sehr im Wege stehen, manche
Negierung wohl bedenklich über ihren Anschluß machen könnten und
wodurch Nachtheile hervorgebracht werden, die vielleicht den Vortheil
des innern freien Verkehrs aufwiegen. Zwei Gründe für das preu¬
ßische sehr hohe Zollsystem wollen wir hier gar nicht niederlegen,
weil sie ganz unwürdig sind und von der preußischen Negierung
selbst gewiß nicht anerkannt werden. Der erste ist, daß man Zölle
haben müsse, um möglichst viele Beamte anstellen und namentlich
alte Militärs versorgen zu können. Viele Beamte sind kein Segen;
je weniger man braucht, desto besser. Und hat der Staat Verpflich¬
tung gegen alte Militärs, so möge er sie Pensioniren; auf eine so
tief eingreifende Frage, wie das gesammte Steuersystem ist, kann
eine solche Nebenrücksicht nicht influiren.
Der andere Gedanke, den ich früher häusig zum Lobe eines
hohen Zollsystems habe anführen hören, ist gänzlich unmoralisch, be¬
trügerisch und jener Zeit würdig, wo man die Unterthanen nur un¬
gefähr wie Citronen ansah, und die beste Cltronenpresse für das
beste Steuersystem hielt. Diese Ansicht, die ich häufig von Beamten
habe vernehmen müssen, lautet so: „Wir geben zu, daß der Zoll
die theuerste Steuer ist, weil die bloße Erhebung vielleicht ein Vier-
tel der Einnahme verschlingt. Um die Bedürfnisse des Staats durch
qen Zoll zu decken, muß man freilich den Unterchanen mehr abneh¬
men, als bei jeder andern Steuer. Aber der Zoll hat die ange¬
nehme Eigenschaft, daß er pou ä pen den Leuten in den kleinsten
Dosen abgefordert wird. Die wenigsten Leute können rechnen, sie
geben lieber das Doppelte nach und nach, indirect, auf dem Wege
des Kaufes, als wenn man ihnen direct eine Summe mit einem
Male abfordert, die freilich im Grunde nicht so groß ist, als die
vielen kleinen Theile, die sie im täglichen Verkehre als Zollquote
steuern müssen. Die Leute werden freilich mehr Geld los, allein sie
merken nicht, woher es kommt, und wenn sie verarmen, so wissen
sie wenigstens den Grund davon nicht anzugeben." Statt daß der
Staat seine Angehörigen also aufzuklären suchen sollte, speculirt er
hier auf ihre Dummheit.
Eine schändliche Politik! Wäre ich Fürst, ich setzte einen Beam¬
ten auf der Stelle ab, der mich durch solch' niederträchtigen Rath
zu beleidigen wagte.
Wie gesagt, ich glaube nicht, daß irgend ein preußischer Staats¬
mann von Einfluß solche Gründe zur Vertheidigung des jetzigen Zoll¬
systems anführt. Dagegen ist eine Lieblingsphrase noch immer die,
daß die deutsche Industrie Schutzzölle nöthig habe, rend untersucht
man die einzelnen Ansätze im Tarif, so sinde-t man allerdings, daß
diese sonderbare Ansicht vom zu gewährenden Schutze eine Rolle bei
der Anfertigung gespielt zu haben scheint. Angesehene, halb officielle
Schriftsteller, öffentliche Aeußerungen hoher Staatsbeamten:c. bestä¬
tigen diese Vermuthung. Jedenfalls haben viele Ansätze die schlimme
Folge eines sog. Schutzzolles, man mag nun dabei an solchen ge¬
dacht haben oder nicht.
Der wohlklingende Name Schutzzoll ist weiter nichts, als eine
neue Benennung für eine alte, längst verrufene Sache, für das Mer-
cantilsystem.
Das Mercantilsystem ging von der Idee aus, daß es überhaupt
nur eine bestimmte Summe von Reichthum in der Welt gebe, die
sich nicht vermehre, sondern nur anders vertheilen lasse. Nach dem
Mercantilsysteme wäre zu Adams Zeiten schon so viel Reichthum in
der Welt gewesen, als jetzt, und die Arbeit von unzähligen Millio¬
nen Menschen habe seitdem die Summe derselben nicht erhöht. Die-
ses ist nämlich die eigentliche Grundidee, die sich folgerecht aus den
Prinzipien entwickeln läßt, obgleich sie es anders ausdrückten, und
die edeln Metalle als eigentlichen Reichthum annahmen. Ganz folge¬
recht kam man dann zu dem Schlüsse, daß der Austausch die Breicherung
deS einen Landes nach sich ziehen müßte. Man suchte daher durch Zölle
zu erreichen, daß kein anderes Land durch Austausch von dem eige¬
nen Vortheil ziehen könne; durch Zölle suchte man zu erzwingen, daß
jedes. Bedürfniß im Lande selbst erzeugt werde. Diese Ansicht braucht
Gottlob nicht mehr in ihrem ganzen Umfange widerlegt zu werden.
Man hat eingesehen, daß die Summe des Reichthums sich in's
Unendliche steigern läßt, und daß ihr keine Grenze vorgeschrieben ist.
Man hat eingesehen,- daß der Wohlstand aller Länder zu gleicher
Zeit wachsen kann, daß der Handel produktiv ist. Man hat einge¬
sehen, daß die Menschen zu gegenseitiger Hülfe und gegenseitiger
Forderung da seien, und daß eine folgerechte Durchführung des
Mcrcantilsystems allen Handel, allen Verkehr, allen Umgang aufhe¬
ben würde; mit einem Worte, daß es eine abscheuliche, selbstsüchtige,
unpolitische und unchristliche Lehre sei.
Dennoch spricht man wieder und wieder von Schutzzöllen. Ja,
sagt man, Alles können wir nicht selbst produciren, das ist gewiß.
Aber wir können doch sehr vieles produciren, was wir noch nicht
produciren; wir können manche Zweige einer vortheilhaften Industrie
im Lande selbst anbauen, die jetzt im Auslande allein wachsen, und
um diese hervor zu treiben, bedarf es der Schutzzölle.
Wendet man dagegen ein, daß der eigene Vortheil der Nation
sie schon selbst die Wege lehren werde, die am zweckmäßigsten zur
Production der angemessensten Werthe führten, so hat man im All¬
gemeinen wieder nichts dagegen. Aber, sagt man wieder, das Aus¬
land hat in mancher Industrie einen Vorsprung.
Alle natürlichen Bedingungen für vortheilhafte Betreibung die¬
ser oder jener Industrie sind bei uns vorhanden, aber uns fehlen vor¬
läufig noch die Erfahrung, der Unternehmungsgeist, die Capitale,
was der Ausländer sich Alles schon erworben hat. Bis auch wir
diese nothwendigen Ingredienzien ebenfalls erlangt haben, bedarf eS
des Schutzzolles, um ihn auf die andere Seile der Wagschaale zu
werfen. Man bedient sich am liebsten zur evidenten Widerlegung
etwaiger Gegner eines Bildes. Unsere Industrie ist noch im Jugend-
alter; die Industrie des Auslandes ist schon im kräftigen Mannes¬
alter. Laßt unsere Industrie nur erst zu denselben Kräften herange¬
wachsen sein, so sollen die Schutzzölle gleich aufhören. Der Schutz¬
zoll ist nur eine provisorische Maßregel, bis unsere Industrie ein
wahrer Herkules geworden ist. Gegen ein solches Bild ließe sich
vielleicht ein anderes Bild setzen: Eine durch Schutzzölle hervorgeru¬
fene Industrie ist eine erotische Pflanze, die man im Treibhause zieht,
sie kann der künstlichen Wärme nie entbehren; sobald ihr sie an die
frische Lust bringt, erfriert sie.
Doch jedes Bild hinkt bekanntlich. Die Widerlegung des Prin¬
zips der Schutzzölle kann man in allen bessern national-ökonomischen
Werken finden, wozu wir das Buch des berühmten National-Oeko-
nomen List übrigens nicht zählen. Daß das alte Mercantilsystcm
immer wieder in anderer äußerer Form auftaucht, wiewohl seine
Widersinnigkeit auf der Hand liegt, möchten wir weniger aus einem
Vcrstandesfchlcr, als aus einem Gcmüthsfehlcr unserer Zeitgenossen
erklären. Der Neid ist tief in das menschliche Herz eingewurzelt,
und es hält schwer, ihn ganz auszurotten. Wir beneiden andere
Nationen um ihre Industrie und um ihren Reichthum, wenn wir
auch recht gut wissen, daß wir selbst keinen Schaden, sondern eitel
Vortheil davon haben.
So wenigstens erkläre ich mir die Inconsequenz mancher sonst
gescheidten Männer, die das Mercantilsystcm verdammen und doch
mit den Waffen desselben kämpfen. Der Neid spielt ihnen unbe¬
wußt dabei einen Streich.
Ohne uns auf eine sehr überflüssige Widerlegung der Schutz¬
zölle einzulassen, wollen wir nur einige wenige Bemerkungen darüber,
und in besonderer Beziehung auf's preußische Zollsystem machen.
Wiewohl der Schutzzoll nur eine provisorische Maaßregel sein soll, um
der Industrie in ihren Geburtswehen unter die Arme zu greifen, so
ist doch seit 25 Jahren noch kein einziger Satz ermäßigt, umgekehrt
sind die Schutzzölle immer im Steigen begriffen gewesen. Wann
soll denn endlich die Zeit kommen, wo die begünstigten Zweige der
Industrie, und es sind deren viele, stark genug sein werden, um
ohne Schutz bestehen zu können? Die Zeit wird nie erscheinen
Bis jetzt hat man noch nicht erlebt, daß eine durch Schutzzölle her»
aorgerufene Industrie erklärt habe, sie bedürfe fortan derselben nicht
mehr. Im Gegentheile nimmt sie immer stärkeren Schutz in An¬
spruch. Im Anfange erhebt man Schutzzölle, um eine künstliche
Industrie zu erzeugen, und später behält man sie bei, um das ein¬
mal durch künstliche Treibhauswärme Hervorgelockte nicht zu Grunde
gehen zu lassen. Macht der Staat ja endlich einmal Miene, die
Zölle herabzusetzen, eingedenk der ursprünglichen Idee, daß der Schutz¬
zoll nur momentan sein soll, so ertönt von allen Seiten ein Jam¬
mergeschrei über gefährdete Existenz. „Ihr habt uns durch eure
hohen Zölle zur Anlegung von Fabriken angereizt, und nun wollt
ihr Aus Plötzlich im Stiche lassen. Ihr habt Verpflichtungen gegen
uns, denn durch eure Handlungsweise sind wir verlockt." In der
That ist der Staat in der traurigen Alternative, einen Zoll bestehen
zu lassen, der die Mehrzahl seiner Unterthanen und die wirklich na¬
turgemäße Industrie unverhältnißmäßig drückt, oder eine Menge
Existenzen zu ruiniren, die auf diese verkehrte Maaßregel ihre Lebens¬
plane gebauet hatten. Zuletzt muß er sich freilich zu Letzterm immer
entschließen, aber nicht eher, bis er dem ganzen Lande, sich selbst
eine lange Reihe von Jahren Schaden gethan hat, ohne irgend Je¬
manden zu nützen.
Die Sehergabe des Staats in Bezug auf die Zweige, welche
durch augenblickliche Hülfe wesentlich zu fördern seien, läßt sich aller¬
dings mit Grund bezweifeln. Vergleichen wir einmal den Wohlstand
des jetzigen Deutschlands mit dem Deutschland vor 50 Jahren. Die
Bevölkerung ist um ein Drittheil gestiegen; trotzdem lebt man jetzt
reichlicher und besser in Deutschland,'wie damals.
Man genießt mehr Fleisch, mehr Zucker, mehr Kaffee; man
trinkt mehr Bier, Branntwein, Wein; man kleidet sich besser, man
wohnt besser, man liest mehr, man geht mehr in's Theater; kurz,
die Bedürfnisse und Genüsse sind mannigfaltiger geworden, wie vor
5l) Jahren. Beweis genug, daß auch die Production gestiegen ist,
um allen diesen vermehrten Lebensgenuß, diese größere Consumtion
zu bestreiten. Woher nimmt denn Deutschland seine Mittel zur Be¬
streitung seiner doppelten und dreifachen Consumtion? Etwa von dem
Ertrage der Fabriken, die man vorzugsweise durch Schutzzölle begün¬
stigt hat? Ach nein, es ist sehr die Frage, ob diese alle nur einen
Heller zu dem ungeheuer vermehrten Kostenaufwande des Lebenöbe-
darfs beitragen. Die Production Deutschlands ist allerdings uner-
meßlich gestiegen, aber ganz ohne Zuthun der Regierungen, in Bran¬
chen, die sich Gottlob nie eines Schutzes zu erfreuen gehabt haben.
Da ist zuerst der Ackerbau. Eine genaue Berechnung ist nicht anzu¬
stellen, aber ich glaube wenig zu sagen, wenn ich behaupte, daß
durch den Kleebau, den Kartoffelbau, durch Auftheilung der Ge¬
meindeweiden, Urbarmachung wüster Strecken, Bewässerung der Wie¬
sen, bessere Fruchtholze, Stallfütterung und andere Schwingfedern,
wodurch sich der Nationalverstand zu helfen suchte ohne alle Ein¬
mischung der Negierung, die Summe des jetzt Erzeugten sich auf das
Dreifache beläuft. Der einzige Thaer hat durch seine Thätigkeit zur
Verbreitung rationeller landwirtschaftlicher Grundsätze mehr zur Ver¬
mehrung des Nationalreichthums beigetragen, als alle Schutzzölle.
An den Ackerbau schließen sich wieder eine Menge Fabriken, die
ebenfalls ganz ohne Zuthun der Regierung cmporgeblühl sind. Brenne-
reien, Brauereien, Lohgerbereien, Mehl-, Nudel-, Stärke-, Grau¬
penfabriken u. s. w., Vichmastung (Hamburg Z. B. versorgt einen
Theil der englischen Flotte mit Pökelfleisch und Schweinefleisch) ha¬
ben keinen Schutzzoll gehabt. Die holsteinische Buttcrbercitung, der
rheinische Weinbau, die baiersche Bierbrauerei, liefern große Sum¬
men für die Ausfuhr, und haben dabei immer auf eigenen Füßen
gestanden. Die feine Wolle, dieser Artikel, der jährlich viele Mil¬
lionen Thaler liefert, war vor 5V Jahren in Deutschland noch ein
unbekanntes Ding. Jetzt sind Deutschlands Schäfereien die ersten
in der Welt, ohne duß die Regierung Schutzzölle zur Beförderung
dieser segensreichen Industrie nöthig gehabt hätte. Der deutsche
Charakter paßt für die Schafzucht; es gehört Geduld dazu, minu¬
tiöse Beobachtung.
Ein solcher Schafzüchter sitzt tagelang schweigend in seinem
Schafftalle, er lernt jedes Haar zuletzt an jedem Thiere kennen; die¬
selbe Eigenschaft, die uns zu philologischen Sylbenstechern gemacht
hat, hat uns zu vortrefflichen Schafzüchtern gemacht. Das ist in der
That eine naturgemäße Industrie zu nennen, wiewohl der Seherblick
des Staats dieselbe nicht entdeckt hat.
Die erzgebirgischen Fabriken — wenn man einmal von Fabri¬
ken und Manufacturen im engern Sinne spricht — selbst die Elbe»
selber und Barmener Industrie in ihren Hauptbranchen sind eben¬
falls ohne Schutzzoll entstanden, und es fragt sich, ob die spätere
Eintretuug desselben ihrem Wachsthums förderlich gewesen sein
mag.
Man legt überhaupt viel zu viel Gewicht auf die Erzeugung
einzelner specieller Fabriken und Manufacturen, die in fremden Län¬
dern zur besondern Blüthe gekommen sind, und übersieht viel zu sehr
den großen Reichthum, der neben und unter uns leicht und fröhlich
emporschießt. Wie gesagt, Mißgunst und Neid spielen dabei unbe¬
wußt eine Rolle. So sehr der Ackerbau mit seinen technischen Ge¬
werben sich schon gehoben hat, so ist es doch keinem Zweifel unterwor¬
fen, daß er sich noch in's Unendliche steigern ließe. Aber man will
nun einmal durchaus durch dieselben Mittel reich werden, wodurch
die Engländer und Belgier reich geworden sind, und in diesem fal¬
schen Bemühen schadet man der Entwickelung seiner Kräfte mehr,
als wenn man sich ganz ruhig verhielte. Die Idee der Schutzzölle
ist eine Chimäre; was ohne Schutzzoll nicht entstehen kann, kann
sich ohne Schutzzoll auch nicht halten; und was etwa mit Schutz¬
zöllen entsteht und zu bleibendem Dasein aufblühe, würde es sicher
auch ohne diese gethan haben. Umgekehrt mag ich wohl behaupten,
daß manche an sich gute Anlage zu einen besondern Industriezweige
durch Schutzzölle verdorben wird. Der Schutzzoll ist ein schlechter
Erzieher; er verzärtelt das ihm anvertraute Kind, lind eS gehört eine
besonders gesunde Natur dazu, um seinen demoralisirenden Einflüsse zu
widerstehen. Durch Schutzzölle will man die fehlenden Capitale, die
fehlende Geschicklichkeit, die fehlende Umsicht lind Erfahrung u. s. w.
ersetzen.
Das aber sind lauter Dinge, die sich dnrch nichts ersetzen las¬
sen. Capitale kommen durch Schutzzölle nicht in's Land, wohl aber
werden die im Lande befindlichen auf eine falsche Bahn geleitet und
einer richtigen, naturgemäßen Anwendung gar oft entzogen. Die
fehlende Erfahrung wird schwerlich durch solche Prämie auf die
Dummheit herbeigeschafft; ist uns das Ausland an Umsicht über¬
legen, so ist eS sündlich und unchristlich, dieses in der moralischen
Weltordnung begründete Uebergewicht durch Machtgebote Paralysiren
zu wollen. Nur Mühe und Anstrengung sind die wahren Mittel
zur Concurrenz. Wem es an Erfahrung und Umsicht gebricht, der
werde durch eigenen Schaden klug; auf Kosten seiner übrigen Mit¬
staatsbürger soll er nicht schadlos gehalten werden. Es thut nichts,
wenn einige fehlende Versuche Anfangs mit unterlaufe»; jede wahre
und richtige Idee schickt Anfangs einige ins-als moi«!»« voraus.
Uebrigens läßt bei heutiger Bildung, bei den ungeheuern Hülfs¬
mitteln, die Literatur, technische und Naturwissenschaften darbieten,
sich wohl auf andern, Wege Erfahrung und Kenntniß erlangen, als
auf dem rein empirischen Wege. Die spanischen Schafzüchter waren
uns an empirischer Erfahrung, an Capitalien u. f. w. weit voraus.
Dennoch haben wir sie durch verständige Ueberlegung, ruhigen, schar¬
fen Calcül u. f. w. gänzlich überflügelt, und die Capitale fanden
sich und werden sich immer finden, sobalv mir der Verstand, die
Ueberzeugung von der Möglichkeit, sich befriedigt fühlte.
Unter solchen Umständen ist es manchen Regierungen nicht zu
verdenken, wenn sie sich dreimal bedenken, bevor sie dem preußischen
Schutzzollsystem beitreten, und mancher Patriot, der den freien, in¬
nern Markt für Deutschland sehnsüchtig herbeiwünscht, mag denselben
darum doch noch nicht auf Kosten eines falschen Prinzips erkaufen.
Auch hier heiligt ein guter Zweck noch nicht das Mittel. Die Idee
des freien, innern Verkehrs ist eine wahre Idee, die Idee der Schutz¬
zölle ist eine Unwahrheit. Warum soll man gezwungen sein, zwei
so ganz verschiedene Dinge unzertrennlich zu übernehmen und die
Realisirung einer Ueberzeugung auf Kosten einer andern Ueberzeu¬
gung zu erlange»?
Eine deutsche Negierung hat allerdings eine schwere Verant¬
wortlichkeit zu bedenken, bevor sie sich dem Zollvereine in seiner jetzi¬
gen Tarifilimg anschließt. Angenvmme», auch die Verluste, die der
größte Theil der Unterthanen durch Vertheuerung so vieler Lebens¬
bedürfnisse erlitte, würden durch den Gewinn Einzelner wieder auf¬
gewogen, so daß der Reichthum des Staates im Ganzen sich durch
dieses Steuersystem nicht verminderte — was wir übrigens nicht zu¬
geben und was namentlich der Staatsrath NcbeniuS durch seinen so
bewunderten und doch so ungenügenden Aufsatz in der deutschen
Vicrteljahrschrift von 4840 am allerwenigsten bewiesen hat.— so
steht doch fest, daß dadurch wenigstens eine andere gewaltsame Ver-
theilung des Vermögens hervorgebracht wird. Ein Anschluß an den
Preußischen Zollverband ist eine Revolution, die in dem Finanzsystem
leder einzelnen Familie bedeutende Erschütterungen hervorbringt. Die
meisten Familien haben nicht mehr, als sie zum Auskommen bedür-
fen. Steigen die gewohnten Lebensbedürfnisse plötzlich um zehn Pro¬
cent im Preise, ohne daß sich die Einnahme vermehrt, so entstehen
unzählige Sorgen, Beschränkungen, und der Keim zu mehr wie einem
Ruine ist gelegt. Daß diese Vertheuerung um zehn Procent einge¬
treten ist, gibt selbst der tabellarische Apologet, Ncbenius, für viele
Städte in Baden zu. Er irrt aber, wenn er glaubt, daß dadurch
nur die Mehrzahl der Consumenten belastet werde, das freilich auch
schon schlimm genug wäre.
Diese Consumenten sind auch fast alle wieder Producenten; wie
schädlich allein wirkt der durch plötzliche und künstliche Entstehung
bedeutender Fabriken in die Höhe getriebene Tagelohn auf alle an¬
dere Productionszweige, auf Ackerbau, Handwerke u. f. w. Doch
hiermit vorläufig genug. Ein anderes Mal wollen wir vom An¬
schlusse zweier größerer Staaten, Dänemarks und Oesterreichs, spre¬
chen, dessen die Zeitungen kürzlich als Projekt erwähnten. Hier
wäre viel zu bedenken, nicht nur Nationalökonomisches, sondern auch
Politisches im engern oder höhern Sinne.
Unser Votum, oder vielmehr unsere patriotische Phantasie wäre
also Folgendes: Der freie, innere Verkehr für Deutschland möge
sobald als möglich in's Werk gesetzt werden. Wenn auch im Laufe
der Jahrhunderte der Zoll überhaupt einer bessern und würdigern
Besteuerung weichen würde, so möge er für jetzt noch bleiben und
an der deutschen Grenze erhoben werden. Aber nur ein Zoll, der
durch seine Höhe nicht den Austausch mir dem Auslande wesentlich
beschränkt und zerstört, ein Zoll, der nicht den Unternehmungsgeist
der Industriellen zu unnatürlicher Produktion aufreizt.*)
In Wien lebt eine alte Dame, eine ehemalige Freundin und
Beichttochter von Ludwig Zacharias Werner. Was sie mir über diesen
verrufenen Mystiker, über diesen christlichen Aeschylos (wie ihn An¬
dreas Schuhmacher nannte) mittheilte, enthält vielleicht mehr Cha¬
rakteristisches, als manche Literaturgeschichte über Werner herausspin-
disirt. Die Dame ist eine von jenen, die in der Jugend fromm
gewesen und im Alter klug werden; im Gegensatz zu jenen, welche die
Augen allzufrüh öffnen, um sie nach einer an Erkenntnissen zu rei¬
chen Jugend mit einem Pater Pecavi demüthig zu Boden zu senken,
und im Aller fromm zu werden. Sie stand schon auf jener Höhe des
ruhigen Bewußtseins, um lächelnd von alten Irrthümern, ja mancher
verzeihlichen Sünde, erzählen zu können; auch hatte sie genug gelitten,
und so Ruhe genug gewonnen, um alte Zeiten und vorübergegan¬
gene Persönlichkeiten klar zu beurtheilen.
Die Winterabende wurden bei ihr mit Lectüre des Neuesten
verbracht. Wir lasen eben Heine's „Romantische Schule" und kamen
an Zacharias Werner, von dem Heine sagt, daß er den Wienern
von der Kanzel herunter seine alten Sünden erzählte. Frau von K.,
so hieß die alte Dame, legte die Hand aufs Buch und sagte halb
scherzend, halb traurig ernst: „Der frivole Heine, wüßte er, wie
ernst es dem armen Werner um seine öffentlichen Beichten war und
wie gern er jede Gelegenheit ergriff, sich wahrhaft reuig anzuklagen,
er hätte vielleicht in einem andern Tone von meinem geistlichen
Freunde gesprochen."
„Wie, Werner war Ihr Freund, Sie kannten Werner?" fragte
ich überrascht.
„Sie muß das interessiren," antwortete Frau von K., „und ich
will Ihnen bet Gelegenheit erzählen, was ich von diesem sonderbar¬
sten aller Menschen weiß und wie ich seine Bekanntschaft machte."
Ich hielt Frau von K. beim Wort und erinnerte sie an einem
der nächsten Abende, da ich mit ihr allein war, an ihr Versprechen.
Sie begann: „Sie wissen, welche Leiden ich als junge Frau
von einigen zwanzig Jahren kennen lernte. Alles Unglück, daS nur
für dieses Alter und junge Frauen geschaffen zu sein scheint, stürmte
auf mich ein. Ich sah mich umsonst nach einer Stütze um, meine
Seele war gebrochen und ich stand rath- und Hülflos da, mitten in
einem Leben, von dem ich einst ungetrübte Freuden erwartet hatte.
Religiös erzogen, wie ich war, sah ich bald die einzige Hülfe, die
mir werden konnte, nur in der Religion, Ich betete viel, las die
Legenden der Heiligen und war auf dem besten Wege, eine Mysti¬
kerin zu werden. Zur selben Zeit begannen die Predigten Zacharias
Werner's Aufsehen zu machen und die frommen Freundinnen, die
ich bald in großer Zahl gefunden hatte, erzählten mir voll Entzücken
von dem neuen Heiligen, der Balsam für alle Wunden hatte. Mein
gesunder, jugendlicher Sinn, den ich mir trotz der schwärmerischen
Richtung bewahrt hatte, machte mich noch immer mißtrauisch gegen
einen Prediger, von dem fromme Freundinnen so entzückt sprachen.
Doch sah mich schon der nächste Sonntag unter den Zuhörern Wer¬
ner's. Seine Trauerspiele, die ich schon kannte, hatten mich für ihn
eingenommen. Die ätherischen durchsichtigen Gestalten, die fast alle
seine Werke verweichlichen, sind zwar nicht geeignet, ein weibliches
Gemüth zik begeistern; aber die männliche Kraft, die nebenhergeht,
die starken, festen Gestalten von Fleisch mit Blut, die Werner auch
geschaffen, sind geeignet, einer Frau zu imponiren, und sie nimmt
jene schwindsüchtiger Erscheinungen als ein Zeichen eines weichen,
empfindsamen Gemüthes. In seiner Rede fand ich ganz den alten
Werner wieder, nur schien mir, was sonderbar klingt, der katholische
Geistliche kräftiger und männlicher, als der protestantische Laie, der
er doch war, da er seine Trauerspiele schrieb. Seine Predigt war
wie ein dunkler Alpenabgrund. Schwindel ergreift denjenigen, der
htnunterblickte, nichts als schwarze Tiefe und wirres Chaos starrt ihm
entgegen; ein dumpfes Brausen betäubt ihn. Aber je länger er
hinunterbltckt, eine desto schönere Welt entdeckt er: glänzendes Fels-
gestellt, blühende Sträuche, ewig grüne Tannen ringen sich in immer
bestimmteren Umrissen aus dem Dunkel hervor. Im Grunde schäumt
ein Bach und wirft seine leuchtenden Perlen in die Höhe. DaS
dumpfe Brausen wird nach und nach eine einschläfernde Melodie,
aus der man Geisterstimmen zu hören glaubt. Zacharias Werner
sprach mit hinreißenden Feuer oder mit besänftigender Weichheit, und
ich ging aus der Kirche mit der frohen Ueberzeugung, meinen Retter
und Rather gefunden zu haben. Schon nach einigen Wochen, als
ich ihn noch mehrere Male gehört hatte, kniete ich mit dem hinge¬
hendsten Vertrauen in seinen Beichtstuhl. Man erzählt sich in Wien
sonderbare Geschichten von den Bußen, die er seinen Beichtkindern
aufzulegen pflegte. So soll er einmal einer Frau im Beichtstuhle
befohlen haben, Klopsrock's „Messias" von Anfang bis zu Ende
dreimal durchzulesen. Bei mir war es anders: nach Anhörung mei¬
ner Beichte sagte er mit dem sanftesten Tone: Wer Du auch seiest,
»nein Kind, Du bist mehr eine Schwache, denn eine Sünderin; Du
bist mehr hülfs- als bußbednrftig, Du brauchst mehr einen Freund,
als einen Richter; Deine einzige Sünde ist, daß Du nicht an die
Vermittelung der Liebe glaubst, oder nicht an sie denkst. Hast Du
nicht einen Gott, so suche ihn, dann erst kannst Du sündigen, dann
erst kann Dir vergeben werden. Gehe hin, und Gott helfe Dir
Gott finden. Er ertheilte mir den Segen, und ich ging. Niemals
hatte ich den Beichtstuhl so getröstet und so gestärkt verlassen, obwohl
mir mein Beichtiger keine Buße auferlegt halte. Ich kehrte oft wie¬
der und es war mir, wenn ich im Beichtstuhle kniete, als ob ich
neben meinem Freunde säße, mit dem ich mich vertrauungsvoll be¬
spräche, oder harmlos über häusliche Angelegenheiten unterhielte. Bald
kam eS noch anders; mein Beichtiger besuchte mich, und so, wie
Sie jetzt dasitzen, im Fauteuil die Lampe vor uns, so saß er oft des
Abends ein oder zwei Stündchen da, redete mir zu oder sprach von
vergangenen Zeiten, da er noch ein Weltkind war und der eiteln
Lust nachjagte. Es ist mir, als ob ich ihn sähe, wie er des Abends
dort zur Thür hcreintappt und kurzsichtig, wie er war, im Zimmer
hcrumspähte, um Jemand zu entdecken, und wie er oft schon ganz
nahe vor mir stand, ohne mich zu sehen; wie er sich dann verlegen
verbeugte, wenn man ihn anredete und nun er erst entdeckte, vor wem
er stand, lind erschrocken zurückprallte. Dann suchte er wieder einen
Stuhl, befühlte ihn erst ganz, bevor er seinen Hut darauf legte,
dann erst feste er sich, begann das Gespräch leise und schüchtern,
bis er immer lebhafter wurde und sich von der eigenen Rede fort¬
tragen ließ.
Werner war nicht wie ein Beichtvater, sondern wie ein Arzt,
und hatte für jede Natur andere Mittel; etwas, was man gewiß
nicht von demjenigen denkt, den man sich als einen schwärmerischen,
sogar fanatischen Priester vorzustellen gewohnt ist. Was er bald
erkannt hatte, traf ein. Theils verminderten sich meine Leiden; theils
wurde ich durch sie selbst gestärkt und kam bald wieder von dem
weichlich religiösen Wege ab. Darum sagte er einmal zu mir: Sie
sind nicht religiös organisirt („religiös organisirt," war einer
seiner Lieblingsausdrücke); Sie sind mehr philosophisch; aber Sie
werden sich mit der Zeit überzeugen, daß es einen Punkt gibt, wo
Religion und Philosophie zusammenkommen, und einen andern Punkt,
von dem beide ausgehen. Auf diesem letztern werden Sie später
anlangen, als auf dem erstem. Bewahren Sie sich mir, ich flehe
Sie an darum, bewahren Sie sich die göttlichen Formen des Chri¬
stenthums. Was den Gläubigen das Wesen ist, sei Ihnen wenig¬
stens die Form. Glauben Sie an die versöhnende Kraft der Liebe,
so glauben Sie doch auch an Jesum Christum, ebenso sollte Ihnen
Glaube, Liebe und Hoffen, die heilige Dreiheit sein.
Einer Freundin aber drohete er mit allen Höllenqualen und
hielt ihr im Beichtstuhle eine gewaltige feurige Predigt, weil sie nicht
wörtlich glauben wollte, was sie die heilige Schrift lehrte.
Ebenso verschieden war seine Unterhaltung: heute ernst, düster,
morgen weich, sentimental und mystisch; übermorgen heiter, in Erin¬
nerung an vergangene Tage, offen und gesprächig, selbst witzig.
Sprach er ernst, so war seine Rede von Citationen, von Bibelstellen
überfüllt; in heiterer Stimmung besann er sich auch nicht, ein lusti¬
ges Evenement aus seinem eignen Leben, vorzüglich aus der Pariser
Zeit, zu erzählen.
Von den Dichtungen aus seiner frühern Zeit sprach Werner
nicht gerne; er nannte sie weltlich, frivol, sogar sündhaft. Nach
seinen damaligen Ansichten war der 24. Januar dasjenige Stück,
das er allen andern vorzog, und für am wenigsten sündhaft hielt.
Den Mysticismus in seinen religiösen Dramen, z. B. in der belli-
gen Kunigunde, bezeichnete er als eine schwache Ahnung des Lichts,
das ihn später aufgehen sollte, er nannte ihn einen blassen Stern,
einen schwachen Schein in der Nacht seiner Blindheit. Seinem Ge¬
dichte: „Der Verlorne Sohn" legte er einen größern Werth bei, als
allen seinen Trauerspielen. So sehr ordnete sich zu der Zeit sein
ästhetisches Gefühl dem Katholicismus unter, daß er dieses Gedicht,
wo von Schweinen, Träbern, Schweinställen und Schweinekost für Men¬
schen die Rede, allen den Werken vorzog die, man kann es nicht leug¬
nen, Schönheiten enthalten, wie wir sie nur bei Aeschilos, Shak-
speare, Göthe und Schiller finden. Die Dramatiker der damaligen
Zeit haßte, ja verachtete er; nur wenn von einem solchen die Rede
war, sprach er mit Liebe von seinen eignen Stücken, und zählte,
als ob von der Poesie Anderer die Rede wäre, ihre Schönheiten
auf. Grillparzer, der damals auftrat und in Wien schon viele Ver¬
ehrer zählte, soll er beneidet haben, und wie sehr ich gerne nur daS
Beste von Werner erzähle, so kann ich ihn von Neid doch nicht
freisprechen; denn nach mancher Aeußerung, die er bei Gelegenheit
fallen ließ, halte ich selbst den Verdacht für begründet.
Daß Zacharias Werner manchmal sehr guter Laune war, und
sich dann auch des Ernstesten zum Scherze bediente, ja sich selbst
parodirte, beweist folgende Anekdote, die wir einmal mit ihm erleb¬
ten: Mein Sohn, damals zehn Jahr alt, machte mit seinem Lehrer
eine Landpartie in die Brühl. Ein fürchterliches Unwetter überfiel
sie. Ich war in der größten Sorge und lief unruhevoll in dem
Zimmer hin und her, da der Abend herankam, daS Unwetter zu¬
nahm, und mein Jakob mit seinem Lehrer noch immer nicht zurück¬
kehrte. Da kam Werner und suchte mich, aber vergebens, auf jeg¬
liche Weise zu trösten. Endlich spät kamen die sehnlichst Erwarteten
zurück, aber in einem Zustande, den jeder kennt, der einmal eine
solche verunglückte Landpartie mitmachte: durchnäßt bis auf die Haut,
zitternd vor Kälte am ganzen Körper; die Haare trofen, und aus
den Stiefeln floß das Wasser in Strömen. Um einer Erkältung
auszuweichen, gab ich schnell Befehle, frische Wäsche, Kleider, Schuhe
herbeizubringen, und während die Einen den durchnäßten Jungen
auskleideten, die Andern hin und her liefen, um so schnell als mög¬
lich daS Nöthige herbeizuschaffen, stellte sich Werner in die Mitte
der Stube und citirte, ungestört von dem Lärme, der um ihn tobte,
mit lauter Stimme folgende parodirte Stelle aus seinem Verlornen
Sohne:
Da sprach die Mutter (der Vater) zu den Mägde» (Knechten):
„Schnell bringt sein erstes Kleid heran,
Bekleidet ihn, gebt seiner Rechten
Den Ring, zieht Schuh den Füßen an,
Und daß wir stärken den Geschwächten,
schlachtet mein bestes Huhn (Kalb) ihm dann,
Denn todt war er, jetzt lebt mein Sohn
Verloren und ist funden schon.
So lehr' auch ich o Liebe wieder
Und ewig Jesus bleib' ich dein,
Du spreitest um mich dein Gefieder
Und hüllest mütterlich mich ein;
Du warnest meine müden Glieder
Und wiegst mich wie ein Kindelein;
Doch bis ich ganz in dir zerrinn'
Nimm mir die Thräne nur nicht hin!"
Doch dauerte mein Zusammenleben mit Werner kaum ein Jahr;
ich weiß nicht, ob meine immer zunehmende Verweltlichung schuld
daran war, oder ob ihn eine andere Ursache bewog, sich aus mei¬
nem Hause zurück zu ziehen. Seine Besuche wurden immer seltner
und hörten endlich ganz auf. Wie unwahrscheinlich es klingt, es ist
doch gewiß, daß die Gespräche mit Werner vielleicht wider seinen
Willen, mich von dem frömmelnden Wege, den ich betreten hatte,
abbrachten. Freilich mögen auch meine häuslichen Zustande, die sich
damals lichter und freundlicher gestalteten, und meine eigne Natur
viel dazu beigetragen haben. Wie er mir die Dogmen des katholi¬
schen Christenthums mit seiner dichterischen Phantasie deutete, wurden
sie mir immer mehr zum Bilde, zur Form, welche abzustreifen mir
nicht schwer wurde, und der Mystiker machte aus einer orthodoxen
Christin eben blos eine Christin. Später erfuhr ich, daß sich Werner
auch aus den andern Häusern seiner Bekanntschaften zurückzog und
sich blos auf feilte Zelle und seine Bücher beschränkte. Nur durch
die Kanzel und den Beichtstuhl blieb er in Verbindung mit der Welt,
bis ich endlich hörte, daß Werner gestorben. In Erinnerung an
manche schone Stunde, die ich mit ihm verlebt, an manches schöne,
poetische Wort, das ich von ihm gehört, und an die traurigen Tage,
da er mein einziger Vertrauter war, mußte ich ihm manche Thräne
der Freundschaft nachweinen, und ich glaube, ich war nicht die ein¬
zige Frau in Wien, die es that.
Frau von K. legte die Hände in den Schooß und schwieg;
waS sie mir erzählte, habe ich hier nach Jahren so treu als möglich
wieder erzählt, und es ist vielleicht dem Leser nicht uninteressant,
den Dichter Luther's und der Söhne des Thales als Beicht¬
Nach einer nicht allein höchst unangenehmen, sondern auch
gefahrvollen Reise durch die sumpfigen Brüche von Podlachien, welche
sich, ohne irgendwo auf eine größere Strecke unterbrochen zu werden,
vom Flusse Wiepsch (Wie^) bis zum Bugstrome ausbreiten, ge¬
langte ich zur lithauischen Grenze, und zwar in das Städtchen
Wlodawa.
Dürftig, traurig und öde liegt dieses Städtchen, das an den
Begebenheiten der letzten polnischen Revolution zu einiger Bedeutung
gelangt ist, in der flachen Gegend. Der polnische Lcmdcscharakter
prägt sich deutlich auf ihm ab, noch viel deutlicher aber der Charakter
der neuesten polnischen Geschichtsperiode.
Russische Soldaten, vornehmlich Kosaken, welche zu Bewachung
der Grenze hier liegen, treiben sich, meist betrunken, auf den breiten
Straßen umher, deren Häuser nur mit sehr wenigen Ausnahmen
Hütten sind, und zwar Hütten, welche bis auf Heerd und Schorn¬
stein aus nichts anderem als Holz bestehen.
An allen Ecken und Enden wimmelt es von Juden, die sich
nach ihrer hiesigen Weise, in geschäftigem Müßiggange, der beim
Zufall Gewinn sucht, umherdrehen.
Mit den russischen Soldaten scheinen diese Juden sehr befreun¬
det; sowie jene mit ihnen. Hier sieht man Soldaten, mitten in
Haufen von Juden heimliche Gespräche führen, deren Inhalt natür¬
lich für beide Sorten von Menschen ein gemeinschaftliches Interesse
besitzt; dort sieht man Juden mit den tölpischen Soldaten halbscher¬
zend sich balgen und herumzerren; dort sich ,Arm über Genil, füh¬
ren; wo anders sich küssen und geschäftig schwatzen.
Diese Freundschaft kann natürlich nur von einer Gemeinschaft in
irgend einer Beziehung herrühren, und eine solche Gemeinschaft ist
allerdings vorhanden, nämlich eine im Erwerbsgeschäft.
Der Soldat, blutarm, denn mehr giebt ihm sein reicher Kaiser
nicht, als täglich drei leichte Pfennige, und zwar diese nur alle vier
Monate zu einem Silberrubel gesammelt, ist zum Stehlen gezwun¬
gen, um seinem Leibe die nöthige Nahrung und seinem branntwein¬
süchtigen Gaumen den nöthigen Genuß zu verschaffen. Größerer
Gefahrlosigkeit wegen stiehlt er jenseit der Grenze, in den lithauischen
und volhynischen Dörfern und kleinen Städten. Die Kleidungsstücke
und andere Geräthe, die er aus den Häusern, Kühe, Ochsen, Pferde,
die er von der Weide und Anderes, was er irgendwo hinweggerafft
hat, verkauft er an die wlodawacr Juden, die die Gegenstände,
unkenntlich gemacht, nicht selten wieder an die Orte, wo sie gestoh¬
len sind, zum Verkauf bringen, und zu dem gewöhnlichen Preise
absetzen, der natürlich zwei bis drei Mal höher ist, als der, zu
welchem sie die Gegenstände von dem militärischen Diebe angekauft
haben.
So stehen die Juden hier, die, um dies beiher zu erwähnen,
in der tiefsten Klasse der Judenschaft stehen und mit den deutschen
wohl kaum in irgend einer Beziehung in Vergleich gebracht werden
können, mit dem russischen Soldaten in einem Gemeingeschäst, und
dieses hat die enge Freundschaft erzeugt, die der Fremde, welcher die
Motive nicht kennt, zu bewundern sich veranlaßt fühlen könnte.
Jemehr man russische Soldaten und Juden auf den Straßen
von Wlodawa sieht, um desto weniger Polen sieht man darauf.
Dennoch bilden diese die bei Weitem größere Hälfte der Einwohner¬
schaft des Ortes. Zwei Ursachen liegen zu Grunde. Erstens kom¬
men die Polen, wie tiefen Standes sie immer auch sein mögen, nie
gern mit jenen beiden Menschenarten, nämlich russischen Soldaten
und Juden zusammen, und meiden daher die Straßen, zweitens sind
sie durch ihre Beschäftigung von der Straße verwiesen. Die Polen
bilden die eigentliche Bürgerschaft und den producirenden Theil der
Einwohnerschaft; Soldaten und Juden den consumirenden. Diese
haben Zeit die Straßen durch ihre müßig gehenden Personen zu
beleben; die polnischen Einwohner dagegen, theils Grundeigentümer,
theils Handwerker, sind an Feld und Werkstatt gebunden.'
Sämmtliche drei Klassen der Bewohnerschaft Wlodawas befinden
sich nicht in angenehmem Zustande; im schlimmsten äußerlichen jeden¬
falls die russischen Soldaten, denn, wie eifrig sie auch ihr Stehlen
betreiben, so kann es doch nicht solcher Art sei», daß es sie fort¬
während von Nahrungsnoth frei hielte; im schlimmsten innerlichen
aber die Polen, denn, wie tief auch die Volksklasse stehet, in welche
diese polnischen Einwohner Wlodawa's gezählt werden müssen, so
stehet sie doch immer so hoch, daß sie in vollem Maße die Schmach
ihres Vaterlandes empfindet. Dieses Zustandsverhältniß eristirt aber
nicht bloß in dem Städtchen Wlodawa, sondern in allen Städten deS
Königreichs.
Vor der Revolution, wurde mir erzählt, sei Wlodawa vom
polnischen, lithauischen und volhynischen Adel sehr besucht gewesen,
und derselbe habe zu gewissen Zeiten regelmäßige Zusammenkünfte
in der Stadt gehalten, die derselben einen gewissen Wohlstand ver¬
liehen haben. Der Wunsch einer Wiedervereinigung der von Ru߬
land auf so schandhafte Weise abgerissenen altpolnischen Provinzen
mit dem Königreiche, ist die Veranlassung zu jenen Zusammenkünften
gewesen. Wlodawa liegt gerade da, wo die lithauisch-volhynische
Grenze auf die des Königreichs trifft, und hatte somit dem Adel
der drei polnischen Landestheile den passendsten Versammlungsort ge¬
boten. Hier hatten sich die Edlen vereint, um sich gegenseitig ihren
gemeinsamen Wunsch mitzutheilen, zu berathen über die Dinge der
Zukunft und gegenseitig ihre patriotische Hoffnung zu nähren.
Gegenwärtig sieht aber Wlodawa keinen Edelmann mehr, oder
höchstens nur einen schnell durchreisenden; das unselige Geschick hat
der großen polnischen Hoffnung das warme Leben genommen, und
so ist auch jener sehnsuchtsvolle Wunsch erstarret, der die Polen der
verschiedenen von einander gerissenen Landestheile mit Bruderliebe
um so mehr erfüllte, jemehr von der Vereinigung die Rettung Aller
abzuhängen schien. Jetzt, in der schmählichen, ehrekränkenden Knecht-
schast, unter dem peinlichen Drucke, den Rußland ausübt, denkt der
Pole jedes Landestheiles nur ein sich. Der des Königreiches seufzet
nur nach der Befreiung des Königreiches, der Lithauens nur nach
der Befreiung Lithauens, der Volhyniens nur nach der Befreiung
dessen, und so ist der Drang nach Versammlungen, die am Ende
doch kaum vorläufig mehr ein anderes Resultat haben könnten, als
gegenseitige Deutung und Beklagung der gemeinschaftlichen Thräne,
nicht mehr vorhanden.
Todt und unfreundlich, wie gegenwärtig die Stadt, ist die Um¬
gegend derselben. Dürre sandige Feldflächen, kiendunstige finstere
Tannenwäldelchen und Schilfgebüsch, hervorragend aus morastigen
Erdvertiefungen, sind die Gegenstände, welche der Gegend die Phy¬
siognomie geben. Nahe von der Stadt ab breitet sich nach Süd. ein
kleiner See aus. Eine halbe Stunde von der Stadt entfernt nach
Ost fließt der Bugstrom mit seinem finsteren fettigen Wasser zwischen
niedrigen, morastigen Waldufern. Hier und da ragen dicke Baum¬
stämme oder riesige Aeste, welche Stürme in den Strom geschleudert,
und die sich in die Sohle des Bettes eingewühlt haben, über den
Wasserspiegel empor. Dieselben sind zum Theil eisenfest und scheinen
versteinert, zum Theil sind dieselben von der Fäulniß angegriffen,
je nachdem eben die Holzart ist, und im Wasser chemisch procedirt.
Eine lebensgefährliche, eigenthümlich gebaute Fähre fährt auf
dem der Stadt zunächst gelegenen Punkte des Stromes auf lithauisches
und volhynisches Gebiet über, denn die lithauisch-volhynische Grenze
stößt, gerade auf dem Punkte, wo sich die Fähre befindet, auf die
Grenze des Königreiches, nämlich den Bugstrom.
Sobald ich in Wlodawa angelangt war und die nöthigen Ge¬
schäfte auf der Pvsterpedition, die sich in einem elenden, aber we¬
nigstens sehr reinlich gehaltenen Hüttchen befand, besorgt hatte, begab
ich mich in das Gasthaus. Dasselbe, ein niedriges sehr langes Erd¬
geschoßgebäude von Holz, vereiniget nach Landessitte unter seinen
vier Bohlenwänden und seinem hohen Schindeldache, zum Theil ohne
Wandscheivungen sämmtliche Localitäten, nämlich Kuh- und Pferde¬
stall, Wagenremise, Futterboden und das Gastzimmer, welches zugleich
die Wohnung des Wirthes ist.
Nachdem ich einige Aufträge an den Hausknecht, der, wie eS
in Polen gewöhnlich, den Titel Wächter (8tru?') führte, und zwar
wohl mit voller Befugniß, denn seine Hauptfunction war ohne Frage,
das Haus oder dessen Inhalt vor Dieben zu schützen, und zwar
umsomehr, als sich solcher sehr viele im Ort befinden, lediglich in
den kaiserlichen Uniformen; als ich also meine Aufträge an den Haus¬
knecht gegeben, begab ich mich in das Gastlocal, ein großes, nur
weiß gekalktes, und ziemlich verrauchtes Zimmer, von dessen Decke
herab in der einen Ecke einige geräucherte Fleischwaaren hingen.
Ob der Wirth ein Jude war, wie es gewöhnlich in Polen der
Fall ist, habe ich nicht erfahren, da ich weder ihn noch die Wirthin
zu sehen bekommen habe. Vor einem dicht bei der Stubenthür be¬
findlichen riesigen Heerde befanden sich, mit Kochen und Vorbereiten
zum Kochen beschäftiget, zwei junge Mädchen, welche Tracht und
Physiognomie augenblicklich als Christinnen legitimirten.
Außer denen war in der Stube nur eine Mannsperson in christ¬
licher — wenn ich mich so ausdrücken darf — Tracht. Der Mann
achtete nicht auf mich und führte sein Gespräch mit den beiden Mäd¬
chen fort. Daß derselbe ein Einheimischer war, ließ sich augenblicklich
erkennen, daß er Pole war, erkannte ich sehr bald an seiner sehr
fehlerhaften polnischen Sprache, die bisweilen deutsche Constructionen
und in manchen Worten den lithauischen Dialect annahm. Wer das
jetzige Polen kennt, hätte sehr schnell erkennen müssen, daß dieser
Mann weder ein Deutscher, noch ein Pole, noch ein Lithauer, noch
ein Russe war, doch unbeschadet seiner besonderen Nationalität, ein
solcher oder solcher sein konnte.
Nach einiger Zeit trat dieser Mann an das kleine Fenster und
blickte eine geraume Weile auf die Straße. Plötzlich wendete er sich
vom Fenster hinweg, trat mit taumelndem Gange zu den beiden
Mädchen, und erklärte, der Branntwein trete ihm jetzt sehr in den
Kopf, er wolle sich eine Stunde schlafen legen. Darauf kroch er
hinter eine häßliche spanische Wand, welche wahrscheinlich ein Bett
oder anderes Lagergeräth verbarg.
Sogleich »ach dieser Scene trat ein starker, ziemlich hochgewach¬
sener Mann von mitteln Alter ein. Daß derselbe ein sehr heiteres,
launiges Wesen sei, bekundete er gleich beim Eintritt durch die eigen¬
thümliche Begrüßung der beiden geschäftigen Mädchen, die ihn seit
länger zu kennen schienen. Er knüpfte augenblicklich mit mir ein Ge¬
spräch an, in welchem er scherzend bekannte, daß er seit der pol¬
nischen Revolution die Deutschen nicht mehr liebe, und zwar dies
besonders darum, weil ein deutscher im russischen Heere dienender Fürst
beim Ausbruch der Revolution, indem er abgelehnt auf Seite der Polen
zu treten, das Ehrenwort, nicht gegen sie zu agiren, gegeben, aber
nicht bloß nicht gehalten, sondern auf gräuliche Weise nicht gehalten
habe, denn er habe mit seinem russischen Regimente selbst das Stamm¬
schloß seiner leiblichen Großmutter, der edeln alten Fürstin Tschartorviski
((^-n-to^iM) angegriffen, diese seine leibliche Großmutter von ihrem
Schloß zu fliehen gezwungen, und in der Stadt Pulawy, dem Be-
sitzthum der Fürstin, die widerlichsten Greuel an der Einwohnerschaft
durch seine Soldaten geschehen lassen. Der heitere Mann bekannte
aber sehr offenherzig dabei, daß er selbst ein Deutscher sei, jedoch ein
äußerst schlechter, denn er spreche nicht einmal gern deutsch, weil es
ihm in Folge der Abgewöhnung schwerer werde, als polnisch. Dieser
spaßhafte sonderbare Mann war seit mehren Jahren als Getreide¬
händler und Speculant in Allerlei in Wlodawa ansässig.
Ich hatte mich vielleicht länger als eine Stunde mit demselben
unterhalten, als ein neuer Gast, der zu Wagen aus einem nahen
volhynischeu Orte angelangt war, in das Zimmer trat. Derselbe war
ein katholischer Landgeistlicher; wenigstens hörte ich ihn von dem Ge¬
treidehändler, der ihn kannte, ?i-l>j>c>8?ez (Propst) genannt werden.
Nachdem der Geistliche mit dem Getreidehändler sich begrüßt
und zum Gruß mit ihm ein Glas Goldwasser (Branntwein, in wel¬
chem Goldstäubchen schwimmen; das gebräuchlichste der feineren
Branntweingctränke in Polen) ausgetrunken, trat er zurück in die
Thür und rief nach seinem Fuhrknecht, der alsbald eintrat, aus einem
Sacke ein geschlachtetes Ferkel zog und es den beiden Mädchen über¬
gab, die es sodann an einen Bratspieß befestigten und für den Geist
lichen zum Mahle zuzubereiten begannen.
Der Geistliche, der Getreidehändler und ich saßen an dem ein¬
zigen Tische des Zimmers bei einander. Dem Geistlichen lag etwas
auf dem Herzen, was er gern seinem Bekannten mitgetheilt hätte,
aber meiner Nähe wegen nicht mitzutheilen wagte. Er ließ sich diese
besorgliche Rücksicht so merken, daß der Getreidehändler, gleichsam
von freien Stücken, erklärte, ich sei ein Deutscher und dazu ein flüch¬
tig durchreisender, also eine ganz unverdächtige Person. Jetzt verstand
ich erst des Geistlichen Verlegenheit und erhob mich sogleich, um
mich zu entfernen; doch jetzt bat mich der Geistliche selbst, zubleiben.
„Eine neue himmelschreiende Neuigkeit," sprach derselbe halblaut,
griff in die Tasche und zog eine Medaille heraus, die er mit einem
bitteren verachtungsvollen Lächeln zeigte. „Mit Liebe hat Rußland
nun also seine politischen Zwecke zu erreichen gelernt; d. h- es hält
die Piken seiner Kosaken und die Wüsten Sibiriens für Instrumente
der Liebe," sprach der Propst während des Vorzeigcns der Medaille,
welche auf der einen Seite die Worte führte: „Mit Gewalt ent¬
rissen; durch Liebe vereint."
Diese Medaille, geprägt im Jahre 1839, bezog sich auf ein
Ereigniß, oder um treffender zu bezeichnen, auf eine russische That,
von welcher in Deutschland nur Weniges, und auch das selbst sehr
entstellt, nämlich nach der bekannten russischen Manier gefärbt, be¬
kannt geworden ist. Dieses Ereigniß ist die Ausrottung der unirten
Kirche in den im vorigen Jahrhundert von Polen abgerissenen Län¬
dern Lithauen, Podolien, Nolhvnien und der Ukraine.
Zur Zeit der Regierung Stephan Batoris im sechszehnten Jahr¬
hunderte hatte sich bekanntlich an vielen Orten Rußlands, aber
namentlich in Lithauen, aus der Gemeinschaft der griechischen Ka¬
tholiken eine Schaar ausgesondert, welche eine Annäherung an die
römischen Katholiken, in der Hoffnung, eine Vereinigung beider
Kirchen, die natürlich nie zu Stande kommen konnte, zu bewirken
wünschte. Diese bildete die unirte Kirche, welche sich in vielen Ge¬
bräuchen und Lehrsätzen, besonders aber durch Anerkennung des
Papstes von der griechischen Kirche, welche die Staatskirche Ru߬
lands ist, von der römisch katholischen aber dadurch unterscheidet,
daß sie ihren Gottesdienst nicht in lateinischer, sondern der Landes¬
sprache hält.
Anfangs betrachtete die griechische Kirche Rußlands die unirte
Kirche als ihr zugehörig, und ließ Befehle über sie ergehen. Da
diese Befehle zurückgewiesen wurden, versuchte die griechische Kirche
auf mannigfache Weise die unirten Gemeinden zum Rücktritt in sie
zu bewegen. Da ihr aber auch dies nicht gelang, ließ sie die unirte
Kirche ganz außer Acht, so daß diese um ganz selbstständig da¬
stand.
So hat dieselbe unangefochten durch drei Jahrhunderte gedauert
und durfte bei Betrachtung des bei vielen Völkern bestätigten Satzes,
daß mit dem Steigen der Civilisation die Duldsamkeit im Bereiche
des Glaubens wachse, wohl der frohen Hoffnung hingegeben werden,
daß sie ewig dauern werde. Allein die frohe Hoffnung wurde der
unirtm Kirche zur Betrügerin; Rußland war nicht ein Reich, bei
welchem jener Satz hätte Bestätigung finden können. In diesem, dem
neunzehnten Jahrhunderte, nachdem es die unirte Kirche drei Jahr¬
hunderte hindurch unbeeinträchtigt gelassen, unter des freisinnig und
hochmoralisch gerühmten Kaiser Aleranvers Negierung begann es die
Ausrottung dieser Kirche, und zwar zuvorderst in seinem Urgebiete.
Die Gewaltthätigkeiten, welche eS dabei anwendete, würden um ihrer
Eigenthümlichkeit und Vielfältigkeit willen einer umfangreicheren Be¬
schreibung bedürfen, als sie hier angemessen sein kann.
Im Jahre 1824 war im Innern Rußlands das russische Werk
vollendet, alle dortigen unirten Gemeinden waren in die orthodore,
griechisch-russische Kirche zurückgezwuugcn und somit dort die unirte
Kirche gänzlich vernichtet. Jetzt fing Rußland dasselbe Werk in den
von Polen abgerissenen Ländern, Lithauen, Podolien, Volhynien und
der Ukraine an. Zuvörderst wurden die Bischöfe der unirten Kirche
dieser Lande nach Petersburg berufen, und daselbst von der höchsten
Staatsbehörde aufgefordert, in die griechische Kirche zurückzukehren
und zu demselben Schritte ihre Gemeinden zu vermögen. Lange wei¬
gerten sich die Bischöfe in irgend einer Hinsicht etwas zuzusagen; als
sie nach schwerer Bedrohung aber endlich ernstlich ihre Freiheit, ja
noch mehr in Gefahr sahen, entschlossen sie sich, dem Befehle wenig¬
stens so weit zu gehorchen, als er ausschließlich ihre Personen traf.
Die russische Staatsbehörde begnügte sich mit dem Erlangten,
da sie daran so viel besaß, daß sie nun unter einer Art von Recht
die niedrige Geistlichkeit und die Gemeinden in die griechische Kirche
zwingen konnte. Die Bischöfe, erklärte sie, haben erkannt, daß die
russische Kirche die einzig rechte und allein zum ewigen Heil führende
sei, und seien in diejelbe freiwillig eingekehrt; da nun die Bischöfe
die Klügsten, die Erleuchtesten seien, so können unbedacht alle Unirten
deren Beispiele folgen, ja und um der Seelen willen fühle sie sich
berufen, dies zu fordern.
Die niedere Geistlichkeit und die Gemeinden der unirten Kirche
hatten aber bereits erfahren, welcher Art die „Freiwilligkeit" deS
Nückübertrittes ihrer Bischöfe war, und weigerten sich entschieden, der
Forderung der russischen Behörde Genüge zu leisten, frei erklärend,
daß ihr Gewissen ihnen den Uebertritt und in diesem die Verscher¬
zung ihres Seelenheiles verbiete.
Jetzt glaubte die Behörde, nicht mehr zögern zu brauchen, for¬
derte von der Geistlichkeit schriftliche Zusagen auf ihre Forderungen
und ließ diese einholen durch bewaffnete Kosaken, welche für Weige¬
rungsfalle die Vollmacht zu Gcwaltnahme hatten.
Wie groß der Widerwille der Geistlichen vor dem geforderten
Uebertritte und dabei wie barbarisch die russischen Zwangsmittel wa¬
ren, davon gibt ein Ereigniß Beweis, welches der Geistliche in dem
Gasthause zu Wlodawa in Erwähnung brachte. Dieses Ereigniß
besteht darin, daß ein Pope der unirten Kirche in Lithauen, als er
das gefürchtete Glöckchen der russischen Ertrapost nahen hörte, sich
in sein Zimmer einschloß, da seine Bücher und Bibeln auf einen
Haufen warf und sich darauf, und den Haufen unter sich anzündete,
so daß die Russen statt seiner einen halbverbrannten todten Märty¬
rer fanden, dessen Uebertritt in ihre Kirche sie nicht erzwingen konnten.
Viel weniger. Widerstreben fand die russische Behörde bei dem
Volke, den Laien, diesen schüchternen ungebildeten Sklaven, und noch
viel weniger Umstände machte sie mir denselben. Die Gemeinden wurden
von bewaffneten Kosakenabtheilungen zusammen und in die von der
Behörde selbst eiligst russisch-griechisch eingerichteten Kirchen getrieben,
und so waren auch diese, nach russischer Sprache, freiwillig in
die alleinseligkeitgebende russische Staatskirche übergetreten.
Vor acht Jahren war die russische Behörde mit diesem religiös¬
politischen Werke in Lithauen, Volhvnien, Podolien und der Ukraine
fertig, was sie durch eine mit der Farbe der Religiosität und Moral
dick überstrichene Bekanntmachung bekundete, in welcher sie sagte:
„Die höhere Geistlichkeit der Unirten habe, die Wahrheit erkennend,
um den Rücktritt in die griechisch-russische Kirche gebeten, die
niedere und die Laiengemeinschaften seien zu demselben veranlaßt
worden."
Darauf im Jahre 1839 ließ nun die Behörde jene Medaillen
prägen, von denen der Geistliche in dem Gasthause zu Wlodawa
eine besaß und vorzeigte. Dieselben erschienen wie das Denkmal
für ein herrliches, rühmenswertheö Werk; waren aber natürlich nichts
als eine täuschende Decke für die häßliche Handlungsweise, eines
von jenen Mitteln, die man nur bei den Jesuiten im Gebrauche
wähnt.
Die im civilisirten Europa fast unbegreiflich freche Verhöhnung
der klarsten Wahrheit durch die Inschrift- „Mit Gewalt entrissen;
durch Liebe vereint," empörte den Geistlichen im Gasthause trotzdem,
daß er durch manche Erfahrungen schon mit der russischen Weise
vertraut war, so daß er seinen Widerwillen kaum in Worten erschöpfen
konnte. „Wer hat denn wohl die Unirten vor drei Jahrhunderten
mit Gewalt aus der griechischen Kirche gedrängt? und — mit Liebe
also sind sie wieder hineingebracht worden?" stöhnte er während der
Rede aller Augenblicke halb laut — denn in Polen wagt man nicht
laut über Dinge zu sprechen,, welche die Behörde berühren.
Der Getreidehändler drehete lange, unter Lachen allerlei höh¬
nende Bemerkungen hinwerfend, die Medaille betrachtend zwischen
den Fingern um und reichte sie dann plötzlich nach dem einen der
am großen Heerde beschäftigten Mädchen mit den Worten hin: „Du,
ich null Dir den Orden schenken, hänge ihn Dir zur Ehre unseres
lieben Rußlands auf den....."
Der Geistliche stand erschrocken vom Stuhle auf, riß die Me¬
daille dem Getreidehändlcr aus der Hand und steckte sie in die Tasche.
„Nun, wäre denn das nicht eben die rechte Ehre für das Bet¬
telding?" meinte der Getreidehändler und fuhr in der ihm eigenen
höhnisch scherzhaften Weise mit sehr heftiger Stimme fort: „„Triumph,
Triumph!" hätten sie auf die Dinger prägen lassen sollen, dann
ließe sich nichts sagen; aber es ist wahr, unsere lieben Nüssen sind
ein Schandvolk, ein wahres Schandvolk sind sie die Russen."
Kaum hatte er diese Worte gesprochen, so trat hinter der spa¬
nischen Wand jener oben erwähnte Mann mit den Worten hervor:
„Herr Sie wissen, was Sie jetzt gesagt haben. — Und Sie sind
Zeugen," sprach er darauf zu dem Geistlichen und mir.
Der Getreidehändler brach darauf in ein gewaltiges Gelächter
aus und rief dem russischen Spione, der sogleich die Stube verlassen
wollte, die Worte nach: „Du verfluchter Kerl, komm her, ich werde
Dir noch mehr dazu sagen."
Der Spion kehrte um mit der Erklärung: das sei ihm eben
recht, Herr möge vollends noch heraus räsonniren, was er auf
dem Herzen habe. Der Getreidehändler räsonnirte indeß nicht Wei¬
ler, sondern forderte nur in seiner gewöhnlichen schäkernden Weise
den Spion auf, mit in sein Haus zu kommen, wo er ihm eine ge-
winngcbende Mittheilung zu machen habe. Die Neugierde und das
Gelüst nach Geldgewinn wurden ziemlich schnell Sieger über die
furchtsame Bedenklichkeit des Spions. Der Spion ging mit in das
Haus des Getreidehändlers. Desgleichen der katholische Geistliche
und ich in Folge stattgehabter Einladung.
Als wir uns in dem nett und deutsch eingerichteten Wohnzim¬
mer des Getreidehändlers befanden, ließ dieser ein Paar Flaschen
Ungarwein auftragen und schloß den Spion nicht von dem Genusse
dieses ganz vortrefflichen Trankes aus. Nach einer sehr geraumen
Zeit, in welcher auf Antrieb unseres Wirthes über nichts als den
vorhandenen Wein gesprochen wurde, frug dieser, nämlich der Wirth,
den Spion, was er denn nun eigentlich zu thun gedenke.
Der Spion, obschon etwas ängstlich, erklärte, daß es seine
Pflicht sei und in seinem Vortheil liege, Anzeige von dem, was er
vernommen, an den Herrn Capitän (ein Kosakencapitän, der als
Distriktsgubernator fungirte) zu erstatten.
„Schurke infamer," sprach der Getreidehändler, „ich weiß es,
Du hast mir lange Zeit schon auf meinen Mund begierig aufgepaßt
und ich bin überzeugt, Du hast gewußt, daß ich in die Obersche
(OKer/it; .^uborAv) komme, denn sonst hättest Du Dich nicht hinter
den Vorhang versteckt gehabt; allein, ich mache Dir ein ziemlich vor¬
theilhaftes Anerbieten: Du kannst mir meine Getreide- und Holzauf¬
käufe in den nächsten Distrikten von Volhynien besorgen. Ich gebe
vom Korschez (Scheffel) Getreide zehn polnische Groschen und vom
Holz ein Gesammtdonccur nach der Zahl der mehr als dreiviertel-
elligen Stämme berechnet. Du dienst der russischen Regierung als
Spürgenie um dreißig Gulden monatlich; bei mir wirst Du es, je
nachdem die Zeit für den Handel, auf sechzig bis hundert bringen,
und kannst dabei Deinen kaiserlich russischen Dienst noch fortbehal¬
ten; also--"
Der Spion erklärte freudig unter tausend Verbeugungen und
vielmal wiederholter Betheuerung seiner musterhaften Rech'ischaffenhcit
und Geschicklichkeit seine Bereitwilligkeit zur Annahme des Anerbie¬
tens und erhielt darauf mit einigen Briefen Aufträge, zu deren Voll¬
zug er sich sogleich anschickte. Als er das Zimmer verlassen hatte,
erzählte der Getreidehändler, daß er einen anderen Spion bereits seit
mehreren Jahren in seinein Geschäft habe. „Man muß diese Kerle
an sich ziehen, wenn man von ihnen nicht will vor das gefährliche
Forum der russischen Polizei gezogen werden," meinte er.
Der Fall, daß Spione der russischen Regierung im Geschäft
oder der Freundschaft von Privatpersonen stehen, findet sich ziemlich
häufig. Fast durchgängig sind diese Privatpersonen Deutsche. Der
Pole ist zu stolz, um mit russischen Spionen in freundschaftliche Be¬
rührung kommen zu mögen. Uebrigens haben es die Deutschen in
Polen auch weit mehr als die Polen nöthig, sich vor den russischen
Spionen eine künstliche Sicherheit zu bereiten, denn in ihrer deutschen
Zunge lebt allzuviel natürlicher Heroismus. Der Pole ist verus^
gerd, im Herzen das Gewaltigste zu tragen, die schwersten Thaten
vorzubereiten und dabei eine starre, rührungSlvse Zunge zu behalten.
Der Deutsche aber kann seine Zunge nie befestigen. Die That über¬
läßt er gewöhnlich dem Schöpfer des Weltalls, aber mit der Zunge
muß er nun einmal gewaltig sein, und diese Eigenthümlichkeit wird
ihm im Königreich Polen oft sehr gefährlich, wenn er die Gefahr
nicht wie der Getreidehändler in Wlodawa oder in ähnlicher Weise
zu beseitigen versteht.
In Ludim lernte ich einen deutschen Weinhändler kennen, an
dessen Tische häufig ein russischer Spion speiste. Er erklärte mir, er
sei seiner Sicherheit wegen gezwungen, mit diesem Kerle eine gewisse
Art von Freundschaft zu pflegen. Derselbe sei der gefährlichste Spion
der Stadt, weil er bei dem Gubernator seiner eminenten Localkennt-
niß wegen in besonders großem Ansehen stehe. Bei jeder Untersu¬
chung werde er zur Sprache gezogen und seiner Allssage eine förm¬
liche Untrüglichkeit beigemessen. Dem guten Vernehmen mit diesem
Kerle habe er eS zu danken, daß er durch mehrere schlimme Ver¬
wickelungen mit der russischen Behörde glücklich davon gekommen sei.
Es wurde vor Kurzem der Wiener Theaterzeitung in diesen
Blattern erwähnt; dieß bringt mich auf die Veränderungen, die die¬
sem hier vielverbreiteten Journal in der nächsten Zukunft bevorstehen
dürften. Wie ich schon früher berichtet, haben die finanziellen Zu¬
stände der Zeitung eine so schlimme Wendung genommen, daß ohne
die kräftigste Unterstützung mit fremden Geldmitteln an keine Fort¬
führung des beinahe 4U Jahre bestehenden Institutes möglich ist.
Diese ist schon in früheren ähnlichen Fällen versucht worden; und be¬
sonders haben die beiden reichen Schriftsteller Jeitteles und Langer
sehr viel für die Erhaltung des Blattes gethan, ohne daß jedoch dem
Uebel auf die Dauer zu steuern gewesen wäre. Nun soll Herr Vauerle
entschlossen sein, die Concession zu verkaufen, und es fehlt begreifli¬
cher Weise nicht an Kauflustigen, denn dieses Journal ist bekanntlich
eine wahre Goldgrube und wirst noch jetzt trotz der Concurrenz der
Leipziger illustrirten Zeitung jährlich eine Rente von 20M9 Gulden
Gewinn ab. Allein Bauerle verlangt nicht weniger als — 3W,W0
Gulden C.-M., und zu diesem Kaufschilling will sich natürlich bei der
precären Lage einer Zeitschrift in Oesterreich Niemand verstehen. An¬
fangs war der Buchdrucker Sollinger, in dessen Offizin die Theater¬
zeitung seit Jahren gedruckt, und der eine Forderung von 5i4,l)W
Gulden an sie hat, zum Kaufe erbötig, und jetzt, hört man, soll die
Verlagshandlung der illustrirten Zeitung in Leipzig in Unterhandlungen
getreten sein, um das Recht des Herausgebers an sich zu bringen.
Gelingt es Herrn Weber in Leipzig, die Concession der genannten
Zeitung unter annehmbaren Bedingungen zu erwerben, so lassen sich
die mercantilen Vortheile, welche ihm daraus erwachsen würden, kaum
im Voraus berechnen, denn er kann sodann hier eine den gilrigcn
Censurgesetzen Oestreichs entsprechende Herausgabe seiner illustrirten
Zeitung veranstalten, die ihm das belletristische Monopol in der ge-
sammten Monarchie sichert, während er in Sachsen eine andere für
deutsche Zustände berechnete Auslage mit größerer Rücksicht auf die poli¬
tischen Interessen der Gegenwart besorgen kann, die ihn in Deutschland
von dem bisher häufig vorgebrachten Vorwurf der Sasaniden und Farb-
losigkeit sicher stellen, und dem Unternehmen gewiß förderlich sein würde.
Kaum hat sich die musikalische Welt von dem Festvergnügen der
Beethovenfeier in Bonn erholt, und die vielfältigen Tiraden gehörig
verdaut, welche bei dieser Gelegenheit von unsern schreibseligen Jour¬
nalisten zu Markte gebracht wurden, so taucht auch schon wieder eine
Entdeckung auf, welche in kurzer Frist mit einer neuen Todtenfeier zu
drohen scheint. Ein junger Buchhändler, der den Friedhof von Matz¬
leinsdorf nahe an der Stadt besuchte, entdeckte durch Zufall die Grab¬
stätte des berühmten Komponisten Gluck, der bekanntlich, nachdem er
in Frankreich den Zenith der Berühmtheit erstiegen, in Wien lebte
und auch starb! Bisher wußte Niemand, wie von Mozart, den Gra-
beshügel anzugeben, unter dem die Gebeine des unsterblichen Mei¬
sters ruhen, bis vor einigen Wochen die Stelle aufgefunden ward,
wo die sterblichen Neste des Tondichters modern, dessen Musikwerke
einst zur Verherrlichung der üppigen Hoffeste dienten, welche Kaiser
Karl VI. auf seinem Schlosse Favorite zu geben pflegte. Rechts vom
Eingang, gedrückt von der Pracht eines freihcrrlichcn Mausoleums ist
sein ärmliches Grab; eine kleine Marmortafel, in die Mauer einge¬
fügt, halb versteckt unter Gras und Epheu,« trägt den Namen des
berühmten Todten; kaum ist die Inschrift zu entziffern, so ist Alles
beschmutzt und zerstört. Die Inschrift lautet wörtlich: Hier ruht ein
rechtschaffener, deutscher Mann, ein eifriger Christ und treuer Gatte,
Christoph Ritter Von Gluck, der erhabenen Tonkunst großer Meister.
Er starb am 15. November 1787. — In einem Jahrhundert, das
allen Berühmtheiten verschollener Zeiten die kostbarsten Denkmä¬
ler errichtet, wird man wohl auch nicht zaudern, dem Namen des
großen Meisters zu huldigen; keine prunkende Denksäule verlangen wir,
die Tausende kostet, nur einen einfachen, bescheidenen Stein für das
bescheidene Grab im Matzleinsdorftr Kirchhofe, damit der Verehrer der
Muse nicht achtlos den Boden betrete, der durch die Nähe des Ge¬
nius geweiht ist. Der Redacteur der Sonntagsblätter, L. A. Frank!
hat bereits eine Subscription eingeleitet', welche einen gedeihlichen
Fortgang nimmt, und ohne Zweifel in wenig Monden die Kosten
eines angemessenen Grabsteines decken wird.
Dem Violinisten Ernst, der jetzt in seiner Vaterstadt Brünn ver¬
weilt, ist von Seiten des reichen Amerikaners Dordle der Antrag ge¬
macht worden, nach der neuen Welt einen Ausflug zu unternehmen,
wogegen er ihm bei einem Aufenthalt von drei bis vier Monaten einen
Gewinn von 106M0 Dollars zusichert. Es scheint kein Zweifel,
daß der Virtuose diesem verlockenden Antrage baldigst folgen wird.
Die Virtuosen und die Börsenlcute sind heutzutage die Einzigen, welche
üker Nacht reich werden können.
Man erinnert sich wohl noch der fatalen Brunnengeschichte, die
im verflossenen Jahr so viel böses Blut machte in den hiesigen Künst-
lerkreiscn, und so viel Lärm in der Journalistik. Der Bürgermeister
beschwichtigte damals die aufgeregten Gemüther unserer Bildhauer
durch den Plan, auf dem Stephansplatzc zwei prachtvolle Brunnen
zu errichten, welche blos vaterländischen Künstlern übertragen werden
sollten, und die man mit den Standbildern der beiden heldenmüthi-
gen Vertheidiger Wiens Stahrcmberg und Salm bei den zwei türki¬
schen Belagerungen der Hauptstadt im 16. und 17. Jahrhunderte zu
schmücken gedachte. Nun stellt sich aber allniahlig dieser Plan als
ein klugersonnenes Mährchen dar, das blos ausgeheckt wurde, um die
durch Bevorzugung fremder Künstler tiefverletzten heimischen Talente zu
versöhnen und hinzuhalten, und von dessen Verwirklichung niemals
im Ernst die Rede war. Jetzt, da die zwei Viertel der kolossalen
granitnen Wasserschale für den Brunnen auf der Freiung aus Schwan¬
thalers Atelier in München auf der Donau eingetroffen sind, und die
von diesem Künstler modellirten Figuren nächstens nachfolgen sollen,
wird die alte Wunde wieder heiß, um so mehr, als man nachgerade
einsieht, wie die Fiction von den beiden Brunnen auf dem Stephans¬
platze schon vom Anfange her widersinnig war, indem dieser lebhafte
Platz, auf dem die Volksmenge unablässig umherwogt, und welcher
von fast hundert Miethwagen in Beschlag genommen ist, selbst bei'in
besten Willen kein Raum zu finden sein dürste für zwei monumen¬
tale Wasserwerke, wie sie der lechzender Sehnsucht unserer Bildner
boshafter Weise hingemalt wurden.
Das Hofburgtheater brachte kurz nach einander zwei Novitäten,
nachdem man bereits seit vier Monaten auf eine solche vergeblich ge¬
wartet hatte. Gutzkow's „Dreizehnter November" hat hier nur wenig
angesprochen, indem dieses Drama allzusehr den Charakter des Ge¬
machtem und Gekünstelten an der Stirne trägt, um eine tiefere Wir¬
kung möglich zu machen. Gutzkow gefallt sich darin, psychologische
Abnormitäten und Idiosynkrasien dramatisch zu verkörpern, ohne zu
bedenken, daß solches wohl dem Romandichter gestattet ist, dem der
erforderliche Raum geboten ist, um den erschöpfendsten Commentar zu
liefern und das eingreifendste Verständniß zu vermitteln. Er kann
seitenlang die räthselhaften Stimmungen der Seele schildern, und
den Leser, wenn nicht überzeugen, doch bereden, der Dramatiker
ist auf die geschlossene Form der Bühnengestaltung beschränkt, und
sollte darum Alles vermeiden, was nicht auf schnelle Auffassung und
inneres Verständniß, auf volle und augenblicklich zündende Wirkung
rechnen kann. Der Dramatiker muß sich mit der Größe und Tiefe
der geschilderten Gefühle begnügen und die feine Detailmalerei' dem
Romanschreiber überlassen, bei dem es wenig darauf ankommt, zu dem
dreißigsten Bogen noch einen hinzuzufügen. Wollte Gutzkow nur die
Blastrthcit darstellen, wie sie als Krankheit unseres Jahrhunderts ge¬
rade im Kopfe der Glücklichen zu wüthen pflegt, so war die unheim¬
liche Familienchronik des Hauses Douglas ganz und gar unnöthig,
und wollte er ein Schicksalsdrama schreiben im Geschmack von Wer¬
ner und Müllner, so durste wieder nicht die Einmischung eines so
modernen Elements, als die Blasirtheit ist, stattfinden; eins schloß
das andere aus, und in der Verschmelzung beider Dinge liegt gerade
das Mißgeschick des Ganzen, dem überdies die forcirte Katastrophe
schadet, wo der Gras Douglas, statt sich selbst zu erschießen, aus das
Spiegelbild abdrückt und den verborgenen Verwandten hinter der Tapeten¬
thüre ermordet. Taktvoll hat sich bei diescrGelegenheit der ehrenwerthe Theil
unserer Tagespreise benommen, indem sie nicht den unter dem gegen¬
wärtigen Verhältnissen reichlich dargebotenen Spielraum zu demi ent¬
schiedensten Tadel auf plumpe Weise ausbeutete, sondern sich in ihrem
Urtheil sehr gemäßigt und anerkennend aussprach, und die naheliegende
Rolle eines Erecutors des durch Gutzkow's Wiener Schilderungen er¬
regten bureaukratischen Unwillens verschmähte.
Die zweite Neuigkeit bestand in dem Lustspiel: „Der Majorats-
crbe" von der Prinzessin Amalie von Sachsen, welches anderwärts
unter dem Titel: „Der Brief aus der Schweiz" gegeben ward. Es
athmet ganz den bekannten moralistischen Geist, der in den zahlrei¬
chen dramatischen Produkten dieser hohen Dame weht, und besitzt eine
auffallende Aehnlichkeit mit einem frühern Drama derselben Verfasse¬
rin, nämlich mit dem Landwirth. Durch das ganz außerordentlich
gelungene Spiel des Schauspielers Fichtner, der den Grafen Schar-
feneck gab, gewann das Stück einen unbezwingbaren Sieg und gefiel.
Indem ich Ihnen danke, lieber Kuranda, für so rasche und auf¬
merksame Beurtheilung meines Stückes „Gottsched und Gellert," bitte
ich Sie zugleich, mir einige Worte der Berichtigung und auch Deinige
Worte der Entgegnung zu gestatten.'
Zuerst die bloße Berichtigung. Der Protest Gottscheds u. s. w.
geht nicht, wie die Grenzboten sagen, gegen die preußische Regierung;
Gottsched meint ja im Gegentheile, mit König Friedrich sehr einig zu
sein, der Protest geht nur gegen einen preußischen Reitergeneral, ge-
gen Seydlitz, der sich auf Kriegsnothwendigkeit berufen hat. —
Ebenso gab es auch während der Aufführung, als der Autor nach den
zwei letzten Akten gerufen wurde, keine leidenschaftliche Opposition.
Opposition zeigte sich wohl durch Zischen, als nach dem dritten Akte
gerufen werden sollte, und ich habe darin keine Leidenschaft finden
können, da das Stück nach diesem Akte gar nicht angethan ist, durch
Hervorruf ausgezeichnet zu werden. Man wollte keine Uebertreibung.
Widersprechen muß ich außerdem noch derBehauptung, daß Gottsched und
Gellert nicht Hauptpersonen seien. Man ist ja noch nicht Hauptper¬
son, wenn man wie Graf Bolza bedroht ist, und bedroht ist zudem
Gottsched auch und selbst Gellert. Prinz Heinrich ferner wird wohl
eine entscheidende Person, aber ohne dadurch die Hauptpersonen zu
beeinträchtigen! in Wahrheit trägt er dazu bei, Gottsched und Gellert
zur Vollendung ihrer Charakterbilder zu treiben, indem er sie zur Ver¬
theidigung nöthigt. —
Uebrigens folge ich Ihnen nicht in weitere Ausstellungen, welche
gewiß viel Richtiges haben und welche von Ihnen mit so freund¬
lichen Gegensätzen umstellt sind, daß ich sehr undankbar sein müßte,
wollte ich nicht unter Verbeugungen davor zurücktreten.
Es ist mir nur um eine Hauptsache zu thun, und dagegen
habe ich eine motivirte Entgegnung auszustellen. Gegen den Mi߬
brauch der Politik in meinem Drama, welchen Sie mir vorwerfen,
ist meine Protestation gerichtet.
Ich habe mich stets gegen die unorganischen Phrasen über poli¬
tische Freiheit erklärt, welche im Drama beiläufig und raketenartig
aufsteigen und nach einem Effecte haschen, der außerhalb des charak¬
teristischen Gedankenganges im Stücke liegt. Und, lieber Freund, da¬
gegen erkläre ich mich heute noch.
Wie wunderlich muß es also zugehen, daß mir etwas vorgewor¬
fen wird, was ich selbst verurtheile! Gewiß wunderlich. Und Sie
stehen gar nicht allein mit diesem Vorwurfe: von anderer Seite
und nicht blos von derjenigen, welche mich unter allen Umständen
geschäftsmäßig angreift, unterstützt man vielseitig Ihren Angriff.
Unorganische Aeußerungen im Drama, das heißt Aeußerungen,
welche nicht aus den Charakteren, der Situation und der ganzen An¬
lage des Stückes natürlich erwachsen, sind ästhetisch unberechtigt und
sind auch eben deshalb —- unwirksam. Einen des Theaters so Kun¬
digen wie Sie wird es nicht täuschen, wenn eine unbefugt hervor¬
springende, eben beliebte politische Phrase beklatscht wird. Solche
Wirkung erkennen Sie.wie ich als ein Strohfeuer, das heißt, als
keine der Rede werthe Wirkung. Sie haben nun selbst gesehen und
ausgesprochen, daß mein Stück bei der ersten Aufführung einen schwe¬
ren Stand gehabt, und haben doch auch selbst gesehen, d-aß es mit
seinen politischen Wendungen vollständig durchdrang. Wäre das bei
so zäher Stimmung möglich gewesen, wenn die politischen Wendun¬
gen äußerlich herbeigezogen worden wären? Ganz gewiß nicht.
Wo liegt also der Irrthum? Darin, daß die Ankläger nicht
wissen oder nicht wissen wollen: politische Gedanken könnten auch ganz
organische Bestandtheile eines Stückes und dann ästhetisch vollkommen
berechtigt sein. Und dies ist bei meinem Stücke der Fall: es ist nicht
ein Stück mit politischen Phrasen, sondern es ist ein ganz und gar
politisches Stück. Politik ist durchweg das Pathos desselben.
Wenn Sie für Liebe blasirt wären, hatten Sie das Recht, aus
einem Liebesdrama die Liebesreden auszuweisen? Eben so wenig, als
Sie einem politischen Stücke die politische Rede entziehen dürfen, weil
sie Ihnen aus irgend einem Grunde mißfällig. Also: der Vorwurf
gegen mein Stück muß, wenn er treffen soll, allgemeiner oder muß
noch spezieller gefaßt werden.
Allgemeiner gefaßt würde er heißen: Politik gibt kein Pathos
und soll deshalb ganz aus dem Spiele bleiben! — Diese Forderung
wird der Kritik nicht viel helfen. In Vorausbcstimmung dessen, was
wirken soll, ist die Kritik machtlos. Der Dichter wählt, was in ihm
mächtig wird, und fragt nicht um Kategorie, fragt nicht um Erlaub¬
niß, und ist er wirklich ein Dichter, wirkt also mit seiner neuen Ka¬
tegorie, so ist ein t'int ircconmli, vorhanden, welches unfehlbar aner¬
kannt wird, denn mit falschen und geschmacklosen Mitteln kommt auf
dem Felde der Kunst ein t'int accomjili, eine vollständige Wirkung
nicht zu Stande.
Politik wird allerdings schwerlich ein Pathos geben, wenn sie in
Parteifragen sich bewegt und discussionsmäßig wirken soll. Sie ent¬
hält aber zwei Bestandtheile, welche zum größten Pathos führen kön¬
nen. Diese heißen: Charakterstärke und Vaterland. Dies sind zwei
Begriffe, welche über allen politischen Schwankungen stehen, und auf
diese habe ich mein „Charaktcrlustspiel" gebaut und diese lasse ich mir
nicht verleiden dadurch, daß sie in den verdächtigten Ausdruck Politik
hineingezogen werken. Sie liegen in dem vollen Sinne des Wortes
Politik, und in diesem Sinne nehme ich das Wort in Anspruch,
wenn ich mein Stück ein politisches nenne, und darauf gestützt be¬
haupte ich: was in meinem Stücke Politisches geäußert wird, ist ein
organischer Bestandtheil des Stückes und hat seine volle Berechtigung.
Polemik gegen die politischen Theile meines Stücks wird also nur
auf dasselbe wirken, wenn nachgewiesen wird, daß die politischen Aeu¬
ßerungen meiner Personen nicht dem Charakter derselben und nicht
der Aelt angemessen sind, in welcher sie sich bewegen. Welches sind
meine Personen? Welches sind die Themata ? Professoren sind es,
ein junger Schriftsteller ist es qus Lesstng's Kreise, der Prinz Hein¬
rich ist es. Allen steht politisches Leben, politische Rede zu. Was
rider sie? Jene vertheidigen akademische Berechtigung. Man sehe
nach, wie das vorige Jahrhundert darin tapfer war auf Akademien.
Diese bewegen sich um das Thema der Zerstückelung Deutschlands.
Wann erschien das letztere seit dem dreißigjährigen Kriege schreiender
als beim siebenjährigen Kriege? Man blicke in Lessing's Schriften,
man blicke nur in die Gedankengänge der Minna von Barnhelm, welche
um jene Zeit geschrieben wurde, und man wird erkennen, wie tief
gerade dies Thema damals empfunden wurde. Für dies Thema war
ein Offizier von der Reichsarmee, gerade weil sie mit Schmach bela¬
stet war, das Organ, welches Alles sagen konnte. Das Reich war
tlo Kredo dahin und die deutsche Ausländerei schrie auf. Um sie noch
nachdrücklicher zu berechtigen, habe ich den wirklich räuberischen Aus¬
länder, den schmarotzenden Italiener daneben gestellt, und um uns
den Gedankengang noch näher zu bringen, habe ich den Prinzen
Heinrich zum Richter gesetzt, welcher bis nahe an unsre Zeiten heran
gelebt und sich konsequent als einen Vertreter des patriotischen Libera¬
lismus erwiesen hat. Gestehen muß ich Ihnen, daß ich auf Aner¬
kennung so sorgfältiger Motivirung gerechnet, nicht aber alle dem
gegenüber den banal gehaltenen Vorwurf politischer Phrase erwartet hatte.
Nun bleibt noch übrig von diesem allgemeinen Theile des Nor-
wurfs der Ausdruck selbst im Stücke, welcher nicht zu modern ge¬
mahnen dürfe. Hier gestehe ich zu, daß Discussion, auch gegen mich,
am Orte ist. Hier bin ich selbst mehrmals erschrocken, weil mir die
Folgerungen meiner Helden zu schlagend wurden. Und doch wußte
ich genau: die Folgerungen sind ganz organisch vor sich gegangen.
Hier kann auch gedämpft werden, wenn man darüber einig ist, daß
die Dinge von damals den Dingen von heute nicht gar zu schreiend
ähnlich sehen dürfen. Ich meine, der Aesthetik wegen, nicht etwa der
Politik wegen, denn es sind unverfängliche Themata, welche jede
Regierung gestatten wird: Recht der Wissenschaft und Kampf gegen
deutsche Ausländerei. Aesthctisch ist aber die Sache auch gar sehr zu
überlegen. Ich berufe mich nicht, wie ich gar wohl könnte, auf
Shakespeare, welcher sogar seine Römer wie seine Engländer sprechen
laßt, nein, mein Cato kann ganz und gar so gesprochen haben, wie
er im Stücke spricht; aber ich berufe mich darauf, daß die geschicht¬
liche Sprache im Drama wirklich einen Accent des lebendigen Dich¬
ters haben muß, um lebendig zu sein. Das wird uns auch nur er¬
schrecken, wenn der Inhalt nach achtzig Jahren noch so lebendig trifft,
wie bei dieser deutschen Ausländerei. Ist dies aber meine Schuld,
daß er noch so lebendig?
So viel über den Vorwurf, wenn er allgemein gefaßt würde.
Wie wird er specieller gefaßt erscheinen?
Wir haben darüber in diesenTagen mündlich discutict, und was ist
nicht in diesen Tagen von den verschiedensten Seiten darüber gesprochen
worden. Ich weiß also ungefähr, was aufgestellt werden mag. Das
Wichtigste habe ich bereits in Obigem berührt.
Erstens kann und muß untersucht werden, ob Eharaktcr, Hand-
lung und Inhalt theils historisch richtig, theils historisch möglich dar¬
gestellt sind. Denn die historische Möglichkeit ist für den Dichter so
wichtig als die Richtigkeit. Ist man im Stande, meinem Stücke
die historische Unmöglichkeit nachzuweisen, dann ist es beseitigt.
'
Zweitens ist mir vorzuwerfen, was ich eben beiin „Ausdrucke"
erwähnte: die Hauptfragen seien gerade jetzt lebendig, gehörten also
nicht in den Ausgang des siebenjährigen Krieges, seien offenbar des
jetzigen Augenblicks wegen gewählt, würden also ihre Wirkung mit
dem Augenblicke verlieren.
Letzteres können wir abwarten. Zeh meine, die Fragen werden
wichtig bleiben, so lange Deutschland besteht, auch wenn sie gelös't
sind, was wohl noch eine gute Weile aus sich warten lassen wird.
Daß sie im Jahre 1762 nicht möglich gewesen, habe ich schon be¬
stritten, und daß ich sie gewählt, gerade weil sie jetzt lebendig, das
könnte ich ohne Weiteres zugeben; denn dies ist mein Recht.
Hierbei kann ich aber etwas zusetzen, welches freilich nur Bedeu¬
tung hat, wenn dran meiner einfachen Versicherung glauben schenkt.
Denn obwohl ich zufälliger Weise Zeugen habe, so fühle ich mich doch
nicht veranlaßt, Zeugen aufzurufen und für mich sprechen zu lassen,
da ich die Wahrhaftigkeit meiner Versicherung nicht verwirkt zu haben
glaube.
Die Entstehung des Stücks fällt in den vergangenen Winter.
Robert Heller gebührt die Auffindung der Idee: Gottsched namentlich
in ein Drama zu verarbeiten. Er theilte sie mir mit, und wir woll¬
ten den Versuch machen, das Thema gemeinschaftlich zu componiren.
Zwei Mal kamen wir zu ausführlicher Besprechung zusammen, erkan-
ten aber wohl, daß der Stoff nicht leicht genug sei, um so auf dem
Wege bloßer Technik erledigt zu werden. Ich verreif'te, und das Un¬
ternehmen ward vergessen. Damals aber, bei der Besprechung schon,
erwuchs mir Eato als Vertreter des nicht österreichischen und nicht
preußischen Deutschthums, sondern des Deutschthums überhaupt. Als
würdige Figur der Reichsarmee und Kampfer gegen Ausländern wurde
er nur politischer und dramatischer Mittelpunkt, und Prinz Heinrich
politisch entscheidender Ausgangspunkt des Stückes. Damals hatte die
Auslandersrage unter uns noch gar nicht das Aussehn erlebt, welches
im Frühsommer mit Itzstein und Hecker eintrat.
Mir fast unbewußt, hatte der Stoss von jenen Besprechungen
hier meine produktive Thätigkeit in Anspruch genommen, und schon
im Monat März schrieb ich in einem Zuge die drei ersten Akte, und
skizzirte mit allen Consequenzen den vierten und fünften. Als ich
Mitte Mai nach Carlsbad ging, war ich bis auf die Höbe des vier¬
ten Aktes gekommen, also auf die politische Höhe des Stücks, und
es wäre vielleicht etwas weniger lebendig geworden, aber es wäre um
kein Haar anders geworden in seinem Inhalte, wenn sich auch nichts
darauf Bezügliches politisch ereignet hatte. Da kam, ich glaube Aus¬
gang Mai's oder Anfang Juni's, die bekannte Ausweisung, und ich
erschrak darüber auch für mein Stück, weil ich voraussah, man werde
es nun den Vorgängen nachgeschrieben erachten. Sollte ich deshalb
furchtsam, weil ich falsch beurtheilt werden konnte, meinem Stücke
einen Theil der Seele ausbrechen? Ich gestehe, daß ich mehrmals fast
dazu entschlossen war, weil es mir empfindlich ist, der bloßen Gelc-
genhcitsschriftstellerei geziehn zu werden. Ja, ich bin auch jetzt gar
nicht abgeneigt, die grellsten Folgerungen hinwegzunehmen, und ich
schwankte darüber noch kurz vor der Aufführung. Für einen großen
Theil des Vaterlandes muß ich es ohnedies, wenn ich das Stück
aufgeführt sehen will. Ich that es am Ende nicht, um bei der ersten
Ausführung zu sehen, ob es organisch, das heißt voll wirken werde.
Das mag einen Vorwurf verdienen, aber so wie er gemacht worden
ist, verdient es den Vorwurf nicht.
Ferner: das Stück war Ende Juni fertig. Im Juli ward es
vorgelesen, und die zweite Hälfte des vierten Aktes, welche Sie neuen
Ereignissen angebildet erachten, war Wort für Wort so, wie sie dar¬
gestellt worden ist. Einen Monat spater kamen jene Ereignisse, und
deshalb schließen Sie gegen mich. Was steht aber ganz entgegenge¬
setzt mir für ein Schluß zu? Der Schluß: der Organismus ist so
richtig, daß die Tagesgeschichte die Probe darauf macht.
"
Sie tadeln(?) das Wort „fahnden. Ich habe das Wort gebraucht,
oft gebraucht, lange ehe es politisch Mode wurde, und — es stammt
aus altem Style. Ich hatte also gerade das historisch richtige Wort
vermeiden, ich hätte das Stück schlechter machen müssen, um solchen
Vorwürfen zu entgehen.
Endlich heißt es auch noch:(?) die Politik wird abgenützt, wenn sie
auf das Theater kommt"). Hat die Journalistik ein Privilegium?
könnte ich sagen. Und wozu schreibt Ihr Politik? Um sie in's Be¬
wußtsein zu drangen. Geschieht dies etwa nicht vom Theater aus?
Das Theater mag Streitfragen beeinträchtigen, und mit ihnen muß
es aus politischen und ästhetischen Gründen vorsichtig sein. Aber gilt
dies auch von Fragen, welche ein Lebenstheil der Nation geworden
sind, gilt dies auch von patriotisch gewordenen Fragen? Mit Nichten.
Und die Fragen meines Stücks sind mit geringfügigen Modifika¬
tionen überall zulässig, und beleidigen Niemand, kaum einen unzu¬
rechnungsfähigen Ultra. Sie gebühren also dem Dramatiker, wenn
ihm nicht nachgewiesen wird, daß er sie unorganisch verwende und
verschleudere.
Auf Ihre letzten Worte indessen, ob ich nicht mit vollständigsten
Verbrauche aller politischen Hebel die politischen Stücke ein für alle
Mal hatte beseitigen wollen, bleibe ich Ihnen die Antwort schuldig.
— Dem neuen Jahre laufen bereits mehr>re neue Zeitschriften
voraus. So „Die Werkstatt," eine Monatschrift für Handwer¬
ker unter der Redaction des wohlmeinenden Redacteurs des Telegra¬
phen Georg Schirges. So elegant ausgestattete Blatter haben wohl
die wenigsten Handwerker bisher zu ihrer Lectüre gehabt. Auch der
Inhalt ist zum großen Theile gut gewählt und der Preis erstaunens-
werth billig (4 Sgr. für ein Heft von 4 Bogen) gestellt. — Eine
andere neue Zeitschrift, die „Theater-Locomotive," redigier von Julius
Kosska, beginnt ihre Laufbahn mit einer Polemik: „Das junge Deutsch¬
land auf den Brettern, eine Skizze von W. Bernhard,'." — Eine
Buchhandlung hat auf Ronge's Namen eine Speculation gemacht und
einen Roman herausgegeben: „Johannes Norge, oder Bekenntnisse
eines Cölibatärs. Die Geschichte ist sehr schmutzig und kann weder
den römischen noch den Deutsch-Katholiken eine Freude machen. —
Von dem trefflichen Buche des Franzosen A. de Gerando: „Sieben¬
bürgen und feine Bewohner," ist eine geschmackvoll ausgestattete Ueber-
setzung erschienen (Leipzig, Verlag von Carl Lork, 2 Bände). Ge¬
rando ist der Schwiegersohn des bekannten Magnaten Graf E. Teleki. —
Von Moritz Hartmann's „Kelch und Schwert" ist (in derselben Ver¬
lagshandlung) eine zweite vermehrte Auflage erschienen. Hartmann
lebt gegenwärtig in Brüssel.
— Man schreibt uns aus Prag: Aus der Gegend von Trautenau
sind zwei Männer, die den deutsch-katholischen Ideen sich angeschlos¬
sen, nach preußisch Schlesien ohne Paß ausgewandert, nicht ohne
diesseits beträchtliche, Schulden zurückzulassen. Die österreichische Po¬
lizei soll sich deswegen an die preußische gewendet haben; erhielt aber
von dieser die Antwort, daß man hierüber erst beim Ministerium
anfragen müsse. Mittlerweile soll man von hier aus gleichfalls nach
Wien geschrieben und die Antwort erhalten haben, daß keine weiteren
Schritte zu thun sein. — Sind sie fort — denkt man in Wien —
um so besser.— Unter den mannigfachen Gästen, die wir in den ersten
Wochen hier sahen, dürfen wir nicht über den vielbesternten und betitelten
Großen, eines Würdeträgers der Kunst vergessen, des bekannten
Malers Pollak aus Rom (i> ?i»l-it!a), der in Prag geboren und die
ersten Elemente der Kunst an unserer Akademie studirt hat. Riedel
und Pollak sind bekanntlich die beiden ausgezeichnetsten deutschen Genre¬
maler in Rom. Das eigenthümliche, herrliche Sonnencolorit, das
den Bildern dieser beiden Künstler einen ganz besonderen Stempel
giebt, erhöht noch die Grazie ihrer Zeichnung. Pollak, der seit zwölf
Jahren in Rom lebt, hat mit seinem Freunde Riedel eine Reise durch
Deutschland gemacht, zunächst um ihre Eltern zu besuchen. Riedel
ist ein Baier, Pollak wie gesagt ein Böhme. In München werden
die beiden Unzertrennlichen wieder zusammenstoßen, um die Rückreise
nach Italien gemeinschaftlich anzutreten.
Wie nachträglich verlautet, so soll der neu eintretende Direk¬
tor, Herr Hoffmann, diese Stelle hauptsächlich einem Empfehlungs¬
schreiben des Fürsten Metternich zu danken haben. Er war an die
Fürstin Schwarzenberg gerichtet, und wie ich höre, hat die Fürstin,
joui' t':ni-«! Jorio»,- it c(!ete leider«, selbst die Fürsprecherin beiden einflu߬
reichsten Ständeausfchüssen gemacht, und für ihren Prott!g<> Stimmen
gesammelt. Herr Hoffmann soll übrigens ein energischer Man» sein,
von dessen Leitung man sich viel Gutes verspricht. Nun, alle neuen
Besen kehren gut, sogar Herr Stöger hat im ersten Jahre gut ge¬
kehrt, während es jetzt eines kleinen Herkules bedürfte, um auszu¬
räumen.
— Man schreibt uns aus Weimar: Die Anwesenheit der Königin
von Holland bringt einiges Leben in unsere Langeweile. Raupach
hat mehrere Mal bei Hofe gespeist, seine kaustische Unterhaltung ist
jedenfalls pikanter als seine tragischen Jambenstelzcn sind. Die Wenigsten
wissen wohl, daß Raupach hier seine ersten Versuche für die Bühne
machte. Sein erstes Produkt siel entschieden durch. Er hat aber,
wie Scribe, dem es ebenso erging, nicht den Muth verloren und be¬
herrschte später durch volle fünfzehn Jahre das deutsche Repertoire. —
Großes Aufsehen machte hier eine junge reizende Dame aus einer der
ersten Familien Leipzigs, die bei Hofe sang und namentlich durch
Worte aus Göthe's Faust, welche Beethoven'schen Melodien unterlegt
waren, einen unendlichen Zauber auf die Zuhörer ausübte. Frau
Doctorin F..ge ist wohl eine der ausgezeichnetsten Sängerinnen Deutsch¬
lands und fast möchte man dem Glücke fluchen, das durch Reichthum
und Behaglichkeit ein Talent der Bühne entzieht, deren Zierde es
wäre. — Der Wiener Komiker Franz Wallner gastirte hier mit au¬
ßerordentlichem Erfolge. Sämmtliche Schauspieler gaben dem gemüth¬
lichen und auch persönlich liebenswürdigen Künstler einen solennen
Abschiedsschmaus. — Madame Glasbrenner-Perroni ist so eben ein-
getroffen, um gleichfalls eine Reihe von Gastrollen zu geben. — Dem
Dr. Schuselka ist von dem hiesigen Ministerium der Aufenthalt in
Jena ferner gestattet worden. Derselbe hat nämlich an die Polizei¬
hofstelle in Wien geschrieben, daß man die gegen ihn gerichtete An¬
klage ihm hierher übermitteln lasse und ihm gestalte, von hier aus
sich vertheidigen zu dürfen. Man ist gespannt auf die Antwort, die
ihm von Wien aus werden wird.
— Man schreibt uns aus Stuttgart: Lenau befindet sich noch immer
in der Irrenheilanstalt zu Winnenthal, körperlich viel gesünder, als
seit lange zuvor, aber geistig vollkommen zerstört; seine Freunde fürch¬
ten: unheilbar. Die einzige Hoffnung beruht darauf, daß er sich noch
auf keine fixe Idee geworfen hat. In manchen politischen und lite¬
rarischen Kreisen wird ein andrer Mann gleichfalls bekannt sein, der
gegenwartig in Winnenthal untergebracht ist, Buchhändler Frankh von
hier. Er wähnt, Tag und Nacht von Mördern belauert zu sein, ist
deshalb nur unter den ängstlichsten Vorkehrungen und setzt sich Nachts,
statt in's Bett zu gehen, einen Prügel in der Hand, in eine Ecke.
Man wollte ihm kürzlich eine Erholungsreise erlauben, aber von dem
einzigen Menschen, dem er noch traut, einem hiesigen Literaten, der
ihn begleiten und überwachen sollte, verlangt er doch, er solle auf dem
Bock sitzen, damit er, Frankh, vom Innern des Wagens aus, die
geladene Pistole in der Hand, ihn beobachten und bei der geringsten
verdächtigen Bewegung hinunterschießen könne. Der Litercit bedankt
sich natürlich für diese Lustpartie.
— Der älteste unter den lebenden Potentaten ist gegenwärtig der
Papst, er zählt 79 Jahre, der jüngste ist ein Madchen von fünfzehn
Jahren: die Königin Jsabella von Spanien. I^es vxtrvinos im,-
oüvnt. Der älteste Herr der Christenheit und die jüngste Herrin sind
beide unverheirathet. Will man ein Mädchen nicht als Potentat gel¬
ten lassen, so ist die Reihe des Jüngsten an dem Sultan, der 21
Jahre zahlt. Wieder Extreme, die sich aber nicht berühren. Wie
morsch ist der Thron von Eonstantinopel, trotz seines jungen Herr¬
schers, und wie eisern greift Rom noch immer in die Welt hinein,
trotz seines greisen Hauptes. Nach dem Papst kommen die constitu-
tionellen Könige an die Reihe Der König von Hannover zählt 73
Jahre, Louis Philipp 71, der König von Würtemberg 63, der König
von Baiern 58 Jahre. Der König des zwischen Preußen und Oester¬
reich eingeklammerten Sachsen ist um 10 Jahre jünger, als der Kö¬
nig von Vaiern. Der schwächste constitutionelle Thron, der von Grie¬
chenland, hat einen Monarchen von 29 Jahren an der Spitze. Die
zwei Hauptmächte Deutschlands halten einander die Wagschaale- der
Kaiser von Oesterreich und der König von Preußen sind in gleichem
Alter, es zählt jeder 51 Jahre. Der Kaiser von Rußland steht dicht
hinter ihnen mit 49 Jahren. Der König von Belgien ist um drei
Jahre älter als der König von Holland, der 52 Jahre zählt, und hat
diesem auch überall den Vorsprung abgewonnen, sowohl bei der Braut¬
werbung um die brittische Thronerbin Auguste Charlotte (1816), die
den stattlichen Koburger dem nassauischcn Nebenbuhler vorzog, wie
auf dem Throne der Belgier (1831). Die Königinnen von England
und Portugal, von denen jede einem schönen Koburger angetraut ist,
sind in ihrem Alter eben so einig, wie in ihrem Geschmack, es zählt
jede 25 Jahre. Uebrigens ist dies ein Punkt, worin Königinnen im
Nachtheile gegen andere Erdenlöchter sind — sie können ihr Alter nicht
verheimlichen. —
— Auch Heinrich Laube führt die Theaterliebe nach Wien, auch
er will das Burgtheater studiren und Wiener Eindrücke erleben. Wer¬
den seine Erlebnisse freundlicher sein als die Carl Gutzkow's? Laube
ist schon von vorn herein schlimmer dran; Monaldeschi ist das ein¬
zige Stück, das auf österreichischen Bühnen gegeben werden kann.
Rococco, Struensee, Gottsched und Gellert sind nach dortigen Censur-
begriffen unmöglich. — Berthold Auerbach, der in den letzten zwei
Monaten in Böhmen gelebt hat, und zwar meist auf Dörfern und
in kleinen Städten, bereitet eine größere Arbeit vor, die ein in Deutsch¬
land noch unbekanntes Element von Dorfgeschichten zum Gegenstand
hat. — Ernst Willkomm, dessen Vierbändiger Roman: „Weiße Scla¬
ven" nun beendet ist, tritt eine Reise nach Italien an.
— In Allem und Jedem zeigt sich das kleine Belgien rüstig
und immer den Andern voran. Die schnelle und außerordentlich- Ein¬
berufung der Kammern, um ein Gesetz zu poliren und der Noth der
armern Klassen vorzubeugen, verdient eine Denksäule. Und wie treff¬
lich waren alle diese patriotischen Repräsentanten bereits für die Frage
vorbereitet. Die Presse, der kein Zwang aufgelegt ist, hatte den Ge¬
genstand von allen Seiten beleuchtet und die Mittel zur Abhülfe wa¬
ren in den Journalen bereits zur Reife gebracht. Wie Belgien der
erste Staat auf dem Continent war, welcher Eisenbahnen baute, so
ist es jetzt der erste Staat, welcher der socialistischen Frage sich von
Staatswegen annimmt. Der König hat von dem Ministerium einen
Gesctzvorschlag verlangt, wie das Loos der Arbeiter zu verbessern ist
und welche Mittel zu einer Aenderung der gegenwärtigen Verhältnisse
zu ergreifen sind.
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