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]]>Zeitschrift sur Politik und Literatur.
M
22. Jahrgang.
I. Semester. I. Äand.
Leipzig,
Verlag von Friedrich Ludwig Herbig.
(Fr. Wilh. Grunow.)
18SZ.
Drohend hängen in den ersten Tagen des neuen Jahres die Wetterwolken
an dem politischen Himmel Deutschlands. Es ist kaum ein Zweifel mehr, daß die
Delegirtensrage zu größern Conflicten zwischen Preußen und dem östreichischen
Bunde führen wird, als jene waren, welche mit dem Tage von Olmütz endig¬
ten. Was von den Plänen der Majorität zu Frankfurt und von den Ent¬
schlüssen des Ministeriums Bismarck in die Oeffentlichkeit gedrungen ist, läßt
erkennen, daß beide Theile entschlossen sind, Ernst zu machen. Auch an den
auswärtigen Höfen, welche in dem letzten Jahre den Ereignissen in Berlin und
seit längerer Zeit den Sitzungen der Bundesversammlung keine hochachtungs¬
volle Aufmerksamkeit angedeihen ließen, beginnt man, wie es scheint, die Gefahr
zu würdigen, welche aus dem Innern Deutschlands gegen den Frieden Europas
heraufsteigt.
Vielleicht genießt keiner der beiden feindlichen Gegensätze den Vorzug eines
sicheren Entschlusses und einer überlegenen Kraft. Alter Groll hat sich bei
beiden zu politischer Feindseligkeit verhärtet. Aber die Würzburger haben zwei
Jahrelang heimlich Preußens junge Kraft gefürchtet, sie wollen die gegenwär¬
tige Schwäche des Staates benutzen, sich dafür schadlos zu halten; und Oest¬
reich sucht den Tag, wo es seinen alten Rival gründlich demüthigen kann.
Schon deshalb sind die Angreifenden im Vortheil, wenigstens sind ihnen die
nächsten Zielpunkte und ihre Mittel klar.
Die Hoffnung aber ist irrig, daß der Widerspruch Preußens und
Badens einen Majoritätsbeschluß der Bundesversammlung in der Delegirten¬
srage hindern werde. Im Gegentheil ist der ganze Angriff ein wohl¬
erwogener Plan, darauf berechnet, Preußen zu den falschen Schritten zu ver¬
leiten , welche die Person des unternehmenden Ministerpräsidenten für die
Gegner sehr wahrscheinlich macht. Mit unverhohlener Freude muß der Bericht¬
erstatter der Bundesversammlung sehen, wie .sich das preußische Gouvernement
in dem ausgespannten Netz verwickelt.
Denn, um früher Gesagtes zu wiederholen, nach Allem, was durch die Fe¬
dern der preußischen Regierung für die Oeffentlichkeit geschrieben worden ist,
und nach der Stimmung in dem regierenden Kreise Berlins ist es zweifellos,
daß Preußen sich nicht begnügen wird, der Bundesversammlung einen falten
Dissens zugehn zu lassen, sondern daß Herr v. Bismarck entschlossen ist, diese
Frage zu einem Ableiter für die innere Unzufriedenheit der Preußen zu be¬
nutzen. Preußen wird seinen Austritt aus dem Bunde erklären.
Es ist vorauszusehn, daß diese in der gegenwärtigen Lage unheilvolle
Maßregel nicht mit. ruhigen Worten erfolgen wird, es ist sicher, daß Preußen,
welches nicbt isolirt in Deutschland stehn kann, genöthigt ist, seine Nachbarn
mit sich gegen den Bund zu vereinigen; es ist ebenso sicher, daß kein einziger
deutscher Staat ungezwungen mit der gegenwärtigen Negierung Preußens sich
zu einem Gegenbund vereinigen wird. Und deshalb macht die Sachlage un¬
zweifelhaft, daß Herr v. Bismarck es darauf wagen will, die Nachbarn Preu¬
ßens nöthigenfalls mit Gewalt zu solchem Bündniß zu zwingen.
Nun wäre ziemlich gleichgültig, welche Projecte ein planvoller Minister
Preußens in der gegenwärtigen Situation hegt, wenn er auf verfassungs¬
mäßigen Wege seine Projecte der Majorität des Abgeordnetenhauses an¬
nehmbar machen will; wenn er also vor dem Beginn eines offenen Conflictes
um die nöthige Geldbewilligung nachsucht. — Aber nicht umsonst ist ein erbitter¬
ter Kampf mit der Majorität der Volksvertretung geführt worden. Was hin¬
dert die Regierung, welche bei fortgesetztem Widerstand der Volksvertreter ohne
Budget zu regieren entschlossen ist, sich auch über diese parlamentarischen Be¬
denken wegzusetzen? Im Nothfall reichen für die erste Mvbilisirung die im
Staatsschatz vorhandenen fast 20 Millionen aus. Steht das Heer in Waffen,
ist der Gegensatz zu den andern Mächten des Bundes bis auf eine Spitze ge¬
trieben, von welcher keine Umkehr möglich ist, dann ist immer noch Zeit, mit
der Volksvertretung zu verhandeln. Beharrt diese auch in solchem Fall bei
unpatriotischer Verweigerung, so ist der äußerste Fall eingetreten, von dem schon
lange die Rede war, man wird auf Grund einer andern Volksvertretung, im
Nothfall vielleicht sogar durch Provinzialstände die Mittel zu einer Macht-
entwicklung nach Außen herbeizuschaffen unternehmen.
Ob das Alles gelingen wird, ist jetzt gleichgültig. In welchem Stadium
der Ausführung ein solcher Plan durch Bedenken der Krone gekreuzt werden
wird, ist ebenfalls nicht vorauszusagen. Ohnzweifclhaft ist man auch an ent¬
scheidender Stelle gegenwärtig zu dem entschlossen, was man gern Action
und Kraftentwickelung nennt. Und die Bedenken werden erst dann eintreten,
wenn es zu spät sein wird, und der Staat in der ungewöhnlichsten Weise in
eine unerhörte Gefahr gebracht ist.
Das sind die trüben Aussichten, mit denen die preußische Partei das neue
Jahr heraufsteigen sieht. Und deshalb drängt sich gebieterisch die Frage auf, was
vermag das preußische Volk, und was vermögen die Einzelnen zu thun, um
solche Gefahr abzuwenden?
Die erste Hoffnung ruht auf der Majorität des Abgeordnetenhauses. Nie
war den Volksvertretern in Preußen eine so hohe und schwere Aufgabe gestellt.
Sie haben vor einer Lebensfrage, die in das Gebiet der großen Politik fällt,
innerhalb der Schranken, welche ihnen das Gesetz auflegt, den Volkswillen mit
einer Energie geltend zu machen, welche der Regierung imponirt, mit einer Weis¬
heit, welche die Ehre und den Vortheil Preußens auch gegen Mitglieder der
Negierung versieht. Es ist möglich, daß viele Liberale Preußens in früheren
Jahren für vortheilhaft gehalten haben, daß Preußen den Bund aufgebe. Möge
jetzt die Ueberzeugung jedem die Seele füllen, daß die gegenwärtige Situation
einen solchen Schritt zu dem unheilvollsten aller möglichen Auskunftsmittel
macht. Die bestehende Regierung muß von jeder Maßregel abgehalten werden,
welche einen gewaltsamen Entschluß zur Folge hat. Die deutsche Sache darf
nicht während der jetzt leider offenkundiger Schwäche Preußens Gegenstand
diplomatischer Verhandlungen werden. Denn die deutsche Frage ist keine
Streitfrage, welche zwischen den deutschen Regierungen in dem gegenwärtigen
Stadium ihrer Entwickelung durch Waffengewalt ausgekämpft werden darf.
Es ist überhaupt keine Frage der Cabinete, und wir gestehen keiner Re¬
gierung, auch der preußischen nicht, das Recht zu, über die Zukunft der deut¬
schen Nation, ohne die thätige Mitwirkung und ohne die freudige Bei¬
stimmung derselben zu entscheiden. Allerdings ist es möglich, ja wahr¬
scheinlich, daß einmal blutige Waffenarbeit dem innerlich fertigen Werk
die letzte Rechtfertigung geben muß. Aber von dieser letzten Entscheidung
ist das deutsche Volk und der preußische Staat jetzt weiter entfernt als seit
Jahren. Viel Terrain ist verloren worden, große Rückschritte sind gemacht,
voraussichtlich ist noch ein langer Weg zu durchlaufen. Erst wenn durch
den Zwang der Interessen und durch lebendige Theilnahme des Volkes die
Einhettsidee so weit durchgebildet ist, daß sie gebieterisch ihre Gestaltung for¬
dert, erst wenn die Sympathien der Völker Verbündete der preußischen Waffen
werden, ist ein Kampf gegen die Feinde der deutschen Einheit möglich. Denn nur
dann ist möglich, die große Frage hoch über die Interessen auswärtiger Cabinete
und die Einmischung der Diplomatie hinauszuheben. Wenn die deutsche Nation
sich zu vereinigen entschlossen ist, so wird jede auswärtige Regierung den En¬
thusiasmus einer Nation von 36 Millionen scheuen, wenn Preußen mit den
Waffen in der Hand Vergrößerung sucht, wird nicht nur das Ausland über
die anspruchsvolle Schwäche herfallen, auch die Deutschen werden feindselig auf
diesen Versuch einer verhaßten Regierung blicken.
Ein Großpreußen ist in diesem Augenblick nicht mehr möglich, weil es
ohne demüthigende Concession an das Ausland nicht mehr durchführbar ist,
und weil es die Zweitheilung der deutschen Staaten, zu denen wir Oestreich
nicht rechnen, im besten Fall zu verewigen droht.
Diese naheliegenden Betrachtungen werden hier deshalb aufgeführt, weil sie die
allgemeine Ansicht der preußischen Partei außerhalb Preußen formuliren. Wollte
die preußische Opposition einen ander» Standpunkt einnehmen, so würde auch
sie mit den Ueberzeugungen ihrer Parteigenossen in Deutschland in einen schar-
fen Conflict kommen. Es ist aber nicht zu besorgen, daß die Majorität des
Abgeordnetenhauses die Sachlage irgend anders ansieht. Möchten auch die
Mitglieder der altlibcralen Partei sämmtlich die Ueberzeugung festhalten, daß
jetzt keine Zeit ist, in Deutschland ein specifisches Preußenthum geltend zu
machen.
Das preußische Abgeordnetenhaus wird sich aber nicht damit begnügen,
gegenüber jeder außerordentlichen Creditforderung für militärische Rüstungen
diesen Standpunkt zu vertrete». Es wird gleich nach seiner Einberufung
die Pflicht zu erfüllen haben, dem König über die Stellung seiner Re¬
gierung zum Volke und zu Deutschland ehrfurchtsvoll und loyal die volle
und unverbrämte Wahrheit zu sagen. Und es ist keine gewöhnliche Adresse,
welche das Haus diesmal an seinen Monarchen richtet, es ist der letzte
Versuch, den ein treues Volk macht, die Kluft auszufüllen, welche sich zwi¬
schen der Krone und den Bedürfnissen der Nation geöffnet hat. Welche Wir¬
kung diese Adresse auch auf die Person des Königs ausüben mag, sie ist noth¬
wendig vor den Preußen selbst und vor dem übrigen Europa, denn die gute
Meinung auch des Auslandes ist eine Macht, welche kein Volk für seine
Kämpfe entbehren kann. Und eine solche Adresse würde die Aufgabe haben,
die Verwüstung, welche daS gegenwärtige System in der Kraft und in der An¬
hänglichkeit des Volkes bewirkt, nach allen Seiten darzustellen, ferner aber die
verhängnisvolle Lage, in welche Preußen auch Deutschland gegenüber gekommen
ist. Sie würde hervorheben, daß die Gegner am Bunde leider Recht ha¬
ben, wenn sie erklären, daß die fortdauernde schwache Negation Preußens das¬
selbe in eine unhaltbare Stellung gebracht habe, daß Preußen der Concentra-
tion deutscher Kraft mehr bieten müsse, als eine Delegirtenvcrsammlung, daß
dies nur bei einem liberalen Regierungssystem möglich sei, daß die deutsche
Politik des gegenwärtigen Ministeriums Preußen zu verderben, Deutschland zu
theilen drohe.
Hat diese Adresse nicht die versöhnende Wirkung, welche das Volt' ersehnt,
so wird sie Grundlage und Ausgangspunkt werden für ein neues Stadium, in
welches der Vcrfassungskampf von da an tritt. Und die Vertreter des Volkes,
gegenwärtige und neu zu wählende, mögen vertrauen, daß dieser Streit mit
einem Siege der Vernunft und mit einem großen Fortschritt in der Entwick¬
lung des Staates enden wird, wenn sie als Männer ihre Pflicht thun, fest
und einig.
Jetzt aber ist auch die Zeit, wo jeder Einzelne in seinem Kreise für das
Interesse seines Vaterlandes zu arbeiten hat. Keine Ungesetzlichkeit, welche
gegen ihn oder in seiner Nähe geübt wird, soll er schweigend ertragen. Jeder
Uebergriff der Administrativbcamten muß von den politischen Männern des
Wahlkreises überwacht und auf der Stelle zurückgewiesen werden. Jeder soll
jetzt mit seinen politischen Gesinnungsgenossen sest zusammenhalten. Wo die
Kraft des Einzelnen nicht ausreicht, helfe die Vereinigung.
Wer noch nicht Mitglied des Nationalvereins ist, für den ist jetzt Zeit
einzutreten. Gerade die Preußen sind als Mitglieder dieser großen Partei
unentbehrlich. Noch sind es erst 20,000 Deutsche, welche in ihm einen
Sammelpunkt für ihre politische Thätigkeit gefunden haben; aber er ist den¬
noch bereits eine Macht geworden, welche im westlichen Deutschland die Majo¬
rität der Kammern besetzt, einen großen Theil der liberalen Intelligenz des
Volkes vereinigt. Er ist jetzt, wo die preußische Regierung gänzlich außer
Stande ist, dem Wesen ihres Staates Freunde zu erwerben, der einzige ein¬
flußreiche Vertreter desjenigen Preußens, welches wir Alle ersehnen, die
einzige Autorität, welche im Volke den Fortschritten der östreichischen Partei
und den noch gefährlichern Fortschritten eines demokratischen Pessimis¬
mus siegreich Widerstand leistet. Gegen die Zuchtlosigkeit der Geister im
Volke, wie gegen die Willkürherrschaft der Regierungen ist er uns jetzt eine
schützende Kraft geworden. Und seine Führer, welche in den Ständeversamm¬
lungen ihrer engeren Heimath für den Handelsvertrag und die Fortdauer des
Zollvereins kämpfen, sind zugleich unermüdlich thätig, in größern und klei¬
nern Versammlungen den Widerstand des Volkes in der Delegirtenfragc in
gesetzlichen Bahnen zu leiten. Größer und schwerer wird ihre Aufgabe, seit die
Reaction in Preußen zur Herrschaft gelangt ist. Wie fest und zuversichtlich diese.
Männer auf ihrem Princip stehen mögen und wie wenig ihr Vertrauen zu der
Tüchtigkeit des preußischen Volkes erschüttert sein mag, sie brauchen gerade
jetzt die warme und- hingebende Unterstützung Aller, denen die Ehre und der gesetz¬
liche Fortschritt in Preußen am Herzen liegt. Und deshalb ist beim Beginn
des Jahres 1863, hundert Jahre, nachdem ein Hohenzollern Preußen zu einem
ansehnlichen Staat gemacht hat, fünfzig Jahre, seitdem das dankbare Volk
einem andern Hohenzollern den Staat, den er sich verloren, wiederhergestellt
hat, deshalb ist gerade jetzt für den einzelnen Preußen die Zeit gekommen,
wahre Loyalität seinem Königsgeschlecht, Verständniß der großen Aufgabe
seines Staates dadurch zu erweisen, daß er dem Nationalverein beitritt.
Als am 3. Febr. 1861 die Landesversammlung zu Eßlingen den Beschluß
faßte, den Beitritt zum Nationalverein zu empfehlen, geschah dieser Anschluß
an die nationale Partei mit gewissen Resirictionen und Vorbehalten, die aller¬
dings mehr in den vorausgehenden Debatten, als im Beschlusse selbst sich
kund gaben. Auch war jenes Ergebniß zum Theil fremder Einwirkung, der
Beredsamkeit eines Apostels des Nationalvereins zu verdanken, weiche siegreich
über die Bedenken einzelner Wortführer im Verein mit den feurigen Mahnun¬
gen Anderer die Menge mit sich fortriß. Wurde von nun an in den Blättern
der Partei die Polemik gegen den Stationalvercin eingestellt oder sehr ermäßigt,
so war doch nicht zu läugnen, daß die Betheiligung an dem Verein auch nach
Eßlingen eine ziemlich laue blieb. Das ganze Verhalten Würtembergs während
der letzten zwei Jahre bewies, daß es seine eigenthümliche Sonderstellung zur
nationalen Sache noch nicht völlig aufgegeben hatte. Gleichwohl bezeichnete
jener Tag einen Wendepunkt, das Eis war wenigstens gebrochen; daß es in
der Zwischenzeit nahezu vollends aufthaute, bewies der Erfolg der Landesver¬
sammlung, die nach fast zwei Jahren am 14. Dec. d. I. abermals in Eßlingen
gehalten wurde.
Wir möchten die Bedeutung dieses Erfolgs nicht überschätzen. Es dürfte
sich fragen, ob in den paar hundert zu Eßlingen Erschienenen die durchschnitt¬
liche politische Bildung und Ueberzeugung Schwabens vertreten war. In
früheren Artikeln haben wir die Gründe entwickelt, aus welchen die altlibcrale
Partei sich von der politischen Action im Großen, speciell von aller Theil
nähme an den nationalen Bestrebungen fast gänzlich zurückgezogen hat. So
war auch in Eßlingen fast nur die Demokratie vertreten, wie überhaupt die
Nationalpartei, wie einmal die Dinge liegen, in Schwaben ihre Anknüpfungs¬
punkte eigentlich nur ans dieser Seite zu suchen hat. Aber eben der politisch
rührige, für die nationalen Fragen empfängliche und thätige Theil der Be¬
völkerung war unzweifelhaft vertreten, und während schon hierdurch jener Mangel
sich wieder ausgleicht, kommt dazu noch die eigenthümliche Art der Gegensätze,
welche sich hier maßen und die Entscheidung allerdings zu einer bedeutungs¬
vollen machten.
Wenn anderswo in Deutschland politische Versammlungen zur Berathung
der nationalen Fragen stattfinden, so sind sie entweder von Freunden des
Nationalvereins oder von Freunden des Bundestags, von Kleindeutschen oder
Großdeutschen veranstaltet. Die Parteien haben sich längst geschieden, es gibt
für diese Gegensätze kaum mehr gemeinsame Tribünen. Anders in Württem¬
berg. Hier wurde mit aller Gewalt wenigstens äußerlich die Einheit einer
würtembergischen Fortschrittspartei festgehalten, welche jene Gegensätze in Bezug
auf die deutsche Frage in ihrem Schoß vereinigte. Im Grund hatten nur die
eigentlich Großdeutschen hieran ein wirkliches Interesse, sie dvminirten factisch,
indem sie jeder engeren Annäherung an die Nationalpartei das oberste Interesse
der Einheit'der würtembergischen Demokratie entgegenhielten, und so jene farb¬
losen Compromisse veranlaßten, welche überall zum Vorschein kamen, wo die
Schwaben ihre Meinung über die deutsche Frage abzugeben hatten.
Dieser Zustand, der aus der Fiction beruhte, daß die Einheit der Partei
möglich sei bei diametral entgegengesetzten Ansichten gerade über die wichtigste
Frage — denn als solche wurde doch die deutsche Frage allgemein anerkannt —
war auf die Länge unhaltbar. Sie war unmöglich von dem Augenblick, wo
die Scheidung der beiden großen Parteien, die inzwischen innerlich gereift war,
auch äußerlich zu Tage trat und sich in besonderen Existenzen verkörperte. Als
dem Nationalverein sich der Reformverein gegenüberstellte, auf Weimar Frank¬
furt folgte, war die deutsche Frage für jeden Politiker zum -rut. — a.ut geworden.
Man mußte Farbe bekennen, das Kokettiren mit Rechts und Links mußte ein
Ende nehmen, und vor dieser unerbittlichen Logik zerfiel auch die Fiction einer
besonderen schwäbischen Fortschrittspartei.
Gerade über Weimar und Frankfurt war man zwar noch glücklich genug
hinübergekommen. Wer jedoch die genauere Geschichte der damaligen Bera¬
thungen im Schooß der schwäbischen Fortschrittspartei kennt, weiß, daß schon
damals der offene Bruch drohte und nur mit Mühe vermieden wurde. Die
Würtenberger, welche nach Weimar gingen, hatten sich zuvor verbindlich ge¬
macht, keinen Antrag zu stellen oder zu unterstützen, dem beizustimmen den bei¬
den Großdeutschen, welche sich angeschlossen hatten, unmöglich gewesen wäre
ein deutlicher Beweis, wie jene Rücksicht auf die „Einheit der Partei" nur zu
einem Terrorismus der Großdeutschen geführt hatte. Als dann der Frank¬
furter Convent nahte, wurde der Bruch nur dadurch abgewendet, daß die
zur Partei haltenden großdeutschcn Demokraten, welche nach Frankfurt gehen
wollten und hierzu vorbereitende Versammlungen gehalten hatten, von diesem
Schritte doch wieder Abstand nahmen, freilich nur uut Rücksicht auf die Un¬
Popularität desselben.
Allein je mehr auf diese Weise die Entscheidung künstlich hinausgeschoben
wurde, um so unerquicklicher gestalteten sich die Verhältnisse und Streitigkeiten
im Innern der Partei, und der Wunsch, endlich aus dieser Situation heraus¬
zukommen, war neben dem Bedürfniß, gerade nach Weimar und Frankfurt und
nach dem kläglichen Debüt der großdeutschen Vereine der öffentlichen Stimme
in Schwaben Ausdruck zu geben, der Hauptgrund, warum von Seite der national
Gesinnten und namentlich auch von Seite der Landbevölkerung die Berufung
einer Landesversammlung verlangt wurde.
Auch dies ist nun freilich wieder specifisch schwäbisch, und so zu sagen lands¬
mannschaftlich, daß eine Meinungsverschiedenheit zwischen den Führern dem
Lande selbst zur Entscheidung vorgelegt, daß der Streit zwischen Groß- und
Kleindcutschland gleichsam zu einer Landesangclegenheit gemacht wurde. Denn
an eine eigentliche Unterwerfung der Minderheit unter die Mehrheit war ja
doch in keinem Falle zu denken. Allein die Traditionen jener Zeit, wo die
demokratische Partei wirtlich noch ihre geschlossene Einheit bewahrte, lassen sich
nicht so leicht beseitigen. und die Nachwirkung derselben hat in jedem Falle das
Gute, daß wenn eine Schwenkung unter diesen Umständen sich nur äußerst
schwerfällig vollzieht, sie dafür, wenn sie vollzogen ist, um so mehr zu bedeuten
hat. Denn bei der Zähigkeit, mit welcher die demokratischen Elemente zu¬
sammenhalten, wird doch allmälig nach dem Gesetz der Schwere die ganze
Masse dem Punkte sich zu bewegen, wo einmal die Mehrheit Fuß gefaßt hat.
Zugleich erhält eine solche Debatte einen gewissen dramatischen Reiz. Es ist
eine wirkliche Debatte, öffentlich vor dem ganzen Lande messen sich die Kräfte
von hüben und drüben, und in diesem offenen Kampfe wird ebenso die unter¬
liegende Partei der Schranken sich bewußt, welche ihr innerlich und äußerlich
gezogen sind, als die siegreiche zu gesteigertem Selbstgefühl angeregt werden muß.
So trafen denn am 14. December Vormittags aus verschiedenen Gegenden
des Landes dreihundert Männer in Eßlingen ein, unter ihnen der Kern der
schwäbischen Demokratie, Männer, die zum Theil in den parlamentarischen
Kämpfen vor dem Jahr 1848 geschult, zum Theil erst seit dieser Zeit ins öf¬
fentliche Leben eingetreten sind. Wenige nur der altliberalen Partei angehörig.
Indem sich die Reihen allmälig füllen, gewinnen wir Zeit, uns die Gruppen,
die sich im Vordergrund bewegen, näher zu betrachten. Die Ehre des Vorsitzes
ist heute jenem silberhaarigen Manne zugedacht, dessen Persönlichkeit ebenso ver¬
söhnlich ist, als er im Kampf für die Volksrechte sich hartnäckig und unerbittlich
gezeigt hat, Gottlob Tafel, vor Zeiten ein Opfer der Burschenschaftsverfolgungen,
dann lange Jahre in den Reihen der würtembergischen Opposition, wie in
Frankfurt auf den Bänken der Linken, eine weithin unter den Gesinnungs¬
genossen bekannte Persönlichkeit durch räh gastliche Haus, das jederzeit den
politischen Freunden geöffnet ist; ihm am nächsten stehend an politischer Ge¬
sinnung Nödinger, der wie er in den Gefängnissen des Hohenasbcrg den ersten
Traum der deutschen Einheit verbüßte und ebenso in vieljähriger parlamenta¬
rischer Laufbahn sein unzertrennlicher Gefährte war; dann Fetzer, der vor zwei
Jahren erklärte, an dem Tage, da der Nativnalverein die Reichsverfassung aufs
Panier schreibe, werde er beitreten, und Wort hielt, ein lebendiges Nachschlage-
duch, so oft eine Bestimmung der Verfassungsurkunde oder auch der Reichsver¬
fassung in Frage kommt. Da erblicken wir serner Adolf Seeger, in schwäch¬
lichem Körper ein willensstarker Geist, der am frühsten und energischsten darauf
drang, daß die Würtenberger sich rückhaltlos der großen Nationalpartei an¬
schlössen, und der ebenso mit scharfer Logik die Gegner zu schlagen als mit ein¬
dringlichen Worten zum Herzen des Volks zu reden versteht, die Seele der na¬
tionalen Bewegung in Schwaben; neben ihm sein Bruder Ludwig Seeger, der
Uebersetzer Berangers, ein begabter, witziger Kopf, der, wenn er eine gute
Stunde hat, durch seine drastische, populäre, mit Humor und Sarkasmus ge¬
würzte Rede großen Eindruck hervorbringt. Neben ihm sei auch gleich ein an¬
derer Dichter und Uebersetzer genannt, der zugegen und gleichfalls warmer Freund
des Nationalvereins ist, Friedrich Notker, von dem nur Wenige wissen werden,
daß er in dem von Paul Pfizer im Jahre 1830 herausgegebenen „Brief¬
wechsel zweier Deutschen" der eine der beiden Briefsteller ist. Eine andere
Gruppe bildet sich um Julius Hölder, eine milde, gutmüthige, ächt schwäbische,
dabei tüchtig patriotische Natur, dem seit Schoders Tod die Führerschaft der
liberalen Partei unbestritten wäre, wenn seine Gewissenhaftigkeit mit einer
gleich großen Energie gepaart wäre. In seiner Nähe sitzt der Fabrikant
Dr. Ammermüller, der besonders um den gewerblichen Fortschritt des Landes
wohl verdient, in den Zollvereinswirrcn dagegen ein um so hartnäckigerer
Vertheidiger des Schutzes ist. wenn er auch nicht so weit geht wie Moritz
Mohl, der übrigens an dieser Versammlung so wenig, wie an allen ähnlichen,
sich betheiligt, und der — von jeher eine Partei für sich — vollends seit sei¬
nem Erscheinen auf dem Frankfurter Tag nicht mehr zur Partei gerechnet wer¬
den kann. Ein anderer Gegner des Handelsvertrags ist der heutige Vicepräsi-
dent, Fabrikant Deffner, unähnlich seinem Vater, der im Jahre 1833 fast der
einzige Abgeordnete von der liberalen Opposition war, der weiterblickend als
seine Gesinnungsgenossen dem Zollvereinsvertrag mit Preußen seine Zustimmung
gab. Aber auch Gustav Müller ist erschienen, das Mitglied des Handelstags¬
ausschusses, der soeben eine vielversprechende Agitation für den Handels¬
vertrag und die Erhaltung des Zollvereins in Schwaben ins Leben gerufen
hat. Eine weitere Gruppe endlich, die sichtlich zu großen Dingen sich rüstet
und auf welche heute vor Allem die Blicke gerichtet sind, hat sich dort um
Probst gebildet, den ultramontanen Demokraten, dem seine Vertheidigung des
Concordats noch heute unvergessen ist, und der gleichwohl als feiner, viel¬
gewandter Kopf und eleganter Redner bis heute zu den Zierden der Volks¬
partei gerechnet wurde. Mit der Glätte eines Aals wußte er sich bisher durch
großdeutsche und kleindeutsche Programme hindurchzuwinden und sich in allen
Lagern möglich zu machen; er war es, der hauptsächlich die Oestreicher zur
Theilnahme an der Weimarer Versammlung zu bewegen suchte und dann selbst
dort erschien, um seinen grvßdeutschen Standpunkt zu vertheidigen, während
seine beiden heutigen Bundesgenossen, Becher und Oesterlen, auf dem Punkte
standen nach Frankfurt zu gehen — Becher der Reichsregent vom Jahr 1849,
später gesuchter Vertheidiger in politischen Processen, mit fließender Rede aus¬
gestattet und mit einer Stimme, deren Wohlklanges er sich selbst am besten
bewußt ist, noch heute zur äußersten Linken gehörig, wie Oesterlen, der
auch als Politiker den Advocaten nicht verläugnet und dessen breite pathetische
Redeweise mitunter an den Geschmack des Jahres 1848 erinnert, der aber
freilich noch nicht zu vergleichen ist mit dem excentrischen ehemaligen Pfarrer
Hopf, längere Zeit Redacteur des Beobachters, dem erkant, teriidlcz der Partei.
Nur Wenige fehlen, die sonst auf diesen Versammlungen zu erscheinen Pflegen.
Wir vermißten von bekannteren Namen den Director Pfeifer, den eifrigen Freund
des Nationalvereins und des Handelsvertrags, Sigmund Schott, den sonst
unzertrennlichen Gefährten Probsts, Reyscher, den von Tübingen hinweg-
gemaßregelten Professor, jetzt Abgeordneter der Stadt Stuttgart, und Hermann
Reuchlin, den Geschichtschreiber Italiens, die beiden letzten übrigens mehr zur
altliberalen Partei neigend.
Die Anträge in der deutschen Frage, welche das Conn6 vorbereitet hatte,
waren im Wesentlichen übereinstimmend mit den Beschlüssen des Abgeordneten¬
tags und der Generalversammlung des Nationalvereins. Sie sprachen die
entschiedene Verwerfung des Delegirtenprojects und des Bundesgerichts aus,
erklärten sich für die Ausführung der gesetzlich zu Stande gekommenen Reichs¬
verfassung vom 18. März 1849, und für Einberufung einer Nationalversamm¬
lung zur Lösung der Oberhauptsfrage und zur Vornahme der etwa für noth¬
wendig und wünschenswert!) erkannten Abänderungen der Reichsverfassung.
Endlich wurde es als eine dringende nationale Forderung bezeichnet, daß alle
deutschen Bundesstaaten mit Einschluß Deutschöstreichs sich dem in der Reichs¬
verfassung begründeten Gesammtverband anschlössen. Sollten aber der Her¬
stellung einer Gesammtdeutschland umfassenden bundesstaatlichen Einigung in
Deutschöstreich oder in einem andern deutschen Staate für jetzt unübersteigliche
Hindernisse im Wege stehen, so dürfe dies für die übrigen Staaten kein Ab¬
haltungsgrund sein, mit der Ausführung des nationalen Werks an ihrem Theile
zu beginnen.
Gegen den letzteren Punkt richtete sich vornehmlich die Einsprache der groß-
deutsch-demokratischen Fraction. Deutsch-Oestreich dürfe auf keine Weise aus¬
geschlossen werden, die gleichmäßige Theilnahme aller deutschen Stämme und
Staaten sei die wesentliche Voraussetzung einer engeren Vereinigung. Es war
eine Wiederholung der bekannten Sätze der großdeutschen Partei. Aber auch
gegen die Forderung der Reichsverfassung legten die Herren Probst, Oesterlen,
Becher Verwahrung ein, deren tiefer liegendes Motiv, wenn es auch nicht ge
radezu ausgesprochen wurde, die Abneigung gegen die monarchische Spitze, und
gegen die mit der Reichsverfassung unvermeidlich gegebene preußische Führer-'
schaft war, eine Abneigung, die durch die Adoption der Reichsverfassung von
Seite der Nationalpartei nur noch verstärkt wurde. Früher, als man mit die¬
ser Forderung noch allein stand, hatte man sich gleichfalls für die Reichsverfassung
erklärt; seitdem aber der Nationalverein sie in sein Programm aufgenommen,
war sie auf einmal verdächtig geworden. Es Streite, sagten die Redner dieser
Seite, Wider den Grundsatz der Nationalsouveränetät, wenn man das künftige
Parlament an die Reichsverfassung wie an eine Jnsiruction binden wolle, wäh¬
rend es doch aus eigner Souveränetcit die Verfassung zu beschließen habe. Am
bezeichnendsten war in dieser Beziehung die Aeußerung: für eine Reform sei
die Reichsverfassung zu viel, für eine Revolution zu wenig. Wenn dann
dieselben Redner doch gegen den Bundestag so artig waren, die Streichung
des Paragraphen zu beantragen, der die Existenz dieser Behörde für eine blos
factische, nicht legale erklärt, so sah dies fast wie eine Hinterthür aus, um sich
eventuell den Weg zum Reformverein offen zu halten.
Es waren also Einwände doppelter Art, die von der Nationalpartei be¬
kämpft werden mußten. Der Widerspruch gegen die Reichsverfassung beruhte
auf extrem demokratischen, der Widerspruch gegen den Passus über Deutsch¬
östreich auf großdeutschen Motiven. Die beiden Hauptelemente des Wider¬
stands gegen die nationale Sache, die einseitige Demokratie und das Oestreicher-
thum, kamen auf diese Weise zum Wort, und nach beiden Seiten hin hatte
die Nationalpartei das Feld zu behaupten. Auf die einzelnen Gründe, welche
hinüber und herüber ins Treffen geführt wurden, einzugehen, ist überflüssig.
Neues konnte die Debatte, die jedoch zuweilen zu glänzender Höhe sich erhob,
eben nicht bieten. Sie endete mit einer völligen Niederlage der großdeutschen
Demokratie, kaum ein Dutzend Hände erhoben sich für ihre Amendements.
Und in demselben Sinn wurden dann auch die übrigen zum Theil verwandten
Gegenstände erledigt. Namentlich wurde aus dem Plan, eine festere Organi¬
sation der Partei durch regelmäßige Geldbeiträge zu erzielen, alles dasjenige
entfernt, was an eine particularistische Exclusivität erinnern oder dem National¬
verein hätte Eintrag thun können. Daß schließlich ohne Widerspruch der Bei¬
tritt zum Nativnalvercin wieder empfohlen wurde, war die selbstverständliche
Folge des Gangs, welchen die Verhandlung nahm.
Können wir uns ersparen, auf die Einzelheiten der Debatte einzugehen,
an der sich auf der einen Seite Oesterlen, Probst, Becher und Hopf, auf der
andern die beiden Seeger, Hölder und Fetzer betheiligten, so dürfen wir da¬
gegen die Bemerkungen nicht unterdrücken, die über die Stimmung und den
Geist, der in der Versammlung herrschte, sich uns aufdrängten, und diese Be¬
merkungen siud sehr erfreulicher Art. Wer sich auf einen Augenblick etwa die
Volksleben des Jahres 1848 oder auch manche Scenen aus dem Jahr 1859
ins Gedächtniß zurückrief, fand sich angenehm überrascht durch die Wahrneh¬
mung, wie sehr die Phrase ihre Macht über die Gemüther verloren hatte, so
oft ein Redner in einen solchen Ton verfallen wollte, konnte er sicher sein,
daß er ohne Eindruck blieb, höchstens einige Heiterkeit erweckte; die schönsten
Effecte blieben wirkungslos, speciell die großdeutsche Phrase wollte gar nicht
mehr verfangen. Auch als Oesterlen die Autorität Uhlands für sich in An¬
spruch nahm und die Dichterworte vom Riesenleib Germaniens citirte, der
nicht zerstückelt werden dürfe, bewahrte die Versammlung den Takt des Schwei¬
gens, und als Becher mit dem schönen Organ rief: „Die ganze Linke in Frank¬
furt war grvßdeutsch; wäre Robert Blum nicht großdeutsch gewesen, er läge
nicht in der Brigittenau bei Wien!" belehrte ihn die Kälte der Zuhörer ver¬
ständlich genug über den Unterschied der Zeiten, und — man darf es sagen —
über die fortgeschrittene politische Bildung. Als aber Oesterlen rief: „in Preu¬
ßen sind genau dieselben Schwierigkeiten zu überwinden wie in Oestreich," als
er seinen bekannten Satz wiederholte: „ich sehe nur hier Großpreußen, dort
Großöstreich, wir aber, wir sind die wahrhaft deutsch Gesinnten," scholl ihm
von allen Bänken lauter Widerspruch entgegen.
Woher dieser Umschlag der Stimmung? Genauer Beobachtende werden
ihn nicht erst an diesem Tag und in dieser Versammlung wahrgenommen ha¬
ben. Ein fleißiger Theaterbesucher z. B. müßte fast statistische Daten zu liefern
im Stande sein über die Abnahme der großdeutschen Demonstrationen, zu wel-
chen vor noch nicht langer Zeit passende und unpassende Stellen im Stuttgarter
Hoftheater benutzt zu werden pflegten. Man sage nicht, die Geister seien ruhi¬
ger oder abgestumpfter, Demonstrationen überhaupt abgeneigter geworden. Es
sind sehr bestimmte Gründe, welche langsam, aber stetig jenen Umschlag herbei¬
geführt haben.
Zunächst die Dinge in Oestreich, die fortdauernde Unfertigkeit der dortigen
Zustände, das Festhalten an einer Gesammtverfassung, welche die Betheiligung
an einer wirklichen deutschen Reform schlechterdings zur Unmöglichkeit macht,
selbst wenn der gute Wille dazu vorhanden wäre. Noch vor zwei Jahren hatte
man aus der Eßlinger Versammlung in einer besondern Adresse den Deutsch-
östreichern die Sympathien Süddeutschlands entgegengebracht; sie wurde unbe¬
achtet bei Seite gelegt. Wo seitdem deutsche Männer zur Berathung der Fra¬
gen des Gesammtvaterlands zusammentraten, fehlten trotz wiederholter specieller
Aufforderung die Oestreicher. Und selbst nach Frankfurt hatte Herr v. Schmer¬
ling nur einige Getreue zu senden vermocht. Wo die östreichische Presse sich
überhaupt mit den deutschen Angelegenheiten beschäftigte, geschah es nur, um
in unfruchtbarer Weise gegen die nationale Partei zu polemistren. Was Wun¬
der, wenn ein solches Verhalten endlich auch in großdcutschen Kreisen seine
Wirkung äußerte, wenn auch hier allmälig der Gedanke Eingang fand, daß
man — wie ungern immer — vorläufig auf Deutschöstreich verzichten müsse.
Das Programm einer refvrmfeindlichen Partei, welche eben den Beitritt Oest¬
reichs zur ersten und hauptsächlichsten Bedingung, vom Willen Oestreichs also
die Reform geradezu abhängig machte, konnte diese Ansicht nur bestärken.
Sodann aber die Dinge in Preußen. Wollten die Feinde der Reform
über die preußische Reaction triumphiren, welche dem Gedanken des preußisch-
deutschen Bundesstaats vollends den Todesstoß geben werde, so trat gerade das
Gegentheil ein. Vor dem einmüthigen herrlichen Widerstande, welchen das
preußische Volk der Reaction entgegensetzte, begannen die festgewurzelten Anti¬
pathien der Süddeutschen sich zu legen. Die Haltung des Abgeordnetenhauses
flößte zum mindesten Achtung ein, und wie jene Prüfung in Preußen selbst
dazu diente, nicht nur das Bewußtsein vom Gut der Verfassung, sondern auch
das Bewußtsein von der Zusammengehörigkeit mit dem Gesammtvaterland
mächtig zu heben, so trat sie zugleich versöhnend zwischen die Antipathien des
Südens gegen den Norden. Es kam aus vollster Ueberzeugung, wenn die Eß-
linger Versammlung ihren Präsidenten beauftragte, dem Abgeordnetenhaus und
Volk in Preußen ihre Anerkennung für deren unerschütterliche Haltung in dem
obschwebenden Verfassungsconflict auszudrücken. In einer Zeit, da die Wun¬
den so tief empfunden werden, welche jene überaus traurige Wendung in
Berlin der deutschen Sache schlägt, mag es am Platze sein, auch diese einigermaßen
tröstliche Wirkung nicht zu übersehen.
Solches war die Stimmung der Eßlinger Versammlung, die nicht etwa eine
Nationalvereinsversammlung war, die vielmehr die schwäbische Demokratie repräsen-
tirte, welche mit Recht bis jetzt als wesentlich grvßdeutsch gegolten hat. Aber die
Versammlung lieferte den Beweis, daß theils durch den Gang der Politik über¬
haupt, theils durch die Anstrengungen der Resormfcindc, theils endlich durch die
Reibungen im eigenen Schoß die schwäbische Fortschrittspartei sich wesentlich den
Anschauungen der deutschen Nationalpartei genähert hat. In hartnäckiger Aus¬
einandersetzung mit einer extrem grvßdeutschcn Fraction ist sie in ihrer weit
überwiegenden Mehrheit immer entschiedener auf einen Standpunkt gedrängt
worden, aus welchem sie den Liberalen in Mittel- und Norddeutschland die Hand
reicht. Mögen die großdeutschen Sympathien immerhin nachwirken, mag auch
nach Eßlingen vielleicht der Nationalvercin keine glänzende Zukunft in Schwa¬
ben haben, die Partei hat es wenigstens unzweideutig ausgesprochen, daß sie
mit den nationalen Bestrebungen im übrigen Deutschland im Zusammenhang,
mit ihnen zu gemeinsamem Wirken verbunden bleiben will, — und dies ist die
eigentliche Bedeutung der Eßlinger Versammlung. Die Würzburger Regie¬
rungen und ihre Freunde haben bisher den Rückhalt, den sie an den süddeut¬
schen Sympathien und Antipathien hatten, weit überschätzt. Die Versammlung,
welche zur Berathung der Handelsvertrags- und Zollvcreinsfrage auf den
3> Jan. nach Stuttgart berufen ist, wird den Beweis liefern, daß auch in
dieser Beziehung bisher die Macht der Vorurtheile in Schwaben überschätzt
Seit die Bewegung für Einheit und Freiheit ihren vor zwölf Jahren
unterbrochenen Lauf wieder begonnen hat, konnte man gespannt sein, welchen
Antheil an ihr die Flüchtlinge von Acht- und Neunundvierzig nehmen würden.
Ursprung und Art der neuen Bewegung brachte es freilich mit sich, daß diese
Frage nicht auf der Stelle entschieden wurde. Die Flüchtlinge waren Demo¬
kraten; aber die ersten Jahre nach dem Regierungsantritte des Prinz-Regenten
gehörten den Altliberalen, und wenn selbst die im Lande gebliebenen Demokraten
sich damals größtentheils noch im Hintergründe hielten, so war für die aus¬
gewanderten vollends kein Grund vorhanden, sich in die ersten Reihen der Ar¬
beiter und Kämpfer zu drängen. Stand den meisten von ihnen doch nicht
einmal sogleich die Rückkehr in die verscherzte Heimath offen. Bevor Amnestie
oder Verjährung sie Alle zurückrief, verstrichen noch Jahre. Gleichwohl gab
es bei der thatsächlichen Preßfreiheit, die sich nach 18S8 in Deutschland ent¬
wickelte, und bei dem gesteigerten Verkehr mit dem Auslande Mittel genug,
auch für die Draußenlebenden, auf die Gestaltung der vaterländischen Zustände
in ihrem Sinne einzuwirken; und da inzwischen obendrein fast alle die Schran¬
ken gefallen sind, welche sie noch in die Fremde bannten, so ist gegenwärtig
ein summarischer Ueberblick über ihre Stellung zur deutschen Politik nicht mehr
unmöglich.
Diejenigen Begebenheiten, welche der Demokratie in Deutschland seit dem
vorigen Jahre einen gewissen Vorsprung vor den Constitutionellen gegeben haben,
mußten natürlich auch die demokratischen Flüchtlinge zu lebhafterer Theilnahme
an dem Gang der Dinge herausfordern. Ein großer Theil von ihnen zwar
wurde ungefähr gleichzeitig durch den Ausbruch des nordamerikanischen Bürger¬
krieges verhindert, seine politische Energie der alten Heimath zu widmen.
Aber für die Flüchtlingsschaften in England und der Schweiz, in Frankreich
und Belgien bestand kein solches Hinderniß. Sie konnten ihrem Drange nach¬
geben. Es ist also erlaubt zu schließen, daß sie ihre Stellung bereits genommen
haben. Aus den Zeichen von Theilnahme, welche vorliegen, kann mit einer
gewissen Sicherheit auf die überhaupt zu erwartende Theilnahme gefolgert wer¬
den. Unsre Flüchtlinge sind nicht mehr das gespenstisch drohende unbekannte
Etwas, als das besorgte Familienväter und Staatshämorrhoidarien sie bisher
mögen angesehen haben.
Da lassen sich nun drei Schichten ziemlich scharf unterscheiden. Die Einen
stehen der Reformpartei, die im Nationalverein ihre sichtbare Organisation hat,
am nächsten, und sind ihr entweder sofort beigetreten, wie z. B. der letzte Prä¬
sident des Parlaments, Löwe von Calbe. oder sind mehr oder weniger ge¬
neigt sich ihr anzuschließen, seit sie mit der Reichsverfassung ein formulirtes
Programm aufgestellt hat, wie Vogt in Genf, Karl Grün in Brüssel, Ludwig
Simon, Bcunberger und H. B. Oppenheim in Paris, und wie Heinrich Simon
gewesen sein würde, wenn der Wallensee ihn nicht verschlungen hätte. Zu dieser
Gruppe gehört auch Kinkel, der seinen Beitritt erklärte, als Metz und Streit im
letzten Sommer die Londoner Nationalvereinsgenossen besuchten, und Friedrich
Kapp aus Newyork, der einen Theil des letzten Sommers und Herbstes in
Deutschland zugebracht hat. Eine zweite Gruppe machen diezenigen aus, welche sich
auf den Weg der Reform schlechterdings nicht einlassen wollen, sei es aus
pessimistischen Bedenken gegen die allgemeine Gangbarkeit dieses Weges, sei es
aus Einwänden des Preußenhasses gegen das Banner, unter welchem die Re¬
formpartei marschirt. In ihr befinden sich z. B. Blind in London, Temme in
Zürich und Kolb in Frankfurt am Main (früher ebenfalls in Zürich). Ob
Freiligrath ebenfalls zu dieser Gruppe zählt oder zu einer gleich zu bezeichnen¬
den dritten, muß dahingestellt bleiben. Gewiß ist, daß er mit Kinkel ge¬
brochen hat, seit dieser dem Nationalverein beigetreten ist, was Blind nicht für
nöthig gehalten. Gewiß ist ferner, daß Freiligrath dem Haupt der dritten
Gruppe persönlich nahe steht: dem geisteskräftigen und die Seinen despotisch
regierenden Karl Marx. Nicht umsonst ist Marx ein Schwager des ehemaligen
preußischen Ministers v. Westphalen; wie dieser dem rechten Extrem, so ge¬
hört jener dem linken Extrem als Flügelmann an. Um Marx halten sich
Trümmer oder Materialien, wie man will, der „proletarischen Partei" geschart,
die es mit der Herrschaft der Mehrheit buchstäblich nimmt und gegen die
Demokraten gemeinen Schlages daher auch eine gründliche Verachtung hegt.
Daß diese Gesellschaft blos von einer Revolution etwas erwarten kann, ist klar.
Ob dagegen die Blind, Temme und Kolb nicht zuletzt doch noch zu einer der
in Deutschland kämpfenden politischen Parteien herübergezogen werden, ist eine
andere Frage. Es ist möglich, daß sie und ihresgleichen, wenn sie einmal wäh¬
len müssen, zum Nationalverein stoßen; die Wahrscheinlichkeit ist aber dafür.
daß die Mehrzahl es alsdann macht, wie die Exdemagogen Schulz von Weil¬
burg und Kopp von Heidelberg, die zum allgemeinen Erstaunen an der groß-
deutschen Versammlung in Frankfurt theilnahmen. und wie Herr Fröbel, den
dort zu finden Niemand mehr erstaunt war. Um so sicherer aber werden dann
ihre Antipoden in der Flüchtlingswelt, wie Vogt und die drei Pariser, den
Nationalvcrein verstärken.
Daß dies ein langsamer organischer Proceß ist, kein mit revolutionärer Ge¬
walt und Plötzlichkeit auftretender, hat der Erfolg des vom Nationalverein ge¬
faßten Beschlusses zu Gunsten der Reichsverfassung gezeigt. Wer von einem
solchen Beschluß überhaupt so etwas wie eine clektrisirende Wirkung erwartete,
hat sich gründlich getauscht. Vor zwei, drei Jahren hätte derselbe so wirken
können; jetzt nicht mehr. Und wer bei Sinnen ist, der wird sich darüber
eher freuen, als betrüben. Es wäre sicherlich nicht gut gewesen, wenn dieser
Beschluß einen demokratisch-revolutionären Massenbeitritt auf der Stelle nach
sich gezogen und somit aus die Länge unausbleiblich den Charakter des Vereins
verwandelt hätte. Besser ist es, der Verein behält Zeit, alles Zuströmende sich
allmälig zu assimiliren. Das Zutrauen selbst wird darum nicht ausbleiben.
Mit der Reichsverfassung ist auf jeden Fall den Revolutionären eine Waffe aus
der Hand gewunden, die sie nicht verfehlt haben würden zu gebrauchen, sobald
der Nationalverein seine Unfähigkeit verrathen hätte, die öffentliche Stimmung
länger zu beherrschen.
So glauben wir denn, daß auch ohne sofortigen und förmlichen Anschluß
der Flüchtlinge an die Fahne der Reform von ihnen nicht viel zu befürchten
ist. Sie sind unter sich zerklüftet, ja zum Theil feindseliger geschieden, als
von uns — man erinnere sich nur an die vor drei Jahren wüthende Fehde
zwischen Vogt und Marx. Die „proletarische Partei" und die Bourgeois-Demo¬
kraten werden niemals mit einander gehen. Dazu kommt, daß es Führer
ohne Heer, und daß es — so gut wie H. v. Gagern, der es in Frankfurt selbst
von sich aussagte — alternde Männer sind. Die lange Trennung von der
Heimath hat die früheren Vertraucnsbande gelockert oder ganz aufgelöst. Seit
Z849 ist ein neues Geschlecht in Deutschland herangewachsen, das nicht gewohnt
ist, Herrn Karl Marx zu gehorchen oder in den Späßen des Herrn Karl Vogt
das Nonplusultra menschlichen Witzes zu belachen. Die Thätigkeit, der diese
Männer in der Fremde sich hingegeben haben, war fast durchgängig nicht der
Art, ihr Gedächtniß daheim recht frisch zu erhalten. Viele haben obendrein in
der Sorge um die nackte Existenz die Festigkeit vorläufig eingebüßt, die sie
früher in der Rede und im Agitiren besitzen mochten. An die eigenthümliche
Art der politischen Arbeit, die eine mehrjährige Reformbewegung entwickelt
hat, werden Wenige von ihnen überhaupt gewöhnt sein; denn wie Viele sind
eS, die in der Fremde an praktischer Politik sich haben betheiligen können?
Vogt, Kapp. Schurz und einige andere Deutschamerikaner, die hier nicht mit¬
zählen, weil die transatlantische Politik sie ganz hingenommen hat — eine
verschwindende Minderheit also, die keinerlei Ausschlag geben kann. Um wie viel
sind den Flüchtlingen die Daheimgebliebenen also überlegen an Uebung, Ge¬
schick und öffentlichem Vertrauen! um wie viel vor Allein an politischer Jugend-
kraft, die ihres Erfolges gewiß ist! Das Deficit in diesem Punkte reicht allein
hin, selbst die unheilbaren Revolutionäre unter unseren Flüchtlingen für die
Reformpartei zu sehr ungefährlichen Rivalen zu machen. Sehen wir doch auch an
vielen von unseren eigenen alten Parteigenossen von 1848 und der vormärz¬
lichen Zeit, daß ihr Mangel an praktischem Idealismus ihnen nicht erlaubt,
mit jüngeren Genossen gleichen Schritt zu halten. Wer unter ihnen von dieser
welthistorischen Art Idealismus nicht einen ganz besonders unerschöpflichen Fonds
hatte, der hat ihn damals zugesetzt, und vermag jetzt, wo es aufs Neue zu
hoffen, zu streben und zu kämpfen gilt, nur noch kümmerliche Reste auszutrei¬
ben. Es ist nicht denkbar, daß dies bei den ausgewanderten Achtundvierzigern
wesentlich anders sei als bei den zu Hause gebliebenen; höchstens daß die
natürliche Sehnsucht des Verbannten sich und Andere im einzelnen Fall darüber
täuschen mag.
Die staatlichen Verhältnisse nicht blos, sondern auch die Art der Gerichts¬
pflege waren in Athen der Bildung eines Juristenstandes höchst ungünstig.
Nachdem die Ausübung der Jurisdiktion völlig in die Hände des Volkes über¬
gegangen war, sanken die Behörden selbst beinahe zu bloßen Jnstruenten, Prä¬
sidenten und Executoren der Volksgerichte herab, und bei dem jährlichen Wech¬
sel der Beamten wird wohl oft, wie es auch in Rom vorzukommen Pflegte,
mehr Kenntniß des Rechts und der Gesetze bei den Schreibern und Dienern
der Kanzleien als bei den Magistraten zu finden gewesen sein. Außerdem
hätte auch ein ausschließliches Studium des Rechts trotz der Proceßsucht, die
unter den Athenern herrschte, kaum seine Früchte für die Praxis und für die
Mitbürger tragen können, da das Gesetz verlangte, daß Jeder seine Sache vor
Gericht persönlich führte, wodurch die Uebernahme der Processe von Seiten
juristisch gebildeter Sachwalter ein Ding der Unmöglichkeit wurde. Nur in
Krankheitsfällen gestattete man eine Ausnahme von dieser Regel, wie z, B.
für den an seinen Wunden darniederliegenden, des Hochverrates angeklagten
Miltiades, dessen Bruder Tisagvras, und für den kranken Jsolrates, dessen
Sohn Aphareus plaidirte; natürlich galt es auch als Entschuldigung, wenn
man, wie des Jsol'rades Freund Niklas, notorisch unfähig war, im Zusammen-
hange zu sprechen. Wiewohl sich nun voraussetzen läßt, daß bei einem Volke,
das in allen Stücken an die Oeffentlichkeit und an das mündliche Verfahren
so , gewöhnt war, wie das ätherische, die Nedefertigteit nicht so dünn gesäet
gewesen sein wird, wie bei uns, so mag doch manches Herzklopfen und Kopf¬
zerbrechen den ersten Redevcrsuchcn vorausgegangen sein. Darauf deutet auch
Aristophanes hin, wenn er in seinen „Rittern" Kleon zum Wursthändler
sagen läßt: „Es geht Dir wie den meisten Menschen. Wenn Du einmal
gegen einen fremden Schutzgenossen ein Proceßchen wohl führtest, dabei die Nacht
durch schwatzend und Selbstgespräche auf den Straßen haltend, und Wasser
trinkend und prahlend und die Freunde belästigend, so würdest Du wohl gar
für einen tüchtigen Redner gehalten." Doch half man sich bei eigener Un-
geübtheit dadurch, daß man selbst nur einen kurzen Vortrag an die Richter
hielt und dann mit Erlaubniß derselben die Beistände aus der Zahl seiner
Freunde, welche man mitbringen durfte, die eigentliche Anklage- und Verthei-
digungsrede halten ließ.
Ferner lag es auch sehr nahe, sich dadurch aus der Verlegenheit zu ret¬
ten, daß man sich von einem sachkundigen Manne eine Rede ausarbeiten
ließ und dieselbe seinem Gedächtniß einprägte, und wenn auch der streng
gesetzliche Sokrates darin eine Umgehung des Gesetzes erblicken wollte, die
ihm von Lysias angebotene Vertheidigungsrede deshalb zurückwies und seinem
treuen Schüler Aeschines, der aus Armuth für Andere gerichtliche Reben
verfertigte, riech, doch lieber dadurch von sich selbst zu borgen, daß er sich
im Genusse der Speisen beschränkte, so war man doch damals längst über
derartige Scrupel hinweg. Der erste Meister in der tunstmäßigcn politischen
Rede, Antiphon, soll zuerst solche Reden für Geld ausgearbeitet haben, und da
seine Geschicklichkeit und die Unwiderstehlich^ seiner Worte bekannt waren,
so erhielt er auch die hohen Preise, die er stellte. Und trotzdem, daß die
komischen Dichter den neuen Erwerbszweig mit ihrem Spotte geißelten, fand
AntiPhon viele Nachfolger. So sah sich auch Jsokrates durch schwächliche
Constitution und eingeborne Schüchternheit genöthigt, auf die politische Lauf¬
bahn zu verzichten, gründete eine berühmte Schule und fertigte gerichtliche
Reden für Andere. In der einzigen Rede, die er, und zwar für sich selbst
gehalten hat, erwähnt er geradezu, daß es eine große Menge Leute gäbe, die si
mit solcher Schriftstellerei befaßten. Auch von Lysias ist es bekannt, daß er
dnrch den unter der Herrschaft der dreißig Tyrannen erlittenen Verlust seines
Vermögens gezwungen war, sein Talent den gerichtlichen Parteien zu widmen
und sein Schüler Jscius that dasselbe. Ferner machte auch Demosthenes keine
Ausnahme von der herrschenden Gewohnheit, sondern, da er von seinen
untreuen Vormündern um sein Erbtheil betrogen worden und von allen Mit¬
teln entblößt war, wucherte er mit seinen herrlichen Gaben und trieb das Ge¬
schäft der „Logvgraphie". Sein Freund Aeschines nennt ihn einen treulosen
Redcnmacher, der sür und gegen befreundete Personen geschrieben und die für
die eine Partei gefertigte Rede an die andere verrathen habe: eine Beschul¬
digung, die freilich bei dem Charakter des Aeschines wenig Glauben verdient.
Fast gleichzeitig erwarb sich ein beträchtliches Vermögen der Korinthier Dinarch,
von dem der Pseudoplutarch schreibt: „Ein Freund Kassandcrs geworden,
wurde er sehr wohlhabend, indem er Geld für die Reden einnahm, welche er
für Proccssircnde schrieb, und ohne öffentlich aufzutreten (denn er war es nicht
im Stande) wurde er deshalb den berühmtesten Rednern gleichgestellt." Daß
es übrigens auch außerhalb Attitas vorkam, daß man sich auswendig gelern¬
er fremder Reden bediente, zeigt Lysanders Beispiel, der, von Erbitterung
gegen Agcsilaos getrieben, mit dem Plane umging, das erbliche Königthum
in Sparta zu stürzen und sich zu einem darauf bezüglichen Antrage eine Rede
von Klcon aus Halikarnaß ausarbeiten ließ. Nach seinem Tode wurde die¬
selbe bei einer Nachsuchung im Hause gefunden. Agesilaos wollte sie auch
veröffentlichen, wurde aber davon abgehalten, weil man sich vor der Kraft und
Eindringlichkeit derselben fürchtete. Zuweilen konnte es sogar beredten Män¬
nern Geld einbringen, wenn sie schwiegen, anstatt zu reden; darauf scheint
sich wenigstens zu beziehen, was Aristophanes den Blcpsidemos zu dem plötz¬
lich reich gewordenen Chrcmylvs sagen läßt: „O Freund, den Handel will
ich schon mit Wenigem Dir völlig abthun, ehe davon die Stadt hört: das
Maul den Rednern nur verstopft mit Groschen!"
Bei Abfassung der Reden mußte aber je nach der Beschaffenheit des Falles
ein gewisses Maß der Länge beobachtet werden, da die Redner in den Gerichts¬
höfen ihre bestimmte Zeit zugemessen bekamen. Es geschah dies vermittelst der
Klepsydra, einer sehr einfach construirten Maschine, in welcher das in ein oberes
Gefäß gegossene Wasser dnrch den siebähnlichcn Boden desselben in ein darunter
befindliches zweites herabsickerte. Während der Vorlesung von Gesetzesstellcn und
D ocumcnten und während der Abhörung der Zeugen ließ sich der Redende durch
einen bei der Klepsydra stehenden Subalternbeamten den Abfluß des Wasser-
hcmmen. Von der verschiedenen Quantität des Wassers bekommt man eine
Vorstellung, wenn man findet, daß in dem Processe wegen Gesandtschaftsver¬
rath, der zwischen Demosthenes und Aeschines geführt wurde, jede Partei elf
Amphoren (— 250 preuß. Quart), bei dem Erbschaftsprocesse, in dem Demo-
sthenes gegen Makatartos diente, dem Ankläger und Vertheidiger je eine
Amphora (— 22V4 Quart), jedem der folgenden Sprecher aber gar nur drei
Achtel der Amphora zuertheilt wurden. Am Schlüsse der Rede pflegte man
wohl auch, wie Demosthenes in den beiden Reden gegen Phormiv und Nausi-
machos gethan hat, dem Diener zuzurufen, daß er nun das Wasser der Klepsv-
dra ausgießen könne.
Uebrigens durfte der Redner, so lange er sprach, von seinem Gegner,
nur wenn er denselben selbst dazu aufforderte, von dem Richter, nur wenn
er ungehörige Dinge vorbrachte, unterbrochen werden. Es gab in Athen auch
eine Art von Staatsanwälten. Sie wurden gewählt, wenn ein Antrag aus
Abschaffung irgend eines bestehenden Gesetzes gestellt worden war. Dem
alten Gesetze wurde dann förmlich der Proceß gemacht, und die Staats¬
anwälte hatten dasselbe gegen den Antragsteller, als den Kläger, vor der Be¬
hörde der Nomotheten zu vertheidigen. Sie traten aber auch ein, um im
Namen des Volks Klage vor Gericht zu führen, wie z. B. gegen Beamte,
deren Rechnungen am Ende ihres Amtsjahres nicht stimmten. Obgleich es
nun aber an Leuten nicht mangelte, deren Hülfe man beim Processiren gegen
Bezahlung in Anspruch nehmen konnte, und obgleich die Rhetorik Mrch den
Einfluß der Sophisten, der Meister in der Kunst der Trugschlüsse, Scheingründe
und Spitzfindigkeiten, geradezu eine Anweisung wurde, wie man einer schlech¬
ten Sache vor Gericht zum Siege verhelfen könnte, so fehlte doch immer sowohl
den sophistischen Schwätzern selbst, als ihren sich mit den fremden Federn
schmückenden Kunden die erforderliche Kenntniß des positiven Rechts, und auch
die Koryphäen der Redekunst sahen sich deshalb veranlaßt, sich das einschla¬
gende Nechtsmatcrial, die betreffenden Gesctzesstellen und Urkunden für Geld
von besonderen, juristischen Handlangern herbeischaffen zu lassen, die „Pragma¬
tiker" genannt wurden. Daß deren Stellung sehr subaltern war, ergibt sich
aus Cicero, der von ihnen sagt: „Bei den Griechen lassen sich Menschen von
dem niedrigsten Stande, um einen elenden Lohn gedungen, als Helfershelfer
in den Processen von den Rednern brauchen." Diese merkwürdige Trennung
des juristischen Wissens von der Kunst, dasselbe durch die Macht der Rede
geltend zu machen und zu verwerthen. findet man in ähnlicher Weise bei den
Römern wieder. Der gerichtliche Redner suchte hier wie dort, nicht blos auf
den Verstand durch rechtliche Gründe überzeugend zu wirken, sondern auch,
wie in den Volksversammlungen, demagogische Künste zu entfalten, die Leiden¬
schaften zu erregen und den Launen des Volks zu huldigen.
In Rom war während der alten Zeit die Kenntniß und Pflege des Rechts
ein Prärogativ der patricischen Kaste. Da es keine geschriebenen Gesetze gab,
so pflanzte sich die Rechtskunde als ungeschriebene Tradition in den aristvkra-
dischen, vorzüglich den priesterlichen Familien fort, und selbst nach Aufstellung
der Zwölftafelgesetze blieb das Räthselhafte und Geheimnißvolle an den Rechts¬
normen haften, da sowohl die von den Priestern fortgeführte Sammlung von
Rechtsfällen, worauf sich das Gewohnheitsrecht gründete, als auch der Termin¬
kalender oder das Verzeichnis) der jährlichen Gerichtstage, und die Kenntniß
der solennen Formeln, in welchen jeder Rechtsanspruch peinlich genau geltend
gemacht werden mußte, wenn die Klage Erfolg haben sollte, in den Händen
der Patricier war. Deshalb sagt auch Cicero von jener Zeit: „Ob man ein
Rechtsgeschäft vornehmen konnte oder nicht, wußten früher Wenige; denn die
Fasten (den Gerichtskalender) hatte man nicht für gewöhnlich. Eine große
Macht besaßen diejenigen, welche man cvnsultirte; von ihnen ließ man sich, wie
von chaldäischen Sterndeutern auch die Tage sagen." Für manchen Plebejer
mag in diesem Uebelstande ein Beweggrund gelegen haben, seine Selbständigkeit
aufzugeben und derselben die halb unmündige Stellung eines Klienten vor¬
zuziehen. Hatte er doch wenigstens dann gerechten Anspruch auf rechtskräftige
Vertretung vor Gericht durch seinen patricischen Patron!
Es läßt sich denken, welchen Verdruß es der Aristokratie bereitete, als im Jahre
304 v. Chr. der Plebejer Cnejus Flavius, der frühere Schreiber des durch seinen
im Kriege gegen Pyrrhus bewiesenen Heroismus berühmten Appius Claudius,
den Gerichtskalendcr veröffentlichte und zugleich eine Schrift herausgab, in welcher
die Klagformeln und das ganze Proceßverfahren zusammengestellt waren. Noch
mehr als dieser Verrath bewirkte aber die gleichzeitige Umgestaltung der Stände¬
verhältnisse, daß das Recht aus einem Besitzthume Privilegirter sich allmälig
in ein Gemeingut Aller verwandelte.
Während nun früher die Belehrungen über rechtliche Verhältnisse von
den patricischen Patronen ausgingen, bildete sich jetzt eine besondere Classe
von Männern, die sich vorzugsweise mit der Rechtswissenschaft befaßten
und aus der Ertheilung juristischer Auskunft ein besonderes Geschäft mach¬
ten. Jedoch waren es nicht, wie bei den Griechen, Leute Verachteten
Standes, sondern gerade die vornehmsten und angesehensten; auch übten sie
diesen Beruf nicht, um Geld zu verdienen, sondern, um sich die Gunst des
Volks zu erwerbe» und so zu den höchsten Ehrenstellen zu gelangen. Diesen
Gegensatz zu griechischer Sitte hebt Cicero in seiner Schrift über den Red¬
ner scharf hcrvvt, indem er schreibt: „Aber in unserem Staate haben auf
sMz entgegengesetzte Weise die angesehensten und berühmtesten Männer sich
Zwar durch ihre Rednergabe zu hohen Würden emporgeschwungen, aber gleich¬
wohl es soweit gebracht, daß sie sich durch ihre Rcchtsbescheide. noch mehr An¬
sehen erwarben, als durch ihr Nednertcilent. Gibt es. um sich ein vielbesuchtes
und ruhmvolles Alter zu bereiten, irgend eine ehrenvollere Zuflucht, als die
Auslegung des Rechts? Ich wenigstens habe mir dieses Hülfsmittel schon von
Jugend auf erstrebt, nicht allein zum Gebrauche bei den gerichtlichen Verhand¬
lungen, sondern auch zur Zierde und Ehre des Alters, damit, wenn einmal die
Kräfte mich zu verlassen anfange», mein Haus der Vereinsamung entrissen
werde/' Wie sehr mau aber aus dieser Beschäftigung Hoffnungen auf ein
weiteres Vorrücken in der Staatscarriere zu schöpfen pflegte, beweist die von
Valerius MaMus über C. Figutus erzählte Anekdote. AIs dieser bei seiner
Bewerbung um das Konsulat den Repuls erhallen hatte, und am Tage nach
den Wahlcvmitien wieder Viele gekommen waren, um sich bei ihm Rath zu
holen, hieß er sie Alle fortgehen, indem er ihnen ärgerlich nachrief: „Zu con-
sultiren versteht ihr Alle, aber nicht, einen Consul zu machen!" Meistens ge>
Schah, wie zugleich aus dieser Stelle erhellt, das Bescheidertheilen im Hause.
Daher hofft auch Cicero für seine alten Tage auf zahlreichen Besuch und sagt
vom berühmten Juristen Mucius Scävola: „Ohne Zweifel ist das Haus des
Rechtsgelehrten das Orakel der ganze» Stadt. Zum Beweise dient hier unseres
Mucius Thür und Vorhof, wo man ungeachtet seines kränklichen Alters und
seiner schwächlichen Gesundheit Tag für Tag eine große Menge von Bürgern
und oft die vornehmsten und geachtetsten Männer versammelt sieht." Dem
Lcipio Nasica wurde vom Staate ein Haus auf der heiligen Straße, dem
Forum zunächst, angewiesen, damit er leichter consultirt werden könne. Die
Besucher erschienen schon am frühesten Morgen und bei der allgemeinen
Sitte des Frühaufstehens lange vor Aufgang der Sonne. Darum sagt
Cicero von Servius Sulpicius in der Rede für Murena, er wache in
der Nacht und lasse sich vom ersten Hahnschrei wecken, um seinen Clienten
Antworten zu ertheilen, und bei Horaz heißt es: „Den Landmann lobt
der Kenner des Rechts und der Gesetze, wenn beim Krähen des Hahns
der Besucher an die Thüre pocht." Man befragte aber diese Vertrauens¬
männer in der alten patriarchalischen Zeit über gar Manches, was nicht
in die Rechtsverhältnisse einschlug. „Ich erinnere mich," schreibt Cicero im
Redner, „den Marius Manilius quer über das Forum spazieren gesehen zu
haben, und wenn Jemand dies that, so war es el» Zeichen, daß er allen
Mitbürgern seine» guten Rath mittheilen wollte. Wenn sie nun in jener alte»
Zeit so umherwandelten oder zu Hause auf ihren Sesseln saßen, so ging mau
zu ihnen, um nicht blos von Rechtssachen, sondern auch von der Verheirachung
einer Tochter, von dem Ankauf eines Grundstücks, von Geschäften des Acker¬
baues, kurz, von allen Pflichten und Arbeiten ihnen Bericht abzustatten."
Die Rechtsgutachten dieser Juristen wurde» ebensowohl von den Parteien als
von de» Richter» als Autoritäten angeführt, halten aber für letztere vor dem Kaiser
Augustus keine bindende Kraft. Waren die Gutachten verschieden, so fanden
wohl auch zwischen den gegenwärtigen Consulente» Discussionen vor dem Richter
statt. Außer dem mündlichen Rath, den sie ertheilten, erstreckte sich aber ihre
Thätigkeit auch auf das schriftliche Abfassen von Rechtsurkunden, Testamenten.
Verträgen, Klagen und Cautionsformeln zur Sicherung der Parteien vor Scha¬
den. So spricht Cicero zu Mucius Scävola: „Wenn kein Testament rechts-
giltig sein soll, was Du nicht abgefaßt hast, fo werden alle Bürger mit ihren
Tafeln zu Dir komme», und Aller Testamente wirst Du allein abfassen müssen;"
und noch Nero drohte alle Rechtsgelehrten zu strafen, welche Testamente für
seine Freigelassenen aufsetzen oder dictiren würden, die seiner in ihrem letzten
Willen uneingedenk und also undankbar sein wollten. Die Erwerbung der nöthi¬
gen Geschästskenntnisfe schildert Cicero als leicht. „Es liegt ja Alles in dieser Wissen-
schaft klar vor Augen," sagt er, „und beruht auf dem täglichen Umgange und
dem Zusammenleben der Menschen und der gerichtlichen Erfahrung; es bedarf dazu
nicht weitläufiger Studien und bändercicher Werke. Einmal nämlich ist derselbe
Gegenstand von Mehrer behandelt worden und dann mit Veränderung weniger
Worte auch von denselben Schriftstellern öfter wiederholt. Hierzu kommt noch,
um die Auffassung und Erlernung des bürgerlichen Rechts zu erleichtern (obwohl
Viele gar nicht daran glauben wollen) eine außerordentliche Anmuth und Er-
götzlichkeit dieses Studiums." Wenn freilich derselbe Autor an einem andern
Orte meint, er wolle in drei Tagen ein guter Jurist werden, so ist daS nicbt
im Ernste gemeint und nur gesagt, weil es sich dort darum handelte, den
Werth des praktischen Staatsmannes der bloßen juristischen Gelehrsamkeit
gegenüber in helleres Licht zu setzen.
Die jungen Leute, welche sich der Jurisprudenz befleißigten, begaben sich
nach Anlegung der männlichen Toga zu einem berühmten Rechtsgelehrten
als „Zuhörer" oder „Schüler", besuchten mit demselben die Volksversamm¬
lungen, hörten die gerichtlichen Reden an, waren beim Ertheiler der Gut¬
achten zugegen und ließen sich gelegentlich über die Abfassung der Formu¬
lare belehren. Cicero erzählt von sich selbst, daß er von seinem Vater dem
Augur Mucius Scävola zugeführt, worden sei, um diesem Greise, so lange
es der Anstand erlaubte, nie von der Seite zu weichen, und daß er nach
dessen Tode bei einem Verwandten des Verstorbenen, dein gleichnamigen Ober-
Priester, in die Lehre getreten sei. Seinen jungen Freund Trcbatius, der
sich zum Juristen ausgebildet hatte und dann Julius Cäsar nach Gallien und
Britannien begleitete, tractirt er in seinen Briefen mit allerhand witzigen Aus¬
fällen als Jünger der Jurisprudenz, z. B. er, der Andern Kaution vorschreibe,
solle sich selbst vor den britannischen Streitwagen hüten; oder, es stehe fest,
daß Trebatius in Samarobriva (Amiens) der gescheidteste Jurist sei u. s. f. Man
muß überhaupt zugeben, daß die Rechtsgelehrsamkeit weniger galt, wenn nicht
die Beredsamkeit hinzukam, die zum Sachwaltergeschäst befähigte, welches die
vornehme Jugend vorzüglich wählte, um sich auszuzeichnen und Gunst bei der
Menge zu gewinnen. „Wer hat je daran gezweifelt," schreibt Cicero im „Redner",
„daß in unserem Staate immer den ersten Rang in den städtischen, fried¬
lichen Verhältnissen die Beredsamkeit eingenommen hat. den zweiten die Kennt¬
nis; des Rechts? Während die Jurisprudenz oft Hülfe bei jener suchte, konnte
sie bei Angriffen derselben kaum ihr eignes Gebiet und ihre Grenzen verthei¬
digen/' Noch klarer zeigen dieses Verhältniß folgende Worte von ihm in der
Schrift über den Redner: „Du gestehst zu, daß ein Rechtsgelehrter auch ohne
die Beredsamkeit bestehen könne und behauptest dagegen, ein Redner könne
Niemand sein, wenn er nicht im Besitze jener Hülfswissenschaft sei. Also ist
hier der Rechtsgelehrte an und für sich nichts, als ein schlauer und scharfsinniger
Gesehkrämer, ein gerichtlicher Marktschreier, ein Formclnleierer, ein Silbenstecher;
aber weil der Redner oft der Hülfe des Rechts in seinen Verhandlungen be¬
dürftig ist, darum hast du die Rechtswissenschaft der Beredsamkeit wie eine
geringe Magd und Nachtreter» beigegeben." Die Einrichtung des römischen
Gerichtswesens gestattete der Beredsamkeit und der Sachwalterei einen viel
weiteren Spielraum als das griechische, da alle Stellvertretung bei der Anklage
und Vertheidigung erlaubt war. Wer einen Proceß hatte, wendete sich für die
mündlichen Anträge und Verhandlungen an einen berühmten oder ihm durch
Freundschaft nahestehenden Redner oder Patronus, nachdem er sich über ^das
Juristische von einem Rechtsgelehrten hatte unterrichten lassen. Die Anfänger im
Redneramte, denen es natürlich an Ruf und Clienten fehlen mußte, traten zuerst
als öffentliche Ankläger auf. Gründe und Gelegenheit zu solchen Anklagen fanden
sich ja genug bei dem sich mehrenden Unfuge der durch Bestechung erwirkten Amts-
erschleicherei und bei den Erpressungen und Räubereien der Provinzialbeamten.
Als Beispiele von jungen Leuten, die so ihre Laufbahn begannen, nennt
Cicero: Crassus, Antonius, Sulpicius, Fusius, sich selbst und einen jungen
'Brutus, der wegen seiner Maßlosigkeit im Eifer den Spottnamen „Ankläger"
bekam. Cato, der Censor, ein Freund der Optimalen, klagte wenigstens
fünfzigmal in seinem Leben an, bekam dafür aber ebensoviele Processe selbst
an den Hals. Quintilian und Plutarch äußern sich am offensten über die
Wohlthätigkeit dieser Sitte. Jener schreibt: „Man glaubt, daß junge Leute
von gutem Ruf in der Anklage schlechter Mitbürger dem Staate eine Sicher¬
heit stellten, weil man meinte, daß sie nur im Vertrauen auf ihre eigene gute
Gesinnung die Bösen hassen und sich Feindschaften zuziehen könnten." Plutarch
aber sagt über Lucullus: „Das Erste, was er that, war, daß er in seiner
Jugend und ehe er sich um ein öffentliches Amt bewarb, den Augur Servilius,
den Ankläger seines Vaters, wegen eines offenbaren Verbrechens vor Gericht
belangte. Die Römer hielten dies für eine sehr rühmliche That; denn sie sahen
es auch sonst für nicht unedel an, ohne Privatvorwand Andere zu verklagen,
und wünschten zu sehen, daß die jungen Leute den Uebelthätern, wie muthige
Hunde dem Wilde, stets zu Leibe gehen möchten."
- Die Grundsätze, die im Allgemeinen ein Anwalt zu befolgen habe, stellt Cicero
in seiner Pflichteniehre auf. Wie er vom Utilitätsprincipe aus vor allzu häufigen
Anklagen warnt, so empfiehlt er das Vertheidigen, als den Weg zu Ruhm und
Gunst, besonders, wenn es gelte, einem Schwachen gegen einen Mächtigen zum
Rechte zu helfen, und die Anklage eines Unschuldigen auf Leben und Tod nennt er
geradezu ein Verbrechen. Dagegen dürfe man es nicht vermeiden, oder sich Scrupel
dabei machen, zuweilen auch einen Schuldigen zu vertheidigen, wenn er nur kein
Bösewicht sei. „Die Menge will es," sagt er, „die Gewohnheit duldet es, die
Menschenfreundlichkeit erheischt es. Des Richters Sache ist es, immer die
Wahrheit zu erforschen; der Patron muß zuweilen auch das Wahrscheinliche,
auch wenn es weniger mit der Wahrheit harmonirt, in Schutz nehmen." Daß
der berühmte Redner oft genug diesem letzten Satze gemäß gehandelt hat, zu
dem Quintilian gerade das Gegentheil behauptet, und daß eS ihm nicht selten
weniger um die Wahrheit als um den Schein der Wahrheit zu thun war, ist
bekannt.. Vertheidigte er doch sogar denselben Vatinius, dem er als dem Gegen¬
stand des allgemeinen Abscheus als Ankläger Haß und Verachtung bezeigt hatte,
zwei Jahre später, nur um dem mächtigen Cäsar eine Gefälligkeit zu erweisen!
Mit welcher Genugthuung wird dieser erbärmliche Mensch später, als sich Cicero
bei ihm, dem Proconsul von Jllyrien, sür den gefangenen Seeräuber Catilius
verwendete, geantwortet haben: „Also solche Clienten, solche Sachen nehmt Ihr
an? dem allergrausamsten Menschen, der soviele römische Bürger und Bürgerin¬
nen getödtet, geraubt, zu Grunde gerichtet, soviele Gegenden verwüstet hat?
Was kann ich denen antworten, die für ihre geplünderten Güter, ihre ge-
kaperten Schiffe, ihre ermordeten Brüder, Kinder und Eltern Genugthuung for¬
dern?" Und doch war Cicero in jener schon sehr verdorbenen Zeit gewiß einer der
rechtlichsten Sachwalter, und so beweist sein Beispiel recht deutlich, welche Fort¬
schritte die Abstumpfung des sittlichen Gefühls unter feinen Fachgenossen be¬
reits gemacht hatte. Schon im zweiten Jahrhundert v. Chr. hatte der berühmte
Redner M. Antonius offen bekannt, daß er seine Reden darum nicht auszeich¬
nete, damit er läugnen könnte, wenn man ihn auf eine frühere, unbequeme
Aeußerung hinzuweisen versuchte! Für den Verfall des alten Patronats, als
Ehrenamtes, für das Uebergehen desselben in einen geschäftsmäßigen Be¬
trieb spricht besonders auch der Umstand, daß man sich die Bemühungen
bezahlen ließ. Im Jahre 204 v. Chr. suchte der Volkstribun Cinclus
Alimentus die alte Sitte noch aufrecht zu erhalten, indem er eine Bill
durchbrachte, nach welcher Niemand für gerichtliche Reden Geld oder Geschenke
annehmen durfte, und setzte überhaupt für alle Schenkungen eine bestimmte
Werthhöhe fest. Von Cicero behauptet Plutarch, daß er weder Lohn noch
Geschenke verlangt habe; ob er freilich zurückwies, was man ihm frei¬
willig ins Haus brachte, wird nicht ausdrücklich gesagt, und wenn er das
viele Getreide, das ihm die Sizilianer zum Danke für die Anklage des räube¬
rischen Verres schickten, unter das Volk als Aedil vertheilte, so benutzte er
es doch auch nebenbei zu einem egoistischen Zwecke. Es ist gewiß, daß er reich
wurde und sein Vermögen bis auf zwanzig Millionen Sestertien brachte, und wenn
man auch den Vorwurf seiner Feinde, daß er sich zum Reden verdingt habe,
zurückweist, so erklärt sich die Zunahme seiner Habe nicht anders als durch die
vielen Erbschaften, die ihm, der damaligen Sitte gemäß, seine Freunde und
ganz besonders seiner früheren Clienten hinterließen. Sein Nebenbuhler Horten-
sius wußte sich noch viel weniger über die Sitten der Zeit zu erheben, be¬
stach und ließ sich bestechen und zeichnete sich nur dadurch vor Anderen aus,
daß er erfinderischer war, um Betrug von Seiten der bestochenen zu verhindern.
Außer anderen Kunstwerken unter der sizilischen Beute des von ihm vertheidigten
Verres wanderte auch, wie ihm Cicero ziemlich un verhüllt vorwarf, eine elfen¬
beinerne Sphinx in sein Haus, und als das falsche Testament eines reichen Man¬
nes, der in Griechenland gestorben war. nach Rom gebracht wurde in welchem die
Fälscher listiger Weise für Hortensius und Crassus reiche Legate ausgeworfen hatten,
entblödeten sich die beiden vornehmen Herren nicht, sich am Raube zu betheiligen.
Benahmen sich die Häupter des Staats als Sachwalter in dieser Weise,
so kann man sich denken, wie die tief unter ihnen stehenden College» Ver¬
führer, auf die sie mit Verachtung herabschauten. Denn wie es Rechts¬
gelehrte gab, die ohne alle Bildung sich äußere Kenntniß von processualischen
Formeln verschafft hatten und so ihre Dienste besonders den Landleuten
anbietend einen Scävola karrikirten, so gab es auch Sachwalter, die, wie
Cicero sagt, sich nicht beredt vorkamen, wenn nicht Alles von ihrem Lärm
und Geschrei erdröhnte und sie sonst aller feineren Bildung bar waren. Ueber
diese heißt es auch in seinem Buche über die Redekunst- „Wir wollen nicht
den gemeinen Sachwalter, nicht den Schreier oder Zungendrescher hier dar¬
stellen, sondern einen Mann, welcher wahrhaft Meister der Kunst ist;" und
auch Quintilian verwahrt sich gegen solche Leute in folgenden Worten: „Wir
geben keinen Unterricht im Gerichtsdienste, noch geben wir ihn einer gedunge¬
nen Zunge, noch, um mich nicht härterer Ausdrücke zu bedienen, einem, wenn
auch sonst nicht unnützlichen Proceßadvocaten." Schon Plautus charakterisirt
diese Leute, die Cicero irgendwo „Geier" titulirt. in seinen „Zwillingsbrüdern"
so: „Alle wollen viele Clienten haben, ob diese gut oder schlecht seien, dar¬
nach fragen sie nicht; das Vermögen kommt mehr in Betracht, als, wie es
mit der Ehrlichkeit bestellt ist. Wer arm und nicht böse ist, den halten sie
für einen Schuft, wer reich und schlecht ist. der gilt ihnen für einen recht¬
schaffenen Clienten." Die Unwissenheit solcher Rabulisten kam natürlich ihren
Kunden oft theuer zu stehen. Allein, da in Rom auch die Wirksamkeit des
Rechtsgelehrten von der des Patrons oder Sachwalters geschieden war, so
mangelte es überhaupt oft bei der glänzendsten Beredtsamkeit an der Gediegen-
heit des juristischen Materials und auch berühmte Redner gaben sich in dieser
Hinsicht mancherlei Blößen. „Auf dem Forum sich herumtreiben," sagt Cicero,
„vor Gericht zu liegen und die Stühle der Prätoren zu umlagern, Privat¬
streitigkeiten über wichtige Angelegenheiten zu übernehmen, wobei oft nicht um
eine Thatsache, sondern um Billigkeit und Recht gestritten wird, sich breit zu
machen bei den Verhandlungen der Centumvirn, wo die Rechte erörtert wer¬
den in Beziehung auf Verjährung, Vormundschaften, Verwandtschaften, An¬
schwemmungen, Umwässerungcn, Schuldner, Sklaven, Wände, Fenster, Dach¬
rinnen, Testamente und unzählige andere Gegenstände, wenn man selbst nicht
weiß, was Eigenthum und fremdes Gut, warum Jemand ein Fremder
oder ein Bürger, ein Sklave ödes ein Freier sei: das ist eine außerordentliche
Unverschämtheit." Dann führt er eine Menge von Fällen an, wo gute Redner
aus Rechtsunkenntniß irrten. Wir heben nur einen der eclatantesten heraus.
Während ein Gesetz der zwölf Tafeln verordnete, daß vormundschaft¬
liche Veruntreuung höchstens mit doppeltem Schadenersatze gebüßt und jede,
eine größere Strafe beanspruchende Klage zurückgewiesen werden sollte, ver¬
langte im Jahre 106 v. Chr. Hypsäus, als Anwalt eines klagenden Mün¬
dels mehr als den doppelten Schadenersatz, und der gewesene Consul Octavius.
als Vertheidiger des Vormunds, bat den Prätor, nur auf den erlaubten
Schadenersatz (anstatt auf Abweisung der Klage) zu erkennen! Kein Wunder,
daß der gelehrte Sccivola bald lächelnd, bald zürnend den beiden Ignoranten
zuhörte, obgleich ihn wichtige Geschäfte auf das Marsfeld riefen.
Auch in Rom kam es vor, daß man sich von Anderen Reden verfertigen ließ,
und nicht nur Cicero lieh dem Pompejus seine Feder und entwarf für Serranus
Domesticus eine Leichenrede, sondern auch Sextus Clodius übernahm die Abfassung
der Nogationcn für den berüchtigten P. Clodius. Die gerichtlichen Formen
waren den griechischen ähnlich. Die Parteien erschienen vor dem Tribunale des
Richters, begleitet von ihren Patronen und sonstigen Beiständen, die manch¬
mal nur zugegen waren, um durch ihre Anwesenheit ihre Autorität in die
Wagschale der einen Partei zu legen und die in der republikanischen Zeit aus¬
schließlich advooati genannt wurden. Sachwalter oder Sprecher konnte man
mehre haben. Aemilius Scaurus hatte sechs, und für Balbus sprach Cicero
nach Pompejus und Crassus an dritter Stelle. Mehr als vier scheinen jedoch
für gewöhnlich nicht gesprochen zu haben. Die Sitte der Athener, durch die
Klcpsvdra die Länge der Reden zu bestimmen, ahmten die Römer auch nach.
Sie war vom Scipio Nasica nach Rom gebracht worden, doch scheint es, als
ob erst durch Pompejus ihr Gebrauch bei den Gerichten gesetzlich geworden
sei. Die-Sprecher baten um eine gewisse Anzahl von Klepsydren, und im Be¬
lieben der Richter stand es, sie zu gewähren oder nicht. Zuweilen wurde auch
später noch etwas Wasser hinzugefügt, überhaupt zu verschiedenen Zeiten das Maß
vergrößert und verkleinert, wie z. B. Dio Kassius von Antoninus, dem Philo¬
sophen' und Alexander Severus erwähnt, daß sie als Richter den Rednern sehr
viel Wasser zugestanden hätten. Der jüngere Plinius gab deu Aoovcaten jedes
Mal so viel, als sie verlangten. Interessant ist es, aus einer Angabe desselben
das Zeitmaß mit dem Wasserverbrauch vergleichen zu können. Als Ankläger
des afrikanischen Proconsuls Marius Priscus sprach er im Senat beinahe
fünf Stunden lang; da er nun zwölf „sehr umfangreiche" Klepsydren erhalten
hatte, denen noch vier hinzugefügt wurden, so kommt auf eine wenig mehr als
eine Viertelstunde. Zu bemerken ist aber im Allgemeinen, daß die Plaidoycrs
der früheren Zeit viel länger dauerten als unter den Kaisern, und daß oft die
Vertheidiger bis zum Abend fvrtsprachen, so daß das Urtheil verschoben werden
mußte. Den Reden folgte die Beweisführung durch Zeugen, Urkunden und
Eidesleistungen, und dann ein kurzer Disput der Anwälte unter einander, um
noch einmal die Hauptpunkte geltend zu machen, wobei die Geistesgegenwart
und Gewandtheit sich im glänzendsten Lichte zeigen konnte, aber auch gewöhn¬
lich ein recht arges Zankgcschrei die Ohren des Richters umschwirrte.
Das monarchische Zeitalter veränderte Vieles in den Verhältnissen der
Juristen und Anwälte. Zuerst verstummte schon unter Augustus mit der Frei-
heit selbst die freie Rede, indem ihr alle Tummelplätze und Ucbungsfclder ge¬
nommen wurden. Die Civilprvcesse der Centumviralgerichtc bildeten fortan
beinahe die einzige Gelegenheit, sich als Redner zu zeigen, sich praktisch durch
Zuhören zu bilden. Aber die Kleinlichkeit des hier behandelten Stoffes wirkte
lähmend auf die Entfaltung der Talente, und so verkümmerte die Beredsam¬
keit, das eigenthümlichste und beste Erzeugnis; des freien römischen Geistes. In
den Nhctorenschulen wurde zwar die Kunst nach den besten Methoden gelehrt
und an erdichteten Rechtsfällen geübt, allein, indem sie die Sucht, glänzende
Uebungsreden vor geladenen Zuhörern zu halten, beförderten, um mit ihren
Resultaten prahlen zu können, wurden sie mehr zu Pflanzstätten der Eitelkeit,
als der oratorischen Bildung und Sicherheit, und schon Cicero hatte Recht,
wenn er sagte: „Darum rathe ich euch, verachtet und verlacht Alle, welche
durch die Regeln der heutigen sogenannten Rheioren das Ideal eines Redners
erreicht zu haben wähnen und noch nicht einmal begreifen konnten, welche Rolle
sie spielen oder welcher Kunst sie sich rühmen." Die meisten benahmen sich,
wenn sie aus dem Dunkel der Schule an das Licht der Oeffentlichkeit traten,
als täppische und ungeschickte Sachwalter, die, wie Plinius von seinen Zeit¬
genossen sagt, wenn sie sprechen sollten, lieber wünschten, schon gesprochen zu
haben, und so wenig als möglich Wasser vom Richter forderten, während doch
die Zuhörenden das Ende ihrer Reden nicht erwarten konnten. Der witzige Martial
hat mehre solche traurige Gesellen an den Pranger gestellt. Ueber den Advocaten
Nävolus heißt es: „Während Alle schreien, sprichst Du nur und hältst Dich für
einen Anwalt und Rechtsgelehrten. Auf diese Weise kann Jedermann beredt sein:
Siehe es schweigen Alle; Ncivolus, sage doch etwas!" Von Cinna sagt er:
„Heißt das Processe führen, heißt das eine Rede hatten, beredter Cinna, wenn
man in zehn Stunden neun Worte spricht? Und doch hast du eben mit ge¬
waltiger Stimme vier Klepsydren verlangt! O wie sehr verstehst Du — zu
schweigen!" Einen Anfänger, dem der Schulstaub noch anklebte, schildert er in
Postumus: „Nicht Mord, nicht Gewaltthat, noch Vergiftung, nur drei Ziegen
betrifft der ganze Hader, die mein Nachbar mir entfremdet hat. Du lässest er¬
tönen Carmel, den Krieg des Mithridates. die Meineide punischer Treulosigkeit
dann Marius, Mucius und Sulla, keck mit schallendem Ruf, mit Wuth-
geberdcn —- Nunmehr, Postumus, sprich von meinen Ziegen!" Nicht besser
kommt der schwatzende Cäcilianus weg: „Sieben Klepsydren hat Dir auf
Deine Bitte ungern der Richter gegeben. Aber Du sprichst viel und lange und
trinkst halb zurückgebeugt laues Wasser, um Stimme und Durst endlich zu sättigen.
— Wir bitten Dich, trinke doch aus der Klepsydra. Cäcilianus!" Eine,
Feigling und Achselträger endlich charakterisirt er in Pontinus. an den er schreibt:
„Ich habe Streit mit Balbus; den Balbus willst Du nicht beleidigen. Mit
Licinus; auch dieser ist ein großer Mann. Es schädigt der Nachbar Patrvbas
mein Grundstück; Du fürchtest Dich, gegen Cäsars Freigelassenen vorzugehen.
Caronia hält mir einen Sklaven zurück und läugnet ihn ab; sie ist kinderlos,
antwortest Du, reich, alt, eine Wittwe. Nicht gut, glaube mir, dient sich einem
Diener; frei sei, wer mein Schutzherr sein will!" Die Habsucht und Bestechlichkeit
der Advocaten wuchs in dieser Periode- mit der allgemeinen Sittenverderbniß
und dem Streben, um jeden Preis ein reicher Mann zu werden. Unter
Augusius wurde das Cincischc Gesetz noch einmal durch Senatsbeschluß einge¬
schärft und auf die Übertretung desselben das Vierfache des empfangenen Lohnes
gesetzt, obgleich schon Quintilian die Honorirung der Sachwalter für gerecht
und nothwendig erklärt. Aber man sah sich bald genöthigt, gelindere Saiten
anzuschlagen und dem Honorare Grenzen zu setzen. Unter dem Kaiser Claudius
nämlich, der übrigens in seinem verkehrten Richtereiser von den Advocaten
förmlich gemißhandelt, auf dem Tribunale mit Gewalt an den Beinen oder de.
Toga festgehalten und einmal sogar von einem griechischen Anwälte ein alter
Narr geschimpft wurde, war bereits, wie Tacitus sich ausdrückt, keine öffentliche
Waare so käuflich, als die Perfidie der Advocaten, und als ein römischer
Ritter, nachdem er 400,000 Sestertien einem Sachwalter und Ankläger ge¬
zahlt und doch erfahren mußte, daß er verrathen worden war, sich entleibt hatte,
verlangten die Senatoren die Erneuerung des Crncischen Gesetzes. Da. jedoch die
Advocaten dagegen einwendeten, daß ihnen auch ihre Wissenschaft Geld koste,
daß sie ihre eigenen Angelegenheiten vernachlässige» müßten, um sich fremden
Geschäften zu widmen und daß. wenn man die Belohnungen der Studien abschaffte,
dieselben selbst zu Grunde gehen winden, so bestimmte Klandius als Maximum
des Honorars die Summe von 10.000 Sestertien lSSO Thlr.) Noch einmal feste
der Senat bei Neros Regierungsantritte die alte Bestimmung wieder in Kraft.
Während Tacitus dies berichtet, liest man aber bei Sueton, daß Nero verordnet
habe, es sollten die Processirenden ihren Anwälten einen bestimmten und gerechten
Sold zahlen, dafür aber die Sporteln für die Bänke und Sine.vor Gericht weg¬
fallen. Wahrscheinlich änderte also eine spätere Cabinetsordre jene» ersten Be¬
schluß. Unter Trajan wurde die Summe bestätigt, aber fest gesetzt, daß das
Honorar nicht vor dem Processe ausgezahlt würde und daß nicht etwa ein- höheres
Honorar oder statt desselben ein Theil des Strcitobjects selbst ausbedungen würde.
Daß es aber auch damals noch Sachwalter gab. die umsonst dienten,
sieht man aus dem Beispiele des Plinius selbst, der von sich seinem Freunde
Valerian schreiben konnte: „Wie freue ich mich, daß ich mich bei Füh¬
rung von Processen nicht nur der Stipulationen, der Geschenke und Spen¬
den, sondern selbst der Angebinde enthalten habe, Freilich muß man das
Unsittliche nicht, weil es nicht erlaubt, sondern, weil es schändlich ist, meiden,
es ist aber doch angenehm, wenn man öffentlich etwas verbieten sieht, was
man sich selbst niemals erlaubt hat." Auch Alexander Severus besoldete
diejenigen Advocaten, von denen feststand, daß sie umsonst Processe führten.
Dagegen bekommen wir eine Vorstellung von der Unverschämtheit und Schänd¬
lichkeit anderer Anwälte zu Plinius Zeit, wenn wir seine Klagen über Re-
gulus lesen, der bei sehr geringen Gaben aus Armuth und Niedrigkeit zu
Reichthum und Macht gelangte, und der von einem Freunde des Plinius „der
nichtswürdigste aller Zwcifüßler" genannt wurde. Vellejus Bläsus, ein reicher
Consular, rang mit dem Tode und wollte sein Testament ändern. Regulus,
der auf das neue Testament hoffte, bat nun die Aerzte, dem Manne auf jede
Weise das Leben zu fristen. Als aber das Testament, wie er glaubte, mit
einem Legate zu seinen Gunsten, unterzeichnet war, wechselte er die Rolle
änderte die Sprache und sagte zu denselben Aerzten: Wie lange quält Ihr den
Armen? Was mißgönnt Ihr ihm einen sanften Tod, da Ihr ihm doch nicht das
Leben geben könnt? Bläsus starb und, als ob er Alles gehört hätte, vermachte
er dem Regulus nichts. Aurelia. eine vornehme Frau, hatte, um ihr Testament
zu machen, ihr schönstes Kleid angezogen. Als Regulus zum Unterzeichner
kam, sagte er: „Vermache mir dieses, ich bitte Dich." Aurclia glaubte, der
Mann scherze; jener besteht im Ernst darauf. Kurz, er zwingt die Frau, das
Testament zu öffnen und ihm die Kleider, die sie trug, zu vermachen; er gab
auf sie Acht, als sie schrieb, und sah hinein, ob sie es auch geschrieben! „Und
so erhält dieser Mensch," sagt Plinius zum Schluß, „Erbschaften, Vermächtnisse,
als ob er sie wirklich verdiente." Uebrigens werden die finanziellen Verhält-
nisse der Advocaten im Allgemeinen nicht als glänzend geschildert. Die Stern
vierter und fünfter Größe unter ihnen verfielen in dieser Beziehung ebenfalls
dem Spotte der Satiriker. Einen gewissen Sextus fragt Martial: „Welcher
Grund oder welche Hoffnung zieht Dich nach Rom? Processe, sagst Du, werde
ich sichren beredter als Cicero selbst, und auf keinem der drei Fora wird mir
Jemand gewachsen sein! Auch Atestinus hat Processe geführt und Casus, beide
kanntest Du; aber keinem von beiden brachte es den Miethzins ein." An
Sextus schreibt er als fingirter Advocat: „Ich habe Deinen Proceß ge¬
führt nach Ausmachung von 2000 Sestertien. Wieviel schicktest Du mir?
Tausend. Warum? Du hast nichts gesprochen, sagst Du, und die Sache ver¬
nachlässigt. Um so mehr bist Du mir schuldig, weil ich schamroth geworden din."
Die Sitte, dem Advocaten in Naturalien Geschenke zu machen, berührt er in
folgendem Epigramme: „Den Sabellus haben die Saturnalien reich gemacht.
Mit Recht bläst sich Sabellus auf und hält Niemanden unter den Sachwaltern
für glücklicher. Diesen Stolz und Muth verleiht ihm ein halber Scheffel Mehl
und Bohnenschrot, und von Weihrauch und Pfeffer drei halbe Pfunde, und
eine Wurst nebst einem Falisker Saumagen, und eine Glasflasche eingedicktem
Mostes, und lybische Feigen in gefrorener Schaale mit Knoblauch, Schnecken und
Käse. Auch kommt von einem picenischen Clienten ein wenig geräumiges Kistchen
voll kärglicher Oliven und, mit dicken Göttern geziert, der aus sieben Geschirren
bestehende Aufsatz eines spanischen Töpfers und eine mit breitem Purpur besetzte
Serviette.- Einträglichere Saturnalien hat Sabellus in zehn Jahren nicht gehabt."
In ähnlicher Weise läßt sich Juvenal über die Einkünfte der An¬
wälte hören: „Sag' an, was den Sachwaltern ihre Rechtsgeschäfte und die
sie begleitenden Actenbündel eintragen? Sie selbst führen das große Wort,
aber dann, wenn ein Gläubiger zuhört oder wenn noch dringender Einer
ihre Seite berührt, der eines unsicheren Postens wegen mit einem großen
Hauptbuche anlangt, dann hauchen ihre Lungenbälge unendliche Lügen aus und
der Busen hängt voll Schaum. Will man den wahren Ertrag schätzen, so muß
man auf die eine Seite der Waage die Vermögen von hundert Advocaten
legen, auf die andere nur das einzige eines Wettfahrers im Circus." Dann
zählt er auch als Belohnungen auf: trockne Schinken. Thunfische, Zwiebeln
einige Flaschen schlechten Wein. Erhalte man ja einmal ein Goldstück für
mehre Gänge, so müsse man contractlich mit dem Rechtsgelehrten theilen. Glück
und Erfolg habe nur der, welcher glänzenden Aufwand mache und mit berühmten
Ahnen prahlen könne. „Dem Cicero würde heute Niemand 200 Sestertien zahlen,
wenn an seiner Hand nicht ein ungeheurer Ring glänzte. Wer einen Proceß hat.
sieht jetzt zuerst darauf, ob Du acht Sklaven hast und zehn Begleiter, ob hinter
Dir ein Sessel getragen wird. Dir Voraus Clienten gehen. Deshalb plaidirte
Paulus mit einem geliehenen Sardonyxringe und machte bessere Geschäfte als An-
dere. Hellen wohnt ja Beredsamkeit in einem schäbigen Gewände. Nach Gallien
mußt Du reisen oder lieber nach Afrika, der Säugamme der Advocaten, wenn
Du Lohn von Deiner Zunge ernten willst." Uebrigens scheinen die genannten
200 Sestertien (9 Thlr.) das geringste Honorar gewesen zu sein; denn auch
Martial sagt über einen Winkeladvocaten: „Der Du lange Bäcker warst, führst
jetzt Processe und verlangst 200 Sestertien; aber Du brauchst es und borgst
wieder. So weichst Du vom Bäcker nicht ab: denn Du machst Brod und machst
Mehl" (d. h. verthust es wieder).
In der späteren Kaiserzeit war bei jedem Gerichte eine bestimmte Anzahl von
Advocaten angestellt, z. B. bei dem Gouverneur von Rom 80, bei dem Präfecten
des Prätvriums 180; und diese bildeten Corporcitivnen und genossen mannigfache
Privilegien, waren aber auch hinsichtlich ihrer Amtspflichten einer besonderen Dis-
ciplin unterworfen, waren absetzbar und mußten sich über ihre Studienzeit und ihre
Kenntnisse durch Examina ausweisen. Ueberzählige mußten warten. Aber die frühe¬
ren Mißbräuche dauerten in vergrößertem Maßstabe fort und die Maßregeln recht¬
licher Kaiser wie Hadrians, des ersten Antonius, Alexanders Severus und Julians
wurden immer wieder unter schlechten Regenten vergessen. Eine höchst ungün¬
stige Schilderung des Advocatenstandes, besonders in den östlichen Provinzen
des Reichs, im vierten Jahrhundert n. Chr. liefert aus eigener Anschauung der
Geschichtschreiber Ammianus Marcellinus. Er theilt die Sachwalter, „die
wie spartanische oder kretische Hunde auf die reichen Häuser Jagd machen",
in vier Classen. In die erste stellt er diejenigen, welche geldgierig und in
Folge dessen äußerst geschäftig wären, Zwietracht zu säen und Familien zu ent¬
zweien. Sie benutzten ihr Talent dazu, um die Richter zu verwirren und von
einem Raube zum andern zu eilen. Die zweite Gattung enthält nach ihm
solche, die eine tiefe Rechtsgelehrsamkeit und Gesetzkenntniß zur Schau trugen
und mit ernster Miene ihre Orakelsprüche ertheilten. „Und wenn Du vorgibst,
mit Willen Deine Mutter getödtet zu haben, so versprechen sie Dir, daß viele
verborgene Gesetzesstellen Dir Freisprechung v.crheißen. wenn sie merken, daß Du
Geld hast." Unter die dritte Classe rechnet er die Ehrgeizigen, die auf jede
Weise berühmt werden wollten, „die, wen» sie auf dem rechten Wege vorwärts
kommen, Heiligthümer der Gerechtigkeit sind, wenn sie aber verdorben werden,
betrügliche Fallgruben, aus welchen Einer erst nach vielen Jäher und bis aufs
Mark ausgesogen wieder herauskommt." Die vierte Classe endlich sollte die
ungebildeten Rabulisten umfassen, „die zu bald der Schule entlaufen sind und
hinter Unverschämtheit und Schimpfen ihre Unwissenheit verbergen. Unter
ihnen sind Einige so ungebildet, daß sie sich nicht erinnern können, je Bücher
besessen zu haben. Und wenn in einer Gesellschaft von Gebildeten der Name
eines allen Schriftstellers ausgesprochen wird, so halten sie ihn für die auslän¬
dische Bezeichnung eines Fisches oder einer Eßwaare." Kam es endlich dazu,
daß nach vielen verschobenen und versäumten Terminen die Sache vor Gericht
verhandelt werden sollte, dann erklärten sich diese Leute für zu unvollkommen
instruirt, und die Geldschneiderei hatte noch lange nicht ihr Ziel erreicht. Frei¬
lich gibt Ammian auch zu, daß das Leben der Advocaten durck vielerlei Aerger
getrübt werde, und dazu zählt er den gegenseitigen Brodneid, die Zuziehung
vieler Feindschaften und die Sitte der Clienten, den ungünstigen Ausgang jedes
Processes niemals dem Übeln Stande der Angelegenheit, sondern der Ungeschick¬
lichkeit des Anwaltes zuzuschreiben.
Dieses Sinken des Sachwaltersiandes. sein im Ganzen geringes Ansehen,
sein Mangel an wissenschaftlichem Sinne ist nun um so auffälliger, als zu
gleicher Zeit die Jurisprudenz ihre höchste Blüthe erreichte, als das zweite
Jahrhundert die classische Literaturperiode des römischen Civilrechts genannt
werden muß, als die tüchtigsten Kräfte sich damals dem Juristenstande zuwen¬
deten, da die größere Complicirtheit der Verfassung, die weitere Ausdehnung
der Verwaltung in allen Zweigen der öffentlichen Geschäfte Rechtsgelehrte oder
wenigstens juristisch Gebildete unentbehrlich machte. Dieser Widerspruch löst
sich jedoch dadurch, daß sich in der Kaiserzeit die angesehenen. Juristen gar
nicht mehr zum Proccßführen und zum Bcistandleisten vor Gericht hergaben,
sondern nur noch durch Gutachten und Consultationen thätig waren. Die er¬
höhte Bedeutung der früheren juristischen Consulenten schreibt sich bereits von
Augustus her, der aus der Befugniß, auf Befragen Gutachten zu ertheilen, ein
Privilegium machte, welches er einer Anzahl von Juristen selbst verlieh. Ihre
Antworten sollten Gesetzen gleich gelten und auch wenn sie die Entscheidungs-
gründe nicht beigefügt hatten, waren die Richter an dieselben gebunden. Der
Kaiser Tiberius führte es ein, daß sie ihre Antworten schriftlich und versiegelt
abgeben sollten. Caligula, dem in seinem Allmachtsschwindel ihre patentirte
Stellung ein Dorn im Auge war, drohte, dieselbe aufzuheben und es dahin
zu bringen, daß die Juristen nur antworten sollten, was ihm gefällig wäre!
Hadrian traf noch die Bestimmung, daß der Richter für den Fall, daß die
Ansichten der Respondenten getheilt waren, seiner eigenen Ansicht folgen
durfte. Noch unter Constantin wurde das Recht des Gutachtenertheilens ver¬
liehen; später aber trat der todte Buchstabe des Gesetzes an die Stelle der
lebendig fortbildenden Wissenschaft. Schon unter Augustus ging auch der
Name aclvoeg.tu8 von dem Rechtsbeistand auf den Sachwalter über. Wenn die
gewöhnlichen Advocaten später zu ihrem Geschäfte juristische Beihülfe brauchten
scheinen sie sich, wie man aus der oben angeführten Stelle Juvenals schließen
kann, an Leute gewendet zu haben, die mit den griechischen Pragmatikern auf
einer Stufe standen und sich mit dem Bruchtheile eines Goldstückes bezahlen
ließen. Ihre Bildung empfingen die Juristen auch später noch durch den
früheren praktischen Unterricht. Aber das Studium der juristischen Literatur
wurde immer wichtiger, und es entstanden förmliche Rechtsschutz, die anfangs
Privat-, dann Staatsanstalten waren und aus denen sick ordentliche Facultäten
des Rechts, besonders zu Rom, Beirut und Konstantinopel entwickelten. Der
Eursus dauerte fünf Jahre, und die Professoren des Rechts erhielten neben
ihrer Besoldung noch Honorar von ihren Schülern; doch konnten sie das Hono¬
rar nicht einklagen, „weil man," wie Ulpian sagt, „gewisse Dinge mit Anstand
nehmen kann, ohne sie mit Anstand fordern zu können."
Hieronymus Klebelsberg, der Landeshauptmann von Tirol ist am 7. Dec.
gestorben. Er nahm eine wichtige Stellung ein; sonst allgemein geachtet, zeigte
er dem Bischof von Brixen gegenüber beim letzten Landtage leider nicht jene
Entschlossenheit, welche diesen zum vorhinein abgehalten hätte das Signal zur Pro¬
testantenhetze zu geben. I^v roi tzst/mort, vivo Je loi! werden die Ultramontanen
ausrufen, wenn sie hoffnungsvoll auf seinen ihnen ganz ergebenen Nachfolger Gal-
linger Hinblicken. Uebrigens werfen die künstigen Ereignisse bereits ihren Schatten.
Man spricht davon, daß den Protestanten zwar Toleranz, aber.nur eine beschränkte
gewährt werden solle, der zufolge sie das Recht hätten sich anzusiedeln, aber keine
Gemeinden zu bilden oder Kirchen zu bauen. Damit wären die Ultramontanen,
welche Alles haben wollen, gewiß nicht zufrieden, ebensowenig als die Liberalen.
Bei jenen möchte man an die Geschichte vom Pudel denken, dem sein Herr,
um ihm Schmerz zu ersparen, den Schwanz nicht mit einem Male, sondern
stückweise abhackte. Wir halten übrigens Schmerling zu hoch, um trotz aller
Gerüchte zu glauben, er werbe seinem Liberalismus durch eine derartige Tole¬
ranz ein solches Armuthszeugniß ausstellen und für das Linsengericht des Bei¬
falls einer früher herrschenden und jetzt noch immer „einflußreichen" Clique der
öffentlichen Meinung Deutschlands und Oestreichs, ja der ganzen gebildeten
Welt ins Gesicht schlagen. Das würde im Jahre 1863 zu einer schwereren
Niederlage führen, als die bei Solserino war. schwillt doch dem Klerus wie'
der der Kamm, wie nur je zu den Zeiten Bachs. Der jüngst erlassene Hirten¬
brief des Bischofs Benedict von Trient ist ein Actenstück von hohem Belang
für die innere Entwicklung Oestreichs, oder besser gesagt sür das Stehenbleiben
desselben auf dem alten Flecke gegenüber dem Klerus. Berechtigt die Bischofs¬
mütze zu solchen Ausfällen, dann wird jedes Protcstantcngesctz zur leeren Phrase.
Hören Sie selbst. „Wenn wir frei von den Leidenschaften der Welt (?!!) und
mit ruhigem Auge die Gesellschaft betrachten, wie sie heutzutage gestaltet und
gewachsen ist, und von der gegenwärtigen Lage derselben in die Zukunft Hin¬
blicken aus jenen Abgrund, dem sie nothwendig entgegengedrängt wird, können
wir, ehrwürdige Brüder und geliebteste Sölme. nicht umhin bittere Thränen zu
vergießen. Welch ein großer Theil der christlichen Familie verkennt Christus,
ihr Oberhaupt! Wie viele Meister der Lüge erHoden sich und richteten einen
Lehrstuhl der Bosheit auf! Wie Viele ließen sich, von ihnen betrügen und
schaarten sich um sie. Der Herr wird diese verabscheuungswürdigen Bemühungen
vereiteln; aber indessen so. lange Gott nicht zu achten scheint auf das schreckliche
Sittenverderbniß, auf die Verkehrtheit der Begriffe, auf die Verachtung der
Grundsätze des Glaubens, auf die Verletzung der heiligsten Rechte (von Kraut¬
junkern und Schwarzröcken; von dem Rechte, das mit uns geboren, ist bei diesen
Herren nie die Rede!) müssen wir mit dem Psalmisten wiederholen: Die Un¬
sinnigen haben Gott verläugnet; ihre Zungen sind trugvvll, ihre Lippen ver¬
bergen Natterngift, ihr Mund ist voll Bitterkeit. Ungerechtigkeit ist ihr Ge¬
werbe, sie verzehren mein Volk. Und dieser Strom der Bosheit bedrohte auch
unsere Grenzen, innerhalb welcher sich bisher das kostbare Gut der katholischen
Lehre unversehrt erhielt und das Licht des Glaubens so rein in die Lufr unserer
Berge glänzte. Vor dieser.Gefahr schützte uns nicht hinreichend die Einsam¬
keit der Alpen und die herkömmliche Einfalt der Sitten; denn unter dem Scheine
des materiellen Fortschrittes streute man den schlechten Samen aus, welcher
nur zu sehr auch mitten unter uns die Früchte des Todes erzeugte. Wie viele
werfen sich, betrogen durch Schmeicheleien, irregeführt durch Neuerungssucht, ver¬
giftet durch Lesung schlechter Schriften zu Richtern der Kirche auf, verdrehen
den Sinn des Evangeliums und sehnen sich als Lobredner jeder Neuerung nach
dem Tage der Gewissensfreiheit, während durch sie die Kälte religiöser Gleich-
giltigkeit verbreitet wird. (Das Kompliment ergeht an die Adresse der Libera¬
len Tirols.)
In diesen gefahrvollen Zeiten versammelt sich nun der Landtag, auf wel¬
chem nebst mehren andern Gegenständen von größter Wichtigkeit auch die
Lebensfrage Tirols wieder zur öffentlichen Besprechung kommen wird, ob näm¬
lich Tirol auch in Zukunft der unschätzbaren Wohlthat der katholischen Glau¬
benseinheit sich erfreuen solle.
Ich halte für verdammungswürdige Intoleranz die Unterdrückung der
Andersgläubigen in jenen Gegenden, in welchen sie während eines langen
Zeitraumes Bürgerrechte erhalten haben, die ihnen durch ein allgemeines Staats-
*
gesctz gewährt und bestätigt worden sind (viel Gnade vom Bischof zu Trient!),
denn die Religion Jesu Christi ist Liebe und nicht Gewalt (wirklich!!); aber
ich halte es ebenso sür eine strenge Pflicht, über deren Erfüllung der König
der Könige einst Rechenschaft fordern wird, so viel möglich ein Land und Volk
vor der Pest des Irrthums (Protestantismus) unbefleckt zu bewahren, welches
bisher von demselben unberührt blieb (bitte nicht zu vergessen, daß Tirol im
sechzehnten Jahrhundert fast ganz protcstantisirt war und nur durch die blutigen
Masscnexecutioncn der Habsburger wieder in den Schooß der alleinseligmachen¬
den Kirche zurückgeführt wurde) und dadurch seinen Ruhm und vorzüglichsten
Reichthum verlieren würde; denn es gibt keinen wahren Ruhm außer der
wahren Religion, und es gibt keine» Schatz, welcher mit jener Religion
verglichen werden könnte, die uns ewige Güter verschafft (und dem Klerus
auch zeitliche). Die Gefahr ist um so drohender, da diejenigen, welche den
Thron erschüttern wollen, sich listiger Weise bemühen." den Irrlehren Eingang
zu verschaffen; indem sie wohl wissen, daß ein Volk,, welches der göttlichen
Majestät die Treue gebrochen hat, sich nicht scheuen wird, dieselbe auch einer
irdischen zu brechen. (Der Protestantismus wird ja stets als Revolution be¬
trachtet; seine Geistlichen waren zum wenigsten stets ebenso loyal wie der katho¬
lische Klerus und sind jetzt in Preußen meistens eifrige Verbündete des Gottcs-
gnadenthums und der Junker.)
Ja zu Gott müssen wir unsere Zuflucht nehmen, denn er hat gesagt, daß
er beim Stamme der Gerechten bleiben werde. Um unsere Bitten wirksamer
zu machen, erheben wir sie zum Throne Gottes -unter Anrufung aller seiner
Heiligen, besonders der unbefleckten Jungfrau, welche dadurch, daß sie dem
höllischen Feinde den Kopf zertrat, die ruhmvolle Besiegen» aller Irrthümer
wurde, welche der Hölle entsprossen.
So der Bischof von Trient gegen Gleichberechtigung von Protestantismus
und Katholizismus in Tirol.
Wir müssen eine ausführliche Anzeige dieser neueste» Arbeit des liebenswürdigen
niederdeutschen Humoristen ans die Zeit verschieben, wo dieser Abschnitt der „Otte
Kamelien" vollständig erschienen sein wird. Vorläufig nur so viel, daß die Dorf¬
geschichte, die er hier erzählt, nach ihren ernsten- wie nach ihren komischen Episoden
zu dem Besten gehört, was wir bis jetzt von Reuter haben. Man kann den Dich¬
ter mit Jeremias Gotthelf vergleichen. Beide stehen sich sehr nahe in ihrer realisti¬
schen Auffassung der Dinge und Menschen, in der Gabe plastischer Schilderung, in
der gesunden Art, mit der sie empfinden; beide haben auch das gemein, daß die
Komposition bisweilen zu wünschen übrig läßt. Doch ist in letzterer Beziehung der
mecklenburger Dichter jedenfalls geschickter als der schweizerische, und mag jener ge¬
legentlich durch Zeichnungen, die sich der Karrikatur nähern, das Maß überschreiten,
das auch dem Humor gesetzt ist, so bat er vor Gotthelf den großen negativen Vor¬
zug voraus, daß er nicht predigt. Im Uebrigen stehen beide durchaus ebenbürtig
neben einander. Mit sicherer Hand sind hier wieder die vielen Personen gezeichnet,
in deren Gesellschaft wir gebracht werden. Wie wahr und lebensvoll erscheint ihr
ganzes Thun und Leiden, und welch eine ffülle komischer Situationen entwickelt
sich vor uns im Nahmen der im Grunde so einfachen Erzählung. Mag der Dich¬
ter uns an den Sarg der Frau Hawermcmns oder in das friedliche Idyll des Pfarr¬
hauses von Gürlitz führen, mag er uns die Gemeinheit Zamel Pomuchelkopps, den
gutmüthigen Stumpfsinn Jochen Nüsslers, die lieblich knospende Jungfräulichkeit
von Hawermcmns Tochter, den Juden Moses in Rahnstädt, den sorgenbeschwcrten
guten alten Kammerrath von Pümpclhagcn, den „gebildeten" jungen Oekonomen
Fritz Triddclfitz, mag er uns unsern wackern alten Bekannten aus Schürr-Murr, den
Entspectcr Bräsig oder irgend einen andern Charakter schildern, stets vergessen wir, daß
wir ein Buch lesen, immer leben, fühlen, fürchten und hoffen wir mit den Personen der
Geschichte, lachen wir von Herzensgrund über ihre Wunderlichkeiten, genießen wir
innerlichst die geistige Gesundheit der Guten, hebt uns ein schöner Humor über das
Häßliche der Bösen unter ihnen hinweg. Mit wenigen Ausnahmen ist allenthalben
die rechte Stimmung getroffen, und Episoden wie die Erzählung von Bräsigs
Aufenthalt in der „Wasserkunst" und Fritzens mißglückte»- Versuch Minings Herz zu
erobern, sind Meisterstücke derber Komik.
Eine Mosaik von Bruchstücken aus dem Leben und den Briefen des Philo¬
sophen, andern Studien und einigen eigenen Erfindungen des Verfassers. Die letz¬
ter« wollen nicht viel sagen. Die Darstellung zeigt hin und wieder Talent, Aeußer-
liches ist gut getroffen, vom Geiste Leibnitzens aber ist in dem Buche kaum etwas
zu merken.
Eine Novelle, „Die Wahrsagerin ", die in Se. Louis spielt und im Styl Sue-
scher Romane eine Kette von allerlei Greueln entwickelt, dann einige kleinere Er¬
zählungen , meist aus dem Schleswig-holsteinischen Kriege. Letztere bekunden ein recht
anmuthiges humoristisches Talent, und die Geschichte „Drei Tage in Schweden"
möchten wir dem Lustigste» beizähle», was wir in diesem Genre in der letzten Zeit
gelesen haben. Die Ausfälle gegen Willisen, die fast in jeder von den Skizzen
aus Schleswig-Holstein vorkommen, hätten wegbleiben sollen, Sie beruhen auf
gänzlicher Unkenntniß der Person des Generals und der damals obwaltenden Ver-
nältnissc.
Ein schönes Bürgermädchen, in niedern Verhältnissen geboren, ober vornehm
geartet und durch Einführung in einen Kreis von Gclehrtcnschülern mit Gefallen
an den Naturen höherer Stände erfüllt, fühlt sich unbefriedigt mit der Liebe, die
ein braver, aber etwas unbeholfner Handwerker ihr cntgcgenträgt. Ein Mißverständ¬
nis; kommt hinzu, und Lore wird die Beute eines wüsten Naugrafen, der sich Stu¬
direns halber in der Universitätsstadt aufhält, wo sie als Waise lebt. Das Ende
ist freiwilliger Tod der schönen Unglücklichen im See hinter dem Ballhaus, wo sie
gefallen. Die Geschichte ist sehr gut erzählt, etwa in der Art Mörikes, dem das
kleine Buch gewidmet ist.
Das Beste unter diesen fünf kleinen Geschichten sind die Mittheilungen „Ans
den, Lebensbuch des Schulmeistertem» Michel Haas", die ein recht gutes Lebens¬
und Sittenbild aus dem Anfang des vorigen Jahrhunderts geben. Dieselben schei¬
nen wirklich „nach einem alten Manuscript" erzählt zu sein; denn man unterscheidet
deutlich zwei Arten von-Stil, den des ursprünglichen Verfassers, der eine Natur
wie Grimmelshauscn und der Simplicissimus ist, und den des Bearbeiters, welcher
die naive Erzählung mit nicht immer passenden Zuthaten ausstattete. Die übrigen
Stücke der Sammlung erheben sich nicht über die gewöhnliche Leihbibliotheken-
Literatur.
Großentheils »ach amtlichen Quellen und ungedruckten Briefen zusammengestellt,
mit warmer Liebe zur Sache geschrieben und mit Sorgfalt geordnet, ist diese
Schrift ein sehr dankenswerther Beitrag zur Kulturgeschichte der Zeit, in welcher
Arndt in Greifswald wirkte, und ebenso zur Charakteristik des verewigten Patrioten
selbst. Zu letzterer liefert sie eine nicht unbedeutende Anzahl neuer Züge, die, wenn
sie zum Theil Schatten auf das verehrte Antlitz werfen, das in unsrer Erinnerung
lebt, darum nicht weniger Werth haben. Wir sehen, was er der Universität und
was wiederum sie ihm gewesen in der ersten Zeit seiner Lehrthätigkeit, Die Schrift
zeigt uns sei» unstetes Lebe», aber auch die Kraft und Fülle seines Strebens,
Sie stellt verschiedene äußere Begegnisse, die ihm selbst später nicht recht mehr gegen-
wärtig waren, urkundlich fest, Beachtenswerth ist vor Allem, wie wir ihn hier
sich über die verschiedensten Gebiete der Geschichte verbreiten, neu, wie wir ihn seine
Vorlesungen über einen weiten Kreis alter und moderner Sprachen erstrecken, ihn
als Lehrer mit allerlei beginnen und dabei an Kenntniß und Erkenntniß zunehmen
sehen. Auch an Urtheilen seiner College» und Vorgesetzten über seine Thätigkeit fehlt
es nicht, und was in einzelnen Stimmen über sei» Leben und seine Vortrage
hervortritt, gestattet nicht selten über die Zeilen hinweg einen Blick auf den ganzen
Menschen. Eine werthvolle Beigabe sind endlich die in einem Anhang mitgetheilten
ungedruckten 48 Briefe Arndts, welche aus den verschiedensten Perioden seines Le¬
bens (von 1798 bis 1860) sind.
Ein lebendig geschriebener Bericht über die Besteigung des genannten Alpen-
gipsels, welche der Verfasser, ein Berner, in den letzten Tagen des Juli 1861 unter¬
nahm und unter mancherlei schweren Gefahren glücklich ausführte. Auch Sitte und
Sinnesart des Menschenschlags, der in dieser Gegend wohnt, wird in verschiedenen
Zügen, in Gesprächen mit dem Führer und in einer hübschen Sage Von der Ent¬
stehung der „Jungfrau" ansprechend geschildert. Die beigegebene Abbildung zeigt (in
Tondruck) das Finsteraarhorn von Nordwesten gesehen, die Karte die Route, welche
der Verfasser nach und von dem Gipfel verfolgt hat.
Behandelt die Epoche der Ausklärung: zuerst Gottsched, sein Wirken für das deutsche
Theater und seinen Kampf mit den Schweizern, dann Haller, Hagedorn und die
bremischen Beiträge, dann Klopstock, Wieland und die patriotische und anakreontische
Poesie, Christian Felix Weiße, dann Lessing, endlich Winckelmann und Herder. Eine
ausführliche Besprechung folgt nach Beendigung des Ganzen.
Enthält in Briefen die italienischen Reisen von 1833 und 1837 , die vorwie¬
gend kunstwissenschaftlicher Inhalts sind, doch auch mancherlei Interessantes über
politische und sociale Zustände bieten, dann eine Tour durch den Kirchenstaat unter
der Herrschaft der Cholerafurcht, endlich verschiedene Beobachtungen und Erlebnisse
der Reisen, die der Verfasser in England und Schottland gemacht hat. Die Ansicht
über die Umgestaltung in Italien, nach welcher die Italiener zur Freiheit erst berech¬
tigt sein sollen, wenn sie aufgeklärter, weniger selbstsüchtig und mehr zum Gehorsam
geneigt sind, theilen wir nicht. Soll sie etwa die bourbonische Polizei, die päpst¬
liche Wirthschaft aufgeklärt und zu guten Staatsbürgern machen? Oder ein Wunder?
Sollen sie schwimmen lernen, ohne Wasser, fliegen, ohne Luft zu haben?
Ueber Charakter und Werth dieser Arbeit habe» wir uns früher ausgesprochen.
Das neu erschienene Heft behandelt in acht Capiteln die Zeit der roman¬
tischen Schule, und zwar zunächst die Häupter derselben: A, W, und Fr, v. Schle¬
gel. Tieck und dessen Freunde Bernhardt, Wackenroder und Runge, dann die Har-
denbergs, die Brentanos und Achin v. Arnim. Hierauf folgen in einer Gruppe
die Charakteristiken von Romantikern wie Z. Werner, H, v, Kleist, v, Collin u, A.,
ferner von Fouquö, Chamisso, Baggcsen, Oehlcnschlüger^ Steffens, Varnhagen,
Rahel und andern Genossen dieser Richtung, Daran knüpft sich ein Ueberblick über
die Bewegung, die sich auf anderen Gebieten der Literatur, als denen der Dichtung,
gleichzeitig mit der romantischen Schule geltend machte und in Gentz. Halter, Adam
Müller, Kanne, Görres und Creuzer, dann in Paulus, Daub, Schleiermacher und
Dräseckc, auf dem Gebiet der Jurisprudenz in Thibaut, Feuerbach, Savigny und
Eichhorn, auf dem der Naturkunde in Blumenbach, Förster, Hufeland. Humboldt,
Eschenmaycr. L. v. Buch, Oken u. A., auf dem der Geschichte hauptsächlich durch
Schlözer, Planck, Spittler, Heeren, Ukert, Schlosser, Riebuhr und Luden in ver¬
schiedenster Weise ihren Ausdruck fand. Ein viertes Capitel behandelt diejenigen
Ependichter, Romanschriftsteller und Dramatiker der Periode, welche als Talente
dritten Ranges gelten mögen; ein fünftes führt, nach den einzelnen Landschaften,
die Dichter und Schriftsteller auf, welche noch weniger Talent und Erfolg hatten.
Capitel sechs und sieben setzen diese Ueberschau fort, und ^Capitel acht bringt die
Dichter, welche sich in Mundarten versuchten, die Autodidakten, die Uebersetzer und
die Poeten und Schriftsteller von vorwiegend patriotischer Richtung, wie Arndt,
Schenkcndorf und Körner. — In einer Beilage finden wir folgende Bitte des Ver¬
fassers des „Grundrisses", welcher wir, dem Wunsche desselben zu Folge, allgemeinere
Verbreitung zu geben uns beeile» - „Für die Fortsetzung meiner Arbeit nehme ich
die Hülfe der lebenden Autoren und Freunde der Literatur wiederholt und dringend
in Anspruch und bitte die lebenden Dichter, die mir bisher Mittheilungen über ihr
Leben und ihre Schriften noch nicht gemacht haben, mir auf dem Wege des Buch¬
handels kurze Angaben nach dem Muster der Artikel dieser Lieferung einzusenden."
Einer Empfehlung des Werks bedarf es für die Leser d. Bl, nicht mehr. Gesundes
Urtheil, echter Gclchrtcnflciß sichern ihm einen der ersten Plätze unter allen der¬
artigen Arbeiten der Gegniwart,
Ein interessanter Beitrag zur Kunstgeschichte, in welchem der Verfasser den
Versuch macht, das Lebe» und die Werke des bekannten Schöpfers der „Schnitter"
an der Hand seiner Korrespondenz darzustellen. Das letzte Buch löst das Räthsel
des tragischen Endes Roberts: er schnitt sich am 25, März 1835 in einem Anfall
von Schwermuth zu Venedig die Kehle ab. Ein Anhang bringt ein Verzeichnis;
der Arbeiten Leopold Roberts, wie es in dieser Vollständigkeit bisher noch nicht
eristiren.
Seit fünf Jahren hört man von Zeit zu Zeit die dänische Regierung
Europa mit volltönenden Worten irgend ein „neues Zugeständnis;" ankündigen,
das sie dem Frieden oder den europäischen Mächten zu Liebe dringt, und den¬
noch ist in diesen fünf Jahren die Lage der Herzogtümer thatsächlich schlimmer
geworden, als sie bereits zu Anfang war. Hinter jeder Zusage begegnen wir
der Absicht, sie zu umgehen, lnnter jedem Zugeständnisse stoßen wir auf
ein Manöver, es in ?sein Gegentheil zu verkehren. So hat man in jedem
Stadium der Verhandlungen neue Streitfragen, neue „Mißverständnisse", neue
Schwierigkeiten, neue Verwickelungen zu schaffen gewußt. Ein Beispiel dieser
Art ist die Weise, in der die dänische Negierung mit dem Kompromisse um¬
gegangen ist, welchen der großbritannische Staatssccretär für die auswärtigen
Angelegenheiten im vorigen Jahre in der holsteinischen Budgetangelegenheit zu
Stande gebracht hat. Diese Weise näher kennen zu lernen, hat ein doppeltes
Interesse. Einerseits gewinnen wir dadurch einen Einblick in die jetzige Lage
der finanziellen Differenzen, die einen so wesentlichen Theil der deutsch-dänischen
Frage bilden; andrerseits erhalten wir dabei Gelegenheit, die dänischen Mini¬
ster an der Arbeit, so zu sagen in der Werkstatt zu sehen und uns einiger¬
maßen mit der Arbeit bekannt zu machen, wie die „Mißverständnisse", die
Schwierigkeiten und Verwicklungen erzeugt werden.
Im Sommer 1861 hatte Dänemark wegen des holsteinischen Budgetstreits
eine Bundesexecutivn in nächster Zeit zu gewärtigen, als es Lord Russell ge¬
lang, in Betreff des Budgets für 1861 einen Kompromiß herbeizuführen, der
den Boden für directe diplomatische Verhandlungen zwischen Dänemark und
den deutschen Mächten Betreffs einer definitiven Ausgleichung des deutsch¬
dänischen Streits ebnen sollte.
Wie bekannt, hatte der Bundcsbeschluß vom 7. Februar 1861 von der dä¬
nischen Negierung gefordert, daß das Budget für 1861 nicht ohne Genehmigung
der.holsteinischen Stände festgestellt werde. Die europäischen Mächte, die diese
Forderung durchaus berechtigt fanden, hatten deshalb gemeinsam das dänische
Cabinet aufs dringendste aufgefordert, den auf den 6. März einberufenen Ständen
von Holstein das Budget vorzulegen, um auf diese Weise einer Bundesexecution
vorzubeugen. In Folge einer Jnterpellation, die Lord Ellenborough in der
Sitzung des Oberhauses vom 18. März stellte, machte Lord Wodehouse die
Mittheilung, daß zufolge einer officiellen Nachricht, die die Regierung I. M.
erhalten, das Budget den Ständen vorgelegt sei. Die Nachricht erregte in
Itzehoe ein nicht geringes Erstaunen; Niemand wußte dort etwas von der
Vorlage eines Budgets. Der Minister für Holstein, Herr Raaslöff, der als
königlicher Commissär den Verhandlungen der Stände beiwohnte, antwortete
auf die wiederholt an ihn gerichtete Jnterpellation, ob den Ständen ein Bud¬
get vorgelegt sei, daß er keine Antwort auf die Frage geben könne. Am
4. April erfuhren die Stände endlich, daß der Leiter der dänischen Regierung
die beiläufige, in einem Gesetzentwurfe angebrachte Erwähnung einer vor
anderthalb Jahren ohne ständische Zustimmung emanirten königlichen Verord¬
nung als Vorlage eines Budgets angesehen wissen wollte. Es sei ihnen un¬
benommen, hieß es, an diese — übrigens vom Bunde für rechtswidrig er¬
klärte, von der dänischen Negierung aber nicht aufgehobene —> Verordnung Be¬
rathungen zu knüpfen, Aufklärungen nachzusuchen und auf Abänderung der
dort enthaltenen Bestimmungen „anzutragen", über welche Anträge die Negie¬
rung sich indessen ihre Entscheidung vorbehalten müßte. Die Stände erwiderten
darauf Sr, Maj. dem Könige, „es sei nicht der Wahrheit gemäß", wenn Von
dem Ministerium behauptet wer^ve, daß ihnen ein Budget vorgelegt sei. Auch
Herr Raaslöff, der nicht länger in Itzehoe als königlicher Commissär fungiren
mochte und aus dem Cabinete auftrat, gab, indem er den Conseilprästdenten
der Zweizüngigteit beschuldigte, öffentlich die Erklärung ab, daß bei den
Verhandlungen im Geheimen Staatsrathe von der Vorlage des Budgets nicht
die Rede gewesen sei.
So schien also nach dem Schlüsse der Ständesessivn die Bundesexecution
unvermeidlich, als Lord Loftus die Aufmerksamkeit des Berliner Cabinets
auf eine in der dänischen Depesche vom 22. März enthaltene Auslassung
hinlenkte.
Der dänische Staatshaushalt besteht nämlich in einem octroyirtcn als fest¬
stehend angesehenen Normalbudget, welches die für die Führung der Geschäfte
unentbehrlichen Einnahmen und Ausgaben ausführt, und aus den über das
Normalbudget hinaus von der Negierung beantragten weiteren Einnahmen
und Ausgaben. Das Normalbudget wird der constitutionellen Bewilligung
nicht unterworfen, dagegen wird die Zustimmung zu den über das Nvrmal-
budget hinausgehenden Forderungen in Dänemark als Vertrauenssache auf¬
gefaßt. Fände die Regierung für ihre Politik nicht mehr die Unterstützung der
parlamentarischen Majorität, so würde dieselbe ihr die Bewilligung zu den
über das Normalbudget hinausgehenden Ausgaben verweigern können. Für
die Finanzperiode 1860—62 hatte die Negierung indessen hinsichtlich Dänemarks
und Schleswigs von dem „Reichsrathe", der mit ihrer Politik übereinstimmt,
die eingebrachten Forderungen bewilligt erhalten. In Betreff Holsteins hatte
nun der Leiter des dänischen Cabinets in seiner Circulardepcsche vom 22. März
sich dahin geäußert: daß nach seiner Ansicht die Regierung des Königs, wenn
die holsteinischen Stände die ihnen mitgetheilte Verordnung derart amendirt
hätten, „es vorgezogen haben würde, auf die Quote Holsteins an den ge¬
meinschaftlichen Ausgaben zu verzichten und sich in Betreff dieses Herzogthums
in den Grenzen des Normalbudgets zu halten, ehe sie sich einer Bundes-
execution für ein verhältnißmäßig so geringes Interesse ausgesetzt haben
würde."
Lord Loftus stellte nun dem Freiherrn v. Schleinitz die Frage, ob nicht
in einer ähnlichen Erklärung, wenn sie jetzt von der dänischen Regierung auf¬
genommen würde, eine Handhabe zu finden wäre, um das augenblicklich
drohende Executionsversahren abzuwenden. Nachdem Herr v. Schleinitz die
Frage bejaht hatte, empfahl der britische Staatssecretär für die auswärtigen
Angelegenheiten der dänischen Negierung, in Betreff des Budgets für 1861 die
gewünschte Erklärung zu geben, wofür Preußen und Oestreich sich ihrerseits
bei der Bundesversammlung für Aussetzung der Execution und Einleitung von
diplomatischen Unterhandlungen Behufs endlicher Ausgleichung des langjährigen,
immer erbitterter werdenden Streits verwenden wollten.
Was durch die von der dänischen Regierung verlangte Erklärung bezweckt
wurde, ist ohne Schwierigkeit zu ersehen. Sie sollte die Frage wegen des
Bewilligungsrechts der holsteinischen Stände, über welche zur Zeit noch Zwie¬
spalt herrschte, hinsichtlich des Budgets für 1861 bis zum Schlüsse der diplo¬
matischen Verhandlungen, durchaus offen halten. Die Frage sollte für 1861
auf die Seite geschoben, und dem Bundesbeschlusse vom 7. Februar, der eine
Feststellung des Budgets ohne Genehmigung der holsteinischen Stände für un¬
zulässig erklärte, nicht zuwider gehandelt werden. Holstein sollte deshalb für
1861 vorerst jedes Antheils an den das Normalbudget übersteigenden Aus¬
gaben, da die Bewilligung der Stände für diesen Antheil nicht verlangt war,
enthoben sein.
Die dänische Regierung konnte, um dies ins Werk zu setzen, zwei Wege
wählen: entweder konnte sie die Ausgaben um so viel, als der desfallsige Bei¬
trag Holsteins ausmachte, herabsetzen, oder sie mußte den Betrag, den sie zur
Zeit von Holstein nicht erhalten konnte, von den Repräsentanten der andern
Landestheile zu erhalten suchen. Es war weder Englands, noch Preußens und
Oestreichs Sache, sich darüber mit der dänischen Regierung zu vereinbaren, wel¬
chen von den beiden Wegen sie einzuschlagen haben würde; nur Eines konnten
sie nach Allem, was vorhergegangen war, °wis klar und unzweideutig fest¬
stehend ansehen, nämlich, daß ein Mißverständniß über das, was durch die
dänische Erklärung bezweckt werden sollte, nicht möglich war. Nicht darum,
aus welche Weise man Holstein den ihm zugedacht gewesenen Beitrag zu den
Ausgaben aufbürden, sondern daß ihm dieser Beitrag zu den Ausgaben, so
lange die Genehmigung der Stände nicht erlangt war, nicht aufgebürdet wer¬
den sollte: das war es. was Lord Loftus proponirt, Freiherr v. Schlcinitz
angenommen und der britische Staatssecretär der dänischen Regierung em¬
pfohlen hatte.
Dem Grafen Russell wie den Ministern von Preußen und Oestreich lag
in dieser Beziehung jedes Mißtrauen gegen die dänische Negierung so fern,
daß sie aus die, bei schärferer Betrachtung allerdings zweideutig erscheinende
Fassung, in welcher die dänische Regierung in der Depesche vom 29. Juli 1861
die gewünschte Erklärung abgab, nicht weiter aufmerksam wurden.
Die bezeichnete Erklärung lautet dort: „daß für das laufende Finanzjahr
der Zuschuß des Herzogthums Holstein aus seinen besondern Einnahmen zum
gemeinschaftlichen Budget der Monarchie vorläufig (provisorisch) auf die Quote
Holsteins an derjenigen Summe eingeschränkt werde, die in dem Normalbudget
vom 28. Februar 1856 als der den einzelnen Landestheilen aus den beson¬
dern Einnahmen derselben zu leistende Gesammt-Zuschuß aufgeführt ist." —
In London, in Berlin, Wien und Frankfurt nahm man diese Erklärung
für übereinstimmend mit dem, worüber der preußische und der englische Minister
sich verständigt hatten.
Hinterher erst ließ die dänische Negierung in ihren officiösen Organen
verlautbaren, daß sich die Sache wesentlich anders stelle, als der preußische und
östreichische Minister und selbst dänische Publicisten angenommen hatten. Durch
die in die dänische Erklärung eingeschobenen Worte „aus seinen besondern
Einnahmen" werde nämlich, hieß es, die übernommene Verpflichtung darauf
reducirt, den Beitrag Holsteins zu dem Budget für 1861 nicht aus feiner
besondern Kasse zu nehmen; nehme man statt dessen die Deckung des Budgets
aus dem vorhandenen allen Landestheilen gemeinschaftlichen Kassabchalt — der
durch die Beiträge aus den früheren Jahren zusammengebracht worden war
— so „werde Holstein nicht ein Schilling erlassen". „Es ist ein vollständiges
Mißverständniß," sagt „Dagbladet" in seiner Nummer vom 15. August „in
dem dänischen Zugeständnis) auch nur das geringste finanzielle Zugeständnis; zu
Gunsten Holsteins zu erblicken; das dänische Zugeständniß reducirt sich auf eine
bloße und pure Umstellung einiger Posten, auf eine reine Buchhaltereifrage,
während sich in dem wirklichen Sachverhalte nichts ändert". In gleicher Weise
lauteten die Erklärungen der „Berlingske Tidende". „Es handelt sich," sagte
sie in ihrer Nummer vom 14. August „nur um die Ungelegen!) eit, die für
einige von den Comtoiren des Finanzministeriums damit verbunden sein dürfte,
daß die Hauptbücher nunmehr ein klein wenig anders eingerichtet werden, als
sie zu Anfang des Finanzjahrs eingerichtet waren."
In finanzieller Beziehung erschienen diese Explicationen den dänischen
Blättern natürlich sehr angenehm. Denn sie machten die Meinung zu nichte,
als werde der holsteinische Beitrag zu den Ausgaben ausfallen und das König¬
reich sich" deshalb, um das aus seinem Schooß hervorgegangene, seine politischen
Velleitäten vertretende Cabinet am Nuder zu erhalten, möglicherweise gezwungen
sehen, den Ausfall wenigstens theilweise zu decken. Gleichwohl wurde den
dänischen Prcßorganen bei den officiösen Explicationen nicht recht wohl zu
Muthe. Sie konnten sich der Frage nicht entschlagen, was Wohl die fremden
Mächte, wenn ihnen klar würde, daß durch die dänische Erklärung vom
29. Juli und ihre hinterherige Interpretation die ganze Concession in eine
„Buchhaltereifrage" umgewandelt wurde, zu der Redlichkeit eines solchen
Manövers sagen würden. „Hoffentlich," sagte selbst das ministerielle „Dagblad"
in der angeführten Nummer, „hat die Negierung den freundschaftlich gesinnten
Mächten bei den stattgehabten considenticllcn Verhandlungen im Borwegc deut¬
lich und bestimmt zu verstehen gegeben, daß eben das gemachte Zugeständnis;
in Wahrheit c^uf nichts, auf eine bloße Formalität hinausläuft. Hat die Re¬
gierung dies unterlassen, hat sie es versäumt sich hierüber auszusprechen, so
fürchten wir allerdings, daß sie trotz aller Erklärungen sich neuen Beschul¬
digungen wegen mals, na«s ausgesetzt sehen wird."
Die anderen dänischen Preßorgane „Danevirke", „Flyveposten", „Fädrelandet,,
u. f. w. waren sämmtlich darin einig, daß der Werth des dänischen Zugeständ¬
nisses, wenn eS in der eben bezeichneten Weise zur Ausführung gebracht würde
— und es ist thatsächlich so zur Ausführung gebracht worden — „materiell
und finanziell vollständig Null sei" und zu einer bloßen Umbuchung des hol¬
steinischen Beitrags verwandelt werde. Aber, wendeten sie ein, man werde
der dänischen Regierung unzweifelhaft sagen, „daß sie Deutschland hinters
Licht geführt habe." — „Fädrelandet" erklärte geradezu, daß ihm die ganze
Manipulation „nicht redlich" erscheine', daß sie ein „Taschenspielerkunststück
eines politischen Bosco" sei. Und wenn den dänischen Preßorganen auch nicht
gerade viel daran gelegen war, welchen Eindruck das Verfahren ihrer Regie¬
rung in Deutschland machen werde, so waren sie doch der „freundschaftlich ge¬
sinnten Mächte", insbesondere Englands wegen besorgt. „Glaubt man," sagte
eines dieser Organe, „daß die Mächte, an deren Freundschaft uns allerdings
sehr viel gelegen sein muß, auf eine Auffassung eingehen werden, durch welche
der Theil, auf dessen Seite sie sich während der vorläufigen Unterhandlungen
gestellt haben, geradezu am Narrenseile umhergeführt werden würde? Werden
sie nicht sich selbst für getäuscht ansehen?"
Graf Russell ist nun zwar allerdings allein in der Lage positiv sagen zu
tonnen, ob das dänische Eabinet während der betreffenden Unterhandlungen
ihm „deutlich zu verstehen gegeben, daß das dänische Zugeständniß in Wahr¬
heit auf nichts, auf eine bloße Formalität hinauslause;" doch kann der wahre
Sachverhalt darum gleichwohl keinen Augenblick zweifelhaft sein. Wenn wir
auch davon absehen, daß der britische Staatssecretär die Gesandten I. Maje¬
stät in Berlin und Kopenhagen wohl kaum in Bewegung gesetzt haben würde,
um sie wegen einer dänischen „Buchhaltcreifrage" d. h. über eine „Umbuchung
einiger Posten in den Büchern des dänischen Finanzministeriums" diplomatische
Unterhandlungen pflegen zu lassen, — so liegt doch in der Circularbepesche
des Grasen Bernstorff vom 27. Juni 1862 ein Zeugniß dafür vor, daß das
preußische Cabinet von der wahren Beschaffenheit des dänischen Zugeständnisses
durch England nicht unterrichtet worden sein kann. Und wer könnte von einem
englischen Gentleman, insbesondere von dem Grafen Russell, auch nur einen
Augenblick glauben, daß er sich zu der Rolle habe brauchen lassen, als Ver¬
mittler zwischen zwei freundschaftlichen Mächten zu dienen, um der einen von
ihnen ein werthloses Stück Papier als ein scWenswerthes „Zugeständniß" zu
übermitteln?
Selbstverständlich konnte ja keinem Menschen das Geringste daran gelegen
sein, mit der dänischen Negierung darüber zu transigiren, ob sie den Beitrag
Holsteins ohne Genehmigung der Stände, aus dem besondern Kassenbehalt
Holsteins, oder aus seinem Antheile an dem gemeinschaftlichen Kassenbehalt
entnehmen solle. Am wenigsten konnte man von den deutschen Mächten glau¬
ben, daß sie sich auch nur einen Augenblick in eine Transaction über die Art
und Weise der Belastung Holsteins einlassen würden. Sie hätten damit ihrer¬
seits ja das Princip, daß Holstein nicht ohne Genehmigung der Stände zu
Abgaben herbeigezogen werden dürfe, welche die Grenzen des Normalbudgets über¬
steigen, geradezu über den Haufen geworfen. Und wie erwähnt, hatte der
Bund in dem Beschlusse vom 7. Februar 1861 ja eben von der dänischen Ne¬
gierung nicht blos die Einhaltung dieses Princips ausdrücklich gefordert, son¬
dern ihr bei etwaigem Zuwiderhandeln die Execution angekündigt. Wie wäre
es möglich gewesen Iwru», nac von den deutschen Mächten, die ihrerseits ja für
die Beschlüsse deS Bundes einzustehen hatten, anzunehmen, daß sie eine offen¬
bare Verletzung eines solchen Beschlusses freundschaftlich gutheißen, empfehle»,
ja sogar als ein befriedigendes „Zugeständniß" hinnehmen würden?
Freilich auf der andern Seite dürfte es wohl zu den selbst in den schlech¬
testen Zeiten der Diplomatie ziemlich unerhörten Vvrkommenheitcn gezählt
werden müssen, daß der Minister eines kleinen nach Freundschaft und Unter¬
stützung umhcrsuchenden Staats sich herausnimmt, das Vertrauendes britischen
Staatssecretairs in solcher Weise zu mißbrauchen, um ihn wider sein Wissen
und Willen in eine Affaire von so zweideutiger Beschaffenheit zu verwickeln.
Und doch — ein Drittes ist nach der Depesche des Grafen Bernstorff vom
27. Juni 1862 nicht möglich.
Uebrigens liegt ein Zeugniß aus der Feder des dänischen Conseilpräsiden¬
ten selbst vor, aus dem zu ersehen ist, daß das dänische Cabinet den Grafen
Russell glauben ließ, daß die dänische Erklärung vom 29. Juli nicht eine bloße
„Buchhaltereifrage", eine „leere Förmlichkeit" betreffe.
In demselben Augenblick nämlich, wo die bezeichnete Erklärung in Berlin
und Wien übergeben wurde, expedirte der dänische Conseilpräsident und Minister
des Auswärtigen eine auch in London übergebene Circulardepesche, in welcher
er die um den Preis des „neuen Zugeständnisses" der dänischen Regierung in
Aussicht gestellten directen Verhandlungen zwischen Dänemark und Deutschland
als „theuer erkauft" bezeichnet. Selbst ein dänisches Organ konnte nicht umhin
hervorzuheben, wie seltsam es sich aufnehme, daß Herr Hall, nachdem er nicht
blos die angedeuteten internationalen Verhandlungen, sondern auch die Aus-
setzung der Bundeser,caution für eine bloße Umpvstirung, also sür einen „wahren
Spottpreis" erlangt habe, trotz dessen diese Losung in seiner Circulardepesche
vom 2. August 1861 als „theuer erkauft" bezeichne.
Auch noch in den späteren Stadien der diplomatischen Correspondenz be¬
zeichnet der dänische Conseilpräsident die Erklärung vom 29. Juli als ein
„Opfer". Mit Bezug hierauf äußert der Graf Bernstorff in seiner Circular¬
depesche vom 27. Juni d. I. „Die Zeit wird kommen, wo jedermann sieht,
was dieses Opfer bedeutet, von dem man ohne Scheu mit vollem Munde
redet, und welches der Chef des dänischen Ministeriums an einem andern
Orte, und zwar in seiner Rede vom Is. April d. I. sehr gut dahin definirt
hat, daß wegen der Concession vom 29. Juli nicht ein Heller weniger in die
Staatskasse geflossen sei."
Aber die Verhandlungen des NeichSraths von 1862 haben gleichwohl
noch andere Thatsachen ans Licht gebracht, welche das Verhalten der dänischen
Regierung in der Budgetsache noch vorwurfsvoller erscheinen lassen. Mit Be¬
zug hierauf fährt der Graf Bernstorff in dem angeführten Schriftstücke fort:
„Indem ich diese Erklärung des Herrn Hall Ihrer Aufmerksamkeit empfehle,
will ich ein anderes Factum erwähnen, das in der letzten Session des Rcichs-
raths aufgedeckt worden ist. Der dänische Minister ist nämlich durch drei
königliche Erlasse ermächtigt worden, aus dem Reservefonds die Summe von
etwa 2,400,000 Nthlr. zu entnehmen, um die Kosten der Rüstung zu Land und
Meer und den Aufwand sür Möblirung der königlichen Schlösser zu decken.
Der Reservefonds ist eine gemeinsame Kasse, die allen Ländern, welche die Monarchie
bilden, gehört. Der Reichsrath hat dieses Verfahren der Negierung gebilligt,
aber Niemand hat die Zustimmung dazu von Holstein eingeholt, für welches die
sogenannte Verfassung vom 2. October 1883 nicht mehr gilt, und welches
folglich durch den Reichsrath nicht vertreten ist. Folglich hat die dänische Re¬
gierung willkürlich über den Antheil Holsteins am Reservefonds verfügt. Das
ist ein Pröbchen von der Art und Weise, wie man das, was Herr Hall das
Opfer vom 29. Juli zu nennen beliebt, illusorisch gemacht hat."
In der That Niemand wird ohne Erstaunen nähere Kenntniß von den
Thatsachen nehmen können, auf welche in der angeführten Stelle seitens des
preußischen Cabinets hingewiesen wird.
In der Sitzung des Neichsraths vom 29. Januar 1862 (S. „Rigsraads-
idende" Sy. 131) legte nämlich der Finanzminister „drei königliche Beschlüsse,
gefaßt in Hinblick auf § 54 des Verfassungsgesetzes" vor. Diese Vorlage, die
in den Beilagen zur „Nigsraadstidende" unter Ur. 34, Sy. 763 mitgetheilt
ist, enthält drei von allen Ministern contrasigmrte königliche Beschlüsse,
von denen der erste im Conseil im Schlosse Christiansborg den 17. April
186l, der zweite im Schlosse Christiansborg den 4. October 1861 und der
dritte auf Christiansborg den 29. October 186Z paraphirt worden ist. In dem
ersten dieser Beschlüsse läßt sich das Ministerium in Abwesenheit des Reichs-
raths vom Könige auf Grund einer außerordentlichen, von der Negierung vor
dem Reichsrathe zu vertretenden Vollmacht dazu ermächtigen, über die vom
„Reichsrathe" für 1861 gemachten Bewilligungen hinaus die Summe von
1,897,000 Nthirn. für außerordentliche Rüstungen zu Lande und zur See zu
verausgaben und zur Deckung dieses Betrags 1.700,000 Nthlr. aus dem „Re-
servefond der Monarchie" zu entnehmen; in dem zweiten Beschlusse ist eine
ebensolche Ermächtigung zur Verausgabung von 97,000 Rthlrn, enthalten,
von denen 67,000 Rthlr. wiederum zu Rüstungen und 30,000 Nthlr. zu Aus-
gabeii'für königliche Schlösser verwendet werden sollen, und in gleicher Weise
werden in der dritten unterm 29. October 1861 ausgefertigten Resolution
600,000 Nthlr. auf den „Reservefonds der Monarchie" und zwar wieder für Rü¬
stungen zu Lande und zur See angewiesen.
Der „Reservefond der Monarchie" war ebenso wie der bereits im Vorher¬
gehenden besprochene „Kassebchair" Gesammteigcnthum aller Bestandtheile der
Monarchie. Was Holstein speciell betrifft, so hatte es zur Bildung dieser
Fonds 23 Proc. beigetragen, und mit so viel war es also bei jeder Ausgabe,
die aus denselben bestritten wurde, betheiligt. In allen drei Ordonnanzen
findet sich kein Wort, welches irgend eine Reservation in Betreff der Gerecht¬
same Holsteins an diesen Fonds enthielte. Die Minister stellen sich einfach
auf den Boden des § 54 der „Verfassung für die gemeinsamen Angelegenheiten
der Monarchie" ä, et. 2. October 1855.
Dieser Paragraph lautet: „Keine Ausgabe darf abgehalten werden, welche
nicht in den oben angeführten Finanzgcsetzen begründet ist. Jedoch kann der Kömg
unter besonders dringenden Umstände», wenn der Reichsrath nicht versammelt
ist, Ausgaben beschließen, welche nicht bewilligt sind. Aber ein solcher Beschluß
soll stets in einer Ministerconfcrcnz auf die in K 20 vorgeschriebene Weise be¬
handelt werden, bevor er von dem Könige in dem Geheimen Staatsrathe schlie߬
lich gefaßt wird. Die Minister, welche mit dem Beschlusse einverstanden sind,
contrasigniren ihn und übernehmen die Verantwortlichkeit, insoweit er nicht
von dem zunächst zusammentretender Reichsrathe, dem er stets vorzulegen ist,
gebilligt wird." —
Aber die Verfassung vom 2. October 18S3 war jedenfalls, was Holstein
und Lauenburg betrifft, ohne jede Bedeutung. Die dänische Regierung selbst
hatte unterm 6. November 1858 sie für die Bundesländer außer Kraft gesetzt.
Auf Grund dieser Verfassung konnte also über den Antheil Holsteins an den
betreffenden Fonds nicht disponirt werden. Was war nun die Absicht der Re¬
gierung? Holstein mit zu bebürden? Wer gab ihr das Recht dazu? Im an¬
dern Falle, wenn Holstein unbeschwert bleiben sollte, war es nicht die Pflicht
der Negierung, dies in den Ordonnanzen und später vor dein Reichsrathe aus¬
drücklich auszusprechen?
Es mag seinen Grund haben, daß die dänischen Minister in der Fassung
der drei Ordonnanzen mit Absicht jedes Wort vermieden, welches eine be¬
stimmte Andeutung darüber, wie Holstein zu den betreffenden Ausgaben ge¬
stellt werden sollte, hätte geben können. Jetzt ist indessen die ganze Budget-
angelcgenheit, und zwar sowohl in Betreff der Ausführung der Erklärung vom
29. Juli wie hinsichtlich der drei angeführten Ordonnanzen zu völliger Klar¬
heit gebracht. Das Staatsbudget für 1861 ist allerdings weder im Laufe des
vorigen noch des gegenwärtigen Jahres amtlich veröffentlicht worden. Gegen
die Regel wurde die Publication desselben, selbst nachdem die geschehene Fest¬
stellung durch das „Gesetzblatt" constatirt war, zurückgehalten*). Aber das
26. Stück des amtlichen „Gesetz- und Ministerialblatts" für die Herzogthümer
Holstein und Lauenburg enthält die „Staatsrechnung für das Finanzjahr
-jM,^,f>2". mit der nachfolgenden vom Finanzminister contrasignirten Ca-
binetsordre-.
„Frcderik der Siebente u. s. w. u, s. w. Die beifolgende in Unserm Finanz-
Ministerium ausgemachte Staatsrechnung für das Finanzjahr vom 1. April
1861 bis zum 31, März 1862, welche Uns in Unserm Geheimen Staatsrathe
Vorgelegt gewesen ist, ermächtigen Wir Dich hierdurch allergnädigst mit diesem
Unserm allerhöchsten Rcscripte in dänischer und deutscher Sprache durch den
Druck zur allgemeinen Kunde bringen zu lassen. Wonach Du Dich allerunter-
thänigst zu richten hast. Geschrieben auf Glücksburg d. 2. October 1862.
Unter Unserm Königlichen Handzeichen und Jnsiegel
Mit der Publication der „Staatsrechnung" ist also die definitive Erledigung
altes dessen, was das Budget für 1861 betrifft, erfolgt. Aus der bezeichneten
Staatsrechnung geht nun hervor, daß der gesammte „Kassebehalt der Monarchie"
mit circa 1,840,000 Nthlr. zur Deckung von solchen Ausgaben, welche die Grenzen
des Normalbudgets überstiegen, und daß in gleicher Weise der „Reservefond
der Monarchie" und zwar nicht blos mit 2,400,000 Rihlr., sondern sogar mit
circa 2,034,000 Nthlr. in Anspruch genommen worden ist. Da der Antheil Hol¬
steins an diesen Fonds nicht nur nicht zurückbehalten, sondern nirgends auch
uno mit einem Worte eine Reservation in Betreff der Ansprüche Holsteins ge¬
macht ist, so steht also fest, daß Holstein an allen Ausgaben, die in dem Finanz¬
jahre 1861 über das Normalbudget hinaus gemacht worden sind, betheiligt und
zu allen Bewilligungen des „Ncichsraths" mit seiner Quote herangezogen
worden ist.
Constatiren wir also:
Erstens, daß der Werth des „Zugeständnisses" vom 29. Juli sich in
Wahrheit „auf Nichts" reducirt^).
Zweitens, daß die dänische Regierung, als sie mit dem Londoner Cabinete
über die Stellung Holsteins zu dem Budget von 1861 verhandelte, sich jeder
Andeutung enthielt, daß seit dem Schlüsse der holsteinischen Ständeversammlung
die Ausgaben für 1861 um 1,897,000 Rthlr. erhöht worden, wovon bereits
1,700,000 Rthlr. aus dein Holstein angehörigen „Reservefonds der Monarchie"
entnommen waren, und daß in gleicher Weise unterm 4. und 29. October, also
zu einer Zeit, wo die „internationalen Verhandlungen" eben eröffnet wurden
weitere 700,000 Rthlr. über das Normalbudget hinaus verausgabt wurden.
Drittens, daß während man bei den deutschen Mächten den Glauben er¬
weckte, daß das Decret des Bundes vom 7. Februar, betreffend die Unzulässig¬
keit einer Feststellung des Budgets für 1861 ohne Genehmigung der Stände
jedenfalls während der internationalen Verhandlungen respectirt werden würde,
dasselbe thatsächlich über den Haufen geworfen worden ist.
So hat die dänische Regierung das Wort gehalten, das sie dem Grafen
Russell gab, so ist sie mit der Transaction umgesprungen, bei welcher der
britische Staatssecretair als Vermittler fungirt hat. In London hat sie- dieselbe
als ein „Zugeständniß", als ein „Opfer", durch welches die diplomatischen Ver¬
handlungen „theuer erkauft" sein, dargestellt; in Kopenhagen ließ sie das Ganze
zu einer „leeren Formalität", zu einer bloßen „Buchhaltereifrage" Weginter¬
pretiren, und in Wahrheit endlich war, was sie ausführte, ein vermessenes
Attentat auf die Decrete des Bundes, ein maßloses Vergreifen an den Rechten
und Interessen Holsteins.
Es versteht sich von selbst, daß man dies weder in Itzehoe noch in Frank¬
furt ruhig wird hinnehmen können.
Bei dieser Gelegenheit dürften übrigens noch einige Bemerkungen zur
Erklärung der finanziellen Differenzen am Platz e sein.
Wie man weiß! bilden die Beschwerden über finanzielle Prägravation seit
langen Jahren ein fortlaufendes Capitel in den Verhandlungen der holsteinischen
Stände. Ungeachtet der Beitrag zur Civilliste und zu den Apanagen jetzt von
den Herzogtümern anderweitig geleistet werden muß, hat man z. B. dennoch
die Einnahmen aus den Domainen, obwohl die Domainen nach der Bekannt¬
machung vom 28. Januar 18S2 zu den „Specialangelegenheiten" gehören,
der Specialkassc entzogen und der „Gesammtstaatskasse" überwiesen, und nicht
zufrieden damit hat man überdies eine Menge anderweitiger Einnahmen, die
zu den Grundsteuern zu zählen sind, ebenfalls mit unter die Rubrik, „Domaine-
einnahmen" geworfen, um sie auf diese Weise mit für die „Gesammtstaatskasse"
einzuziehen. In gleicher Weise hat man Holstein, statt circa 21 Proc., wie es
die Bevölkerungszahl mit sich gebracht hätte, 23 Proc. als seinen Antheil zur
Deckung der gemeinschaftlichen Ausgaben der Monarchie aufgebürdet, während
das Königreich seinerseits um so viel weniger zahlte. Es hat daher Holstein
seit 18L2 im Verhältnisse zum Königreiche circa eine halbe Million Per Jahr
zu viel zu den gemeinschaftlichen Ausgaben entrichten müssen, ohne daß der
Ständeversammlung irgend ein Mittel blieb, dies zu verhindern, und ohne daß
ihre Forderungen auf Rückerstattung der zu viel gezählten Summe irgend Gehör
gesunden hätten.
Bei einer solchen Finanzwirthschaft ist es leicht erklärlich, wie so das König¬
reich, obwohl in demselben in der Zeitperiode von nach 1848 beträchtliche Steuer¬
herabsetzungen stattgefunden haben, und obwohl es für Literatur, Kunst und
gemeinnützige Zwecke Jahr für Jahr aus seiner besondern Kasse sehr erhebliche
Summen verwendet, dennoch für sich noch einen aparten Kassenbehalt und
Reservefonds von gegen sieben Millionen Thlr. aufhäufen konnte,! während in
Holstein, wo für Literatur, Kunst und gemeinnützige Zwecke fast gar nichts von
Staatswegen gethan wird, außer der Einführung einer neuen Steuer und der
Erhöhung des Zolltarifs, die Landsteuer in derselben Periode auf das Vierfache
und die Haussteuer aus das Doppelte erhöht werden mußte, um nur den An¬
forderungen der dänischen Negierung genügen zu können. Ueberhaupt ist man bei
der neuen Einrichtung des Finanzwesens, durch welche die Aufhebung der frühern
Finanzgemeinschaft und die Trennung in „besondere" und „gemeinschaftliche"
Einnahmen und Ausgaben eingefübrt wurde, mit der größten Willkür und Un¬
gerechtigkeit zu Werke gegangen. Für das dänische Interesse war in dieser Hin¬
sicht aufs Beste gesorgt; Dänemark konnte sich auf die Negierung und auf die
exorbitanten Rechte des Reichstags in Finanzsachen verlassen; die Herzogthümer
dagegen wurden nie um ihre Zustimmung befragt. Man hielt es nicht einmal
für nöthig, ihre Landesvcrtretungen bei der Reorganisation des Finanzwesens
auch nur zu Rathe zu ziehen.
Geld und Gewalt! — das scheint die Losung des dänischen Regimes zu
sein; jede Berufung auf Recht und Billigkeit ist bisher ungehört verklungen.
Der Obliegenheit aber wird sich jedenfalls die Bundesversammlung nicht
entziehen können, von der dänischen Regierung ernste Rechenschaft über ihr Ver¬
fahren in Betreff des Budgets für das Finanzjahr 1861-62 zu fordern. Sie
wird dies thun müssen, einerseits um die Rechte und Interessen Holsteins vor
einer so schweren Beeinträchtigung, wie die dänische Regierung sie sich nach
Ausweis der „Staatsrechnung" erlaubt hat, zu schützen, und andrerseits, um der
dänischen Negierung zu dewas.n, daß es derselben nicht gestattet ist, mit den
Decreten des Bundes ein frivoles Spiel zu treiben.
Der Widerwille der ersten Christen gegen Bildwerke und Gemälde verlor
sich schon im zweiten und dritten Jahrhundert, und wenn auch die Darstellung
der Gottheit immer noch als ein gewagtes, ja gotteslästerliches Unternehmen
angesehen wurde, so galt es doch für kein Unrecht, den Erlöser unter der Ge¬
stalt des guten Hirten oder als Orpheus, der die Seele aus der Unterwelt holt,
wiederzugeben, oder seine wunderbare Geburt, seine Leidenszeit, Tod, Auf¬
erstehung und Himmelfahrt durch solche Bilder und Gestalten zu symbolisiren,
die in dem Alten Testament als vorbildlich für das Neue zu finden waren.
Die Maler der Katakomben umwanden das christliche Thema mit heid¬
nischen Verzierungen, Cupido flatterte in Weinblättern um die Gestalt des
guten Hirten, die Chlamys und Tunica umhüllte die Formen der Jungfrau,
das Pallium die der Propheten, „während phrygische Mütze und Kleidung
die Köpfe und Gestalten der Hirten" oder Weisen bedeckte. Stellung, Bewegung
Form und Anordnung waren die der classischen Zeit, eine gesunkene und seelen¬
lose Nachahmung vergangener Größe. Während das AntliH des Heilands
entfernt an die Züge des olympischen Jupiter oder Apollo erinnerte, waren
die Propheten nur zu oft eine Reminiscenz an griechische Philosophen. In
den dunklen und verworrenen Gängen und Gewölben, in denen die ersten
Christen ihre Conventikel hielten, arbeiteten die halbheidnischen Künstler, indem
sie die rauh angeworfener Wände kühn mit lebhaften klaren Wasserfarben be¬
malten, Gestalten mit flüchtigen Linien oberflächlich skizzirten und dem Be¬
schauer überließen, sich Detail und Modellirung hinzuzudenken. Ihre Dar¬
stellungen hatten immer noch etwas Classisches und Kühnes in der Bewegung,
ihre Gruppenbildung glich genau der aus der heidnischen Zeit, aber die Aus¬
führung blieb roh und oberflächlich.
Zwar sträubten sich die Maler noch, die Züge des Gottessohns so dar¬
zustellen, wie er sie in seinem Mannesalter gehabt haben mochte, aber sie heg¬
ten keine Bedenklichkeit mehr, ihn als Kind auf dem Schooß seiner Mutter
abzubilden. Die Jungfrau selbst war den ersten Christen noch weniger be¬
deutend, als den späteren Bekennern des Evangeliums, aber sie wurde im
dritten und vierten Jahrhundert schon hoch in Ehren gehalten. Man sieht sie
gewöhnlich auf einem Thron sitzen, entweder die Geschenke der heiligen drei
Könige empfangend, oder von den Propheten des alten Testaments umgeben,
die ihr Kommen geweissagt haben.
Erst im Anfang des vierten Jahrhunderts schwand die Scheu, welche den
ersten christlichen Malern verboten hatte, die sichtbaren Formen und Züge
des Heilands in seinem Mannesalter darzustellen; es wurde jetzt eher ver¬
dienstlich als gotteslästerlich, ihm Antlitz und Gestalt zu bilden.
Wohl war den ersten Künstlern des vierten Jahrhunderts ein frommer Be¬
trug behilflich, um den Heiland bildlich darzustellen, jener falsche Brief des
Consul Lentulus, in welchem Gestalt und Aussehn Christi beschrieben wurde.
Aber dennoch ist in den zuerst angenommenen Typen die Antike sehr genau nach-
geahnt, während etwas später, als der Kopf des Erlösers mehr Bedeutung erhielt,
für genügend galt, nur die regelmäßigen Formen eines Mannes wiederzugeben
in der Blüthe des Alters, ruhig, mit regelmäßigen Proportionen und Zügen,
imponirender Stirn, gerader Nase, leidenschaftslosen, Feierlichkeit ausdrückenden
Augen und breitem muskulösem Hals. Der bartlose lockenköpfige Typus des
guten Hirten verwandelte sich allmälig aus einer Imitation des Apollo in eine
Nachahmung des Jupiter, der bald mit spärlichem, bald mit vollem Bart ge¬
ziert wurde. Kinn und Mund blieben frei oder bedeckt, je nach der Laune des
Künstlers oder dem Wunsch des Bestellers; das Haar war häusig in der Mitte
gescheitelt und siel in Locken über die Schultern.
Der Verfall der Technik machte dabei nicht so schnelle Fortschritte, als
man zu glauben versucht ist, und in Rom brachten noch gegen Ende des fünf¬
ten oder Anfang des sechsten Jahrhunderts die Katakvmbcnmaler Werke hervor,
die Zeugniß geben, wie nachhaltig der Einfluß der classischen Form war,
und wie schwer wurde, sie durch andre Formen zu ersetzen, welche der Ent¬
wickelung der christlichen Idee angemessener gewesen wären. Der zu die¬
ser Zeit gemalte Christus in der Katakombe von S. Pietro e Marcellino sitzt
auf einem römischen Stuhl, in Tunica, Pallium und Sandalen gekleidet, mit
der rechten Hand Segen ertheilend, in der linken ein Buch haltend. Der
Kopf, von einem einfachen Heiligenschein umgeben, auf dessen beiden Sei¬
ten das griechische ^ und stehen, ist von langer Form, aber jugend¬
lichem Typus. Die breite offne Stirn, das ruhige und regelmäßige Auge
drücken eine gewisse Majestät aus. Das Haar fällt in Locken über die Schul¬
tern und ein spitzzugehender Bart schmückt das Kinn. Auch der Umriß der
Gestalt ist schön. Was reine Form anbetrifft, ist dieser Kopf einer der besten
Typen aus dem Verfall des sechsten Jahrhunderts; er gleicht einigen, die in
Ravenna entstanden waren, und nähert sich einzelnen Köpfen aus der großen
. Wiedcrbelebungszeit des vierzehnten Jahrhunderts.
Ein Jahrhundert später wurde der Erlöser zwar noch im Act des Segnens
und von imponirenden Aussehen dargestellt, wie z. B. in der Katakombe von
S. Pontiano, aber der Künstler hatte schon die Leichtigkeit der Hand verloren
und entbehrte der Formkenntniß seiner Vorgänger. Er war zu einem gewissen
Conventionalismus der Darstellung herabgesunken, der sich in den geraden Li¬
nien des fallenden Haars, der regelmäßigen Folge von Locken eines kleinen
Barts, den halbkreisförmigen Bogen der Stirn und Augenlider, und in der
Breite der dunklen Umrißlinien kund gab. Die Stirn war noch offen und schön,
die Nase gerade und der Hals breit, aber die Augen nahmen schon, durch die Ent¬
fernung der unteren Lider von der Iris und durch die unnöthige Wölbung der
oberen, einen unangenehmen Ausdruck an. Es war ein Versuch, den Begriff der
Macht auszudrücken, aber er erreichte nichts, als dem Beschauer Schrecken einzuflößen.
Lange vor dieser Zeit hatten die Maler aufgehört, sich in den Katakomben
zu verbergen und die höheren Orden der italienischen Geistlichkeit waren darin
übereingekommen, daß das Heidenthum durch Vervielfältigung von Bildern
am leichtesten ausgerottet werden könnte. Wer sich dafür interessirt, mag Pau-
linus, Gregorius und die Parteigänger der Bilderverehrung studiren, um die
Motive zu verstehen, die sie veranlaßten, die alten Basiliken und neuerbauten
Kirchen mit biblischen Gegenständen zu schmücken. Die Mosaikbilder, mit de¬
nen die großen Bauwerk« dieser Zeit verziert wurden, trugen keinen andern Cha¬
rakter als die Gemälde der Katakomben. Jedoch erhielt der Erlöser durch die
Mosaikmaler einen kolossalen Umfang, um dem Beschauer einen richtigen Begriff
von seiner Majestät und Größe beizubringen.
In einem Mosaikbilde in S. Paolo fuori le mure umschließt ein kur¬
zer üppiger Bart, der in der Mitte getheilt und über die Backen herunter ge¬
bürstet ist, und dickes, in der Mitte gescheiteltes und nach hinten in drahtartigen
Linien herunterfallendes Haar, das vergrämte, gealterte und mürrische Gesicht
des Heilands. Die Augenbrauen sind vollständige Halbkreise; die Nase ist ge¬
rade, eine Andeutung der regelmäßigen classischen Form hat sich erhalten, aber
der Künstler verräth schon den tieferen Verfall seiner Zeit..
Im sechsten Jahrhundert nimmt, wie z. B. in S. Cvsma und Damiano,
Figur und Kopfform des Heilands, wenn auch noch in geistvoller Haltung und
von regelmäßiger Form, doch eine längere Gestalt an. Der Hals bleibt breit
und massig, die Stirn hingegen ist muskulös entwickelt und die Augen, wie
die eines Stieres glotzend, sind ganz dazu geeignet Furcht zu erregen. Das
wie gewöhnlich gescheitelte Haar fällt in regelmäßigen Ringeln hinter die
Schultern, und der kurze, gleichfalls getheilte Bart läßt einen Theil des Kinns
unbedeckt. Es ist zwar immer noch ein römischer Typus, aber doch dem der ersten
Mosaikmaler bei Weitem untergeordnet.
Auch Ravenna, als es im fünften Jahrhundert mit Rom wetteiferte, er¬
hielt in seinen Basiliken Erinnerungen an das classische Zeitalter der Römer,
ja selbst das der Griechen. Ju der Taufkapelle erscheint Christus als der gute
Hirt mit lockigem Haupt, das an den reinsten griechischen Typus erinnert. Als
aber die Gothen aus Ravenna Vertrieben worden, trat ein Verfall, ähnlich wie
i» Nom ein.
Im siebenten Jahrhundert sank in allen Theilen der Halbinsel die Kunst
immer tiefer, ein Christusbild in der Katakombe von S. Pontiano gibt noch
heute ein trauriges Zeugniß davon. Der Künstler entwarf hier mit dunklen
Linien, auf einer nur grob präparirten Wand, einen von den vorhergehenden
gänzlich abweichenden Typus, der dann im achten und neunten und sogar im
dreizehnten Jahrhundert oft wiederzufinden ist. Der Kopf des Heilands war
bis jetzt wenigstens regelmäßig geblieben. So lange noch antikes Gefühl den
Künstler beherrschte, diente das lange wallende Haar dazu, dem Kopf einen gefäl¬
ligen Umriß zu geben. Der Maler des obenerwähnten Bildes, in der S. Pon-
tiano-Katakombe aber schuf ein Antlitz, das beinahe ebenso breit wie lang war, mit
gewölbter Stirn, starrenden Augen, deren Winkel einfielen, kugeliger Nasenspitze,
hervorstehenden Backenknochen und kleinem Kinn. Eine Ueberfülle von Haar, das
in der Mitte gescheitelt war und auf die Stirn zwei Locken herunterhängen ließ,
bildete einen Kreis um das Gesicht und gab dem breiten Hals ein dünnes An¬
sehen. Ein kleiner verwilderter Bart deckte den untern Theil des Kinns. Die
rechte zum Segen erhobne Hand war unförmig; der Faltenwurf hatte alle
Rundung verloren und erschien auffallend eckig.
Gegen Ende des achten Jahrhunderts ging dann in dem leeren Umriß
und den fehlerhaften Formen auch die Majestät des Ausdrucks gänzlich verloren
und der Christus, wie er in der Kapelle der heiligen Cäcilia in der S. Calisto-
Katakombe abgebildet ist, verdient überhaupt nur Beachtung, weil er mit einer
gewissen Großartigkeit die Erniedrigung kund gibt, in welche zu dieser Zeit
die Kunst versunken war.
Daß die Mosaiker dieselbe Richtung einschlugen, wie die Maler, ist selbst¬
verständlich ; aber sie begnügten sich mit der Wiederholung der allereinfachsten
Gegenstände wie z. B. der Verherrlichung Christi, der Jungfrau und der
Heiligen, und wollten sich eine eigne Komposition nicht zutrauen. Daher er¬
hielt sich in gewissen Typen eine Reminiscenz der antiken Auffassung, die sich
in einer Art würdevollen Ausdrucks und Stellung und in der Breite des volle»
Faltenwurfs geltend machte, obgleich dieser nur durch parallele Linien angedeutet
wurde.
Während aber der Typus der Christusgestalt immer mehr an Interesse
verlor, war es eigenthümlich, daß die Künstler nach und nach versuchten, einzelne
Momente aus der Passionszeit bildlich darzustellen, von denen jedoch die schmerz¬
vollster bis gegen Ende des neunten Jahrhunderts sorgfältig vermieden wur¬
den. Das höchste Wagniß war der Weg zur Schädelstätte, wobei Christus
von dem, der ihm das Kreuz trug, begleitet wurde. Bald aber ging man wei¬
ter. Schon das zehnte und elfte Jahrhundert gefällt sich gewissermaßen darin,
die Leiden und den Tod des Heilands darzustellen.
In den Kirchen, wo diese Bilder zuerst erschienen, hingen sie gewöhnlich
solchen gegenüber, die Christus nach der Auferstehung zeigen, wie er in einer
Glorie sitzt und über „die Lebendigen und die Todten" Gericht hält. Zu
S. Urbano alla Caffarella in Rom findet sich auf der inneren Seite des Portals
eine Kreuzigung aus dem elften Jahrhundert. Der Heiland steht dort auf
einer Art Vorsprung, seine Füße, etwas von einander entfernt, sind an das Holz
genagelt; eine leichte Draperie bedeckt die Hüften; rechts hält Calpurnius den
Schwamm in die Höhe, während auf der linken Seite Longinus seine Lanze
in die Seite des Erlösers ftößi. Auf den Seiten befinden sich die Jung¬
frau und der Evangelist Johannes und über ihnen die Schacher, von denen der
eine reuevoll nach dem Heiland blickt. Beide sind mit auf den Rücken ge¬
bundenen Armen in ruhiger Haltung dargestellt. Am Fuß des Kreuzes hält
eine eigenthümlich gekleidete Gestalt, die vielleicht Magdalene vorstellen soll,
ein Tuch und scheint den Vorsprung stützen zu wollen, auf dem die Füße des
Herrn ruhen. Ueber dem Heiland sind die Halbfiguren zweier geflügelter Engel
angebracht. Andere Scenen der Passionsgeschichte finden sich auf den beiden
Seitenwänden.
Wagler nun zwar die Maler schon, die letzten Todesqualen des Herrn
bildlich darzustellen, so verbot ihnen doch eine gewisse Achtung vor den alther¬
gebrachten Anschauungen der Kirchenväter, irgend welche Spur von Leiden oder
Schmerz in der Gestalt des Sterbenden auszudrücken, und deshalb findet man
in den ersten Kreuzigungen den Heiland gewöhnlich aufrecht stehend, beide Füße
an das Kreuz genagelt, mit offenen Augen und entweder drohendem Ausdruck
oder einem Blick voll Ruhe und Frieden.
Die allmälige Modification dieser letzten Auffassung k.ann man jedoch mit
überraschender Genauigkeit in den bemalten Crucifixen von Pisa, Lucca,
Siena verfolgen: bis endlich der heilige Franciscus die Phantasie der Maler
mit seinem Wunder der Stigmata erfüllte, dadurch den schmerzzerrissenen Erlöser
in den Vordergrund stellte und durch diese Richtung der religiösen Anschauung
die Schilderung des Erlösers in eine ganz andere Bahn lenkte.
Die zahllosen Crucifixe des elften, zwölften und dreizehnten Jahrhunderts
beweisen einmal wie groß der Wunsch der Gläubigen jedes Standes war. ein
solches Kunstwerk zu besitzen und zweitens, wie das Verlangen rege wurde, die
bloße Darstellung auf den Wänden der Bauwerke durch ein greifbares Symbol
ersetzt zu sehen.
Indessen genügte xs nicht, nur den Heiland auf dem Kreuz darzustellen,
denn um die biblische Geschichte vollständiger und eine richtige Vorstellung von
der heiligen Tragödie zu geben, wurde die Gestalt des Gekreuzigten mit kleinen
Bildern umgeben, für welche die Enden der Kreuzarme, die Stelle über dem
Kopf und der Kreuzfuß, außerdem die Seitenflächen neben dem Kreuz benutzt
wurden. Der Evangelist Johannes und die Jungfrau sind in der Regel auf den
äußersten Enden der Arme, der Erlöser in einer Glorie Segen ertheilend oben
an der Spitze, und Scenen der Passionsgeschichte an den Seiten des Kreuzes
angebracht.
Eigenthümlich ist die Beobachtung, wie diese Art von Komposition mit der
Construction der Kirchen große Ähnlichkeit trägt, welche in Form des latei¬
nischen Kreuzes mit darangefügten Seitenkapellen gebaut sind. Unter die
frühesten dieser Crucifixe zählt wohl das kolossale von San Michele in Foro
zu Lucca, aus dem ein Künstler des elften Jahrhunderts den Heiland in auf¬
rechter Haltung und guter Proportion mit offenen Augen und etwas von
einander getrennt angenagelten Füßen dargestellt hat — mit einfachem, aber
etwas grobem und dunklem Umriß gezeichnet. Der ein wenig nach rechts ge¬
neigte Kopf ist sowie die Nase etwas lang und Mund und Augen klein. Der
Körper, wenn auch unvollkommen gezeichnet, verräth doch nichts von der fehler¬
haften Anatomie späterer Erzeugnisse. Um einen Eindruck von Relief hervor¬
zurufen hat Bildhauerei der Kunst des Malers helfen müssen, und während
die ganze Figur in eintöniger, von Zeit und Auffrischung beschädigter Farbe
gehalten ist, wird die Rundung durch ein Heraustreten der Gestalt angedeutet,
das in einer Mittellinie culminirt und nach dem Hals, den Handgelenken und
Füßen hin sich ins Flache verläuft. Die Füße, schwächlich und spitz zugehend
sind wie der Kopf auf der Fläche gemalt, nur daß letzterer, um dem Beschauer
mehr ins Auge zu fallen, mit seinem Heiligenschein etwas aus der Fläche hervor¬
ragt. Das- aus dem obersten Ende des Kreuzes angebrachte kleine Bild des
Erlösers ist Segen ertheilend und ein Buch haltend abgebildet, mit grünem
Heiligenschein und einer Gewandung von traditioneller Färbung. Zu beiden
Seiten knien zwei Engel in anbetender Stellung. Auf den äußersten Enden
der Arme befinden sich die Attribute der Evangelisten und ein schwebender
Engel. Rechts und links vom Kreuz und unter den Armen schließen sich drei
Reihen kleiner Tcifelwerke an, aus denen „die Jungfrau" und „der Evangelist
Johannes", „die Kreuzigung der Schächer", „Christi Grablegung" und „Marien
am Grabe" oberflächlich entworfen sind, und zwar in den alten typischen Formen,
wie bei den Gemälden und Miniaturbildern der ersten Jahrhunderte häufig zu
finden sind. Auf einem kleinen Tafelwerk am Fuß des Kreuzes sieht man
Petrus sitzend die Fragen der Magd anhören.
Ein gleichartiges Werk aus späterer Zeit in S. Guiglia in Lucca, aus
Holz gemalt und ohne Relief, stellt außer dem Heiland, den Evangelisten,
einigen Heiligen und Engeln. auch noch dieselben Scenen der Passionszeit dar,
wie in S. Michele; aber der Verfall, dem auch diese Kunstübung erlag, ist
sowohl in Form und Darstellung, als in der Art der Malerei wahrzunehmen.
Der Körper steht noch aufrecht, aber der Kopf ist schon mehr gebeugt als
früher und der Umriß nicht fehlerfrei. Wahrscheinlich gehört dies Crucifix dem
Ende des zwölften Jahrhunderts an.
Auch in Pisa scheinen, wie in Lucca, Crucifixe die ersten Malereien gewesen
zu sein, wovon das älteste wohl zweifellos das in Santa Maria ist. Der
Leib hängt hier schon in Bezug auf die Lage der Arme tiefer als in irgend
einem andern Bilde, aber der Körper steht noch immer aufrecht, die Augen
sind noch offen und drohend und die Füße von einander getrennt; daher ist
wahrscheinlich, daß dies eine Arbeit des elften Jahrhunderts ist. Das offenbar
von der Spitze des Kreuzes abgebrochne Brustbild des Erlösers in Glorie
ist jetzt unmittelbar über dem hervorragenden Heiligenschein des unten Ge¬
kreuzigten angebracht. Auf den Armen des Kreuzes finden sich wie gewöhnlich
die Figuren der Jungfrau und der Evangelist Johannes, aber die kleinen
Seitenbilder weichen in Gruppirung und Wahl des Gegenstandes von denen
in Lucca ab.
Auf einem andern Crucifix, derselben Zeit angehörend, und erst kürzlich
in Sepolcro in Pisa entdeckt, ist der Erlöser noch aufrechter als gewöhnlich
und in guter Proportion dargestellt; aber an der Spitze fehlt der Christus in
Glorie und statt des Evangelisten und der Jungfrau finden sich hier zwei
kleinere Bilder vom Abendmahl und der Fußwaschung, und am Fuße des Kreuzes
statt S. Peter und der Magd das Herniedersteigen des h. Geistes. Das Crucifix
in der Kapelle Maggiore des Campo Santo in Pisa, von späterem Datum,
zeigt in der mageren Gestalt des Heilands eine geschmeidige Elasticität, das ge¬
neigte Haupt und die geschlossenen Augen deuten schon die Entwickelung einer
späteren religiösen Auffassung an. Aber der Begriff von Schmerz wird noch durch
keine Uebertreibung im Ausdruck, sondern durch ruhige Traurigkeit gegeben.
Haltung und Ausdruck des Gekreuzigten lassen den Schluß ziehen, daß dies
Werk zwischen 11S0 und 1190 entstanden ist.
In einem noch späteren Crucifix in S. Pietro in VinculiS, jetzt San
Pierino. von Pisa sieht man dann deutlich wie die neue Auffassung, den Hei¬
land schmerzvoll darzustellen, an Ausdehnung gewann. Die Füße des rolos-
salen Christus sind zwar dort noch von einander entfernt an das Kreuz
genagelt, aber der Leib und die Hüften hängen nach außen hin über, und
geben so die Idee des Todes mit einer gewissen Realität. Die Augenbrauen
sind schräger, die Augen geschlossen , die Stirn ist mit Runzeln bedeckt, und
gibt dem Gesicht ein finstres Aussehen, gemischt mit dem Ausdruck drückender
Sorge und vorzeitigen Alters. Anatomie scheint von dem Künstler vergeblich
studirt zu sein, und die Ausführung zeugt durch den dunklen Umriß und gelb¬
liche Farbe von dem allmäligen Untergange der Kunst.
Diese traurigen Darstellungen von der Göttlichkeit des Erlösers bilden
den Uebergang zu dem entarteten Stil Giunta Pisanos, dessen Werke
in Gemeinschaft mit denen von Margaritone die unterste Stufe einnehmen, zu
der die Kunst in Italien jemals herabsank.
Erst Giotto, dem Erfinder neuer Typen in der florentinischen Schule,
war es im vierzehnten Jahrhundert vorbehalten, der Gestalt des Heilands wieder
Würde und Erhabenheit zu verleihen.
Die von seiner Hand herrührende Kreuzigung in dem südlichen Querschiff
der Basilika von Asstsi bildet mit dem weder verdrehten noch entstellten Ant¬
litz des Heilands, durch das Fehlen der blutenden Wunden unter dem Domen-
*
kränz, und durch die große Einfachheit und Schmiegsamkeit des Umrisses der
Formen, einen gewaltigen Contrast mit den vorangegangenen Versuchen.
Obgleich schön und dramatisch aufgefaßt, ist die Kreuzigung in der Scro-
vegni-Kapelle in Padua doch nicht in demselben Grade gelungen, wie die eben
erwähnte; aber die Proportionen des Gekreuzigten sind correct, die Form gut
gewählt und der Ausdruck würdevoll und mild. Der dargestellte Moment ist
der des Todes, wo der Engel die letzten Ströme Blut aus der wunden Seite
auffängt. Die Züge drücken Schmerz aus, und der Mund ist geöffnet; die
Hände sind etwas zusammengekrampft, aber die Gelenke gut aneinanderge¬
fügt und in Ruhe.
Ein bei weitem besseres Werk und dem von Assisi sehr verwandt, ist das
in dem Chor der Scrovegni-Kapelle aufgehängte Crucifix. Der Christuskopf
dort drückt völlige Ruhe und Ergebenheit aus und verwirklicht am besten den
Begriff des Mensch gewordenen Gottes, die christliche Auffassung des Er¬
lösers, der für die Sünden der Welt den Kreuzestod erduldet. Aber nicht
allein die Darstellung des gekreuzigten Heilands war es, die Giottos hohe
Begabung verrieth, auch seine Bilder, in denen Christus in Glorie erscheint und
Segen ertheilt, sind ebenso glücklich in der Erfindung eines neuen Typus.
In einer von ihm gemalten und erst kürzlich entdeckten Freske zu Santa
Chiara in Neapel drückt die Gestalt des Heilands Jugend und Majestät aus;
der Kopf ist von edlem, jedoch einfachem Umriß, und die schön gezeichneten
Züge von gefälliger und regelmäßiger Form. Ein dünner flaumartiger Bart
bedeckt Kinn und Lippen, die Augen, nicht mehr in conventioneller Form, sind
nach den Regeln der Natur mit rundem Kanthus (Thränenwinkel) und Iris
gezeichnet, der Typus kennzeichnet die Umbildung des alten in ein neues Ideal,
das der Phantasie künftiger Jahrhunderte zur Grundlage diente. Im Ver¬
gleich mit andern Christusköpfen in Glorie von Giotto zeigt gerade dieses
Bild, welchen Fortschritt der Maler selbst während seiner Künstlerlaufbahn ge¬
macht hat. In der Halbfigur mit dem Doppelschwert und den Schlüsseln in
dem Altarblatt von S. Peter wurde die aus der Zeit Giuntas geerbte kugelige
Form des Kopfes aus einfache Proportionen zurückgeführt; der schreckliche Aus¬
druck aus der Zeit Papst Paskals, der sich mehr oder weniger bis gegen
Ende des dreizehnten Jahrhunderts erhielt und selbst in den Bildern Cimabues
wahrzunehmen ist, verschwand gänzlich und machte einem natürlicheren, wenn
auch ebenso ernstem Blick Platz. Dieselben Verbesserungen sind bei dem
Christus oberhalb der Thür in dem südlichen Querschiff der Kirche von Assisi
mit Vortheil benutzt.
In der That kehrte Giotto zum großen Theil zu den ersten Formen und
Umrissen der römischen Katakombenmaler des fünften und sechsten Jahrhunderts
und zu denen der Mosaikmaler in der Taufkapelle und S. Apollinare Nuovo
in Ravenna zurück. Der segnende Erlöser auf dem Crucifix von Dgnissanti,
war ein majestätischer und jugendlicher Typus, von anmuthigem Umriß und
gemüthvoller religiöser Auffassung. Der bloßen Regelmäßigkeit und Ernst¬
haftigkeit fügte Giotto den Anschein einer eigenen Inspiration hinzu. Ma¬
jestätische Ruhe, friedlicher Ernst und edle Proportionen kennzeichnen den
„Heiland in Glorie" im Ciborium von S. Peter in Rom und in ähnlichen
Darstellungen der Scrovegni-Kapelle in Padua. Das milde, sanfte und geist¬
volle Antlitz des Erlösers zu Santa Chiara von Neapel scheint jedoch am
besten die christliche Idee auszudrücken und erfüllt sowohl in Großartigkeit
des Umrisses als in richtiger Proportion und Haltung jede Forderung der
Kunst. Der klare offene Blick des regelmäßigen Auges vereint weiche Schön¬
heit und Majestät, die breite Stirn bekundet einen kräftigen Geist und
das gescheitelte, in Locken herabfallende Haar gibt dem Gesicht einen eige¬
nen Reiz.
Wenn nun Giottos Werke eine unendlich viel größere Energie, Kraft und
Gedankenfülle und ein männlicheres Ideal des Heilands verkörpern, als sein
Nachfolger Angelico je erreichte, so durchweht sie aber auch sehr viel weniger
warmes religiöses Gefühl, als die des Letzteren. Fra Giovanni, gewöhnlich
Angelico genannt, der Letzte der Giottesker, gab seinem Christusbild am
vollkommensten den Ausdruck der Resignation und Opferfreudigst. Der
weiche Charakter der Züge, die leichte Beugung des Hauptes, drückten am schön¬
sten das Gefühl der Freude aus, wie sie der empfunden hat, welcher die mensch¬
liche Gestalt annahm und unter den größten Schmerzen noch Zufriedenheit im
Herzen trug, daß ihm vergönnt war, für die Sünden der Welt zu sterben.
Die Gestalt des Gottessohns am Kreuz ist in edlerer Weise aufgerichtet und
einfacher als die Giottos, aber da die Gestalt nicht so leblos erscheint und der
Schwere des eigenen Gewichts weniger nachhängt, ist sie auch weniger kraft¬
voll wie bei jenem; sie versinnbildlicht zweifellos am besten das erhabene Opfer
und bleibt das Ideal einer menschlichen Gestalt in solcher Lage. Es ist schwer
die Werke dieser beiden Künstler zu analysiren, aber der charakteristische Unter¬
schied liegt in der Kraft und Energie des Einen, und in der sanften religiösen
Resignation des Anderen. Giotto gibt natürliche, Angelico idealisirte Formen.
Die Ausdrucksweise des Ersteren entspricht der Macht seines Genies, die des
Letzteren steht im Einklang mit seinem sanften, nachgebenden und freundlichen
Wesen. Vom künstlerischen Standpunkt aus sind bei Beiden die Proportionen
gleich schön. Giotto erschuf seinen Typus im vollen Bewußtsein junger Kraft,
die in einem hohen Grade durch das Aufblühen der Kunst und Religion er¬
regt worden war. Angelico bediente sich des von Giotto erfundenen Typus
verlieh ihm aber eine intensiv religiöse Auffassung.
Giotto gab als Erster, Angelico als Letzter dem gekreuzigten Heiland die
für alle Folgezeit mustergültigen Formen, Der Mönch Angelico aber fand das
bleibende Ideal einer Gestalt, deren Bedeutung zuerst durch Giotto, den Grün¬
Es war einmal eine Frau, die hatte zwei Kinder, einen Knaben, der
hieß Asterinos (d. i. Morgenstern), und ein Mädchen, das hieß Pulja (ein
Sternbild), Eines Tages kam ihr Mann von der Jagd zurück und brachte
ihr eine Taube, die sie zum Essen kochen sollte. Die Frau nahm die Taube,
hängte sie an einen Nagel und ging vor die Thüre, um mit den Nachbarinnen
zu plaudern; da kommt die Katze, sieht die Taube am Nagel hängen, springt
darnach, erhascht sie und frißt sie. Als nun Essenszeit herankam und die
Weiber auseinandergingen, wollte die Frau die Taube holen, und da sie nichts
mehr fand, so merkt« sie, daß die Katze sie geholt habe, und hatte nun Furcht,
daß ihr Mann zanken werde. Die Frau bedachte sich also nicht lange, schnitt
sich die eine Brust ab und kochte sie. Da kam der Mann nach Hause und fragte:
„He Frau! hast Du etwas zu essen gekocht?" — „Ja. ich habe etwas für
Dich," antwortete diese, und als sie sich zu Tische setzten, sagte er zu ihr:
„Setze Dich zu mir;" sie aber erwiderte: „Ich habe schon vor einem Weilchen
gegessen, weil Du so lange ausgeblieben bist."
Nachdem der Mann gegessen hatte, sagte er: „Was das für schmackhaftes
Fleisch war! So habe ich noch niemals welches gegessen." Da sagte die Frau ihm:
so und so ist es mir ergangen; ich hatte die Taube an den Nagel gehängt
und ging hinaus, um Holz zu holen, und als ich zurückkam, fand ich sie nicht,
die .Katze hatte sie geholt; da schnitt ich mir die Brust ab und kochte sie, und
wenn Du es nicht glauben willst, so sieh her"; und dabei zeigte sie ihm die
blutende Brust.
Darauf sprach der Mann: „Wie schmackhaft ist doch das Menschenfleisch!
Weißt Du, was wir thun wollen? Wir wollen unsere Kinder schlachten und
sie essen. Wenn wir morgen in die Kirche gehen, so gehe Du früher nach
Hause, und dann schlachte und koche die Kinder, und wenn sie fertig sind, so
rufe mich."
Was sie da zusammen sprachen, das hörte aber das Hündchen, und da
die Kinder bereits schliefen, so ging es an ihr Bett und bellte ap! ap! Davon
erwachten die Kinder und hörten eine Stimme, die sagte: „Stehet auf und
fliehet, sonst kommt Eure Mutter und schlachtet Euch." Doch die Kinder rie¬
fen: „Still! still!" und schliefen wieder ein. Als aber der Hund abermals
bellte und die Stimme nochmals sprach, da standen sie auf und zogen sich an.
„Was sollen wir mitnehmen?" fragte der Knabe die Pulja. — „Was
wir mitnehmen sollen? Ich weiß es nicht, Asterinos," antwortete das Mädchen;
„doch ja! nimm ein Messer, einen Kamm und eine Hand voll Salz." Das
nahmen sie und auch den Hund, machten sich auf den Weg und liefen ein
Stück; und indem sie so liefen, sahen sie von Weitem ihre Mutter, die sie
verfolgte. Da sagte Asterinos zu seiner Schwester: „Sieh, dort läuft die
Mutter uns nach; sie wird uns einholen." — „Lauf, Herzchen, lauf!" erwiderte
das Mädchen, „sie holt uns nicht ein." — „Jetzt hat sie uns, lieb Pulja!"
— „Wirf das Messer hinter Dich!" — Das that der Knabe, und daraus
ward eine ungeheure Ebene zwischen ihnen und der Mutter; diese aber lief
schneller als die Kinder und kam ihnen wieder nahe. „Jetzt packt sie uns!"
rief der Knabe wiederum. — „Lauf. Herzchen, lauf! sie holt uns nicht ein."
— „Da ist sie!" — „Wirf den Kamm hinter Dich!" — Er that es, und daraus
ward ein dichter, dichter Wald. Die Mutter arbeitete sich aber auch durch
das Dickicht, und als sie zum dritten Male die Kinder erreichte, warfen diese
das Salz hinter sich, und das ward zum Meere; da konnte die Mutter
nicht durch. Die Kinder blieben am Rande stehen und sahen hinüber. Die
Mutter aber rief ihnen zu: „Kommt zurück, liebe Kinder! ich thue Euch
nichts." Und als diese zögerten, drohte sie ihnen und schlug sich vor Zorn
an die Brust. Da erschraken die Kinder, wandten sich um und liefen weiter.
Als sie nun ein gut Henel gelaufen waren, sagte Asterinos: „Pulja,
mich dürstet." — „Geh' zu," erwiderte diese, „da vorn ist die Quelle des
Königs, da kannst Du trinken." Sie gingen ein Stück weiter; da rief er wie¬
der: „Mich dürstet, ich verschmachte." Und indem er so klagte, erblickte der
Knabe eine Wolfsspur, die voll Wasser war, und da sagte er: „Davon will
ich trinken." — „Trinke nicht"! rief Pulja; „denn sonst wirst Du ein Wolf
und frissest mich." — „So will ich nicht trinken und leide lieber Durst."
Darauf gingen sie ein gut Stück weiter und fanden eine Schafspur, die
voll Wasser war. Da rief der Knabe: „Ich halte es nicht länger aus, davon
muß ich trinken." — „Trinke nicht!" sagte ihm das Mädchen, „sonst wirst
Du zum Lamm, und sie werden Dich schlachten." — „Ich muß trinken, wenn
ich auch geschlachtet werde." — Da dran? er und wurde in ein Lamm ver-
wandelt, lief der Schwester nach und blökte: „Bah, Pulja! das, Pulja!" —
„Komm mir nach," sagte diese und ging noch ein Stück weiter, fand die
Quelle des Königs, neben der ein hoher Cypressenbaum stand, und trank Wasser.
Darauf sagte sie zum Schäfchen: „Bleibe Du hier mit dem Hunde, mein
Herz!" und während das Lämmcken graste, betete sie zu Gott: „Lieber Gott!
gibst Du mir nicht Kraft, auf die Cypresse zu steigen?" Sowie sie ihr Gebet
vollendet hatte, hob sie die Kraft Gottes auf die Cypresse, und es ward dort
ein goldener Thron, auf den sich das Mädchen setzte; das Lamm aber blieb
mit dem Hunde unter dem Baume und weidete.
Bald darauf kamen des Königs Knechte, um die Pferde zu tränken. Wie
aber die Pferde in die Nähe der Cypresse kamen, da zerrissen sie die Halfter
und liefen davon, denn sie scheuten vor den Strahlen der Pulja, die
wunderschön war. „Komm herunter," riefen ihr die Knechte zu, „damit die
Pferde saufen können, denn sie scheuen sich vor Dir." — „Ich thu's nicht,"
erwiderte sie, „ich hindere Euch nicht, laßt die Pferde saufen, so viel sie wollen."
— „Komm herunter," riefen diese abermals. Aber sie hörte nicht auf sie und
blieb aus dem Baume sitzen.
Da gingen die Knechte zum Sohne des Königs und sagten ihm, daß
auf dem Cypressenbaume ein wunderschönes Mädchen sitze und mit ihren Strah¬
len die Pferde nicht saufen lasse und doch nicht herunterkommen wolle. Als
der Prinz das hörte, ging er selbst zur Quelle und befahl dem Mädchen, vom
Baume zu steigen; aber sie weigerte sich, und zum zweiten und dritten Male
rief er: „Steige herunter, sonst fällen wir den Baum." — „Fällt ihn immer¬
hin, ich komme nicht hinunter." Da holten sie Leute, um den Baum um¬
zuschlagen; während diese aber hieben, kam das Lamm herzu und leckte die
Cypresse, und davon ward sie noch zweimal so dick. Sie hieben und hieben,
und konnten sie nicht umhauen. Endlich wurde der Prinz ungeduldig, schickte
die Leute heim, ging zu einer alten Frau und sagte zu ihr: „Wenn Du mir
jenes Mädchen von dem Baume herunterbringst, so gebe ich Dir so viel Gold,
als in Deine Haube geht." Die Alte versprach es ihm und nahm eine Mulde,
ein Sieb und einen Sack Mehl und ging damit unter die Cypresse. AIs sie
nun vor dem Baume stand, stürzte sie die Mulde verkehrt aus die Erde,
nahm das Sieb verkehrt in die Hand und siebte. Da rief das Mädchen
vom Baume : „Herum mit der Mulde, herum mit dem Sieb!" Die Alte that,
als hörte sie nicht, und sagte: „Wer bist Du, Schätzchen? ich höre nicht."
— „Herum mit der Mulde, herum mit dem Siebe!" rief das Mädchen zum
zweiten und dritten Male. Drauf sagte die Alte: „Schätzchen, ich höre nicht;
wer bist Du? ich sehe Dich nicht; komm und zeige mir, wie man sieben muß, und
Gottes Segen sei mit Dir!" Da kam das Mädchen nach und nach herunter,
und während sie zur Alten ging, um ihr's zu zeigen, sprang der Prinz aus
einem Versteck hervor, hob sie auf seine Schulter und trug sie fort in da«
Königsschloß; das Lamm und der Hund folgten ihnen, und nach kurzer Zeit
vermählte sich der Prinz mit ihr.
Der König aber liebte seine Schwiegertochter so sehr, daß die Königin
neidisch wurde. Als daher der Prinz eines Tages ausgegangen war, und seine
Frau im Garten lustwandelte, befahl die Königin ihren Dienern, sie sollten
ihre Schwiegertochter nehmen und in einen Brunnen werfen. Die Diener
thaten, wie ihnen die Königin befohlen hatte, und warfen sie in den Brunnen.
Darauf kam der Prinz nach Hause und fragte seine Mutter: „Wo ist meine
Frau?" — „Sie ist spazieren gegangen," war die Antwort. Darauf sagte die
Königin: „Jetzt, wo diese nicht mehr da ist, wollen wir auch das Lamm schlach¬
ten." — „Das ist recht," sagten die Diener. Als das Lamm das hörte, lief
es zum Brunnen und klagte seiner Schwester: „Lieb Pulja! sie wollen mich
schlachten." — „Schweig still, mein Herzchen! sie thun Dir nichts." Das
Lamm aber rief wiederum: „Lieb Pulja! sie wollen mich schlachten." — „Sei
ruhig, sie schlachten Dich nicht." — „Sie wetzen die Messer, lieb Pulja! —
Sie lausen mir nach und wollen mich sangen, lieb Pulja! — Sie haben
mich gefangen und wollen mich schlachten, lieb Pulja!" — Da rief diese aus
dem Brunnen: „Was kann ich Dir helfen? Du siehst, wo ich bin." — Die
Diener aber brachten das Lamm zum Schlachten, und wie sie ihm das Messer
an die Kehle setzten, da betete die Pulja zu Gott und sprach: „Lieber Gott,
sie schlachten meinen Bruder, und ich sitze hier im Brunnen." Sogleich bekam
sie Kraft und sprang aus dem Brunnen, lief herzu und fand das Lamm mit
abgeschnittenem Halse. Da schrie und jammerte sie, sie sollten es loslassen,
aber es war zu spät, es war schon geschlachtet. „Mein Lamm!" rief Pulja,
„mein Lamm!" und klagte und schluchzte so sehr, daß der König selbst herbei¬
kam. Der sagte zu ihr: „Was willst Du ? Soll ich Dir ein gleiches von
Gold machen lassen? oder wie willst Du es sonst haben?" — „Nein, nein!"
rief sie, „mein Lamm! mein. Lamm!" — „Sei ruhig, Kind! was geschehen ist,
ist geschehen!"
Als die Diener es nun gebraten hatten, da sagten sie zu ihr: „Komm
her und setze Dich und iß mit." Die Pulja aber erwiderte: „Ich habe schon
gegessen; ich esse jetzt nicht noch einmal." — „Komm doch, Liebe, komm!"
— „Eßt, sage ich Euch, ich habe schon gegessen." — Als sie nun vom Tische
aufstanden, sammelte Pulja alle Knochen, legte sie in einen Krug und begrub
sie in die Mitte des Gartens. Da aber, wo sie begraben waren, wuchs ein
ungeheuer großer Apfelbaum und trug einen goldenen Apfel, und Viele ver¬
suchten, ihn zu brechen; es gelang ihnen aber nicht, denn je näher sie ihm
kamen, desto höher stieg der Apfel.
Da sagte die Pulja zum Könige: „Alle seid ihr hingegangen und habt
ihn nicht pflücken können! laß mich doch auch einmal mein Glück versuchen,
vielleicht pflücke ich ihn." „Es haben es schon so viel geschickte Leute ver¬
sucht und konnten es nicht dahin bringen, und nun willst Du es zu Stande
bringen?" — „Laß mich es doch einmal versuchen, thue mir den Gefallen!"
— „Nun so geh in Gottes Namen!" sagte der König. Sowie sie zum Baume
kam, senkte sich der Apfel mehr und mehr, bis sie ihn erreichen konnte, und
als sie ihn gefaßt hatte, sagte er ihr leise- „Ziehe, bis Du mich gepflückt
hast." So pflückte sie ihn und steckte ihn in die Tasche und rief! „Lebe wohl,
mein süßer Schwiegervater! aber über die Hündin von Schwiegermutter möge
alles Unglück kommen!" Darauf ging sie fort und kam nicht wieder.
Es war einmal ein König, der hatte drei Töchter und wurde eines Tages
aufgeboten, um in den Krieg zu ziehen. Da er aber schon alt und schwächlich
war, so betrübte ihn das sehr, und er saß Tage lang, um darüber nachzusinnen,
was er thun solle.
Da kam seine älteste Tochter zu ihm und fragte: „Was hast Du, Herr,
daß Du so traurig bist?"
„Das gebt Dich nichts an, packe Dich Deiner Wege!"
„Nein, Herr, ich muß es wissen, und gehe nicht eher von der Stelle!"
„Was soll ich Dir sagen, mein armes Mädchen? Man hat mich zum Kriege
aufgeboten, und ich bin zu alt, um anzuziehen."
„O weh! Ich glaubte, Du zerbrächst Dir den Kopf, wie Du mich endlich
unter die Haube bringen könntest," rief das Mädchen drollig und verließ den
Pater.
Drauf kam die zweite und sprach: „Was ist Dir, Väterchen, daß Du so
traurig bist?"
„Das geht Dich nichts an, packe Dich Deiner Wege!"
„Nein, nein! Du mußt es mir sagen, ich will es wissen!"
„Ich sage Dir's nicht, denn sonst antwortest Du mir wie die andere."
„Nein, das thue ich gewiß nicht!"
„Nun so höre, mein Kind! Man bietet mich auf zum Kriege, und ich bin
zu alt dazu und kann nicht mitgehen."
„O Unheil! ich glaubte. Du zerbrächst Dir den Kopf, wie Du mich unter
die Haube bringen könntest." rief das Mädchen und ging seiner Wege.
Drauf kam die jüngste und fragte: „Was ist Dir, Vater, daß Du so
traurig bist?"
„Das geht Dich nichts an, packe Dich Deiner Wege! Denn sonst ant¬
wortest Du mir wie die beiden andern."
„Nein, nein! das thue ich gewiß nicht; sage es mir, ich beschwöre
Dich!"
„Also, mein Töchterchen! Du willst wissen, warum ich so traurig bin?
Man hat mich zum Kriege aufgeboten, und ich bin alt geworden und kann
nicht mitziehen."
„Und das kümmert Dich so sehr? Weißt Du was! Laß mir schöne Manns-
Neider machen und gib mir ein gutes Pferd, und ich will statt Deiner in den
Krieg ziehen."
„Ach, geh' doch! Du bist ein Mädchen und willst in den Krieg ziehen?"
„Das laß Dich nicht kümmern! Ich will nicht blos hingehn, sondern
auch siegen."
„Nun denn, in Gottes Namen!" sagte der König, ließ ihr Mannskleider
machen und gab ihr ein gutes Pferd. Das Mädchen zog in den Krieg und
überwand die Feinde.
Bei diesem Feldzuge war auch ein Prinz aus einem andern Königreiche;
und als sie zusammen nach Hause zogen, kehrten sie in dem Schlosse dieses
Prinzen ein, und da kam es ihm vor, als ob sein Gast kein Mann wäre.
Er ging also zu seiner Mutter und sprach: „Ich glaube, das ist ein Mädchen,
Mutter!" Die wunderte sich sehr über diese Rede und sagte: „Wie kann das
sein, mein Sohn? Wie kann ein Mädchen in den Krieg ziehn?" Er aber
blieb bei seiner Meinung, und um ins Klare zu kommen, rieth ihm die Mutter:
„Führe sie in den Wald und schlafe mit ihr zusammen auf dem Grase, und
wenn Du beim Aufstehn siehst, daß der Platz, wo Du gelegen, frischer ist,
dann ist es ein Mädchen."
Da gingen sie zusammen in den Wald und schliefen auf dem Grase. Als
aber der Prinz eingeschlafen war, da schlich sich das Mädchen weg und schlief
an einer andern Stelle und kehrte erst kurz vor Tagesanbruch an seinen ersten
Platz zurück. Als sie aufgestanden waren, untersuchte der Prinz die Plätze und
sah, daß der, wo die Prinzessin gelegen, grüner war als der seinige; und bei
der Rückkehr gestand er seiner Mutter, daß sein Platz am dürrsten gewesen sei.
Da erwiderte diese: Hab' ich Dir's nicht gesagt, daß es ein Mann sei?" Er
aber blieb bei seiner Meinung.
Als nun das Mädchen Abschied nahm, um in sein Reich zurückzukehren
und aus der Stadt hinausgeritten war, da rief es: „Ein Mädchen im Kriege!
Als Mädchen bin ich in den Krieg gezogen zur Schande des Esels von König!"
Als das der Prinz hörte, sagte er zu seiner Mutter: „Siehst Du, Mutter,
daß ich Recht hatte, und daß es ein Mädchen war! Aber ich will hinziehen
in ihr Reich und sie zur Frau nehmen."
Der Prinz zog also alte Kleider an. kaufte sich eine Anzahl Spindeln,
Kunkeln und Halsbänder, ging nach der Stadt der Prinzessin und bot seine
.....''''^"'
Waaren dort feil, indem er schrie: „Spindeln, Kunkeln, Halsbänder für den
goldnen Zahn!" Denn er wußte, daß die Prinzessin einen Zahn verloren und
dafür einen goldnen eingesetzt hatte.
Als das die Mägde der Prinzessin hörten, sprachen sie zu ihr: „Hörst Du
nicht, Herrin, was dieser Lump ruft?"
„Laßt ihn schreien!" antwortete diese.
„Wollen wir denn nichts von ihm kaufen?"
„Kauft was ihr wollt!"
Als sie nun den Kaufmann herausgerufen, fragte ihn die Prinzessin: Wie
viel Thaler er für ein Halsband verlange? Der aber antwortete: „Ich verlange
kein Geld, sondern ein Maaß voll Erbsen." Als das die Mägde hörten,
lachten sie laut. Die Prinzessin aber befahl, dem Kaufmann die Erbsen zu
geben. Und wie er sie nun in seinen Sack schütten wollte, ließ er sie auf die
Erde fallen und setzte sich dann hin, um sie Stück für Stück aufzulesen, bis
es Nacht wurde. Da sprachen die Mägde: „Warum hast Du uns nicht um
ein anderes Maaß Erbsen gebeten, statt hier zu sitzen und die aufzulesen?"
„Nein, das geht nicht," sagte dieser, „denn das ist mein erster Handel.
Statt dessen aber bitte ich Euch, mir ein Kämmerchen zu zeigen, wo ich die
Nacht schlafen kann." Die Mägde gingen zur Prinzessin und erhielten von
ihr die Erlaubniß dazu. Da legte sich der Prinz auf die Lauer und entdeckte
so den Ort, wo die Schlüssel lagen, mit denen die Prinzessin eingesperrt wurde.
Und in der Nacht nahm er die Schlüssel, öffnete das Schlafgemach, warf ein
Schlaskraut auf die Prinzessin, das er deshalb bei sich führte, nahm sie auf
die Schultern und trug sie in seine Heimath.
Als die Prinzessin aufwachte, fand sie sich an einem fremden Orte und sprach
drei Jahre lang gar nicht. Da verlor die Mutter des Prinzen endlich die Ge¬
duld und sagte zu ihm: „Du bist wirklich ein Narr, daß Du einen so weiten
Weg gemacht und so viel ausgestanden hast, um Dir eine stumme Frau zu
holen! Werde doch endlich klug und laß sie sitzen und nimm eine andere/'
Sie stellten also eine große Hochzeit an, und als es zur Trauung des neuen
Brautpaares ging und alle Gäste Kerzen erhielten, gaben sie der Stummen
auch eine, und wie die Feier zu Ende war, da warf sie die Kerze nicht weg
gleich den Andern, sondern behielt sie in der Hand, und alle Welt sagte zu
ihr: „Du verbrennst Deine Hand, Stumme!" Sie aber that, als hörte sie es
nicht. Da kam der Bräutigam selbst und sagte zu ihr: „Stumme, Du ver¬
brennst Dir die Hand!" Sie aber that, als hörte sie's nicht. Drauf sprach
der Bräutigam: „Laßt auch die Braut ihr zureden!" Und die Braut sprach:
„Stumme, Du verbrennst Dir die Hand!" Da rief diese plötzlich: „Stumm
sollst Du selbst werden und dahin gehen, wo Du hergekommen bist! Ich habe
zum Prinzen ein Wort gesprochen und bin deswegen drei Jahre stumm ge-
Wesen, und Du, Braut, hast noch die Krone auf und schiltst mich eine
Stumme?" Als der Prinz hörte, daß die Stumme wieder sprach, da verstieß
er die neue Braut und nahm die alte und lebte mit ihr glücklich und in
Freuden.
Es war einmal ein junger Mann, der hieß Penteklimas, und der ging
in die Welt, um sein Glück zu suchen. Als er eine Weile gegangen war, fand
er aus dem Wege eine Erbse liegen und hob sie auf. Indem er sie aufhob,
fiel ihm ein, daß er ausgezogen sei, um sein Glück zu suchen, und da er nun
die Erbse gefunden, so müsse diese sein Glück sein. Als er darüber nachdachte,
wie das sein könnte, sagte er bei sich: „Wenn ich die Erbse stecke, werde ich
über's Jahr hundert Erbsen haben, und wenn ich diese das andere Jahr säe, werde
ich das Zehnfache ernten, und im vierten Jahre werde ich viele tausend Erbsen
haben; ich bin also gut daran und will die Erbse wohl aufheben." Er band
sie in sein Taschentuch, hatte aber seine Gedanken immer nur auf die Erbse ge¬
richtet, und so oft er irgend ein Geschäft vornahm, ließ er es in der Hälfte, holte
sein Taschentuch hervor und sah nach, ob er seine Erbse noch habe. Darauf
nahm er eine Feder und rechnete aus, wie viel Erbsen er in dem einen und
wie viel er in dem andern Jahre ernten werde, und so fort, und wenn er mi
der Rechnung fertig war, sprach er: „Ich bin gut daran."
Nachdem er es so eine Weile getrieben hatte, machte er sich auf und ging
an die Küste und verlangte zweihundert Schiffe zu miethen, und als ihn die
Leute fragten, was er denn mit so viel Schiffen vorhabe, sagte er, daß er
daraus seine Habe verschiffen wolle. Da staunten die Leute und glaubten an¬
fangs, er wolle sie zum Besten haben. Als er aber fort und fort nach Schiffen
fragte, verlangten sie von ihm genau zu wissen, wie viel Schiffe er nöthigt
habe. Da holte der Mann seine Erbse hervor, machte nochmals seine Rechnung
und schloß danach seine Verträge mit den Schiffern.
Drauf liefen die Schiffer zum Könige und erzählten ihm, daß ein Mann
in den Hafen gekommen wäre, der so reich sei, daß er 200 Schiffe verlange,
um darauf seine Habe zu verschiffen. Als das der König hörte, wunderte er sich
sehr und ließ den Menschen zu sich kommen, um selbst mit ihm zu sprechen.
Der Penteklimas war aber von Gestalt recht ansehnlich und hatte sich so schöne
Kleider machen lassen, daß ihm von seinem Gelde nur 200 Piaster übrig blieben;
aber er machte sich keine Sorgen, denn er hatte ja seine Erbse, mit der er
sein Glück machen wollte. Er erschien also gutes Muthes vor dem Könige,
und der fragte ihn, wo er sein Vermögen habe. Der Penteklimas aber
antwortete: „Ich habe es an einem sichern Orte und brauche 200 Schiffe, um
es hierher zu schaffen." Da dachte der König: das wäre ein Mann für meine
Tochter, und fragte ihn also, ob er acht seine Tochter heirathen wollte. Als
der Penteklimas das hörte, wurde er ganz nachdenklich und sagte bei sich: ich
bin meiner Sache freilich noch nicht sicher, doch wenn ich nein sage, so gibt mir
der König die Schiffe nicht. Als ihn aber der König um eine Antwort drängte,
sprach er endlich: „Ich will erst hingehen und mein Vermögen holen, und
dann soll die Hochzeit sein." Daß nun der Penteklimas bei einem solchen Vor¬
schlag so bedenklich that, das machte den König nur noch hitziger, und er sprach
also: „Wenn Du erst die Reise machen willst, so periode Dich wenigstens mit
ihr und nimm sie, wenn Du zurückkommst." Das war der Penteklimas zufrieden.
Ueber dem Reden war es Abend geworden, und der König wollte ihn nicht
von sich lassen, sondern befahl, daß er in seinem Schlosse schlafen solle. Um
nun zusehen, ob er's auch wirtlich gut gewohnt sei, befahl der König heimlich,
daß man ihm zerrissene Betttücher und eine zerlumpte Decke ausbreiten, und
daß ein Diener ihn die Nacht über beobachten solle, ob er schlafe oder nicht,
denn wenn er schläft, dachte der König, so ist er ein armer Schlucker, wenn er
aber nicht schläft, so ist er gut erzogen und in neuem Bettzeug zu schlafen ge¬
wohnt, und kann also in den Lumpen nicht schlafen.
Am andern Morgen erzählte der Diener dem Könige, daß der Penteklimas
die ganze Nacht über sehr unruhig gewesen sei und kein Auge zugethan habe.
Das kam aber daher: weil der Penteklimas fürchtete, in diesen Lumpen seine
Erbse zu verlieren und sie nicht mehr zu finden, so konnte er «nicht schlafen
und griff immer wieder dahin, wo er sie verborgen hatte, um sich zu über¬
zeugen, daß sie noch da sei. Darauf befahl der König, ihm in der nächsten
Nacht ein so weiches und schönes Lager M möglich zu bereiten. In diesem
aber schlief der Penteklimas ganz vortrefflich, weil er da keine Furcht hatte,
daß er seine Erbse darin verlieren könne. Als das der König hörte, war er
überzeugt, daß dies der rechte Mann für seine Tochter sei, und drang nun
darauf, daß die Verlobung gehalten werden solle. Am Verlobungsabend legte
man die Prinzessin zu ihm; er hatte jedoch wenig Aufmerksamkeit für sie; denn
sein Sinn war auf die Erbse gerichtet und auf die Ernten, die er von ihr
erwartete, und kaum war er eingeschlafen, so träumte ihm, daß er sie verloren
habe; da wachte er im Sprunge auf und griff so hastig nach seiner Erbse, daß
diese zu Boden siel. Nun fing er an zu schreien und zu schluchzen: „O Unheil'
v'Unheil! wo ist mein Glück! wo ist mein Glück!" bis er sie wiedergefunden
halte, und die Prinzessin wunderte sich nicht wenig über das sonderbare Treiben
ihres Verlobten.
So trieb er es eine Weile und vertiefte sich mehr und mehr in seine
Rechnungen, bis er endlich auf das Drängen des Königs zur See zu gehen
beschloß und sich mit zweihundert Schiffen auf den Weg machte. Als er aber
während der Fahrt wieder einmal über seinen Rechnungen saß, da fiel es ihm
plötzlich wie Schuppen von den Augen, wie unsinnig sein Treiben sei; denn
noch habe er ja nicht einmal für ein Feld gesorgt, um die eine Erbse zu säen,
und nun a,ehe er mit 200 Schiffen, um die Ernte zu holen, die sie erst nach
vielen Jahren liefern könne. Ich bin ein Wahnsinniger, sagte er bei sich,
aber was soll ich nun anfangen, wo ich den König und so viele Leute be¬
trogen habe? Es bleibt mir nichts Anderes übrig, als mich in das Meer zu
stürzen. Er sann nun auf einen Vorwand, wie er von den Schiffen loskommen
könne, und sprach zu den Schiffern, als sie der nächsten besten Küste nahe
kamen: „Hier sollt Ihr mich an das Land setzen und so lange warten, bis ich
Euch rufe, denn um meine Schätze aufzusuchen, muß ich allein sein. Als er
aber auf das Land kam, da ging er in einen Wald und versteckte sich darin,
und wollte nicht eher wieder hervorkommen, als bis die Schiffer des Wartens
müde abgefahren wären. Die Schiffer warteten lange Zeit auf ihn vergeblich,
und als er gar nicht kommen wollte, beschlossen sie ihn aufzusuchen. Sie durch¬
suchten also den ganzen Wald und entdeckten darin eine ganz mit Goldstücken
angefüllte Höhle, welche ein Mohr mit dem Schwerte in der Hand bewachte.
Nicht weit davon aber entdeckten sie den Penteklimas in einem Dickicht ver¬
steckt. Sie riefen ihm also zu: „Komm her! komm her! wir haben Deinen
Schatz gefunden." Als das der Penteklimas hörte, wollte er anfangs seinen
Ohren nicht trauen, doch faßte er sich ein Herz und kam hervor und befahl
den Schiffern, den Mohren todtzuschlagen, und als sie das gethan hatten,
füllten sie die 200 Schiffe mit den Schätzen, die sie in der Höhle fanden und
kehrten damit nach Hause zurück. Der König aber empfing den Penteklimas
in größter Pracht mit Fackeln und Laternen, und dieser hielt darauf seine
Hochzeit mit der Königstochter und ward ein großer Mann. Wie dem unser
Herrgott beigestanden hat! Denn wenn der Schatz nicht gefunden worden wäre,
so hätten ihn die Schiffer unfehlbar todtgeschlagen. Siehst Du, wie ihn trotz
seiner Narrheit mit der Erbse der liebe Gott nicht zu Grunde gehen ließ?
Es war einmal eine Füchsin, die hatte nichts zu essen und stellte sich
daher, als ob sie auf die Pilgerschaft gehen wollte. Auf dem Wege begegnete
sie einem Hahn, der fragte sie: „Wo gehst Du bin. Frau Marja?" — „Auf
die Pilgerschaft und wieder zurück," erwiderte diese. „Da will ich mit Dir
gehen." „So komm und setz Dich auf meinen Rücken," und so ging's weiter.
Ueber eine Weile traf sie auf ein Paar Tauben und als diese die Füchsin
ansichtig wurden, flatterten sie auf; diese aber lief: „Bleibt ruhig, bleibt
ruhig, Kinder! ich habe das aufgegeben und gehe jetzt auf die Pilgerschaft."
„Da will ich mit Dir gehen," sagte der Tauber. „So komm, da wo der Hahn
ist, Kast auch Du Platz."
Darauf ging es wieder ein Stück weiter, da traf sie auf ein Paar Enten.
Als diese die Füchsin sahen, flatterten sie auf; sie aber rief: „Bleibt ruhig,
Kinder, die alten Streiche hab' ich gelassen und bin jetzt auf der Pilgerfahrt."
„Da will ich auch mitgehen," sagte der Enterich. „So komm und steig auf
meinen Rücken, da wo die Andern sind, kannst auch Du sitzen!"
Nachdem sie so ein gut Stück Weg gemacht hatten, kamen sie zu einer
Höhle. Da sprach die Füchsin! „Da drin wollen wir uns einander Beichte
hören, denn wir müssen über Flüsse und Meere hinüber, und Gott weiß, ob
wir so glücklich sind, bei der Gräberstätte anzukommen. Also komm' Du her.
Meister Hahn, damit ich Dich zuerst verhöre." — „Was hab' ich gethan, Frau
Marja?" — „Was Du gethan hast?" fragte die Füchsin, „weißt Du nicht,
daß Du schon um Mitternacht zu krähen anfängst und die Leute aus dem besten
Schlaf aufweckst, daß Du dann rasch nachher noch einmal kräh'se und die Kara-
vanen irre in der Zeit machst, so daß sie zu früh aufbrechen und den Räu¬
bern in die Hände fallen; das sind schwere Sünden, die verlangen schwere
Bußen." Da packte sie den Hahn bei dem Kragen und fraß ihn auf. Nach¬
dem sie fertig war, trat sie vor die Höhle und rief: „Jetzt komm Du, kleiner
Täuber, damit ich Dich beichte." „Was hab' ich denn Böses gethan, Frau
Marja?" „Was Du Böses gethan hast?" erwiderte die Füchsin; „wenn die
Leute ihre Saaten aussähen, um Frucht davon zu ernten, gehst Du da nicht
hin und scharrst sie aus und frißt sie? Das ist eine schwere Sünde, die for¬
dert schwere Buße!" — Drauf fraß sie auch den Tauber. Und als sie damit
fertig war, trat sie vor die Höhle und rief: „Nun komm Du herein, Herr
Enterich, damit ich Dich beichte." „Was hab ich denn Böses gethan. Frau
Marja?" „Was Du Böses gethan? Hast Du nicht dem König die Krone ge-
stohlen und trägst sie auf Deinem Kopfe?" — „Nein. Frau Marja. das ist
nicht wahr, wart' ein Bischen, ich will Zeugen holen." — „Gut. so geh!"
Da ging der Enterich und setzte sich auf einen Holzbirnbaum. Unter dem
kam ein Jäger vorbei und zielte nach tem Enterich mit der Flinte, um ihn zu
schießen. „schieße mich nicht." rief dieser, „was hast Du an mir? Komm lie-
ber mit, ich will Dir einen Ort zeigen, wo ein Füchslein versteckt ist." Der
Jäger war es zufrieden, und sie gingen zusammen hin. Als sie nun zu der
Thür der Höhle gekommen waren, da rief der Enterich: „Komm heraus, Frau
Marja, ich hab' die Zeugen gebracht;" „sind es denn so viele? und wollen
sie nicht hereinkommen?" „Das geht nicht, also komm Du nur heraus!"
Der Jäger aber zielte nach der Thür der Höhle, und wie nun die Füch¬
sin heraussah, drückte er ab und schoß sie todt, aber bevor sie verendete, rief
sie zum Entrich: „Schwarze Unglückstage über Dich und die Zeugen, die Du
mir gebracht hast!"
Tirol nahm an der Literatur des Mittelalters — sowohl der höfischen als der
bürgerlichen — einen hervorragenden Antheil. Was jene betrifft, verweisen wir
auf die große Anzahl Minnesänger, die in dein Werke Hagens erwähnt sind,
und auf den letzten derselben Oswald von Wollenstein, dessen bunte Lieder
Beda Weber dem Druck übergab. Insbesondere war es der Adel, welcher der
Poesie und Kunst mit warmer Liebe zugethan war, während er jetzt meistens
vorzieht Variationen zu BcrangerS Marquis Carabas oder dem Donquixote des
Cervantes zu liefern. Die Zahl der Handschriften, darunter die einzige der
Gudrun, war auf den Burgen sehr groß, viele derselben hat spätere Unwissen¬
heit vertrödelt oder als Makulatur verworfen. Den größten Schaden stiftete in
dieser Beziehung die Rococozeit, wie etwa von einem Adeligen zu erzählen, der
den Bauernjungen die wichtigsten Pcrgamenturtunden schenkte, um sie als Taschen
zum Aufbewahren der Leiünuthen "beim Vogelfang zu benutzen. Was die
bürgerliche Dichtung betrifft, so erinnern wir an Vintlers Blume der Tugend,
welche, um 1411 verfaßt, deutsche und italienische Literatur verknüpft und dem¬
nächst einen neuen Abdruck erlebt. Das Werk ist didaktisch. Kein Zweig der
Poesie wurde aber vielleicht so gepflegt als das Drama. Wir meinen hier nicht
die Bauernkomödien, welche aus der Nachahmung der Jcsuitenspiele entstanden
und auch jetzt noch an manchen Orten Legenden, Mordthaten und Ritterspektakel
darstellen, sondern jene Stücke, die Ereignisse aus dem Leben Jesu, insbesondere
sein Leiden und Sterben enthalten. Nördlich des Brenners war Hall eine der
wichtigsten Stätten für die Geschichte des deutschen Dramas; — das lustige
Hall, welches Sigmund der Münzreiche so gern besuchte, um dort mit den Frauen
zu tanzen und zu scherzen, wenn ihm die Burg zu Insbruck mit ihren Hof¬
schranzen verleidet war. Hier blühte das Passionsspiel, hier wurden auch schon
frühzeitig Faschingsschwänke gegeben, davon jedoch wollen wir dann erzählen,
wenn wir das massenhafte culturhistorische Material, welches in den Reitbüchern
der guten, jetzt allmälig heruntergekommenen Stadt aufgehäuft ist, vollständig
bewältigt haben. Ueberschreiten wir den Brenner, dort an der Etsch war in
den Burgen, deren zertrümmerte Wände noch Bilder aus den Nibelungen, der
Tafelrunde und Tristansage schmücken, das Minnelicd erwacht; in den Städten
führten die Bürger die Eharwvche hindurch ihre Passionsspiele auf. Zu Botzen
liegt der „beruembt nvtist und bassist, auch Schulmeister Benedikt Debs, welcher
eine alte Scardegge von Ingolstadt gebracht." Diese alte „Scardegge", enthielt
Passionsspiele, welche zu Botzen, Fleims und Trient, wo damals das Deutsche
einen bessern Curs gehabt haben muß als jetzt, aufgeführt wurden. Debs
starb 1515 und hinterließ die alte „Scardegge". dem Vigil Raben zu Sterzingen,
einem Maler, welcher dann den Passion umarbeitete und in seiner Heimath
zur Darstellung brachte, wobei auch die Rollen der Frauen von Männern gespielt
wurden, deren Namen uns alle erhalten sind, lauter wackere Bürger. Ihre
Söhne und Nachkommen sitzen noch zu Sterlingen, die Lust zum Passion ist
ihnen aber längst vergangen, es sei denn, sie blättern in ihren «schuld- und
Steuerbüchlei». Wer sich über diese Dinge näher unterrichten will, den ver¬
weisen wir auf das Buch: Ueber das Drama des Mittelalters in Tirol von
Adolf Pichler, welches vor einigen Jahren zu Insbruck erschien. Er kann
sich daraus überzeugen, daß Debs und Raben kein deutscher Lope und
Calderon gewesen, welche die Geheimnisse des Katholizismus mit der feurigen
Pracht ihrer mystischen Poesie geschmückt, sondern ehrsame Bürger, welche die
Poesie fast in der Weise des Handwerkes betrieben. Dem Sterzinger Passton,
so wie dem von Hofmann mitgetheilten und anderen Dramen dieser Art lag
höchst wahrscheinlich ein älteres Stück zu Grunde; denn sonst könnten nicht allen
ganze Rechen von Versen, sei nun die Stellung der Scenen so oder so, ge-
meinsam sein. Dieses ältere Stück mag vielleicht dem andächtigen Geiste eines
ächten Dichters entsprungen sein, das schimmert sogar aus mancher Stelle durch,
die späteren Ueberarbeitungen sind durchschnittlich' herzlich mittelmäßig und er¬
hielten ihr Gepräge zum'Theil wahrscheinlich dadurch, daß sie sich nach den
Bedürfnissen der Personen, der Zeit und des Ortes richten mußten. Sei dem
aber, wie ihm wolle, das Drama des Mittelalters hatte zweifellos auf das Volk
einen größeren Einfluß als der Minnegesang, der zunächst auf einen Stand
beschränkt blieb, und behauptet demgemäß neben dem Volksliede und den Volks¬
büchern seinen Rang. Die Forschung brachte Manches von diesen alten Resten
zu Tage, dock sind wir noch ziemlich weit davon, eine vollständige Geschichte des
älteren Dramas in nächster Zeit erwarten zu dürfen. Einen Beitrag zu der¬
selben mag der Bericht über ein Manuscript des Passion, welches 'jüngst zu
Brixen aufgefunden wurde, liefern. Es trägt zwar die Jahreszahl 1SK1 und
auch die Schrift verweist es Hieher; daher ist der Schluß erlaubt, daß es damals,
vielleicht von den Schülern des bischöflichen Seminars, aufgeführt worden, die
Sprache jedoch, wenn auch mit Tirolismen gemischt, deutet auf einen viel älteren
Ursprung. Auch hier liegt jenes Stück zu Grunde, welches wir als Grundlage
der Passionsspiele des späteren Mittelalters vermuthen dürfen. Das Brirn'er
Manuscript wird schwerlich jemals abgedruckt werden, dadurch mag es gerecht¬
fertigt sein, wenn wir hier eine kurze Jnhaltsanzeige und eine Probe geben.
Zuerst kündigt der Präcursor den Inhalt an:
Hort zu alle frommen Christenleut
Was euch hie wird vorbedeut,
Wir wollen euch zu dieser Stund
Durch ein Figur machen kund
Das Abendmal unseres Herrn Jesu Christ,
Auch wie er in sein Leiden gangen ist.
Christus tritt mit seiner Mutter und den zwölf Jüngern aus und kehrt
bei Simon dem Aussätzigen ein, wo ihm Magdalena die Salbe auf die Füße
gießt und deswegen von Judas gescholten wird. Dann sagt jener sein Leben
und Sterben voraus; Maria erhebt sich und macht dem Engel Gabriel Bor¬
würfe, warum ihr Sohn, nachdem er ihr einst in fröhlicher Botschaft angekündet
worden, sie jetzt mit solchem Schmerz erfüllen müsse. Darauf wendet sie sich
sehr naiv an diesen und spricht:
Gedenk Herr und Sun an das,
Was du dargeboten hast:
Vater und Mutter zu ehren
Und ihr Lob stets zu mehren.
Ich crmahn' dich an dein Gebot,
So du leiden willt den Tod,
So lehr dein Sterben in ein andre Weis',
Denn an dem hohen Galgen das Kreuz.
Der Erlöser antwortet, daß er von ihr nur die Menschheit habe, aber von
ewig die Gottheit, darum sei er dem himmlischen Vater verpflichtet, sein Gebot
auszurichten und die Menschheit mit ihm zu versöhnen. Das kann und maa
nicht anders sein! Nun werden wir in das Syncdrium versetzt, Judas erbietet
sich seinen Meister zu verrathen und erhält dafür die bedungene Summe. Auf dem
Rückweg begegnet ihm Maria und frägt ihn. ob es recht sei, daß man beschlossen
habe, ihren Sohn in den Tod zu bringen. Jener läugnet es, nun empfiehlt sie
ihm in rührender Weise den Sohn, er gelobt ihn treulich zu bewahren. Solche
feine Züge begegnen uns öfter unter aller Rohheit. Christus verfügt sich zum
letzten Abendmahle, auf dem Wege tritt ihn, Maria noch einmal entgegen, voll
Traurigkeit fleht sie ihn an:
O Sun mag ich's um dich erwerben,
So laß mich erstliche» vor dir sterben!
Salvator zu Maria:
O liebste und traurige Mutter mein,
Wann ich gewährt das Bitten dein,
So wird dein liebe Seel' fahren
Zu den Altmüttcrn, die vor Jahren
sindt tummelt in die Finsterniß,
Da sie denn noch sind in Betrübniß,
Niemand mag in das Himmelreich tummelt,
Mir sei tera vor mein Leben genummen
Durch große Schmerzen, Angst und Pein ;
Alsdann wird der Himmel offen sein
Ich hab' gebeten meinen himmlischen Vater
Daß er dich tröst in meiner Marter.
Maria geht betend ab. Darauf das letzte Abendmahl im treuen Anschluß an
die Bibel. Judas forscht, ob er der Verräther sei, Christus antwortet bündig:
'
Du Hasts von dir selbs gesagt,
Niemand hat dich darumb gefragt.
Folgt dann die Scene auf dem Oelberg, die Gefangennehmung Christi,
sein Verhör bei Annas, woher ihn Petrus verläugnet, dann stürzt Judas, als
er siebt, welchen unglücklichen Ausgang die Sache nehmen wird, verzweifelnd
ab. Den Schluß macht der Präcursvr, der die Versammelten zur Fortsetzung des
Spieles am Charfreitag einladet.
Am Charfreitag begann der eigentliche Passion, den wieder der Präcursor
mit einer Anrede einleitet, welche den Inhalt desselben kurz angibt, Nun tritt
der Prophet David auf und weist darauf hin, daß jetzt seine Prophezeihungen
erfüllt werden. Christus wird zu Kaiphas geschleppt, welcher die Zeugen wider
ihn vernimmt und dann vor Pilatus, um hier das letzte Urtheil zu empfangen.
Dieser schickt ihn zu Herodes, wo er im Königsmantel verhöhnt wird. Von da
kehrt der Zug zu Pilatus zurück, wir sehen die Geißelung und Krönung, wobei die
Propheten David und Jerenüas als Zeugen des alten Bundes auftrete». Mitt¬
lerweile naht Judas wieder, wirft den Priestern das Geld für das unschuldige
Blut hin, wird aber von ihnen verspottet. Der Satan flüstert ihm in das Ohr:
Judas willt du dich erhenken,
Nimm hin, den Strick will ich dir schenken,
Den knüpf an den Hals gar vest
Und häng' dich bald, das ist das best.
Du hast so schwerlich gesunde wider Gott,
Dir ist nu nicht besser, denn der Tod.
Du wirst auch in der Hell' ein werther Gast,
Da ist dir schon bereit ein Palast.
Jesus wird von Pilatus den Juden übergeben; er nimmt das Kreuz auf die
Schulter und trägt es, beweint von den „heidnischen Frawen" zur Schädel¬
stätte. Dort angelangt setzt er sich neben das Kreuz, während Jesaias zu dem
Volke spricht und auf das 53. Capitel seiner Prophezeihungen hindeutet, wo
von dem Lamme die Rede ist, welches stumm zur Schlachtbank geführt wird.
Nun folgen die verschiedenen Scenen der Kreuzigung nach dem Texte der Bibel;
wenn den rechten Schächer ein Engel tröstet, den linken ein Teufel ins Ohr
flüstert, daß er seinem bußfertigen Gesellen nicht glauben solle, dieser wolle ihm
nur die Vernunft rauben, so fühlt man sich unmittelbar an manche altdeutsche
Gemälde erinnert, wo der gute und der böse Geist leibhaftig dargestellt sind.
Die Krieger des Pilatus gemahnen vollständig an die Lanzknechte, so ist auch
hier die Vergangenheit in die unmittelbare Gegenwart übersetzt, was wohl
jedes Volk thut, dessen gesunde Kraft noch nicht von dein Alexcmdrinismus ge¬
lehrter Reflexion überwuchert ist. Die Klage des Johannes und der Maria
unter dem Kreuze schließt sich vollständig 'an die bereits veröffentlichten be¬
rühmten „Marienklagen" an und ist nur eine Variante derselben. Vielleicht
ist die alte „Marientlage" der Kern, um welchen nach und nach die andern
Theile des Passion anschössen, sie weist in den verschiedenen bis jetzt veröffent¬
lichten Stücken mit der größten Uebereinstimmung auf einen Urtext zurück. Die
„sieben Worte" singt Christus am Kreuze in lateinischer Sprache, dann wieder¬
holt er sie in gewöhnlicher Rede auf deutsch. Nachdem er verschieden, erbittet
Joseph Arimathias von Pilatus den Leichnam, nimmt ihn vom Kreuze ab und
legt ihn unter Beihilfe des Nicodemus in das Felsengrab. Dann kommt ein
Bote des Synedrium von Damaskus und macht die Juden aufmerksam, daß
Christus sich vermessen habe, nach drei Tagen mit eigener Kraft aus dem Grabe
zu erstehen. Sie sollten daher zu Pilatus gehen und von diesem eine Wache
erbitten. Nun tritt wieder der Präcursvr auf und erinnert in einem kurzen
Rückblicke an das Gcschehne:
Ein jeder Mensch das in sein Herz faß,
Billig sollen ihm die Augen werden naß.
Am heiligen Ostertage wurde zum Schluß die dritte Abtheilung des Dramas
aufgeführt, welche der Präcursor in ganz ähnlicher Weise wie die erste und zweite
mit einer Rede einleitete. Die Juden, beunruhigt durch die Nachricht aus
Damaskus, halten Rath und fordern schließlich von Pilatus eine Wache- dieser
läßt ihnen die Auswahl unter seinen Rittern und Soldaten. Kaiphas gibt
ihnen Geld, doch ist viel schlechte und falsche Münze darunter, worüber dann
Streit entsteht; eine Scene, die im Sterzinger Passion fast mit den gleichen Worten
bei dem Verrathe des Judas verwendet wurde. Schließlich gehen die Soldaten
singend an das Grab, und renommiren hier noch mit plumpen Reden, bis jeder
seinen Platz eingenommen. Dann erscheint der „^ngslus pereutisriL" und singt:
liöLecütö, reosäits inüäeles!
Schweigt ihr Ritter und laßt cur Schallen sein,
Süß schlaft Jesus der Herrn mein,
Der von dem Tod aufsteh'n solt,
Laßt ihn schlafen, bis er gerastet wol.
Die Ritter springen erschrocken auf, wenden sich aber dann zur Weinflasche
und schlafen endlich ein. Das Stück hat von jetzt ab einen fast opernhaftcn
Charakter, der lateinische .Nirchengesang beherrscht das Gespräch und verleiht
dem Ganzen Schwung und Feierlichkeit. Die Wirkung muß jedenfalls groß
gewesen sein. Wir geben ein längeres Bruchstück.
'
Oeincle iterum vorn imßvlu» perentionlz e-uMus se inksr <zg.ntMäc) per-
eutit milites Meentes ar>u<1 ^ruten'um. ^ngelus varie:
'
loi-i-g. trvmuit et quievit,, 6um resurgerot in Mlieio aeus. ^Ilclujg.!
vöinäe cluo lmgeli vvnümt «tAntes nun8 na pczclöL se -Alfr a,et <:s.put ciruöntcz»:
l^xsurgs, sjuu,rs obctoi'mis, clomino exsurgs.
^.nZelus sseuncluL allen:
Warum schläfst du Kaiser des Firmament,
Steh auf, alles Leiden hat ein End,
Das ist der Will des Vaters dein.
Du sollst hinfür unleidlich sein.
Es ist vollbracht die heilige Schrift,
Du hast vertrieben der Sünde Gift
Und hast aus deiner Barmherzigkeit
Gewalt erworben der Menschheit
'
Gottes erwählte Tun zu werden,
Die recht thun hie auf Erden.
Ille salvawr surZit 6ö mvrlumento et angelus tertius porrigit el als-
«IkMÄ vzxillum äicöns:
Herr Gott nimm hin von uns die Kron.
Die aus des Himmels »bristen Thron
Dein Vater dir hat hergesandt
Herab auf das irdisch Land.
Kalvirtor varie:
äormivi et somuum eepi et re8urrexi! ^Ilelu^a!
Nachdem kummt der erste Engel zu dem Salvator und hat zwei Weihrauch¬
fäßlein in der Hand und gibt das eine sveuriäo g.ng<zlo. quatuui
an^vu piLcsclunt a,ä inksruum. vno port-int canclelas et cantg-nttZL'. „(^ulu
rsx ^ Zloris,« usquv Kue aüvemsti Zesitlerg-bills-. veiucl« MAsli auto portas
i>it<;lui eiruuut:
''
Iollite portas xrineipes inkerorum et elsvairiiui portas aeternas.
piimUs ÄNFklus eilen:
Ihr Hellen Fürsten thut auf die Thor
Der Ehren Kunig steht hievor!
Lueiksr elamst:
O verfluchtes Martcrhaus mein Hell',
Bald darnach dich stell',
Daß du emvsahcst Jesum Christ
Der da gegenwärtig ist.
Er hat mir Leides viel gethan,
Die Blinden hieß er Augen ha»
Und die todt waren gewesen,
Macht er mit seiner Kunst genese».
Nur allein mit seinen Worten
Thut er auf die Hellcnpfvrten;
Wir füllen ihn a» dieser Stund
Begraben in der Helle Grund.
Der erste Teufel spricht zum Lucifer:
Lucifer, wo mag sein der Christ,
Der dir so widerwärtig ist,
Oder wie ist es um ihn gestalt't,
Daß er treibt so großen Gewalt?
Kummt er zu uns serin,
Er wird daran haben kleinen Gewinn.
Luc-ikör (Ziele:
Er hat ein menschliche Figur
Und ist wunderlicher Natur.
Er hat erlitten Hungers Noth,
Seine Seele traurig was auf den Tod,
Seiner Jünger einer ihn verrieth,
So er sie zum Abendessen lud.
Denselben ich mit meinen Listen erwarb,
Daß er an dem Kreuze starb.
8eenen1nK cliabolus allen:
Sag an Lucifer zu dieser Frist,
Ist es derselbe Jesus Christ.
Der Lazarum hieß von dem Tod erstes'n
Und von uns aus der Hölle geh'n.
Herr Lucifer gib den in mein Gefängnuß
Zu der Helle grundloser Finsternuß,
So will ich ihn darin setzen
Und seinen Hoffart gar wol ergehen
Mit brennendem Pech und Schwebe!
Mit finsterem und stinkendem Nebel
Und mit allerhand Pein,
Die indcrt in der Helle mag gesellt.
''
Duo anAöli seeuriäa vie«z eanunt ut supia: lollite poros principes ceo.
8eeunäus anAelus älen:
Ihr Helle Fürsten thut auf die Thor.
Der Ehren Kunig steht hievor.
Lucifer schreit laut: Hülf est, ists rex Zivil^ö? et älen:
Wer ist dieser Kunig der Ehren,
Der da zu uns herein thut begehren?
Die Engel singen:
Domino.« tortis et potens in praelio!
8<zounclus kmgölus älen:
Das ist der großmächtig und unsterblich Gott.
Der da zerstören will cur Gebot.
Nachdem schreit der dritte Teufel grausamlich und spricht:
Ach weh und immer ach!
sound Wunder ich nie gcsach!
O der teufelischen Helle Fürsten
Lasset euch nach ihm nit dürsten,
Er kummt in klarem Licht und großer Macht,
Wir haben nie ein solches gebracht
Aus aller Welt Reichen und Landen
Sider daß unser Hell' ist gestanden.
<)nine,u8 lliadolus:
Ich beschwöre euer teuflischen Gewalt,
Daß ihr ihn einläßt nicht so bald,
Wann ich in große Forest kam
Da er Lazarum hieß aufftan.
In diesem Menschen Gott selber ist; —
Kummt er herein zu dieser Frist.
Die Seelen werden all erlöst
Von unserm gewaltigen Hellen Rost.
(Zuintus llitrdolus:
O Luzifer schick das baltisch Heer
Und stell dich wider den Räuber zur Wehr,
Wann laß wir den hcrcintuinmcn
So würd' uns aller Gewalt genummen.
iMcitör allen g.6 socios suos:
Mein Fürsten. Ritter und Knecht
Nun bewahrt mir die Helle recht.
Eilet all behcndiglich zu dem Thor,
Daß dieser Räuber bleib davor.
I'une eoneluäunt. ciaeinvues internum, post oonclusionöm sanoti ?a-
tres ctieunt. ^clam älen:
Hört ihr lieben Freunde mein.
Ich merk, daß dieser Schein
Von meinem Schöpfer Jesu Christ
Allher zu uns knnimen ist.
llieit :
Ich weissagt' Isaias,
Da ich auf Erden lebendig was,
Dem Volk, das in der Finster lebt
Und in des Todes Schatten strebt,
Dem weissagt ich ein lichten Schein,
Der scheint zu der Hell herein.
^yKa-nnöL dö-ptistg, (jieit:
Ich bin geheißen Johannes Baptist,
Ich weiß wol von unser» Herrn Jesu Christ,
Du ich ihn tauft' mit meiner Hand,
Daß der heilig Geist kam gesamt.
In dem Jordan das geschah
Wo ich denn von ihm sprach:
Das ist das Lamm der Gottheit,
Das aller Menschen Sünde trait
Das Lamm ist uns zu Trost tummelt,
Als ihr von mir wohl habt vermummen.
LetK eilen:
Ich Seth will cual sagen gar fügsam
Daß ich zu dem Paradiese kam.
Da sprach ein Engel: Ich sag dir wahr,
Ueber etweil tausend Jahr
Nachdem würd Gottes Sun geboren
Von einer Magal auserkoren,
lind wenn er dann würd gemartert,
Gewaltiglich zur Helle fahrt.
Und erlöset mit großen Wurm'
Adam und Eva zu derselben Stund.
vtrvi'ä r«x venit:
Gottes Wunder jedermann
Soll loben so er am besten kann.
Sein Barmung ist worden schein.
Er hat viel starker Rigel eisarein
Zerbrochen und auch viel ehrein Thor,
Der stat in dieser Nacht hievor.
Nachdem singen die Engel wiederum : lollits portas! ut supra; primus
MMlus älen:
Ihr Hellen Fürsten thut auf die Thor
Der Ehren Kunig steht Setos hievor.
I^nitor etlrinkt: Hülf est ist« rex ceo. et älen:
Wer ist der Kunig davor
Der da klopft an der Helle Thor?
^.NMli oiuiunt: Dominus kortis, ut suprs,; sizennäus iwZelns äioit:
Ein mächtger Kunig in den Streit
Voll Lobes und Ehren zu aller Zeit!
Dem thue auf die Helle Pforten,
Er gesiegt mit seinen Worten,
Er will zerstören dein Angsthaus
Und all seine Freund lösen daraus.
'
Nachdem singen die Engel wiederum: 1villes pu-t-rs ceo. und unter dem
Gesang stößt der'Salvator die Thür auf. «iitibnli elitMÄiit. et naus älen:
O weh, v weh heut und immermehr.
Er eilet auf uns daher!
Fliehet ab zum Grund der Helle,
Daß er uns nit zu schnelle
Und als gar gewaltiglich
Uns zieh an« unserem Reich.
Da fliehen die Teufel alle hinweg und Salvator reicht die Hand,
^kliim äicitu
Vernehmt alle meinen Ruf,
Ich seh die Hand, die mich geschuf!
Lslvirtor esmit: Veiiikk dlzne<uedl pgtriK mei et possicketis rsKirum cveta um.
Nachdem singen die Altväter: ^ävsmsti äöLiäerabilis! Die Vertheidigung der Hölle
durch die Teufel ist ganz in obiger Weise sehr possierlich auf einem Gemälde
der Brüder Rosenthaler, welche sich im fünfzehnten Jahrhundert eines berühm¬
ten Namens erfreuten, im Kreuzgange der Franziskanerkirche zu Schwätz dar¬
gestellt. Gar drollig ist ein Teufel, welcher das Vergebliche jedes Widerstandes
einsehend mit der einen Hand die Waffen wegwirft, mit der andern sich dicke
Thränen aus den Augen wischt. Man thut überhaupt gut, wenn man bei
diesen Passionsspielen immer auch die Schöpfungen der gleichzeitigen Künstler
des Mittelalters in das Auge faßt- eines erläutert das andere.¬
Nachdem Christus das Höllenthvr gesprengt, erfolgt eine lange Unter
redung mit einzelnen Altvätern, während des Chorgesanges: ?e nosti-r
voeadant Lvspii-jg, führt er sie heraus und übergibt sie einem Engel, der sie
zum Paradies geleitet. Vor dem Thore desselben stehen Elias, Enoch und der
rechte Schacher, auch sie schließen sich dem Zuge an, dem sich alsbald der Him¬
mel öffnet. Die sich unmittelbar anschließenden Scenen mit den Marien am
Grabe, Thomas, Petrus und Johannes, welche auch hier laufend ankommen,
stimmen fast ganz mit denen in bereits veröffentlichten Passivnsspielen, sind je¬
doch minder roh. Schließlich erwachen die Ritter und gehen, nachdem sie das
Grab leer gesehen, unter gegenseitigen Anschuldigungen sich prügelnd ab. Den
Schluß bildet eine komische SceneLuzifer schilt'die Teufel aus. daß sie Chri¬
stus und den Altvätern nicht den Weg verlegt und sie unbeschädigt aus der
Hölle gelassen. Um ti.'se wieder zu stillen,'steigen sie auf die Oberwelt zu
neuem Fange. Da bringt der eine einen Müller, der andere eine Hexe auf dem
Rücken dahergescbleppt, keiner lehrt ohne Beute zurück, an derben Späßen fehlt es
auch nicht, so'daß es den Teufeln des Mittelalters in der Hölle gar nicht so schlecht
gegangen sein kann. Den Schluß macht der Präcursor nach einer kurzen Predigt.
Darum lat von Sünden und Schanden
Und singt frolich: Christ ist erstanden.
Das Stück ist in Bezug auf Sprache ziemlich roh und formlos, von einem
höheren Schwunge, wie er doch durch den Gegenstand geboten scheint, merkt
man kaum eine Spur, wo wäre aber ein deutsches Passionsspiel zu treffen, wel¬
ches einer auch nur bescheidenen Anforderung entspräche! Der Brixner Passion
zeichnet sich vor den dis jetzt gedruckten vortheilhaft durch eine größere Ord¬
nung in der Composition der Scenen aus und vermeidet ziemlich sorgfältig
jene Zoten und gemeinen Witze, welche andere Werke dieser Art verunstalten.
Das Mitgetheilte genügt für den Freund der Literatur vollkommen, um dem
Werke unter ähnlichen die gebührende Stelle anzuweisen, einen Abdruck des
Ganzen halten wir für überflüssig, obwohl jetzt Liebhaber des Alterthumes jede
staubige Scharteke der Presse übergeben.
Was die Scenerie unseres Stückes betrifft, so war sie höchst einfach. Der
Präcursor führte die Personen auf die Bühne; jede hatte lium bestimmten
Platz, wo sie sich niedersetzte, und trat, wie die Reihe an sie kam, vor. Man
erinnert sich dabei an die alte Bühne der Engländer und Spanier, über
welche freilich die Gestalten anderer Dichter schritten, als die waren, welche für
deutsche Bürger und Bauern reinem.
Die kleine Stadt Malchin theilt mit der noch kleineren Stadt Sternberg
das landesverglcichsmäßige Vorrecht, ein Jahr um das andere die „hoch-
ansehnliche" Landtagsversammlung in ihrer Mitte zu beherbergen. Für die
Hausbesitzer wie für die Kaufleute und Gewerbetreibenden beider Orte hat
dieses Vorrecht natürlich seine kleinen Vortheile, und auch die Stadtkasse hat
ihren directen Nutzen davon, indem für das Sitzungslocal des Landtags eine
Miethe an die Stadt gezahlt wird. Anderweitige Vortheile bieten die genann¬
ten Orte als Landtagssitzc begreiflich nicht dar, wohl aber mancherlei Nach¬
theile. Keiner von beiden wird bis dahin von einer Eisenbahn b-ruhvt, Stop»-
berg entbehrt auch noch der Telegraphenverbindung. Die landesherrlichen
Commissarien müssen mit einem großartigen Apparat von Tafel- und Küchen¬
gerät!), Wein, Spielkarten u. s. w. die Uebersiedlung vollziehen, um ihren ge¬
selligen Pflichten gegen die Landstände in gebührendem Maße entsprechen zu kön¬
nen. Ihre geschäftliche Verbindung mit den Landesregierungen zu Schwerin
und zu Neustrelitz läßt sich, wegen der Avgelegenheit der Orte und der Mangel-
haftigkeit der Communicationsmittel, nur auf beschwerlichem Wege und nicht
anders als schriftlich unterhalten. Die ständischen Beamten sind genöthigt, aus
ihrem zu Rostock befindlichen Archive große Actenstöße mit sich zu führen, um für
alle Eventualitäten sogleich die nöthigen Informationsquellen bereit zu halte»,
und doch kommen häufig genug unvorhergesehene Fälle vor, wo das erforder¬
liche Actenbund nicht zur Hand ist. Die Städte haben auch keine Garnison,
und es muß daher jedesmal, um der Landtagsversammlung die nöthige Sicher¬
heit zu bieten und für sonst etwa vorkommende Veranlassungen zum Einschreiten,
aus dem nächstbelegenen Garnisonsort, welcher von Malchin acht Meilen ent¬
fernt ist, ein Detachement von SO Mann gestellt werden, welches unter Com-
mando eines Lieutenants dort Quartiere bezieht. Aber welches Gewicht dür¬
fen diese Unbequemlichkeiten und Mißstände beanspruchen? Es entspricht einmal
dem Gesetz und Herkommen, daß der ordentliche Landtag abwechselnd in Mal¬
chin und Sternberg und nicht am Sitz der Landesregierung gehalten wird,
und daß auch der Engere Ausschuß, das die Ritter- und Landschaft außerhalb
Landtags repräsentirende Collegium, mit allen Acten, Büchern, Kassen u. s. w.
gleichfalls an einem andern Orte, nämlich in Rostock, residirt. Und selbst wenn
die Stände wollten, so konnten sie dieses Verhältniß gar nicht ändern, da
Mecklenburg zwar nur eine Ritter- und Landschaft, aber zwei Landesherren
und zwei Landesregierungen hat, so daß die Verlegung der ständischen Ver¬
waltungsorgane, Institute und Zusammenkünfte nur immer einen der beiden
Regierungssitze zum Ziele nehmen konnte, wogegen der andere leer ausgehen
würde.
Am 19. November v. I. ward, nach Auswechselung der üblichen gegen¬
seitigen „ergebensten Empfehlungen" zwischen den landesherrlichen Commissarien
und den Ständen, der Landtag unter dein herkömmlichen Ceremoniell eröffnet,
und nach ungefähr fünf Wochen, am 22. December, waren seine Berathungen
bereits beendigt, so daß er durch Verkündigung der großherzoglichen Landtags-
abschiede geschlossen werden konnte.
Die Physiognomie des letzten Landtags war nicht ganz die gewohnte, da
die aus einer Anzahl von bürgerlichen Mitgliedern der Ritterschaft bestehende
constitutionelle Partei noch schwächer vertreten war als bisher. Es lag dieser
Zurückhaltung eine veränderte Anschauung von dem Nutzen zu Grunde, den
die Freunde der constitutionellen Staatsverfassung durch ihre allerdings mit
Opfern verbundene Anwesenheit auf dem Landtage erzielen könnten. Früher
hatte man gehofft. Anträge auf Wiedereinführung U»« Repräsentativverfassung
wenigstens zur Verhandlung bringe» zu können. Seitdem man sich aber
wiederholt davon hatte überzeugen müssen, daß dies nicht durchzusetzen sei, war
die ohnehin sehr laue Theilnahme vieler Mitglieder an den Bestrebungen der
Partei noch mehr gesunken, und die Mehrzahl hielt es für nutzlos, noch fer¬
ner das Opfer an Geld und Zeit a» den Landtagsbcsuch zu wenden Wir
billigen diese Entschließung nicht, die überdies bei manchen bisherigen Mit¬
gliedern der Partei nicht als Ausdruck politischer Taktik aufzufassen, sondern
aus bloßer Liebe zur Bequemlichkeit oder aus Stumpfsinn oder aus anderen
mit Politik in keiner Verwandtschaft stehenden Ursachen abzuleiten ist. Wir
sind vielmehr überzeugt, daß jeder wahrhaft von politischem Geist durchdrungene
Mann durch die scheinbare Erfolglosigkeit der bisherigen Bestrebungen seiner Partei
sich nicht bestimmen lassen wird, den Kampf aufzugeben und der ferneren Ent¬
wickelung der Dinge unthätig zuzusehen. Und selbst wenn es unmöglich wäre
sür die Genossen der liberalen Partei, auf Landtagen das Gute positiv zu för¬
dern, so würden sie doch noch immer im Stande sein, durch ihre Stimmen man¬
chen Schaden und Nachtheil abzuwenden. Indessen war nun einmal bei ihnen die
entgegengesetzte Ansicht zur Herrschaft gelangt. Die Folge war, daß nur der Füh¬
rer der Partei, der Rittergutsbesitzer Pogge auf Pölitz (früher auf Jaöbitz) dem
Landtage in gewohnter Weise dauernd beiwohnte. Nur vorübergehende Be¬
sucher waren die Herren Manccke auf Dnggcnkoppcl und Dcthlvff auf Carls-
ruhe. Der Rittergutsbesitzer Hiilmann auf Scharstorf, welcher früher ein viel¬
genanntes und geschäftiges Mitglied der liberalen Partei auf dem Landtage
war, hat sich bis dahin von den constitutionellen Bestrebungen seiner Standes¬
genossen zu entfernt gehalten, als daß er der Poggeschcn Partei beigezählt wer¬
den dürfte. Er widmete im Uebrigen dem Landtage gleich Herrn Pogge eine
dauernde Anwesenheit, unterstützte denselben auch in einzelnen Fragen, hielt
aber seiner Gewohnheit gemäß bei der Verhandlung über die Verfassungs-
angclegcnheit mit seinem Urtheil zurück, wiewohl gerade er durch seine politische
Vergangenheit — er war Mitglied der Abgeordnetenkammer, mit welcher der
Großherzog von Mecklenburg-Schwerin das am 10. Oct. 1849 publicirte Staats¬
grundgesetz vereinbarte — sich vor Anderen verpflichtet halten sollte, sich an
dem Kampf für die Wiederherstellung des StaatSgrundgcsctzes zu betheiligen.
Die Führer der feudalen Partei waren wie immer vollzählig auf dem Platz,
und an den Tagen, wo die Wahlen für ständische Aemter vorgenommen wur¬
den, zählte die Partei über 100 anwesende Mitglieder. Während einiger Si¬
tzungen beehrte Herzog Georg von Mecklenburg-Strelitz, jüngerer Bruder des
Großherzogs, Gemahl der Großfürstin Eatharina von Rußland und russischer
General, als Besitzer des nicht weit von Malchin belegenen Gutes Rempiin,
wo er sich gerade aufhielt, Mitglied der mecklenburgischen Ritterschaft, die
Landtagsvcrsammlung, welche ihn jedesmal durch Ausstehen begrüßte, auf kurze
Zeit durch seine Gegenwart. Er nahm auch einmal das Wort, um bei der zur
Verhandlung stehenden Frage wegen eines Beitrages zu einem Denkmal für
die mecklenburgischen freiwilligen Kämpfer von 1813 sich für die Bewilligung
des Beitrags auszusprechen. — Von den Bürgermeistern läßt sich so leicht
keiner im Landtagsbcsuch säumig finden, da hier die Pflichterfüllung sich mit
einer angenehmen und noch dazu gut honorirten Erholung verbindet, und so
war denn auch diesmal die Bürgermeistcrschaft ohne Lücken. — Als großherzog¬
liche Commissarien fungirten Schwerinschcrseits die beiden Excellenzen v. Lcvetzow,
Finanzminister und Patron des Grcnzzollprojects, und v. Bülow, Obcrhof-
marschall. Der Großherzog von Mecklenburg-Strelitz war durch seinen neuen
Staatsmimstcr, den erst zwei Tage vor Beginn des Landtags in dieses Amt
eingeführten bisherigen dänischen Bundestagsgesandter für Holstein und Lauen¬
burg v. Bülow repräsentirt.
Die beiden ersten Sitzungen des Landtags wurden, wie herkömmlich, durch
Verlesung der zugleich gedruckt vertheilten Engeren-Ausschuß-Propositionen und
durch die Wahlen zu den Commissionen in Anspruch genommen. Aber schon
in der dritten Sitzung erhielt die Versammlung Gelegenheit, wiederum einmal
ihre Abneigung gegen eine Verfassungsänderung zu constatiren, was ihr jedes
Mal einen bewegten Charakter verleiht, der bei der Ungezwungenheit der Ge¬
schäftssinnen stets mit einigen tumultuarischen Scenen verbunden zu sein Pflegt.
Der Rittergutsbesitzer Manecke auf Duggenkoppel, schon bekannt durch die
zuerst von ihm erneuerte Opposition gegen die auf nicht legalem Wege wieder¬
hergestellte Feudalverfassung und durch die Unermüdlichkeit, mit welcher er seit
länger als zwei Jahrzehnten den Feudalismus in allen seinen Gestalten be¬
kämpft, hatte unter dem 1. August 1862 folgenden Antrag beim Engeren
Ausschuß von Ritter- und, Landschaft. Zwecks Inklination zum nächsten Land-
atge, eingereicht/: „die Landtagsversammlung wolle erklären: Ritter- und Land¬
schaft erkennen nach ruhiger Ueberlegung und genauer Prüfung der obschwe-
bcnden Verfassungsfrage und in Berücksichtigung des allgemeinen Wunsches
der Bevölkerung Mecklenburgs die zwischen dem Großherzoge von Mecklenburg-
Schwerin und den von der Bevölkerung des Landes gewählten Abgeordneten
vereinbarte und am 10. October 1849 publicirte Repräsentativverfassung
nunmehr als zu Recht bestehend an, und soll der Großherzog nicht allein von
dieser Anerkennung in Kenntniß gesetzt, sondern auch das Gesuch an Allerhöchst-
dcnsclbcn gerichtet werden, für die schleunigste Wiedereinführung der Verfassung
vom 10. October 1849 Sorge zu tragen."
Der Engere Ausschuß von Ritter- und Landschaft war jedoch über diesen
Antrag schweigend hinweggegangen und hatte dessen Inklination absichtlich
unterlassen, aus Grund einer von diesem Collegium während der letzten Jahre
ausgebildeten Theorie, wonach es mit dem, von den Mitgliedern desselben auf
die alte Landesverfassung geleisteten Eide nicht vereinbar sein sull, einen An¬
trag, der aus Aenderung der, Verfassung gerichtet ist, ^ur Berathung zu beför¬
dern. In Erwartung eines solchen Verhaltens des Engeren Ausschusses hatte
Herr Manecke inzwischen die Inklination seines Antrags durch den Engeren
Ausschuß dadurch zu ersetzen gesucht, daß. er den Antrag selbst an die einzelnen
ritterschaftlichen Aemter und Städte mit Begleitschreiben versandte und ihn auf
diesem Wege zur vorgängigen Kenntniß, der. Landstände brachte. In der Land¬
tagssitzung vom 21. November versuchte er nur», dem in der> Reihe der Engeren,,
Ausschuß-Propositionen fehlenden. Antrags mittelst Dictamens zum Landtagspro-
tvkoll zu übergeben und dadurch die Verhandlung über denselben anzubahnen.
Er fand jedoch mit diesem Vorhaben bei deur Vorsitzende» der Landtagsver-
sammlung. dem durch seine lutberjsche Orthodoxie mehr als durch seine dra¬
matischen Dichtungen bekannten Landrath Friedrich v. Maltzcm auf Nothen-
moor, Rcichsfreiherrn zu Wartenberg und Penzlin. so wie bei mehren anderen
Mitgliedern des Landtagsdirectoriums, entschlossenen Widerstand. Eines der
letzteren, der Landraih v. Rieden ans Galenbeck. warf Herrn Manecke Inkon¬
sequenz vor. wenn er die Verfassung von 1849 für zu Recht bestehend erkläre
Mal dennoch an der Versammlung von Ritter- und Landschaft sich betheilige
und in derselben Anträge stelle. Herr Maracka ertheilte darauf die Antwort,
daß die Verfassung von 1849 nur rechtlich, aber noch nicht wieder factisch
bestehe, und daß er daher einstweilen seine Stimme nur in einer Landtags¬
vertretung erheben könne, die zwar ein faktisches, aber nicht ein rechtliches Dasein
habe. Den Landrath v. Rieden aber erinnerte er, wie er im Jahre 1848
mit der ganzen Ritterschaft auf das Landstandschaftsrecht verzichtet habe, womit
es doch schwer vereinbar sei, den factisch bestehenden Ständen den rechtlichen
Bestand zu vindiciren. Er wandte sich sodann an die ganze Versammlung und
bat sie zu bedenken, daß es jetzt noch Zeit sei, den Antrag ruhig in Erwägung
zu ziehen, daß aber wieder Zeiten kommen könnten, wo der Schreckensruf er¬
schalle: „popuws ante pol'tas", und eine ruhige Behandlung des Gegenstandes
nicht mehr zulasse.
Das vorauszusehende Ende dieser Unterhaltung war, daß das Landtags-
directorium Herrn Manccke seinen Vortrag zurückgab. Es geschah dies mittelst
folgender schriftlicher Erklärung: „Das Landtagsdirectorium retradirt dem Herrn
Manccke auf Duggenkovpel den am heutigen Tage übergebenen Vortrag mit
dessen Anlagen, die Verfassung Mecklenburgs betreffend, weil dieser Vertrag
schon aus formellen Gründen sich nicht zur Vorlage eignet und deshalb auch
seiner Verlesung nicht Start gegeben werden kann."
Herr Pogge protestirte gegen ein solches Verfahren und verlas in der
folgenden Sitzung einen Vortrag in dieser Angelegenheit, welcher durch seine
offene und scharfe Kritik der Zustände des Landes die Gegner zu den leiden¬
schaftlichsten Aeußerungen entflammte. Der Vorsitzende unterbrach ihn wieder¬
holt und suchte ihn vom Weiterlesen zurückzuhalten. Höhnisches Gelächter und
stürmische Rufe übertönten den Vortrag oft so stark, daß Herr Pogge kaum
von den Nächststehenden gehört werden konnte, obgleich er sich einer recht starken
Stimme erfreut. Herr Pogge las jedoch unbeirrt weiter, bis das Schriftstück
zu Ende war. Als er dasselbe aber darauf zu Protokoll überreichen wollte,
verweigerte der Protokollführer, Landrath v. Oertzen auf Woltow, die An¬
nahme. Einer der Bürgermeister, Namens Wulffleff aus Sternberg, dessen
Name aus der constitutionellen Zeit dadurch bekannt ist, daß er einmal gleich¬
zeitig in drei verschiedenen Wahlkreisen sich um die Stimmen der Wähler an¬
gelegentlich bewarb, ohne es jemals bis zum Abgeordneten bringen zu können,
erhebt gegen diese Weigerung formelle Bedenken, da das Schriftstück einmal
verlesen sei, räth jedoch zu dem Ausweg, dessen sofortige Netradirung nach
erfolgter Annahme zu beschließen. Herr v, Oertzen auf Brunn empfiehlt, den
Landesherrn zu ersuchen, daß er Herrn Pogge nicht wieder zum Landtage ein¬
berufen möge, da er immer von Neuem die Ruhe des Landtags störe. Herr
v- Dewitz auf Milzvw räth, den Vortrag zurückzugeben; wenn dies mehrmals
geschehe, so würden solche Dictamina schon von selbst wegbleiben. El» Anderer,
Kammerherr v. Oertzen auf Kotelow, bezweifelt, das? Herr Pogge dadurch zu
bekehren sei, da schon eine dreimalige Erfahrung dieser Art feine Wirkung auf
ihn hervorgebracht habe. Herr Pogge ruft den erregten Gemüthern zu, sie
möchten von ihrer Freiheit sich auszusprechen nur recht ungenirter Gebrauch
machen, wie auch er dies gethan habe.
Das Ende dieser wüsten Scene bildete der Beschluß der Landtagsver¬
sammlung: das Dictamen solle wegen seines ungeeigneten Inhaltes dem Herrn
Pogge zurückgegeben werden. Die Adclspartei erklärte damit wiederholt, daß
sie die bestehende Verfassung einer Aenderung nicht für bedürftig, ja schon eine
bloße Erörterung dieser Frage für unzulässig halte, und daß sie entschlossen sei,
die Verfassung völlig unverändert der Nachkommenschaft zu überliefern.
Zur Charakteristik der von Herrn Manecke vertretenen Auffassung dient vor¬
züglich der nachstehende Satz aus dem vom Landtagsdirectorium zurückgewiesenen
Vortrag: „Da die augenblicklich in Mecklenburg fast unumschränkt herrschende
Partei es durchzuführen gewußt hat, daß schon seit einer Reihe von Jahren
keine Stimme ihrer so zahlreichen Gegner im Lande selbst laut werden darf,
so muß das Bemühen, die einzig noch übrig gebliebene Gelegenheit, die Wünsche.
Hoffnungen und Bedürfnisse des Landes auf dem Landtage vorzubringen, zu
unterdrücken, jedem Unbefangenen als ein Entsetzen erregendes erscheinen."
Solche Bestrebungen seien nicht blos verderbenbringend für das Land, sondern
auch, nach Ausweis der Geschichte, den Mitgliedern der gegnerischen Partei
selbst aufs Aeußerste gefährlich.
Noch schärfer und umfassender legt der Pvggeschc Vortrag die bedenkliche
Lage dar, in welche das Land durch das Verhalten der Adelspartei in der
Verfassungsfrage gerathen ist. Wegen der Bedeutung dieses Actenstücks als
eines aus der Mitte der Ritterschaft selbst hervorgegangenen Urtheils über die
unglücklichen Zustände des Landes, ihre Ursachen, ihre Gefahren und ihr Heil¬
mittel wird sich eine ausführlichere Mittheilung desselben um so mehr recht¬
fertigen als die einheimische Presse meistens nur dürftige Auszüge daraus und
kein einziges mecklenburgisches Blatt es ohne Lücken gebracht hat. Im Ein¬
gange wird die dem Antrage Maneckes widerfahrene Behandlung referirt und
das Bedauern ausgesprochen, daß der Landtagsversammlung über eine so
wichtige Frage die Beschlußncchme entzogen werde. Weiter heißt es dann:
„Nachdem der von 82 Ständemitgliedern gestellte Verfassungsantrag nicht
einmal hat zur Berathung gebracht werden können, ist man vielfach zu der
Ueberzeugung gekommen, daß nur ein Zurückgehen auf das Staatsgrundgesetz
von 1849 uns die so nothwendige Reform unserer politischen Zustände bringe»
kann, und ist diese Ansicht nicht allein im Lande weit verbreitet, sondern auch
durch gewichtige Stimmen in den deutschen Bundesstaaten unterstützt. — Das
Werk, welches auf unsere Veranlassung hin durch die gesetzlich berufenen Ver-
treter des mecklenburgischen Volkes mit seinem Landesherrn vereinbart worden,
wurde von Diesem, von seinem Ministerium und vom ganzen Lande mit Freu¬
den begrüßt. Mit Ausnahme der wenigen rennenden Mitglieder der Ritterschaft,
welche das Aeußerste versuchten, um von den Zugeständnissen der alten Land¬
stände entbunden zu werden, war die ganze Bevölkerung von der Ueberzeugung
durchdrungen, daß die Vereinbarung des Staatsgrundgesetzes und erfolgte Auf¬
lösung der Ritter- und Landschaft auf völlig legalem Wege erfolgt sei. Wenn
nun durch die Cvmprvmißinstanz die rennenden Mitglieder der Ritterschaft mit
auswärtiger Hülfe es dahin zu bringen gewußt, daß unser allverehrter Landes¬
herr die gegebene Verfassung zurücknehmen mußte, so kann das Recht des
mecklenburgischen Volkes nicht alterirt worden sein. Dasselbe hat seine Zustim¬
mung nicht dazu gegeben, und besteht sein auf die gegebenen Versicherungen
und Landtagsbeschlüsse sich stützendes Recht fort. — Die traurigen Folgen jener
Cvmpromißinstanz hat das mecklenburgische Volt seitdem bis zum Ueber¬
maß empfunden. Die steigende und überhandnehmende Auswanderung, der
Verfall der Seestädte, die steigende Verarmung der Landstädte, die Vermin¬
derung der Ehen, die erschreckliche Vermehrung der unehelichen' Geburten und
des Verbrechens der Kindestödtung, die Theuerung der Lebensmittel und der
Mangel an Zufuhr der nothwendigsten Lebensbedürfnisse auf den Märkten
unserer Städte, und vieles Andere bezeugen dies zur Genüge. Hätten wir
unser Staatsgrundgesetz behalten, so wäre alles dies anders geworden. Dem
Arbeiter wäre damit die Möglichkeit gegeben, im Lande Grund und Boden
als Eigenthum zu erwerben und die Selbständigkeit und Unabhängigkeit zu
erringen, die er hier vermißt und in Amerika findet. Der Bauer wäre freier
Besitzer seiner Hufe geworden, und hätte unbekümmert um guteherrliche Ein¬
flüsse, Kündigung und Abmeierung seinen eignen Grund und Boden bewirth¬
schaften tonnen. Das Recht der Theilvarkeit des großen Grundbesitzes hätte
die Verkleinerung der größeren Güter ermöglicht und vielen kleinen Capitalien,
die jetzt nach den benachbarten Ländern auswandern und dem Lande Millionen
an Capital entziehen, Gelegenheit gegeben, sich im Lande selbst anzusiedeln.
Dadurch und durch die Abtretung des Dvmanium wären die Mittel gegeben
zur Wiedererstehung des uns so. nothwendigen Mittelstandes. — Unsere Hand,
werter konnten dadurch die Vielheit bemittelter Kunden. erlangen, deren Mangel
hauptsächlich mit der Grund ihrer traurigen Lage ist. Der zahlreiche Mittel¬
stand auf dem Lande ist es, der in den kleinen Städten seinen Absatz sucht
und deren Erzeugnisse tauft. — Die Creirung der Gemeinden, die Abschaffung der
Patrimonialgerichte würde einem allgemein gefühlten Bedürfnisse entsprochen
haben. Mit der Aufhebung des Adels als Stand würde das Land, von dem
süßem Gegner seiner freiheitlichen Entwickelung befreit sein. — Das sind
außer vielem Andern die großen Vortheile, die uns die Einführung des Staats-
Grundgesetzes gebracht haben würde. Wollen wir nun, daß es besser in Meck¬
lenburg wird, so müssen sich alle diese in dem Streben vereinigen: daß das
Staatsgrundgesetz von 1849 wiederhergestellt wird. Die öffentliche Meinung in
Deutschland wird uns darin unterstützen."
Das besonders Erfreuliche an dem von Manccke gestellten und von Pogge
unterstützten Antrage ist, daß hier zum ersten Male von Mitgliedern der Stände¬
versammlung auf den richtigen Weg eingelenkt und die Verfassungsfrage in
correcter Weise behandelt wird. Die Freunde einer Repräsentativverfassung in
der Ritterschaft waren bis dahin stets um die Frage herumgegangen, ob das
dnrch die Feudalpartei in scheinbarem Rechtswege beseitigte Staatsgrundgesetz
vom 10. Oct. 1849 zu Recht bestehe, ja sie hatten durch die Fassung ihrer
bisherigen bezügliche« Anträge der Auslegung Raum gegeben, daß sie die Rechts¬
gültigkeit der factisch zurückgeführten Feudalverfassung nicht gesonnen wären zu
bestreiten. Erst Manecke und sich ihm anschließend Pogge emancipirten sich
von dieser bisherigen Behandlung der Frage und traten als die Ersten auf
dein Landtage mit dem offenen männlichen Bekenntniß der Ueberzeugung von
der fortdauernden Rechtsbeständigkeit der durch die Feudalpartei im Jahre 1850
gestürzten constitutionellen Staatsverfassung hervor.
Noch bedeutungsvoller wird dieses Zeugniß aus der Ritterschaft dadurch,
daß es ein Zeugniß gleichen Inhalts aus der Landschaft hervorrief. Der
Magistrat der Residenzstadt Schwerin ertheilte dem städtischen Landtagsdeputir-
ten die Instruction, für den Mancckeschen Antrag zu stimmen, und der Schwe¬
riner Bürgerausschuß sprach dem Magistrat dafür seine dankbare Anerkennung
aus. Konnte nun auch diese Instruction nicht in Wirksamkeit treten, da der
Maneckesche Antrag überhaupt nicht zur Verhandlung gelangte, so übte sie
doch eine belebende und stärkende Wirkung auf weite.Kreise aus, und dies um
so mehr, als der Minister des Innern, v. Oertzen, der auch noch immer mit
der Antwort auf den Beschluß in Rückstand war, welchen am 8. Oct. 1862
die Generalversammlung des durch ministerielle Bekanntmachung in Mecklen¬
burg verbotenen deutschen Nationalvereins zu Coburg in der mecklenburgischen
Verfassungsangelcgenhcit gefaßt hatte, vou dein Beschlusse des Schweriner
Magistrats Veranlassung nahm, den Großherzog zu einem demonstrativen
Schritt gegen die Agitation für das Staalsgrundgesetz von 1849 zu bestimmen.
Durch den Minister v. Oertzen mit der Andeutung vvrbeschieden, daß der
Großherzog ihnen ein« wichtige Mittheilung zu machen habe, fanden sich am
3. December auf dem großherzoglichen Schlosse zu Schwerin der Bürgermeister
Möller und der Senator Voß als Magistratsdeputirtc ein und wurden vom
Großherzog in Gegenwart von zwei Adjutanten empfangen. Der Großherzog
fragte zunächst, ob es begründet sei, daß der Magistrat den städtischen Land-
tagsdepulirten angewiesen habe, den Maneckeschen Antrag zu unterstützen. Die
Deputirten bejahten dies. Darauf ließ der Großherzog sich von einem
der Adjutanten ein Concept reichen und verlas von demselben die nach¬
stehende Rede:
„Es ist zu meiner Kenntniß gekommen, daß der Magistrat meiner Residenz¬
stadt Schwerin seinen Deputirten zum diesjährigen Landtage instruirt hat, bei
Gelegenheit für eine Wiederherstellung des Staatsgrundgesctzes von 1849 zu
stimmen. Diese Thatsache, wenn sie auch keinen Erfolg gehabt, veranlaßt mich,
dem Magistrat meine entschiedene Mißbilligung dieses Schrittes zu er¬
kennen zu geben. Der verständige mecklenburgische Sinn wünscht jene Periode
politischer Verwirrung, aus welcher das gedachte Staatsgrundgesetz hervor¬
gegangen, nicht zurück. Das Land hat die Erlebnisse, gewerblichen Stockungen
und Verluste jener Tage noch in frischer Erinnerung. Ich könnte aus diesem
Grunde die Agitation für dieses Staatsgrundgesetz, wie ich bisher gethan, auch
ferner ihrem Schicksal überlassen. Allein der Ruf nach diesem Gesetze, welches
auf vollkommen rechtmäßigem Wege und für immer beseitigt ist, hat jetzt eine
andere Bedeutung. Er ist nur ein Glied n der Kette, mit welcher die aus
jener Zeit noch völlig erkennbare Partei des Umsturzes das engere wie das
weitere Vaterland zu umschlingen und ihren aller bestehenden rechtlichen Ordnung
feindlichen Plänen dienstbar zu machen bemüht ist, und welche gerade dadurch
allen gesunden Fortschritt hindert und unmöglich macht. Dies hätte der Magi¬
strat meiner Residenzstadt Schwerin einsehen müssen und darnach sein Verhal¬
ten einrichten sollen. Bei den nahen Beziehungen der Stadt zu meiner Person
und bei dem Werthe, den ich darauf lege, daß das bisherige Verhältniß des
Vertrauens nicht auf solche Weise zerrissen werde, habe ich es für meine Pflicht
gehalten, meine feste Willensmeinung hiermit dem Magistrate offen auszusprechen.
Ich hoffe, daß er diese wohlgemeinten Worte richtig verstehen, und daß er sie
berücksichtigen wird."
Offenbar hatte die feudale Partei, auf deren Einfluß dieser Ausdruck der
Mißbilligung zurückgeführt werden muß. den Großherzog über die Bedeutung
und Tendenz der dem Landtagsdeputirten von dem Magistrat ertheilten Instruc-
tion zu täuschen gewußt. Das Staatsgrundgesetz war gerade der Schluß
„jener Periode politischer Verwirrung", über welche der Großherzog, nachdem
er in der Proclamation vom 23. März 1848 dem Lande eine constitutionelle
Verfassung verheißen hatte, demselben mittelst Ausführung dieser Verheißung hin¬
weghalf. Wenn „gewerbliche Stockungen und Verluste" in jener bewegten
Zeit vorkamen, so fallen dieselben nicht aus Rechnung des Staatsgrundgesetzes,
sondern derjenigen Zeitbewegungen, welche für Mecklenburg gerade in dem
neuen festen Rechtsboden, welcher mit dem Staatsgrundgesctz geschaffen ward,
ihren aus vollkommen gesetzmäßigem Wege, ohne irgend eine gewaltsame Ein¬
wirkung herbeigeführten Abschluß fanden. „Es herrscht die größte Ruhe in
dem hiesigen Lande", so konnte das mecklenburgische Gesammtministerium in
einem Schreiben an die provisorische Bundes-Central-Commission vom 19. Ja¬
nuar 1850 mit Recht behaupten. Die Unruhe begann erst wieder, als in dem
bekannten Wege das eben erst gelegte Fundament wieder zerstört und die alte
Ritter- und Landschaft wieder ins Dasein gerufen ward. Und wenn die da¬
durch geschaffene innere Zerrissenheit nicht sofort in deutlichen Symptomen
hervortrat, so lag dies theils an den strengen Maßregeln, durch welche die zur
Herrschaft gelangte Partei ihre Gegner zum Schweigen brachte, theils an der
allgemeinen Abspannung. Naturgemäß aber mußte schon nach Verlauf einiger
Jahre das Verlangen des Volkes nach einer Rückkehr zu der ihm verheißenen
constitutionellen Verfassung wieder hervortreten, und es ist nicht eine Umsturz¬
tendenz, sondern die klarste Gewißheit von dem Bedürfnisse des Landes, was
seitdem mit steigender Kraft die Wiederherstellung des von der Adelspartei
unter der Maske von Rechtsformen gestürzten Staatsgrundgesetzes fordert und
auch nicht eher davon ablassen wird als bis das Ziel erreicht ist. Wie wäre
es auch wohl möglich, anzunehmen, daß die 82 Rittergutsbesitzer, welche im
Jahre 1860 den Antrag auf Wiedereinführung einer Repräsentativverfassung
stellten, das aus den Handwerkszünften gebildete zweite bürgerschastliche Quar¬
tier zu Rostock, welches im Anschluß an den Antrag der 82 die Verfassung
von 1849 zurückforderte, und so viele andere Körperschaften und Personen,
welche zu den ruheliebendsten und conservativsten Elementen im Staate gehö¬
ren, in diesem Punkte Umsturztendenzen huldigen sollten? Man will nichts
weiter als von der Herrschaft der Adelspartei frei werden, welche auf dem
Landtage die ihr nicht genehmen Anträge nicht einmal zur Verhandlung zuläßt,
und welche gerade die in der ganzen Geschichte Mecklenburgs erkennbare Partei
ist, die „allen gesunden Fortschritt hindert und unmöglich macht".
Die Rede des Großherzogs, anfangs von Mund zu Munde sich verbrei¬
tend, ward demnächst in dem ministeriellen Organ, „Norddeutscher Correspon-
dent" genannt, in der obigen authentischen Fassung veröffentlicht. Aus dem
nach Mittheilung der Rede kurz abbrechenden Bericht dieses Blattes hätte man
folgern sollen, daß der Großherzog sofort nach deren Beendigung die Depu¬
tation entlassen habe. Es verlautete aber nachträglich, daß dies keineswegs der
Fall war, sondern daß der Bürgermeister Möller noch Gelegenheit zu einer
Erwiderung fand, in welcher er muthig und würdevoll die Sache des Magi¬
strats vertheidigte. Nach glaubwürdigen Nachrichten sprach er ungefähr fol¬
gende Worte: Zwar sei die Deputation nicht beauftragt, auf diese Willens¬
meinung sich zu erklären, da der Magistrat nicht gewußt habe, um was es sich
handle. Indessen wolle er doch jetzt schon darauf aufmerksam machen, daß
hier die Instruction eines Landtagsdeputirten zur Frage stehe, für deren Inhalt
der Magistrat nur Gott und seinem Gewissen verantwortlich sei. So vielen
Werth auch der Magistrat auf die gnädige Gesinnung des Großherzogs lege,
und so viele Beweise der Liebe und Anhänglichkeit an seine Person und sein
Haus auch Magistrat und Bürgerschaft der Residenz dem Großherzog gegeben
haben, so dürfe doch nicht verkannt werden, daß der Magistrat auch Pflichten
gegen das Land habe, die er gerade in jetziger Zeit zu üben sich berufen
fühlen müsse. Daß Mecklenburg in seiner Entwickelung nicht voranschreite und
die in ihm wirkenden berechtigten Interessen ihre Anerkennung im Staats¬
leben nicht fänden, das dürfe nicht außer Acht gelassen werden, und ebenso
wenig könne man sich verhehlen, daß die jetzige Verfassung gerade der Hemm¬
schuh jeder gedeihlichen Entwickelung sei. Dieser durch weite Kreise gehenden
Anschauung habe der Magistrat durch seinen Beschluß Ausdruck gegeben, und
es sei dringend zu wünschen, daß die Lage der mecklenburgischen Verfassung
bald eine solche werde, daß alle berechtigten Interessen des Volkslebens zu
ihrer Geltung kämen.
Der Großherzog erwiderte, daß der Magistrat nun seine Meinung kenne,
und entließ darauf die Deputirten, welche beim Weggehen noch den Adjutanten
um Vermittlung einer Abschrift der großherzoglichen Rede ersuchten, die ihnen
auch zugesichert und demnächst zugestellt ward. Der Magistrat beschloß nun,
dem durch die Veröffentlichung im „Norddeutschen Korrespondenten" noch ver¬
stärkten Ausdruck großherzoglicher Mißbilligung gegenüber sein Verhalten in
der Verfassungsangclegenhcit mittelst einer Denkschrift zu rechtfertigen. Als
aber eine Deputation des Magistrats bei dem Großherzog angemeldet ward,
welche ihm jene Rechtfertigungsschrift überreichen sollte, erfolgte durch Adju-
tanturschreibcn die Antwort, daß der Großherzog es ablehnen müsse, in dieser
Angelegenheit etwas Weiteres, sei es Mündliches oder Schriftliches, vom Ma¬
gistrat entgegenzunehmen. Damit war denn dem Magistrat der Weg der
Rechtfertigung auch nach außen abgeschnitten, wenn es ihm nicht gelingen
sollte, einen loyalen Anlaß aufzufinden, um die für den Großherzog bestimmt
gewesene Schrift an die Oeffentlichkeit zu bringen.
Während so auf dem Landtage durch das Landtagsdircctorium und gleich¬
zeitig außerhalb Landtags durch die Allerhöchste Mißbilligungsrcde Alles geschah,
was möglich war, um den Bestrebungen für die Wiedereinführung des Staats-
grundgcsetzes jede Aussicht auf Erfolg zu benehmen, schien es, als wenn auf
Seiten der feudalen Partei die Erinnerung an die Ereignisse, Verheißungen
und Beschlüsse des Jahres 1848 bis auf die letzte Spur erloschen sei oder
wenigstens durch kühnes Jgnoriren ertödtet werden sollte. Ein auffallendes
Beispiel dieser gcschichtsfeindlichen Praxis lieferte der Senior der Ritterschaft,
Herr v. Laffert ans Lessen. Als ältester anwesender Ritter kam derselbe in
den Fall, Namens der Stände an die beiden schon erwähnten Landräthe
v. Maltzan und v. Rieden, deren 2Sjähriaes Landrathsjubiläum in die Land-
*
tagszeit sie!, eine beglückwünschende Anrede zu richten. Bisher nur als Agi¬
tator gegen die Rostocker Corrcspondentrheder bekannt, welche er in einer
Druckschrift wegen „heilloser Mißbräuche" denunciren und durch Anträge auf
Landtagen unter die Curatel einer Staatsbehörde zu bringen suchte, bewegte
er sich jetzt auf dem ihm ungewohnten politischen Gebiet und erlaubte sich da¬
bei, den beiden alten Herren nachstehende Anerkennungsphrase anzuheften: „Sie
haben in guten und in böse» Tagen an unserer ganz vortrefflichen, über alles
Lob erhabenen Verfassung unverbrüchlich festgehalten," Mit dem unverbrüch¬
lichen Festhalten in „guten Tagen" hatte es allerdings seine Richtigkeit, Aber
als die „bösen Tage" des Jahres t848 kamen, da machten es die beiden
Herren Landräthe gerade so wie alle andern Mitglieder der Ritterschaft und
wirkten willig zu dem Beschlusse der Stände mit, ihre bisherigen landstand
schaftlichen Rechte zu der'Folge aufzugeben, daß künftig nur gewählte Repräsen¬
tanten die Landesvertretung bilden sollten. Der eine Von ihnen, der Landrath
v. Rieden, nahm später sogar ein Mandat als Abgeordneter an, um in
der mecklenburgischen constituirenden Versammlung an der Vereinbarung wegen
eines constitutionellen Staatsgrundgesetzes mitzuarbeiten. Der andere, der
Landrath v. Maltzan, veröffentlichte um dieselbe Zeit eine Beurtheilung des
im Auftrage des Großherzogs der Abgeordnetenversammiung vorgelegten Ver-
fassungsentwurfs und erklärte es darin für seine Pflicht, sich gleich anfangs für
diesen Entwurf, von welchem das später vereinbarte Staatsgrundgesetz nicht wesent¬
lich verschieden ist, auszusprechen und für diese seine Ansicht unter den Gleich¬
gesinnten zu Wirten.
Wer wollte den Beiden aus diesem Verhalten einen Vorwurf machen?
Aber auf das ihnen vom Herrn v. Laffert ertheilte Lob des unverbrüchlichen
Festlmltens an der alten Landesverfassung haben sie damit für immer verzichtet,
und den Anspruch auf ein solches Lob können sie auch nicht dadurch wieder¬
gewinnen, daß sie jetzt sogar schon die bloße Verhandlung über eine Ver¬
fassungsänderung sür verfassungswidrig und daher unstatthaft ausgeben.
Es war ein richtiger Gedanke, der die schwäbische Fortschrittspartei be¬
stimmte, den. deutsch-französischen Handelsvertrag nicht unter die Gegenstände
der Landesversammlung zu Eßlingen aufzunehmen. Zwar die Rücksicht auf die
„Einheit der Partei", die gleichwohl in die Brüche ging, wäre kein begrün¬
detes Motiv gewesen. Allein bei der Wichtigkeit der politischen Fragen, die
dort zum Austrag kamen, wäre jener Angelegenheit nicht ihr volles Recht
geworden, sie hätte nur nebenbei behandelt werden können, sie wäre zudem
vor einem Publicum verhandelt worden, das schwerlich das nöthige Verständ¬
niß und die Kompetenz eines sachlichen Urtheils hatte. Wie auch das Votum
ausfiel, es wäre mit Recht das Gewicht einer Entscheidung in Frage gezogen
worden, die unter diesen Umständen wesentlich aus politischen Gründen erfolgt
wäre. Ganzanders, wenn diejenigen Kreise, die vorzugsweise zu einem Urtheil
befähigt und verpflichtet waren, endlich aus ihrer zuwartenden Stellung
heraustraten, um durch eine unzweideutige Kundgebung das Versäumnis; wieder
gut zu machen, das allzulange die Negierung in ihrem einseitigen Vorgehen
bestärkt hatte. Nachdem der Notenwechsel zwischen Stuttgart und Berlin
vorläufig abgeschlossen war und seine Veröffentlichung ein Helles Licht auf die
gegenwärtige Lage geworfen hatte, durfte man nicht länger zögern, eine
allgemeine Versammlung zu veranstalten, welche die geeigneten Mittel berathen
sollte, um „unsere Negierung über die wahre Stimmung des Landes aufzuklären
und dieselbe zu veranlassen, die geeigneten Schritte für die Sicherheit und Fort¬
dauer des Zollvereins zu thun."
Aber kamen nicht diese Anstrengungen jetzt zu spät, nachdem die Negierung
mit ihren Bundesgenossen die unbedingte Ablehnung des Handelsvertrags aus¬
gesprochen? Allerdings diese Schritte waren nicht mehr rückgängig zu machen;
allein eure Agitation für den Vertrag war überhaupt erst möglich in dem
jetzigen Stadium der ganzen Frage. So wie die Dinge in Schwaben lagen,
war eine nachhaltige Opposition erst denkbar, nachdem es sich nicht mehr um
den Handelsvertrag, sondern um die Existenz des Zollvereins handelte. So
lange die Frage war: Annahme oder Ablehnung des Vertrags, abgesehen von
den Folgen, welche sich an die Entscheidung knüpften, blieb die Stimmung eine
dem Vertrag im Allgemeinen entschieden ungünstige. Man suchte, mißtrauisch
gemacht durch die ersten Schmerzcnsschreie, mit Absicht nur nach solchen Posi¬
tionen, durch welche die Interessen des Landes etwa könnten verletzt werden.
Die Bedenken überwogen weit. Von den eingeholtem Gutachten hatte zwar,
wenn wir recht wissen, kein einziges sich für unbedingte Ablehnung erklärt,
aber jedes hatte erhebliche Ausstellungen gemacht. Auch wo man den Vertrag
im Allgemeinen als einen nothwendigen und heilsamen Fortschritt betrachtete,
wurde der Vorbehalt zahlreicher Abänderungen gemacht. Unbedingte Lobredner
gab es keine. Die Zahl derjenigen war klein, welche von Anfang an die
principielle Bedeutung des Vertrags für den Zollverein erkannten. Der Ver¬
such einer Agitation in dem damaliges Stadium hätte nothwendig scheitern müssen.
Allein sobald die brüske Entscheidung der süddeutschen Regierungen erfolgt
war, trat die heilsame Wendung ein. Die Alternative war jetzt nicht mehr-.
Annahme oder Ablehnung des Vertrags, sondern Erhaltung oder Auflösung
des Zollverbandes. Eine Gefahr, die Alle unmittelbar berührte, lag jetzt
offen vor Augen. Es kam nicht mehr darauf an, zu untersuchen, ob diese oder
jene Bestimmungen bedenklich seien, sondern es fragte sich, ob die einzelnen
Punkte, die man anders gewünscht hätte, einen Entschluß rechtfertigen konnten,
der eine segensreiche Verbindung vernichten und die materiellen Interessen des
Landes einer unberechenbaren Krisis aussetzen mußte. Jetzt erst war der Boden
für eine Agitation vorhanden, deren Kern Allen verständlich war. So sehr
hatte sich die Sachlage geändert, daß man sagen kann, alle jene Gutachten, die
damals von den Handelsvereincn und gewerblichen Korporationen eingeholt
worden, seien jetzt zum guten Theile antiquirt; denn sie hatten sich eben nur
die Prüfung des Vertrags als solchen zum Zweck gesetzt. Sie hatten dabei
zwar einstimmig sich für die Erhaltung des Zollvereins ausgesprochen, aber
dieser Gesichtspunkt erschien damals noch nicht als der dominirende, die Gefahr
war noch nicht eine brennende. Es ist keine Frage, daß manche dieser Gut¬
achten heute die Nothwendigkeit für Würtemberg, am Zollverein um jeden
Preis festzuhalten, ganz anders betonen würden.
Von hier aus ward nun auch der Umstand, daß die Regierung ohne Zu¬
stimmung der Stände vorangegangen war, ganz anders beurtheilt als zuvor.
Man hatte früher — und mit Recht — der Regierung ihre einseitige Entschei¬
dung zum Vorwurf gemacht. Formell war sie allerdings berechtigt, dem Ver¬
trag ihre Zustimmung zu versagen. Allein schwerlich handelte sie im constitu-
tionellen Geiste. Denn die Folge der definitiven Verwerfung des Vertrags ist
nicht die einfache Fortdauer des gegenwärtigen Zustandes, sondern die Noth¬
wendigkeit, nach Sprengung des Zollvereins sich nach neuen Zollverbindungen
umzusehen, und hierzu ist die Regierung verfassungsmäßig an die Einwilligung
der Stände gebunden. Diese neue Zvllvcrbindung ist aber, sobald jener Fall
eintritt, mit Nothwendigkeit gegeben, und das Zustimmungsrecht der Stände
deswegen rein illusorisch gemacht, wenn ihnen blos die Möglichkeit eingeräumt
wird, die Folge zu acceptiren, nicht auch, sie abzuwenden.
Dennoch muß es jetzt als ein besonders günstiger Umstand erscheinen, daß
damals die Kammer noch nicht gehört wurde. Unter dem Druck der damaligen
Stimmung hätte sie in ihrer weit überwiegenden Mehrheit der Politik der
Regierung zugestimmt. Schon die Wahl der volkswirthschaftlichen Commission
bewies dies. Nun aber hat sich die Kammer noch durch kein Votum gebunden.
Jetzt würde auch sie vor Allem die Eventualität eines Bruchs des Zollvereins
ins Auge zu fassen haben, und so darf ihr Votum wenigstens immerhin als
zweifelhaft betrachtet werden. Die Hauptsache ist, daß die Schuld für die
gegenwärtige Lage allein aus der Regierung liegt.
Allein war denn der Vertrag wirklich ein so großes Unheil für das Land,
daß man es nur, um ein noch schwereres Unheil abzuwenden, über sich nehmen
konnte? Rechtfertigte eine eingehende Prüfung der einzelnen Bestimmungen wie
des Vertrags als Ganzen jene Unglücksprophezeihungen, mit denen man gleich
im Anfang das Urtheil einzuschüchtern versuchte? Auch in dieser Beziehung
hatten Viele inzwischen unbefangener urtheilen gelernt, zumal da die Meinung
im ganzen übrigen Zollverein so ganz verschieden lautete von derjenigen in
Würtemberg und Bayern. Dieser Stimmung einen öffentlichen Ausdruck zu
geben und sie dadurch zu befestigen, war der Hauptzweck der Versammlung,
die auf den 3. Jan. nach Stuttgart ausgeschrieben wurde. Unter der drohenden
Perspective eines Zollvercinsbruchs durfte man hoffen, daß eine umsichtigere
Würdigung des Handelsvertrags und seiner unläugbaren Vorzüge endlich auch
in weiteren Kreisen Platz greisen werde.
Die Einladung ging aus von Pfeifer, dem Director der Stuttgarter Lebens-
Versicherungsgesellschaft, der früher in der Kammer ein namhaftes Mitglied der
Opposition gewesen war, und von dem Kaufmann G. Müller, demselben, der
aus Anlaß des Handelsvertrags, der ihn gegenüber der Stuttgarter Handels¬
kammer in die Minorität brachte, die Vorstandsstelle derselben niederlegte und
kurz darauf aus dem Handelstag in München in den Ausschuß gewählt wurde.
Außerdem aber zählte die Einladung eine Reihe von Namen, welche größten-
theils einen guten Klang in der Handels- und Gewerbswelt hatten. Es war
das erste öffentliche Zeichen, daß zahlreiche Freunde des Vertrags im Lande
verbreitet und zu gemeinsamem Handeln entschlossen waren.
Schon dies war ein Erfolg, der das gegnerische Lager bestürzt machte.
Was sollte geschehen? sollte man in Masse die Versammlung beschicken und den
Versuch machen, sie zu majorisiren und damit die Niederlage zu rächen, welche
Herr v. Kerstorf auf der in schutzzöllnerischem Sinn intendirten Versammlung
zu Frankfurt erlitten hatte? Aber das Mittel war zweifelhaft, und eine offene
Discussion der beiden entgegenstehenden Ansichten gefährlich. Oder sollte man
eine Gegenversammlung halten? Aber auch dies war bedenklich und jedenfalls
bedürfte es dazu Zeit. So blieb denn für den Augenblick nichts übrig, als der
Versuch, durch Appellation an die gewöhnlichen Schutzzollsympathien von der
Versammlung abzumahnen und mit der Waffe möglichst zahlreicher Namens¬
unterschriften den schwankenden Gemüthern, deren wohl die Mehrzahl war, zu
imponiren. Die Erklärung, die zu diesem Zweck aufgesetzt wurde, ging davon
aus. daß die Drohung mit Auflösung des Zollvereins gar nicht ernstlich ge¬
meint und Preußen selbst am meisten bei dessen Erhaltung interessirt sei, billigte
das Vorgehen der Regierung, polemisirte gegen die Freihandelstheorie, hob das
nationale Interesse am Schutzzoll hervor und forderte schließlich alle Gleich¬
gesinnten auf, die Versammlung nicht zu besuchen. So rasch wurde die Gegen-
agitation eingeleitet, daß in wenigen Tagen Hunderte von Unterschriften zu
dieser Erklärung veröffentlicht werden konnten, ein Beweis, wie wohlorganifirt
die Gegner waren, und über welche Mittel sie geboten.
Ein besonders geschickter Zug war es, daß sich die Führer der östreichischen
Partei dabei geflissentlich im Hintergrunde hielten. Man war seit der Ver¬
sammlung zu Eßlingen um eine Erfahrung reicher. Gewisse Namen an der
Spitze hätten von Anfang an die Agitation discreditirt. Die politische Ten¬
denz hätte gar zu offen durchgeschienen, und daß man damit kein Capital mehr
machen kann, hatte eben jene Versammlung deutlich eingeschärft. Somit siel
es zwei Männern, die in politischer Beziehung einen makellosen Namen haben,
zwei anerkannt liberalen Wortführern, den Fabrikanten Ammermüller und
Deffner zu, die Agitation zu leiten. Man war sicher, durch Moriz Mohl, der
überhaupt in den letzten Jahren einen von der östreichischen Partei in die
Demokratie eingetriebenen Keil bildet, den nöthigen Einfluß zu behalten. Mohl
fehlte denn, auch nicht bei den Vorberathungcn. An einer Stelle, die sich
gegen den Handelsvertrag erklärt, fand sich die ausdrückliche Clausel: „wie er
vorliegt". Dies war schwerlich in Mohls Sinn, aber Viele hatten die Clausel
zur Bedingung ihrer Unterschrift gemacht. Man begreift, welche Abschwächung
darin in den Augen eines Mannes liegen mußte, der überhaupt gegen die
bloße Idee eines Zollvertrags mit Frankreich sich empört. Aber auch an sich
darf diese Clausel nicht übersehen werden, um die Bedeutung eines Theils der
Unterschriften richtig zu würdigen.
Mohl hatte nicht unterzeichnet, ebensowenig — aus den angegebenen Grün¬
den — die Herrn vom Reformverein; die Mitglieder des oberschwäbischen ka¬
tholisch-großdeutschen Vereins hatte man sich ausdrücklich verbeten. Nach anderer
Seite war man jedoch weniger wählerisch gewesen. Zwar fehlte es durchaus
nicht an sehr respectablen Namen und Firmen, ja man wird anerkennen müssen,
daß die Mehrzahl der großen Industrie, namentlich die ganze Baumwollspinnerei
aus dieser Seite stand. Aber andrerseits wollte man zugleich durch die Menge
Eindruck machen, es ward eine Art sull'raM universal orgamsirt, und aus
den Städten und Städtchen des Landes Hunderte von Unterschriften aufgenom¬
men, deren Gewicht höchst zweifelhaft war. So ließ man über hundert
Weingärtner der Stadt Stuttgart unterzeichnen, was allerdings gleich ein gutes
Stück gab. Daß man aus einem kleinem Städtchen, dessen Gewerbverein sich
überdies für den Vertrag ausgesprochen hatte, 168 Unterschriften auszuweisen
hatte, bewies, in welche Regionen die Colporteure sich an manchen Orten
verirrten.
Gleichzeitig mit dieser Gegenagitation wurde nun in der Presse ein gro߬
artiger Sturm gegen den Handelsvertrag orgamsirt, speciell gegen die projec-
tirte Versammlung gerichtet. Denn eine Zeit lang war die Polemik sehr
gelassen geführt worden. Auch in dieser Beziehung suchte man durch die Masse
— der eingesandten Artikel zu wirken. Bald wurde der diplomatische Schleier ein
wenig gelüftet und aus Depeschenauszügen gezeigt, wie unredlich Preußen
an seinen Bundesgenossen gehandelt, bald wurden die Gefahren heraufbeschworen,
die aus dem Vertrag für Württembergs Industrie und landwirthschaftliche Pro-
duction erwüchsen, bald endlich das dringende Interesse nachgewiesen, das
Preußen für sich selbst am Zollverein habe, und das ihm verbiete, mit seiner
Drohung Ernst zu machen. Die Witzigen setzten hinzu: „Bange machen gilt nicht".
Die Freunde des Vertrags wehrten sich tapfer. Da die Fehde zum Theil zwi¬
schen politischen Gesinnungsgenossen geführt wurde, war sie doppelt erbittert.
Das Organ der Opposition, das bisher geschwankt hatte, ging eben in dieser
Zeit völlig in das Lager der Vertragsfreunde über. Dennoch war angesichts
jener rührigen, fast betäubenden Agitation Grund vorhanden, mit einiger Be-
sorgniß dem Ausfall der Versammlung vom 3. Januar entgegenzusehen.
Diese Besorgnisse sollten sich nicht erfüllen. Die Versammlung fiel, sowohl
was Zahl und Bedeutung der Anwesenden als was den Geist der Berathung
betrifft, über Erwarten günstig aus. Es war ähnlich wie in Eßlingen. Waren
dort.die Anhänger der Nationalpartei selbst überrascht, sich in so weit über¬
wiegender, geschlossener Majorität zu finden, so schienen auch hier die Anwe¬
senden überrascht, daß sich in dem schutzzöllnenschcn Schwaben eine so ansehn¬
liche stille Gemeinde für die Annahme des Vertrags gebildet hatte. Alle
Theile des Landes waren vertreten, am schwächsten verhältnißmäßig die Stadt
Stuttgart, am stärksten der Schwarzwald, der für seine bedeutende Ausfuhr von
Holz und Vieh ein besonderes Interesse an der Erhaltung des Zollvereins hat.
Viele waren im ausdrücklichen Auftrag der gewerblichen Vereine erschienen.
Die Industrie und der Handel waren in den verschiedensten Zweigen reprä-
sentirt. Einen politischen Charakter trug die Versammlung nicht, wie auch in den
Verhandlungen der sachliche Charakter durchaus gewahrt blieb. Daß eine
Anzahl Abgeordneter Theil nahm, konnte nicht überraschen. Das Finanzmini¬
sterium bewies sein Interesse an der Versammlung durch die Absendung des¬
jenigen Beamten, der das Referat über den Vertrag geführt und an den
Münchener Konferenzen Theil genommen hatte.
Das Nähere der Debatte ist aus den Tagesblättern bekannt. Es wurden
theils die einzelnen Vertragsbestimmungen, theils die Eventualität der Aus¬
lösung des Zollvereins eingehend besprochen. In ersterer Beziehung zeigte der
Vortrag G.Müllers, der das Hauptreferat übernommen hatte, daß diejenigen
Bestimmungen, welche am lautesten den Wunsch nach Abänderung hervor¬
gerufen, sich, sofern sie für Würtemberg von Bedeutung seien, auf eine sehr kleine
Zahl reducirten. und daß auch diese keineswegs ein solches Gewicht hätten, daß
ihretwegen sich die Gefährdung des Zollvereins rechtfertigen lasse. Niemand
widersprach ihm, als er den Schutz von zwei Thlr. pro Ctnr. für Baumwoll¬
garne von dreißig aufwärts und den Schutz von zehn Thlr. für Tuch- und
Wollengewebe für genügend erklärte, und dem Einwand, der aus der Einfüh¬
rung der Werthzölle für Baumwollgewebe hergeleitet wird, wenigstens damit
die Spitze abbrach, daß die Ausfuhr die Einfuhr um zehn Procent übersteige.
Nur daß die landwirtschaftliche Production im Vertrage ganz übergangen und
keine ausdrückliche Stipulation eine Erhöhung der bisherigen französischen Zölle
ausschließt, wurde als ein Mangel bezeichnet, welcher der Abhilfe bedürfe.
Dagegen wurde mit Berufung auf das Gutachten der Centralstelle für Handel
und Gewerbe eine ganze Reihe von Industriezweigen aufgeführt, die durch den
Vertrag wesentlich gewinnen werden. Ein anderer Redner widerlegte noch ins¬
besondere die Befürchtungen der würtembergischen Weinproducenten und die
Bedenken gegen den vielfach mißbrauchten Artikel 31. So kamen alle für
Würtemberg speciell belangreichen Positionen zur Sprache, allerdings nicht so
eingehend, wie dies der Fall gewesen wäre, wenn eine stärkere Opposition
sich eingefunden hätte. Allein gerade diese Einmütigkeit bewies nur, wie
sehr die Ueberzeugung von der Nothwendigkeit der schließlichen Annahme
des Handelsvertrags schon in weiten Kreisen Wurzel gefaßt hat. Fast
alle Redner erklärten einzelne Abänderungen für wünschenswert). Aber —
dies ist bezeichnend — Niemand wußte solche Abänderungen im Einzelnen
namhaft zu machen, die als unerläßliche Bedingung der Annahme des Vertrags
zu bezeichnen seien, und deren Verweigerung die Ablehnung desselben recht¬
fertige. Auch Staatsrath Goppelt, der das größte Gewicht auf die Erlangung
solcher Abänderungen legte, enthielt sich eines detcullirtcn Nachweises, welche
Bestimmungen abgeändert werden müßten.
Die Rede Goppelts, der im Märzministerium von 1848 Chef des Finanz¬
departements war, bezeichnet einen in Würtemberg weit verbreiteten Stand¬
punkt, der, wäre er früher mit Nachdruck geltend gemacht worden, vielleicht auf
das Vorgehen der Regierung nicht ohne Einfluß gewesen wäre, jetzt aber, nach-
dem die Regierung die Brücke hinter sich abgebrochen hat, schwerlich mehr prak¬
tische Geltung hat. Auch jetzt noch, meinte Goppelt, wäre es möglich, einen
Weg zu finden, auf welchem die Regierung von ihrer schroffen Haltung wieder
umlenken könne, wie es auch der preußischen Regierung nur erwünscht sein
könne, wenn ihr die Brücke zu einer Verständigung geschlagen werde. Gerade
durch die jetzige Ablehnung besitze man eine Waffe, die man nicht ohne
Weiteres aus der Hand zu geben brauche. Schließlich müsse allerdings
der Vertrag angenommen werden, mit oder ohne Abänderungen. Allein es
könne Preußen nicht gleichgültig sein, ob Würtemberg jetzt schon beitrete oder
die Krisis des Zollvereins noch ins Ungewisse verlängere. Würde also Wür¬
temberg jetzt schon seine Geneigtheit aussprechen, den Vertrag im Princip an-
unebenen, würde es zugleich sich bereit erklären, zu einer Reform der Zoll¬
vereinsverfassung die Hand zu bieten, so werde dies Angebot ohne Zweifel
Preußen dazu bestimmen, seinerseits den Wünschen auf Abänderungen im Ein¬
zelnen entgegenzukommen.
Wie gesagt, heute kann dieser Ausweg keine praktische Bedeutung mehr
haben. Gerade Würtemberg hat jede Möglichkeit der gegenseitigen Annäherung-
wie mit Absicht, abgeschnitten. Sind überhaupt noch Abänderungen zu er¬
langen, so kann jedenfalls Würtemberg keine Initiative dazu ergreifen. Das
Erste, was es thun müßte, wäre doch nur die Annahme der Grundlagen des
Vertrags, ein Zurückgehen auf den Standpunkt, auf welchem man seiner Zeit
Preußen die Vollmacht zum Abschluß eines Vertrags ertheilt, ein Aufgeben der
chimärischen östreichischen Vorschläge: mit einem Wort, es wäre ein guter Wille
nöthig, und dies ist eben dasjenige, was man in gewissen Kreisen am wenig¬
sten suchen darf. Selbst daß man dort ein Interesse an der Erhaltung des
Zollvereins habe, wird trotz der Betheuerungen des Herrn v. Hügel neuer¬
dings bestimmt in Zweifel gezogen.
So bleibt denn auch von jener vermittelnden Auffassung nur der praktische
Kern zurück: daß der Handelsvertrag anzunehmen ist, weil seine Ablehnung
gleichbedeutend wäre mit der Auflösung des Zollvereins. Denn darüber herrschte
in der Versammlung keine Meinungsverschiedenheit, daß es Preußen Ernst sei
und Ernst sein müsse mit der Durchführung des Vertrags, unindaß. nachdem
Preußen bereits die entschiedene Mehrheit der Zollvereinsbevölkerung für sich
habe, der Minderheit nichts übrig bliebe, als der Mehrheit sich zu fügen. Von
einer Jsolirung Würtembergs — analog der Schweiz — wagte nur ein Red¬
ner, von einem Zollbündniß mit Oestreich gar keiner zu reden. In der That
sind die Interessen des Landes nach allen Beziehungen so eng und unauflös¬
lich mit dem Zollverein verknüpft, daß eine Zerreißung dieses Bandes von
Freunden und Gegnern des Vertrags für gleich undenkbar gehalten wird-
Die Gegner erkennen nur die richtige Fragstellung noch nicht an, sie läugnen
die Gefahr, sie läugnen, daß Preußen es aufs Aeußerste ankommen lassen
werde. Allein je näher die Kündigungsfrist rückt, um so hinfälliger werden die
Stützen für die Gegner des Vertrags, um so mehr wird die Losung: Erhal¬
tung des Zollvereins, auch um den Preis des Handelsvertrags — die all¬
gemeine werden. Jetzt hat die Agitation erst begonnen, aber jeder Tag, der
die Krisis verlängert, verstärkt das Gewicht ihrer Gründe, und es kann kein
Zweifel sein, daß das Interesse des Landes schließlich über den Eigenwillen
der Regierung den Sieg davon tragen werde, in welcher selbst bekanntlich nur
eine Partei die rücksichtslosen Schritte gegen Preußen durchgesetzt hat.
„Die Oestreicher sind uns weit zuvorgekommen, wir werden zu thun ha¬
ben . sie einzuholen, wenn ihr Fußvolk mit der Artillerie und der Reiterei
gleichen Schritt hält; ich wollte, es hätte sich auch bei mir ein Liechtenstein ge¬
funden!" So soll Friedrich der Große kurz vor dem Ausbruche des sieben¬
jährigen Krieges sich geäußert haben. Und er hatte Recht!
Von Napoleon dem Ersten aber wird erzählt, daß er erklärt habe: „wer
die französische Infanterie, die russische Cavallerie und die östreichische Artillerie
besäße, könnte die ganze Weit erobern." Gegenwärtig würden indeß die Ur¬
theile dieser beiden großen Feldherrn kaum so günstig lauten.
Die östreichische Artillerie, ein aus den Geschützcontingenten der verschie¬
denen Provinzen und den kläglichen Zuflüssen des römischen Reiches bunt ge¬
nug zusammengestöppeltes Wesen, während der kraftlosen Regierung Karls des
Sechsten noch mehr herabgekommen. befand sich bei dem Regierungsantritte
Maria Theresias in einem Zustande, welcher um Weniges besser als jener zur
Zeit des Herzogs von Friedland sein mochte.
Aber die geniale Kaiserin, welche nur in der Wahl ihrer Feldherren nicht
glücklich war, aber für die Leitung der Politik einen Kaunitz und für die
übrigen Zweige der Staatsverwaltung die gediegensten Kräfte zu finden wußte,
wählte auch für ihre Artillerie in dem Fürsten Wenzel Liechtenstein den passend¬
sten Mann. Er war der Neorganisator. oder besser gesagt, der Schöpfer der
östreichischen Artillerie; denn vor ihm hatte eine solche eigentlich gar nicht exi-
stirt. Es ist fast unglaublich, was er während seiner achtzehnjährigen Amts¬
thätigkeit (von 1764—1772) leistete, und das Denkmal, weiches die Kaiserin
dem Fürsten in dem Waffensaale des Wiener Zeughauses setzen ließ, zeigte,
daß die Monarchin den Werth dieses Mannes auch nach seinem Tode an¬
erkannte. Zu jener Zeit kam es nur selten vor, daß Souveräne ihren Unter¬
thanen Denkmale setzten!
Der bekannte preußische Artillcriegeneral und Militärschriftsteller v. Decker
sagt: „Liechtenstein, welcher seiner Zeit um mindestens ein halbes Jahrhundert
vorangeeilt war, machte die östreichische Artillerie zur ersten in Europa."
> Liechtensteins Nachfolger, der Feldmarschall Fürst Kinsky bekleidete den
Posten eines Artilleriedircctvrs durch kein volles Jahrzehnt und hatte mit der
Durchführung der von Liechtenstein hinterlassenen Entwürfe vollauf zu thun.
Er vollendete nur das Werk, welches jener entworfen und auch bereits zum
größten Theile ausgeführt hatte.
Ihm folgte der Graf Colloredo-Waisen, welcher durch volle achtunddreißig
Jahre dem östreichischen Artillcriewescn vorstand und sich des Vertrauens dreier
Monarchen in gleichem Grade, wie einst Liechtenstein, erfreute. Im Anfange
führte er einige wesentliche Verbesserungen des todten Materials seiner Waffe
ein, wodurch das bestehende System in seinen Grundzügen nicht verändert,
wohl aber im Detail vervollkommnet wurde. Dabei blieb es aber auch, und in der
Folgezeit widersetzte sich Colloredo mit der größten Beharrlichkeit allen Neu¬
erungen, besonders wenn solche vom Auslande stammten, mochte ihr Nutzen auch
noch so augenscheinlich sein").
Größere und folgenreichere Aufmerksamkeit wendete er dagegen der Artillerie
als Truppe zu, und so wie Liechtenstein die östreichische Artillerie in Bezug auf
das Material gehoben hatte, so that Colloredo in Bezug auf das Personal
mindestens das Gleiche. Selten hat wohl eine Truppe von gleicher Trefflichkeit
existirt, als das von Colloredo nach und nach auf fünf Regimenter, ein Bombar¬
dier- und ein Feuerwerks- oder Raketeurcvrps vermehrte östreichische Artillerie¬
corps. Das System konnte immerhin zurückbleiben, die Construction der
Lasteten und die taktische Beweglichkeit der Batterien mochte den Anforderungen
der Zeit nicht mehr ganz entsprechen, aber die Tapferkeit und Geschicklichkeii
der Mannschaft glich diese Mängel aus, und so lange die nach Colloredos
Grundsätzen geschulten Artilleristen bei den Liechtensteinischen Geschützen standen,
war ein Hcrabsint'en von der früher erreichten hohen Stufe bei der östreichi¬
schen Artillerie nicht so bald zu besorgen.
Und in der That bewährte die östreichische Artillerie während der nun fol¬
genden Kriege ihren alten Ruf und erwies sich der Artillerie der feindlichen
Heere vollkommen ebenbürtig — ja bei den meisten Gelegenheiten überlegen.
Die technischen Fortschritte, welche die Artillerien anderer Staaten machten,
waren während dieser Epoche verhältnismäßig gering, daher das durch die
höhere Ausbildung der Truppe hervorgebrachte Uebergewicht um so bedeutender
in die Wagschale fiel. Diese Überlegenheit wurde auch allgemein anerkannt,
und es fand z. B. die Nachricht von der Erstürmung der Brücken bei Lodi
und Arcvle nur schwer Glauben, da man es für undenkbar hielt, daß die
Franzosen unter dem Feuer der „ausgezeichneten östreichischen Artillerie" nur
an die Unternehmung eines solchen Wagestückes denken konnten.
Colloredo hegte und pflegte die ihm unterstehende Truppe mit wahrhaft
väterlicher Liebe. Durch den hohen Gehalt seiner militärischen Würden, die
Revenuen seiner bedeutenden Besitzungen und vor Allem durch den Genuß sei¬
ner Pfründen als Großkomthur des Malteserordens im Besitze eines immensen
Einkommens, verwendete er dasselbe zum größten Theile für seine Arenia'
rihten. Er erhöhte aus eigenen Mitteln die 'Löhnung der Unterkanoniere (Ge¬
meinen), schaffte goldene Tressen sür die Hüte der Unteroffiziere und Bombar¬
diere an und testirte, damit diese Benesicien seinen Lieblingen auch für die
Zukunft erhalten bleiben möchten, einen großen Theil seines Vermögens der
Ariillerie. Auch sonst war er sehr freigebig, unterstützte seine Offiziere und
belohnte besonders hervorragende Leistungen mit reichlichen Geschenken. Ob,
schon er bei den Beförderungen das System der Anciennetät aufgestellt hatte
und hiervon nur höchst selten abwich, wußte er doch besonders befähigte Köpfe
herauszufinden und ihren Verdiensten Geltung zu verschaffen. Vega, Savia,
Häring und Unterberger gelangten erst unter ihm und durch ihn zu Namen
und Stellung. Obgleich einer der ältesten Adelsfamilien Oestreichs angehörend
und für seine Person in mancher Hinsicht ein Aristokrat vom reinsten Wasser,
zog er doch, wenn es sich um seine Artillerie handelte, das bürgerliche Element
unbedingt vor und gewährte höheren Adeligen, wenn er auch nicht geradezu
ihren Eintritt verbat, auch nicht die mindeste Begünstigung. Bemerkenswerth ist
auch, daß er in Hinsicht der Nationalität nur das deutsche und slawische Element
duldete, letzterem aber noch den Vorzug gab. Von den Ungarn und Italienern
wollte er nichts wissen. „Die taugen zu den Husaren oder zu den Jägern,"
sagte er, „aber niemals wird man gute Kanoniere, wie ich sie haben will, aus
ihnen machen. Es fehlt ihnen das kalte Blut, die Ausdauer, der unbedingte
Gehorsam und — die Lust zum Lernen. Zwei Sprachen kann einer leicht er¬
lernen, und wenn der Lieutenant auch nicht Böhmisch versteht, so kann es ge¬
wiß die Hälfte seiner Korporale. Was sollte aber geschehen, wenn wir auch
noch Ungarn, Italiener, Wallachen und Zigeuner bekämen. Und wenn ich
auch diese Leute in besondere Compagnien zusammenstellen wollte, wer würde
mir den Artillerieunterricht, Battcriebau und alle andern Vorschriften in alle
diese Sprachen übersetzen?" Wie richtig waren diese Ansichten, und wie weit
ist man in der Neuzeit davon abgewichen!
Der noch jetzt lebende Erzherzog Ludwig wurde nach Cvlloredos Tode
Artillcriedirector. Besaß er auch nicht entfernt das Genie oder die gründliche
artilleristische Kenntniß seiner Vorgänger, so brachten doch seine Leutseligfeit und
der Umstand, daß ein kaiserlicher Prinz an der Spitze der Artillerie stand, der
letzteren manchen Vortheil. Dem Bruder oder Oheim des Kaisers gegenüber
erlaubten sich der Hofkriegsrath und die Finanzbehörden weit geringere Ein-
mengungen. als ein gewöhnlicher General erfahren haben würde. Er trug
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auch aus seinen eigenen Mitteln Vieles zum Besten der Artillerie bei, und das
Verhältniß gestaltete sich noch günstiger, als er zum Mitregenten des Kaisers
Ferdinand — wenn auch nicht dem Namen nach — so doch factisch ernannt
wurde. Von erfahrenen und mitunter sehr intelligenten Offizieren umgeben
und deren Rath beachtend, wurde er vor Mißgriffen und schädlichen Neuerungen
bewahrt. Leider aber wurde er durch diese, allem Althergebrachten mit über¬
großer Vorliebe huldigenden Männer auch von allen nützlichen Reformen zurück¬
gehalten. Und so blieb ziemlich Alles bis zum Jahre 1848 beim Alten.
Denn die etwas gefälligere Außenseite der Geschütze, einige unbedeutende Aen¬
derungen an den Lasteten und bei der Erzeugung der Munition, und eine
zweimalige Umgestaltung der Adjüstirung der Artillerie können doch nicht in Be¬
tracht gezogen werden.
Die östreichische Artillerie stand also beim Beginn der Kämpfe des Jah¬
res 1848 beinahe noch auf demselben Fuße, wie im Jahre 1815, ja vielleicht
wie beim Anfange der französischen Revolutionskriege. Ihr Verhältniß gegen¬
über der Artillerie anderer Staaten aber war ein minder günstiges geworden.
Denn die Letzteren hatten ihr Material bedeutend vermehrt und den Fort¬
schritten der technischen Wissenschaften Rechnung getragen, was — wie erwähnt -
in Oestreich nickt der Fall gewesen war. Und in Bezug auf das Personal lag
bei der östreichischen Artillerie wenigstens darin ein bedeutender Nachtheil, daß
alle Generale und die meisten Stabsoffiziere und Hauptleute lebensmüde, hin¬
fällige Greise waren und daß auf die Möglichkeit einer rasch zu bewirkenden
Erhöhung des Standes der Artillerie keine Vorsorge getroffen worden war.
Es gab Infanterie-, aber keine Artillerie-Landwehren oder Reserven. Waren
also die Mannschaften der im Frieden und Kriege gleich starken Regimenter ver¬
braucht, so war kein Ersatz derselben vorhanden.
Es dürfte hier am Orte sein, eine kurze Skizze der Organisation, der
dienstlichen und socialen Verhältnisse der östreichischen Artillerie zu jener Zeit
zu geben, um so mehr, da diese Darstellung für einen Zeitraum von mehr als
fünfzig Jahren — natürlich mit Ausnahme der wechselnden Zahl und Stärke
der einzelnen Regimenter — anwendbar ist und nur dadurch die allmälige Ent¬
wicklung der gegenwärtigen Zustände begreiflich wird.
Die Zahl der Artillerieregimenter betrug, wie schon erwähnt, bei Cvllore-
dos Tode fünf und blieb bis zum Jahre 1854 ungeändert. Jedes Regiment
bestand aus dem Stäbe und aus achzchn Compagnien. Der Stand der Com¬
pagnien war für den Friedens- und Kriegsfuß mit 205 Köpfen normirt, doch
konnten im Frieden 45 Mann mit zweijährigem Urlaub in die Heimat geschickt
werden. Es war diese eigenthümliche Art der Beurlaubung eine der Artillerie
Zugestandene besondere Begünstigung. Der Mann wußte, daß er nur im Falle
eines Krieges einberufen würde, konnte also eher sein Handwerk wieder aus-
nehmen und fand auch leichter eine gute Unterkunft, als der beurlaubte Sol-
dat einer andern Truppe, welcher alljährlich zur Exercirzcit, oft aber noch
früher nach der bloßen Laune seines Hauptmannes einberufen wurde.
Die Mannschaft der Artillerieregimenter war ausschließlich zur Bedienung
der Geschütze und zur Verrichtung artilleristischer Arbeiten bestimmt, hatte aber
mit der Bespannung nichts zu thun. Eine eigentliche reitende Artillerie existirte
in Oestreich niemals, und die Feldbattcrien wurden im Bedarfsfalle von dem
einen abgesonderten Körper bildenden Militärfuhrwesen bespannt.
Indeß waren die Ansprüche, welche an die Geschicklichkeit der Artilleristen
gestellt wurden, bedeutend höher, als bei jenen Armeen, bei welchen das so¬
genannte Batteriesystem eingeführt war. Der Kanonier mußte für alle Zweige
des Artilleriedienstcs gleich verwendbar sein. Da nun die Compagnien sehr
stark waren, die Batterien aber nur aus sechs Geschützen bestanden, welche über¬
dies) eine sehr schwache Bemannung erforderten, so war es ein leicht möglicher
Fall, daß eine einzige Compagnie eine sogenannte Cavalleriebatterie und eine zwölf-
pfündige Batterie besetzen mußte, der Rest aber in eine Festung commandirt
und heute in einem Laboratorium und bei dem Baue einer Schanze, morgen
aber zur Bedienung einer Mörserbatterie oder bei einem Ausfalle zur Zerstörung
der feindlichen Arbeiten verwendet wurde. Dazu kam noch, daß die Zahl der
Chargen sehr gering war. So wurde eine Feldbatterie von einem Lieutenant
befehligt, und in Festungen stand oft die Artillerie eines großen, mit vielen Ge¬
schützen armirten Werkes nur unter der Leitung eines Feuerwerkers oder Cor-
porais. Der Artillerist mußte also sehr vielseitig ausgebildet sein und große
Erfahrung und Selbständigkeit besitzen, um allen an ihn gestellten Anforderungen
zu entsprechen. Daß dieses aber im Allgemeinen auch wirtlich geschah, war
eben nur bei der langen Dienstzeit der Mannschaft, bei der damaligen Ein¬
richtung des Dienstes und bei der fast übertriebenen Strenge, mit welcher der
Unterricht betrieben wurde, möglich.
Noch unter dem Generalissimus Erzherzog Karl war die Dienstzeit in dem
östreichischen Heere auf vierzehn Jahre festgesetzt worden. Doch war der Sol¬
dat nach Beendigung dieser Dienstzeit noch bis zu seinem 38. Jahre zum Ein-
tritte in die Landwehr verpflichtet. Da es keine Landwehrartillerie gab, so
mußte der Artillerist bei einem Jnfanteriebataillo» eintreten und zwar obendrein
als Gemeiner, wenn er auch selbst den Grad eines Feuerwerkers bekleidet hatte!
Daher zogen die Meisten, selbst wenn sie keine Aussicht auf Beförderung hatten,
es vor, bis zum Aufhören der Landwehrpflichtigkcit bei der Artillerie zu ver¬
bleiben oder gleich nach Beendigung ihrer Liniendienstzeit sich als Stellvertre¬
ter auf weitere vierzehn Jahre anwerben zu lassen. Zudem aber existirte in
der Artillerie noch eine lebenslängliche Kapitulation. Gegen ein Handgeld von
45 Gulden opferte so mancher Leichtsinnige seine Zukunft und verpflichtete
sich für sein ganzes Leben dem Soldatendienste! Auch wurde den Unteroffizieren
und selbst den Kanonieren die Heirathsbewilligung ziemlich häusig ertheilt, jedoch
nur gegen die Verpflichtung einer freiwilligen Verlängerung der Dienstzeit.
Die bei der damals fast in der ganzen Monarchie herrschenden Wohlfeilheit
sehr ansehnliche Löhnung, der im Ganzen wenig anstrengende Dienst, die
Hoffnung auf Beförderung oder auf ein sorgenfreies Greisenalter (durch Ver¬
setzung zu der später zu erwähnenden Garnisonsartillerie). der ganz vorzügliche
— wenn auch etwas pedantische Corpsgeist und bei Vielen wohl auch die Ueber¬
zeugung, nach einer so langen Militärdicnstzeit zu keinem andern Berufe mehr
tauglich zu sein, vermehrten noch die Zahl der ihre Dienstzeit Verlängernden,
und so gab es bei keiner Truppe so viele Veteranen, als bei der Artillerie.
Korporale und Kanoniere, welche dreißig Jahre und darüber dienten, waren
bei jeder Compagnie zu finden, und die höheren Unteroffiziere und die meisten
Offiziere mußten schon des überaus langsamen Avancements wegen eine nam¬
hafte Dienstzeit durchgemacht haben.
Gab eine so lange Dienstzeit hinlängliche Gelegenheit, die verschiedenen
Zweige des Artillericdienstes praktisch kennen zu lernen, so war man doch auch
bemüht, selbst die gemeine Mannschaft durch unausgesetzten Unterricht theo¬
retisch auszubilden, und der Artillerist war während seiner ganzen Dienstzeit
mehr Schüler und Lehrer, als wirklicher Soldat.
Fünf Monate jedes Jahres wurden von dem Exerciren, den Schießübungen
und den Schanzarbeiten in Anspruch genommen. Die Mannschaft wurde hierbei
nach dem Grade der bereits erlangten Fertigkeit in drei Classen, „Vorzügliche,
ältere Mannschaft und Rekruten" eingetheilt. Erst nach einer dreijährigen Dienst¬
zeit wurde der Mann, selbst wenn er bereits zum Kanonier vorgerückt war,
nicht mehr zu den Rekruten gezählt. Zu den „Vorzüglichen" aber gehörten
nur wenige Glückliche. Dadurch wurde allerdings ein reger Eifer, aber auch
Eigendünkel und Kastengeist erzeugt. Sowie in der ganzen Artillerie überhaupt
das alte Zunftwesen der Büchsenmeister noch üppig fortblühte, so fand man
auch hier in der untersten Sphäre Meister, Gesellen und Lehrjungen.
Weitaus den größten Theil des Jahres aber brachten die Artilleristen in
den Schulen zu. Der Hauptgegenstand, welcher in den Compagnieschulen ge¬
lehrt wurde, war der sogenannte Artillerieunterricht. Derselbe enthielt die
Kenntniß des Geschützes, die Anleitung zum Bau von Batterien, die Ele¬
mentartaktik der Artillerie, sowie die Anfangsgründe der Geometrie und zerfiel
in vier oder sechs Classen. Erst nach abgelegter befriedigender Prüfung wurde das
Vorrücken in eine höhere Classe gestattet und das Aufrücken vom Unterkanvnier
zum Kanonier hing von dem Fortschritte in den Schulen ab. Tapferkeit und
anderweitige Verdienste wurden nicht durch Beförderung, sondern durch Medaillen
und Geldgeschenke belohnt. Uevrigens hatte der Grundsatz: „Nur derjenige
kann vorwärts kommen, welcher etwas gelernt hat" die besten Folgen, Die
Artillerie stand darum bei dem Bürgerstande in besonderem Ansehen. Man
wußte, daß nur dem Verdienste, wenn gleich dasselbe ziemlich einseitig war,
der Weg zu einem zwar langsamen, aber sicheren Emporkommen offen stand.
Auch sah man in der Artillerie die einzige Truppe, welche in allen ihren
Schichten dem Bürger- und Bauerstande entstammte, da selbst die meisten Gene¬
rale und Stabsoffiziere Bürgerliche waren. Dafür mied auch der Adel, zumal
der höhere, die Artillerie. In dem ganzen Corps befanden sich jederzeit höch¬
stens zwei bis drei Grafen, einige wenige Barone und mehre — gewöhnlich
blutarme — niedere Adelige.
Es gab zwar auch in der Artillerie Eadetten, und die Zahl derselben war
sehr groß, da Geburt und Vermögen bei ihrer Aufnahme nicht maßgebend
waren; aber sie genossen auch nicht die mindeste Begünstigung, daher sie sich
fast nur aus verunglückten Studenten , und thatendurstiger Handlungscommis,
Beamten- und Offizierssöhnen rekrutirten. Jene jungen Leute dieser Kategorie,
welche nicht als Eadetten aufgenommen werden konnten, traten häufig freiwillig
als einfache Unterlanoniere ein. Daher besaß die Artillerie in ihren Elementen
weit mehr Intelligenz, als jede andere Truppe, und es hätte Großes erzielt
werden können, wenn man diese Kräfte besser auszubilden und zu verwenden
gesucht oder verstanden hätte. Manche dieser jungen Leute erlangten allerdings
mit der Zeit eine höhere Stellung; aber ein großer Theil verunglückte, oft eines
einzigen Jugendstreiches wegen, häusiger aber nicht durch eigene Schuld —
sondern erdrückt von dem nach und nach eingerissenen Systeme der engherzigsten
Pedanterie und eines verrotteten Zopfgeistcs.
Denn kleinliche Formenhascherei und aberwitziges Schulmeisterthum hatten
es endlich dahin gebracht, daß man nicht auf das Können, sondern nur
auf das Lernen Rücksicht nahm, daher das wirkliche Talent, welches die ihm
ertheilte Aufgabe spielend löste, oft schlechter fuhr als der Dummkopf,
wenn dieser einen unermüdlichen, wiewohl ganz unfruchtbaren Fleiß an den
Tag legte!
Außer dem Artillerieunterrichte wurde in den Compagnicschulen den ganz
ungebildeten Leuten Unterricht in der deutschen Sprache, dem Lesen und
Schreiben, dann in den vier Species, den Schülern der höhern Classen aber
in den Anfangsgründen der Algebra, dem Linearzeichnen und der Militärstilistik
ertheilt. Mochte es sich auch komisch ausnehmen, wenn man Leute in einem
mitunter ziemlich vorgerückten Alter, die seither nur den Spaten, den Säbel
und das Ladzeug zur Hand genommen hatten, mit Zirkel und Reißfeder Han¬
thieren und sich mit dem Ausziehen der Quadratwurzel abmühen sah; so blieb
doch bei dem beschränktesten Kopfe von dem ewigen Wiederholen etwas hängen,
und so besaß denn selbst der gemeine östreichische Artillerist in der Regel eine
weit über seinen Stand gehende Bildung. Freilich erzeugte dieses nur zu oft
einen maßlosen Eigendünkel, und die guten Leute hielten sich wirklich sür aus¬
gemachte Gelehrte, weil sie einige mathematische Formeln auswendig gelernt
hatten und zur Noth die Eselsbrücke lnnzeichnen konnten.
Doch hatte selbst dieser Dünkel sein Gutes, indem er Liebe zur Waffe
und einen Corpsgeist erzeugte, wie solcher gegenwärtig nur selten zu finden
sein dürfte. Hatte ein Kanonier irgend eine unehrenhafte oder gemeine Hand¬
lung begangen, so wurde er gewiß von seinen Kameraden schärfer als von seinen
Vorgesetzten gezüchtigt, nicht weil er das Gesetz übertreten, sondern weil er
seinen Kameraden Schande gemacht und sich nicht als „ein braver Kanonier"
benommen hatte. Gröbere Vergehen kamen überhaupt nur selten vor, da
jeder Kanonier, welcher eine entehrende Strafe erhalten hatte oder auch ein nicht
zu besserndes moralisches Gebrechen besaß, so bald als möglich als Gemeiner
zur Infanterie versetzt wurde.
Eigenthümlich war es auch, daß Juden nur ausnahmsweise zur Artillerie
assentirt werden durften, man hielt sie sür zu furchtsam und zu schwächlich. Ja
diese Judenscheu ging sogar so weit, daß die Schildwachen an den Thoren der
Artilleriekasernen noch vor wenigen Jahren den Auftrag erhielten: „Juden,
Bettler und anderes verdächtiges Gesinde!" nicht einzulassen.
In der Neuzeit ist man toleranter geworden: es befinden sich jetzt gerade
bei der Artillerie verhältnismäßig die meisten Jsraeliten, und dieselben rücken
fast durchgängig sehr rasch zu Unteroffizieren vor.
Diejenigen Schüler der höchsten Classen der Compagnieschulen, welche sich
hierzu meldeten und zu einer weiteren Ausbildung geeignet erschienen, wurden
in die Negimentsschulen aufgenommen. Diese Letzteren bildeten einen zwei-,
früher sogar eine» dreijährigen Lehrcurs und wurden mit außerordentlicher
Strenge geleitet. Hier war der Hauptgegenstand die Mathematik, von welcher
die Arithmetik und Algebra, Geometrie, Trigonometrie und die Curvenlehre
in sehr umfassender Weise tradirt wurden. Außerdem wurden der Artillerie-
untcrricht, die Anfangsgründe der Befestigungskunst, Linear- und Planzeichnen,
Militärstilistik und Kenntniß der verschiedenen Reglements und Dienstinstruc-
tionen vorgetragen, doch wurde aus diese zum Theil wichtigen Gegenstände wenig
Gewicht gelegt, sondern vor Allem Fortschritte in den mathematischen Studien
verlangt. Die Strenge, welche in diesen Schulen herrschte, war außerordent¬
lich groß. Das geringste Vergehen oder eine einzige schlecht bestandene Prüfung
zog die augenblickliche Entfernung des betreffenden Schülers nach sich, und
diesem blieb nun in der Artillerie beinahe jeder Weg zum weiteren Fortkommen
versperrt. War jedoch diese zweijährige — wahrhaft herbe Prüfungszeit überstanden,
so wurden die minder vorzüglichen jungen und alle älteren Schüler zu Corporalen
befördert, und damit war — wenigstens in den meisten Fällen — ihre alli-
tcirischc Laufbahn abgeschlossen. Denn für den Corpora! in der östreichischen
Artillerie war das bekannte: „Wer es erst zum Corporal hat gebracht ze."
vollkommen unanwendbar. Er mochte noch so geschickt, thätig und tapfer sein,
ihm stand in der Regel höchstens die Beförderung zum Feldwebel vor Augen.
Da aber jede Compagnie nur einen Feldwebel hatte und dieser seine Verhältnißmäßig
einträgliche Stelle in der Regel vor dem Eintritt in das höchste Greisenalter
nicht leicht aufgab, so kann man ermessen, wie selten ein Corporal diesen
Posten erreichte.
Die jüngsten und intelligentesten Zöglinge der Regimentsschulen aber wur¬
den zu Bombardieren befördert und in das Bombardiercorps, die Pflanzschule
der Artillerieoffiziere, versetzt.
Dieses Bombardiercorps hatte eine Stärke'von über tausend Mann, die
einzelne Compagnie bestand aus 120 Bombardieren, 36 Feuerwerkern, 24 Ober-
feuerwerkern und 6 sogenannten k. k. Kadetten, 2 Tambouren und 4 Offi¬
zieren. Der Bombardier galt als „der vorzüglichste Gemeine der Armee",
war also dem Corporal subordinire, avancirte aber in der Regel sogleich zu
dem im Feldwebclrangc stehenden Feuerwerker. Der Oberfcuerwerker war der
Vorgesetzte- des Feuerwerkers, verrichtete, wenn er einer Batterie oder Artillerie¬
compagnie zugetheilt war. den Dienst eines Offiziers und wurde im Falle der
Invalidität als Offizier pensionirt.
Der neubeförderte Bombardier hatte immer eine drei- oder mindestens
zweijährige Dienstzeit zurückgelegt, wurde aber demungeachtet längere Zeit als
Neuling behandelt und zugleich zur Fortsetzung seiner Studien angehalten.
Die Schulen umfaßten einen Lehrcurs von fünf Jahren, und der Hauptlehr¬
gegenstand war die Mathematik, welche mit einer Gründlichkeit und in einer
Ausdehnung, wie kaum an irgend einer polytechnischen Lehranstalt behandelt
wurde. Neben der niedern und höhern Arithmetik und Geometrie, Clementar-
und höheren Mechanik wurden noch Terrainlehre, die Perspective, Befestigungs¬
kunst, Pyrotechnik und höhere Artillcrielehre, Taktik und Geographie gelehrt.
An der Spitze aller Lehrer stand ein Stabsoffizier als „?roksssor matkvsvos"
welcher an der Wiener Universität das Doctordiplom erlangt haben mußte.
Die Strenge, womit diese Schulen gehandhabt wurden, war sehr groß; doch
wurde hier mehr auf den Erfolg, als auf das Lernen selbst geachtet und der
Besuch der Schulen nicht zur unabweislichen Pflicht gemacht. Derjenige, welcher
keine Lust oder nicht die Fähigkeit zur Fortsetzung der Studien besaß, wurde
hiervon auf sein eigenes Ansuchen, im Falle eines begangenen Vergehens aber
auf Befehl des Corpscommandanten, ausgeschlossen und unter die Classe der
sogenannten praktischen Bombardiere, welche den größten Theil des Dienstes
zu bestreiten hatten, versetzt, verlor aber auch den Anspru.h auf Beförderung.
— Denn der Bombardier konnte nur dann, wenn er diesen fünfjährigen Lehr-
curs wenigstens mit ziemlich guten Zeugnissen absolvirt hatte, zum Feuerwerker
befördert werden! Für diese Aspiranten und die jüngsten Feuerwerker bestand
jedoch noch ein obligater zweijähriger Lehrcurs für Physik und Chemie, fran¬
zösische Sprache und Geschichte, Erst nach einer Zeit von wenigstens vier
Jahren erfolgte die Beförderung zum Oberfcuerwerker und nach einer fast
gleichen Frist jene zum Lieutenant.
So dauerte es also unter den günstigsten Verhältnissen fünfzehn bis sech¬
zehn, gewöhnlich aber gegen zwanzig Jahre, bevor der Artillerist das Ziel
seiner Wünsche, das goldene Porteepee erreichen konnte!
Nur die schon onväbnten k. k. Kadetten, „Kaiser-Cadctten" genannt, hatten
ein etwas rascheres Fortkommen zu erwarten. Die Stellung dieser Leute war
eine eigenthümliche und hatte viele Ähnlichkeit mit jener der preußischen Porte-
<zy«zefähnriche. Nur jene gewöhnlichen Cadetten, welche Söhne verdienter Artil¬
lerieoffiziere waren, hatten auf die Ernennung zu k. k. Cadetten Anspruch. Sie
verrichteten sodann den Dienst der Feuerwerker, trugen aber die Uniform der
Oberfeuerwerker und wurden gleichzeitig mit denselben zu Oberoffizieren beför¬
dert. Doch verging auch bei ihnen eine Zeit von acht bis zehn Jahren von
dem Eintritt? bis zur Erlangung des Offiziersgrades.
Das Bombardiercorps war somit gleichzeitig eine Militärakademie und
eine für den activen Dienst bestimmte Truppe. Denn alle Individuen dieses
Corps waren wirkliche Soldaten. In Friedenszeiten war zwar nur ein Theil
der ältesten Ober- und Unterfeuerwerker in den Laboratorien und Regimcnts-
schulen zur Aufsicht und als Lehrer angestellt; im Kriege aber mußten auch du
Bombardiere und die übrigen Unteroffiziere ausrücken. Sie wurden dann theils
bei den Feldbatterien, theils bei den Belagerungsparks und in Festungen
verwendet.
Waren die Offiziere, welche die Artillerie aus dem Bombardiercorps erhielt,
eben nicht besonders salonmäßig und selbst in wissenschaftlicher Beziehung
ziemlich einseitig ausgebildet, so hatten sie doch das, was sie gelernt hatten,
gründlich inne, waren also jedenfalls tüchtige Fachmänner und zeichneten sich
vor den Zöglingen einer Akademie durch Erfahrung und Selbständigkeit vor¬
theilhaft aus. Auch der jüngste Artillerieoffizier war in jedem Zweige seines
vielumfassenden Berufes vollkommen bewandert.
Es scheint allerdings eine harte Aufgabe für einen jungen Menschen zu
sein, sieben bis acht Jahre als Kanonier und Bombardier — also als Gemeiner
— hinzubringen! Aber die jungen Leute tröstete nicht nur die Allgemeinheit
ihres Schicksales, sondern auch die Ueberzeugung, mit der Beförderung zum
Feuerwerker ihre Zukunft gesichert zu haben. Denn von dieser Charge an
gegangen ging das Avancement bis zu den höchsten Stellen der Artillerie nach
der Anciennetät fort. Die pecuniäre Stellung aber konnte jeder auf verfehle-
dene Weise leicht verbessern, und es wurde ihm bei dem Bestreben hierzu von
seinen Obern die möglichste Unterstützung gewährt. Die Einen ertheilten den
Söhnen reicher Bürger in den verschiedensten Gegenständen Unterricht, während
Andere bei Ingenieuren und Fabriken als Zeichner beschäftigt waren, oder
wenigstens durch Abschreiben und Coloriren sich Einiges verdienten. Mehre
Bombardiere und Feuerwerker wurden nachmals als Professoren an verschiedenen
Lehranstalten angestellt*).
Von den Artillerietruppen, welche in Oestreich zu jener Zeit noch bestan¬
den, sind noch das Feucrwerkcorps, das Feldzeugamt und die Garnisvnsartil-
lerie zu bemerken.
Ersteres, zur Bedienung der im Jahre 1810 durch den damaligen Major
Augustin aus England gebrachten Kriegsraketen bestimmt, bestand aus fünf
Compagnien, welche so wie jene der Artillerieregimenter organisirt waren. Man
hat viel von dem Geheimniß, welches bei der Erzeugung der östreichischen
Kricgsraketen. beobachtet werde, und von deren Vortrefflichkeit gefabelt. Indeß
dürfte der Grund der vergleichsweise etwas besseren Leistungsfähigkeit der
östreichischen Raketen wohl nur in der guten Ausbildung der Raketeure und
der Großartigkeit der Raketenfabrik in Wiener-Neustadt zu suchen sein.
Uebrigens haben die Raketen durch die in den letzten Kriegen gemachten Er¬
fahrungen, besonders aber durch den Tod des Feldzeugmcisters Augustin, welcher
das Naketeurwesen mit fast unbegrenzter Vorliebe Pflegte, einen argen Stoß
erlitten.
Das Feldzeugamt, die erzeugende Artillerie, umfaßte die Geschützgießereien,
Gewehrfabriken und den größten Theil der Artilleriewerkstätten, bestand dem¬
nach nur aus Ouvriers und den zu der Leitung der verschiedenen Arbeiten
erforderlichen Offizieren, stand jedoch bei seiner Dienstleistung mit der Gar-
nisonsartillcrie in engster Verbindung.
Die Garnisonsartillerie bestand aus vierzehn Districten. welche sich in den
Provinzhauptstädten und den wichtigsten Festungen befanden. Sie hatte die
Aufbewahrung und Verwaltung aller Artillerievorräthe zu besorgen und nahm
auch an der Erzeugung derselben Antheil. Im Kriege sollte sie aber auch bei
der Vertheidigung der Festungen mitwirken. Sie ergänzte sich aus Individuen
der Feldartillerie, welche für den Dienst bei der letzteren nicht mehr geeignet
waren und nicht krüppelhaft genug schienen, um in ein Jnvalidenhaus auf-
genommen zu werden. Offiziere wurden auch wohl moralischer Gebrechen
wegen zur Garnisonsartillerie versetzt. Dieselben bezogen zwar eine etwas
geringere Gage, hatten aber dafür die Gewißheit, bis an ihr Lebensende in
einer ziemlich behaglichen Stellung verbleiben zu können. Daher waren Leute
mit mehr als fünfzigjähriger Dienstzeit und siebzig- bis achtzigjährige Greise
eine ganz gewöhnliche Erscheinung. So starb vor mehren Jahren in Ollmütz
ein Corporal, welcher 72 Jahre gedient hatte, und in einer kleinen dalmatini¬
schen Stadt befand sich einst ein aus dreizehn Individuen bestehendes Detasche-
ment Garnisonsartillerie, zwei Offiziere, vier Unteroffiziere und sieben Kano¬
niere, welche zusammen gerade 800 Jahre alt waren!
Was man von den physischen Leistungen solcher Greise und Krüppel
erwarten konnte, läßt sich leicht vorstellen. Indessen haben sie hin und wieder,
besonders während des letzten ungarischen Krieges sich über Erwarten wacker
gehalten.
Betrachtete man diesen Theil der Artillerietruppen nur als ein Invaliden-
corps, in welchem verdiente Krieger den Rest ihrer Tage verbringen konnten,
ohne sich von der Gesellschaft ihrer Kameraden und der gewohnten Ausübung ihrer
Berufsgeschäfte gänzlich trennen zu müssen, so war die Garnisonsartillerie
gewiß ein ebenso wohlthätiges als zweckmäßig eingerichtetes Institut. Sie ge¬
währte den Artillerieveteranen eine bessere Existenz, als ihnen ein Invaliden-
Haus bieten konnte, ohne daß dadurch der Staatsschatz um ein Bedeutendes
höher belastet wurde. Und zudem leisteten die Offiziere und Soldaten dieser
Truppe — wenn auch wenig — so doch immerhin etwas.
Aber man hatte der Garnisonsartillerie die Verwaltung und theilweise
Erzeugung des Artilleriematerials übertragen, und sie übte dieses Geschäft aus,
ohne unter einer genügenden Controle, oder selbst nur einer entsprechenden
höheren Leitung zu stehen. Dadurch wurden dem Unterschleife, der Bestechlich¬
keit und der Nachlässigkeit alle Pfade geebnet. Die Höheren übten entweder
den Betrug in der größten Ausdehnung aus, oder waren zu schwach, der Pflicht¬
verletzung ihrer Untergebenen hindernd und strafend entgegenzutreten, und die
Niedern benutzten jede Gelegenheit, wo sie auf Kosten des ihnen anvertrauten
Gutes ihren Bortheil befördern konnten. Der beständige Aufenthalt in dem¬
selben Orte, die Anwesenheit einer übergroßen Anzahl von Weibern und Kin¬
dern (da besonders die Verheiratheten nach der Versetzung in „das Zeughaus"
strebten) und die geringe Beachtung, welche die höheren Vorgesetzten dem
Dienstbetriebe bei der Garnisonsartillerie schenkten, trugen vereint dazu bei,
in dieser Truppe einen ächt spießbürgerlichen Geist zu erzeugen. Daher waren
Klatschsucht, Neigung zum Trunke. gemeines Betragen, Geiz und Servilismus
noch die geringsten Fehler eines großen Theiles der Garnisonsartilleristen aller
Grade. Man erkannte dies selbst in der übrigen Artillerie so gut, daß
man, wenn man ein recht verwahrlostes und aller militärischen Tugenden ent¬
behrendes Subject mit dem gehörigen Namen bezeichnen wollte, dasselbe als
„sür die Garnisonsartillerie ganz reif" erklärte.
Abgesehen jedoch von den Mängeln, welche dem letztgenannten — übrigens
der Zahl nach unbedeutenden — Theile der östreichischen Artillerie anhingen, ver¬
diente die letztere im Ganzen noch immer die Achtung, welche man ihr schon seit
alter Zeit im In- und Auslande gezollt hatte. Die theoretische und praktische
Ausbildung der einzelnen Individuen konnte eine vortreffliche genannt werde»,
und die Tapferkeit und Treue des ganzen Corps waren unbestreitbar.
Hier konnte man von einem Corpsgeiste im wahren Sinne des Wortes
sprechen, wenn er auch zuweilen nur zu sehr den Charakter eines starren,
unduldsamen Kastengeistes annahm, und Selbstüberschätzung, blinde Verehrung
des Althergebrachten und Pedanterie offen hervortraten. Besonders die beiden
letzten Eigenschaften machten sich häusig bemerkbar, und schon die Bekleidung
der Artillerie deutete darauf hin. In der That erinnerte auch die Unifvrmirung
der östreichischen Artillerie selbst noch im Beginne des zweiten Drittels dieses
Jahrhunderts sehr lebhaft an die Constabler aus dem Zeitalter des Prinzen Eugen.
Ein graubrauner — rehfarbiger — Frack mit rothem Kragen und Auf¬
schlägen und gelben numerirten Knöpfen, weiße enge Beinkleider, Kniestiefel,
eine Halsbinde von Roßhaar mit einem breiten weißen Vorstöße und ein Hut
n. iij, (noi'LCtt von einer wahrhaft schauerlichen Form und Große — vorn mit
einer faustgroßen Rosette von gelber Wolle und einem schuhlangen Federstutze,
bei den Unteroffizieren auch noch mit Tressen von verschiedener Breite geziert,
bildeten die Bekleidung der östreichischen Artilleristen. Tornister und Feuer¬
gewehre wurden nicht getragen, jedoch hing der eng zusammengeschnürte Mantel
gleich einem Nänzchen quer über dem Rücken des Mannes.
Die Bewaffnung bestand blos aus einem Jnfantcricsäbel, welcher an einem
weißen Wehrgehänge getragen wurde. Die Bombardiere und Kanoniere trugen
außerdem an einem Bandelier das sogenannte Besteck, eine lederne Hülse, in
welcher sich ein messingener Kaliberstab und ein Reißzeug befanden.
Als ein besonders auffallendes Erinnerungszeichen an die Zopfzeit mußte
endlich der Haselstock bezeichnet werden, welcher nicht nur wie bei den übrigen
Truppen von den Korporalen, sondern auch von den Bombardieren und Kano¬
nieren getragen wurde; die Feuerwerker trugen ein spanisches Rohr mit einem
großen Knopfe von Elfenbein. Ging der Artillerist auf der Straße spaziere»,
so mußte er die linke Hand an den Griff seines Säbels legen, mit der rechte»
aber de» Stock oder das Rohr beinahe wagrecht vorgestreckt tragen.
Die Offiziere waren auf gleiche Weise uniformirt, nur trugen sie Degen
und Sturmhüte, zur kleinen Uniform dursten sie schwarze Beinkleider und lange
Kapots tragen.
Kein Artillerist durfte einen Schnurrbart tragen. Das Tabakrauchen war
in und außer Dienst strengstens verpönt, das Schnupfen dagegen gestattet, und
in früherer Zeit wurde sogar der Mannschaft Schnupftabak verabfolgt.
Erst im Jahre 1838 wurde die soeben beschriebene Adjüstirung wesentlich ab¬
geändert. Die Farbe der Fracks wurde dunkelbraun, und an die Stelle der
weißen Kniehosen traten lichtblaue Pantalons mit rothen Streifen. Die
Offiziere erhielten Schleppsäbel und blaue Pantalons mit Goldtressen. Dagegen
wurden die Hüte, die Stöcke und Röhre, die unbequeme Halsbinde und die
Bestecke beibehalten.
Doch hatte das System, nach welchem die östreichische Artillerie organisirt
war, auch große und unverkennbare Schattenseiten.
Die Offiziere, besonders jene der höheren Grade, waren in der Regel
so alt, daß sie nur ausnahmsweise noch die hinlängliche Kraft und Beweglich¬
keit bewahrt hatten. Allerdings verfuhr man bei der Auswahl der Befehls¬
haber ziemlich haushälterisch, indem man z. B. einer Batterie von sechs Ge¬
schützen nur einen Offizier und fünf Unteroffiziere zutheilte, man also die
Jüngsten und Rüstigsten aussuchen konnte.
Die Compagnie bildete, wie erwähnt, zwei bis drei Batterien, wobei der
Hauptmann, der Feldwebel und die Tamboure ohne Verwendung und daher in
dem Garnisonsvrte des Regiments zurückblieben. Der Hauptmann, der Bater
seiner Compagnie, welcher den Soldaten mit gutem Beispiele voranleuchten
und alle Gefahren und Entbehrungen mit ihnen theilen soll, schickte also gleich¬
sam Andere für sich hinaus, begann gerade bei dem Ausbruche eines Krieges
das Leben zu genießen und konnte sich dem ungestörtesten Nichtsthun über¬
lassen, wofern er nicht zufällig in eine Festung oder zu einem Artilleriepark
beordert wurde. Auch von den höher» Offizieren rückten nur einige in das
Feld, während die Mehrzahl, vor allen Gefahren und Anstrengungen geschützt,
bei den Depots zurückbUeb.
Dieses Verhältniß mußte auf die Gesinnung der Untergebenen gegen ihre
Vorgesetzten jedenfalls einen nachtheiligen Einfluß ausüben. Allerdings beruhte
die Thätigkeit der Artillerie auf den Subalternoffizieren und Unteroffizieren,
also auf Männern, welche im besten Mannesalter standen; aber es fehlte doch
immer der von oben ausgehende belebende Impuls und eine Alles umfassende,
kräftige Leitung, und die Offiziere, durch das Gefühl ihrer untergeordneten
Stellung bedrückt und die zu übernehmende Verantwortung scheuend, begnügten
sich rin Allgemeinen damit, ihre Pflicht zu erfüllen und wagten sich selten über
ihre Sphäre hinaus. Daß übrigens nicht Alle so handelten, zeigte die verhältni߬
mäßig große Menge der Theresienordenstreuze, welche nach jedem Feldzuge
an subalterne Artillerieoffiziere verliehen wurden. Dieselben hatten gewöhnlich
eben das gethan, was eine Pflicht ihrer altersschwachen Vorgesetzten gewesen wäre.
Doch nickt nur im Felde, sondern auch in vielen andern Fällen bezeigte
ein großer Theil der Artilleuevffiziere eine ähnliche Lauheit oder, wenn sie
auch ihren Dienst gewissenhaft verrichteten, nur ein geringes Vorwärtsstreben.
Und es konnte auch nicht anders sein. Sowie die höchste Tapferkeit im gün¬
stigsten Falle nur mit einem Orden, nie aber durch Beförderung belohnt
wurde, so hatte auch derjenige, weicher sich durch den regsten und erfolgreichsten
Diensteifer oder durch die ausgezeichnetsten Leistungen auf dem Gebiete der
Wissenschaft hervorthat, keine Bevorzugung zu erwarten. Jeder avancirte nach
seiner Rangstour, mochte er nun eifrig oder träge, kenntnißreich oder ungebildet
sein, und nur zuweilen machte man eine Ausnahme, indem man ein Indivi¬
duum, dessen moralische Gebrechen allzu auffallend waren, für einige Zeit von
der Beförderung ausschloß. So kam es denn, daß selbst der neubeförderte
Offizier, sich von einem durch so lange Zeit erduldeten Zwange befreit fühlend,
fürs Erste die nunmehr erlangte größere Selbständigkeit und Freiheit recht zu
genießen suchte, dadurch aber aus der gewohnten Thätigkeit herauskam und
selbst in dem anfänglich bewiesenen Eifer bei der Verrichtung seiner gewöhn¬
lichen Dienstobliegenheiten erkaltete, Er wußte, daß eine erhöhte Thätigkeit
und das Streben nach einer noch umfassenderen Ausbildung ihm keinen son¬
derlichen Vortheil bringen konnte. Wozu sollte er, der seine Stellung so mühe¬
voll erreicht und — ohne einen eigenen Antrieb zum Studium zu besitzen —
nur darum das Nothwendigste gelernt hatte, um Offizier zu werden, jetzt in
seinen reiferen Jahren sich abermals abmühen und Plagen, da er ja sogar
befürchten mußte, seine Bemühungen übel gedeutet zu sehen. Vorschläge, welche
eine wirkliche Verbesserung des bestehenden Systems bezweckten, wurden über¬
haupt selten und dann nur in dem Falle angenommen, wenn sie von einer
höher gestellten Persönlichkeit ausgingen; daher wurde selbst der Strebsamste
davon abgeschreckt, sür die Vervollkommnung seiner Waffe zu wirken. Die
schriftstellerische Thätigkeit, welche in der östreichischen Armee überhaupt nicht
bedeutend war und auch nicht besonders günstig aufgenommen wurde, war
überaus spärlich und beschränkte sich mit wenigen ehrenvollen Ausnahmen nur
auf die erbärmlichste Eompilation und Abschreibern.
Ein großer Nachtheil war jedenfalls auch die gänzliche Trennung der
Artillerie von ihrer Bespannung, Man schenkte dem hippologischen Fache,
diesem so wichtigen Zweige der heutigen Artilleriewissenschaft, so viel wie gar
keine Beachtung, und stand in dieser Beziehung.noch ganz auf dem Stand¬
punkte jener Zeit, in welcher die Kanonen durch Ochsen auf das Schlachtfeld
geschleppt und dort stehen gelassen wurden. Man hielt es für genügend, wenn
der Kanonier gut laden und zielen konnte und der Offizier ein Adept in der
Kriegspyrotechnik, ein tüchtiger Mathematiker und aller die Bedienung der
Geschütze betreffenden Handgriffe wohl kundig war.
Daher besaßen die wenigsten Artilleristen auch nur die oberflächlichste
Kenntniß vom Pferdewesen und konnten selten mehr als nothdürftig reiten, so
daß oft die in jeder andern Hinsicht ausgezeichnetsten Offiziere an der Spitze
ihrer Batterie eine höchst klägliche Figur spielten.
Es fehlte sogar die Gelegenheit, das in dieser Beziehung Mangelnde zu
erwerben, da die von dem Fuhrwesen beigestellten Bespannungen nur für die
Zeit des Exercirens bei der Artillerie verweilten. Selbst ein sonst ziemlich
guter Reiter mußte oft in Verlegenheit gerathen, wenn er auf einem Pferde,
welches er nie zuvor bestiegen hatte, vom Platze weg seine Batterie vor¬
führen sollte.
Der Commandant der Bespannung war für dieselbe verantwortlich und
verstand vom Artilleriewesen nichts, führte aber gleichwohl die Aussicht über
die Munitionsrvagen und war dem Artilleriecommandanten der Batterie
untergeordnet. Nicht selten traf es sich, daß ein alter Oberlieutenant des
Fuhrwesens sich den Anordnungen eines jungen Feuerwerkers, welcher wäh¬
rend der Abwesenheit seines Offiziers die Batterie befehligte, fügen mußte.
Durch solche Mißverhältnisse mußten natürlich zahllose Reibungen und Mi߬
verständnisse entstehen, welche auf das Wohl des Ganzen und auf das Zu¬
sammenwirken dieser beiden Truppengattungen nur nachtheilig einwirken
konnten.
Der größte Fehler des Systems aber war die unzureichende Ergänzung
der Artillerie in dem Falle eines Krieges. Waren die Männer, welche man
mit solcher Mühe und während einer so langen Reihe von Jahren endlich für
ihren Dienst gründlich ausgebildet hatte, durch Tod, Verwundung, Gefangen¬
schaft, Beförderung oder auf irgend eine andere Weite entfernt worden —
Was sehr leicht schon nach den ersten Monaten eines Feldzuges geschehen sein
konnte — so konnten die entstandenen Lücken fast gar nicht oder doch nur mit
höchst unentsprechenden Kräften ausgefüllt werden. Begann der Kampf nur
etwas größere Dimensionen anzunehmen, so marschirte nach und nach fast das
ganze Bombardiercorps, so wie der größte Theil der übrigen Artillerieregi¬
menter vor den Feind, daher die Schulen sich von selbst auflösten und oft für
längere Zeit, mitunter sogar mehre Jahre hindurch, geschlossen blieben. Für die
erste Zeit genügte freilich das Bombardiercorps selbst den unerwartetsten und
übertriebensten Anforderungen; denn mehr als ein Drittel seiner Mitglieder
konnte ohne Bedenken in jedem Augenblicke zur Besetzung offener Offiziers¬
stellen verwendet werden. Bei den Regimentern gab es Corporale und Kano¬
niere in hinlänglicher Zahl, um das Bombardiercorps sogleich wieder zu er¬
gänzen. Dauerte es aber länger, so mußte auch diese reichhaltige Quelle endlich
versiegen, und man mußte bei der nachfolgenden Beförderung immer nachsich¬
tiger werden, bis man endlich Leute beförderte, deren Nichtbefähigung nur zu
bald bei jeder Gelegenheit offen an das Licht trat, die jedoch — weil man
das Princip der Anciennetät nicht verletzen wollte nunmehr ganz gemächlich
bis zu den höchsten Stellen vorrücken konnten.
Heute Nachmittag las vor verhülltem Thronsessel der Minister des Aus¬
wärtigen die Worte seines königlichen Gebieters den versammelten Herren und
Landbotcn Preußens vor. Schon jetzt, zwei Stunden, nachdem die Rede in
Berlin gehalten wurde, läuft sie gedruckt durch die Straßen Leipzigs. Und mit
einer Spannung, welche jedes andere politische Tagesinteresse in den Hinter¬
grund drängt, erwartet der Deutsche die ersten Lebensäußerungen des Abgeord¬
netenhauses, welches in einer bis jetzt une> hörten Lage des Staates zusammen¬
berufen wurde.
Wer die glattflüssigen Perioden der Thronrede durchliesi. ohne Kenntniß
von dem harten Kampf zwischen Ministerium und Volk zu haben, der wird
schwerlich merken, daß der Staat, in dem sie gesprochen wurde, sich in der ge-
fährlichsten Entwickclungskrankheit befindet. nachträgliche Genehmigung der
Ausgaben für 1862 soll beantragt werden, die Staatshaushaltsctats von 1863
und 1864 sollen vorgelegt werden, das angenommene Deficit des vergangenen
und des laufenden Jahres ist mit Mehreinnahmen verrechnet worden. Ein
Gesetzentwurf zur Abänderung und Ergänzung des Gesetzes vom 3. September
1814 soll der neuen Militärorganisation gesetzliche Grundlage geben. Die Re¬
gierung ist überzeugt, daß auch die Bundesverträge von 1815 den veränderten
Verhältnissen der Zeit nicht mehr entsprechen, und sie wird in der Lage sein,
die Fortdauer dieser Verträge für unthunlich zu halten, wenn die deutschen Bun¬
desgenossen die Pflichten, welche diese Verträge ihnen auflegen, nicht gewissen¬
haft erfüllen wollten.
Voraussichtlich wird die Landesvertretung dem Ministerium die Indemni¬
tät für die Ausgaben von 1862 nicht ertheilen, sie wird den Militäretat für
1863 und 1864 nicht bewilligen, sie wird die Novelle zum Dienstgesetz von
1814 nicht annehmen, sie wird endlich der Regierung grade heraussagen, daß
es ein übles Symptom einer Hülflosen Stellung in Deutschland sei, wenn man
in demselben Satz, in dem man das Unzulängliche der Verträge von 181K aus¬
spricht, nichts weiter in Aussicht zu stellen wisse, als ein Aufgeben dieser un¬
genügenden Verträge, im Fall deutsche Bundesgenossen dieselben Verträge eben¬
falls für ungenügend halten sollten.
Welche Bedeutung der gegenwärtige Landtag gewinnen und welchen Ein¬
fluß er auf die Stimmungen Deutschlands ausüben wird, hängt fast allein
von der Stellung ab, welche die Fractionen der liberalen Partei zu einander
einnehmen. Seit einem Jahre ist von verschiedenen Seiten, zumal von
der preußischen Partei außerhalb Preußens, gemahnt, gebeten, gedrängt
worden, daß Altliberale und Nationalpartei ihre alten Späne wegräumen und
sich erinnern sollen, wie nur einmüthiges und festes Zusammenhalten in der
Opposition gegen die bestehende Regierung ihren Staat und die Deutschen aus
der gegenwärtigen Katastrophe herausheben tann. Beide Parteien begreifen,
wie es scheint, die Nothwendigkeit des Zusammengehens, in Wirklichkeit bricht
immer wieder der Gegensatz hervor, jede sucht ihren Standpunkt zu wahren
und wirft den Gegnern vor, daß sie gemeinsames Handeln unmöglich machen.
Es läßt sich voraussagen, daß der Landtag, wenn diese stillen Antipathien
nicht völlig in den Hintergrund gedrückt werden, schädliche Wirkungen statt
segensreicher ausüben wird. Er wird den Gegnern eine innere Schwäche des
Liberalismus verrathen, die Reaction vorläufig befestigen, eine große Zahl der
Wähler tiefer in den Radikalismus hineintreiben.
Die altliberale Partei hat die meiste Veranlassung, den Fractionen der Natio¬
nalpartei mit Resignation und gutem Willen entgegen zu kommen ; denn sie ist die
Minderzahl. Und sie ist nicht ohne eigene Schuld und die Schuld ihrer Führer in
diese Lage gekommen. Aber gerade bei ihren Vertretern hat die letzte Nieder¬
lage und die Verminderung der Popularität eine innere Schärfe zurückgelassen,
welche sich nicht ungern gegen die Personen und Zwecke der Fortschrittspartei
richtet. Das ist natürlich und immer so gewesen. Der Gentleman dieser
Fraction empfindet mit Stolz, daß er seit dem Eintritt Preußens in die par¬
lamentarische Bewegung bis zum Eintritt in die neue Aera, unter den wider¬
wärtigsten Kämpfen die politische Sittlichkeit, gesunden Menschenverstand und
das Interesse des Staates gegen die linke und rechte Seite vertreten hat.
Sicher ist dies Selbstgefühl nicht ohne Berechtigung. In einer Zeit, in wel¬
cher die Demokratie als politische Partei noch eine chaotische Masse von tüch¬
tigen Männern und schlechtem Gesindel darstellte, wo auch die Führer den
schwersten Vorwurf auf sich luden, der eine Partei treffen kann, die Bundes-
genossenschaft mit unwürdigen Elementen, mit Feinden Deutschlands, mit den
Feinden der socialen Ordnung und bürgerlichen Gesellschaft, wenigstens nicht
energisch genug von der Hand gewiesen zu haben, erfüllten die Altliberalen
mit Selbstverläugnung eine Pflicht. Sie warfen zuerst das Gewicht ihres Ein-
slusses auf Seite der bestehenden Macht, um die Grundlagen des Staates, die
Sicherheit der bürgerlichen Ordnung zu erhalten, und sie kämpften darauf
siegen die Einseitigkeit und Perfidie derselben Gewalt, welche durch ihre
Hülfe wieder befestigt worden war, muthvoll und ausdauernd durch die parlamen¬
tarischen Sessionen von fast zehn Jahren. Es war keine Thätigkeit, welche
große Resultate möglich machte, sie war deshalb nicht minder mannhaft; unsere
Nachkommen werden das nicht vergessen, und die Geschichte wird der Partei
das ehrende Zeugniß geben, daß sie, im Ganzen betrachtet, in der schlechten
Zeit von 1848 bis 1868 das möglichst Beste mit Ausdauer und Opfermuth
gethan hat. Aber der größte Segen ihrer Thätigkeit in diesen zehn Jahren
wird merkwürdiger Weise von ihr selbst nicht vollständig gewürdigt. Denn in
dieser Zeit hat sich unter dem Eindruck ihrer parlamentarischen Kämpfe, unter
den Einflüssen der fortschreitenden politischen und geistigen Bildung in Deutsch¬
land auch die demokratische Partei gehoben, geläutert, veredelt. Sie hat in
diesen zehn Jahren die gesunden Grundlagen gefunden, welche die Voraus¬
setzungen einer deutschen Volkspartei sind. An die Stelle des unwürdigen Ko-
kettirens mit Franzosen und Polen ist ihr ein tüchtiges, gesundes National¬
gefühl getreten. Gerade sie hat einzelne, bedeutende Persönlichkeiten entwickelt,
welche der bürgerlichen Gesellschaft mit verehrungswerther Selbstopferung einen
Damm gegen den wüsten Socialismus des Jahres 1848 errichteten; ge¬
rade sie hat durch ihre stärksten Talente die Bildung einer populären preußi¬
schen Partei in einer Zeit möglich gemacht, in welcher die preußische Regierung
nur Ungenügendes that, den höchsten Forderungen der Nation gerecht zu wer¬
den. So hat sich jetzt allmälig das Verhältniß der Allliberalen in Preußen
zu der neuen Nationalpartei und ihre Stellung im Staate gänzlich geändert.
Nicht immer behält eine Partei das beste Recht, und die Altliberalen sind
in dringender Gefahr dies Recht, welches allerdings unabhängig Von der
Popularität des Tages ist, zu verlieren. Denn aus dem alten Veamtenstaat
und aus der Zeit, wo sie im Kampfe gegen rohe Strahenhaufen und ge¬
gen das Ministerium Manteuffel fast allein stand, sind manchen ihrer Mitglieder
auch einige Schwächen zurückgeblieben. Schon darin lag ein Uebelstand, daß sie
nur unvollkommen verstanden, sich eine warme Popularität zu erwerben. Sie
waren heraufgekommen im Kampfe gegen die Uebergriffe der Demokratie
von 1848, und etwas von der Verstimmung, welche diese Zeit zurückließ, blieb
zwischen ihnen und den Wählern hängen. Sie sind ferner in der Mehrzahl
feinfühlende, hochgebildete Männer, von reizbaren Selbstgefühl, ihre Führer von
der Opposition des vereinigten Landtages her gehören fast sämmtlich Familien
des höhern Beamtenstandes oder des Landadels an, welche aus alter Zeit ge¬
wöhnt sind mit einem stillen Aristokratismus in das Volt zu blicken. Sie besitzen
außer ihrer wannen Loyalität auch die. Neigung, viel aus Stimmung und An-
sichten der regierenden Kreise zu achten, und sie sind durch Temperament, Bil¬
dung und bürgerliche Stellung vorzugsweise der Versöhnung und dem Ver¬
mitteln der Gegensätze hold.
Ohne Zweifel gibt es noch jetzt in dieser Partei ehrenhafte Männer,
welche die Herrschaft des Junkerthums für ein großes Uebel halten, aber die
gegenwärtige ungemüthliche Spannung zwischen Krone und Volt für ein grö¬
ßeres. Und welche träumen, daß einige Concessionen der Regierung in der
Militärfrage, z. B. die zweijährige Dienstzeit und etwa die Vertauschung des
Herrn v. Bismark mit einem Herrn von sanfteren Wesen dem preußischen Volk
das Gefühl der Zufriedenheit und Kraft zurückgeben könnte. Die Tyrannei
und die Uebergriffe der Militär- und Administrativbehörden, die Knechtschaft,
welche jetzt dem preußischen Staatsbürger durch die übereifriger Handlanger
eines unwürdigen Systems aufgelegt wird, die schlechte Kreisordnung, der
Verfall der Bildungsanstalten, die mittelalterliche Stellung des Heeres im Staate,
endlich das persönliche Regiment und die damit zusammenhängende Schwäche
der innern und äußeren Politik, das Alles werde sich dann allmälig von selbst
geben.
Wer dergleichen glaubt, betrügt sich selbst. Aber auch wenn eine Besserung
der preußischen Zustände auf solchem Wege stiller Bekehrung an sich möglich
wäre, so ist sicher, daß sie thatsächlich nicht mehr in dieser geräuschlosen Weise
vor sich gebn wird. Und da ein Hauptmotiv unserer altliberalen Freunde ihre
warme Loyalität und der Wunsch ist, dem hohen Königsgeschlecht der Preußen
dauerhafte und glorreiche Regierung zu bewirken, so mögen sie auch erwägen,
daß jetzt der loyalste und treueste Dienst, welchen sie der Zukunft der Hohen-
zollern leisten können, der ist, wenn sie als feste Männer gegen die Regie¬
rung stehen und halben Concessionen, schwacher Vermittelung nicht ein Haar
breit nachgeben.
Denn nicht der gegenwärtige Kampf ist das Gefährlichste für Preußen und
seine Fürsten. Diesen Kampf, und wenn er auch um vieles heißer und grimmiger
wird, hält der Staat recht Wohl aus. Alle Erscheinungen des preußischen
Staatslebens, Personen und Umbildungen haben sich von je in scharfen
Gegensätzen durchgearbeitet. Das Große ist dort größer, das Gemeine schlechter
als anderswo. Tugend und Unfähigkeit, beides wandelt in nicht gemeinen
Verhältnissen. Zu einem ruhigen, bescheidenen, gemüthlichen Volk, welches
auf die Länge fünf gerade sein läßt, sind die Preußen nicht geschaffen. Die
Wogen können dort sehr hoch gehen in empörter Zeit, viel Leidenschaftliches
kann im Streit gesprochen und gethan werden, der Menschenverstand ist so
Massiv und der Volkscharakter so energisch, daß er dergleichen ohne schweren
Schaden für den Staat überwinden wird. Er hat weit schwereres durchgelitten
und durchgekämpft als den gegenwärtigen Streit mit dem alten privilegirten
Iunkerthum in seinem modernen Costüm. Nicht in dem gegenwärtigen Streite
liegt das Unerträgliche für Preußen und die größte Gefahr für sein Fürstenhaus,
sondern in der Art, wie dieser Streit beendigt wird. Der Staat der Hohen-
zollern ist gerettet und gesichert, wenn der Streit mit einer gründlichen Nieder¬
lage der alten Velleitäten und mit einem glorreichen Siege des Liberalismus
endigt. Ein fauler Friede, eine halbe Versöhnung werden das acute Fieber in
eine chronische, schleichende Krankheit verwandeln. Und offen muß ausgesprochen
werden, die Zukunft Preußens und seiner Dynastie hängen davon ab, daß der
nächste Umschlag in der Umgebung der Krone die Ursachen des alten Leidens
gründlich beseitige. Ein König von Preußen, der Stiller des Kampfes wer¬
den will, darf nicht mehr die gemüthliche Duldsamkeit und die Verschleppungs¬
theorie für genügend halten, welche nicht wenigen unserer altliberalen Patrioten
das Versöhnende scheint. Es sind scharfe Schnitte, gründliche Reformen noth¬
wendig geworden. Diese Nothwendigkeit aber der Regierung eindringlich und
unvermeidlich zu - machen, ist jetzt die höchste patriotische Pflicht der Volks¬
vertreter.
Das erste Mittel dazu, welches den Volksvertretern durch das Gesetz an
die Hand gegeben wird, ist eine Adresse, welche in ehrerbietiger Form Alles
sagt, was das Volk jetzt seinem König zu klagen hat. Wenn es möglich
wäre, daß die altliberalen Fractionen in der Kammer sich gegen eine solche
Adresse erklärten, oder wenn sie durch fortgesetztes Bemängeln des Wortlautes
und durch Verlängerung der Verhandlungen dieselbe abschwächten, sie würden
eine Schuld aus sich laden, welche die Deutschen, wie die Preußen ihnen schwer¬
lich vergessen würden.
Wenn jemals eine Adresse in Preußen nöthig war, so ist sie es jetzt, und
die Abgeordneten mögen daran denken, daß die Wirkung derselben in Preußen
selbst und im Auslande um so größer sein wird, je mehr lange Verhandlungen
vermieden werden, je cinmüthiger die Annahme derselben durch die Volksver¬
Mit dem Anfange des neuen Jahres haben die Wrenzbote«
den^XII. Jahrgang begonnen. Die unterzeichnete Verlagshand-
lung erlaubt sich zur Pränumeration ans denselben einzuladen, und be¬
merkt, daß alle Buchhandlungen und Postämter Bestellungen annehmen.
Leipzig, im Januar 1863. Fr. Lndw. Herbig.
Vor etwa zwei Jahren durchzog ein deutscher Poet, Herr Hugo Grapow
— ich kann nicht dafür, wenn er Ihnen fremd ist — mit einer freimaurerischen
Empfehlung und einem sauber gebundenen Büchlein, seine sämmtlichen
Werte enthaltend, unsere Provinz. Er wollte sich, so bescheinigten ihm die
hohen Gönner, durch den Verkauf dieses Bändchens in die Lage bringen, sich
eine Zukunft zu gründen. Ich fragte, warum er gerade zu uns seine Schritte
gelenkt. „Die andern Provinzen," erwiderte er freimüthig, „sind in der
Cultur so weit vorgeschritten, sind schon so durch und durch blasirt, das; ich
schwerlich Erfolg haben würde; aber bei Ihnen suche ich noch einfachen Sinn
für das Schöne. Hier" — er stockte; ich aber hatte ihn verstanden und zahlte
willig den gewünschten Thaler als einen geringen Betrag für die neu¬
gewonnene Erfahrung von der Achtung, in weicher wir bei unsern deutschen
Mitbürgern stehen.
Herr Hugo Grapow ist gewiß nicht der Einzige, der eine so gütige Mei¬
nung von der Landschaft hat, welche ein Monopol auf „das Heulen der Wölfe
und das Gutenachtsagcn der Füchse" besaß, bis die Kölnische Zeitung deren
Spuren in Gumbinnen entdeckte. Die Gleichgültigkeit, mit der manche unserer
deutschen Landsleute auf die Provinz herabsehen, in welcher mehr als eine
halbe Million der Ihrigen für deutsches Wesen und deutsche Sitte kämpfen
und leiden, ist wirklich rührend. Die daraus entspringende Unwissenheit er¬
streckt sich selbst auf Lehrer und Lehrbücher. Wenn wir in Körners „Vaterland"
,'Mulus «sj/»n/»et?- Mi»//»«» SlMt» n» msoP MAvvP zitT'. ^
auf einer Zeile den Städten Schenegel und Bvnist statt Schmieget und Bomsi
begegnen, so mögen diese Druckfehler hingehen. Wie aber, wenn ein 1862
erschienenes geographisches Wert'*), das sich in 1513 Seiten über Deutschland.
Posen und Preußen verbreitet, unser Kempen in den Kreis Schroda verlegt?
Das ist ein Fehler etwa, wie eine Versetzung von Stendal in den Kreis Wol-
mirstedt oder Wanzlebcn.
Sie verdienen deshalb gewiß den Dank der deutschen Bewohner unserer
Provinz, wenn Sie den folgenden Zeilen die Aufnahme in Ihr geschätztes Blatt
gewähren. Von welchem Gesichtspunkt aus sie geschrieben sind, ergibt dem
Kundigen schon die Überschrift. Die Polen kennen keine Provinz Posen. Ihnen
genügte es, daß Herr v. Bonin seinen ersten Erlaß als „Ober-Präsident der
Provinz Posen" unterzeichnete, um denselben Unwillen und Trotz gegen ihn
zu kehren, mit dem sie seinen Vorgänger verfolgt hatten. Dieses eine Wort
sagt für uns aus, daß wir uns als Unterthanen des Königs von Preußen, als
Bürger des preußischen Staats und unsere Heimath als einen integrirenden
Bestandtheil desselben ansehen; während sich mit der sonst unverfänglichen Be¬
zeichnung „Großherzogthum" hier sofort die Vorstellung von einer bloßen Per¬
sonalunion des Ländchens mit der Krone Preußen verbindet. „Großpvlen"
vollends führt uns in die polnischen Zeiten „xolslcie eias^" zurück, indem es die
dermaligen Grenzen verwischt. Posen umfaßt nämlich nur die ehemaligen Woy-
wodschasten Posen, Gnesen, Kalisch, Sieradz, Vrzesc-Kujawien und Ino-
wraclaw, resp. Theile derselben. Das alte Großpolen reichte nach Norden,
wie nach Osten hin weiter.
Indem ich dies schreibe, bemerke ich, daß ich mich auch von einer Unart
nicht werde freihalten können, in welche nicht nur wir Deutsche, sondern auch
die Polen, so oft sie deutsch schreiben, verfallen. Ich meine die stehende, aber
dabei doch völlig willkürliche Vermischung deutscher und polnischer Orthographie
und Ortsbezeichnung überhaupt. Wir schreiben Krotoschin (Krows^u), Schwer-
senz (L'wiU'-tzciii). Pleschen (?1ö82ö>v), Schildberg (0stilles^o, Sander (8W-
motul/) u. s. w. Dagegen Xe»2'min (Koschmin), ^arocin (Jarotschin), I)«.-
dri^ca (Dobbr'schyza), Kosten (Kostr'schilt) u. s. f.; ja wir statuiren Bastard-
namen, wie Xivns und Santomysl, anstatt entweder deutsch Kschonz und
Santomischel oder polnisch Xiq6 und ^airic-in^«! zu schreiben.
Die Provinz Posen bildet ein etwas unregelmäßig angelegtes stumpf¬
winkliges Dreieck, dessen Spitze sich nach Westen zu kehrt. Sie können letz¬
tere sowohl in Waldowstränk, wo die alte Berliner Chaussee in die Provinz
eintritt, als bei dem Bahnhof Creuz suchen, wo die Ostbahn sich mit der
Posen-Stargarder-Bahn schneidet. Westpreußen und Schlesien schirmen uns
von Norden und Süden her, während die Neumark unsern Westen begrenzt.
Der ganze Osten öffnet sich nach dem „Königreich" d, i. nach Russisch-Polen.
Die 336 ^Meilen oder IIV2 Millionen Magdeburger Morgen, welche die
Provinz Posen bilden, sind in zwei sehr ungleiche Regierungsbezirke getheilt;
der nördliche, Bromberg, umfaßt nur 214,83 ^Meilen, während der Posener
deren 321,38 ^Meilen mißt. Bei der Einteilung ist nur die Rücksicht gel¬
tend gewesen, zusammengehörige große Gütercomplexe nicht zu zerreißen.
Eine Gebirgsreihe wird Niemanden zu uns führen; wohnen wir doch in
der großen norddeutschen Tiefebene. Aber innerhalb derselben beanspruchen wir
einen gewissen Vorrang, welcher dem Osten derselben wohl auch allgemein
zugesprochen wird. Dieser gehört der uralisch-baltischen Tiefebene an, und
zwar wird gerade unsere Provinz von jener dritten Zone desselben durchzogen,
welche sich durch die merkwürdige Regelmäßigkeit ihrer einzelnen Theile aus¬
zeichnet. Immer sind es je zwei Flüsse, von denen der eine in dieser Ebene
gegen Westen zieht, während der andere mit längerem Lause von Süden ihm
zuströmt. Wie im Osten Narcw und Bug, im Westen Havel und Spree.
Aller und Leine in solchem Laufe gegen einander strömen, so hier Netze und
Warthe. Die Ebene dacht sich von Osten nach Westen zu ab und ist bei uns
schon erheblich flacher als im eigentlichen Stromgebiet der Weichsel; ja der
Nullpunkt des Pegels beim Einfluß der Brahe in die Weichsel erhebt sich nur
80' über den mittleren Stand der Ostsee. Dies ist aber auch der niedrigste
Punkt in unserer Provinz, die trotz alledem an einzelnen Stellen ganz aller¬
liebste Hügelpartien auszuweisen hat. Der Annaberg bei Owinsk an der
Warthe, kaum zwei Meilen unterhalb Posen, erhebt sich bis zu einer Höhe
von 985'. Bei der tiefen Lage des Thales bietet der Hügel, auf welchem der
Grundherr einen hölzernen Thurm errichtet und dessen ganze Umgegend er mit
großem Kostenaufwands parkartig eingerichtet hat, eine reizende, weithin reichende
Aussicht.
Zu den Füßen des Beschauers liegen die Klostergebäude von Owinsk,
jetzt zu einer Irrenanstalt benutzt, ringsum Wald und Feld, weiterhin die
Thürme und Wälle der Hauptstadt; in größerer Ferne die Stargard-Posener
Eisenbahn und endlich, das ganze Thal belebend, die breite Warthe mit ihren
Flößen und Kähnen.
Lieblicher noch und mannigfacher ist die Hügellandschaft bei Gorzyn im Birn¬
baumer Kreise. Ueberhaupt gehört es zu den Vorzügen der Provinz, daß sich
diese kleinen Höhen fast überall gleichmäßig vertheilen. Es ist kaum ein Kreis,
der nicht da oder dort durch eine anmuthige Landschaft überrascht. Selbst aus
dem Sande von Mitostaw erhebt sich der freundliche Weinberg von Winna-
göra. und im Schubiner Kreis, wo der vierspännige Postwagen sich mühsam
durch den Sand fortschleppt, findet sich die ZZO hohe Anhöhe bei Exin, wäh¬
rend sich bei Dolzig und Moschin im Schlimmer Kreise, bei Luvin im Kostener,
bei Bomst und Wollstein sogar kleine Ketten lieblicher Anhöhen finden.
Was aber diesen Gegenden einen besonderen Neiz gibt, ist der große
Wasserreichthum unserer Provinz. Zwei mächtige Ströme bewerben sich um
unser Land und theilen sich in dasselbe; aber obgleich die Weichsel es nicht ver¬
schmäht, ihre Bewerbung durch persönliches Erscheinen und Locken von der Ost¬
grenze her zu unterstützen, so muß sie doch der schwächern Oder den bei weitem
größten Theil des Gebietes überlassen, und so geben auch die Ströme
ein Zeugniß dafür ab, wohin Posen durch seine natürliche Lage
gewiesen ist.
Den Süden der Provinz beherrscht die Barrsch, den Schlesiern übelberüchtigt
durch die großen Überschwemmungen, mit denen sie die Gegend von Guhrau
und Herrnstadt heimsucht. Sie entspringt im Adclnauer Kreise, den sie auch
fast seiner ganzen Breite nach durchschneidet, verläßt aber bald ihr Heimaths-
land, das ihr die Orla. den polnischen Landgraben, den Obersitztv, die faule
Obra und eine große Anzahl andrer Bäche und Flüßchen nachsendet. Wie
klein diese Gewässer sein mögen, richten sie doch bei heftigen Regengüssen und
plötzlichem Thauwetter erhebliche Verwüstungen an. Sowohl 18ö4 wie 1860 be¬
zeichneten zerstörte Brücken, zerrissene Wege, überschwemmte Felder die elf
Meilen des Weges der Orla. Mit.Ausnahme dieses kleinen Bartschgebietes
und des vielleicht noch kleineren der Weichsel, von dem wir zuletzt reden werden,
gehört alles Uebrige der Warthe mit der Netze.
Die Warthe, die vornehmste unter den Vasallen der Oder, hat bei ihrem
Eintritt in die preußische Monarchie schon eine reiche Vergangenheit. Sie hat
einen Lauf von 70 Meilen zurückgelegt, ist schiffbar geworden und nimmt eine
Breite von 2S0' ein. Gleich an der Grenze, zwischen dem russischen Peisern
und dem preußischen Pogorzelica nimmt sie die Prosna auf, den Grenzfluß
zwischen Preußisch- und Russisch-Polen, dessen Schissbarkeit dem Handel noch
größeren Gewinn bringen würde, wenn die russischen Behörden stark genug
wären, die preußischen Flößer und Schiffer vor den Neckereien der polnischen
Anwohner zu schützen. Weiterhin mündet die Lutynia, welche gleich der
Prosna von Süden nach Norden geht, in die Warthe. In jener Gegend haben
wir das Wasserbad Dembno und das Städtchen ^erkvw zwischen Wald und
Hügelland zu suchen, Plätze, die anderwärts eine Frequenz erreicht hätten.
Bei uns nicht. Der patriotische Pole fühlt keinen Drang, sei es Heilung,
sei es Vergnügen in seiner nächsten Heimath zu suchen. Bei Neustadt geht
die Warthe zum ersten Male unter das Joch einer Brücke, das sie während
ihres 33 Meilen langen Weges durch Posen noch etwa zehnmal zu tragen
hat. Die Neustädter eiserne Brücke ist die jüngste; sie wurde erst 18S9 vollendet.
Von Sabrina ab wendet sich der Strom, der bis dahin westwärts ging,
fast unter rechtem Winkel nordwärts. In dieser Richtung durchschneidet er.
nachdem er vorher den Abfluß des großen Obrabruchcs empfangen, die Stadt
Posen, 300' breit, und ändert seinen Laus erst bei Obornik. wo er sich mit
der Welna verbindet. Von da an geht die Warthe wieder gen Westen und
ergießt sich bald nach ihrem Austritt aus Posen, über 400' breit in die Oder.
Zur polnischen Zeit waren ihre Ufer Sumpf und Moor, mit Gesträuch und
Wald durchwachsen; schiffbar war sie erst von Posen ab, und auch da hinderten
zahllose Mühlen die Schifffahrt. Seitdem ist unendlich viel geschehen. Das
Strombett ist regulirt, die Sümpfe sind trocken gelegt, eine große Wasserstraße,
unterstützt durch einzelne Seitenlinien, hat der Industrie und dem Handel der
Provinz aufgeholfen und ihr reiche Erwerbsquellen geöffnet. Wenn trotzdem
noch Klagen über den Fluß und Wünsche in Betreff desselben laut werden,
so liegt darin gewiß ein Grund, für die Provinzialen, selbst Hand ans Wert
zu legen.
Was für das Departement Posen die Warthe. dasselbe und vielleicht »och
mehr ist für Bromberg die Netze (Me«<:). Sie entspringt im Goplvsee, nahe
bei Kruszwitz; ihr erster nördlicher Lauf geht unausgesetzt durch kleinere und
größere Seen, darunter einmal IV» Meile lang durch den Trlvngsee, bis Ratel, wo
sie schiffbar wird. Darauf durchzieht sie den Norden der Provinz in der Rich¬
tung von Osten nach Westen und verläßt dieselbe nach ihrer Bereinigung mit
der Drage, unterhalb Filehne, um sechs Meilen weiterhin in die Warthe zu
münden. Ihre Breite, die bei Ratel 100' beträgt, steigt bis zu 300', ihre Trag¬
kraft bis (,00 Ctnr, Nicht fern von Ratel liegt Bromberg an der Brahe, auch
Braa oder Braanie genannt. Dieser Nebenfluß der Weichsel, welche selbst etwa
fünf Meilen lang, bei Schulitz und Fordvn vorüber, die Grenze von Posen
und Westpreußen macht, ist 40— 50' breit, flößbar und seit 1772 von Brom¬
berg ab schiffbar. Das ganze Weichselgebiet der Provinz Posen beträgt
36 ^Meilen.
Zwischen Netze und Weichsel fand der große Friedrich eine Wüstenei, ein
„europäisches Kanada". Mit unermüdlicher Energie und Freigebigkeit hat er
die wilde, verrottete Gegend in einen Fruchtgarten verwandelt. Den Mittel¬
punkt seiner Arbeiten bildete der Kanal, welchen er von Ratel bis Bromberg
zur Verbindung von Netze und Brahe anlegen ließ. Der Kanal ist '.»,624 Ru¬
then lang, 60' breit, 3' tief. Der höchste Punkt desselben steht 78' über dem
Wasserspiegel der Brahe und 13' über dem der Netze. Zwölf Schleichen vermitteln
einerseits das Aufsteigen der Schiffe von der Brahe, anderseits deren Herab¬
lassung von der Netze aus. Ein Speisekanal aus der Netze führt Wasser herbei.
Die Arbeit geschah sehr rasch; sie wurde am 1. März 1773 begonnen, und
schon am Is. September 1774 fuhren Schiffe aus der Netze in die Weichsel.
Dieselbe Gegend, welche innerhalb des letzten Jahrhunderts die merk¬
würdigste culturhistorische Veränderung erfahren hat, scheint auch, selbst noch
in der geschichtlichen Zeit, der Schauplatz gewaltiger Erdrevolutionen gewesen
zu sein. In dieser Gegend begegnen wir nicht blos verlassenen Strombetten,
sondern auch andern Anzeichen dafür, daß die Kämpfe zwischen dem Strom¬
gebiete der Weichsel und der Oder, welche diesen Strömen und ihren Neben¬
flüssen ihre dermalige Gestalt gegeben haben, hier ausgerungen worden sind,
und daß sich hier noch größere Vorgänge zugetragen haben.
Es ist hier nicht der Ort, geologischen Forschungen über die Bildung der
Ostseeküste nachzugehen. Doch sei es vergönnt, einige Zeugnisse dafür anzu¬
führen, daß bei der entscheidenden Aenderung der Flußbetten vulkanische Kräfte
mitgewirkt, und daß die letzten Bewegungen bereits eine gewerbthätige Be¬
völkerung vorgefunden zu haben scheinen. In den Anhöhen der Braheufer fin¬
den sich zahlreiche Versteinerungen von Seethieren, während der Bernstein
vielfach nesterweise, oft in größeren Stücken, angetroffen wird. Aber es fin¬
den sich auch in grobkörnigem Kiese solche Petrefacten, welche von Vegetabilien,
wie Bohnen, Nüssen und andern Früchten herzurühren scheinen. Ebenso fehlt
es nicht an Knochen. Letztere sind calcinirt, erstere in Feuerstein umgewandelt,
zum Theil auch von Eisenoxyd durchdrungen. Märchenhaft klingt die Ver¬
sicherung eines glaubwürdigen Mannes, „daß unfern Bromberg im Lehm vor
längern Jahren ein versteinerter Pferdekopf sammt Hals vorgefunden worden
sei. Leider habe der große Feuerstein die Finder gereizt, die schöne Versteine¬
rung in Stücke zu zerschlagen." Thatsache ist es, daß 1827 bei dem Bau der
Vrombcrg-Nakeler Chaussee beim Durchstechen einer Strecke des alten Stromufers
ein Schiffsanker zum Vorschein kam, und daß 1844 in der Niederung bei Lochowitz,
1'/- Meile westlich von Bromberg, im Torfe Theile eines größeren Schiffs auf
gefunden worden sind. Endlich stieß man vor längerer Zeit auf der Friedrichs¬
straße zu Bromberg, bei Anlegung eines Brunnens, 20' unter der Oberfläche
auf Holzwerk. Beim Durchbrechen desselben wurde Getreide vorgefunden, wel¬
ches noch zum Gebrauch verwandt werden konnte; man gelangte dann in einen
Stallraum, der mit Thierknochen angefüllt war. Als man auch diese Räum¬
lichkeit durchbrochen hatte, fand man ungewöhnlich starke Baumstämme, die
einen hohen Pfahlrost zum Schutz des untergegangenen Gebäudes gebildet
hatten.
Daß das Land einst so revolutionslustig war, wie jetzt die Mehrzahl sei¬
ner Bewohner, das verrathen auch die vielen Seen. Wir haben deren 560,
die zusammen einen Flächenraum von 7 ^Meilen bedecken. Sie sehen dar¬
aus, daß die allermeisten sehr klein sind. Anmuthig sind auch diese. Selbst
der hartnäckigste Schlesier. der von „Gegend" hier nichts wissen will, gibt sich
besiegt, wenn er die kleinen Seen von Scmtomysl, die sich übrigens bis hinter
Kurnik fortsetzen, bei günstiger Beleuchtung sieht. Dichter Laubwald, der
tausendstimmig widertönt, umsäumt die Ränder des einen; der andere umgibt
die kleine Insel, auf der einst Graf Naczhnsti ein gastlich eingerichtetes Sommer¬
haus unterhielt, und die durch den Tod dieses seltenen Mannes eine traurige
Berühmtheit erlangt hat. Auch da im Osten des Bromverger Departements,
wo die größte Monotonie der Landschaft das Auge ermüdet, wird es angenehm
überrascht, wenn es dem langen Zuge der weithin schimmernden Gewässer be¬
gegnet, durch welche sich die Netze und ihre Zuflüsse winden. Aber nicht alle
unsere Seeen sind blos vornehme „Teiche". Ihrer 27 haben gerechten Anspruch
auf den Namen See, denn sie zeigen das Normalmcch von mehr als 300 Mor¬
gen. Einige von ihnen haben dann noch ihre Inseln, und darauf auch wo.si
menschliche Wohnungen. Auch sie sind ziemlich über die ganze Provinz ver¬
theilt , doch sind die Stromgebiete der Netze und der Obra besonders reich an
ihnen. Von denen, die ersterer angehören, ist der Goplosec der größte und
merkwürdigste. Er ist 3^ Meilen lang, aber wie der obenerwähnte Trlong-
see unverhältnißmäßig schmal, so daß er doch nur eine Fläche von ^ ^ Mei¬
len einnimmt. Sein Süden streckt sich Meile lang in das „Königreich".
Von seinen Inseln haben besonders Sicnganow und Potrzymiechy ebenso wie
die Seeufer prächtige Wiesen, die den Bewohnern der vielen umliegenden Dör¬
fer reichlichen Unterhalt gewähren.
Der Goplosee hat übrigens bessere Tage gesehen. König (Herzog?) Po-
Piel der Erste verlegte vor mehr als tausend Jahren seine Residenz von Gnesen-
nach Kruschwitz am Nordwestende des Sees (heute ein Städtchen von S91 See¬
len). Sein Sohn Popiel der Zweite überbot die Bosheit und Nichtswürdig¬
keit seines Vaters und ward auf Anstiften seines Weibes zum Mörder seiner
Vettern. Aber aus den Leichen derselben erwuchsen Mäuse, welche den Wüthe¬
rich ganz so verfolgten, wie ihre Stammverwandten seiner Zeit den Bischof
Hatto von Mainz. Der Mäusethurm aus dem Goptvsee, vielleicht die Ruine
eines Leuchtthurmes, sieht nun als ein Warnungszeichen ins Land. Ob die
deutsche und die polnische Sage unabhängig von einander entstanden oder
welche die ältere sei, wäre interessant zu untersuchen. Bald nach Popiels
Tode bewirtheten dann Piast, ein Landmann in der Gegend von Kruschwitz,
Mit seiner Frau Nzepicha zwei Engel mit Meth und Schweinefleisch und wur¬
den zum Lohn dafür aus den Thron erhoben. Kruschwitz ward Residenz und
später auch der Sitz des Bischofs von Kujawien. Im Jahre 1863 soll dort
das tausendjährige Jubiläum gefeiert werden.
Einen letzten Beleg für unsre Voraussetzung früherer Erdrevolutionen
geben endlich die mineralischen Bestandtheile des Bodens. Die Braunkohle
wird an den Ufern der Netze, unsern Wvlskv, d. h. an dem alten verlassenen
Weichselbett, an den Ufern des Braheflusses bei Stopka, in der Nähe von
Polnisch-Crome, so wie bei Fordon an den Weichsclufern gefunden; dort auch
in bergmännischem Betriebe zu Tage gebracht. Ein zweites großes Lager ist
im Warlhethal zwischen Obvrnit und Schwerin, am reichhaltigsten bei Wrvnke,
entdeckt worden; ein drittes, jüngeres, mit dem Grabscheit zu bebauen, breitet
sich zwischen Gvsth» und Reisen über 2000 Morgen aus, ein viertes ist bei
Sabrina gefunden, aber noch unbenutzt. Torf scheint überall in weiter Aus¬
dehnung, zum Theil auch in vorzüglicher Qualität vorhanden zu sein, selbst
die Ränder der kleinen Bäche, die sich in die Warthe ergießen, ermangeln des¬
selben nicht, und das alte verlassene Weichsclbett birgt ihn in unerschöpflicher
Mächtigkeit. Doch bleibt er zum großen Theil noch immer unbenutzt, sowohl
wegen der Schwerfälligkeit der Besitzer, als weil wir sein eben noch nicht dringend
bedürfen. Auch beträchtlicher, bei Wapno, unsern Exin, bergmännisch bearbeite¬
ter Gypsbrüche und verschiedener guter Kalklager erfreuen wir uns im Netze-
district. Die Bruchwiescn des Schönlant'er Forstes zeigen häufige Wiesenerze,
deren Verarbeitung in Sattlerhütte bei Dratzig im äußersten Nordwesten der
Provinz wir recht gutes Gußeisen verdanken. Der Boden, aufgeschwemmtes
Land, ist sehr ungleich. In dem Departement Posen haben wir Mittelboden;
doch auch weite Sandflächen, nicht blos in den Kreisen Birnbaum, Meseritz
und Bomst, sondern selbst in den Kreisen Schrvda und Wreschen, deren Boden
als der beste gilt, so bei Santvmysl, nella, Pudcwitz u. s. f. Vorzügliche»
Rufes e-rsreut sich das Obravruch. Ein altes polnisches Sprüchwort rühmt:
Jolo pi'i!^ 0br'6ni ins, si<z äow--c! d. h. an der Obra ist gut wohnen. Im
Bromberger Departement sind die schönen Seeen gewöhnlich von einem Gürtel
von Wiesen, dann von einem weiteren sandigen umgeben. Der Süden des Brom¬
berger Kreises, der Schubiner, ein Theil des Wongrowitzer, ebenso wie die Um¬
gegend von Filehnc und Schneidemühl im Westen sind wahre Sandbüchsen; da¬
gegen ist Kujawien (Inowraclaw) durch seine Fruchtbarkeit sprichwörtlich geworden.
Man sucht gewöhnlich bei uns besonders weite und große Wälder. Mit
Unrecht. Unter den acht Provinzen der Monarchie hat Posen in Rücksicht aus
seine» Wälderreichthum nur noch Sachsen, Pommern und Preußen hinter sich.
Die 2,390,764 M. Morgen Forst machen nur 20,6«/<> unseres Areals aus,
während in der Rheinprovinz und in Brandenburg 29,9"/^, in den hohenzoller-
schen Landen sogar 32,1"/„ des ganze» Gebietes mit Wald bestanden sind.
Vermindert hat sich indessen die Ausdehnung der Wälder nicht, obgleich der
Holzhandel ins Große geht. Der Grund davon liegt darin, daß die meisten
Forsten im Besitz des Staates oder doch der großen Grundbesitzer sind.
Habe ich bisher schon durch trockenen Ton ermüdet, so muß ich, um über
die Erwcrbsverhältnisse der Provinz die gewünschte Auskunft zu geben, aus den
folgenden Seiten leider noch ein wenig trockner werden, was Sie gütigst mit
der Natur der Statistik entschuldigen wollen.
Das Hauptgewerbe in unserer Provinz ist der Ackerbau. Von den 11.563,920
Morgen seiner Fläche waren bereits 1855 9,930,250 Morgen der Cultur ge¬
wonnen. 1858 aber schon 10.224.253, und es ist nicht anzunehmen, daß in
den drei letzten Jahren weniger geschehen sei als in den ihnen voran¬
gegangenen.
Das Areal vertheilt sich
Um einen Maßstab zu geben, sei erwähnt, daß Sachsen 107,171, Schlesien
und Westphalen ohngefähr 121,000 und daß die an räumlicher Ausdehnung hin¬
ter Posen um 1 Million Morgen zurückbleibende Rheinprovinz sogar 564,759
Besitzungen der fünften Classe hat. Im Departement Bromberg vertheilt sich
die Ackerfläche so, daß
Von den 1,651,705 Morgen liegen 557.328 in den Händen der 30 größten
Besitzer, und zwar gehören von letzterem Areal 321,301 Morgen Deutschen,
236,027 Morgen Polen. Bon diesen 30 größten Komplexen umfaßt der
kleinste, der des Grafen Konstantin Bninski, Glesno bei Wirsitz, 5.362 Morgen,
der größte, der des Herrn Schultz auf Nothwendig bei Czarnikau 65.062 Morgen.
Da die polnischen Abgeordneten unter nachheriger Berufung auf die beson¬
dern Verhältnisse unserer Provinz gegen die Grundsteuerausgleichung gestimmt
haben, so sei erwähnt, daß Graf Bninski seine 5.362 Morgen mit 80 Thlr.
16 Sgr. jährlich versteuert, während Herr v. Zoltowski für 5.419 Morgen im
Gnesener Kreise, also schlechtem Bodens, 192 Thlr. 5 Sgr. zahlt. Die Swi-
narstischen Erben versteuern ihre 25.870 Morgen mit 210 Thlr., Graf Skor-
zewski seine 19.541 Morgen mit 663 Thlr. das Jahr.
Die Zahl der Personen, welche sich mit Ackerbau beschäftigen, ist im Ab¬
nehmen begriffen. Im Jahre 1858 machten ihn 594,641 Personen zum Haupt-,
81.355 zum Nebengewerbe.
Dem Ackerbau im engern Sinne gehörten 1858: 6.042.183 Morgen, also 52°/,
des ganzen Areals. In dieser Hinsicht nimmt Posen die zweite Stelle unter
den preußischen Provinzen ein. Nur Sachsen steht voran. Ein weiteres Zeug¬
niß für Fleiß und Einsicht in der Landwirthschaft gibt die Thatsache, daß die
Benutzung der Weide im raschen Abnehmen begriffen ist. Während in Pom-
mern 11,8"/o der Fläche Weideland sind, repräsentiren unsere784,103 Morgen nur
6,7"/l>, so daß nur in Sachsen und Schlesien die Stallfütterung noch allgemei¬
ner ist. Ueberraschend ist in dem wasserreichen Lande der Mangel an Wiesen;
der Durchschnitt ist für dieselben in der ganzen Monarchie 7,9 °/° und beträgt
hier nur 6.9"/.>-
Eine» gewaltigen Aufschwung nimmt die Viehzucht, obgleich unsere Land¬
wirthe in derselben noch viel zu thun haben, ehe sie den westlichen Nachbarn
nachkommen. Die größte und beste Schäferei ist die Lipskische in Ludom bei
Polajewo. . Im Departement Bromberg befanden sich bei der letzten Zählung
13,405 Füllen, 29,766 Pferde von 3—10 Jahren, 16,894 ältere Pferde
8 Maulesel, 160 Esel;
In der Provinz überhaupt kommen auf die s^Meile 303 Pferde. 965 Stück
Rindvieh und 434 Schweine.
Seit 1819, wo die preußische Negierung zum ersten Mal statistische Auf¬
stellungen veranlaßte, ist in der ganzen Provinz die Zahl der Pferde v'on 85,964
auf 162,883. die der edeln Schafe von 32,146 auf 738.026. die der Halb¬
edlen von 127,219 auf 1,193,405 gestiegen. Solchen Ziffern begegnen
wir sonst nirgends im Bezirke des deutschen Zollvereines.
Im Jahre 1859 wurden 16.072 Etr. Wolle auf den Markt nach Posen
gebracht; außerdem gehen erhebliche Quantitäten aus dem Norden der Provinz
nach Stettin, aus dem Westen nach Berlin und Landsberg, aus dem Süden
nach Schlesien zu Markte. Bon 13.687 Ctr. waren in einem späteren Jahre
56 Ctr. hochfein. 5.811 Ctr. fein. 7,725 Ctr. Mittel und 95 Ctr. ordinär.
Die Menge des Schwarzvichcs steht trotz des bekannten Handels, der hier
mit demselben getrieben wird, hinter andern Provinzen zurück. Den Grund
davon suchen Sie in der geringen Zahl kleiner Besitzer.
Dem Boden edlere Früchte abzugewinnen, ihn zur Pflege des Weines
oder Obstes, sowie vorzüglicher Handelsproducte zu erziehen, werden vereinzelte
Versuche gemacht. In der Gartcncultur nehmen wir mit Schlesien und West¬
falen die zweite Stelle ein. die 162,702 Morgen Gartenland machen 1,2°/«
unseres Gesammtareals aus. In den fruchtbaren Gegenden finden Sie die
Städte mit Gürteln wohlgepflegter Gemüsegärten umzogen. Obst ist häufig,
auch in edlern Sorten, und wir sahen oft in den polnischen Kreisen größere
Geneigtheit, das Entgegenkommen der Behörde» in der Baumzucht anzunehmen,
als in manchen Gegenden der deutschen Provinzen. Geschichtlich berühmt und
seit Piasts Zeiten nicht verläugnet ist der Fleiß des Polen in der Bienenzucht. Es
macht einen sehr freundlichen Eindruck, wenn wir in den Gärten bei den Vor-
werken unserer Ackerbürger die bunten Bienenstöcke, oft in Stanzen Gruppen,
sehen und beim Eintritt ins Haus statt des landesüblichen Wodka ein Glas
selbstbereiteten Methes empfangen.
Auch Wein wird gebaut, und ob sich gleich „die Bomster Schattenseite" noch
herbe Scherze gefallen lassen muß. steht sie wenigstens dem Grünberger kaum
nach, und der Anbau von etwa tausend Morgen Weinland mit einem Ertrage
von 2,373 Eimern gewährt immerhin einer guten Zahl von Einwohnern ihren
Unterhalt. Doch ist diese Cultur im Abnehmen. Wie jetzt überall, so findet
auch der Seidenbau seine Pflege; sowohl seitens einzelner Lehrer, besonders
derjenigen von Paradies und Wollstcin. wie seitens einiger Dominien, von
denen das Gorzyncr auf den Potsdamer Ausstellungen regelmäßig prämiirt
wird. Es stehen dort 1500 Bäume und 1800 laufende Fuß Hecke in Cultur.
An Runkelrüben werden nur 23,201 Ctr. gewonnen und in fünf Fabriken,
an denen noch nicht zweihundert Arbeiter Beschäftigung finden, raffinirt.
Ebensowenig ist der Tabacksbau von 2,221 Morgen Ausdehnung der Rede
werth. Desto mehr thun wir uns auf den Hopfen zu gut. Anfangs auf die
Umgebung von Ncuivmusl beschränkt, wo zur Zeit eine Fläche von 6,000 Mor¬
gen mit Hopfen bebaut wird, breitet er sich in jener Gegend nach allen Seiten
immer weiter aus und gewinnt von Jahr zu Jahr an Güte. Der Handel
erstreckt sich natürlich so weit wie der Anbau; doch concentrirt er sich auf Neu-
tomysl, ein Städtchen von 1140 Einwohnern, im Kreise But gelegen. Dort
thut sich in den Monaten September und Anfang October ein frisches, reges
Leben auf. Käufer und Verkäufer strömen herzu, und die sonst wenig bean¬
spruchte Postcxpedition bedarf der Hülfe, um den Ansprüchen an Fuhrwerk und
andre Dienste genügen zu können. Im September 1861, wo der Centner
Hopfen bis 140 Thlr. und darüber stieg, fand ein Umsatz von 2,200.000 Thlr.
statt. Für ein Dominium, wie das des Grafen Raczynski auf Wonowice,
welches 85 Ctr. zu Markte führt, wirft der Hopfen also ein recht erhebliches
Capital ab; indeß stehen die deutschen Bauern nicht nach; diejenigen von Pa-
protsch gewannen in jenem Jahre je 1800 bis 2500 Thlr. Wie es sich geziemt,
verarbeitet die Hauptstadt des Kreises, Grätz, in vier trefflichen Brauereien das
einheimische Gewächs, wobei ihr ein ganz vorzügliches Wasser zu Hülfe kommt.
Das bittere Bier rst reich an Kohlensäure, hat keine narkotische Wirkung und
gilt als ein äußerst gesunder Trank, der über die ganze Provinz versandt und
überall gern genossen wird. Bon den andern 234 Brauereien der Provinz
soll die beste in Bromberg sein.
Vorläufig ist allerdings die edle Wodka, welche sich der Pole in der trau¬
rigsten Gestalt gefallen läßt, und welcher Ritter und Knecht sich gleich begeistert
zu Füßen legen, das herrschende Getränk. Es gibt freilich nur etwa 300 Brenne¬
reien, aber zahllose Sckankstätten. Ich kenne eine Stadt von 2,800 Seelen, wo
i?»
am Markte und bis zehn Schritt von demselben 13 höhere und niedere Wodka-
tempel offen stehen.
Sonst ist nicht viel von Gewerbe zu erzählen. Es sind bei uns 866 Wasser¬
mühlen, 2,67K Bockwindmühlen, 20 solche mit holländischem Werke, 144 von
Thieren gezogen, 33 von Dampf getrieben, im Gange. Der leiztern gibt es
nirgends so wenige wie hier; doch gehört die Herkulcsmühle in Bromberg zu
den großartigsten ihrer Art. Die Windmüllerei machte vordem einen erheblichen
Nahrungszweig unserer Städte aus, und noch jept macht sie alle Anstrengungen,
um den vordringenden Dampfwerken nicht ohne Kampf zu unterliegen. Die
Mühlen stehen massenhaft bei einander, in der Regel alle an derselben Seite
der Stadt, vor welcher sie eine mächtige Brustwehr zu bilden scheinen und dem
Fremden einen gar eigenthümlichen Eindruck machen. Der Heimische kennt sie
und freut sich ihrer, wenn er nach langer Tour über die schneebedeckte Ebene
oder durch böse Wege „zu den Mühlen" kommt und sich so wieder unter mensch¬
lichem Obdach weiß.
Von andern industriellen Unternehmungen können wir 8 Eisenwerke,
2 Frischfeuer, 9 Kugelöfen, 4 Flammöfen, dann 13 Glashütten mit 446 Ar¬
beitern, und 9 Fabriken irdener Waaren anführen. Besonder? gern erwähne
ich die meist sehr gelungenen Arbeiten, die Herr Krzyzanowski zu Posen in
Gußstein ausführt. Ein anderes bedeutendes Etablissement ist die große Fabrik
landwirtschaftlicher Werkzeuge, welche Dr. Cegielski in Posen ins Leben ge¬
rufen hat und an der mehr als zweihundert Arbeiter beschäftigt werden. Der
Chef dieser Anstalt erwirbt sich auch dadurch ein besonderes Verdienst, daß er
die von ihm construirten Maschinen öffentlich ausstellt und Versuche mit ihnen
auch aus offenem Felde gestattet, wodurch die Landwirthe über ihre Brauch¬
barkeit sich ein eignes Urtheil zu bilden vermögen.
Leider bin ich nun ziemlich am Ende. Das Handwerk blüht bei uns noch
nicht. Städte wie Posen und Bromberg haben zwar einen achtungswerthen
und fleißigen Handwerkerstand. In den kleinen Orten fehlt er. Es ist das
helft zu bedauern; denn wenn sich der Pole zu einem Gewerbe entschließt, so
erreicht er bei einiger Sorgfalt in der Regel eine große Gewandtheit darin.
Selten aber will er. Schlechte Schulbildung, Hang zur Trägheit, damit ver.
buntere Abneigung vor dem Wandern und vorzüglich das zeitige Heirathen
halten ihn ab. Meister, ehe er Meisterschaft erlangt hat, vermag er der Con-
currenz der Geschickteren und namentlich des Importes aus Posen und Berlin
nicht zu widerstehen. Er sucht als Obstpächter. Landwirth u. s. w. Neben¬
erwerb und ist bald genug ein darbender Stümper.
Einst war das Alles in unserer Provinz anders. Da standen die Gewerbe,
wenigstens in den deutschen Städten, im höchsten Flor.
Der Reichthum der Stadt Bojanowo lag in der Fabrikation und dem
Versauf von Tücher. AIs Bojanowo unter preußische Regierung kam, lebten
dort 266 Tuchmacher mit 120 Gesellen, 16 Tuchscheerern und Bereitern, sie ver¬
fertigten jährlich 7,659 Stück Tu be und verhandelten deren 24,000. Unter
preußischer Regierung und während der Zeit des Herzogthums Warschau wuchs
dieser Verkehr zusehends. Das Jahr 1818 fand 279 Tuchmacher, welche 13,478
Stück Tuche anfertigten, deren 27,000 verhandelten. Ohne daß ein Kaufmann
oder Fabrikant nöthig gehabt hätte, die Messe zu beziehen', betrug der jährliche
Verkehr 600.000 Thlr. Diesen Wohlstand hat die russische Grenzsperre mit
einem Schlage in Armuth verwandelt; 700 Menschen wanderten zwischen 1820
und 1829 nach Rußland aus; 1840 verfertigten 40 Tuchmacher 3,002 Stück Tuche,
waren aber nicht im Stande, dieselben abzusetzen. Die Noth der Stadt war
so groß geworden, daß aus Befehl des Königs die Regierung in Posen eine
eigene Untersuchungscomission deshalb einsetzte.
Die Geschichte von Bojanowo ist die vonZduny, von Rawicz, Fraustadt,
Kröben und zahlreichen andern Städten; nur daß einzelne von ihnen bald neue
Erwerbsquellen fanden. Die Grenzsperre fiel wie ein Mehlthau auf den kräf-
tigen Wuchs einer weit verbreiteten Industrie, und nur die unermüdliche Sorg¬
falt, welche die preußische Regierung der neuerworbenen Provinz zuwandte, im
Verein mit der Fruchtbarkeit des Landes vermochte allgemeine Verarmung fern
zu halten. Dadurch erklärt sich auch das Herunterkommen einzelner, ja vieler
Städte der Provinz neben dem Aufblühen anderer, ein Umstand, den wühle¬
rische Agitation recht geschickt zu benutzen weiß, um gegen die Regierung auf¬
zustacheln und für die polnischen Zeiten zu begeistern. Damit mag auch die
meines Wissens nur hier vorkommende Erscheinung zusammenhängen, daß viele
Kreisstädte kleine Flecken sind, in welche 1849 die neuen Kreisgerichte nicht
gelegt werden konnten, und aus denen zuletzt auch die andern Behörden nach
den Kreisgerichtsstädten übersiedelten. So haben Sie die eigentliche Kreisstadt
des Kröbener Kreises in Rawicz, des Fraustädtcr in Lissa, des Bvmster in
Wollstein, des Adelnaucr in Ostrowo, des Schiltberger in Kempen, des Buker
>n Grätz, des Oborniker in Nogasen, des Wirsitzcr in Lobsens, des Chodziesener
in Schneidemühl, des Czarnikauer in Schönlant'e zu sehen.
Ein neues Leben wird sich uns aufthun und die Provinz Posen zu den
wohlhabendsten der Monarchie gehören, wenn die Schlagbäume von Szalmierzyce
und Pogorzelice fallen dürfen; denn schon jetzt haben wir Handel und einen so
erheblichen Geldverkehr, daß unsere Bank die einzige ist, welche die ihr gestatte¬
ten 1,000,000 Thlr. in Banknoten wirklich in Umlauf hat. Wir sind jetzt hier
1.476,675 Einwohner und haben zu unserem Schutz 17,946 Soldaten bei uns,
und zwar kommen auf Bromberg 516,973 und auf Posen 959.702 Seelen. So
die Zählung vom 3. December 1861, aus welcher resultirte, daß sich die Be¬
völkerung seit 1858 im Posenschcn um 5.91«/«. im Brombcrgschen um 4,64°/g.
in der ganzen Provinz um 5,47<V<, vermehrt hat. Sehen wir von der Stadt
Berlin und vom Jahdegebiet ab, so ist bei uns die Bevölkerung am mächtigsten
gewachsen. Zu meinem Bedauern muß ich bei den weiteren Mittheilungen die
Volkszählung von 1858 zu Grunde legen, da die Details der letzten noch nicht
veröffentlicht sind. Damals wohnten im
Unter den acht preußischen Provinzen hat nur Preußen eine verhältnißmäßig
größere Zahl von Ehen. Auch in Rücksicht der Sittlichkeit steht Posen auf
zweiter Stelle. In Westphalen ist das 27. Kind ein uneheliches, in Posen
das 13.; dann fallen die Zahlen schnell; in Schlesien ist es schon das 7. bis 8.
Diese zahlreiche Auswanderung drängt nach zwei Seiten. Brodlose Arbeiter,
Unzufriedene aller Art und leider auch aufgeredete und nachmals furchtbar
betrogene Dienstleute ziehen nach Russisch-Polen. Es kann nicht ernst genug
hiervor gewarnt werden. Mit den gleißendsten Versprechungen angelockt, er¬
fahren die Opfer, sobald sie nur die Grenze hinter sich haben, die traurige
Wahrheit. Eheleute werden getrennt; der Mann harter Frohnde unterworfen,
mit der Knute zum Schweigen gebracht, zu arm, um zurückzukehren, vermag
er nicht einmal den Aufenthaltsort seines jungen Weibes zu ermitteln und hat in
Bezug auf sie das Schlimmste zu fürchten. Nackt und bloß, so versichert er
seinem früheren deutschen Grundherrn durch Briefe, die er auf sinnreichen
Wege ihm zuzusenden weiß, möchte er wiederkommen, wenn dieser Mittel
wüßte, ihn nach Preußen zurückzuführen.
Sie bemerken, daß ich einen erlebten Fall im Auge habe, aber fast jeder,
der sich hier für das Leben des Volkes interessirt, könnte mit einem solchen
dienen.
Eine andere Auswanderung geht nach Westen, nach Amerika, auch nach
Australien. Dorthin ziehen vor Allem unsere Juden, und fast jede jüdische
Familie hat dort einen oder mehre ihrer Angehörigen, meist jüngere Leute,
welche später die Ihrigen nachrufen sollen, und auf welche diese ihre Hoffnung
gesetzt haben, wie die alte Frau, die mir gegenüber wohnt und die einzige
Person in der Stadt ist, die es nicht weiß, daß „ihr Kind in Amerika" seit
vier Jahren todt ist.
Die Einwanderer sind Deutsche von allen drei Richtungen bis aus Sachsen
her. Sie mögen kommen, denn es ist noch genug Raum da. ^
leben durchschnittlich nur 2,643 Einwohner auf der Quadratin eile. Die Hoff¬
nung aber, als gebe es hier eine» andern und leichtern Weg, zu Wohlstand
zu gelangen als in ihrer Heimath, mögen sie zurücklassen. Ohne Fleiß, Ord¬
nung und Nüchternheit werden sie im fremden Lande dem Proletariat nur
doppelt schnell verfallen.
Sie kennen die Mischung unserer Bevölkerung, 1838 waren bei uns:
Polnisch und katholisch, deutsch und evangelisch sind also nicht cvngruente
Begriffe. Es gibt gegen 20.000 evangelische Polen und über 100,000 deutsche
Katholiken im Lande; gleichwohl werden diese Beziehungen als gleichbedeutend
genommen. Daß, wie man erzählt, ein Bauer vor Gericht erklärt, er „spreche
nicht lutherisch", ist gewiß selten; der Ausdruck aber: „deutsch oder polnisch
werden" für den Uebertritt zur evangelischen oder zur katholischen Kirche ist der
allein herrschende. Der unirt gesinnte evangelische Pfarrer, weicher sich zu dem
verständlichen „lutherisch" nicht bequemen mag, hat große Mühe, ehe er von
seinem Schüler ein anderes Bekenntniß, als das zum „deutschen Glauben" er¬
langt. Wir könne» uns die Sache gefallen lassen, aber für die deutschen
Katholiken und für die Polen ist sie gleich verderblich. Ersteren wird unter
der Borstellung, daß jeder Katholik Pole sein müsse, tue Befriedigung ihrer
kirchlichen Bedürfnisse verweigert oder vorenthalten. „Lernen Sie," sagt man
ihnen, „die Sprache Ihres Baterlandes, diejenige, in welcher hier das Evan¬
gelium gepredigt wird" und unter dem Bvrgeben, jeder Streit wider die pol¬
nische Sache werde auch gegen die katholische Kirche geführt, werden sie wider
besseres Meinen und Wollen unter das Joch der polnischen Mehrzahl ihrer
Glaubensgenossen gezwungen. Noch unheilvoller ist diese von unserer katholi¬
schen Geistlichkeit ausgestreute Lüge für die Polen selbst. Ich kenne keinen
furchtbareren Feind des polnischen Botts und Landes, als den Katholicismus,
speciell: den Jesuitismus; er ist die Boa constrictor, unter deren Umarmungen
Polen politisch untergegangen ist und ohne unsere Reaction auch Physisch und mo¬
ralisch zu Grunde gehen würde. Ich kann mich dafür auf das Wort des berühmten
Polnischen Predigers Samuel Dkjbrowski (Dombrowski) berufen, welcher schon
ums Jahr 1600 seinen Landsleuten den Untergang des Reiches als eine Strafe
für die Berfolgung des Evangeliums ankündigte. „Die Zeit wird es kund
thun; es wird über euch kommen all das gerechte Blut, und nicht allein das,
sondern auch die Thränen der um ihres Glaubens willen geplagten Leute"---
„vonikt es wird kommen, was wird kommen? vwäicitu. äst, die gerechte Rache
Gottes" — — „so ist nichts gewisser als daß man Trümmer und kläglichen
Verfall zu erwarten habe."
Erlauben Sie mir aber auch das Zeugniß eines katholischen Polen anzu¬
führen. Der Literarhistoriker Wvjcicki schreibt: „Kaum hatten die Jesuiten im
Volke die Oberhand gewonnen, so war es. als ob eine finstre Decke, eine un¬
durchsichtige Dämmerung die noch nicht erstorbene Literatur der Sigismundschen
Zeiten verhüllt hätte. Ein dem polnischen Volke bis dahin unbekannter Fana¬
tismus besudelte die Namen der verdienstvollsten Schriftsteller des goldenen
Zeitalters. Die jesuitischen Zöglinge suchten in denselben Stellen auf, um ihren
mangelhaften Glauben nachzuweisen und sie der Ketzerei anzuklagen. Sie
zertraten in den jugendlichen Gemüthern die persönliche Würde; denn indem sie
die Knäblein des niedern Adels hochmüthig machten, lehrten sie dieselben doch
zugleich vor dem hohen Junkerlein kriechen und sich gemein machen. Die
schnurrbärtigen Schulbuben richteten sie zu blutigen Händeln und Störungen
des bürgerlichen Friedens ab, indem sie ihre Schaaren im Namen Gottes und
der Religion zur Zerstörung und Niederbrennung der Gotteshäuser anders¬
gläubiger Brüder anführten. Nachdem die Bildung des sechzehnten Jahrhunderts
vergessen war, redete und schrieb der Zögling ihrer Schulen eine barbarische
Sprache und war dermaßen ungebildet und unaufgeklärt, daß er von dem
Standpunkte und den Bedürfnissen seines Volkes nichts verstand und begriff.
Sonst allezeit gottesfürchtig und edelmüthig, begann nun der Edelmann, wie
ein Blinder umherzutappen und hielt den ihm eingeredeten blinden Glaubens-
eifer und die Frömmelei für Religion, die Jesuiten aber für Muster der Heilig¬
keit. Ohne Verständniß für den Geist der Zeit war die ganze Masse des
niedern Adels ein Spielball der hochmüthigen Magnatlein, welche ihn leiteten,
wie sie wollten, aber es nie auf die rechte Weise wollten. Der Verfall der
Nation erfolgte nicht, wie dies Adrian Krzyzanowski behauptet, durch die
Schuld der Könige, sondern durch die Schuld der Magnaten und der Jesuiten."
Die Lage der Dinge ist noch dieselbe. Die Sache, für welche die pol¬
nische Bewegungspartci einsteht, ist die des religiösen Obscurantismus, des
politischen und socialen Feudalismus, des Junkerthums in der häßlichsten Form.
Die Sache der preußischen Regierung und der Deutschen in der Provinz Posen
ist die des Rechtes, der Freiheit und Wahrheit. Es wäre nur die Schuld
meiner Darstellung, wenn die in den nächsten Briefen folgenden Schilderungen
den Beweis dafür schuldig blieben.
Was die kirchliche Versorgung der Provinz anlangt, so hat Herr v. Mon-
talembert Europa belehrt: die Katholiken werden versäumt; wo fünf bis sechs
Protestanten in einem Orte leben, wird ihnen ein Kirchen-System errichtet.
Lassen wir die Zahlen aufmarschiren. bemerken aber vorher, daß die Pro¬
testanten, da sie zerstreuter wohnen, mehrer Kirchen und Geistlichen bedürfen, als
die mehr concentrirten Katholiken, sodann daß diese ihre Pfarreien durch die
Misfallen unterhalten, welche ohne Unterschied des Glaubens — nach staatlicher
Entscheidung — nur in unserer Provinz und auch da nur an katholische
Pfarrer von sämmtlichen Grundbesitzern, selbst von evangelischen
Geistlichen entrichtet werden.
Im Kreise Fraustadt übernahm ein katholischer Besitzer ein bis dahin evan¬
gelisches Gut und ließ sofort den Decem ruhen, wie dies auch in Schlesien
geschieht; der evangelische Geistliche klagte und ward mit seinem Anspruch auf
Weiterleistung der Gefälle abgewiesen. Nun weigerte ein evangelischer Besitzer
desselben Kreises seinem katholischen Pfarrer das Meßgetreide, und siehe da,
er ward gerichtlich gezwungen, es ferner zu geben; denn die preußische Regie¬
rung schützt die katholische Geistlichkeit in den Rechten, die sie zu polnischen
Zeiten hatten. Ja, sie gibt ihnen insofern noch neue, als sie die im Landrecht
ausgesprochene Verpflichtung der Patrone und der Gemeinden, die Baulichkeiten
der Pfarrer zu unterhalten, auch auf die Dominien überträgt, welche die
Widemut unserer Pröbste bilden. Einer derselben hatte bei der seinigen
eine Schenke gehabt. Das Schenken in derselben hatte aufgehört, und das
Gebäude mit seinem Zubehör zerfiel. Da verlangte ein späterer Geistlicher
von der Gemeinde Wiederaufbau des Etablissements; dieselbe weigerte sich; der
Landrath stellte vor, daß er dem geistlichen Herrn niemals eine Schenkgerech-
tigteit geben werde. Vergeblich, die Gemeinde ward genöthigt, dem Probst
die geforderten Gebäude aufzuführen.
Doch zu den Zahlen.
Sie sehen, der fromme Herr v. Montalembert hat entweder dreist ge¬
logen oder der hochgelehrte Akademiker ist von dem polnischen Klerus hin¬
ters Licht geführt worden. Man lasse ihn wählen, was er lieber zugibt.
Im Einzelnen stellt sich das Verhältniß der, Polen und Deutschen so, daß
in den Kreisen an der polnischen Grenze mit Ausnahme von Inowraclaw
Der größere Wohlstand ist auf unserer Seite. In Stadt und Kreis
Bromberg, wo das Verhältnis; der Deutschen zu den Polen das von 3:2 ist,
beträgt die Einkommensteuer 21.000 Thlr.; davon zahlen die Deutschen
19,700 Thlr.. die Polen 1300 Thlr., also 15:1. In der Stadt Posen zahlen
von 30,813 Deutschen 537, von 16,727 Polen 89 Personen Einkommensteuer,
also 7:1. )>n Posener Landkreis zahlen 23 deutsche, 22 polnische; im
Kreise Obornik 34 deutsche und 23 polnische Familien Einkommensteuer. Dies
Verhältniß ist ziemlich überall dasselbe; nur in den östlichen Grenzkreisen ist
der polnische Grundbesitz weit überwiegend.
' Um mit meinem Vorrath statistischer Notizen zu Ende zu kommen, muß
ich noch anführen, daß bei uns 378,110 Städter mit 1,039,045 Landleuten zu¬
sammen wohnen. Wir haben 138,192 Privatwohnhäuser, überhaupt 365,002 Ge¬
bäude. Sie mögen sich dieselben in 143 Städten, 4 Flecken, 3141 Dörfern,
1504 Vorwerken. 876 Weilern. 981 andern Etablissements aufsuchen. Die
Summe von 6649 Niederlassungen ist verhältnißmäßig gering, die der Städte
unverhältnißmäßig groß, doch sind diese selbst meist unbedeutend. Ihre Menge
hat ihren Grund einmal in der Geschichte der deutschen Einwanderung (über
welche im dritte» Briefe) und dann in der Neigung des Magnaten groß zu
thun und den Herrn zu machen. Dieser Hochmuth hat manche Stadt errichtet,
welcher die ersten Lebensbedingungen fehlten, und die darum nie etwas Ande¬
res als ein Dorf mit städtischen Rechten sein konnte. Man erzählt, daß als
Graf Bninski Buin gegründet habe, jetzt ein Städtchen von 1259 Einwohnern,
sein Nachbar, Graf Dzialynski, darüber unwillig und selbst der Gründer einer
dicht an Buin stoßenden Stadt geworden sei, welcher er zum Hohn den Namen
Kurnik d. i. Hühnerstall gegeben habe. Nun standen, um in der Sprache
der Magnaten zu bleiben, zwei Kurniks neben einander.
Im nächsten Briefe schildere ich Ihnen nach dieser etwas trocknen, aber
nothwendigen Orientirung über Land und Volk unserer Provinz im All¬
gemeinen das Volk in den lebendigeren Farben, die es bei näherer Betrachtung
zeigt. Ohne weiter viel nach statistischen Zahlen zu fragen, wollen wir den
Deutschen und den Polen, den Christen und den Juden im Hause und auf
dem Felde aufsuchen und ihn dort genauer kennen lernen, wie er sich gibt, auch
Persönliches nicht ausschließend. Wo sichs ermöglicht, thun wir dabei einen
Griff in die polnische Geschichte. Nur erwarten Sie da nicht zu viel; denn
der Pole kennt weder conservirendc Sorgfalt, noch historischen Sinn. „Die
Ruinen als solche sind überall das Werk der Polen," sagt Kattner in seiner
muthigen und auf fleißige Studien gegründeten „Deutschen Abrechnung mit den
Polen", und auch Herr v. Alberg meint in seiner maßvollen und gründ¬
lichen Schrift: „Das Großherzogthum Posen und die Polen", daß manches so¬
genannte AameK, Schloß, besser --ame^sko Trümmer, heißen sollte.
So einig auch Regierung und Stände in politischen Dingen waren, so
vielen Anlaß zu Streitigkeiten gab es seit Jahren aus dem Gebiet des Kirchen-
wesens, namentlich im Großherzogthum Mecklenburg-Schwerin, wo noch während
der constitutionellen Aera in dem Oberkirchenrath eine von der Staatsregierung
unabhängige, in unmittelbarer Beziehung zum Landesherr» als Oberbischof
stehende höchste Kirchenbchörde geschaffen war, welche die Stände als verfassungs¬
mäßiges Organ bisher nicht anerkannt und in deren Anordnungen sie schon
mehrfach Grund zur Beschwerdesührnng gefunden hatten. Die Landschaft fast
ohne Ausnahme und dazu ein großer Theil der Ritterschaft waren Gegner der
in dem Oberkirchenrath, dessen Seele Kliesoth ist, repräsentirten und auf die
Mehrzahl der Pastoren der Landeskirche, zumal die jüngeren, übergegangenen
modernen Kachlichkeit. Auch die orthodox gesinnten Mitglieder der Ritterschaft
waren nur theilweise mit der Richtung des Kliesotbschen Kirchenregiments ein¬
verstanden, indem es unter ihnen auch solche gab, welche die Macht und Wirk¬
samkeit der Kirche wohl im Uebrigen schalten und dankbar sich gefallen ließe»,
aber doch verlangten, daß das Kirchenregimcnt sich vor allen Kollisionen und
dem Competenzkreise der Stände hüte und nicht als selbständige Macht neben
den staatlichen Organen eine Wirksamkeit üben wolle.
Auch auf dem Landtage von 1862 trat die Mißstimmung der Stände gegen
das Kirchenrcgiment an mehr als einem Punkte und in größerer Schärfe als
bisher hervor.
Zunächst war es eine Anordnung des Oberkirchenraths in Betreff der
Wiedertrauung geschiedener Eheleute, worin die Landtagsversammlung einen Ein¬
griff in ti^ Landesgesetzgebung und daher einen Grund zu lebhafter Beschwerde
fand. Der Oberkirchenrath hatte unter dem 4. Juni 1860 die Geistlichen an¬
gewiesen, geschiedenen Eheleuten auch in den Fällen, wo die Eingehung einer
neuen Ehe durch richterliches Erkenntniß ausdrücklich gestattet war, nur nach
Einholung seiner Genehmigung die erbetene Trauung zu gewähren. Nachdem
die Stände schon im Jahre vorher die Zurücknahme dieser Anordnung verlangt,
hatte ein großhcrzoglichcs Rescript vom 10. Mai 1862 sich zu Gunsten derselben
ausgesprochen. Die Landtagsversammlung beharrte jedoch bei ihrer Ueberzeugung,
verwahrte sich gegen die in dem großherzoglichen Rescript enthaltenen Anschau¬
ungen und beantragte wiederholt die Zurücknahme der Anordnung.
Das Gutachten der Landtagscommisston, welches diesem Beschlusse zu
Grunde lag, erklärt sich über den Charakter der Maßnahme des Obertirchen-
raths mit folgenden scharfen Worten:
„Dem vollberechtigter Verlangen des unschuldigen Ehegatten, nicht im
erzwungenen Cölivat zu bleiben, stellt sich in Mecklenburg der Oberkirchenrath
entgegen, und das Allerhöchste Rescript billigt und rechtfertigt seinen Widerstand,
Machen wir uns die Consequenzen klar: Der Oberkirchenrath beansprucht für
sich in allen nicht ausdrücklich von ihm ausgeschlossenen Fällen die höchste Cogni-
tion in Ehesachen, die ihm nimmermehr zusteht. Ohne Gehör der Parteien,
ohne hinreichende Kenntniß der Acten will er seine Entscheidungen, seine Jnhibi-
torien erlassen, und die Normen seiner Entscheidungen sind nicht die Landes¬
gesetze, sondern seine Schriftauslegung. Er hält sich für berechtigt zu verbieten,
was die Gerichte, ja was unter Umständen der Großherzog selbst erlaubt hat,
er untergräbt damit das Ansehen der Gerichte, damit zugleich der Obrigkeiten,
und verkehrt das Princip der im Staate geordneten Gewalten. Er thut dies
angeblich, weil er sich an den von ihm behaupteten Ueberschreitungen der Ge¬
richte nicht betheiligen will. Diese Ueberschreitungen kann er aber ohne voll¬
ständige Kenntniß der Acten nicht beweisen, er vermuthet sie nur; und wenn
dennoch in dieser Materie das Ansehen der Gerichte dem des Oberkirchenraths
untergeordnet würde, so ist nicht abzusehen, wo die Grenze solcher kirchlichen
Uebergriffe sein möchte. Der Kirche selbst wird dadurch der größte Schaden
zugefügt. Nicht das bringt ihr Schaden, daß der einzelne Geistliche eine
Trauung vollzieht, für welche das Gericht 'die Verantwortung trägt, wenn es
dieselbe erlaubt hat, sondern daß sie die Schuld trägt an allen Folgen des
unnatürlichen Zwanges zum ehelosen Leben, daß sie die Schuld trägt, wenn
derjenige aus seinem Vaterland, aus seiner Kirche scheidet, dem die letztere
unberechtigt ihre Segnungen versagt und den das erstere dagegen nicht zu schützen
vermag." Schließlich empfiehlt die Commission: „die Wiederaufhebung der
Circularverordnung des Oberkirchenraths zur Beseitigung eines Conflictes wieder¬
holt zu verlangen, dessen Folgen die lebhafteste Sorge und Bedenken der Stände
wachgerufen."
Diese Angelegenheit stand noch mit einer andern in enger Verbindung.
Auf dem Landtag von 1860 ward ein Gesetzentwurf wegen der Trauungen
im Auslande vorgelegt, den die Stände unter der Bedingung annahmen, daß die
Circularverordnung des Oberkirchenraths wegen Wicdcrtrauung geschiedener Ehe¬
leute zurückgezogen würde. Dieser Bedingung ward noch die Bitte hinzugefügt:
der Großherzog wolle den Predigern die Weisung zugehen lassen, daß sie in
Fällen der beantragten Trauung geschiedener Personen nur die gesetzlichen Be¬
dingungen zu berücksichtigen und bei der Frage über die Zulässigkeit lediglich
das bezügliche Ehescheidungserkenntniß zu Grunde zu legen hätten. Das Ge¬
setz ward nach einigen weiteren Verhandlungen in beiden Großherzogthümern
publicirt, ohne daß die für Schwerin gestellte Bedingung erfüllt worden wäre
und die hinzugefügte Bitte Berücksichtigung gefunden hätte. Die Landtags¬
commission äußert sich auch über diesen Differenzpunkt in sehr scharfer Weise.
Sie erklärt ganz offen, daß, da die Bedingung nicht erfüllt sei, zwischen Re.
gierung und Ständen eine Vereinbarung nicht stattgefunden habe, daß also das
Gesetz nicht auf verfassungsmäßigen Wege zu Stande gekommen sei und daher
nicht hätte publicirt werden dürfen, und fährt dann fort: „Wie die Sache jetzt
liegt., gereicht sie den Ständen zur größten Beschwerde, indem jetzt nicht allein
gesetzlich im Anlaute zulässige Trauungen durch Inhibitorien des Oberkirchen-
ratbs unmöglich gemacht werden, sondern auch, durch die Versagung der Pro-
clamation im Anlaute, gesetzlich erlaubte Trauungen Geschiedener im Auslande
mit Strafen belegt werden. Wie aber, fragen wir billig, ist es möglich, daß
Jemand in Untersuchung, ja in Strafe genommen werde, wenn er eine erlaubte
Handlung begeht, d. h. sich im Auslande trauen läßt, nachdem ihm die Trauung
durch rechtskräftiges Erkenntniß, ja vielleicht im Namen Sr. K. H. des Groß-
herzogs selbst, ausdrücklich erlaubt worden ist? Widerspricht es nicht der Würde,
dem Ansehen der Gerichte, wenn sie Unschuldige zur Strafe ziehen sollen, wenn
diesen blos deshalb eine Gefängnißstrafe bis zu drei Monaten aufzuerlegen ist,
weil sie die Proclamation, die ihnen nach den bestehenden Landesgesetzen nicht
versagt werden durfte und dennoch versagt wurde, nicht erreichen konnten und
nun ohne Proclamation sich im Auslande trauen ließen? Hat endlich nicht das
Gewissen des Richters gleichen Anspruch auf Berücksichtigung wie das eines
Predigers? Ein Strafgesetz, das ein Gericht zwingt zu bestrafen, was gesetzlich
erlaubt ist, ist eine solche Abnormität, daß sie nicht, von Bestand bleiben darf.
Stände haben aber auch die Berücksichtigung der Wiedertrauung Geschiedener
im Auslande, denen im Inlande aus ungesetzlichen Gründen die Trauung ver¬
sagt wurde, schon in ihrer ersten unter dem 12. März 1861 abgegebenen Er¬
klärung so bestimmt im Gesetze verlangt, daß sie im Falle der Nichtberücksich-
tigung die ständische Erklärung als eine den Entwurf ablehnende betrachtet
sehen wollen. Demnach glaubt das Juflizcomite. daß in der weiter abzugeben¬
den ständischen Verwahrung gegen die Publication jenes Gesetzes, das in seiner
jetzigen Fassung und so lange die Circularöerordnung bei Bestand bleibt, nicht
legal zu Stande gekommen ist, das ganze Gewicht der ständischen Beschwerde
gegen die oberkirchcnräthliche Circularverordnung zu richten sei. Zugleich möchte
es aber nöthig sein, auch die Bitte um die oben erwähnte Weisung Sr. K. H.
dringend und deshalb in Hoffnung auf Gewährung der Bitte zu wiederholen,
weil dadurch erst wieder ein Rechtsgebiet seine gesetzliche Begrenzung erhält,
welches der Oberkirchenrath durch unberechtigtes Hineinbringen kirchlicher Fragen
verwirrt hat." Auch mit diesem Antrag und seiner Motivirung erklärte sich die
Landtagsversammlung ohne Abstimmung einverstanden.
Der tiefe Zwiespalt zwischen den Ständen und dem von der Staats¬
regierung in Schutz genommenen Kirchenregiment zeigte sich auch noch an einem
weiteren Streitpunkt, welcher den Landtag schon seit vier Jahren beschäsngt
Der Oberkirchenrath hatte in den Jahren 1852. 1836 und 1858 Vorschriften
und Formutare für die Taufe, die Trauung, die Ordination und Introduction
der Prediger und die Confirmation erlassen. Die Stände beschwerten sich
darüber seit dem Landtage von 1858, indem sie behaupteten, daß in jenen
neuen Regulativen Abweichungen von den Vorschriften der mecklenburgischen
Kirchenordnung enthalten wären, weshalb dieselben nicht ohne ihre Zustimmung
hätten erlassen werden können. Anfangs ward die erbetene Mittheilung der
neuen Formulare Seitens des Oberkirchenraths verweigert. Als aber die
Stände sich dieselben auf andere Weise zu verschaffen gewußt hatten und nun
von Neuem mit ihren Beschwerden vorgingen, ward es von der Gegen¬
seite bestritten, daß die Formulare mehr als blos formelle Abweichungen von
der mecklenburgischen Kirchenordnung enthielten. Der Engere Ausschuß empfing
nun den Auftrag, den Gegenstand näher zu prüfen, und legte in Folge dessen
dem Landtage von 1862 einen umfänglichen Bericht vor, in welchem die we¬
sentlichen Neuerungen der Formulare nachgewiesen wurden. Der Engere Aus¬
schuß war dabei zu dem bemerkenswerthen Ergebniß gelangt, daß ein Theil
der eingeführten Abänderungen nicht in einem rituellen Bedürfniß, sondern in
einem abweichenden dogmatischen System des Obcrtirchenraths seinen Grund
habe, und dies veranlaßte ihn zu einem scharfen Protest, durch welchen der
Oberkirchenrath, welcher gerade auf die Erhaltung der reinen Lehre ein so
großes Gewicht legt, nun selbst unter die Anklage der Abweichung von der¬
selben gerieth. „Auf das Ernstlichste und Nachdrücklichste", so sagt der
Bericht, „müssen Stände sich dagegen verwahren, daß der Lehrbegriff der
Kirchenordnung im Geringsten alterirt wird, was aber geschieht, wenn die
agcndarischen Vorschriften der Kirchenordnung einer Doctrin zu Liebe ab¬
geändert werden, die in der Kirchenordnung keinen Anhalt und auch sonst
keineswegs allgemeine Anerkennung gefunden hat." Die Stände beschlossen,
auf Grundlage dieses Berichtes die Verhandlungen fortzusetzen und die Forde¬
rung zu stellen, daß die neuen Formulare entweder zurückgezogen oder dem
Landtage zur verfassungsmäßigen Berathung vorgelegt würden. Zugleich sollten
diese Verhandlungen sich auch aus die neuen Vorschriften und Formulare in Betreff
der Beerdigung erstrecken, welche der Oberkirchenrath ungeachtet des schwebenden
Streites noch in neuester Zeit den früheren hinzugefügt hatte.
Diesen Zeichen eines tiefgehenden Zwiespalts gegenüber hat es wenig auf
sich, daß in einer Streitsrage von geringerer Bedeutung durch das Entgegen¬
kommen des Oberkirchenraths eine Einigung erzielt ward. Es handelte sich
dabei um die sogenannten Kircheninspectionen, welche die Superintendenten seit
längerer Zeit in verschiedenen Gemeinden vorgenommen hatten. Die Stände er¬
klärten diese Jnspectionen mit Kirchenvisitationen gleichbedeutend, für welche im
Landesvergleich von 1775 verschiedene Formen vorgeschrieben waren, deren Beob-
achtung man bei den Inspektionen nicht für nöthig gehalten hatte. Der Oberkirchen-
rath erbot sich jetzt, es zur vberbischöflichen Genehmigung zu empfehlen, daß
künftig die Aufforderung an die Gemeinde zur Anbringung ihrer etwaigen
kirchlichen Wünsche und Beschwerden wegfiele, wogegen die Stände ihren Wider¬
spruch gegen die öffentliche Anmeldung des Superintendenten zur Kirchen-
inspectivn und gegen die Rede desselben aus dem Altar an die Gemeinde aus¬
geben sollten. Ferner erbot sich der Oberkirchenrath, die Superintendenten
zur Anzeige der bevorstehenden Inspektion einer Kirche ständischen Patronats
an den Kirchenpatron zu verpflichten. Die Stände nahmen diese Anerbietungen
an und gaben damit ihren Widerspruch gegen die Kirchcninspectionen aus.
In der Baumgartcnschen Sache waren die Stände vor mehren Jahren
so weit vorgegangen, daß sie die Vertretung des Professor Baumgarten wegen
seiner Amtsentlassung übernommen hatten. Sie bereuten aber bald diesen Schritt
und gaben schon auf dem nächsten Landtag den Beschluß wieder auf. Der
Mehrzahl der Landstände gilt Baumgarten als ein politischer Unruhestifter, dessen
Sache man selbst dann nicht aufnehmen dürfe, wenn sie gerecht sei. Daher
fand denn auch der Antrag des Herrn Dethloff auf Carlsruhe: den Gro߬
herzog zu ersuchen, daß er dem Oberkirchenrath befehlen möchte, „die in meh¬
ren Schriften von Baumgcmen, Selim und Lenz erhobenen und zur allgemeinen
Kunde gekommenen Anklagen mit Thatsachen öffentlich zu widerlegen, widrigen¬
falls sein Amt niederzulegen", bei der Landtagsversammlung keinen Anklang.
Die von den Ständen angeregte Prüfung der Frage, ob der Oberkirchen¬
rath in der ihm angewiesenen Stellung ein mit der Landesverfassung verein¬
bartes Organ sei, ruhet seit längerer Zeit. Dagegen spielt sich eine die Stre-
litzer angehende analoge Frage, welche die Rubrik trägt: „Beseitigung der mit
der gegenwärtigen Stellung des Cvnsistoriums zu Ncustrelitz verbundenen Un-
juträglichkeiteu", von Landtag zu Landtag fort. Die Strelitzer Landesregierung
sorgt für die regelmäßige Wiederkehr dieses Punktes unter den Propositionen
des Engeren Ausschusses dadurch, daß sie den bezüglichen ständischen Anträgen
ein beharrliches Schweigen entgegensetzt. Der Engere Ausschuß mußte auch
diesmal wieder berichten, daß er auftragsmäßig den Großherzog von Mecklen¬
burg-Strelitz ersucht habe, die schon seit längerer Zeit wiederholt erbetene Re¬
solution nunmehr zu ertheilen, bisher jedoch gleichfalls ohne Erfolg. Die
Stände faßten darauf den Beschluß, dringend zu maturiren.
Alle diese auf das Kirchenwesen bezüglichen Verhandlungen verliefen in
dein gewohnten Gange und ohne im größeren Publicum besondere Beachtung
Zu finden. Dagegen ward durch ein Mitglied der Ritterschaft ein Fall aus
°er modernen Kirchenpraxis zur Sprache gebracht, welcher schon sofort nach
seiner Kundwerdung das größte Aufsehen im Lande gemacht hatte und nun
«und auf dem Landtage eine lebhafte Bewegung hervorrief, die sich dann auch
in der Presse innerhalb der gegebenen Grenzen einigermaßen abspiegelte und
sogar die Wirkung hatte, daß mehre der höchsten Kirchensäulcn, die sonst nicht
gewohnt sind, ihr Verhalten in den Zeitungen zu rechtfertigen, wie der Ober¬
kirchenrath Kliefoth und der Superintendent Polstorff, mit Berichtigungen und
Verantwortungen öffentlich hervorgingen.
Es handelte sich um einen Act der Kirchcndisciplin, welchen der Pastor
Plaß zu Serrahn, einem im „Hahnschen" belegenen Dorfe, durch Verweigerung
des kirchlichen Begräbnisses geübt hatte.
Der Pastor Plaß gehört zu den vorgeschrittensten Kampfwerkzeugen der
modernen Kirchlichkeit. Auf der Gadebuscher Pastoralconferenz im Jahre 1861
hatte er die These aufgestellt, daß Niemand ein wahrer Christ sei. der nicht
mindestens alle Vierteljahre einmal zum si. Abendmahl gehe und nicht an sei¬
nen Kindern die Taufe noch vor Ablauf des achten Tages nach der Geburt
vollziehen lasse. Noch bekannter als durch diese These ist er durch seine Dia-
bvlologie oder Teufelslehre geworden, welche er in der Zeitschrift für lutherische
Theologie und Kirche von Nudelbach und Guerike, Jahrgang 1863, als die
Frucht seiner gelehrten Forschung in der- si. Schrift veröffentlichte. Er ver¬
kündigt hier, gleichfalls in Thesenform, die Entdeckung, daß es auch in der
Teufelsw ete eine Art Dreieinigkeit gibt, allerdings nur „ein Affenspiel
der Trinität". Nach seiner Lehre ist die erste Person des Teufels oder Teufel Va¬
ter der Satan, auch der große Drache und die alte Schlange genannt. Die zweite
Person oder Teufel Sohn ist das „Thier von der Erde" mit zwei Hörnern,
auch als falscher Prophet bezeichnet. Die dritte Person oder Teufel Geist ist
das „Thier aus dem Meere" mit sieben Häuptern, zehn Hörnern und zehn
Kronen. „Alle drei sind stetig zusammen, nicht sub-, sondern coordinirt."
Die Macht dieser drei, in gewisser Hinsicht, nämlich im Streben und Wirken,
einigen Personen reicht nicht weiter als sie ihnen Gott einräumt. Alle drei
bösen Personen haben ihre Werkzeuge, wiederum lebendige Wesen, in welche
sie sich verstellen. Diese Offenbarungen in der Geschichte aufzusuchen ist Auf¬
gabe der theologischen Wissenschaft, deren Ergebnisse dadurch an. Bedeutung
nur gewinnen können, da es sich nicht um todte, nichtssagende Gedanken, son¬
dern um lebende Personen handelt. Dem in drei Personen bestehenden ober¬
sten Teufel sind alle übrigen Teufel oder bösen Engel untergeordnet. „Gute
Engel gibt es mehr denn zwölf Legionen (72,000). Böse Engel gibt es nicht
soviel, aber doch mehr als einen. Aus Maria Magdalena wurden sieben un¬
reine Geister ausgetrieben (Luc. 8, 2). Bei den besessenen Gadarenern kom¬
men 6000 vor (Marc. S, 9). Mehr werden nicht erwähnt. Der guten sind
zum Trost und Dienst der Gläubigen mehr als der bösen." Jene bösen Gei¬
ster sind aber, nach der Lehre des Pastor Plaß, nicht Abstracta oder Ge¬
dankendinge, etwa die Sünde im Menschen, sondern Personen. „Denn sie kön-
nen gehen und kommen, reden und handeln, ausfahren und Pläne zur Rückkehr
schmieden (Luc. 11, 26)." Sie heißen: die Teufel (Jac. 2, 19).
Es würde nur im Bereiche dieser Vorstellungen liegen, wenn es wahr
wäre, was das Gerücht sagt, daß der Pastor Plaß bei Vollziehung von Tau¬
fen stets dafür zu sorgen pflegt, daß eines der Fenster des Taufzimmers geöff¬
net ist, damit der aus dem Kinde auffahrende unsaubere Geist sofort einen
bequemen Ausgang finde. Der Vater eines Täuflings soll einmal im Winter
bei großer Kälte um Dispensation von dieser Bedingung gebeten und statt des
Fensters den geöffneten Ofen zur Verfügung gestellt, demnächst aber schalkhafter
Weise dem Pastor das Geständniß abgelegt haben, daß es vergessen worden
sei, den Schieber in der Ofenröhre zu öffnen, so daß nun wohl der ausgefah¬
rene Teufel sich im Ofen verfangen haben werde, wodurch er begreiflich den
Unwillen des Pastors in hohem Maße gegen sich herausforderte.
Daß ein solcher Seelenhirt auch mit manchem guten Christen in seiner
Gemeinde in einem sehr üblen Verhältnisse stehen mußte und daß es nicht
Jedermanns Sache sein konnte, gerade in seiner Kirche Erbauung zu suchen, ist
ebenso gewiß, als daß ein Geistlicher, der in der Teufelswelt so umfassende
Studien gemacht hatte, nicht in allen übrigen Obliegenheiten seines Amtes und
Berufes gleich gut zu Hause sein und daher bei der Uebung der Kirchenzucht
Wohl manchmal die kirchenordnungsmäßigen Grenzen seines Rechts verfehlen
konnte.
Zu den Gemeindegliedern des Pastor Plaß gehörte der frühere Guts¬
besitzer Krüger, Schwiegervater des Herrn v. Bassewitz auf Dersentin, bei dem
er sich seit einigen Jahren aufhielt, und des Herrn v. Hintzenstern auf
Lütgendorf und Blücherhof. Der alte Herr hatte als mecklenburgischer frei¬
williger Jäger die Feldzüge von 1813 bis 1815 mitgemacht und mit Zeichen
der Tapferkeit geschmückt einen ehrenvollen Abschied bekommen. Obwohl keines¬
wegs ein Verächter der Kirche und des geistlichen Amtes, war er aus Grün¬
den, die in der Person des Pastors Plaß lagen, seiner Predigt und Seelsorge
fern geblieben. Der Pastor aber fand hierin die Zeichen einer kirchenfeind¬
lichen Richtung. Als nun Herr Krüger am 18. October 1862 gestorben war,
glaubte er demselben die mit den üblichen kirchlichen Ceremonien ausgestattete Be¬
erdigung versagen zu müssen. Die beiden Töchter des Verstorbenen suchten, von
ihren Ehemännern, den genannten Gutsbesitzern v. Bassewitz und v. Hintzenstern,
unterstützt, zunächst bei dem Superintendenten Polstorff zu Güstrow, einem
Schwager Kliefoths, Abhülfe gegen diese ihnen ebenso schmerzliche als un¬
begreifliche Weigerung, und wandten sich, als dieser Schritt sich vergeblich er¬
wies, mit einem gleichen Gesuch direct an den Großherzog. Nun erfolgte ein
Rescript des Oberkirchenraths, durch welches den beiden Frauen erwidert ward,
daß „unter den von ihnen dargelegten Umständen" der kirchlichen Beerdigung
ihres verstorbenen Vaters ein kirchliches Hinderniß nicht entgegenstehe, dieselbe
vielmehr in kirchenordnungsmähiger und ortsgebräuchlicher Weise mit Glocken¬
geläute, Gesang und Leichenrede durch einen Geistlichen geschehen könne und
daß ihnen aus bewegenden Gründen freigegeben sein solle, statt des Pastors
Plaß einen anderen, im Rescript namhaft gemachten benachbarten Prediger zu
requiriren. Der Pastor Plaß sei mit der nöthigen Instruction versehen. In
Folge dessen fand die Beerdigung am 25. October mit allerlei kirchlichen Ehren statt.
War nun damit auch für den einzelnen Fall Remedur erfolgt, so war
doch, da ein discipiinarisches Verfahren gegen den Pastor Plaß nicht eingeleitet
ward, weder der Familie hinlängliche Genugthuung gegeben, noch einer Wieder¬
holung solcher Vorgänge vorgebeugt. Sowohl aus diesem Grunde als wegen
des die ganze Landeskirche berührenden Charakters der gemachten Erfahrung hielt
Herr v. Bassewitz sich für verpflichtet, die Sache auf dem Landtage zur Sprache
zu bringen. Er beantragte, daß Stände den Großherzog ersuchen möchten,
die Einleitung eines Disciplinarverfahrens gegen den Pastor Plaß zu be¬
fehlen und den Pastoren der Landeskirche dergleichen unmotivirte und unberech¬
tigte Angriffe auf den Frieden der Familien zu untersagen. Der Syndicus
Meyer von Rostock, zur Zeit der Herrschaft des Staatsgrundgesetzes von 1849
Minister des Innern, unterstützte den Antrag in seinem allgemeinen Theil, den
er dahin formulirte: die Pastoren anweisen zu lassen, eines Mißbrauchs des
Amtes, wie er im Falle des Pastor Plaß vorliege, sich zu enthalten.
Die Frage ward durch mehre Sitzungen mit großer Lebhaftigkeit verhan¬
delt, und diese Verhandlung führte zunächst dahin, !daß die Ritterschaft, mit
79 gegen 63 Stimmen, beschloß, eine Separaterklärung darüber abzugeben.
Die Freunde des Oberkirchenraths und der herrschenden kirchlichen Richtung
mochten hoffen, auf diese Weise am leichtesten einen ihnen nicht zusagenden
Landtagsbeschluß abzuwenden, und wenn es sich auch demnächst herausstellte,
daß sie selbst in der Ritterschaft nicht die Mehrheit hatten, so erreichten sie
doch soviel, daß der Beschluß der Ritterschaft von der Landschaft nicht adoptirt
ward, und es daher nicht zu einem Landtagsbeschluß in dieser Angelegenheit,
sondern nur zu Separatbeschlüssen beider Stände kam. Der auf Antrag des
Kammerherrn v. Oertzen auf Kotelow, mit 52 gegen 41 Stimmen gefaßte
Beschluß der Ritterschaft lautet: Der Engere Ausschuß werde beauftragt, „in
einem an Lörsnissimum Lutzrinsuskin abzulassenden Vortrage vorzustellen, daß,
wenn zwar der Beschwerde des Herrn V. Bassewitz auf Dersentin wegen des
von dem Herrn Pastor Plaß verweigerten Begräbnisses seines Schwiegervaters
durch Verfügung des Oberkirchenraths abgeholfen sei, Stände doch zu ihrer
Beruhigung eine landesherrliche Anerkennung dahin erbitten wollten: daß, von
der Beerdigung der Selbstmörder abgesehen, es den Pastoren nicht zustehe, das
kirchliche Begräbniß Jemandem zu versagen, der nicht auf Grund kirchengericht-
lichen Erkenntnisses excommunicirt gewesen." Die Landschaft erklärte darauf-
daß sie diesem Beschlusse nicht in allen Stücken beitreten könne, da die Ritter¬
schaft von dem über die Beerdigung der Selbstmörder gefaßten Landtags¬
beschlusse, an welchem die Landschaft festhalte, abzugehen scheine, und da die
Ritterschaft außerdem die Excommunication durch ein kirchcngerichtliches Erkennt¬
niß als noch jetzt anwendbar hinstelle, während doch feststehe, daß der Consi-
stvrialproceß, so weit derselbe aus Kirchenstrafen gehe, längst aus der Uebung
gekommen sei. Die Landschaft aber erkenne gleich der Ritterschaft an, daß der
Beschwerde des Herrn v. Basscwitz auf Derscntin wegen verweigerten kirch¬
lichen Begräbnisses seines Schwiegervaters abgeholfen worden, und halte einen
Vortrag an den Großherzog für nothwendig, um eine Verfügung dahin zu
erwirken, daß die Pastoren, denen die Erkennung von Kirchenstrafen nie zuge¬
standen worden, von jeglicher Überschreitung ihrer Amtsbefugnisse in dieser
Beziehung für die Zukunft sich fernhalten möchten. Die landschaftlichen Depu¬
taten im Engeren Ausschusse wurden beauftragt, einen Vortrag in diesem
Sinne an den Großherzog von Mecklenburg-Schwerin zu richten.
Mehre der im ersten Abschnitt hervorgehobenen Mängel hatten sich schon
im Anfange der Vierziger Jahre bemerkbar gemacht; die ganze Gebrechlichkeit
des Systems aber trat erst 1848 hervor, und die Kämpfe dieses und des fol¬
genden Jahres verzehrten nach und nach auch den größten Theil des Materials,
so daß eine Reorganisation oder vielmehr die Ncuerrichtung der Artillerie zur
unabweisbaren Nothwendigkeit wurde. Nur schoß man hierbei über das Ziel
hinaus.
Die gänzliche Aufhebung der lebenslänglichen Eapitulation (1844) und
die Herabsetzung der Dienstzeit von vierzehn auf acht Jahre (1845) lichteten
die Reihen der altgedienter Artilleristen um einen nicht unbeträchtlichen Theil
und stellten auch für die Zukunft eine weit geringere Zahl von Stellvertretern
in Aussicht, da derjenige, welcher bereits vierzehn Jahre oder noch länger ge¬
dient hatte, sich gewiß eher zum ferneren Verbleiben im Militärstandc entschloß,
als jener, welcher erst acht Jahre Soldat war. und sich demnächst auch leicht
anderwärts eine Zukunft gründen konnte.
Das Jahr 1848 wurde von den jüngeren Artilleristen, zumal von den
intelligenten Jünglingen des Bombardiercorps, mit großen Hoffnungen erwartet.
Man ahnte, daß große Ereignisse bevorstanden, und die Mitglieder des Bom¬
bardiercorps, aus dem Bürgerstande herstammend und mit demselben in steter
Verbindung, hatten von der fast bei der gesammten Bevölkerung herrschenden
Unzufriedenheit bessere Kenntniß als die Soldaten irgend eines andern
Truppenkörpers. Es fehlte nicht an Liberalen, welche mit „Studenten und
Ausländern" — mit diesen Namen bezeichnete die Polizei die Gegner des
Metternichschen Systems — Zusammenkünfte hielten und über Politik und die
Nothwendigkeit einer Reform im östreichischen Negierungswesen sich besprachen,
verbotene Bücher und Journale lasen und eine humanere Behandlung der
Soldaten begehrten.
Als die zunehmende Theuerung der Lebensmittel einen Volksaufstand
in Wien befürchten ließ, traf die Regierung verschiedene Vorsichtsmaßregeln
und bewaffnete unter Anderm die in der Residenz garnisonirende zahlreiche
Artillerie mit Jnfanteriegcwehren, um sie in den Straßen gleich einer andern
Truppe verwenden zu können. Später wurde ein Theil der Mannschaft con-
signirt und mußte vollständig gerüstet in beständiger Bereitschaft verbleiben.
Ein Hauptmann setzte seine Untergebenen von dieser Anordnung in Kennt¬
niß und verbot zugleich, von dieser Sache „außer der Kaserne etwas zu er¬
zählen", damit, wie er sich ausdrückte, „die armen Leute nicht erführen, daß
man sie, weil sie nichts zu essen hätten, auch noch todtschießen wolle." Daß
diese freimüthige Aeußerung, obgleich sie höheren Orts ganz wohl bekannt
wurde, dem Betreffenden nicht einmal eine Rüge zuzog, war wohl das Merk¬
würdigste an der Sache und ein sicheres Zeichen des sich vorbereitenden Um¬
schwunges.
In den Märztagen besetzte die Artillerie mehre Punkte der inneren Stadt
und der Vorstädte, jedoch kam es nirgends zwischen ihr und der Bevölkerung
zu einem Conflict. Die Märzerrungenschaften wurden auch bei der Artillerie
mit Jubel begrüßt, und die nächstfolgenden Tage fraternisirte besonders das
Bombardiercorps mit den Studirenden und dem gebildeteren Theile der Bevöl¬
kerung, ja einzelne Bombardiere erschienen sogar mit angehefteten schwarz¬
roth-goldenen Bändern und Kokarden, Natürlich erregte diese Haltung des
Corps die höchste Erbitterung der konservativen Partei und war die Haupt¬
ursache der nachmaligen Auflösung dieser Truppe.
Die vielverbreitete Erzählung von dem Feuerwerker, welcher sich vor die
Mündung seines Geschützes gestellt und ausgerufen haben sollte, „daß nur
durch seinen Leib die gegen das Volk gerichteten Kugeln dringen dürften", ist
eine Fabel oder eigentlich eine tendenziöse Ausschmückung und Verdrehung eines
ganz unbedeutenden Factums. Ein Oberfeuerwerker, welcher eines der vor der
Burg aufgestellten Geschütze befehligte, wurde von einem Erzherzog beauftragt,
im Falle das Volk in feindlicher Absicht heranbringen sollte, Feuer zu geben.
Da er aber sah, daß der Prinz ihn für den Befehlshaber sämmtlicher Ge¬
schütze halte, so verwies er wie natürlich jenen an seinen vorgesetzten Offizier,
welchem denn auch wahrscheinlich der Prinz jenen Auftrag ertheilte. Die Sache
machte, wie erwähnt, vieles Aufsehen, dem bald darauf zum Offizier beför¬
derten Oberfeuerwerker aber in späteren Jahren manchen Verdruß, was jedoch
Alles wäre vermieden worden, wenn er gleich anfangs eine offene Widerlegung
aller über ihn umlaufenden Gerüchte gegeben hätte. Vielleicht glaubte er eine
Nationalbelohnung, von welcher damals die Rede war, zu erhalten, oder er
war der Ansicht, man würde seine Erklärung für erzwungen halten. Uebrigens
hat der gute Mann einige Monate darauf nicht nur bei dem Juniaufstande in
Prag, sondern in den letzten Octobertagen selbst vor Wien seine Batterie recht
tüchtig feuern lassen und sich später als ein tapferer Soldat bewiesen.
Das intime Verhältniß zwischen der Artillerie und der Bevölkerung Wiens
dauerte jedoch nur kurze Zeit. Die meisten Individuen des Bombardiercorps,
welche während der Märztage in Wien gewesen waren, gingen nach Italien
oder Ungarn, wo sich ihre Gesinnung in kurzer Zeit gänzlich änderte. Zum Theil
wurden sie befördert und zu den Regimentern versetzt, ihre Stellen aber durch
Leute, welche sich in Prag, Ungarn, Galizien, Italien und an andern Orten
ausgezeichnet hatten, ergänzt. So wurde der Geist dieser Truppe dergestalt
umgestimmt, daß die Bombardiere nach dem Ausbruche der Oktoberrevolution
einen Cabeltau, bei welchem man einen Brief an einen Studenten gefunden
hatte, in ihrer Kaserne aufhängen wollten und hieran nur durch das energische
Einschreiten ihres Obristen gehindert wurden.
Gleich bei dem Beginne des italienischen Krieges zeigte es sich, daß der
Stand der Artillerie zu schwach war. Im Verlaufe eines Jahres wurden sechs Ar¬
tillerie-Landwehrbataillone, mehre Raketeurcompagnien, Reserveabtheilungen und
eine neue Vvmbardicrcompagnie errichtet, außerdem aber die Zahl der Offiziere
und Unteroffiziere bei den schon bestehenden Abtheilungen erhöht, so daß zuletzt
eine Bombardiercompagnie nicht weniger als 84 Oberfeuerwerker und Feuer¬
werker zählte.
Durch diese außerordentliche Vermehrung wurde natürlich ein in der
Artillerie bisher beispiellos rasches Avancement herbeigeführt, um so mehr, da
viele Unteroffiziere und Cabeltau als Offiziere bei der Infanterie und Cavallerie
aufgenommen wurden, viele Individuen des in Ungarn befindlichen Artillerie¬
regiments zu den Honveds übertraten, ein großer Theil dieses Regiments aber
in die Gefangenschaft gerieth, der Verlust der Artillerie im Felde ungewöhnlich
groß war und endlich die meisten höheren Offiziere, durch ihr hohes Alter und
ihre Gebrechlichkeit zur Ertragung der Kriegsstrapazen ungeeignet, sich in den
Ruhestand versetzen lassen mußten. Daher rückten Majore binnen Jahresfrist zu
Generalen, Hauptleute zu Obersten, die jüngeren Lieutenants zu Hauptleuten
und Bombardiere zu Lieutenants vor. Daher waren aber auch bald alle
tauglichen Subjecte vergriffen, und Ende 1849 bestand das Bvmbardiercvrps
nur noch aus jungen Leuten, welche wenig besser als Rekruten waren, und
aus Unteroffizieren, von welchen nur einzelne einer weitern Ausbildung fähig
und einer Beförderung würdig waren. Unter den Offizieren gab es allerdings
noch sehr viele erprobte und kenntnißreiche Männer.
Unzweifelhaft hatte die Artillerie in diesem zweijährigen Zeiträume das
Rühmlichste geleistet und sich auf allen Schlachtfeldern Italiens und Ungarns,
sowie bei der Belagerung und Vertheidigung vieler Festungen sehr ausgezeichnet.
Doch hielt man mit Recht dafür, daß bei einer besseren Organisation und bei
einem vollkommneren Material noch Größeres hätte erzielt werden können.
Aber man meinte, vorerst mit einer veränderten taktischen Gliederung der
Truppen und später mit einer Verbesserung der Geschütze Alles gethan zu
haben. Man übersah, daß es die tüchtige Ausbildung der Offiziere und
Mannschaft gewesen war, welche mit veralteten Waffen und bei einer mangel¬
haften Organisation solche Erfolge erlangt hatte. In Ungarn, wo der Geg¬
ner seine Artillerie nach den nämlichen Grundsätzen errichtet hatte und nur
östreichische Geschütze besaß, zeigte sich dieses deutlich genug. Jetzt aber konnte
die beste Formation des Artilleriecorps und die Einführung der vollkommensten
Geschütze nur wenig helfen, so lange nicht an die Heranbildung eines tüchtigen
Personals auch in den untersten Graden und eines hoffnungsreichen Nach¬
wuchses zur Besetzung der höheren Stellen gedacht wurde. Und in dieser
Hinsicht wurde wenig gethan.
Das Zweckmäßigste, was geschah, war die Vereinigung des Fuhrwesens
mit der Artillerie. Die Zahl der Regimenter blieb, doch wurde deren Orga¬
nisation verändert.
Jedes Regiment bestand aus 24 Batterien zu je acht Geschützen; die
Batterie wurde von einem Hauptmann befehligt und war fast ganz nach preu»
ßischcm Muster organisirt. Dem Hauptmann standen drei Offiziere Izur Seite,
und die drei Feuerwerker fungirten als gewöhnliche Unteroffiziere, während
vordem der Feuerwerker die erste Person nach dem Batteriecommandanten ge¬
wesen war. Dadurch wurde allerdings dem früher so oft gerügten Mangel an
Befehlshabern abgeholfen, aber auch die Selbständigkeit und Selbstthätigkeit
jedes Einzelnen beschränkt.
Zur Vertheidigung der Küsten, der Festungen im Innern des Reiches, und
zur Bemannung der Reserve- und Belagerungsparke wurden acht Festungs¬
bataillone errichtet. Die Garnisonsartillerie wurde in eine „Zeugsartillerie"
umgewandelt und ausschließlich mit der Erzeugung und Verwaltung des Artillerie¬
materials betraut.
Das Feuerwerkscorps wurde verstärkt und erhielt die Benennung „Raketeur-
corps". Das Bombardicrcorps wurde aufgelöst und aus dessen Resten zuerst die Ar¬
tilleriehauptschule, später aber die noch jetzt bestehende Artillerieakademie errichtet.
Ebenso wurden die Regimentsschulen von den Regimentern getrennt und
in fünf selbständige Artillerieschulcompagnien umgewandelt, welche zu den Erzie¬
hungsanstalten der Armee gerechnet wurden. Zugleich Wune der alte Feldzeug¬
meister Augustin zum Generalartilleriedirector ernannt. Dieser General, in früheren
Jahren wirklich ein ausgezeichneter Offizier, hatte sich zu dieser Zeit aber längst
überlebt und besaß außerdem zu viele Schwächen, um ein so großes Werk wie
die Reorganisirung der Artillerie eines Militärstaates vom ersten Range mit
Erfolg durchzuführen und seinen Anordnungen nach oben wie nach unten mit der
erforderlichen Würde und Energie Geltung zu verschaffen. Um sich nur auf
seinem Posten zu erhalten, gab er zu allen Vorschlägen, welche von Grünne,
Csvrich und andern ebenso unwissenden, als der Artillerie feindlich gesinnten
Männern gemacht wurden, bereitwillig seine Zustimmung.
Die Bespannung bildete nunmehr einen integrirenden Theil der Batterie,
und es war daher dem Artilleristen eine bessere Kenntniß des Pferdewesens
und eine größere Fertigkeit im Reiten nöthig. Man errichtete eigene Artillerie-
equitaüonen, theilte in diesem Fache besonders geschickte Offiziere der, Kavallerie
und des Fahrwesens bei der Artillerie ein, legte Reitbahnen und Winterreit¬
schulen an und belohnte diejenigen, welche sich durch ihren Eifer und ihr
Geschick besonders auszeichneten, durch Beförderung und auf andere Weise.
In der That ließen sich auch die Artilleristen die Sache angelegen sein, und bald
überflügelten die Equitationen (Reitlehranstalten) der Artillerie jene der Cavallerie
hinsichtlich der Leistungen ihrer Schüler und der vortrefflichen Dressur ihrer Pferde.
Aber man übertrieb die Sache. So wie früher die Mathematik das Lieb-
lingssteckenpferd aller Artilleristen gewesen war, so bildete jetzt die Reitkunst
den Inbegriff aller artilleristischen Tüchtigkeit. Gute Reiter und Fahrer wurden
jetzt allen Andern vorgezogen, und derjenige, welcher hierin excellirte und leid¬
lich exercjren konnte, galt, wenn er auch in jeder andern Beziehung der
ärgste Ignorant war, als vortrefflicher Artillerieoffizier. Selbst diejenigen
älteren Offiziere, welche das Nachtheilige dieser Uebertreibung erkannten, mußten
gegen ihre Ueberzeugung handeln und sich als eingefleischte Pferdeliebhaber und
Drillmänner geberden, da der Impuls hierzu von den obersten Befehlshabern
ausging. Die commandirenden Generale und vor Allem der Kaiser .wollten
die Artillerie nicht in dem Lehrsaale oder aus dem Versuchs- und Uebungs-
piatze, sondern nur auf dem Paradeplatze und auf der Reitbahn sehn. Wenn
ein fremder König oder Prinz nach Wien kam, so mußte derselbe gewiß am
nächsten Tage einer Parade und am dritten Tage einer Production der Schüler
der Artillerieequitativn beiwohnen. Die Intelligenz wurde nicht geachtet, ja
als eine überflüssige Pedanterie verhöhnt und zog sich in die Festungsbataillone
zurück, bei welchen letzteren die Unteroffiziere und Kanoniere noch einige Kennt¬
nisse und Erfahrung bewahrt hatten.
Da jetzt die verschiedenen Abtheilungen der Artillerie nur in einem Zweige
ausgebildet zu werden brauchten, so mochte die geringere wissenschaftliche Aus¬
bildung des gemeinen Mannes und seine kürzere Dienstzeit weniger ins Gewicht
fallen, ja er konnte in seinem Fache —- wenn auch nur mechanisch — besser
ausgebildet werden, als es ehedem bei einer so übergroßen Zahl von Unterrichts¬
gegenständen möglich gewesen war. Freilich wurde damit noch immer nicht
der Uebelstand beseitigt, daß die Truppe selbst keine zu höheren Stellen taug¬
lichen Individuen ausbildete.
Aber man verhinderte selbst die genügende Ausbildung der Mannschaft
in dem Wenigen, was man jetzt von ihr verlangte, dadurch, daß man der
Artillerie nicht wie ehedem nur Deutsche und Slawen, sondern Rekruten aller
Nationalitäten des Kaiserstaates zuwies.
Man hörte von den Soldaten einer einzigen Batterie oft zehn und mehr
verschiedene Sprachen sprechen, so daß der Hauptmann ein zweiter Mczzofanti
hätte sein müssen, um mit seinen Untergebenen reden zu können, und daher
immer einen Dolmetscher an der Seite haben mußte. Oft aber war nicht
einmal der Letztere zu finden, da die Batterien zuweilen Rekruten erhielten,
deren Sprache auch nicht von einem einzigen Unteroffizier gesprochen wurde.
Bei den Ruthenen, Wallachen, Zigeunern, den banatischen Jllyriern und bul¬
garischen Ansiedlern trat dieser Fall oft genug ein.
Wie konnte man diese Leute zu Soldaten und obendrein zu Artilleristen
ausbilden? — Im Frieden wußte man sich auf eine sehr einfache Art zu
helfen. Man verwendete diese Bedauernswerthen entweder gar nicht oder nur
zu den niedersten Diensten, z. B. zur Stallreinigung, zum Kochen und ähnlichen
Verrichtungen, gab sich auch mit ihrer Ausbildung gar keine Mühe, sondern
schickte sie bei der ersten Gelegenheit mit Urlaub in ihre Heimath. — Dafür
aber mußten die bei der Truppe befindlichen Deutschen und Nordslawen her¬
halten; sie erhielten nur mit Schwierigkeit Urlaub Md wurden von ihren
Vorgesetzten oft förmlich gebeten, sich befördern zu lassen und eine Verlängerung
ihrer Dienstzeit einzugehen. — Daß man hierdurch ein doppeltes Unrecht be¬
ging, indem man den Einen den Weg zur Ausbildung und etwaigen Beför¬
derung abschnitt, den Andern aber eine unverhältnißmäßige Last aufbürdete,
wurde nicht beachtet, da ja das Beste des Dienstes dadurch befördert wurde,
d. h. die Truppe auf dem Exercirplatze brillirte und bei der Parade mit Ehre»
bestand. Kam nun die Versetzung auf den Kriegsfuß, so erhielt die Batterie,
welche bisher etwa achtzig Mann und sechzig Pferde zählte, einen Zuwachs von
hundert völlig unausgebildeten nichtdeutschen Rekruten und ungefähr gleich viel
ganz undressirten Pferden. — Der Pinsel eines Hogarth würde kaum im Stande
sein, die Scenen, welche dann vorfielen, zu zeichnen! Die östreichischen
— nebenbei gesagt — in äußerst humanen Sinne abgefaßten Reglements
verbieten strengstens jede eigenmächtige körperliche Mißhandlung, ja jede Be¬
schimpfung des Soldaten, Ader kaum hatte der höhere Vorgesetzte, welcher die
Truppe etwa besichtigte, den Rücken gewendet, so ließen auch "schon die sub¬
alternen Befehlshaber auf die ihrem Unterrichte anvertrauten Unglücklichen einen
Hagel der rohesten Schimpfworte und eine Unzahl von Püffen und Fußtritten
niederfallen, wie man es selbst in Rußland kaum erlebt haben mochte. Der
Stockpvle oder Wallache sollte die ihm ertheilten deutschen Anweisungen augen¬
blicklich verstehen.
Neuerer Zeit hat man indessen wieder angefangen, die Mannschaft eines
Regimentes höchstens aus zwei bis drei verschiedenen Nationalitäten zu ergänzen
und auch bei den Beurlaubungen gerechter und gleichmäßiger zu Verfahren.
Bei Gelegenheit der Reorganisation der Artillerie hatte man auch ein
Artillcricevmitv' errichtet, welches aus Offizieren verschiedener Grade bestand
und sich mit der Verbesserung des Artillcricwcscns zu befassen hatte. Die
MUtel, über welche dieses Institut verfügen konnte, waren ziemlich beträchtlich,
aber seine Leistungen können nicht sehr hervorragend genannt werden. Die
Leiter desselben und auch das übrige Personal unterlagen einem allzuhäufigen
Wechsel, daher auch die Principien, nach welchen man vorging, beständig
gewechselt wurden und nur selten etwas Vollständiges und consequent Durch¬
geführtes zu Tage gefördert wurde. Auch kam es wiederholt vor, daß wahr¬
haft begabte und kenntnißreiche Individuen, welche ihre Ansichten freimüthig
zu äußern wagten und das Verdienst ihrer Leistungen für sich selbst in Anspruch
nahmen, sofort entfernt und durch geschmeidigere — wenn auch unfähigere
Männer ersetzt wurden.
Dieses Conn6 suchte nun der Artillerie durch die Einführung eines neuen
Geschützsystems ein entscheidendes Uebergewicht zu geben. Die Einführung
der Schießbaumwolle oder Schießwolle, wie man selbe in Oestreich nennt,
schien das geeignetste Mittel zur schnellen Erreichung dieses Zieles. Man
hatte dieses Präparat gleich nach seiner Erfindung einer besonderen Auf¬
merksamkeit gewürdigt. Schon im Jahre 1846 wurden in Wien und späterhin
in Mainz verschiedene Versuche über die Anwendbarkeit der Schießbaumwolle
angestellt, jedoch keine günstigen Resultate erzielt. Indeß stand man von der
Sache nicht ab, und die östreichische Regierung, welche im Allgemeinen selbst
die nützlichsten Erfindungen nicht übermäßig zu belohnen pflegte, beeilte sich
dieses Mal, in den Besitz der Erfindung zu gelangen und kaufte das Eigen¬
thumsrecht aus dieselbe den Herren Schönbein und Böttcher um eine Summe
ab. welche in Anbetracht des äußerst zweifelhaften Nutzens, den das neue Prä¬
parat gewähren konnte, sehr anständig genannt werden durfte.
Der damalige Hauptmann, gegenwärtige General v. Lenk machte es nun
W seinem Lebenszwecke, die Anwendung der Schießwvllc in der östreichischen
Artillerie um jeden Preis durchzusetzen. Er ersann auch in der That mehre
Verbesserungen bei der Bereitung derselben, setzte in den folgenden Jah¬
ren die Versuche eifrig fort und fand später an dem Grafen Degcnfeld
eine kräftige Stütze. Jedoch wurden diese Versuche nur in sehr beschränkter
Ausdehnung unternommen und blieben in ein ziemliches Dunkel gehüllt. Erst
»in 1852, zu welcher Zeit Degenfeld ein größeres Ansehn erlangte und auch der
pachtete General v. Hauslab ^sich für diese Angelegenheit zu interessiren begann,
schritt man mit Ernst an die «Sache.
Aber man gebrauchte einen jesuitischen Kunstgriff, welcher an das El des
Kolumbus erinnerte. Man sprach nur von einer' Lenksche» Schießwolle und
that, als ob dieselbe ein von der Erfindung der beiden deutschen Professoren
ganz verschiedenes Präparat wäre. Lenk wurde zum Director des Schießwoll-
Wesens ernannt und rückte stufenweise rasch zum General vor. Er hatte aller¬
dings die Schießbaumwolle bedeutend verbessert, und dieselbe würde ohne Zweifel
in vielen Fallen mit großem Vortheil angewendet werden tonnen. Jedoch man
überstürzte sich und wollte sie zur ausschließlichen Anwendung bringen, das
Pulver aber gänzlich beseitigen.
Nach einigen Versuchen und Productionen, welche ganz dazu geeignet waren,
den Laien zu verblüffen und selbst den Sachverständigen für eine' kurze Zeit
irre zu führen, wurde sofort die allgemeine Einführung der Schießbaumwolle
beschlossen, und schon 1854 befanden sich bei der gegen Rußland aufgestellten
Armee sechs neue Schießwollbatterien. Man hatte aber weder die Kraft des
neuen Präparates genügend erforscht, noch war man über die entsprechende
Gestalt und das Material der Geschütze und Geschosse ins Reine gekommen.
Die Folgen solcher Uebereilung blieben nicht aus. Mre länger fortgesetzte
Schießübung und einige tiefer eingehende Versuche genügten, die zahlreichen
Mängel der neuen Geschütze aufzudecken, und die Schießwollbatterien wurden
schleunigst wieder abgeschafft. Die Schicßwvlldirection und die ihr unterstehende
Fabrik ließ man zwar fortbestehen, entzog ihnen aber alle Wirksamkeit, so daß
sie nur ein höchst armseliges Dasein fristen konnten.'
Das Artillcriecomitvaber schuf ein neues Gcschützsystcm, welches bis auf
die geringsten Einzelnheiten demjenigen glich, welches in Preußen schon seit
ungefähr zwanzig Jahren eingeführt worden war. Die Dauer dieser Schöpfung
war außerordentlich kurz. Gleich nach Beendigung des letzten .Krieges wurde
die Erzeugung der neuartigen Geschütze eingestellt und im letzten Frühjahre
wurden die letzten Batterien des Cvmüösystems an die Regierung der nord-
amerikanischen Union verkauft.
Die — jedenfalls noch bedeutend übertriebenen Erfolge, weiche die Fran¬
zosen mit ihren gezogenen Geschützen erreicht haben sollten oder wirklich erreicht
hatten, erzeugten auch in Oestreich den allgemeinen Ruf nach der Einführung
dieser Geschützgattung. Jetzt glaubte man die Zeit für die Anwendung der
Schießwolle gekommen, und noch einmal wurde Alles aufgeboten, um die
langgehegten Wünsche der Schießwollfreunde in Ausführung zu bringen. Und
dieses gelang in einer überraschend schnellen Weise. Die ersten Versuche lieferten
— nach dem Berichte aller dabei Anwesenden — die günstigsten Resultate, und
die darauf an verschiedenen Orten in Scene gesetzte» Productionen waren eine
fortlaufende Reihe der glänzendsten Siege, welche die Schicßwollpartei über
ihre Gegner zu erfechten schien. Der geistreiche Hauslab, welcher kurz vor
Augustins Tode zum Artillericdirectvr ernannt worden war, wurde nach kaum
zweijährigem Wirken in den Ruhestand versetzt. Er, auch außerhalb seines
Faches als ausgezeichneter Gelehrter bekannt, hatte die guten Eigenschaften der
Schießwolle früher als die meisten andern Artilleristen erkannt und das neue
Präparat im Anfange besonders begünstigt, sich aber, als er die eingeschlagene
fehlerhafte Richtung bemerkte, von der ganzen Angelegenheit zurückgezogen.
Auch jetzt mochte er zur Mäßigkeit und Besonnenheit gerathen haben und darum
beseitigt worden sein. Nun war kein Hinderniß mehr vorhanden, zumal da
der neue Chef der Artillerie, eine bisher ganz unbedeutende, höchstens in
den Vorzimmern einiger Prinzen gekannte Persönlichkeit, sich mit Geschmeidig¬
keit in die Ansichten des Kriegsministers Dcgenfeid zu füge» verstand und über¬
dies großen Ruhm zu ernten erwartete, wenn unter seiner Leitung ein alles
Dagewesene überstrahlendes neues Artilleriesystem geschaffen werden würde.
Es wurde also die Einführung der Schießwollbattericn definitiv beschlossen.
Vorerst sollten dreißig derartige Batterien aufgestellt und nach Italien gesendet
werden. Man wollte zuerst den bedrohtesten Punkt des Reiches sicher stellen,
da Viele der Ansicht waren, daß im Falle eines neuen Krieges die Armee
Victor Emanuels durch die östreichischen Schießwollbatterien allein total ver¬
nichtet werden müßte.
So glänzend hatten die Angelegenheiten der Schießwollmänner noch nie¬
mals' gestanden, aber um so unerwarteter und entscheidender war der nun erfol¬
gende Umschwung. Die erwähnten dreißig Batterien waren bereits vollzählig
ausgestellt, und die übrigen Artilleri.eregimenter sollten gleichfalls ihre Geschütze
in kürzester Zeit gegen die Lenkschen Kanonen vertauschen.
Da erfolgte die bekannte Explosion des Pniverthurmes bei Simmering
und es stellte sich mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit heraus, daß die Selbst¬
entzündung der Schießbaumwolle die Ursache dieses Unglücksfalles gewesen
sei. Zwar wurde dieses von den Beschützern der Schießwolle entschieden in
Abrede gestellt, aber es liefen nun von allen Seiten Klagen und Berichte über
die verschiedenartigsten Unglücksfälle ein, welche durchwegs durch die Selbst¬
entzündung der Schießbaumwolle herbeigeführt worden waren. Die große Ge¬
fährlichkeit der Bearbeitung und Verwendung des Präparates, der 'Hauptvor¬
wurf, weinten man der Schießbaumwolle vom Anfange her gemacht und sie
darum in Frankreich, England und den meisten Staaten Deutschlands als
unanwendbar für den Knegsgcbrauch erklärt hatte, war demnach nicht beseitigt
worden. Da nun auch die in Italien abgehaltenen Schießübungen mit den
neuen Geschützen nicht befriedigt haben, so ist vorläufig jede Erzeugung von
Schießwolle und Schießwvlltanvnen eingestellt worden, und nächster Tage ist die
gänzliche Aufhebung des neuen Systems zu erwarten. Zwar machen die Gründer
des Letzteren die verzweifeltsten Anstrengungen, um ihr Scbovßl'ind wieder zu
Ehren zu bringen; allein man sieht, daß sie den sichern Boden unter sich ver¬
loren haben und nach in der Luft befindlichen Anhaltspunkten haschen.
Somit hat also die östreichische Artillerie nach einer eilfjährigen Dauer der
kostspieligsten Versuche die nämlichen Geschütze, mit denen sie vor 1848 aus-
gerüstet war; denn die dreilmndert gezogenen Kanonen, welche man von der
preußischen Regierung gekauft und nach den italienischen Festungen geschickt
hat, tonnen wohl nicht in Betracht gezogen werden.
Das todte Material der Artillerie ist demnach, einige unbedeutende Ver¬
besserungen abgerechnet, nicht vervollkommnet worden, und die Mannschaft
des östreichischen Artilleriecorps war, wie man gesehn hat, durch die 1860 er¬
folgte Reorganisation zwar vermehrt worden, nahm aber hinsichtlich ihrer theo¬
retischen Ausbildung, ihrer vielseitigen Erfahrung und Verwendbarkeit und ihrer
Verläßlichkeit entschieden ab. Jedoch konnten diese Mängel durch die höhere
Befähigung der so sehr vermehrten Befehlshaber höheren und niederen Ranges
ausgeglichen werden. Die Erzielung dieser Höheren Befähigung hing aber fast
einzig'von den Einrichtungen des zu derselben Zeit gänzlich umgestalteten Unter¬
richts- und Erziehungswesens ab. Leider aber wurde auch da wenig Taugliches
geschaffen!
Die neuen Schulcompagnien sollten die Unteroffiziere, die Akademie aber
die Offiziere der Artillerie heranbilden.
Eine jede Schulcvmpagnie bestand aus etwa hundert Zöglingen, sieben
Offizieren und einem zahlreichen Aussichts- und Wartpersonal. Nach Beendi¬
gung des zweijährigen Lehrcurses wurden die jüngsten und fähigsten Zöglinge
in die Akademie aufgenommen, die andern aber je nach ihren Prüfungszeug¬
nissen als Feuerwerker, Corporale oder selbst als Vonneistcr (Gefreite) zu den
Regimentern versetzt. Die Gegenstände, welche in den Schulcompagmen ge¬
lehrt wurden, waren die nämlichen, wie in den ehemaligen Regimentsschulen.
Außerdem wurde noch das Turnen, etwas Fechten und vorzüglich pas Exer-
*
enlum mit dem Infanteriegewehr geübt, sowie auch einige Stunden für Vor¬
träge aus der Geographie,' Naturlehre und Taktik bestimmt waren. Wahrhaft
gründlich aber wurde kein Fach behandelt, und so erhielten die jungen
Leute eine höchst oberflächliche Bildung. Rückten sie zu ihrer Truppe ein, so
waren sie in dem praktischen Wissen ihres Dienstes fast ganz unbekannt, und
ihre wissenschaftlichen Kenntnisse reichten, wenn sie nicht durch ihren Privatfleiß
sich ausbildeten, nicht einmal für einen ganz gewöhnlichen Artillerieoffizier,
welcher blos den Dienst bei seiner Batterie verrichtet, aus. Dabei aber waren
die Zöglinge einer solchen Anstalt keineswegs abgehärtet, sondern in Bezug
auf Kost, Wohnung und Kleidung ziemlich verwöhnt; nach ihrem Austritte
machten sie Ansprüche, welche durchaus nicht befriedigt werden konnten, und
glaubten eine rasche Beförderung erwarten zu müssen. Selbstüberhebung, Un¬
zufriedenheit und Unwilligkeit waren die Folgen hiervon.
Die Kosten der Erhaltung dieser Anstalten waren vergleichsweise zu jenen
der Negimentsschulen enorm, und trotzdem wurde der so sehr erhöhte Bedarf
an Unteroffizieren auch nicht im Entferntesten gedeckt. Ja es geschah, daß ein
Regiment von den am «Schlüsse des Lehrcurses aus der ihm zugewiesenen
Schulcompagnie auftretenden Zöglingen nur zwei bis drei erhielt, indem die
zahlreichen Kanzleien nicht nur der Artillerie, sondern auch anderer Truppen
auf diese jungen Leute, welche im Allgemeinen eine gute Handschrift und ein
anstelliges Benehmen besaßen, Anspruch machten.
So waren die Regimenter zuletzt doch darauf angewiesen, sich die nöthigen
Unteroffiziere selbst heranzubilden, was bei den verfügbaren geringen Hülfsmitteln
und bei der höchst beschränkten Auswahl, welche sich unter der Mannschaft
treffen ließ, nur in sehr wenig befriedigender Weise geschehen konnte.
Doch mochten alle diese Nachtheile in den ersten Jahren weniger fühlbar
hervortreten, da es noch von früher her — besonders bei der Festungsartilleric
— viele brauchbare Individuen gab.
Die Akademie stand unter dem Befehle eines Generals oder Obersten und
besaß ein sehr zahlreiches Personal. Sie ergänzte sich theils aus den besten
Zöglingen der Schulcompagnien, theils aus jungen Leuten der gebildeteren
Stände. Letztere Classe bestand wieder aus zahlenden Zöglingen, welche nach
Ablegung einer einfachen Prüfung gegen den jährlichen Erlag eines ziemlich
hohen Kostgeldes eintraten, und aus den Besitzern der sogenannten Frciplätze,
welche vom Kaiser den Söhnen ärmerer Edelleute, Offiziere und Militär-
bcamten verliehen wurden.
Die Lehrgegenstände waren überaus zahlreich. Auch Reiten, Tanzen, fran¬
zösische Sprache und classische Literatur wurden gelehrt. Doch war auch hier
nicht die Gründlichkeit des Wissens, sondern die Erlangung einer mehr für den
Mann von gutem Ton, als den gediegenen Fachmann passenden Ausbildung
das Ziel, welches sich die Lehrer gestellt hatten und, wollten sie nicht von ihren
sehr gut besoldeten Posten entfernt werden, stellen mußten.
Die Zöglinge der Akademie wurden nach Beendigung des vierjährigen
Lehrcurses zu Offizieren befördert und nur in besondere» Fällen, z. B. eines
begangenen Vergehens wegen, als Feuerwerker ausgemustert. Gröbere Ver¬
gehen wurden mit augenblicklicher Entfernung bestraft, wobei die Schul¬
digen selbst als Gemeine bei irgend einem Infanterieregiment eingetheilt werden
konnten. Dieses Schicksal widerfuhr auch denjenigen Zöglingen, welche sich
nicht auf Staatskosten in der Anstalt befanden, da ihre Eltern sich durch einen
schriftlichen Revers dazu verpflichten mußten, ihre Söhne unter allen Umständen
dem Militärstande zu widmen. Es ist schwer zu begreifen, welchen ^weck man
durch diese ebenso despotische als ungerechte Bestimmung zu erreichen beabsichtigte.
Der Jüngling, welcher sich der Artillerie widmete, konnte es also in vier
oder spätestens in sechs Jahren zum Offizier ! bringen. Natürlich fehlte ihm
dann die Erfahrung und in mehren Zweigen seines Wissens auch die Gründ¬
lichkeit, welche die aus dein Bombardiercorps hervorgegangenen Offiziere besessen
hatten, daher der Akademiker, wenn er seinen Dienst der der Truppe 'antrat,
in Allem sich als ein Neuling fühlte und großen Eifer anwenden mußte, um
den an ihn gerichteten Anforderungen entsprechen zu können. Aber er besaß
das geeignete Alter und hatte immerhin eine genügende Vorbildung genossen,
um das Mangelnde nachholen zu können. Auch war zu berücksichtigen , daß
ihm. weil er nicht in die Lage gekommen war, mehre Jahre hindurch im be¬
ständigen Umgange mit der gemeinen Mannschaft zu verbleiben, auch so manche
Gemeinheit und Rohheit fern geblieben war, wie solche den früheren Artillerie¬
offizieren leider nur zu häusig angeklebt hatte. Auch zeichneten sich die in der
Akademie gebildeten Offiziere durch eine freisinnigere Anschauungsweise und eine
umfassendere Kenntniß der übrigen Waffengattungen sehr vortheilhaft aus, da¬
her bereits mehre als Generalstabsoffiziere ganz Tüchtiges geleistet haben.
Da man erkannte, daß das in der Akademie erworbene Wissen für einen
höheren Artillerieoffizier nicht genügte, wurde später ein höherer Lchrcurs für
Offiziere gegründet. Letztere mußten jedoch mindestens zwei Jahre bei der
Truppe gedient haben.
Aber — und dieses war der größte Nachtheil — die Artillerieakademie
war nickt im Stande, die alljährlich in dem ganzen Corps erledigten Offizicrs-
stellcn mit ihren Zöglingen zu besetzen, und selbst im Frieden mußten sehr
viele Unteroffiziere von oft höchst beschränkter Befähigung zu Offizieren ernannt
werden. Dieses war besonders 1854 der Fall, als die Artillerie eine aber¬
malige Umgestaltung erfuhr und auf den Kriegsfuß gesetzt wurde. Die Zahl
der sämmtlichen Artillerieoffiziere stieg damals auf fast 2000 !
Man hatte das Unzweckmäßige der bestehenden Organisation und nament¬
lich der übergroßen Regimenter, welche oft in mehren Provinzen zerstreut wa¬
ren und unmöglich von einem einzigen Chef entsprechend geleitet werden konn¬
ten, eingesehen und auch die Errichtung einer eigenen Küstenartillerie für
nothwendig erachtet. Es wurden also die bestehenden fünf Regimenter und
acht Bataillone in zwölf Feldregimenter und ein Küstenartillerieregiment um¬
gewandelt. Jedes Feldartillerieregiment bestand aus zwölf, im'Kriege aus
vierzehn Batterien und drei bis fünf Compagnien für den Dienst bei den Re¬
serve», das Küstenartillerieregiment bestand aus achtzehn Compagnien. Das
Raketeurcorps wurde verstärkt und in ein Naketeurregimcnt umgewandelt. Auch
die Zeugartilleric. welche später den Namen der technischen Artillerie erhielt,
wurde vermehrt. Die Akademie und die Zahl der 'schulcvmpagnien blieben
ungeändert, und es konnten also die Unterrichtsanstalten noch weniger als vor¬
dem ihren Zweck erreichen. So wurde denn bald darauf eine eigene Lehranstalt
für die technische Artillerie gegründet, und die Regimenter sahen sich abermals
genöthigt. Schulen zur Ausbildung der Unteroffiziere zu errichten.'
Da aber für letztere Schulen von dem Staatsschatze keine Gelder bewilligt
Wurden, so mußte» die erforderlichen Mittel aus dem — eigentlich für andere
Zwecke bestimmten Regimentsfonds bestritten werden, ja hier und da mußten
sogar die Offiziere von ihrer knappen Gage etwas beitragen! —
War nun auch die Artillerie gegen früher um mehr als das Doppelte ve»
Mehre worden, so war dagegen ihre den andern Truppengattungen gegenüber
ziemlich bevorzugte Stellung'sehr ungünstig gestaltet worden. Man hatte sie
endlich allen andern Truppen gleichgestellt. ' Die Offiziere verloren den Anspruch
auf vortheilhaftere Pensionirung und höheren Gehalt. Auch die Mannschaft
erhielt nach Einführung des neuen Münzfußes eine verhältnismäßig geringere
Löhnung als ehedem. Allerdings machte das überaus günstige Avance¬
ment die Betreffenden diese Einbußen vergessen, aber, unzweifelhaft verdient
der Artillerie- oder Jngenieurofsizier seines schwierigeren Dienstes und seiner ge¬
machten Vorstudien wegen immer eine gewisse Bevorzugung und genießt die¬
selbe auch in den Heeren der meisten andern Staaten.
nachtheilig wirkte es auch ein, daß Verbrecher und lasterhafte Individuen
nicht mehr entfernt wurden, sondern selbst nach wiederholt erhaltenen Leibes¬
strafen der schwersten Gattung in der Artillerie verblieben. Uebrigens wurde
die Strafe der Stockschläge, sonst nur in den äußersten Fällen und gegen ganz
unverbesserliche Subjecte angewendet, jetzt überaus häusig ausgetheilt.' Nament¬
lich war das Prügeln bei den Batterien an der Tagesordnung, und die ein¬
malige nachlässige Wartung eines Pferdes wurde sehr oft mit zehn bis fünf¬
zehn Stvckstreichen bestraft/
Die große Zahl der Befehlshaber bei den einzelnen Abtheilungen ver¬
ringerte nothwendig den Wirkungskreis jedes Einzelnen, und der Lieutenant
hatte nunmehr in mancher Hinsicht nur die Obliegenheit zu erfüllen, womit
man flüher den Corporal betraut hatte, und mit der Zeit wurde er auch von
seinen Vorgesetzten wenig besser als ein Unteroffizier behandelt
Durch alles dieses erlitt das moralische Ansehen der Artillerie einen schwe¬
ren Stoß, und es schwand — wenigstens bei dem untergeordneten Personal
— jenes hohe Selbstgefühl und der so wohl ausgebildete Corpsgeist, wodurch
sich früher die östreichische Artillerie ausgezeichnet hatte. Der Kanonier setzte
nicht mehr einen Stolz darein, bei der Artillerie zu dienen; ihm stand die Be¬
förderung zu höheren Stellen selbst bei den ausgezeichnetesten Leistungen nickt
mehr mit Sicherheit offen, sondern wurde ihm nur im Falle besonderen Glü¬
ckes zu Theil, daher er auch die ihm angebotene Beförderung zum Unteroffizier
verschmähte und lieber dahin trachtete, ans längere Zeit beurlaubt zu werden.
In dieser Verfassung ging die Artillerie 1839 in den Krieg. Niemand
wird bestreiten, daß die Letztere auch in diesen Kämpfen es den besten öst¬
reichischen Truppen an Tapferkeit gleich gethan habe und daß im Allgemeinen
auch die Leitung der einzelnen Abtheilungen eine gute gewesen sei. Aber den¬
noch ließ die Gesammtleistung Vieles zu wünschen übrig. Und hieran war
nicht allein, wie man es auf östreichischer Seite behauptete, das Auftreten der
französischen gezogenen Kanonen, sondern in weit gewichtigerer Weise die ganze
Organisation, oder eigentlich die hierdurch eingetretene Verschlechterung der öst¬
reichischen Artillerie Ursache. Es fehlte nicht an dem guten Willen, Wohl aber
an der Fähigkeit. Und wo wirklich Hervorragendes geleistet wurde, hatten es
die noch aus der alten Schule herstammenden älteren Offiziere oder einige bei
der betreffenden Abtheilung zufällig befindliche besonders einsichtsvolle und thä-
thige — daher als Ausnahmen zu betrachtende Unteroffiziere und Soldaten
gethan. Und hat man seither etwas zur Beseitigung dieser Uebelstände gethan?
Man hat die Zahl der Batterien bei den Regimentern vermindert und zur
weiteren Erleichterung des Militärbudgets Beurlaubungen in ausgedehntem
Maße eintreten lassen, Pferde verkauft, die Geldbezüge der Offiziere beschränkt,
ja selbst bei der Anschaffung der nothwendigsten Erfordernisse geknausert, dabei
aber doch für die Schießbaumwollversuche und für die pomphafte Ausstattung
verschiedener artilleristischer Productionen viel Geld verwendet oder vielmehr ^
verschwendet.
Die Beschießung des Thurmes zu Rothncusiedel bei Wien und noch mehr
jene eines Forts bei Verona waren eigentlich nur militärische Spektakelstücke,
welche man zur Ergötzung und Selbsttäuschung des Hofes aufführte. Denn
wäre es blos auf Beförderung und Vervollkommnung der Artilleriewissen¬
schaft abgesehen gewesen, so hätte derselbe Zweck mit weit geringerem Aufwande
erreicht werden tonnen.
Auch hat man der Artillerie eine neue, noch geschmücktere — aber eben
nicht geschmackvolle Adjüstirung gegeben, einige Commandoworte abgekürzt und
einige'Bewegungen und Handgriffe beim Cxerciren in ganzen Batterien und
beim einzelnen Geschütz vereinfacht.
Die Hauptequitatlon in Wien ist aufgelöst worden, aber noch immer gilt
der im Bcreiterhandwerke gewandte Offizier mehr als der kenutmßrcichste Ar¬
tillerist, und Sportswcsen und Iokcypassion sind auch in der Artillerie an der
Tagesordnung, zumal seitdem — durch das günstigere Avancement angelockt,
auch mehre höhere Adelige in die Artillerie eingetreten sind. Für Letztere hat
man übrigens einen Weg zu noch rascherem Vorwärtskommen darin gefunden,
daß man sie, wenn sie nur erst die Akademie absolvirt — oder vielmehr durch¬
laufen und einige Monate als Lieutenants l'el einem Artillerieregiment zugebracht
haben, als Oberlieutenants zur Infanterie versetzt, von wo sie nach einem
halben Jahre als Hauptleute zur Artillerie zurückkehren, um in einer etwas
späteren Zeit eine ähnliche rasche Wanderung in den StabsofsizierSgraden der
verschiedenen Trupp^rkörper durchzumachen. Und dennoch wagt man es. von
einem gerechten, nur auf den Dienstrang basirten Avancement zu sprechen!
D^e Artillericdirection, welche später Artillerieinspcction genannt wurde,
bildet gegenwärtig ein unmittelbares Departement des Kriegsministeriums und
ist durch die bei letzterem eingetretene Standesvcrminderung ebenfalls berührt
worden. Indeß sind noch immer nahe an hundert Individuen beschäftigt. Daß
dieselben vollauf zu arbeiten haben, beweist eben acht ihre Unentbehrlichst
und die Unmöglichkeit einer noch größeren Reducirung, sondern nur. daß die
in Oestreich noch immer fvrtwuchernde Vielschreibern und Kleinigkeitskrämerei
die einfachsten Geschäfte zu verwickeln und erschweren wisse und einen großen
Theil der befähigtesten Männer bei einer wahrhaft geisttötenden Abschreiberei
zu verknöcherten Bureaukraten verkümmern lasse.
Die ins Ungeheuerliche getriebene Centralisation trägt an dieser riesigen
Anhäufung der Schreibgcschäfte die meiste Schuld.
Die ehemalige Artilleriedirection bestand factisch aus nicht mehr als vier
Personen, was allerdings für die oberste Behörde eines Corps von mehr als
20.000 Mann lächerlich wenig war. Aber die Geschäfte wurden doch besorgt,
und die Chefs der einzelnen Regimenter besaßen einen größeren Wirkungskreis,
daher sie sich auch an ein selbständigeres Auftreten gewöhnten und nicht bei
der geringsten Vorfailcnheit bei der obersten Behörde anzufragen brauchten.
Anderseits besaß auch die Artilleriedirection eine bedeutende Machtvollkommen¬
heit, und ihre Anordnungen bedurften nur in den seltensten Fällen der Bestäti¬
gung des Kriegsministeriums, um zur Geltung zu gelangen. Dadurch wurden
ebenfalls viele Schreibereien und Zeit erspart.
Nun aber benöthigt die oberste Behörde der Artillerie bei einem höchstens
verdoppelten Stande des Corps ein mehr als zehnfach stärkeres Personal, ohne
daß dabei die Stäbe der Regimenter verringert worden wären. Im Gegen¬
teil sind letztere noch vermehrt worden, und es sitzen jetzt gewiß auf jedem
Platz drei Schreiber, wo früher ein einziger arbeitete. Die Dienstgeschäfte
sind dieselben geblieben, ja im Allgemeinen noch vermehrt worden, und über
d>e unbedeutendsten Kleinigkeiten muß .an die Landesartilleriecommandanten
Inspecteure) und von diesen an die oberste Artilleriebehörde Bericht erstattet
werden. Hier wandert die Sache aus einem Bureau in das andere, wird dann
allenfalls dem Artilleriecomit6 zur Begutachtung gegeben, hierauf einer eigens
zusammenberufenen Commission vorgelebt und endlich auf demselben Wege an
tue Batterie, von welcher der erste Bericht ausging, zurückgesendet. Auf diese Art
werden die geringfügigsten Angelegenheiten ins Unendliche ausgedehnt. Scheint
d>e Sache aber nur einige Wichtigkeit zu besitzen, so muß erst die Bestätigung des
Kriegsministers eingeholt werden, welcher letztere aber dann oft erst sieh in der
sogenannten kaiserlichen Centraltanzlei die erforderlichen Jnstructionen holen muß.
Ein Hemmniß eines erfolgreichen Dienstbelriebes muß auch der immer¬
währende Wechsel in den obern Bcsehlshabcrstellen genannt werden. Die Zeit,
während welcher eine und dieselbe Persönlichkeit eine Stelle bekleiden kann, ist
ohnedies durch die häufigen Pensivnirungen gegen früher sehr beschränkt, aber
außerdem werden die Commandeure der Regimenter beständig und oft ohne
allen triftigen Grund gewechselt. Es gibt Regimenter, welche in einem Jahre
drei verschiedene Commandeure erhalten haben, und man findet Generale,
welche seit einer Reihe von zehn Jahren nie länger als ein Jahr auf einem
und demselben Posten verblieben sind. Andere hat man dagegen auf höchst
unbedeutenden Posten vom Hauptmann bis zum.General belassen. Unter sol¬
chen Verhältnissen können also weder die Borgesetzten mit ihren Untergebenen,
noch diese mit erstern bekannt werden und das" besonders im Kriege so nöthige
gegenseitige Vertrauen erlangen.
Und so ist denn die östreichische Artillerie im Allgemeinen eine ganz gut
einexercirre, auf dem Paradeplatz glänzende Truppe, welche auch in Zukunft
Ergebenheit und persönliche — wenn auch nur passive Tapferkeit an den Tag
legen wird.
Wem eine glänzende Außenseite und eine an das Mittelmäßige streifende
Leistungsfähigkeit genügen, der wird seine Ansprüche erfüllt sehn. Aber schmerz¬
lich würde derjenige enttäuscht werden, welcher mehr verlangen würde, ver¬
gebens würde er jene gewiegte — wenn auch etwas veraltet aussehende und
scheinbar schwerfällige Truppe suchen, bei welcher fast jeder Einzelne nicht nur
in allen Zweigen seines Dienstes seiner Stellung angemessen gründlich aus¬
gebildet war, sondern zu jeder Zeit ohne in Verlegenheit zu gerathen, den
Posten eines um mehre Grade höher stehenden Vorgesetzten erfolgreich aus¬
füllen konnte, seinem Stande mit aufrichtiger Liebe ergeben war und mit Recht
auf seine eigene Person und auf die Truppe, in welcher er diente, stolz sein
konnte.
So lange die aus früherer Zeit stammenden Offiziere noch in beträchtlicher
Anzahl vorhanden sein werden, werden auch die Folgen der seit zwölf Jahren
begangenen Fehlgriffe minder grell hervortreten.
Aber die Zeit ist nicht mehr fern, in welcher sich nur in den höchsten
Graden noch einige Vertreter dieser Vctcrancnschaar befinden werden und in
den untern Sphären selbst die Tradition an den einstigen Glanz der Truppe
verwischt sein wird. Dann wird man freilich die gebieterische Nothwendigkeit
einer durchgreifenden Veränderung fühlen und willig so manches selbstgeschaffene
mit eigener Hand zerstören, um aus den früher betretenen Pfad zurückzukehren,
dabei aber höchst wahrscheinlich die niederschlagende Entdeckung machen, daß es
hierzu zu spät sei und die Verlorne Zeit sich nicht wiederbringen lasse.
Von sämmtlichen Kreisen der Provinz sondert sich der Krotoschiner am
schärfsten gegen den angrenzenden deutschen (den Militsch-Trachenberger) ab;
überall sonst ist entweder der Polonismus gemildert, oder es sind wie an den
Säumen des Adelnauer und Schiltberger Kreises die anliegenden Landschaften
noch polnisch. An dem Krotoschiner könnte man sogleich eine Charakteristik
der ganzen Provinz ausführen. Er trägt mit seinen sieben Städten alle Be¬
sonderheiten jener an sich.
Zduny, kaum eine Viertelstunde von der Grenze ab, war vordem so blü¬
hend, daß man von „Krotoschin bei Zduny" sprach. Die Zeiten sind vorüber,
und die massiven Häuser am großen Markte stehen vereinsamt; die Stadt
streckt sich nach polnischer Weise nach der einen Seite in ärmlichen Hütten weit
aus. Diese Partie ist polnisch und der Sitz einer entsetzlichen Armuth. Die
Deutschen, die sich mehr in der Mitte der Stadt halten, haben verschiedene
Gewerbe ergriffen, um sich vor der weitern Verarmung zu schützen; namentlich
sind sehr geschickte Tischler unter ihnen zu finden.
Eine Stunde nördlich von Zduny liegt Krotoschin, ein freundlicher Ort
von etwa 8000 Einwohnern und noch im Vorwärtsgehen begriffen. Es ist die
Hauptstadt des Fürstenthums, mit welchem die Gnade Friedrich Wilhelms des
Dritten den Fürsten von Thurn und Taxis noch neben der Starostei Adelnau
und den Gütern Glogvwo und Chwaliszew beschenkte, als in Preußen eine
königliche Post eingerichtet wurde.
Lassen Sie uns mit einer höflichen Verbeugung an dem Herrn „Fürschten"
und seinen Beamten vorübergehen, damit uns die Erinnerung an das, was
seine Bauern, namentlich in Ligotta, 1854—56 ausgestanden haben, nicht
weich oder bitter stimme. „Wenn der Herr Fürscht wüschte. was für schöne
Hirschen hier sind, so würde er gewiß Ihren Bitten Gehör schenken und her¬
kommen" hat der Herr „Forschtrath" schon vor sieben Jahren gesagt. Er
scheint ihm doch aber weder von den armen Leuten in Ligotta, noch von den
Hirschen im Hellefelder Forste erzählt zu haben. Freuen^ wir uns, daß der deutsche
Name bei uns noch andre und Gott Lob bessere Vertreter hat als diese Bayern,
und daß der fürstliche Garten in Krotoschin nicht viele seines Gleichen findet. Die
alte polnische Stadt ist schlecht gebaut, weite Straßen, niedrige Häuser auf nach¬
mals trocken gelegten Sümpfen, ohne Plan und Ordnung, „Dunker", „Plane"
u. f. f. find die Namen der weitgedehnten polnischen Stadttheile, wo sich viel
Elend birgt, wo wie in den großen Städten zwei Familien ein Zimmer theilen
und woher sich bei Suppenvertheilungen u. tgi. die Armen zu Hunderten
ergießen, denn in Krotoschin ist fast aller Wohlstand bei den Juden und bei
den Deutschen. Die westliche Seite der Stadt ist wohlgebaut, an Gärten
reich und hat an ihrer, der Dresdner Frauenkirche nachgebildeten, evangelischen
Kirche einen schönen Schmuck, während die katholische Kirche versteckt und schwer
zugänglich ist. Der eigentliche Stolz der Stadt sind ihre Schulen; die städtische
höhere Töchterschule ist eine der besten in der Provinz. Das Gymnasium ist
langsam und sicher aus einer Mittelschule herausgewachsen, welche Rector
Monski zu einer tüchtigen Realschule (1848) erhob. Director Gladisch, ein
Mann, der mit stillem Fleiße das Gebiet der Geschichtsphilosophie nicht ohne
Erfolge bebaut hat, verwandelte die Realschule in den Jahren 1854 bis 1857
in ein Gymnasium. Der ruheliebende Mann ließ es über sich ergehen, im
Interesse seiner Sache selbst Landbote zu werden.
Jüngst gab auch dies Gymnasium den Polen Anlaß zur Klage. Rasch
nach einander war die Stelle des polnischen Sprachlehrers zweimal erledigt
worden. Es war schwer einen dritten Mann zu finden. In dieser Verlegen¬
heit wandte man sich an den katholischen Hülfsgeistlichen und Gymnasial-
Neligivnslehrer. Dieser stellte außer einer enormen Honvrarforderung, in die
man zu willigen geneigt war, die Bedingung, daß der dritte Theil des zur
Vermehrung der Bibliothek festgesetzten Betrages zur Anschaffung polnisch
geschriebener Bücher nach seiner Auswahl verwandt würde. Das war unmög¬
lich, und es blieb kein anderer Rath, als den polnischen Unterricht (wie dem
französischen ja auch geschieht) einem deutschen Manne zu übertragen, der ihn
gewissenhaft ertheilt. . Kaum aber hatte der ihn begonnen, als die polnischen
Blätter von Klagen über diese neue Verletzung ihrer Rechte, dieses Attentat
wider ihre Sprache und ihren Glauben widerhallten.
Weiter gen Norden! Kv^min empfängt uns mit seinen 3,300 Seelen;
es ist schlecht gebaut; aber ein Knotenpunkt von vier Chausseen, Sitz einer
Gefangenanstalt und zu dem eines Schullehrcrseminars bestimmt, hat es Zukunft.
Das Seminar soll in das alte Sapichaschloß kommen, wo sich eine Geschichte
zutrug, welche das Gegenstück zu der Mühle von Sanssouci bildet. Fürst
Marcin Sapieha, ein Glied jener Familie, die einst in Eroßpvlen die reichste
und angesehenste war, und die bei uus nur noch in dem Namen des Sapieha-
Platzes zu Posen fortlebt, gebot über das ganze Land rings um seine Feile,
Nur das kleine Wilkowo gehörte dem Szlachcic Serverin Willonski. Vergebens
bemühte sich der Fürst, den Alten durch den Anblick rother und weißer Gulden
zum Verlauf des Gütchens zu locken. Er mochte nicht von der Kirche lassen und
den theuern Gräbern, Es trat eine böse Spannung zwischen dem Magnaten
und dem Edelmann ein. Der Erstere kam dem Andern freundlich entgegen.
Mit Bruderkuß lud er ihn persönlich zur Osterfeier aufs Schloß,
Ostern ist noch heute das größte und seligste Fest des Polen, der seine
gewöhnlichen Fasttage bekanntlich um den Sonnabend vermehrt hat und das
vierzigtägige Fasten mit größter Treue hält — namentlich wenn er arm ist.
Am Ostersonnabend aber wird zum Mahle gerüstet. Schinken, Eier, Kuchen, wel¬
cher desto schöner ist, je freigebiger der Bäcker mit Safran war, Butter, Brod,
Käse und Salz sind die unerläßlichen Bestandtheile desselben, die auch der
Aermste nicht missen mag. Was darüber ist, ist nicht vom Uebel. Die ganze
Mahlzeit wird am Sonnabend zusammengestellt und von dem Geistlichen, der
Haus für Haus geht, geweiht. Ganz arme Leute, sowie die Dienstboten
evangelischer Herrschaften tragen das Ihrige zum Nachbar. Das Geweihte,
^pipe/6ni<g., bildet den Festschmaus. Des Sonntags wird derselbe nun in
möglichst großer Gesellschaft genossen. Die alte Gastfreundschaft tritt überall
in ihr Recht, und der Pole träumt sich beim Osterfrühstück, an dem übrigens
auch die Deutschen mit rührender Toleranz Theil nehmen, und das sich bis tief
in den Abend ausdehnt, in die alten Zeiten zurück.
Bor Zeiten ward das Fest noch glänzender und rauschender begangen;
der Ungarwein floß in Strömen und der Tag ward zur Nacht, die Nacht zum
Tage bis „alle drei hochheiligen Feiertage" vorüber waren. So geschah es
auch im Schlosse zu KvÄnin, dessen Küche mit ihren weiten Schornsteinen ver¬
räth, welche Festlichkeiten da ausgerichtet werden konnten. Der Fürst machte den
liebenswürdigsten Wirth; er streichelte und küßte den alten Sewerin, strich ihm den
langen Bart, um die letzten Spuren des früheren Grolles wegzuschmeicheln und er¬
reichte auch wirklich, daß der Greis während des ganzen Festes in Koömin blieb.
Unterdessen brachen die Kosacken des Marcin Sapieha auf Befehl ihres Herrn
in Wilkvwo ein, rissen das Wohnhaus, die Hütten der Bauern, die clnwürdige
Kirche nieder und legten sie in Asche; dann pflügten sie die lcergebrannten
Stätten um, streuten Salz in die Furchen und trieben die Bewohner des
frühern Dorfes mit Peitschenhieben ins Gebüsch.
So rächte sich Marcin Sapieha
Zur Zeit der freien und erlauchten Republik
Polonia.
Als man nach Christus Tausend schrieb
Sieben Hundert zwei und vierzig.
Gaudy, der diese wohlverbürgte und in ihrer Art durchaus nicht allein¬
stehende") Geschichte poetisch bearbeitet hat, stand längere Zeit zu KoSmin als
preußischer Cavallerieofsizier in Garnison. Wie erwähnt, sollen fortan in dem
Fürstenschlosse die künftigen Volksschullehrer erzogen werden, die große Kirche
ist zu diesem Zwecke erheblich verkleinert worden. Wann aber die neue Anstalt
ins Leben treten soll, weiß bis jetzt noch Niemand. Nehmen Sie ein neues
Zeugniß für die Haltlosigkeit der Klagen, welche pvlnischerseits gegen die
Provinzialverwaltung erhoben werden. Unter den 2,964 Volksschullehrern un¬
serer Provinz sind etwa 1,250 evangelische und 1,600 katholische. Für Letztere
sorgen zwei Seminare mit dreijährigem, für Erstere eins mit zweijährigem
Cursus. 1856 kaufte Herr v. Puttkammer das Gebäude zu dem zweiten
evangelischen Seminar für 10,000 Thlr. Es war noch nicht möglich, seine
baldige Eröffnung herbeizuführen, während inzwischen den Katholiken mit einem
Aufwande von 100,000 Thlr. ein drittes Seminar zu Exin errichtet ward,
dessen Benutzung sie wahrscheinlich werden ablehnen müssen, weil sie schon
jetzt Ueberfluß an Lehrern haben.
Oestlich von Ko^min treffen wir das kleine Dobvzyca, ein gewerbloscs ziemlich
polnisches Städtchen mit 1,050 Einwohnern. Bei der Stadt liegt ein reizendes
Magnatenschlvß, in stumpfwinkligen Hufeisen gebaut, mit hoher breiter Stein-
treppe, welche den ganzen innern Raum des Hufeisens einnimmt, mit Balkon
und stattlicher Säulenzicr. Der gegenwärtige Besitzer hat Park und Garten
geschmackvoll eingerichtet, das etwas wüst übernommene Schloß resiaurirt, ohne
an seinem Styl zu ändern und ihm auch den innern Schmuck von Oelgemälden
aus der polnischen Königszeit erhalten. Sie könnten da einen kleinen Cursus
polnischer Nationalgeschichte durchmachen. Dvbrzyca wurde vor etwa dreißig
Jahren von dem Baron v. Kottwitz erworben, dessen Stammgüter im Kreise
Bomst lagen, einem der originellsten Männer in unserer Provinz. Wer den
kleinen Mann in seiner äußeren Erscheinung, welche die allcrnicdrigstc Tonart
der Genügsamkeit anschlug, in seinem leblmflen Geschäftsverkehr mit Juden lind
Polen, Papiere in allen seinen Taschen, einhergehen oder in dürftigem Gespann
fahren sah. der errieth in ihm weder den Edelmann, noch den edlen Mann.
Und dennoch war er durch und durch ein solcher. Wie er als kleiner Knabe,
nachdem er den Spruch: „Eure Rede sei Ja, Ja, Nein, Nein, was darüber
ist. das ist vom Uebel" gelesen hatte, sofort die Rede einstellte, Tage lang
schwieg und erst, als die Eltern den Gr>und seines Bcrstuminens errathen
hatten, sich von ihnen bestimmen ließ, wieder zu sprechen, so hat er zu jeder
Zeit gethan, was ihm als ein göttliches Gebot erschien. Als Jüngling ward
er in das Bad Kudowa geschickt, mit reichlichen Mitteln versehn, dort lernte
er die Noth der Weder kennen! er gab ihnen all sein Geld hin und behielt
nur so viel, um sich bei einem Müller unter den bescheidensten Bedingungen
in Kost zu geben. So hat er weiter gelebt, sich Alles versagt und wo er nur
konnte, fremde Noth gemildert. Seine Töchter haben keinen Grund, über sein
Testament zu klagen, das sie in reichem Besitze ließ, aber die Provinz staunte
über die Höhe der Summen, die für Juden und Christen, für Rettungshäuser,
Krankenhäuser und andre Prvvinzialzwecke ausgeworfen waren; Stiftungen,
auf Grund deren der Name v. Kottwitz in der Provinz noch lange unter lauten
Segnungen genannt werden wird, wenn der Sapiehas längst vergessen ist.
Das Dominium Dobrzhca ist in den Besitz eines Schwiegersohnes jenes treff¬
lichen v. Kottwitz, eines Mecklenburgers, übergegangen, der dort eine Musterwirth¬
schaft eingerichtet hat. Der Acker ist gemergelt, Biehstand, Gebäude, alles in
bester Ordnung; während der großen Theurung von 18S4 bis 18S6 meldeten die
Zeitungen, daß der Besitzer von Dobrzyca seinen Pächtern je 1000 Thlr. an
der Pacht und einen Theil alter Neste erlassen habe. Es wäre Wohl noch
manches Andre zu melden gewesen. Doch Dvbrzhca ist eine ^Herrschaft, von
der ein Theil verpachtet ist, das Uebrige wird von Jnspectoren versehen und
der Besitzer ist mehr oberster Inspector u. tgi. als wirklicher Verwalter
seines Vermögens. Sie wollen einen jener deutschen Landwirthe kennen lernen,
die durch eignen Fleiß und Geschick vorwärts gekommen und Herren eines
Besitzes geworden sind, dessen VerWallung sie selbst führen. Landwirthe, die
mehr oder minder bewußt eine culturhistorische Aufgabe zu lösen, Land und
Volk auf eine höhere Stufe zu erheben bestrebt find? Ich bitte fahren Sie
mit mir etwas vorwärts.
Das große Dorf, bei dem-wir auf die Chaussee gelangen, ist Wytaszyce;
es hat einen Werth von 100.000 Thlr. und ist 1861 durch Subhastation in
deutschen Besitz gekommen. Beachten Sie das Herrenhaus; zweistöckig, breite
Front, Epheu, grüne Jalousien, freundlicher Rasenplatz, der es von der Straße
trennt., Ist das holländischer oder französischer Geschmack? Jedenfalls ist pol¬
nischen Bedürfnissen genügt.
Jetzt Passiren wir Jarocin, ein Städtchen Von 1,900 Seelen; Polen,
Juden, Deutsche halten sich so ziemlich die Wage. Die vielen Holzfuhren,
welche die Schätze der hier noch reichlichen Waldungen nach der Warthc brim
gen, müssen den sonst gewerblvsen Ort ernähren. Der Grundherr hat sein
Schloß restauriren lassen. Es wird uns bei der Ausfahrt ins Auge fallen;
eigenthümlicher Phantasiestil; aber so geräumig, wie Sie meinen, ist es nicht.
Der große Saal, weicher die Mitte des Gebäudes einnimmt, geht durch beide
Stockwerke; so daß nur zu seinen Seiten eine nicht große Zahl von wohn¬
lichen Zimmern bleibt. Dennoch, wenn ich Graf Wladislcms v. Nadolinski,
König». Kammerherr aus Jarocrn, Radkin und Czylcz wäre, wiirdl? ich meine
Wohnung nicht fünfzig Meilen von meinem Weibe, meinem Volke und meinen
Gütern nehmen.
Wir fahren weiter. „Das ist ein eigenthümliches Dorf" sagt mein Nach¬
bar. Ich entgegnen Hüten Sie sich vor einer Injurienklage des löblichen
Rathes. Sie sind in der Stadt Mießkow.
„Sie scherzen!"
Gewiß nicht. Dort das große Eckhaus mit den Stufen vor der Thür ist
der Vereinigungsort sämmtlicher Behörden. Da wohnen der Postmeister, der
ermeister, der Stadtverordnetenvvrsteher, der Commissarius des landräth-
lichen Poiizeidistrictes, der Steuercmpsängcr friedlich zusammen. „Solch ein
Beamtenhcer für^den kleinen Ort!" Beruhigen Si<. sich, es liegen alle jene
Aemter in der Hand eines einzigen Mannes, dem nebenbei noch Zeit für seine
Landwirthschaft bleibt.
„Die fünf leeren Buden da fallen ja zusammen."
Bewahre. Der Bazar steht sicher. So etwas wird mit der Zeit schief,
und so waren die Buden schon, als ich vor acht Jahren vorüberfuhr. An den
Markttagen sind auch einige Händler in denselben. Und für die Verkäufer ist
hinreichender Raum auf dem großen viereckigen Rasenplatz, um welchen die
Lehmhäuscr hcrstehen und auf dem dort das Viel) weidet. Für dieses ist durch
den Hauptbrunncn dort und die vielen Cisternen reichlich gesorgt.
„Sie meinen die tiefen Löcher."
Nicht so prosaisch, lieber Herr; ohne einige Phantasie werden Sie hier
nicht viel Schönes sehen. Uebrigens hat Mießkow, wie Sie hernach bemerken
werden, neben den zwanzig Markthäusern noch eine Art Anbau. Es zählt 873
Einwohner. „Ist also die kleinste Stadt Ihrer Provinz?" Mit Nichten. Die
Krone gebührt dem Gncscner Kreise; unter seinen acht Städten finden Sie
Kißkvwo mit 639, Mielzin mit 431, Aydowo (Judenstadt) mit 376 Einwohnern,
^ydvwo ist das Setidawa der alten Lygier; es muß vordem reicher gewesen
sein; auch Mießkow war nicht immer so winzig. Einige Brände und Epide¬
mien reichten zu einer Zeit, wo das Land ohne Obrigkeit war, hin, um
solche Oertchen zu vernichten.
Mein Begleiter — ich bin unwillkürlich aus die Beschreibung einer kleinen
Reise gekommen, die ich einmal wirklich gemacht habe — hatte mich gebeten,
ihm K. zu zeigen, von dem er so viel gehört. Plötzlich unterbrach er den
Tenor meiner gelehrten Rede. „Hier!"
Nun was denn?
„Freuen Sie sich denn nicht selbst? Ich bitte Sie, haben wir aus unserer
ganzen Tour ein solches Feld gesehen? Hier ist Cultur. Sie können, wenn
Sie ein Auge dafür haben, nach dem Stande der Früchte selbst die Grenzen
des Areals von K> zeichnen. Es ist doch eine Lust um einen wohlbestellten
Acker/'
Wirklich steht der Besitzer von K. — ein Deutscher — in dein Rufe, einer
unserer wackersten Agronomen zu sein. Daß er sein Wert' nach der rationellsten
Methode betreibt, den Acker gut düngt, den Fruchtwechsel der Natur des Bo¬
dens anpaßt, einen bestimmten erheblichen Theil des Feldes mit Biehfulter
bebaut und es nie außer Acht läßt, daß der gute Stand seiner Heerden die
erste Borbedingung reicher Ernten ist, gereicht ihm zum Lobe. Es hat aber
doch noch höhern Werth, daß er den Menschen achtet. Er pflegt seine Schulen.
Zur Weihnachtszeit erscheint seine Frau in denselben, sich die armen Kinder
denen sie ein Fest bereiten will, selbst auszusuchen. Er wiederum ist es, dem
die Gemeinde Neustadt a./W. die Errichtung eines evangelischen Kirchensystcnrs
danken wird. Vor Allem: er schützt und pflegt seine Arbeiter. Als Müller,
Schmiede, Stellmacher, ganz besonders als Schäfer werden überall Deutsche
vorgezogen, auch Mi den Polen. Kein Wunder also, daß der deutsche Herr
sich mit solchen zu umgeben sucht; doch find ordentliche und fleißige Polen
nicht grundsätzlich ausgeschlossen. In nemen saubern Häuschen haben die
„Komorncks" ihre Wohnungen, erhalte» Deputate und Löhne regelmäßig und
werden nur im dringendsten Nothfall gewechselt. Es ist landesüblich, dem Diensi-
mann ein eigen Stückchen Land und je nach seinem Range die freie Unter¬
haltung von mehr oder weniger Vieh zu gestatten. Einzelne sremdhergezogene
Deutsche haben zu eigenem Schaden daran zu ändern Versucht. Der humane
Herr gönnt den Leuten die Zeit und den Boden, die sie an sein Gehöft fesseln
und ihnen einen bescheidenen Wohlstand schaffen.
Auch ein Fest veranstaltet der Besitzer von K. und mit ihm mancher Andre,
dein Gesinde gern.
Ich habe den „Erntekranz" in seiner rohesten Weise gesehen, wie er auf
Polnischen Gütern gehalten wird. Der Besitzer hatte sich Gäste aus der Stadt
geladen; der Saal wurde tanzmäßig hergerichtet, ein großes Faß Bier herbei¬
geschleppt, ein weites Schafs mit einer Mischung von ordinärem Spiritus und
Wasser gefüllt, und nun warteten die vornehmen Herrschaften der Leute. Mit Dudel¬
sack und Geige, Bormähder und Mähdcrin mit Strvhkrouen auf dem Kopfe an der
Spitze, umziehen diese dreimal das Wohnhaus, dann treten sie ein. Der Bor¬
mähder tanzt mit der pAni (Herrin), die Mähderin mit dem par (Herrn); dann
bekränzen sie ihre Tänzerinnen, erquicken sich an den wenig einladenden Getränken
ohne Imbiß — tanzen wieder und werden endlich auf den Schüttboden
gewiesen, wo sie bei einem Laternenlicht Trunk und Tanz fortsetzen, bis Schlä¬
gerei und Erschöpfung ein Ende machen. Ab und zu sehen sich die städtischen
Gäste das Gelage an, ohne auch nur entfernt daran zu denken, in welche nahe
Beziehung der Schöpfer sie selbst zu jenen Arbeitern gesetzt.
Und nun kommen Sie zu demselben ländlichen Feste bei einer guten Herr¬
schaft, Da ist ein Erntezug, wie ihn der Dichter der Glocke im Sinne hatte.
Vier mächtige Ochsen, mit Kränzen geschmückt, führen den ersten Wagen mit
den Vormahdern, dann ein langer, heitrer Zug. Von den verschiedenen Vor¬
werken treffen sie gleichzeitig aus dem Dominium ein. Es empfängt sie ein
weiter offener Platz. Da stehen die Kletterstangen mit Fahnen und Bändern,
da sind Preise für den Wettlauf — kurz da ist es,' wie in unsrer deutsche»
Heimath.
„Ich kann Ihnen das Gegenbild zu dem geben, was Sie über den Besitzer
von K. und die Besten unter seinen Landsleuten erzählt haben," hob ein älterer
polnischer Herr an, der mit uns fuhr. „Sie meinen den Grafen Stanislaw
v. Myciclski aus Dembno, ^eriow und Chrzan, der soeben seine Herrschaft
wie sie steht und liegt zweien Pleschner Juden verkauft und nichts nach Russisch-
Polen mitgenommen hat, als das Bewußtsein, die meisten seiner Gläubiger
befriedigt zu haben?"
„Nicht den," sagte der Alte, und erhob nun sein Klagelied über einen Ma¬
gnaten, dessen Pächter er gewesen war, und bei dessen Concurse er seine Kau¬
tion, sein ganzes kleines Vermögen verloren hatte.
„Konnte ich denn dem Besitzer einer Herrschaft, die mehr als eine
Million im Werth hatte, zumuthen, meine Paar Groschen hypothekarisch zu
sichern? Würde er mich nicht durch seine Diener haben hinauswerfen lassen?
In dem letzten Decennium ging es schon drunter und drüber, und man erzählt
die wunderlichsten Dinge davon. Die ganze Herrschaft lag in den Händen von
Beamten, welche längst schon keinen Lohn mehr empfingen und dennoch Ver¬
mögen sammelten. Einer derselben soll bei Gelegenheit eines Schafhandcls
einem schlesischen Edelmann ausgeplaudert haben, aus welchen Quellen dieses
Vermögen flösse. Voll Entrüstung machte dieser dem Grafen brieflich Ent¬
hüllungen. Ein Jahr später traf der nämliche Inspector wieder bei seinem
Denuncianten ein, Schase zu laufen. Er hatte die Kündigung mit der Liqui¬
dation seiner rückständigen Forderung beantwortet. Ehe die Mittel da waren,
diese zu befriedigen, war der Graf längst wieder auf Reisen. Einmal brachte
ich meine Pacht auf das Schloß. Der Herr war daheim; natürlich hatte er
das Haus voll Gäste, Professoren — (hier bekanntlich der Ausdruck für Gym¬
nasiallehrer) aus Breslau, Posen u. s. f. Wir gingen zur Tafel. Es waren
vielleicht fünfzehn Personen, die auf das Ausgesuchteste bewirthet wurden.
In dem anstoßenden Saale war ein zweiter Tisch gedeckt. An diesem speisten
die Kinder und deren Lehrer und Bonnen, auch einige Emigranten, während
die Vornehmeren derselben mit uns schmausten und zechten. Es folgte ein
drittes Speisezimmer für die vornehmeren Hausofficianten. Und nun rechnen,
Sie einmal hinzu, was für eine solche Gesellschaft für niedre Dienerschaft in
Küche, Keller, Stall nöthig wird. Ilasäulc (Diener), pisar-i (Schreiber), Ku-
ekar/ (Koch), Jo>öl<ze (Jäger), ogroÄiüK (Gärtner), stÄirgret. (Kutscher), der
ganze Hofstaat (eMliM) ist natürlich nicht in je einem Manne vertreten; vielmehr
haben die meisten von diesen ihr eigen Hauswesen und manche von ihnen sogar
noch ihr besonderes Gesinde. Das Alles zehrte an dem einen Manne. Ich sing an
zu begreifen, daß auch eine tägliche Einnahme von zweihundert Thaler für gewisse
Ansprüche zu gering sein könne. Sinnend blickte ich nach der in verschiedenen
Farben glänzenden Krystalldecke des Saales, durch welche das Licht hineinfiel.
Was hast Du?*) fragte mich der Graf. — Ich überlege mir, gnädiger Herr,
ob ich Ihre Herrschaft annehmen würde, wenn ich alle Lasten derselben tragen
sollte. — Schwachkopf, Murrkopf, man muß leben und genießen.
Ich war über Nacht geblieben und früh auf, um den Hof, den schönen
Garten zu besehen, indem etwa eines der Kinder verdrossen mit dem noch
verdrossenen Lehrer promenirte. Der Park ist eine Provinzialberühmtheit und
wurde früher meilenweit aufgesucht. Der Graf und seine Gäste hatten keine
Freude an ihm. Sie hatten bis tief in die Nacht Karten gespielt und den
Morgen verschlafen. Es sah noch um zehn Uhr überall wüst aus. Gegen
Mittag spielten und tranken sie wieder. Mir war wohl, als ich das prächtige
Schloß im Rücken hatte."
So sprach der Alte. Und nun möge dem trüben Bilde ein heiteres fol¬
gen. Frau Kukasinska, die Gattin eines früheren Amtmannes, der sich ein
kleines Gütchen erworben, hat eben ein sehr günstiges Geschäft gemacht. Sie
hat dem Herschel 30 Garnier. Spiritus verkauft, die sie stark mit Wasser ver¬
mischt hatte. Da aber die Gesäße mit „Alkoran", so nennt sie den Alkohol,
aufgeschmiert waren, hatte der „Jude" nichts gemerkt. Auf Grund dessen schmei¬
chelt sie ihrem Manne den Ankauf einer Kutsche ab, ohne deren Besitz der Pole
sich für ein gar zu geringes Geschöpf ansehn würde. Am ersten Weihnachts¬
tage fährt Frau Kukasinska darin zur Kirche. Als Haiduk wird Jürge der
Kühjunge ausgeputzt, indem man ihm die Kleider anzieht, die der Krüger
(Schänkwirth) einem betrunkenen Herumtreiber abgenommen hat. Unter dem
lauten Jubel ihrer Leute und des ganzen Dorfes beginnt die Reise; unter
noch lauterem Höhnen und Schimpfen der Kirchgänger erreicht sie ihre End¬
schaft. Warum? Mag es August Wilkoüski, dessen „Schmieralien" (Mave^ i
KamoIKi) ich den Schwank entnommen habe, selbst berieten. Als man den
Jürge zum Lakaiendienst ankleidete, hatte man ihm eine Weste und einen Frack
angezogen und ein Kleidungsstück, zu welchem der Schneider zwei Ellen Tuch
zu verlangen Pflegt. Man gab ihm sogar ein Halstuch; wie bekannt, hatte
er auch einen sehr bequemen Hut und dazu eine anständige Fußbekleidung.
Nun aber bitte ich zu errathen, was vergessen worden war. — Nun? —
Jürge hatte keine Hosenträger, und als Matthäus beim Wenden um das
Glockenhaus hastig an einen Stein fuhr, so siel ihm der weite Hut über die
Nase bis an das Kinn hinab, und zwei Ellen Tuch, in Freiheit gesetzt im un¬
glücklichsten Augenblicke von der Welt, rutschten dem Jürgen bis über die Fersen
hinunter. Da nun aber Jürge unter den zwei Ellen Tuch keine vier Ellen
Leinwand hatte, so war das Original der ganzen Kehrseite Jürgens für Jeder¬
mann vollkommen sichtbar und die ganze Gestalt, die im Winde flatternden
Frackschöße und alle Bewegungen des armen Jungen vervollständigten einen
Anblick, bei welchem man selbst noch in der Todesstunde lachen könnte.
So derb der Spaß ist, so ist er dennoch nicht zu stark für die alle
Stände und namentlich den ganzen Adel Polens zu Grunde richtende Sucht,
über seine Verhältnisse Hinauszugreisen. Trunk, Spiel und nie zu sättigende
Reiselust, die den Großen nach Warschau, Dresden, Paris, auch nach Italien
führt, den Kleinen wenigstens über die verschiedenen Pferdemärkte der Provinz
hintreibt, thun das Weitere.
„Nicht die böse Absicht der Regierung allein, sondern mehr die liederliche
Wirthschaft und der Luxus, die Speculation und das leidenschaftliche Kartenspiel
sind an unserem Ruin Schuld. Mancher, den ich noch vor einem Jahre als
wohlhabend kannte, ist heute schon bankerott. Wenn dies so fortgeht, wird
der ganze hiesige Adel in dreißig Jahren vollständig expropriirt sein." So kla¬
gen die -mträomosci polslcis 1859 No. 41 in einer Posener Korrespondenz.
Die No. 121 der Posener Zeitung vom Jahre 1861 gibt einen kleinen Beleg
zu dieser Jeremiade, indem sie das Verzeichnis^ von mehr als SO Gütern aller¬
meist polnischer Besitzer, im Werthe von etwa 4,000,000 Thlr. bringt, die
1861 unter den Hammer kamen.
Ein besonderes Kriterium der polnischen Wirthschaft, welches im merk¬
würdigsten Gegensatz zu der ganzen Persönlichkeit des Polen steht, ist der übel
angebrachte Geiz. Der gastfreie, verschwenderische Pole karge gegen seinen
Boden, wie gegen seine Leute, und dadurch macht er sich viel mehr arm, als
durch seinen Luxus.
In einer Gegend, deren Boden zu dem besten gerechnet wird, verpachten
die Besitzer einer Nachlaßmasse fünfzig Morgen Land an einen der geachtetsten
polnischen Ackerwirthe der Stadt auf sechs Jahre für ein Pauschquantum von
300 Thlr.; das wäre ein brillantes Geschäft, wenn der Pächter sich des Ackers
annehmen wollte. Der aber läßt sechsmal säen und sechsmal ernten, nimmt
die Erträge ein und gibt dann die Pacht an einen Andern, der es möglichen
Falls nicht viel besser macht.
Noch schlimmer ist der Neid — das ist das rechte Wort — gegen die ar¬
beitenden Leute. Nichts weniger als vereinzelt steht folgender Fall da. Herr v. D.
auf W. hatte von seinen Gütern einen ganz unverhältnismäßig geringen Rein¬
gewinn, circa 3,000 Thlr. jährlich. Er entschloß sich, einen deutschen Ober-
inspector anzunehmen und versprach diesem Deputat, 200 Thlr. Gehalt, Tan¬
tieme von demjenigen Reinertrag der Herrschaft, der 8,000 Thlr. überschritte.
Nach drei Jahren wurde der Inspector entlassen, weil Herrn v. D. die Tan-
tieme zu theuer kam. — Derselbe Fall kam in einem Nachbarkreise im folgen¬
den Jahre vor. Anderswo nahm daS Kreisgericht beim Erkenntniß wider
einen diebischen Format (Pferdeknecht) als Milderungsgrund an, daß er bei
seinem kärglichen Lohne stehlen müsse, um zu leben.
Der Graf v. Mielzynski auf Baszkow hatte seinen Bauern 1848 ihre
Abgaben für alle Zeiten erlassen. Sobald wieder Ruhe und Frieden war, nahm
er die Schenkung zurück, und es fanden, da die Bauern natürlich die Zahlungen
weigerten, zahlreiche Processe statt. Das Kreisgcricht zu Krotoschin sah sich der
daraus erwachsenden Arbeit wegen genöthigt, die Formulare zu Hunderten von
gleichlautenden Erkenntniß drucken zu lassen.
, Mit seinem stattlichen Viergeschirr, das ihm noch etwas über die polnische
Freiheit geht und seiner freien stolzen Frau fuhr Herr v. D. Weihnachten
1861 nach Posen. Die Packwagen enthielten auch Bouillvntafeln für die Wind
spiele; aber der Inspector war nicht in den Stand gesetzt, den Dienstleuten
Holz und Tagelohn im Weihnachtsmonat rechtzeitig zu gewähren.
Wie gerecht ist die Sehnsucht dieses Herrn nach den polskis o^as^, wo
allerdings der Grundbesitz seines Vaters dreimal so groß war als jetzt der sei¬
nige, und wo es noch keine freien Bauern gab; wie gerecht sein Haß gegen die
I'orusKik e^sx, die allein an seinem Herunterkommen schuld sind, weil sie al¬
len Wohlstand von Gesetz und Ordnung, Fleiß und Mäßigkeit abhängig ma¬
chen. Der Bauer freilich denkt anders von den Dingen. Zeuge der alte
Mann, welcher 1848, als ein adeliger Freiheitsapostel in den Krug kam, um
für die 6^na I>o1sKa, zu begeistern, an diesen herantrat, sein nach Landessitte
"uf dem Rücken zugeknöpftes Hemde öffnete und mit den Worten: r!/<Ku^
MlU lüg, VASM nowv66 (ich danke, Herr, für Eure Freiheit) die vielen Nar-
ben der Wunden zeigte, die ihm einst der „freie" Kurbacz des Wojr geschlagen
hatte. — Zeuge der Bauer Pruszak in Dußnik, welcher ebendamals seinen
Landsleuten zurief: „Nicht eher wird in Polen Ruhe werden, bevor nicht alle
Edelleute hängen."
Das getreue Echo dieser Zuneigung zu dem Adel melden die<demokratischen
Blätter. S^IirelrtÄ ,j«8t äomov^in wrttMiri pijqeim I/)' i Krev wein, Ktory
nHpriM upri-ittnion^in i z-g-maxn^in b^öMmieu schrieb der 6KoImK voller«,!-
am 20. August 18S9. „Der Adel ist der Feind des Volkes, der die Thrä-
"
nen und das Blut des Volkes trinkt, der zuerst aus dem Wege geräumt und
vernichtet werden muß."
Die Gerechtigkeit gebietet es, auszusprechen, daß diese Regel einige ehren¬
volle Ausnahmen hat. Der verstorbene Herr v, Lipski im Kreise Ostrowv be¬
kannt durch seine hervorragende Thätigkeit in der preußischen Nationalversamm¬
lung und der zweiten Kammer, hatte sich den Beinamen des Bauerntonigs
erworben.
Der Besuch bei ihm führt uns mitten unter die evangelischen Polen der
Kreise Schildberg und Adelnau, welchen die Nähe der polnisch-schlesischen Grenze
trotz aller Bedrängnisse Sprache und Glauben zugleich zu bewahren er¬
möglicht hatte. Sie sind gute Preußen, nennen sich wohl gar deutsche Polen
und erfreuen sich seitens der preußischen Behörden, namentlich der evangelisch
kirchlichen einer besondern Theilnahme. Man gründet große Hoffnungen
auf sie.
Doch bleiben wir bei den polnischen Musterwirthschaften. Herr v. Lipski
einen auch schon verstorbenen andern Edelmann dieses Namens lernten wir
als den renommirtesten Schafzüchter der Provinz kennen — ist nicht der einzige
derselben.
„Ich könnte Ihnen eine aus vier Brüdern bestehende polnische Familie
nennen. Sie besitzen zusammen ein Areal von 8S,000 Morgen. Darauf haben
sie keine einzige Brennerei. Die Wirthschaft in ihren Gütern ist durch und
durch polnisch; dabei werden sie alle Jahre reicher und kaufen alle drei bis
vier Jahre einen neuen großen Güterschlüssel. Die materielle und moralische
Lage ihrer Gulseinsassen läßt nichts zu wünschen übrig. Trunksucht und Ver¬
brechen sind dort unbekannt. Dienstbvtenwcchsel ist etwas Unerhörtes. Die
meisten Einfassen lebe» in der dritten und vierten Generation dort." Es sind
Worte des Herrn Dr. Metzig in Lissa aus einer Rede, die er im Abgeordneten¬
hause gehalten hätte, wenn er von seinen polnischen Freunden gewählt worden
wäre; aber es ist doch nicht zu viel gesagt von der Familie von Chlapvwski,
deren Chef Herr Desiderus v. Chlapowski, Mitglied unseres Herrenhauses ist,
und deren Güter in den Kreisen Kosten, Sabrina und Schroda liegen.
Eine zweite Magnatenfamilie, welcher zwar ein gleiches Lob nicht un¬
beschränkt gespendet werden könnte, die aber dennoch durch den Stand ihrer Wirth¬
schaften und ihre Betheiligung an nationalen, kirchlichen und wissenschaftlichen
Unternehmungen auch hervorragt, hat ihren Hauptsttz ebenfalls in den Kreisen
Sabrina und' Schroda, doch sind sie auch im Kröbener Kreise angesessen. Ich
meine die durch Verschwägerung verbundene Familie Czartoryski, Dziatynski,
Zamoyski, Grudzinsti. Namentlich thut sich Graf Sigismund von Grudzinski
durch'Wohlthätigkeit hervor, während der jüngst verstorbene Graf Titus Dzia-
lhnski in jüngeren Jahren selbst sclmftstellcrisch thätig war und in späterer Zeit den
Polnischen Mäcen machte. Daß auch Grafen v. Plater unter, den Mannen:
der Wissenschaft sieachtet sind, wissen Sie.
Der gefeiertste Name unter dem polnischen Adel ist aber wohl der des
Grasen Eduard v. Naczynski. Ihm wäre l848, als man einen polnischen Ober¬
präsidenten suchte und keinen, durchaus keinen fand, diese Würde gewiß ein¬
stimmig zuerkannt worden. Daß er ein muthiger Soldat war, hatte er in den
Feldzügen von t806 bis 1809 bewiesen. Fünfundzwanzigjährig war er als Depu-
tirter für Posen Mitglied des Reichstages in Warschau gewesen. Seine na-
tionalökonomische Begabung bewies die Art, wie er die Anlegung eines Ka¬
nals zwischen Narew und Weichsel anfaßte, für welche er 900.000 polnische
Gulden offerirte. Seine eigentliche Neigung gehörte aber den Wissenschaften;
seit seinem Prachtwerke über seine „Reise nach der Türkei" war er auf den
Gebieten der heimischen Geographie, Geschichte und Statistik, als Herausgeber,
als Uebersetzer, als Schriftsteller thätig.
Mäßig, frei von jeder Prunksucht, seinen glühenden Ehrgeiz nur an große
Dinge setzend, behielt er bei seinem großen Vermögen die Möglichkeit, viel
Gutes zu thun, und er hat es im Kleinen und Großen gethan. Seine eigent-
lichen Unterstützungen gab er still. Ein emeritirter evangelischer Geistlicher, der
monatlich fünf Thaler von ihm erhielt, hat den Namen seines Wohlthäters nie
erfahre». Bei der Förderung größerer Unternehmungen, z. B. bei den
Summen, die er zur Restauration alter Kirchen u. drgl. hergab, trat er natür¬
lich hervor. Drei größere Werke tragen das eigenthümliche Gepräge seines
Geistes: die große mehr als 20.000 Bände zählende Nationalbibliothek im
Raczynskischen Palais an der Ecke der Wilhelmsstraße und des Wilhclmsplatzes
in Posen, die schöne, im griechischen Stil erbaute Kirche in Nogalin bei Mo¬
schin, die der Kirche zu Nismes nachgebildet ist, und die goldene Kapelle im
Posener Dome. Letztere hat der Gras zwar nicht ausschließlich auf eigne Ko¬
sten errichtet, doch gehört ihm die Anregung und die lebhafteste Betheiligung
bei der Ausführung. Es ist bei dieser der Grundsatz maßgebend gewesen, so
viel möglich nur polnische Hände arbeiten zu lassen. Da sich aber kein polni¬
scher Bildhauer fand, so verblieb doch einem deutscheu die Aufgabe, diesem
polnischen Nationalheiligtbum die höchste Zierde zu geben. Als mäßige Kup¬
pel wölbt sich die Kapelle über den Grabstätten. Zwischen der Goldauslegung
strahlen farbenreiche Gemälde von Heiligen mit Gott dem Vater in der Mitte.
I" den Nischen, an den Fensterbogen und über dem Altar sind Gott. Erz¬
engel und polnische Heilige dargestellt. Da sieht man den König Miecislaw,
wie er die Götzenbilder zerstört, hier Otto den Dritten vor Adalberts Grabe
knieend, und selbst vom Fußboden schimmern Mosaiken aus bunten Steinen,
welche die Namenszüge Miecislaw und Bolesl'aw darstellen, während an dem
Altar der Kapelle das Bild der heiligen Jungfrau angebracht ist. Ueberall
strahlt eine Farben- und Gestaltenfülle dem Beschauer entgegen. Aber den
Hauptschmuck bilden, den Königsgräbern gegenüber, die beiden vergoldeten
Erzstandbilder. welche Rauchs Meisterhand schuf. Da steht die Heldengestalt
Miecislaws des Ersten, mit dem Helm auf dem lockigen Haupt, gehüllt in ein
langes togaartiges Gewand und ein hohes Kreuz in der Hand, wogegen Bo-
leslaw der Erste in herausfordernder Stellung, den Mantel nachlässig um die
Schulter geworfen, die eine Hand auf dem Schwertgriff ruhenläßt, die andere
in die Seite gestemmt hat und voll Selbstvertrauen und mit festem Blick un¬
ter der Helmkappe hervorschaut.
Raczynski hatte an der Kapelle seinen Namenszug anbringen lassen. Die
Dankbarkeit seiner polnischen Brüder nöthigte ihn, denselben zu vernichten.
Von da an war er gebrochen. Seines 1846 erfolgten Todes ist schon er-
wähnt. Er hinterließ seiner Nation zu Ehren folgendes Wort:
„Der Patriotismus ist eine schöne Sache, und wäre es mög¬
lich Polen herzustellen, so würde ich die Hälfte meines Vermögens
dafür hergeben und mit der andern Hälfte auswandern."
Das Todesjahr Raczynst'is war auch das eines andern polnischen Patrio¬
ten im edelsten Sinne. des Dr. Karl Marcinkowski. Er war wohl der Letzte,
der ungestraft wagen durfte, die Fahne der Reform derjenigen der Verschwörung
und des Verrathes entgegenzustellen. Sein Bestreben ging auf Volksbildung;
er wollte den Bürgerstand heben und aus dem Volke heraus tüchtige Geschäfts¬
leute und fleißige Gelehrte erziehen. Dahin zweckte „der Verein zur Unter¬
stützung junger Leute behufs ihrer wissenschaftlichen Ausbildung in Posen", des¬
sen Stifter und Führer er war, für den er aber auch einen Theil des polni¬
schen Adels zu begeistern wußte. 1841 gegründet, hatte dieser Verein in den
Jahren 1844 und 43 schon Jahreseinnahmen von resp. 13,148 Thlr. und
12,321 Thlr. Er unterstützte damals 30 Studenten zu Berlin und Breslau,
bis zur Höhe von 200 Thlr., 103 Schüler des Posener Mariengymnasiums.
1 des Friedrich-Wilhelm-Gymnasiums in Posen. 1 des Ostrower, 29 des Trze-
mesznoer, 15 des Lissaer. K des Eulmcr, 2 des Bromberger Gymnasiums.
111 Seminaristen und 59 Elementarschüler. Nach dem Tode seines Gründers
ließ der Eifer nach; der Verein besteht noch, aber er ist den Weg alles Pol¬
nischen gegangen, ein Faktor der politischen Agitation und der schleichenden
Revolution geworden.
Außer diesen zwei Männern könnte ich Ihnen noch den einen und den
andern Polen nenne», der nach seiner Ueberzeugung und auf seine Weise sein
Leben an die nationale Sache gesetzt, aber weil er nicht auf der breit getrete¬
nen Straße der schreienden Opposition anzog, schnöden Undank geerntet hat.
Doch es ist Zeit, daß ich mich wieder nach der Chaussee umsehe, die mich
durch den ganzen Osten der Provinz von Süd nach Nord führte. Mag ich
dann auch über den Westen kurz sein — paßt doch auf ihn Mieroslawskis
Wort-, voiis g>v«2 Ä6s6a6r6s aos ?vie>riais — hier im Stockpolnischen müssen
wir heimisch werden.
Nordwärts von Neustadt ist es nicht schön, wenigstens nicht lockend; es
sind die Schlachtfelder von 1848. Wir Passiren Mtostaw und kommen nach
Wreschen. 's ist gerade Jahrmarkt. Am Eingange in die Stadt sitzt die Jü¬
din mit dem leinenen Beutel, um von jedem Stück Vieh, wie von jedem Ge¬
spann, was einpassirt, eine Steuer zu erheben. Sie hat dies Gefälle vom
Magistrat gepachtet. Interessant ist ihr Streit mit den Leuten, die ihr Fuhr¬
werk dicht vor der Steuerempfängerin halten lassen und auf Schusters Rappen
zollfrei vvrübcrstreben. Sie würde solche Rechtsverletzungen noch viel'energischer
bekämpfen, wenn nicht einige Schlauköpfe, den blinden Eifer benutzend, un¬
versteuertes Vieh bei der Eiferndeil vorübergetriebcn hätten. Nun, wir sind
gewiß frei. Drei Wege stehen uns offen. Zu den Töpfen, bei denen auch
die Tischler ihre rothen Kunstwerte mit den blauen und gelben Blumen auf¬
gebaut haben, zu dem Vieh und zu dem Kram. Die Menge hat uns nach
dem Markte hingeführt. Bettler, Krüppel und Lahme aller Arten mit Bettel-
sack und Bettelstab gerüstet und überhaupt noch ganz so, wie ich mir als Kind
den Bettelmann dachte, ohne ihn je vor Augen zu bekommen, haben sich an
den Marktecken niedergesetzt und singen mit Stentorstimme ihre Lieder. Wir
gönnen ihnen ein paar Groschen und hören ihr böZ wiellci ^axlaeö (der
große Gott bezahle dirs). Jetzt stehen wir mitten im Gedränge, und die
Menschenmasse, die hier Kopf an Kopf wogt, ist im Verhältniß zu der Klein¬
heit des Ortes ungeheuer. Denn ein Markt hat für unsere Städte eine ganz
andre Bedeutung als für deutsche Gegenden. Die Hausfrau hat ein langes
Verzeichnis; von Dingen, die sie nur auf dem Jahrmarkt bekommt, darunter
selbst ihr und der kleinen Kinder Schuhwerk. Der Bauer, der Dienstmann
kaufen nur hier. Sehn Sie nur, wie dort in der Kleiderbude der Junge den
ganzen Einsegnungsstaat und daneben auch die Stiefeln bekommen hat. Jetzt
ziehen sie mit diesen zu dem Nagelschmied, der seit früh ununterbrochen be¬
schäftigt ist, die Bauern, resp, ihr Schuhwerk zu vernageln.
Aber was für ein Gezänk? Was haben Sie mit der Frau?
Kaum war mir das unglückliche Wort entflohen, so standen auch schon
"lie zwölf Stämme Israels um mich her und verklagten mit einer Vertrau¬
theit, als ob ich ihr Rabbiner oder Richter wäre, die Händlerin, welche
durch niedrige Preise, die nur bei schlechter Waare oder falschem Maße mög-
t>es seien, die Käufer um sich sammle. Allmälig wird es leerer und stiller; der
Rausch wird, wie fast Alles, was die Juden feil bieten, verschleudert. Ihr
ganzer Handel ist ein Glücksspiel mit maßlos hohem Erstgebot, von dem sie
Vor klugen Kunden tief herabgehen, das aber oft glückt und so den Schaden deckt.
Nun ziehen die Landleute nach Hause — einzelne sammeln sich wohl noch
in den Wirthshäusern — die Krämer räumen weg und packen ein; denn es
geht noch diese Nacht auf einen andern Markt. Wir haben Zeit, uns unter
dem Volte umzusehen. Der Ungarwein für Edele. der Branntwein für den
Geringen sind noch immer psstis xoloiiieg., wenn auch die schöne Zeit vorüber
ist, wo Fürst Stanislaus Poniatowski den ersten Champagner, wie Moses
das gelobte Land, „von fern sah". Er hatte einen Korb mit einem Dutzend
Flaschen von dem Banquier Tepper in Warschau geschenkt erhalten und bat,
während er badete, seinen Liebling Komarzewski: koste diese Neuigkeit, ob sie
unserm Adel munden wird. Der brachte nach einer kleinen Stunde Rapport:
leicht und schmackhaft. Darauf wurden Gäste geladen; sie mußten aber mit
dem Nativnaltrank vorlieb nehmen; denn den zwölf Franzosen hatte Komar¬
zewski beim Kosten den Hals gebrochen.
Ja, es wird noch stark getrunken, und die Wodka steht, wie ich schon oben
gesagt, noch immer in hohen Ehren beim Volke. Auch als Heilmittel: „Schnaps
mit Haferfeld" bei Entzündungen, Schnaps und Pfeffer bei Erkältungen. Das
war freilich eine deutsche evangelische Frau, welche am 27. November 1862
beim Pfarrer erschien. Ihr dreijähriges Kind lebt, „weil es so krank ist",
schon seit drei Wochen nur noch von Schnaps; aber „es geschonte immer mehr".
Sie will es also jetzt mit Kirchwein versuchen. Die. junge Frau Pastorin ent¬
setzt sich, aber der Hausarzt sagt ihr, das sei nichts Unerhörtes.
Indessen wird es in diesem Punkte langsam besser. Die Hauptsache hat
die Befreiung der Bauern und die Gemeinhcitstheilung gethan, durch welche
die preußische Negierung den polnischen Landmann zum Menschen gemacht
— seien Sie ja nicht bös, Herr Dr-. Metzig — und aus den Weg zu sicherem
Wohlstand geführt hat. Aber auch den Geistlichen gebührt einiges Verdienst
an der Sache und den Frauen. Wir sehen allsvnn- und werktäglich solche,
welche ihre Männer heimholen und zur Arbeit des nächsten Tages geschickt
machen.
Wer auf das eheliche Verhältniß des Polen nach seinen Sprüchwörtern
schließen wollte, der hätte nicht viel zu erwarten: Es klingt nicht hübsch, wenn
man hört: u, dürfen g'wo <llusie vvios^a, ro^um KrötKi (Weiber haben lange
Haare und kurzen Verstand), Ktörs, e-sM, 6z>loof>, MÄÄe ütH r-AäKo enot-
Iws, byelsiö (Welche liest, singt, spielt, für Tugend selten fühlt), oder gar:
vrWolr, swccktis/, nisviastg. Muya Ko-ölalwm S^q, nie clodreZo nie e?Mi-j,
Kieäz^ ielr nie lAr. (Nüsse, Stockfische und Frauen find erst gut, wenn sie ge>
klopft sind), und vollends: KW xije, wir t^e, KW ung.se, bMg. i-äröv, KW
dije /on-s, be^le /bkn-ion (Wer trinkt, wird rund, wer liebt gesund, wer
sein Weib schlägt, selig). Die Praxis ist indeß besser als die Theorie. Der
Stock hat bei ihren polnischen Schwestern nicht mehr Arbeit als bei den Deut-
scheu. Der Pole hat vielmehr sein Weib lieb und hält sie gut, und sie ver¬
dient in der Regel beides. Allerdings habe ich 1854 als Armenpfleger von
einer polnischen Schusiergescllcnwittwe gehört, „sie sei noch nicht so herunter,
um arbeiten zu müssen;" aber solche Fälle sind Ausnahmen. Weiber und
Männer sind sich gleich. Sie ruhen beide gern; müssen sie sich aber rühren oder^
haben sie den Segen des Fleißes gekostet, so sind sie arbeitsam und geschickt,
dabei willig und genügsam. Es mag überhaupt nicht bald ein in jeder, auch
in sittlicher Hinsicht bildungsfähigeres Volk geben, als die polnischen Landleute,
und wollten die Magnaten in wahrem Patriotismus aus Paris und Dresden
heimkehren und mit ihrem Volke leben, Leid und Freude, Arbeit und Ruhe
mit ihnen theilen, Parzellen ihres Grundbesitzes oder diesen ganz und gar zum
Musterfeld für ihre Bauern machen, sie würden bald statt des Phantoms, das
sie im Herzen tragen, das concrete Vaterland lieb gewinnen.
Ich sehe sie gern, die Bauern in ihren langen blauen Tuchröcken oder
Schafpelzen, die bis an die Knöchel herabreichen, mit ihren breiten weißen
Hemdkragen, die sie in die Höhe schlagen, und ihren viereckigen Mützen; ihre
Weiber mit den großen Kopftüchern, mit den bunten Umschlägen, den kurzen
langgestreiften Mänteln, welche schlichter deutscher Verstand für umgehängte
Unterröcke nehmen würde, mit ihrem Mieder und weiten Nock. Selbst wenn
sie Abends um das erleuchtete Heiligenbild knieen und in unverstandner An¬
dacht ihre Lieder absingen, macht das einen ganz andern Eindruck als etwa in
Reiße oder Köln.
Herr Diesterweg. der berühmte Staatsmann und Erfinder einer Pädagogik,
von deren hohem Werthe er selbst am meisten weiß, wolle mir noch gestatten,
im Widerspruch mit seinem 1858 erschienenen dreibändigen Geographiebuch zu
constatiren, daß wir keine Leibeignen mehr haben, und Herrn Körner, dessen
„Vaterlandsbuch" sonst manches Gute über die Provinz enthält, möchteich be¬
merken, daß die altpolnischen Hütten, deren Schindel- und Strohdach durch
Lücken dem Wind und dem Regen Eingang gewährt, deren Schornstein zer¬
fallen ist, deren kleine Schiebefenster zum Theil mit Papier verklebt sind, noch
keineswegs aufgehört haben zu existiren. Dann, daß der polnische Bauer ihn
noch heute mit dem xacis-in äonoA „ich fall zu Füßen" anreden und die ent¬
sprechende Bewegung im Lauf der Rede öfter wiederholen würde. Endlich,
daß noch ganz barbarisch gehauen wird. Auf dem Dominium eines be¬
kannten polnischen Freiheits-Phrasendrehers wurde im vorigen Jahre eine
Magd unter Außerachtsetzung aller Scham rin dem Kantschu gestrichen. Es
entsprach der Vorstellung, welche der Betreffende von dem künftigen Reiche
Polen hat, daß er dem Zuchtpolizeigericht seinen Inspector als den allein
Schuldigen präsentirte.
(Schluß dieses Briefes in nächster Ur.)
Man hat es dem Landtag als ein hervorragendes, geschichtlich denkwürdiges
Verdienst angerechnet, daß er die seit beinahe vier Jahrzehenden schwebende
Frage der Steuerreform zum Abschluß gebracht hat. Und allerdings hat die-
jenige Partei, welche es für die Hauptaufgabe der Landesvertretung hält, das
Land so lange als möglich vor einem Rückfall aus der feudalen in die consti-
tutionelle Verfassung zu bewahren, alle Ursache, sich zu jenem Erfolge Glück
zu wünschen. Denn hätte der Feudalstaat sich definitiv unfähig erwiesen, die
von allen Seiten und selbst von den Ständen wiederholt ausdrücklich an¬
erkannten und verurtheilten schreienden Mißstände im Steuerwesen zu beseitigen,
so hätte er damit selbst den Stab über sich gebrochen. Aber nur unter diesem
Gesichtspunkte eines politischen Präservativs im Dienst des Feudalismus kann
die erzielte Vereinbarung über eine Steuerreform etwas gelten; nach jedem an¬
deren Maßstabe ist sie als ein ebenso ungenügender wie für das Land mit
den wesentlichsten Nachtheilen verbundener Ncfvrmvcrsuch zu bezeichnen. Daher
hat denn auch außerhalb der feudalen Kreise jene Vereinbarung nirgends einen
Ausdruck der Freude hervorgerufen, und selbst die wenigen Freunde, welche sie
unter den freisinnigeren Elementen um Lande zählt, loben das beschlossene
Steuerresormwerk nicht seiner eigenen Vorzüge wegen, sondern weil sie es als
einen entwickelungsfähigen Anfang fortschreitender Verbesserungen auffassen.
Ebenso wenig aber fanden die Feudalen Ursache zum Jubel. Die Vereinbarung
ist ein mühsam ihnen von der Regierung abgerungener Nothbehelf politischer
Verzweiflung. Sie hätten lieber die bisherigen Einrichtungen unverändert be¬
halten und würden nicht nachgegeben haben , wenn sie geglaubt hätten, es ver¬
meiden zu können. Daher freuen sie sich auch nicht an den von ihnen zu¬
gestandenen neuen Einrichtungen selbst, sondern nur daran, daß dieselben mit
geringen Opfern und manchen großen Vortheilen für sie verbunden sind, und
daß es ihnen auch in diesem Falle wiederum, wie schon so oft, gelungen ist,
die schwerere Last auf die Bewohner der Städte zu wälzen. Darum Preisen
denn auch die feudalen Blätter die beschlossenen neuen Einrichtungen nur als
einen Beweis der von den Gegnern bezweifelten Leistungsfähigkeit der alten
Verfassung, und nur daß die Reform, freilich erst nach neununddreißigjährigen
Bemühungen, auf der Grundlage der feudalen Verfassung hat durchgesetzt wer¬
den können, nicht der Inhalt der Reform, bildet den Gegenstand der von ih¬
nen angestimmten Triumphgesänge.
Man macht sich von der mecklenburgischen Steuerreform ein vollkommen
unrichtiges Bild, wenn man annimmt, daß dieselbe sich auf das Ganze der
Landesabgaben erstrecke. Sie berührt nur einzelne Theile derselben. Ebenso
wenig wird durch das von den Ständen genehmigte Steuerreformproject das
Princip des altständischen Steuersystems im Geringsten geändert. Die Steuern
werden nach wie vor als aversioneller Hülfsbeitrag zu den Kosten der Landes¬
administration in die großherzogliche Kasse gezahlt, ohne daß der Landes-
Vertretung eine Einsicht in das Bedürfniß und eine Controle der Verwendung
eingeräumt wird. Hieraus erklärt es sich, daß die Regierungsvorlagen auf je¬
den Versuch einer rationalen, auf wirthschaftliche Grundsätze gestützten Moti-
virung verzichten mußten. Die Frage ward einfach so gestellt! wie viel haben
die Abgaben, deren Modus als drückend empfunden wird und daher geändert
werden soll, bisher an Ertrag geliefert, wie viel muß also der als Ersatz ein¬
tretende neue Modus liefern, und wie ist der etwaige Ausfall zu decken? Unter
diesen Umständen konnte die Behandlung des Gegenstandes nur auf Seiten
aller bei der Gesetzgebung mitwirkenden Factoren eine höchst magere sein. Bon
keiner dieser Seiten wurde irgend etwas dargeboten, was an eine tiefere po¬
litische und nationalökonomische Auffassung des Steuerwesens auch nur entfernt
erinnerte. Wenn die Regierung auf eine eingehende Motivirung ihrer Vor¬
schläge und auf eine Widerlegung der gegen dieselben erhobenen Bedenken sich
nicht einließ, so blieben auch die Stände bei der Prüfung und Erörterung des
Regierungsprojects an der äußersten Oberfläche haften. Die Landtagscommission
erstattet ihren, jede principielle Behandlung vermeidenden, nur Einzelnheiten ins
Auge fassenden Bericht, der Bericht wird verlesen, man schreitet sofort nach der
Verlesung zur Berathung, und die schwierigsten Dinge sind binnen wenigen Stun¬
den mit Leichtigkeit abgethan. Die gründlich motivirte Kritik, welche in den
Jahren 1860 und 1861 der Regierungsrath Prosch in zwei Schriften, deren
erste Anlaß zu seiner Pensionirung ward, und im Jahre 1862 Moritz Wiggers
in der Schrift „Die mecklenburgische Steuerreform, Preußen und der Zollverein"
dem Regierungsproject widmeten, wird weder in dem Bericht noch in der Ver¬
handlung darüber berücksichtigt. Die Landtagsversammiung ignorirte diese ge¬
wichtigen Gegner des Projects auf das Vollständigste. Es mochten überhaupt
kaum einzelne Mitglieder der Versammlung von jenen Schriften nähere Kennt¬
niß genommen haben. Denn in gewissen Regionen Mecklenburgs glaubt man
sich bei dem Grundsatz am besten zu stehen, in keine Schrift einen Blick zu
thun, von welcher man befürchtet, daß sie die nun einmal festgestellte Ansicht
wankend machen könne.
Die altständische Steuerverfassung Mecklenburgs legt dein Domanium und
der Ritterschaft eine Hufensteuer und für die „außerhalb der Hufen" wohnen¬
den Personen eine sogenannte Nebensteuer aus. Die Städte leisten die ent-
sprechende Contribution theils nach dem directen Modus (von Häusern, Aeckern
und Wiesen, Vieh, Gewerbe), theils nach dem indirecten Modus (Handels-,
Mahl- und Schlachtsteuer). Zu diesen alten Steuern ist mit dem Jahre 1809
eine neue Steuer hinzugetreten, welche unter dem Namen der außerordentlichen
Kontribution nach einem sehr verschiedenartigen Modus von allen Lcmdes-
einwohnern erhoben wird. Dieselbe sollte zuerst nur dem Zweck der Verzinsung
und Amortisation von Landesschulden dienen und nur bis zur Erfüllung dieses
Zweckes dauern, ist aber zur Befriedigung verschiedener moderner Bedürfnisse
des Landes, namentlich zur Unterstützung von Chaussee- und Wasserbauten, bis
auf Weiteres bei Bestand erhalten worden. Die gemeinsame, landesherrlich¬
ständische Kasse, in welche die außerordentliche Kontribution fließt, in Mecklen¬
burg-Schwerin allgemeine Landcsrecepturkasse, in Mecklenburg-Strelitz Central-
steuerkasse genannt, erhält, was das erstere Land betrifft, durch verschiedene
Stempelsteuern vermehrten Zufluß.
Von allen diesen Steuern sind es nur die indirecten Steuern der ordent¬
lichen Contribution der Städte, welche den Gegenstand der Steuerreform bil¬
den. Außerdem ist es bei der letzteren auf die Beseitigung der von dem Ver¬
kehr im Lande selbst erhobenen Land- und Wasserzölle abgesehen.
Der Ertrag dieser Zölle und zwei Drittheile der Auskunft aus der Handcls-
steuer, dies ist das Wesentliche des Reformprofectes, sollen durch einen an der
Grenze des Landes zu erhebenden Waareneingangszoll gedeckt werden. Das
übrige Drittheil der in Wegfall kommenden Handclssteuer findet seine Deckung
durch eine von den Kaufleuten und handeltreibenden Handwerkern nach einem
Durchschnittssatz, der nach der Größe der Städte verschieden ist, zu erhebende
Handelsclassensteuer. Die Mahl- und Schlachtsteuer soll durch eine, gleichfalls
nach der Einwohnerzahl sich abstufende directe Steuer ersetzt werden, welche
auf die einzelnen Städtebewohner nach einem für jede Stadt besonders zu er¬
lassenden Regulativ repartirt wird, Da der Grenzzoll nach der im Laufe der
Verhandlungen eingetretenen Abminderung des höchsten Tarifsatzes von 1 Tblr.
auf ^/^s Thlr., der aufgestellten Berechnung gemäß, einen bedeutenden Theil
der durch ihn zu deckenden Summe ungedeckt läßt, so werden für die Deckung des
Ausfalls die dem entsprechend zu steigernden Auskünfte aus der außerordentlichen
Contribution herangezogen, mittelst welcher auch die den Seestädten Rostock und
Wismar bewilligte Entschädigung für die bisher zu deren Stadtkassen erhobene
und zu Hafenbauten verwandte, nunmehr gleichfalls aufhörende Handelssteucr
beschafft wird,
Man war in der Verhandlung über das hier in seinen Grundzügen an¬
gegebene Project schon ziemlich weit vorgeschritten, als man erst eine wesent¬
liche Lücke der bisherigen Vorlagen gewahrte. Die 'Ausfüllung dieser Lücke war
es, was den Landtag Vorzugsweise beschäftigte.
-Bisher bestanden in den Städten gewisse Einfuhrverbote. Denselben
unterlagen die bei der Production von der Mahl- oder Schlachtsteuer betroffenen
Erzeugnisse, wie Branntwein, Mehl. Brod. Schlachtfleisch u. s. w. Die Pro¬
hibition ließ sich nach Einführung der Veränderungen im Steuerwesen nicht
wohl aufrecht erhalten: 1) weil durch letztere eine vollständige Freiheit des innern
Verkehrs geschaffen werden soll, welche durch die fortdauernde Prohibition ge¬
wisser ländlicher Fabricate wesentlich neutralisirt werden würde; 2) weil mit
dem Wegfall der indirecten Localsteuern auch die zu ihrer Wahrnehmung und
Controlirung angestellten großherzoglichen Officianten zurückgezogen werde», die
Städte also fortan durch eigene Beamte und auf eigene Kosten die Aufrecht¬
haltung der Prohibition hätten beschaffen müssen und sie doch kaum in genügen¬
der Weise würden durchführen können. Andererseits fand die Freigebung des
bezeichneten Imports in dem Umstand ein Hinderniß, daß nach dem Project statt
der bisherigen indirecten Mahl- und Schlachtsteuer eine directe Steuer eintreten
soll, welche nicht wohl anders als durch starke Heranziehung der Branntwein¬
brenner. Müller. Bäcker und Schlächter zur Ausführung kommen kann, welche man
dann aber nur zum Ruin dieser städtischen Gewerbebetriebe der unbeschränkten Con-
currenz der unbesteuerten ländlichen Gewerbebetriebe gleicher Art aussehen würde.
In dieser schwierigen Lage mußten die Städte jede Ausgleichung annehmen,
zu welcher die Regierung und die Ritterschaft sich zu verstehen bereit waren.
Es kam schließlich über die hier angeregten Verhältnisse eine Vereinbarung zu
Stande, welche im Wesentlichen Folgendes feststellte:
Mühlenfabricate aller Art können von auswärts und namentlich auch
vom platten Lande in die Städte zum feilen Verkauf, aber nur an die zum
Mehlhandel berechtigten, nicht an sonstige städtische Einwohner, eingeführt
werden. Will ein Bewohner des Platten Landes eine Niederlage von Mühlen,
fabricaten in einer Stadt etabliren. so bedarf er dazu einer Concession des
Magistrates und hat dann für seinen Betrieb gleiche Steuern und Abgaben
mit den betreffenden städtischen Gewerbetreibenden zu entrichten. Die Bann¬
rechte der Müller, wonach der Berechtigte den Pflichtigen anhalten kann, sein
Korn nur auf der berechtigten Mühle mahlen zu lassen, werden dadurch nicht
alterirt. Den Einwohnern der Städte bleibt es unbenommen, sich Mühlen-
fabricate aller Art von auswärts, mithin auch vom platten Lande, kommen zu
lassen. Bei dem Verbot des Eindringens von Malz, Brod und frisch geschlach¬
teten Fleische von Rindvieh, Schafvieh und Schweinen zum feilen Verkaufe in
die Städte behält es nach wie vor sein Bewenden; dagegen bleibt es ferner
frei. Wild und Geflügel aller Art. ingleichen geräuchertes Fleisch. Speck und
Wurst zum unbeschränkten feilen Verkaufe in die Städte einzuführen. Die Ein¬
wohner der Städte können sich Brod und frischgeschlachtetes Fleisch zum eigenen
Gebrauche von auswärts, namentlich vom platten Lande, kommen lassen; jedoch
soll durch diese Gestattung der Gewerbebetrieb von Schlächtern und Bäckern
auf dem platten Lande nicht zugestanden sein. Gegen eine jährliche Entschä¬
digung von 2,500 Thlr. für die Schwerinschen und von 400 Thlr. für die
Strelitzischen Landstädte gestatten dieselben die unbeschränkt freie Einfuhr des
aus dem platten Lande fabricirten Branntweins und Spiritus und die bisher
ein Privilegium der Städte bildende Versorgung der im großherzoglichen Doma-
nium belegenen Kruge mit eben solchem Branntwein. Die Branntweinbrenner in
den Landstädten werden von der Erlegung der Mahlfixsteuer für ihr Gewerbe
befreit und dadurch den mahlsteuerfreien ländlichen Branntweinbrennern gleich¬
gestellt. Die angegebenen Entschädigungsgelder werden im Schwerinschen dem
sogenannten Industriefonds entnommen, einer Kasse, welche theils aus der Ge¬
werbesteuer auswärtiger Handlungsreisender, theils aus einer festen Zahlung
von jeder Erhebung der austerordentlichen Contribution ihre Zuflüsse erhält und
der Aushülfe städtischer Gewerbe durch Anleihen und Schenkungen zu dienen be¬
stimmt ist; im Strelitzsche» gibt dazu der Grvstherzog 80 Thlr. und die Central-
stcuerkasse 320 Thlr.
Außer diesen für den Branntwein unbeschränkten, für die übrigen hier in
Frage stehenden Fabricate beträchtlich erweiterten Markt, welchen die Ritter¬
schaft erlangte, ohne dafür einen Antheil an der Mahl- und Schlachtsteuer zu
übernehmen, zwang sie die Städte auch noch zu verschiedenen andern Conces¬
sionen hinsichtlich des Gewerbebetriebes auf dem Lande. Da die hierüber ab¬
geschlossene Vereinbarung ein vollständiges Bild von den Grenzen des auf dem
Lande statthaften Handwerksbetriebes gibt, wie dieselben sich mit dem Eintritt
der Wirksamkeit der neuen Steuereinrichtungen in Mecklenburg gestalten werden,
so wird sich eine vollständige Mittheilung derselben rechtfertigen:
1) Der Paragraph 259 des landesgrundgesetzlichen Erbvergleichs erhält
folgende abgeänderte Fassung: „Damit wegen der Handwerker auf dem Lande
künftighin Alles in klarer Maßgebung bestehe, so ist für stets verglichen und
festgesetzt: das; außer den Glashüttenmeistern, Zieglern, Kalkbrennern und
Müllern, auch Sägern, Denkern...Lementirern oder Kleinern und dergleichen
leine Handwerker gehalten oder geduldet werden sollen als bei jedem Gute:
-r) ein Grobschmied mit drei Gesellen; d) ein Grobradmacher zur alleinigen
Verfertigung der zur Landwirthschaft nöthigen Bauer- und Bauwagen, mit
einem Gesellen; e) Grobleinweber ohne Beschränkung ihrer Zahl und Taue;
ä) ein Baucrschneider mit einem Gesellen; o) ein Mauermann ohne Gesellen
und ein Zimmermann mit einem Gesellen; t) ein Tischler ohne Gesellen; ein
Schuhflicker ohne Gesellen, jedoch daß dieser nicht auch neue Schusterarbeit,
wie sie Namen haben mag, zu machen sich unterfange." 2) Die Maurer und
Zimmerleute auf dem platten Lande sind berechtigt, wenn sie sich mit einem
städtischen Meister darüber einigen, zu den von ihnen auf dem platten Lande
auszuführenden Bauten die erforderlichen Gesellen auf den Namen des städtischen
Meisters in Arbeit zu nehmen. 3) In Krankheits- oder in andern Fällen
dauernder Behinderung eines Landhandwerkers kann demselben, und im Falle
des Todes auch seiner Wittwe, auf Antrag der Guisobrigkeit, die Annahme
eines besonderen Gesellen zur Vertretung der Stelle des Behinderten auf
bestimmte Zeit durch landesherrliche Dispensation gestattet werden, jedoch
soll hierdurch eine Vermehrung der Zahl der conccdirtcn Handwerker nicht
zugestanden sein. 4) Den Landbegütcrten soll freistehen, ausländischen Hand¬
werkern, wenn sie dieselben tüchtiger oder billiger finden sollten als in idem
Städten des Landes, Arbeiten auf ihren Gütern zu übertragen; jedoch sott
denjenigen deutschen Ländern gegenüber, deren Gesetzgebung in dieser Beziehung
keine Reciprocität gewährt, den diesseitigen Regierungen die Befugniß zustehen,
die Adhibirung von Handwerkern solcher Länder zu untersagen.
Mit dem Abschluß dieser Vereinbarung zwischen der Ritterschaft und der
Landschaft war die Thätigkeit der Stände für die Steuerreform an ihrem Ziele
angelangt. Außer einigen untergeordneten Punkten, deren Erledigung die
Stände ihrem Engeren Ausschusse überlassen haben, fehlt an den Bedingungen
der Ausführung jetzt nur noch die Ratifikation des Vertrags zwischen dem
Landesherr» und der Stadt Rostock von Seiten der beiden contrahirenden Par¬
teien und der Abschluß eines Staatsvertrags mit Preußen. Die Verweigerung
der Ratification jenes Vertrags Seitens der Stadt Rostock könnte allerdings
der Ausführung des Projects noch die ernstesten Schwierigkeiten bereiten. Es
scheint jedoch, daß es dazu nicht kommen und Rostock es vorziehen wird,
die noch in Verhandlung begriffenen und unter Voraussetzung des Entschlusses
zur Ratification unvermeidlichen Concessionen in Ansehung des Imports länd¬
licher Fabricate auch unter den ungünstigsten Bedingungen zu gewähren. Auch
an der Willfährigkeit Preußens zur Eingehung eines Staatsvertrags wegen
der Enclaven zweifelt, dem Anscheine nach, die mecklenburgische Staatsregierung
nicht, und ebenso wenig gibt sie eine Besorgniß vor anderweitigen, gegen ihr
Unternehmen gerichteten Schritten Preußens, wie sie diesem Staate in der vor¬
liegenden Sache ohne Anwendung illegaler Mittel zu Gebote stehen, zu erkennen.
So ist denn, im EinVerständniß mit den Ständen, der 1. October 1863 als
der Tag festgesetzt, wo Mecklenburg mit einem eignen Grenzzoll und mit den
damit in Verbindung stehenden sonstigen neuen Einrichtungen im Steuerwesen
beschenkt werden soll.
Man hat an der vereinbarten Steuerreform gerühmt, daß dadurch die
bisherigen Hemmungen des Verkehrs im Innern des Landes beseitigt werden.
Statt der alten Hemmungen werden aber doch wiederum auch neue geschaffen.
Das an Mecklenburg-Schwerin grenzende Strelitzische Fürstenthum Ratzeburg.
welches c.uf den Wunsch der Gesammtheit seiner Bewohner außerhalb der
Zolllinie bleibt, wird durch diese von Mecklenburg geschieden und dem Verkehr
Mecklenburgs mit den angrenzenden deutschen Staaten erwächst durch eben diese
Zvlllinic eine bisher unbekannte Erschwerung.
Der Grenzzoll selbst leidet dann an dem Mißverhältnis; zwischen Bruttv-
und Nettoeinnahme, welches bei kleinen Zollgebieten unvermeidlich ist. Bei
einer Einwohnerzahl Von noch nicht 640,000 sollen ungefähr 130 Meilen Grenze
bewacht werden. Die Erhebungskosten werden voraussichtlich mehr als den
dritten Theil der Bruttoaufkunft verschlingen, und es ist dabei ein naiver
Trost, der nur in einem Feudalstaat anwendbar ist, daß die Großherzoge sich
anheischig gemacht haben, die Erhebungskosten gegen eine bestimmte jährliche
Aversionalzahlung aus der Steuerkasse zu bestreiten, deren etwaige Überschrei¬
tung also, wie man meint, das Land vollkommen unberührt läßt. Der auf
dem Gewichtsprincip ruhende und den Centner Seidenwaaren nicht höher als
den Centner Wollen-, Baumwollen- und Leinenwaaren treffende Tarif legt den
Consumenten eine ungleich vertheilte und die Gegenstände geringeren Werthes
unverhältnißmäßig belastende Steuer auf und berücksichtigt die Interessen der
Gewerbetreibenden in allen denjenigen Positionen nicht, wo er das fertige
Fabrikat einer gleichen Steuer unterwirft wie das Rohmaterial und das Halb-
sabricat.
Der Kaufmann und mit ihm der handeltreibende Handwerker muß zu dem
Eingangszölle, welchen er gleich jedem Anderen für die von ihm über die
Zolllinie bezogene Waare zu entrichten hat, noch eine Handciöclassensteuer tra¬
gen , welche zwar geringer ist als die bisher nach indirectem Modus entrichtete
Handclssteucr, aber doch eine ähnliche Zurücksetzung gegen den auswärtigen
Handeltreibenden und den einheimischen Privatmann wie diese letztere bewirkt
und außerdem an dem Mangel leidet, daß sie, wegen des festen Durchschnitts-
steuersatzcs, dem Umfange des Geschäfts sich nicht anpassen läßt, auch keine.
Rücksicht darauf gestattet, ob der Handel eines Ortes blühet oder darniederliegt
Diese Eigenschaft theilt die Handelsclasscnstcuer mit dem neuen, auf sie basirten
Modus der außerordentlichen Contribution der Kaufleute. Ja, diese letztere,
weit entfernt, dem steigenden oder sinkenden Handel im richtigen Verhältnisse
zu folgen, nimmt gerade den entgegengesetzten Gang. Da die außerordentliche
Contribution das Deficit der Einnahme aus dem Grenzzoll zu decken hat und
diese letztere desto mehr abnimmt, je matter der Handel sich gestaltet, so muß
die Heranziehung der Kaufleute und aller übrigen Einwohner zur außerordent¬
lichen Contril'ution in demselben Maße sich steigern, in welchem Handel und
Verkehr abnehmen.
Durch die Verwandlung der indirecten Mahl- und Schlachtsteuer in eine
directe Steuer sämmtlicher Einwohner der Städte werden diese gegen die Be¬
wohner des platten Landes hoch belastet, da. in Folge des veränderten Modus,
auf die letzteren nicht mehr die bisherige Quote abgewälzt werden kann und,
wegen der Aufhebung der Prohibition ländlicher Fabricate, der unbesteuerte
ländliche Fabricant mit dem hochbesteuerten städtischen Gewerbetreibenden in
Eoncurrenz tritt. Nur der städtische Branntweinbrenner wird, um ihn nicht gegen
seine Gewerbsgenossen in der Ritterschaft zurückzustellen, von der Heranziehung
zur Mahlsteuer freigesprochen; aber eine Folge dieser Prämiirung der Branntwein¬
brennerei ist, daß die übrigen Einwohner der Städte die Quote der Brannt¬
weinbrenner, da sie nicht auf die Summe der in jeder Stadt aufzubringenden
fixirten Mahl- und Schlachtsteuer in Abrechnung kommt, mit übernehmen
müssen.
In den von der Landschaft den Landbegüterten eingeräumten erweiterten
Befugnissen hinsichtlich der Handwerker auf dem Lande wird man allerdings
einen Ansatz zur Befreiung des Gewerbes von den auf ihm lastenden Fesseln
nicht ohne Freude wahrnehmen. Aber es fehlt doch diesen Concessionen
an jedem Princip, und man begreift nicht, warum der ländliche Tischler sich
ohne - Gesellen behelfen soll, während dem Schmiede auf dem Lande drei
Gesellen bewilligt werden. Auch wird ohne eine gänzlich veränderte agra¬
rische Gesetzgebung, durch welche in Mecklenburg erst die Bedingungen für die
Entstehung eines Standes kleiner ländlicher Grundeigenthümer zu schaffen sind,
und ohne eine gründliche Umgestaltung des Heimaths- und Niederlassungsrechtes,
die erweiterte Freiheit des Gewerbebetriebes stets einer nothwendigen Ergänzung
entbehren.
Man hat es von feudaler Seite als ein großes Opfer gepriesen, daß die
Ritterschaft durch ihre Zustimmung zu dem Grenzzollprvject ihre Steuer- und
Zollfreiheit aufgegeben hat. Allein dieses Opfer verliert bei genauerer Prü¬
fung beträchtlich an seinem Werth. Zunächst war das Opfer kein ganz frei¬
williges , indem die Zustimmung der Ritterschaft ursprünglich — auf dem Land¬
tage von 1861 — mittelst einer kleinen Überrumpelung erzielt ward, indem .
das soeben zurückgewiesene Project in einer etwas veränderten Gestalt nach
kurzem Zwischenraum und zu einer Zeit wieder vorgebracht ward, wo die
Gegner eine neue Vorlage noch nicht erwarten konnten und daher einstweilen
sich vom Landtage zurückgezogen hatten. Sodann stehen dem Verzicht aus die
Handclssteuerfrciheit, welche die Ritter übrigens mit allen Nichtkcmfleuten im
ganzen Lande, mit Ausnahme der beiden Seestädte, theilten —, und auf die
Freiheit von den Landzöllcn die großen Vortheile gegenüber, die sie durch die
neuen Einrichtungen erlangen. Sie gewinnen für ihren Branntwein und son¬
stige Fabricate einen bedeutend erweiterten inländischen Markt und eine gestei¬
gerte Concurrcnzsähigkeit. Der Werth ihrer Güter steigt durch die größere
Billigkeit der Bauten und anderer Handwerkcrarbcitcn, welche eine Folge der
Concessionen wcksichtlich des ländlichen Gewerbebetriebes ist. Die Steuer- und
Zollfreiheit selbst, die sie aufgeben, kam ihnen nur für den directen Verkehr
mit dem Auslande zu Gute, während die vielen Lebensbedürfnisse, die sie und
ihre Gutsangehörigen durch Vermittelung der Kaufleute in den benachbarten
Städten beziehen, von derselben nicht berührt wurden. Der Vortheil der Steuer-
und Zollfreiheit bestand besonders darin, daß sie ihr Vieh an auswärtige
Händler etwas theurer verkaufen konnten. Dies aber auch nur, wenn das
Vieh bis zur Ablieferung jenseits der Grenze an den auswärtigen Händler ihr
Eigenthum blieb. In dieser Bedingung lag der Anlaß zu vielen Fictionen,
Streitigkeiten, fiscalischen Processen und Beschwerden. Die neuen Einrichtungen
schneiden alles dies dadurch ab, daß sie den Export völlig freigeben. Ueber-
dies genießt der ländliche Grundbesitzer bei dem Eingangszoll durch Freigebung
eines gewissen Gewichtes beim Transport auf Landsuhrwcrk und durch Erleich¬
terung der Controle noch manche Vorzüge, welche auch ihren materiellen Werth
haben,
Die „Rostocker Zeitung", welche sich — allein von allen Organen der
einheimischen Presse — eingehend mit den Verhandlungen über die Steuer¬
reform beschäftigt und von Anfang an das Grenzzollproject bekämpft hat, findet
den Hauptwerth der auf dem Landtage von 1862 zu Ende geführten Verein¬
barung über eine partielle Steuerreform darin, daß sie das Bedürfniß einer
generellen Steuerreform in ein noch helleres Licht stellt und zugleich auch das
Bestreben neu belebt, zu dieser letzteren zu gelangen. Die Vorbedingung einer
solchen aber ist der constitutionelle Staat und die dazu gehörige Einführung des
Budgetsystems.
Schließlich ist hier noch die Exclusivität hervorzuheben, mit welcher die
Stände sich auf die Berathung des Grenzzollprojects beschränkten, ohne ' den
Antrag auf Anschluß an den zu reconstituirenden deutschen Zollverein, der von
Manecke, ingleichen von der Stadt Schwerin gestellt war, daneben auch nur
in Erwägung zu ziehen. Der Antrag war von Manecke schon in früheren
Jahren wiederholt vorgebracht, aber stets mit größter Kürze von der Landtags¬
versammlung abgefertigt worden. In dem vorliegenden Falle wäre Wohl eine
etwas ernstlichere Beschäftigung mit dem Antrage um so mehr am richtigen
Platze gewesen, als die Frage des Anschlusses an den Zollverein durch den
preußisch-französischen Handelsvertrag für Mecklenburg in eine ganz neue Phase
getreten war, da derselbe die Nhederei und den Handel der nicht zum Zoll¬
verein gehörigen deutschen Staaten in eine sehr üble und gefahrvolle Lage zu
bringen drohet. Dies hinderte jedoch den Landtag nicht, auch diesmal den
Antrag ohne vorgängige Prüfung gleich zu Anfang der Landtagsverhandlungen
im Plenum zur Abstimmung zu bringen und denselben durch Acclamation zu
verwerfen. Der Antragsteller erbat nur einen Tag Aufschub, um die gedruckten
Motive des Antrags, welche er binnen wenigen Stunden von seinem Wohnort
Schwerin erwartete, unter den Ständcmitgliedern vorher zur Vertheilung brin¬
gen zu können. Aber auch selbst diese kurze Frist gönnte man dem Antrage
nicht. Die Exemplare der sehr gründlich gearbeiteten Motive kamen an, nach¬
dem die Stände schon soeben mit der Sache fertig geworden waren. Bei der
Regierung war man allerdings schon früher auf den Handelsvertrag und dessen
bedrohlichen Charakter für den Hauptindustriezweig der beiden Seestädte, die
Rhederei, aufmerksam geworden. Das Rcgierungsorgan glaubte aber seine
Leser damit trösten zu können, daß Mecklenburg versuchen müsse, durch Unter¬
handlung mit Frankreich sich die Vortheile des Handelsvertrages gleichfalls zu¬
zuwenden, und war so naiv hinzuzufügen, daß die mit Frankreich anzuknüpfende
diplomatische Unterhandlung erst durch den einzurichtenden Grenzzoll eine solide
Stütze erlangen würde, da Mecklenburg erst dann Frankreich etwas zu bieten
hätte. Es scheint dabei so etwas wie ein Differenzialzoll vorgeschwebt zu haben.
Bis dahin aber verlautet noch nichts, daß der mecklenburgische Geschäftsträger zu
Paris der kaiserlichen Regierung wegen dieser Angelegenheit diplomatische Er¬
öffnungen gemacht habe.
Wessen man sich in volkswirtschaftlicher Beziehung von der dermaligen
Landesvertretung zu versehen hat, wird noch durch Auswahl einiger weiteren
Punkte aus den Verhandlungen des letzten Landtags ins Licht treten.
Auf dem Landtage von 1861 war ein Gesetz vereinbart worden, welches
die ritter- und landschaftlichen Bauern gegen willkürliche Kündigung zu schützen
bestimmt war und dadurch der Ungewißheit ein Ende machen sollte, die
nach dem bisherigen Stande der Gesetzgebung über diese Verhältnisse herrschte
und zu mancherlei Streitigkeiten zwischen Regierung und Ständen geführt hatte.
Ein solches Gesetz war hoch an der Zeit, da die Bauern im Ritterschaftlichen
zum größten Theile durch ihre Grundherren bereits ausgerottet sind und da¬
durch nicht blos den davon unmittelbar betroffenen Personen große Härte, son¬
dern auch dem ganzen Lande, namentlich aber den Städten, schwerer Nachtheil
Widerfahren ist. Von 12,000 Bauern, welche man noch im Jahre 1628 auf
den Gütern der Ritterschaft zählte, ist kaum noch der zehnte Theil bei Bestand
geblieben. Auf dem Landtage von 1861 war nun der neue Gesetzentwurf so
aufgefaßt worden, daß Ritter- und Landschaft, indem sie demselben zustimmten,
damit auf die Kündigung der Bauern und auf die freie Wiederverleihung der
Bauerhufen zu verzichten beabsichtigten; und wenn auch der Gesetzentwurf
Manche für die Bauern sehr drückende und nachtheilige Bestimmungen enthielt,
so glaubte man doch wenigstens jenen Verzicht darin ausgesprochen zu finden.
Man erfuhr aber durch den letzten Landtag, daß diese Auslegung auf einem
Mißverständniß beruhe. Als unter den Vorlagen des Engeren Ausschusses der
Bericht über die geschehene Publication des Gesetzes verlesen ward, ergriff Herr
Pogge das Wort und theilte den in jüngster Zeit, nach Erlaß des Gesetzes,
vorgekommenen Fall mit, daß ein Gutsbesitzer in einem Dorfe, wo vor siebzig
Jahren noch sieben Bauern sich befanden, jetzt aber nur noch drei übrig sind,
auch von diesen dreien nun noch zweien gekündigt habe. Das Gericht, bei welchem
von den gekündigten Bauern Klage erhoben war, hatte die Kündigung für
gerechtfertigt erklärt, indem es dem neuen Gesetz die Auslegung gab. daß es
das Kündigungsrecht des Gutsherrn nur in Ansehung der s. g. regulirten
Bauern aufhebe, d. h. derjenigen Bauern, deren Verhältnisse zum Gutsherrn durch
landesherrlich sanctionirte Contracte festgestellt sind. Herr Pogge erklärte, daß
diese Beschränkung auf die regulirten Bauern nicht in der Intention des vori¬
gen Landtags gelegen habe und forderte, daß dies nachträglich erklärt werde.
Bürgermeister Drechsler von Parchim stimmte ihm bei und bemerkte: wenn
man das Gesetz anders auslege, so seien die Bauern, deren Lage durch
das Gesetz habe sicherer werden sollen, noch übler daran als vorher. Denn
jetzt werde aus dem Gesetz gefolgert, daß alle nicht regulirten Bauern ge¬
kündigt werden könnten, was sonst doch von der Regierung nicht anerkannt
worden sei. Die Herren Pogge und Hillmann stellten im weitern Verlauf der
Verhandlung einen ausführlich motivirten Antrag aus Declaration des Gesetzes.
Sie sagen darin: „Bis dahin waren die gutsherrüchen Befugnisse über die
Bauern unklar und bestritten, und es scheute sich namentlich in den letzten
Decennien jeder Grundbesitzer, an ihrem Besitzstand zu rütteln. Der Bauer
fand gewissermaßen darin einen Schutz. So wie aber die Befugniß der Los¬
kündigung gesetzlich und gerichtlich festgestellt wird, so ist mit einem Schlage
der Besitzstand der sämmtlichen oben bezeichneten nicht regulirten Bauern in
einen solchen Zustand der Rechtlosigkeit und Abhängigkeit versetzt, daß der
Bauer rein von der Gnade und dem Wohlwollen seines Grundherrn abhängt."
Die Folge solcher Unsicherheit werde sein, daß der Bauer auf möglichste Aus¬
nutzung und Aussaugung seines Bodens sinnen und kein Interesse an Melio¬
rationen haben werde. — Der Adel widersetzte sich aber diesem Antrage. Er wollte
das Gesetz so behalten wie es ist, und das Einzige, was Herr Pogge durchzusetzen
vermochte, war der Beschluß, daß der Engere Ausschuß über diese Sache zum
nächsten Landtage berichten solle.
Den bäuerlichen Erbpächtern in den Gütern der drei Landesklöster ist nach
der Hhpvthckcnordnung für die von diesen Klöstern in Erbpacht gegebenen
Grundstücke vom 8. Dec. 18S2 die hypothekarische Belastung ihrer Grundstücke
nur bis zur Hälfte des vor Jahrzehnten festgestellten Taxwerthes gestattet. Da
der Bodenwerth seitdem bedeutend gestiegen ist, so war es ein vollkommen be¬
gründetes Verlangen, wenn die Erbpächter der Klöster Malchow und Ribnitz
um eine Aenderung dieser Verhältnisse petitionirten. Sie waren aber dabei so
bescheiden, daß sie gar nicht um die unbeschränkte Freiheit der Eintragung nach¬
suchten, sondern unter Beibehaltung der Hälfte des Taxwerthcs als Maximum
der Belastung nur den nach veralteten Normen festgestellten Taxwcrth mit dem
wirklichen Werth in Einklang gebracht zu sehen wünschten. Herr Pogge empfahl
die Bewilligung. Die Bauern seien theilweise unverschuldet zurückgekommen
und wünschten nun durch eigene Kraft sich wieder emporzuhelfen. Aber der
Landrath v. Maltzan entgegnete: Bauern müßten ihre Grundstücke überhaupt
nicht verschulden, das sei stets ein Unglück für sie. Er habe es glücklicherweise
dahin gebracht, daß seine Bauern gar keine Schulden machen dürften. Für
die Petenten liege auch gar kein Bedürfniß der Aenderung vor; sie hätten eine
wohlwollende Verwaltung, an die sie sich im Nothfalle wenden könnten. —
Das Gesuch ward abgelehnt.
Die Ritterschaft des Amtes Gnoien stellte den Antrag: „daß zur Besei¬
tigung der vielfachen Klagen und UebeWnde, welche daraus entstehen, daß ledig¬
lose Leute anstatt zu dienen auswärts in Tagelohn arbeiten, deren Heranziehung
zur außerordentlichen Contribution mit einem sehr viel höheren als dem jetzt
geltenden Steuersatz bei der Landesregierung beantragt werden möge." Das
communistische Princip war indessen diesem Antrag zu deutlich an die Stirn
geschrieben, als daß die Landtagsvcrsammlung es gewagt hätte, demselben zu¬
zustimmen.
Eine ähnliche, auf die Zurückhaltung der Arbeitskräfte zu Gunsten der
Gutsbesitzer gerichtete Tendenz hatte ein Antrag, welchen der Kammerherr
v. Oertzen auf Kotclvw bei der Verhandlung über einen Gesetzentwurf wegen
Regelung und Ueberwachung der Auswanderung stellte. Er verlangte eine Be¬
steuerung der Auswanderungsagenten mit 5 Thlr. für jeden von ihnen beför¬
derten Auswanderer, was natürlich der Auswanderung der Gutstagelöhner,
welche neuerdings einen starken Zug nach Nußland genommen hat, zur Er¬
schwerung dienen sollte.
Bei der Frage über die von einem städtischen Comite befürwortete Er¬
höhung des Chausseegeldes figurirte unter den Gründen der Freunde dieser
Maßregel auch dieser: daß es billig sei, die Kosten der Erhaltung der Chausseen
jener Minderzahl der Bevölkerung aufzuerlegen, welche die Chausseen mit ihrem
Fuhrwerk benutzte, die übrigen Einwohner aber damit zu verschonen. Als
ob durch das Chausseegeld wirklich nur derjenige getroffen würde, welcher
dasselbe zahlt!
Eine der werthvollsten Blüthen der durch Erbschaft oder Kauf eines Gutes
erworbenen gesetzgeberischen Weisheit, welche der Landtag zu Tage förderte, ist
endlich ein Antrag des Domänenrath v. Pertz, welcher im Namen der Ritter¬
schaft des Amtes Güstrow von dem Deputirten derselben übergeben ward. Der
Antrag geht auf Beurlaubung sämmtlichen Militärs während des Zeitraums
vom is. Juli bis zum 13. September jedes Jahres. Da dieser Antrag in
Verbindung mit seiner Motivirung zur Charakteristik der mecklenburgischen
Landesvertretung jedenfalls noch einige neue Momente liefert, so glaube»
wir unseren Bericht über den Landtag nicht passender abschließen zu können
als durch Mittheilung dieses in der Landtagsversammlung zwar vollständig
verlesenen, aber bisher noch nicht an die Oeffentlichkeit getretenen Actenstücks,
Dasselbe lautet:
„G. P. M. Unser Nachbarland Preußen unterhält sich sehr viel über
Militärorganisation und Luxus daselbst. Ich meine: Militär in unVerhältniß-
mäßiger Zahl ist immer eine Landescalamität, sowohl reguläres, als in Form
der Landwehr, indem der Landwehrmann seinem Geschäftsbetriebe entrückt wird,
welcher dadurch erlahmt und wodurch der Nationalwohlstand leidet. Mecklen¬
burg ist insofern besser gestellt, als es keine Großmacht über Kräfte sein will
und daher auch nur so vieles Militär auf den Beinen hat, als es bundesbeschluß-
mäßig haben muß. Man kann nicht behaupten, daß bei uns übermäßiger
Militärluxus vorhanden ist, insofern es das Aeußere des Militärs betrifft; denn
daß auf Reinlichkeit gehalten werden muß, versteht sich von selbst. Die kleinen
Ornamente von Gold und Silber sind zu unbedeutend, um Besorgnisse zu er¬
regen, wirken nur auf den äußern Glanz und schmeicheln der Eitelkeit der
jungen Leute. Man hat den Soldatenstand „glänzendes Elend" genannt. Er
kann es unter Umständen auch sein, und mag es immerhin gut sein, wenn
selbiges durch etwas äußeren Glanz verdeckt wird! — Es ist indessen in Mecklen¬
burg innerer Militärluxus insofern vorhanden, als uns die Kräfte der jungen
Leute zu einer Zeit entzogen werden, wo wir solche nach unseren eigenthüm¬
lichen mecklenburgischen Verhältnissen nothwendig gebrauchen könnten, nämlich
zur Erntezeit und wird der Nationalwohlstand dadurch, daß w" sie entbehren
müssen, gar sehr beeinträchtigt. Man kann es daher nur angemessen halten,
wenn sämmtliches Militär auf zwei Monate, vom Is. Juli bis 13. September
jeden Jahres beurlaubt würde. Zur militärischen Ausbildung werden 10 Mo¬
nate des Jahres vollkommen genügen. Das Militär würde sich während dieser
Zeit hauptsächlich mit Erntcarbeiten beschäftigen und könnte durch sie so viel ver¬
dienen, daß es für die übrige knappe Zeit eine Zulage hätte; daneben wäre
auch für die harmonische Ausbildung der körperlichen Kräfte gesorgt! — Durch
die Eisenbahnen und Telegraphen ist jetzt die Möglichkeit gegeben, das Militär
augenblicklich wieder einzuberufen, wenn wider Verhoffen IIg.irmbg.I g.no poros
erscheinen sollte! — Welcher Nutzen durch diese Anordnung für die Landwirth¬
schaft und den Nationalwohlstand erwachsen müßte, liegt zu Tage. Derselbe
ist von so großer Bedeutung, daß dadurch die Militärhaltung aufhören würde,
eine fühlbare Last des Landes zu sein."
Zuweilen kommt es vor, daß außergewöhnliche Ereignisse, welche noch in
der Zukunft verborgen liegen, auf eine unerklärliche Weise Visivnenartig sich
ankündigen. So ging hier, kurz vor dem Zusammentritt der Stände, das Gerücht:
der Abgeordnete Henkel beabsichtige einen Antrag auf Errichtung einer Regentschaft
zu stellen. Auch nicht die leiseste Spur einer Thatsache läßt sich ausfindig machen,
welche zu jenem Gerücht hätte Anlaß geben können. Nichts desto weniger fand
dasselbe seinen Weg in das Palais und veranlaßte dort eine gewaltige Auf¬
regung. Erst geraume Zeit später, durch die preußische Feldjägerdepesche, ge¬
wann jener Gedanke greifbare Gestalt, und jetzt scheint derselbe in allen Vor¬
kommnissen zu culminiren.
Die Geschicke müssen sich erfüllen. Wer die Stadt Kassel und ihre herr¬
liche Umgebung kennt, der hat auch mit einem tiefen Eindruck die Ruinen des
gewaltigen Schlosses betrachtet, welches mitten in der Stadt in cyklopischen
Quadern aus seinen Fundamenten herausragt, und vom steilen Ufer der Fulda
ein weites Thal beherrscht. Dieser Bau war von Kurfürst Wilhelm dein Er¬
sten nach seiner Rückkehr aus der Verbannung errichtet, genau auf der Stelle
des bei einem Mummenschanz des „lustiken Jerome" durch Feuer zerstörten
Stammschlosses der Landgrafen von Hessen. Der alte Herr, dessen engherzige
Knauserei berüchtigt genug ist, hatte die großartige Anlage des neuen Schlosses
für sein künftiges Geschlecht mit einem gewaltigen Aufwand begonnen und
eifrig betrieben. Als er starb, kaum ein Jahr vor der äußeren Vollendung, wa¬
ren bereits Millionen verwendet. Aber die „Kattenburg" sollte unvollendet
bleiben; die späteren Nachkommen des Geschlechts der Landgrafen von Hessen,
aus dem Schooße der heiligen Elisabeth entsprossen, sollten — ominös ge¬
nug — in dem Landschaftshause der alten hessischen Stände wohnen, jetzt
Palais genannt. An dem Tage nach dem Ableben Kurfürst Wilhelms des Ersten
hielt die Gräfin Reichenbach, die Maitresse des neuen Kurfürsten, vor den
Augen der zur Ableistung des Huldigungseides auf dem Friedrichsplatz ver¬
sammelten Armee ihren Einzug in das kurfürstliche Palais. An demselben
Tag wurden die Arbeiten an der Kattenburg eingestellt. Die Gräfin Reichen¬
bach hatte ja ganz andere Interessen, als die Schätze des Kurfürsten für einen
^an verwenden zu lassen, in welchem ihre Kinder niemals wohnen durften.
Von jenem Tage datirt die neuere Geschichte des hessischen Fürstenhauses. Sie
charakterisirt sich dadurch, daß ebenbürtige Fürstinnen nicht vorhanden sind, und
daß die Regierung des Landes dem Zweck dienen muß, für eine nicht eben¬
bürtige Descendenz Reichthümer aufzuhäufen. Die Kinder der Gräfin Reichenbach
haben denn auch mindestens zwanzig Millionen Thaler erhalten, ganz abgesehen
davon, was die damalige Wirthschaft noch sonst verschlungen u. s. w. u. s. w.
Wenden wir unseren Blick auf die Gegenwart, so sehen wir überall die
alte Starrheit und Unbeweglichkeit. Von allen den Zusagen, welche den Stän¬
den am S. December v. I. gemacht worden sind, ist nach länger als Monats¬
frist noch keine einzige erfüllt. Und auch sonst geschieht absolut nichts. Ein
lebendiges Bild unseres jetzigen Zustandes gibt die Rede, mit welcher der Ge-
heimrath v. Schenck in der Sitzung der Ständckammer am 21. d. M. den Be¬
richt des Ausschusses über den Octkerschen Antrag einleitete. Nach der steno¬
graphischen Aufzeichnung sagte Herr v. Schenck Folgendes:
„Als durch die landesherrliche Verkündigung vom 21. Juni v. I. die
Verfassung von 1831 wieder ins Leben trat, war das ganze Land mit Freude
erfüllt, und in diese Freude mischte sich nicht der Wunsch nach neuem Streit,
sondern der Wunsch nach Frieden und nach Versöhnung. Mit diesem Wunsche
des Friedens und der Versöhnung sind die Wahlberechtigten zur Wahl geschritten,
mit denselben Gefühlen sind die Abgeordneten in diesen Saal getreten; ich
glaube nicht zu viel zu behaupten, wenn ich 5lese Gesinnung bei jedem von
uns voraussetze. Fragen wir nun, mit welcher Gesinnung kam man uns ent¬
gegen; fanden wir einen versöhnenden Empfang in diesem Saale, fanden wir
die Vorlage des längst erwarteten Gesetzes über die Begnadigung der politisch
Verurtheilten, fanden wir die Absicht, diejenigen zu entschädigen, welche lieber
ihre Existenz opferten, als von dem Verfassungseide losließen? Fanden wir die
Ausgleichung über die enormen Lasten, welche einzelne Landestheile durch die,
jetzt überall als unrechtmäßig erkannte Bundcscxccution tragen mußten, fanden
wir die Vorlage der vielen erwarteten materiellen Gesetze, namentlich im Be¬
treff der Eisenbahnen, und fanden wir endlich und vor allen Dingen die Vor¬
lage über den Wegfall derjenigen Bestimmungen, welche seit 18S0 unser Gesetz¬
blatt füllen, unsere Verfassung in ihrer vollen Wirksamkeit beeinträchtigen?
Dahin rechne ich vorzugsweise die Gemeindeordnung, das Staatsdienst¬
gesetz und das Gesetz über die Besetzung des Oberappcllationsgerichts.
Leider muß ich sagen, daß wir von alle dem nichts vorfanden. Wir mußten
oft und mehrfach die uns bestrittene Competenz durch feste und einmüthige Be¬
schlüsse erobern. Wir mußten Anträge stellen, meistens ohne Erfolg, um das zu-
erlangen, womit man uns eigentlich von vornherein hätte entgegenkommen sollen.
Sind doch die Verheißungen der landesherrlichen Verkündigung, welche
heute vor sieben Monaten schon erlassen wurde. bis zu diesem Augenblicke noch
nicht erfüllt.
Unter diesen Umständen, nachdem wir seit dritthalb Monaten hier tagen,
und nachdem sieben Monate seit der landesherrlichen Verkündigung verflossen
sind, ist der Antrag des Abgeordneten Oetkcr, die Wiederherstellung des gestörten
Rechtszustandes betreffend, völlig gerechtfertigt.
Der Verfassungsausschuß hat denselben geprüft und ist hinweggeschritten
über jeden Principienstreit; er hat sich nur an die Sache gehalten; gerade auf
das Ziel zugehend hat er diejenigen Bestimmungen bezeichnet, welche noth¬
wendigerweise und vor allen Dingen entfernt werden müssen, um unser Ver¬
fassungsleben wieder wach zu rufen, und darauf seinen Antrag v orerst beschränkt.
Dieser Antrag lautet, in etwas veränderter Fassung, wie folgt:
Die hohe Ständeversammlung wolle die hohe Staatsregierung dringend
um die formelle Beseitigung aller am Schlüsse des Berichts erwähnten, im
Gesetzblatt befindlichen Bestimmungen und um jede thunliche Beschleunigung
der entsprechenden Mittheilungen oder Vorlagen ersuchen.
Indem die hohe Ständeversammlung diesem Antrage ihre Zustimmung
ertheilt, liefert dieselbe wiederholt den Beweis, daß sie unerschütterlich am Rechte
festhält, dabei aber nie den Weg der Versöhnung, des Friedens und der
Mäßigung verläßt.
Mit diesen Mitteln, mit diesen Waffen kommen wir hoffentlich zum
Ziele."
Wie lange soll dieser Zustand fortdauern; wer ist berufen einzuschreiten?
Abgesehen davon, daß dem kurhessischen Volte der dünne Faden seiner viel¬
geprüften und vielgerühmten Geduld endlich reißen muß; und abgesehen von
der Möglichkeit einer formal immerhin nicht ganz gerechtfertigten Einmischung
Preußens aus eigener Machtvollkommenheit, scheinen nur zwei Wege offen zu
stehen: ein Einschreiten des Bundestages, und ein Einschreiten der Agnaten.
Allerdings können auch die Stände in dieser Beziehung eine Thätigkeit ent¬
falten; aber doch nur eine mittelbare, indem sie den Bundestag oder die Agnaten
anrufen. Der Bundestag liegt jedoch im Argen, und von ihm ist nichts zu
erwarten. Es bleiben also nur die Agnaten, übrig. Sie haben nicht allein
das Recht einzuschreiten, sondern auch die Pflicht. Die Agnaten müssen sich
die Frage vorlegen, ob nicht die dermaligen Zustände diese Pflicht zu einer un¬
abweisbaren machen. Aber wer sind die Agnaten? Im Lande weiß man von
denselben nicht viel mehr, als was der Gothaer Kalender berichtet. Was sonst
noch verlautet, klingt auch nicht erbaulich. Wohl möglich, daß absichtliche
Uebertreibungen mit unterlaufen. Aber neuerdings ist doch bekannt geworden,
daß für einen demnächst zur Erbfolge berufenen Prinzen ein Erzieher gewählt
worden ist, welcher der im Lande verhaßten und verachteten Muckcrpartei an¬
gehört. Es ist dieses geschehen durch Vermittelung des Herrn v. Bülow,
des bekannten dänischen Bundestagsgesandter in Frankfurt.
In dieser trostlosen Oede schreitet die Landesvertretung rüstig vorwärts.
Trotz der mangelnden Regierungsvorlagen sind die Stände nicht müßig gewesen.
Sie haben die alsbaldige Annahme des Handelsvertrags einstimmig befürwortet.
Sie haben einen Antrag des Berfassungsausscbusses auf interimistische Beiziehung
der Standesherrn und der Neichsritterschaft zur Landesvertretung ebenfalls
euistimmig angenommen und damit ihre willfährige Geneigtheit dargethan, dem
Bundesbcschluß vom 24. Mai Genüge zu leisten. Genau auf diesen Punkt
wurde schon früher hingewiesen. Wenn die Regierung ursprünglich beabsichtigte,
gestützt auf die Vorschrift des Bundcsbeschlusses, einen Druck auf die Stände
zur Annahme des vorgelegten Wahlgesetz-Entwurfs auszuüben; so haben sich
die Stände jetzt in die Lage versetzt, bei Aenderung des Wahlgesetzes lediglich
die Interessen des Landes zu Rathe zu ziehen. Die Stände haben aber durch
jenen Beschluß noch weiter erreicht, daß der früher regierungsseitig aufgestellten
Theorie von einem Landtag Iroe auch der Schein einer Grundlage entzogen
worden ist.
Eine fernere Thätigkeit der Stände war darauf gerichtet, die Lasten der
Bundescxccution auszugleichen. Einzelne Bezirke, Gemeinden :c. sind durch
diese Execution überaus start getroffen worden, während andere Landestheile
gar keine fremden Truppen gesehen haben. In den Kreisen Futoa und Hünseld
standen während eines Monats 23.000 Mann sogenannte Ezecutionstruppcn
ebensoviel preußischen Truppen gegenüber. Alle Lebensmittel waren aufgezehrt,
und nach dem Abzüge der Armeen brach der Hungertyphus aus. Die Discussion
über diesen Gegenstand brachte alle die Gewaltthätigkeiten und Bosheiten in
Erinnerung, welche sich die Herren Schnabel, Rechberg, Scheffer, Wegner ;c.
gegen die Bewohner des Kurstaats und insbesondere gegen die verfassungs¬
treuen Beamten erlaubt hatten. Der ganz ausgezeichnete Ausschußbericht, von
Herrn v. Bischvffshauscn erstattet, weist in überzeugender Weise den vollständigen
Mangel alten und jeden Rechtsgrundcs für die sogenannte Bundesexecutivn
nach und beantragt die Vorlage eines Gesetzentwurfs zur Ausgleichung der aus
derselben erwachsenen Lasten. Dieser Antrag wurde von der Ständeversammlung
einstimmig angenommen. Vorbehalten bleibt der Ersatz der Kosten der sogenannten
Bundcöexecution durch diejenigen, welche diescselbe herbeigeführt haben.
Mit dem eben erwähnten Gegenstände steht in Zusammenhang der Antrag
von Octter II., einem Bruder von Friedrich Oetter, der für diejenigen Staats¬
diener des Civil- und Militärstandes, welche durch die sogenannte Bundes-
execution von Amt und Brod vertrieben worden sind, eine angemessene Ent¬
schädigung fordert. Die Begründung des Antrags erfolgte mit einer logischen
Klarheit, mit einer Würde der Sprache und mit einer Ruhe der Haltung und
der Stimme, welche einen gewaltigen Eindruck nicht verfehlen konnte und
einem jeden ständischen Saale zur besonderen Zierde gereicht haben würde.
Daß den Ständen das Budget für 1861 — 1863 nach vieler Mühe und
Noth vorgelegt worden ist, wurde schon früher erwähnt. Mit dem Budget
stand in einem unmittelbaren Zusammenhang die Frage über die Forterhebung
der Steuern und Abgaben. Die Regierung schien diese Erhebung auf Grund
des Junipatents bewerkstelligen zu wollen. Allein die Stände widersetzten sich,
gestützt auf die ausdrücklichen Borschriften der wiederhergestellten Verfassung.
Schon zeigten sich die Anfänge einer Steuerverweigerung. Da hat denn die
Regierung schließlich einen die Steuererhebung interimistisch regulirenden Gesetz¬
entwurf vorgelegt, und die Stände haben denselben genehmigt. Es geschah
dieses Seitens der Stände in einer sehr zuvorkommender Weise auf den Zeit¬
raum bis zum 1. Juli 1863. Den Ministern soll es nicht leicht gewesen sein,
die Zustimmung des Kurfürsten zu diesem Gesetz zu erwirken. Mit dem¬
selben, ist das seit zwölf Jahren unterbrochene verfassungsmäßige Steuer-
bewilligungsrecht der Stände praktisch wieder wirksam geworden. Das vor¬
gelegte Budget wird jedoch den Ständen voraussichtlich Anlaß zu vielen Aus¬
stellungen geben. Hier soll nur ein Punkt Erwähnung finden. Mit dem
Budget ist die Verbesserung der notorisch ganz unzureichenden Beamten¬
gehalte in Verbindung gebracht. Nun haben die darauf gerichteten Propositio-
nen der Regierung einen wahren Sturm in der Beamtenwelt heraufbeschworen.
Niemand ist mit den gemachten Vorschlägen zufrieden; wohl aber werden die schwer¬
sten Klagen laut. Am empfindlichsten scheinen die niederen Grade der Offiziers-
stellen berührt zu sein. Denn diesen wird anstatt der erwarteten Gehalts¬
verbesserung, wie zum Hohn, die Anweisung ertheilt, sich in der zeither schon
geübten Kunst des Einschränkens und des Darbens noch zu vervollkommnen.
Wäre man Seitens der Negierung mit Absicht darauf ausgegangen, das eigne
Ansehen herabzumindern und das Ansehen der Stände zu heben, man hätte
nicht geschickter operiren können, als durch diese Budgetvorlage geschehen ist. Bon
allen Seiten wird jetzt an das Gerechtigkeitsgefühl der Landstände appellirt.
Die Sitzungen der Stände zeichnen sich durch regelmäßige Abwesenheit der
Minister aus. Seit der Eröffnung der Kammer haben sie sich in derselben
nicht wieder blicken lassen. Inzwischen vertheidigt der Landtagscommissar Schüler
den Verlornen Posten mit rühmlicher Auszeichnung und mit durchaus ach¬
tungswerthen Waffen. Aber lange wird er es nicht mehr aushalten könne».
Mit jeder Sitzung steigert sich der Unwille über die Unthätigkeit der Negierung.
Herr Schüler wird kaum geneigt sein, sich noch länger als Prügelknabe der
Minister gebrauchen zu lassen.
Vilmar befindet sich körperlich und geistig in einem bedenklichen Zustand.
Wohl möglich, daß er. gleich seinem Freund Hassenpflug. das schmähliche Ende
seiner Thaten nicht zu kosten habe» wird. Vilmar war es, der im Jahr 1850
>n Wilhelmsbad die Bedenken des Kurfürsten und selbst Hassenpflugs gegen
den Einmarsch der bayrisch-östreichischen Armee zu übertäuben wußte. In dem
Novemberheft der protestantischen Monatsblätter von Gelzer findet sich der
vorhinnigc hochbegabte Burschenschaftler Vilmar dem späteren Jesuiten Vilmar
gegenübergestellt; und zwar in denjenigen Sätzen, welche Vilmar selbst in den
verschiedenen Perioden wörtlich hal drucken lassen.. Die Wirkung ist vernichtend.
Wie verlautet, soll eine besondere Ausgabe veranstaltet und im Lande verbreitet
werden. Die Schrift wird voraussichtlich, sobald sie in das Volk eingedrungen
ist, auf dem Gebiet der Kirche genau dieselbe Wirkung äußern, welche die
Schrift des Hauptmanns Dörr in der Armee gehabt hat.
Haynau ist endlich pensionirt, und zwar auf Grund angeblicher Körper¬
gebrechen. In Wirklichkeit machte freilich nicht ein Körpergebrechen, sondern
das größte moralische Gebrechen eines Offiziers, der Vorwurf der Feigheit, sein
Verbleiben in der Armee unmöglich. Nach dem strengen Recht mußte Haynau
ohne Pension ausscheiden; denn er hatte sich durch eignes Verschulden unfähig
gemacht Dienste zu leisten. Daß das übersehen wurde, um die Pensionirung
möglich zu machen, kann durch Rücksichten auf die Familie entschuldigt werden.
Aber man hat auch an Haynau mit der Pension gleichzeitig das Recht verliehen,
die kurhessische Armeeuniform tragen zu dürfen. Es ist dieses wieder einmal
ganz bezeichnend für die hiesigen Zustände.
Der Generallieutenant v. Haynau, welcher in Folge der von den Offizieren
abgegebenen Erklärung den Dienst verlassen mußte, soll auch künftig noch als
ein Offizier betrachtet werden, auf dessen Ehre ein Makel nicht haftet! Die
nothwendige Folge ist. daß jeder kurhcssische Offizier, der dem pensionirten
Generallieutenant v. Haynau in der Armeeuniform begegnet, denselben ent¬
weder militärisch salutiren, oder ihm die Uniform vom Leibe reißen muß. Zum
Glück hat Haynau selbst die ihm allzu bedenkliche Auszeichnung abgelehnt und
damit die Offiziere jener peinlichen Alternative überhoben.
Haynau ist jetzt vom Schauplatz seiner Thaten verschwunden. Aber wir
werden diesen Mann noch einmal in die Oeffentlichkeit zurückkehren sehen. Es
wird dieses an dem Tage geschehen, an welchem er sich mit seinem Schwager
Alexander v. Baumbach vor dem Staatsgerichtshof wegen des Verfassungs¬
bruchs zu rechtfertigen haben wird.*)
Die Namen Hasscnpflug, v. Haynau und v. Baumbach finden sich unter
den berüchtigten Septcmberverordnungcn des Jahres 18S0, welche den Umsturz
der Verfassung einleiteten. Hassenpflug ist dem irdischen Richterstuhl entzogen.
Aber Haynau und Vaumbach erwarten noch ihr Recht, und zwar so gewiß,
als göttliches und menschliches Gesetz nicht muthwillig mit Füßen getreten
werden darf.
Herr v. Dehn-Rothfelser ist nicht mehr Minister; er ist gefallen, weil er
die ihm zugedachte Aufgabe nicht erfüllt hat. Die Aufgabe des von ihm am
21, Juni v. I. gebildeten Ministeriums sollte darin bestehen, die Verfassung
von 1831 zwar formal wiederherzustellen, aber doch dafür zu sorgen, daß sie
nicht wieder lebendig werde. Nach Außen sollte sie darin bestehen, die Am-
mosität gegen Preußen, im östreichischen Interesse aufrecht zu erhalten. Herr
v. Dehn glaubte es mit der Wiederherstellung der Verfassung etwas ernstlicher
nehmen zu müssen. Er hielt auch die Wiederanknüpfung eines leidlich guten
Vernehmens mit Preußen im Interesse des Kurfürsten und des Landes für
nothwendig. Diese Ueberzeugung wurde von ihm mit mehr Energie geltend
gemacht, als von, seiner Persönlichkeit und seinen Antecedentien erwartet werden
konnte, und als man hier einem Minister zu verzeihen Pflegt. Er mußte ent¬
fernt werden. Zugleich sollte durch seine Entfernung die überaus unbequeme
Solidarität der Minister gesprengt werden. Dieses ist vollständig gelungen,
wie man denn in dergleichen Kunststückchen eine besondere Virtuosität besitzt.
Herr v. Stiernberg und Herr Pfeiffer haben für dienlich gehalten, die früher
ausdrücklich übernommene Solidarität aufzugeben und im Amt zu bleiben.
Die Ministerien der Finanzen und des Aeußeren werden einstweilen von den
Herren Schnackenberg und Koch verwaltet. Beide sind als Lückenbüßer zu be¬
trachten, und kann deshalb ihre Persönlichkeit vorerst außer Betracht bleiben.
Die Verantwortlichkeit freilich, moralisch und strafrechtlich, ist ganz gleich, ob
ein Ministerium aus 24 Stunden oder auf ein Jahr, übernommen wird. Die
Herren scheinen aber für genügend zu halten, wen» sie nur persönlich eine
Verletzung positiver Vcrfassungsvvrschristen vermeiden. Von derjenigen Verant¬
wortlichkeit, welche durch Unterlassungen hervorgerufen wird, scheinen sie keine
Ahnung zu haben. Und doch ist gerade diese Verantwortlichkeit unter den
dermaligen Verhältnissen von einer erdrückenden Schwere. Die Dinge sind hier
zu einer durchaus bedenklichen Spannung gelangt. Wie unter gewissen Be¬
dingungen die Bewegung eines kleinen Vogels den Sturz einer gewaltigen
Lawine veranlassen kann, so kann auch hier ein ganz unbedeutendes Ereignis;
une Lawine in Bewegung setzen.
Der erste Band dieses mit deutschem Gelehrtenfleiß aus den neuesten und besten
Quellen zusammengctragnen Werkes beschäftigte sich mit dem Gebiet des Czarcnreichs,
der Gestaltung und den Grenzen desselben. Dieser zweite faßt in zwei Hauptabschnit¬
ten die Bevölkerung Rußlands ins Auge. Im ersten Abschnitt werden die absolute
Bevölkerung und das Wachsthum iderselbcu nach den verschiedenen Zählungen seit
1723, die relative Bevölkerung und die Dichtheit derselben in den einzelnen Gou¬
vernements, das Verhältniß der Geschlechter und Altersclassen, der Stadt- und Land¬
bevölkerung, der Bekenntnisse und Völkerstämme zu einander betrachtet. Die zweite
Section gibt eine sehr ins Detail gehende Charakteristik der einzelnen Völkerschaften
Rußlands, nach der Pvpulativnistik die Ethnographie. Im Folgenden theilen wir Einiges
von den Endergebnissen des ersten Abschnitts mit. Seit dem Pariser Frieden ist Nußland
im Westen allerdings etwas kleiner als früher, indem es damals in Bcssaravicn eine
Strecke von 10,754 Quadratwcrst verlor. Aber dieser Verlust ist durch Vergröße¬
rungen in Asien reichlich ausgeglichen. Die Tractate von Aigun, von Tientsin und
Peking verschafften ihm das Amurgcbict, welches etwa so groß wie Frankreich ist,
und zu gleicher Zeit nahm es dem Khan von Khokand im Centrum Asiens die
Tsuugarei ab, von wo es sich noch jetzt von Tage zu Tage weiter ausbreitet.
Gegenwärtig hat das Czarcnreich eine Ausdehnung von 20,779,729 Quadratkilo-
meter oder, wenn man die noch unabhängigen Striche des Kaukasus und die von
den Kirgisen Südsibiriens und der Großen Horde bewohnten Gegenden abrechnet,
deren Abhängigkeit nur eine nominelle ist, von mindestens 19'/- Millionen Quadrat¬
kilometer, was ungefähr einem Siebentel der gesammten Erdoberfläche (soweit sie
in Festland besteht) gleichkommen wird. Bewohner hatte Nußland im Jahre 1856
circa 72 Millionen, von denen nahezu 74 Millionen auf die europäischen, fast
8'/2 Millionen auf die asiatischen und 10,723 auf die amerikanischen Besitzungen
gerechnet wurden. Das Wachsthum der Bevölkerung war seit der ersten Zählung
ein stetiges und sehr beträchtliches. Die erste Zählung, im Jahre 1723 vorgenommen,
nur auf das männliche Geschlecht beschränkt und auch sonst sehr ungenau,
ergab 5,794.928, die zweite nicht viel sorgfältigere für 1751- 6,043!, 335 See¬
len, die im Jahre 1790 angestellte fünfte 17,815,370, die im Jahr 1851 angeord¬
nete neunte 22,284,419 Seelen ohne Hinzurechnung von Frauen und Kindern.
Als richtiger nimmt der Verfasser für das Jahr 1723 eine Gesammtbevölkerung
von ungefähr 10, für das Jahr 1751 eine solche von 18, für das Jahr 1796
eine solche von 36, endlich für 1851 eine solche von ungefähr 69 Millionen See¬
len an.
Die Gesammtbevölkerung Rußlands im Jahre 1860 schätzt Schnitzler auf
75,400,000 Menschen, von denen er mehr als 60 Millionen dem griechisch-orthodoxen
Bekenntniß, mehr als 15 Millionen andern Kirchen und Sekten zutheilt. Die
eigentlichen Russen zählen nach ihm gegen 56, die übrigen Völkerschaften zusammen
etwa 19V- Millionen. Die partielle Bevölkerung vertheilt sich nach seiner Berech¬
nung wie folgt! das eigentliche russische Reich mit Einschluß der asiatischen und
amerikanischen Besitzungen 67,470,000, das Königreich Polen 4,800,000, das Grvß-
fürstenthum Finnland 1,650,000, die noch gewissermaßen unabhängigen Stämme
des Kaukasus l,500,000 Seelen. In Polen vertheilte sich die Bevölkerung in Be¬
treff der Confessionen im Jahr 1859 in folgender Weise: Katholiken 3,657,142,
unirte Griechen 215,967, nichtunirte Griechen 4,856, Raskolniken oder Altgläu«
bige 4.244, Lutheraner 274.707, Ncformirte 4,189. mährische Brüder 1.451.
Mennoniten 1.581. Juden 590.875, Mohammedaner 306, Zigeuner 128.
Die Dichtheit der Bevölkerung ist nach den letzten Untersuchungen in den ein¬
zelnen Haupttheilen des Reichs folgende- 2>n eigentlichen Rußland kommen etwa
12.50, im Königreich Polen 37. im Großfürstentlmin Finnland 4 bis 5. um
europäischen Rußland mit Polen und Finnland 12. in den asiatischen Provinzen
0.6, im gcsnmmten dem Scepter des Czaren unterworfenen Gebiet etwas mehr als
drei Menschen auf den Quadratkilometer — eine sehr geringe Dichtigkeit im Ver¬
gleich mit dem gewerbfleißigen Belgien. welches auf demselben Flächenraum durch¬
schnittlich 157 Individuen hat. Nach den Geschlechtern betrachtet zeigt die russische
Bevölkerung, darin von den westlichen Nationen nicht verschieden, ein Ueberwiegen
des weiblichen Geschlechts, indem auf dasselbe circa 38.600.000, auf das männliche
nur 36,800.000 Seelen der Gesammtbevölkerung fallen, dieses sich also zu jenem
wie 100 zu 105 verhält. Die Vertheilung der Bevölkerung über den Boden stell!
nachstehende Tabelle dar-
Das Wachsthum der Bevölkerung, von uns vorhin bedeutend genannt, ist im Ver¬
gleich mit den, in den westeuropäischen Ländern ein langsameres; denn es beträgt
nicht mehr als 0.90 Procent im Jahre, und es bedarf somit mehr als ein Jahr¬
hundert, um die Zahlen zu verdoppeln, nährend die Bevölkerung des Königreichs
Sachsen dazu in der letzten Zeit nur fünfzig Jahre bedürfte.
Genaueres über alle diese Verhältnisse werden wir demnächst erfahren. Der
Verfasser ist bei seinen Untersuchungen zwar von der kaiserlichen Akademie der
Wissenschaften in Se. Petersburg lebhaft unterstützt worden. Aber seitdem ,hat die
kaiserliche geographische Gesellschaft eine Preisschrift über die wirksamsten Mittel
die Statistik in Nußland zu organisiren ausgeschrieben, und zu gleicher Zeit werden
Vom Ccntralcvmilö der Statistik, welches vom Ministerium des Jnnern abhängt,
Maßregeln angekündigt, welche dieser Wissenschaft eine neue Aera eröffnen. Man
"kennt „die dringende Nothwendigkeit an, das System, welches die Berechnung der
Bevölkerung ordnet, zu verbessern und in Nußland ein anderes einzuführen, gegründet
«uf eine Basis, die der analog ist, welche heutzutage fast in alle» Staaten West¬
europas adoptirt ist — eine Basis, wie sie auf dem ersten internationalen statisti¬
schen Kongreß, der 1853 zu Brüssel stattfand, besprochen und festgestellt, und auf
dem vierten Kongreß in London vervollständigt worden ist." Man weiß, daß
Rußland sich unter Alexander dem Zweiten in einer Periode der Umgestaltung be¬
findet. Jene Arbeit wird uus das umgestaltete Rußland zeigen, und so gedenkt sie
der Verfasser des vorliegenden Werkes in einem der folgenden Bände zu benutzen
und sie seinen Lesern in einem Anhang zugänglich zu macheu. ein Versprechen, für
d^s wir ihm im Voraus Dank wissen. Inzwischen möge seine fleißige Arbeit als
co.e sehr werthvolle Bereicherung unsrer Kenntniß von dem großen östlichen Nach¬
barreiche dem deutschen Publicum warm empfohlen sein.
Das Buch ist mehr, als was der bescheidene Titel jagt: es ist in gewissem Maß eine
Geschichte der nllmäligen Umgestaltung der politischen und socialen Zustände der Schweiz,
die im Jahre 1347 mit der neuen Verfassung ihren Abschluß erhielt. Ein erster Abschnitt
charakterisirt die ersten Angriffe des Geistes der neuen Zeit auf die Patricierhcrrschafl
und das alte Herkommen überhaupt. Ein zweiter zeigt die Entstehung der helvetischen
Gesellschaft, und wie dieselbe sich nach und nach zum Mittelpunkt der verschieden¬
sten reformatorischen Bestrebungen auf pädagogischen, politischem, militärischem, kirch¬
lichem und literarischem Gebiet entwickelte, die Gegensätze und Kämpfe im Schooße der
Gesellschaft, endlich den Sieg der Frcigesinnten am Ende des achtzehnten Jahrhunderts.
Der dritte Abschnitt endlich schildert das Wirken der Gesellschaft im neunzehnten Jahr¬
hundert, zunächst in der Mediationszeit, dann in der Periode der Restauration, endlich
das Verhältniß der Gesellschaft zu den Bestrebungen, welche mit der Bundesreform
endigten. Der ursprüngliche Zweck der Vereinigung. Pflege eidgenössischer Freund¬
schaft, Vermittelung der Gegensätze, Erhebung über dieselben im Gefühl der Zu¬
sammengehörigkeit aller Schweizer, war damit' im höhern Sinn erfüllt, die Ver¬
jüngung der veralteten Eidgenossenschaft in einer von den ersten Mitgliedern
ungeahnten, von der Gesellschaft der dreißiger und vierziger Jahre aber allerdings
mit Bewußtsein erstrebten Weise zur geschichtlichen Thatsache geworden.
Der bekannte rührige Bekämpfer der brasilischen Seelenverkäufer legt hier einen
Plan vor, wie nach seiner Meinung die Auswanderung als Hebel deutschen Handels,
deutscher Schifffahrt und „deutscher Einigung und Kräftigung diesseits und jenseits
des Weltmeers" zu verwenden sei. Als Punkt wohin dieselbe zu lenken sei, nennt
er die La Plata-Staaten, namentlich Uruguay. Die Vortheile seines Vorschlags,
dessen Ausführung freilich rasch und im großen Maßstab in die Hand genommen
werden müßte, da nach Beendigung des Kriegs in Nordamerika aller Wahrscheinlich¬
keit nach ein Nationalbankerott ausbrechen und das dortige Volk von den
jetzigen hohen Steuern und Zöllen befreien wird, leuchten ein. Doch meinen wir,
daß für deutsche Einigung und Kräftigung diesseits und jenseits des Weltmeeres
zunächst Wichtigeres geschehen könnte, als daß eine lebhafte Betheiligung an der
vom Verfasser empfohlenen Auswandcrungs-Gesellschaft Empfehlung verdiente. Die
rechte Gesellschaft für diesen Zweck scheint uns nicht aus dem Privatwege zu liege»,
die beste Gesellschaft dafür wäre ein reformirter Zollverein mit einer Centralgewalt
und einem Parlament. — Ein sehr umfänglicher Anhang zu der Broschüre bringt
eine große Menge von Notizen und Dokumenten, die sich auf das Auswandcrungs-
wesen beziehen: Berichte von der Expedition der „Novara". eine Abhandlung über
die nordamerikanische Homestead-Bill, französische Ansichten über die deutsche Aus¬
wanderung, sehr interessante Mittheilungen über brasilische Zustände, darunter eine
Auzahl von Briefen dortiger Staatsmänner. Das Schlußcapitel endlich zeigt die
langjährige Wirksamkeit des Verfassers gegen Sklavenhandel und Sklaverei überhaupt.
Verantwortlicher Redacteur: Dr. Moritz Busch.
Verlag von Z. L. Herbig. — Druck von C. E. Elbert in Leipzig.
Vor einigen Monaten erschien in Leipzig) unter dem Titel „Konstantin
Tischendorf > in seiner j fünfundzwanzigjührigen schriftstellerischen Wirksamkeit.
Literarhistorische Skizze von or. I. E. Volbeding" -— eine Schrift, die einiges
Aufsehen erregte und auch uns zu denken gab/ Unser erster Gedanke war
Ueberraschung, unser zweiter Erinnerung an den Erfahrungssatz, nach welchem
jede Regel ihre Ausnahmen hat, und dazu gesellte sich als dritter eine hübsche
Geschichte, die uns kurz vorher von einem gelehrten Freund erzählt worden war.
Wir waren überrascht aus mehren Gründen. Zunächst weil der auf dem
Titel genannte Herr Verfasser seinem eigentlichen Lebensberuf nach — er war
uns nur als Redacteur eines Pfcnnigmagazins für die Jugend bekannt — nicht
gerade zum Beurtheiler von Leistungen auf dem Gebiet paläographischer
Forschungen geschaffen erscheinen wollte. Dann war es nicht gebräuchlich, we¬
nigstens selten, daß man große Männer schon bei Lebzeiten zum Gegenstand
tobender Biographien in Buchform macht. Endlich lebte der „Literarhistoriker"
Volbeding in Leipzig, woselbst das Object seiner Verehrung ebenfalls seinen
wesentlichen Wohnsitz halte, und da siel uns denn der Spruch ein. nach welchem
der Prophet in feinem Vaterlande nichts gelten soll.
Indeß, so dachten wir ferner, keine Regel ohne Ausnahmen, und so mögen
auch diese Passiren, zumal wir durch sie erfahren, daß wir es hier nicht blos
mit einem großen, sondern mit einem sehr großen Manne zu thun haben, so
Zu sage» mit einem Wohlthäter der Menschheit. Weshalb sollte ein Heraus¬
geber der Leipziger Kinderzeitung nicht sein Hcrzenswinkelchen haben dürfen, in
welchem er sich für den Handel mit alten Codices, Palimpsesten und ähnlichem
Apparat gelehrter Theologie interessirt? Und warum sollte man der Weisheit und
Tugend, die man entdeckt hat, nicht einmal gegen das Herkommen, schon während
sie noch hienieden wandelt, das verdiente Ehrendenkmal setzen? Weshalb denn, so
fragten wir nach einem Blick auf die Einleitung, nicht ohne Verzug ans Werk
gehen, wenn diese Weisheit und Tugend obendrein die Zuvorkommenheit hat,
ihrem Bildhauer aus eigenen Mitteln den Marmor und das Erz zu seinem
Monument zu liefern?
So lasen wir denn die Schrift weiter, und nicht ohne Befriedigung. Von
Seite zu Seite gelang es mehr, in dem großen Gelehrten, den sie feiert, und
den der Verfasser unmittelbar neben Erasmus und Cardinal Nmenes stellt,
auch den großen Menschen und Christen zu erkennen, der immer nur die För¬
derung der Wissenschaft im Auge hat, dessen kindlich frommes Gemüth nie an
etwas Anderes als an den lieben Gott und das Himmelreich denkt, und der
dafür in einer für unsre prosaisch caleulirende Zeit an das Wunder streifenden
Weise auch mit irdischen Gütern belohnt wird. Einige Mängel, welche das
Buch hat, konnten bei der Rührung und Erbauung, welche solche Stellen ge¬
währten, kaum auffallen.
Es ist wahr, das Referat über die Anerkennungen, die dem Betreffenden
von hohen, höchsten und allerhöchsten Herrschaften, von Doctoren und Professoren,
Herzogen, Königen, Kaisern aller Nationen, vom Lande, wo der Nordsternorden
wächst, bis zu der Region, wo der Erlöserorden blüht, ja selbst vom heiligen
Vater und seinen Kardinälen zu Theil geworden, wirkt etwas ermüdend und
ist vielleicht nicht von Interesse für Jedermann. Auch kam es uns vor. als
ob von den 89 Seiten der Schrift die größere Hälfte sich mit jenen An¬
erkennungen statt, wie billig zu sein schien, mit Darstellung der Leistungen be¬
schäftigte , für die sie ertheilt wurden. Allein was konnte der Verfasser der
Biographie dafür, daß der Anerkennungen so viele, daß ihrer etwa gar mehr
waren als der Verdienste seines Helden? Es gibt in Deutschland — hier deuten
wir die oben erwähnte hübsche Geschichte an — einen Gelehrten, der die ihm
verliehenen zahlreichen Decorationen auf einem eigens dazu hingestellten Tischchen
seiner Studirstube aufbewahrt und die Gewohnheit hat, seine Besucher durch
allerlei kleine Manöver vor diesen anmuthigen Hausaltar zu dirigiren, wo er
denen, die sich dies nicht durch unartige Gesten verbitten, den Inhalt zu zeigen
und zu erläutern pflegt. Was kann dieser würdige und gelehrte Herr dafür,
daß fürstliche Huld ihn ein Dutzend Mal zum Ritter schlug?
Es ist ferner kaum zu läugnen, die Masse der Mittheilungen über dieses
reiche Leben ist nicht eben nach den Grundsätzen stilistischer Kunst geordnet,
und weniger Wohlwollende als wir könnten sie fast eine wirre Masse nennen.
Aber wer weiß, ob sie nicht ursprünglich besser zusammengestellt war? Und
könnte die Verwirrung nicht dadurch hineingekommen sein, daß eine zweite
wohlwollende Hand dem Manuseript in Randbemerkungen oder sonstwie ver¬
gessene Auszeichnungen beifügte, und die Druckerei diese am unrechten Orte
einschaltete?
Endlich ist Einiges von den Thaten und Leiden des Heros, den die Schrift*)
uns schildert, z. B. dessen Antheil an dem Streit über die Handschrift des
Uranios und dessen am Felsen der Leipziger Hermashandschrift erlittener philo¬
logischer Schiffvruch nicht ganz so dargestellt, wie Sachkenner ohne Rücksichten,
nichtbefreundete Literarhistoriker es erzählen würden"). Weitere Ausstellungen
drängte der Eindruck der wahrhaft wuchtigen Gründlichkeit des Herrn Volbeding
zurück, einer Gründlichkeit, die auch das, was bei minder hervorragenden
Männern für bedeutungslos und nicht der Rede werth gelten würde, sorgsam
aufzeichnet, und die so weit geht, daß man an mehr als einer Stelle in Ver¬
suchung geräth, zu muthmaßen, das Buch sei nicht nur, wie man nach der
Lectüre der ersten Seiten schon annehmen muß, von einem sehr vertrauten und
sehr genau unterrichteten Freunde, sondern vom vertrautesten und am genauesten
unterrichteten Freunde, den der Mensch zu haben pflegt, verfaßt — mit andern
Worten eine Selbstbiographie.
Nur der Neid kann dieser Versuchung unterliegen, und wir sind nicht
neidisch auf die Verdienste Tischendorfs und deren Belohnung. Wir sagten uns
in Betreff jener Hypothese: Große Dinge loben sich immer, große Männer
niemals selbst. Tischendorf ist ein großer Mann und Mensch, und wenn es
Vorgekommen ist, daß solchen von Freundeshand schon bei Lebzeiten ein Denk¬
mal errichtet wurde, so ist es geradezu unerhört, daß in unsern Tagen ein
solcher sich selbst eine Statue setzte oder auch nur die glättende Hand an deren
Decorationen legte. So überwanden wir glücklich alle uns aufgestiegenen
Bedenken und faßten den Beschluß, Ehre zu geben, dem Ehre zu gebühren
schien: dem Verfasser der Biographie das Lob eines treuen Freundes, der
Gefälligkeit mit Gewissenhaftigkeit zu verbinden versteht, dem Gegenstand seines
Liebesdienstes eine Nische in der Walhalla, oder, da dies nicht von uns ab-
hangt, eine verehrungsvolle Verbeugung und für künftige Fälle die gelegentliche
Bezeichnung: unser Tischendorf.
In dieser Gemüthsverfassung befanden wir uns bis vor Kurzem. Nun
haben aber große Männer bisweilen nicht blos getreue und gefällige Freunde,
sondern auch Feinde, letztere vermuthlich nach göttlicher Zulassung nur zu dem
Ende, daß ihre Größe sich im Kampfe herrlicher offenbare, und mit Betrübniß
müssen wir vermelden, daß auch unser Tischendorf, unser Erasmus Feinde hat,
und daß sich darunter nicht allein recht bittere, sondern leider auch einige recht
respectable befinden, so daß man bei aller Geneigtheit zum Gegentheil nicht
umhin kann, von ihren Urtheilen Notiz zu nehmen,
Wir meinen damit nicht die Recension Fallmerayers, die in Tischendorfs
„Reise in den Orient" einen „wahren Abgrund von Gedankenleere, Maßlosigkeit,
Nichtigkeit und Zerfahrenheit" entdeckte und in dem Verfasser einen „decorirten
Wanderhelden" erblickte, „den gleichsam von der Schulbank weg die polirtestcn
Staaten Europas in die Wette mit ihrem Nischan Jftichar behängen/' Wir
sehen ferner von gewisser Leute Meinungen über die späteren Redeschriften des
Betreffenden ad, Meinungen, die sehnliches, wenn auch nicht in so unhöflicher
Form wie der Fragmentist aussprachen. Ebensowenig gedenken wir für jetzt
die Stimme eines sehr achtungswerthen Gelehrten ausführlich reden zu lassen,
welche sich vor einiger Zeit in der „Petersburger Zeitung" dahin äußerte, das
von Tischendorf beanspruchte Verdienst, die sinaitische Handschrift entdeckt zu
haben, gebühre andern Reisenden. Endlich wollen wir auch diejenigen Gegner
unseres großen Mannes vorläufig unerwähnt lassen, denen aus dem Orient
das dunkle Gerücht zu Ohren gedrungen ist, das besagte Manuscript sei der
russischen Regierung auf wesentlich andere Art gewonnen worden, als Tischen¬
dorf in seinem neuesten (beiläufig dem Anschein nach mehr für den Petersburger
Hof als für ein deutsches Publicum berechneten) Reisebuch „Aus dem heiligen
Lande" mit gesalbten Worten berichtet. Was wir meinen, ist der Angriff auf
die Aechtheit jener sinaitischen Bibelurkunde, welcher vor Kurzem von dem Grie¬
chen Simonides ausgegangen ist, und die Stimmen des Zweifels, die infolge
dessen in der englischen Presse laut geworden sind. Jener ist der obenerwähnte
bittere Feind unseres Tischendorf, diese sind die respectabeln Gegner.
Ueber die Bedeutung, welche die in Rede stehende Urkunde vom Sinai
für die biblische Textkritik beansprucht, brauchen wir hier nicht zu reden, da
Tischendorf selbst in jenem Rciscbuche, in der Allgemeinen, der Leipziger und,
irren wir nicht, auch in der Jlluflnrten Zeitung sowie in einer Anzahl ähnlicher
Blätter mit schönem Eifer Sorge getragen hat, daß die Welt darüber aufgeklärt
werde. Dagegen müssen wir mit el» paar Worten das Gedächtniß an jenen
Simonides auffrischen, wozu ein Auszug aus dem in der dritten Anmerkung
genannten Aufsätze d. Bl. dienen möge.
Im Juli 1855 erschien in Leipzig ein geheimnißvoller Grieche, der sich
Konstantin Simonides nannte und eine Anzahl seltner Handschriften zu besitzen
vorgab. Mißtrauische Gemüther hatten darüber ihre Vermuthungen, indeß ge>
lang es jenem. Einiges von seinen Schätzen an die Universität abzusetzen, wie¬
wohl sich Bedenken erhoben, ob nicht wenigstens ein Theil davon unächt sei.
Darauf brachte Simonides ein anderes Manuscript hervor: 72 Blätter einer
Ägyptischen Königsgeschichtc des Alexandriners Uranios. Die Handschrift war
ein Palimpsest, d. h, ein Pergament, aus welchem die ursprüngliche Schrift
von spätern Abschreibern bis auf einen bleichen Rest der Züge abgewischt, und
welches dann von neuem beschrieben worden war. Der Inhalt der zweiten
Hand war unzweifelhaft ächt, der Inhalt der ersten wurde von Professor
W. Dindorf trotz dringender äußerer Verdachtsgründe ebenfalls für ächt gehalten
und das Manuscript dem Simonides für z w el tausend Thaler abgekauft. Herr
Dindorf, in der gelehrten Welt als Herausgeber alter Autoren, an der Leipziger
Börse als speculativer Geschäftsmann bekannt, beeilte sich, das Manuscript der
Berliner Akademie für fünftausend Thaler anzubieten. Diese Körperschaft ließ
durch eine Anzahl ihrer Mitglieder eine Untersuchung vornehmen. Zwei große Na¬
men zerlegten die Sache chemisch, ein großer Name mikroskopisch, mehre sehr
große Gelehrte kritisch, und das Ergebniß war — die Fälschung war auch gar
zu geschickt gemacht — die Akademie erklärte die Handschrift für ächt und be¬
schloß, deren Ankauf zu befürworten. Da die hierzu nöthige Geldbewilligung
nicht sofort zu erlangen war, und Dindorf wenigstens auf eine Anzahlung
drang, so schoß Lepsius, der unter den Prüfern der Akademie gewesen war
und das kostbare Manuscript herauszugeben gedachte, die erforderliche Summe
vor und empfing dafür den Uranios. Bei näherer Betrachtung desselben ent¬
deckte er jetzt verschiedene bedenkliche Stellen. Namentlich war eine kühne
Muthmaßung Bunsens, die eine Lücke in unsrer Kenntniß Urägyptens ergänzen
sollte, von dem alten Griechen Uranios wörtlich in seine Geschichte ausgenommen
worden. Der so entstandene Verdacht erhielt von Leipzig aus Bestätigung, indem
Professor Tischendorf, der schon früher Zweifel an dem Werth des paläogra-
phischen Schatzes geäußert und in diesen jetzt durch Briefe des Simonides be¬
stärkt worden, verdrießlich darüber, daß sein früheres Votum für irrelevant
gegolten, an die „maßgebende Stelle" telegraphirtc, die Handschrift sei un¬
ächt, und seine Beweise folgen ließ*). Der Schluß der Geschichte ist kurz:
Lepsius mit Polizei in Leipzig — Haussuchung bei Simonides — Entdeckung
eines Apparats zur Verfertigung alter Manuscripte in dessen Wohnung —
Wiedereroberung der Dindorfschen zweitausend Thaler von dem schon zur Ab¬
reise gestiefelten Griechenjüngling — großes Gelächter des nicht betheiligten
Publicums und, nachdem dies verhallt, die ernste Lehre:
Es gibt viel Betrug in der Welt, und anch die Besten können
irren!
Simonides war nach kurzer Haft entlassen worden und nach England ge¬
gangen, wo er für uns verschollen schien, bis er am 3. September vorigen
Jahres plötzlich in einer Nummer des Blattes „(Zruki-Mu" wieder auftauchte
und zwar mit nichts Geringerem als einem Protest gegen die Aechtheit der sinaiti¬
schen Handschrift seines Namensvetters Konstantin Tischendorf. in welchem Protest
er behauptete, besagte Handschrift sei keineswegs ein Wer? urchristlicher Zeit,
sondern von ihm, .Konstantin Simonides, selbst erst vor einigen Jahren an¬
gefertigt. Er erzählt:
„Gegen das Ende des Jahres 1839 wünschte der ehrwürdige Benedict,
mein Oheim, geistliches Haupt des Klosters des heiligen Märtyrers Pantelimon
auf dem Berg Athos, dem Kaiser Nikolaus dem Ersten von Nußland in dank¬
barer Anerkennung der Geschenke, die von Zeit zu Zeit dem Kloster des Mär¬
tyrers dargeboten worden waren, irgend eine Gabe vom heiligen Berge zu
verehren. Da er nichts besaß, was er für annehmbar erachtete, berieth er sich
mit dem Herold Prokopius und dem russischen Mönch Paul, und sie entschieden
sich für eine Abschrift des Alten und Neuen Testaments, geschrieben nach
alterthümlicher Weise in Anfangsbuchstaben und auf Pergament. Dies, zu¬
sammen mit den Ueberresten der sieben apostolischen Väter — Barnabas, Her-
mas, Clemens, Bischof von Rom, Ignatius, Polykarp, Papias und Diony«
sins Arevpagita — sollte nach ihrem Vorschlag in Gold gebunden und dem
Kaiser durch einen gemeinsamen Freund überreicht werden. Dionysius, der
eigentliche Schönschreiber des Klosters, wurde gebeten, die Arbeit zu unter¬
nehmen, lehnte jedoch die Aufgabe als allzuschwierig ab. Infolge dessen ent¬
schloß ich selbst mich, an das Werk zu gehen, namentlich da mein verehrter
Oheim es lebhaft zu wünschen schien. Nachdem ich dann die wichtigsten der
auf dem Berg Athos verwahrten Copien der heiligen Schrift untersucht hatte,
begann ich mich in den Regeln der Schönschreibekunst zu üben, und der gelehrte
Benedict nahm ein Exemplar der Moskaner Ausgabe beider Testamente (heraus¬
gegeben und den Griechen geschenkt von den berühmten Gebrüdern Zosimati),
verglich es mit den alten und reinigte es auf diese Weise von vielen Irr¬
thümern, worauf er es mir zum Abschreiben aushändigte. Nachdem ich so
beide Testamente fehlerfrei empfangen (nur die alte Schreibweise war un¬
verändert beibehalten), suchte ich mir, da es an Pergament mangelte, mit Be-
nedicts Erlaubniß aus der Bibliothek des Klosters einen sehr dickleibigen, alter¬
thümlich gebundenen Band heraus, der fast ganz ohne Schrift und dessen Per-
gament außerordentlich rein und schön gearbeitet war. Derselbe war offenbar
vor vielen Jahrhunderten so zubereitet worden — vermuthlich von dem Schrei-
ber oder dem Vorsteher des Klosters, da er die Ueberschrift S/^OI^O^V
/Z^W/'I'/^X<?^V (Sammlung von Lobgesängen) trug und außerdem eine kurze
Abhandlung enthielt, die stark von der Zeit gelitten hatte.
Ich nahm also Besitz von dem Buch und machte mir's zurecht, indem ich
das Blatt mit der Abhandlung herausschnitt und verschiedene andere von Zeit
und Motten beschädigte entfernte, worauf ich an meine Aufgabe ging. Zuerst
schrieb ich das Alte und das Neue Testament ab, dann die Epistel des Barna¬
bas und den ersten Theil der Pastoralschriften des Hermas, und zwar in Un-
zielten des Stils, der in der Kalligraphie «^P^Mto? heißt. Die übrigen apo¬
stolischen Schriften abzucopiren. keimte ich, da es an Pergament zu mangeln
anfing, ab, und der schwere Verlust, den ich durch das Ableben Benedicts er¬
litt, veranlaßte mich, das Werk sofort dem Buchbinder des Klosters zur Wieder¬
einfügung in die ursprüngliche mit Leder überzogne Holzschale zu übergeben,
welche ich der größern Bequemlichkeit halber abgenommen hatte — und als
dies geschehen, nahm ichs in meinen Besitz.
Einige Zeit nachher zeigte ich, nach Konstantinopel gezogen, die Arbeit
den Patriarchen Anthimus und Konstantins und theilte ihnen den Grund mit,
aus dem die Abschrift stattgefunden. Konstantins nahm sie an sich und bat
mich, nachdem er sie gründlich geprüft, sie der Bibliothek des Sinaiklosters zu
schenken, was ich denn auch zu thun versprach. Konstantins war früher Bi¬
schof vom Sinai gewesen und war nach seinem Rücktritt von diesem Posten
wieder und zwar für immer Bischof dieses Ortes geworden.
Kurz nachher wurde ich durch die Cooperation beider Patriarchen unter
den Schutz der erlauchten Gräfin Etleng und ihres Bruders, A. S. Stourtzas
gestellt; aber ehe ich nach Odessa abreiste, ging ich nach der Antigonusinsel
hinüber, um Konstantins zu besuchen und meinem Versprechen nachzukommen,
nach welchem ich das Manuscript der Bibliothek des Berges Sinai geben wollte.
Der Patriarch war indeß von Hause abwesend, und ich ließ infolge dessen
das Packet für ihn mit einem Briefe zurück. Bei seiner Rückkunft schrieb er
mir folgende Antwort:
Mein innigst geliebter Sohn im heiligen Geiste, Simonides, Gnade sei
mit Dir und Friede von Gott. Ich empfing mit aufrichtiger Genugthuung
Deine wahrhaft kostbare Abschrift der heiligen Schriften — nämlich des Alten
und Neuen Testaments sammt der Epistel des Barnabas und dem ersten Theil
der Pastoralabhandlungen des Hermas, in einen Band gebunden, welcher nach
Deinem Wunsch in der Bibliothek des Berges Sinai niedergelegt werden soll.
Aber ich ermahne Dich ernstlich (wenn Du je nach Gottes Willen nach dem
heiligen Berg Athos zurückkehren solltest) das Werk, wie Du ursprünglich ge¬
dachtest, zu vollenden, und Er wird Dir es lohnen. Sei bei mir den dritten
nächsten Monats, damit ich Dir Briefe an den erlauchten A. S. Stourtzas
gebe, um ihn von Deinen Talenten und Fähigkeiten in Kenntniß zu setzen,
und damit ich Dir einige Winke ertheile, welche für den Erfolg Deiner Pläne
nützlich sein könnten. Ich lebe der festen Zuversicht, daß Du geboren wurdest,
um Deinem Vaterlande Ehre zu machen.
Nachdem ich den obigen Brief erhalten, ging ich wieder zum Patriar chen
welcher mir die gütigsten und väterlichsten Rathschläge ertheilte und Briefe an
Stourtzas hinzufügte. Darauf kehrte ich nach Konstantinopel zurück und begab
mich von hier im November 1841 nach Odessa.
Im Jahre 1846 reiste ich nach Konstantinopel zurück, von wo ich sogleich
nach der Antigonusinsel ging, um Konstantins zu besuchen und in seine
Hände ein großes Packet von Manuscripten zu legen. Er empfing mich mit
der größten Freundlichkeit, und wir unterhielten uns über eine Menge ver-
schiedener Dinge, unter Anderm auch über meine Abschrift, wobei er mich
benachrichtigte, daß er dieselbe vor einiger Zeit nach dem Berg Sinai ge¬
sandt habe.
Im Jahr 1852 sah ich sie dort selbst und bat den Bibliothekar, mir zu
sagen, wie das Kloster sie erworben; aber er schien nichts von der Sache zu
wissen, und ich meinestheils sagte nichts. Indeß untersuchte ich das Manu-
script und fand es sehr verändert, indem es ein älteres Aussehen hatte, ais
es haben sollte. Die Widmung an den Kaiser Nikolaus zu Anfang des Buchs
war weggeschafft worden. Ich begann hierauf meine philologischen Nachfor
schungen; denn es befanden sich in der Bibliothek mehre werthvolle Manu-
scripte, welche ich zu prüfen wünschte. Unter ihnen stieß ich auf die Pastorat-
schriften des Hermas, das heilige Evangelium nach Se. Matthäus und die
bestrittene Epistel des Aristeas an Philvttctes (alle auf ägyptischen Papyrus
des ersten Jahrhunderts geschrieben)') sammt andern der Beachtung nicht
unwürdigen. Alles dies theilte ich Konstantins und später meinem geistlichen
Bater Kallistratus zu Alexandrien mit.
Sie haben hiermit einen kurzen und klaren Bericht über den Codex Simoni -
deios, welchen Professor Tischendorf bei seinem Aufenthalt auf dem Sinai, wie. weiß
ich nicht, zu entführen verstand, und welchen er, nach Se. Petersburg gegangen,
dort unter dem Namen eines Codex Sinaiticus herausgab. Als ich vor
etwa zwei Jahren die ersten Facsimilia Tischendorfs sah, die zu Liverpool durch
Mr. Newton in meine Hand kamen, erkannte ich sofort mein eigen Werk, was
ich ihm auch unverzüglich sagte.
Das Obige ist ein getreues Referat über Ursprung und Geschichte des
berühmten Codex Sinaiticus, welchen Professor Tischendorf der gelehrten Welt
als eine Handschrift des vierten Jahrhunderts ausgeredet hat. Ich habe nun
nur noch ein paar Bemerkungen zu machen. Der Name des Kalligraphen des Klo¬
sters von Se. Pantelimvn war Dionysius, der Name des Mönchs, welcher
von dem Patriarchen Konstantins abgesandt wurde, um den Band von der
Antigonusinsel nach dem Sinai zu bringen, war Germanuü. Der Band wurde,
während er in meinem Besitz war, von vielen Personen gesehen, und er wurde
mit Aufmerksamkeit von Hadschi Johannes Prvdrvmos. Sohn des Pappa Prv-
dromos durchgegangen, welcher ein Geistlicher der griechischen Kirche in Trape-
zunt war. Johannes Prvdromvs hielt ein Kaffeehaus zu Galata bei Konstantino-
pel und hält es wahrscheinlich jetzt noch. Der Brief vom Patriarchen Konstantins,
welcher den Empfang des Manuscripts bestätigte, und ebenso die 25.000 Piaster,
die Konstantins mir als Ausdruck. des Dankes sandte, wurden mir von dem
Diakon Hilarion überbracht. Alle die hier genannten Personen sind, wie ich
glaube, noch am Leben und könnten Zeugniß ablegen für die Wahrheit meiner
Angaben.
Von der innern Evidenz des Manuscripts will ich für jetzt nicht sprechen.
Jeder in der Paläographie Bewanderte muß auf den ersten Blick sagen können,
daß es eine Handschrift der Gegenwart ist. Aber ich will doch erwähnen, daß
mein Oheim es an vielen Stellen corrigirte und, da es nochmals abgeschrieben
werden sollte, viele Buchstaben markirte, welche er illuminiren zu lassen beab¬
sichtigte. Die Correcturen in der Handschrift meines Oheims kann ich natür¬
lich aufzeigen und ebenso jene des Kalligraphen Dionysius. An verschiedenen
Stellen merkte ich am Rande die Initialen der verschiedenen Manuscripte an,
aus welchen ich gewisse Abschnitte und Lesarten entnommen hatte. Diese
Initialen scheinen Professor Tischendorf sehr in Verlegenheit gesetzt zu haben,
da er verschiedene höchst ingeniöse Methoden erfunden hat, um sie zu erklären.
Endlich behaupte ich im Stande zu sein, obwohl ich die Handschrift Jahre
lang nicht gesehen, zwei bestimmte Stellenin derselben aufzuzeigen, in welchen
der über allem Zweifel erhabene Beweis liegt, daß es meine Schrift ist." —
„Zum Schluß gestatten Sie mir meine aufrichtige Betrübniß auszusprechen,
daß, während die vielen werthvollen Neste des Alterthums in meinem Besitz
häusig meinen eignen Händen zugeschrieben werden, das eine arme Werk meiner
Jugend von einem Herrn, der sich des Rufs großer Gelehrsamkeit erfreut,
für das älteste Exemplar der heiligen Schrift ausgegeben wird."
Tischendorf antwortete auf diesen Angriff in der „Allgemeinen Zeitung"
mit einigen kurz abweisender Worten, und die deutsche Gelehrtenwelt schien
dies in der Ordnung zu finden. Wenigstens schwieg sie unseres Wissens.-
Anders die englischen Theologen. Unter Anderm brachte am 11. September
v. I. das „Llörieal Journal" eine gutgeschriebene Verurtheilung der Aussagen
des Simonides, und einige Monate später, am 17. Jan. d. I., erschien in
Ur. 38 der Zeitschrift ,Ms ?art,IrLiwii^ ein Aufsatz, welcher mit Oausielicus
unterzeichnet war und — anfänglich zu unserer nicht geringen Ueberraschung —,
in gleichem Grade sowohl dem Konstantin Simonides als dem Konstantin
Tischendorf den Glauben versagte. Im Folgenden das Wesentliche aus diesem
anscheinend von aufrichtiger Wahrheitliebe dictirten Artikel, der zugleich die
wesentlichsten Punkte des andern Journals wiedergibt. Causidicus schreibt:
„Es ist schwer zu sagen, wer von den beiden, der Kläger oder der Angeklagte
in dieser literarischen Fehde am wenigsten vortheilhaft erscheint. Simonides
weigert sich auf den außerordentlich unparteiischen und mild gehaltenen Ar¬
tikel im „Clerical Journal" zu antworten, weil derselbe anonym ist, eine
Entschuldigung so armseliger Art, daß selbst seine achtbare Großmutter darüber
gelacht haben würde. Andrerseits ist die von Tischendorf in der „Allgemeinen
Zeitung" veröffentlichte Note noch bedauernswerther als die feigherzige Ent¬
schuldigung seines Gegners. Der Doctor reitet das hohe Pferd, aber keines¬
wegs in der Weise eines Paladins. Von einem Mann, der nur durch seine
Arbeiten auf dem untergeordneten Felde der Paläographie und der Sammlung
von Manuscripten bekannt ist, sollte man einen gewissen Grad von Bescheiden¬
heit erwarten, selbst wenn derselbe, was ich durchaus nicht zugebe, einen werth-
vollen Bibelcodex in einem Lappen entdeckt hätte. Aber die Approbation eines
Czaren und das Interesse, welches das literarische Europa an seiner angeblichen
Entdeckung genommen hat, haben den Manuscriptensammler augenscheinlich be¬
wogen, die Miene eines literarischen alten Pistol anzunehmen. Er wundert
sich, daß englische Journale sich um solch Zeug, wie die Angaben des Simo-
nides, Gedanken machen. Wer hat ein besseres Recht? Wir in England trauen
weder Tischendorf noch Simonides in einer so wichtigen Angelegenheit wie die
Aechtheit eines biblischen Codex, von dem behauptet wird, er stamme aus dem
höchsten Alterthum. In diesem Betreff höre» wir beide Parteien ohne Vor¬
eingenommenheit und gestehen wir dem Doctor Tischendorf nicht ein Jota mehr
zu als dem Doctor Simonides."
„Gegen den Bericht des Simonides scheinen von den in dem verständigen
und unparteiischen Artikel des „Clerical Journal" angeführten Gründen
hauptsächlich folgende zu sprechen:
1. Simonides hätte, wenn das Manuscript wirklich sein Werk war, diese
Thatsache unmittelbar nachdem die vermeintliche Entdeckung Tischendorfs zu
seiner Kenntniß gekommen, bekannt machen müssen. Statt dessen verhielt er
sich still bis zur elften Stunde und ließ die Bibclt'rititer Europas in Täuschung
befangen, ohne Rücksicht auf die Verschwendung von Arbeit und Kosten, welche
sein Schweigen verursachte.
2. Die Zeit, welche Simonides bedurft haben will, um das Manuscript
zu cvpiren, betrug ungefähr zwanzig Monate, ein Zeitraum, in welchem, wie
es scheint, das Werk unmöglich zu Stande gebracht werde» konnte.
3. Das Maiiuscript enthält Correcturen an achttausend Stelle», eine un¬
ermeßlich mühevolle Arbeit, für welche Simonides keine andere Art von An
klärung ein die Hand gibt, als daß sein Oheim Benedict, früher Abt des
Klosters Se. Pantelimon auf dem Berge Athos, es an einigen (Simonides
sagt —- vgl. das Obige — zweimal: „an vielen") Stellen verbes¬
sert habe.
4. Das Manuscript soll dem Se. Katharinenkloster vor — aber anscheinend
nicht lange vor — dem Jahr 1846 übersandt worden sein. 1832 besuchte
Simonides selbst das Kloster und sah dort die Handschrift. Er fragte den
Bibliothekar, wie das Kloster dieselbe erlangt, eine Frage, die jener Beamte
nicht beantworten konnte, obwohl die Zeit zwischen der Absendung des Manu-
scripts und jener Frage weniger als zehn Jahre betragen zu haben scheint.
Simonides gibt zu, damals keinen Anspruch darauf gemacht zu haben, daß er
das Manuscript geschrieben.
5. Im Jahr 1844 scheint Tischendorf im Katharinenkloster einen Theil
der Handschrift gesehen zu haben, welche, wenn dies wahr wäre, damals in
Bruchstücke zerrissen gewesen sein müßte. Simonides gibt an, daß er 1852
das Manuscript im Kloster ganz, aber „sehr verändert" gefunden, „indem es
ein älteres Aussehen hatte, als es haben sollte;" denn es war ursprünglich
auf die Blätter eines Pergamentbuchs geschrieben, welches „außerordentlich rein
und schön gearbeitet war". 1859 will Tischendorf den Nest des Manuscripts
„in einen Lappen eingewickelt" gefunden haben. Hier haben wir nur sich
widersprechende Aussagen und (soweit wir mit bloßen Behauptungen zu thun
haben) bin ich geneigt, dem Einen nicht mehr als dem Andern zu glauben.
6. Das Manuscript ist in Unzialen geschrieben, von denen die besten Pa-
läographen zugeben, daß sie trefflich ausgeführt sind, und welche sie auf ein
Datum nicht jünger als das vierte Jahrhundert zurückführen.
7. Die Tinte — eine sehr wichtige Sache , bei paläographischcn Entschei¬
dungen — scheint von hohem Alter zu sein, und dieser Schein kann, wie man
meint, durch keine der jetzt bekannten chemischen Agentien mitgetheilt werden."
„Nachdem wir die Gründe, aus denen sich auf Unredlichkeit auf Seiten
des Simonides schließen läßt, erörtert haben, betrachten wir, um unsre Unpar¬
teilichkeit zu wahren, die Möglichkeit einer Täuschung (Causidicus braucht
ein unzweideutigeres Wort, welches wir nicht adoptiren) auf Seiten Tischen¬
dorfs. Die Versuchung war ungeheuer. Der Name eines vorher unbekannten
Mannes ohne hervorragendes Talent und Wissen ( ? vgl. Volbeding) mußte
sofort in ganz Europa bekannt werden. Würden wir nicht in einer so hoch
wichtigen Angelegenheit feige handeln, wenn wir uns, von dem Geschrei mehrer
hundert Bibelkriiiker übertäubt, die Tischendorf verschlungen haben, wie einige
von ihnen (Anspielung auf Ewald) früher CKwolson verschlangen, von der Unter¬
suchung dieses möglichen Standes der Sache zurückschrecken ließen?"
Der Kritiker weist zunächst auf die vielen achtungswerthen Reisenden hin,
*
welche das Katharinensloster vor Tischendorf besucht haben, nennt namentlich
Shaw, Pococke und Bartes und fährt dann fort: „Ist es wahrscheinlich, daß
das Tiscbendorfsche Manuscript. wenn es damals im Kloster gewesen Ware, den
sorgfältigen und scharfsichtigen Blicken des Mr. Nantes entgangen sein würde?
— Ja, erwidern die Sachwalter Tischendorfs, sehr leicht hätte es ihnen ent¬
gehen können, insofern es in einen alten Lappen eingewickelt war. — In
einen alten Lappen! Wer hat jemals gehört, daß eine Bibelhandschrift in einem
Mönchskloster in einen alten Lappen eingewickelt war? Ist das nicht ganz so
unwahrscheinlich als irgend ein Theil des Geschichtchens von Simonides? Es
erinnert uns an nichts so lebhaft als an Dousterswivels Schatz, der sorgfältig
in eine alte Schnupftabaksdose versteckt war. Hätte es im Kloster ein Paar
alte Lederhosen gegeben, kein Zweifel, daß Tischendorf sie sorgfältig nach Hand
schriften untersucht hätte.
Ich meinestheils glaube weder an die Erzählung von dem „Lappen", noch
verwerfe ich sie. Sie ist wunderbar verdächtig, und die Versuchung zu einer
Täuschung war über die Maßen groß. Aber sie ist wenigstens möglich, und so
begnüge ich mich, sie in die Wagschale gegenüber dem verdächtigen Theil der
Geschichte des Simonides zu werfen.
Betrachten wir jetzt die Einwendungen, welche sich gegen die Erzählung
den symiotiscben Doctors darbieten. Seine Landsleute sollen die kühnsten
Taucher der Welt sein. Sehen wir zu, ob er bei seinem Untertauchen in den
Ocean der Literatur einen symiotiscben Schwamm oder die Perle der Wahrheit
aufgelesen hat. Die Einwürfe sind ernster Natur, ich gebe es zu; indeß könnten
sie doch nicht gerade entscheidend sein.
1. Was das lange Schweigen des Simonides betrifft gegenüber seinem
Anspruch, das angeblich alte Manuscript geschrieben zu haben, so müssen wir
einige billige Rücksicht auf die hellenische und klösterliche Erziehung des Mannes
und seine eigenthümlichen Idiosynkrasien nehmen. Er ist jedenfalls nicht der
Erste, welcher unter ähnlichen Verhältnissen ähnlich gehandelt hat, und nach dem,
was mit seinem „Uranios" passirt war, konnte er eine Art boshafter Befrie¬
digung empfinde», Deutschland sich blamiren zu sehen, die ihn veranlassen
konnte, die Leute eine beträchtliche Strecke gehen zu lassen, bevor er gegen Den
einschritt, der ihn damals ruinirt hatte.
2, Daß ein Buch wie der Codex Sinaiticus in zwanzig Monaten abgeschrie¬
ben wurde, ist allerdings ein außerordentliches Factum. Aber bis der Beweis
geführt ist, daß es unbedingt unmöglich war. wird dies keine genügende Ent¬
schuldigung sein, seine Erzählung zu verwerfen. Ein moderner Novellist ver¬
sichert uns, daß er in vierundzwanzig Stunden jene hundert Novellenseiten
erfand und schrieb, auf welchen sein ganzer literarischer Ruhm beruht, und
denen er in den folgenden dreißigjährigen Arbeiten nie etwas Gleiches an die
Seite gestellt hat. Mag Jemand, mag der rascheste Schreiber sich mit der Auf¬
gabe versuche», hundert Seiten Novellen in diesem Zeitraum nur zu copiren,
und er wird dann — möglicher Weise entscheiden, daß die Leistung des Verfassers
von „Rockwood" ganz so unglaublich ist als die von Simonides.
3. Betrifft die achttausend Correcturen. Ziehe ich, wie ich mich um der
Unparteilichkeit willen zu thun verpflichtet habe, alle Möglichkeiten in Betracht,
so bin ich wohl berechtigt zu fragen: Wer gibt uns die Gewißheit, daß nicht
der bei weitem größere Theil derselben das Werk Tischendorfs selbst ist? Er
konnte ja das Manuscript des Simonides im Jahr 1844 im Kloster gesehen,
sich seine Geeignetheit, für eine Handschrift weit älterer Zeit ausgegeben zu
werden, bemerkt und in späterer Periode Alles hinzugethan haben, um ihr den
Charakter des allerehrwürdigsten Alterthums zu geben."
4. Daß der „Bibliothekar" die Quelle nicht kannte, welcher das Kloster
die Handschrift dankte, läßt sich leicht erklären. Burckhardt berichtet uns. daß
die meisten Mönche von den griechischen Inseln stammen, daß sie in der Regel
nicht länger als vier oder fünf Jahre im Kloster verweilen, daß nur wenige
von ihnen arabisch verstehen, daß wenige auch nur das moderne Griechisch flie¬
ßend lesen, außer in ihren Gebetbüchern, und daß er nur einen fand, welcher
einen Begriff vom Altgriechischen hatte. Er bemerkt, daß sie eine gute Biblio¬
thek hatten, daß dieselbe aber stets verschlossen war, womit er natürlich meinte,
daß die Mönche sich nie mit ihr beschäftigten. Können wir uns unter solchen
Umständen wundern, wenn der „Bibliothekar" des Jahres 1852 nichts von der
Ankunft des in Rede stehenden Manuscripts gewußt haben soll? Dasselbe
konnte ja mehre Jahre vor seiner eignen Ankunft gleichgültig in die „Biblio¬
thek" geworfen worden sein, und sicherlich würden die guten Mönche ihm dann
nie einen zweiten Blick zugewendet haben. Können wir uns wundern, wenn
Simonides, ihre Gleichgültigkeit bemerkend, der Meinung gewesen wäre, daß
irgend ein Anspruch auf Interesse an dem Manuscript von seiner Seite ebenso
gut hätte an die Wände als an die Mönche gerichtet werden können?
5. Was den Zustand der Handschrift in den Jahren 1844, 1852 und
1859 anlangt, so ist das lediglich ein Fall sich widersprechender Berichte, und
in der Vibelfrage darf Niemandes Aussage einen Gegner so stutzig machen, daß
weitere Untersuchung ein Ende hat.
6. Rücksichtlich der Kalligraphie und der Anordnung des Manuscripts erinnere
man sich, daß Simonides (wie mir scheint, ein Mann von unvergleichlich grö¬
ßerem Talent und Wissen, als Tischendorf je entwickelt hat) einmal ein Wert
über ägyptische Geschichte angefertigt hatte, welches sich für eine Schrift des
Uranios. des Historikers der Navathäer ausgab, und welches von den Mit¬
gliedern der Berliner Akademie für ächt erklärt wurde. Professor Dindorf, des¬
sen Gelehrsamkeit im Griechischen und griechischer Palävgraphie stark hervor-
zuHeben lächerlich sein würde, und Dr. Lepsius. dessen Bekanntschaft mit ägyp¬
tischen Alterthümern heutzutage sicherlich nicht unterschätzt wird, waren ursprünglich
unter denen, welche am eifrigsten an die Handschrift des Uranios glaubten. Ist
es darum so gewiß, daß die, welche zugestehen, in der Sache des Uranios hin¬
ters Licht geführt worden zu sein, nichl gleichermaßen in Betreff des Codex
Sinaiticus getäuscht worden sein könnten? Und ist es nicht von Seiten eines
Mannes wie Tischendorf (wir mildern wieder den Ausdruck) sehr übel an¬
gebracht, ein vornehmes Gesicht zu machen, wen» englische Kritiker, bevor sie
das Ansehen des angezweifelten Textes anerkennen, den Wunsch hegen, alle Be¬
lehrung zu besitzen, welche über die Sache gesammelt werden kann?
7. Hinsichtlich der Tinte. Dieser scheinbar geringfügige Punkt möchte in
Wahrheit mehr Gewicht haben als irgend einer der übrigen Einwürfe. Es ist
klar, daß Simonides nicht Anspruch darauf macht, solche Tinte gebraucht zu
loben, welche seinem Manuscript den Charakter des Alterthümlichen verliehen
haben würde. Im Gegentheil, es sollte eine schöne und reiche Abschrift wer¬
den, geeignet zur Ueberreichung, als moderne Copie, an den Kaiser von
Rußland. Ueber diesen Punkt erlaube ich mir keine Meinung zu äußern, ob-
schon es mir nicht leicht fällt, mich zu überreden, daß solch einem Manuscript,
wie Simonides es beschreibt, von einem Manne, der Paläographie zu seinem
Studium gemacht, nicht nachträglich sowohl hinsichtlich der Tinte als des
Pergaments der Anschein sehr hohen Alterthums hätte gegeben werden können.
Ich biete diese Bemerkungen im Geiste vollkommenster Unparteilichkeit so¬
wohl in Bezug auf den symiotischen als auf den deutschen Doctor dar. Ich
selbst würde auf die Autorität des Simonides hin gar keine Handschrift annehmen,
und ich bin geneigt, auf die Autorität Tischendvrfs hin keine ohne die aller-
genauestc Untersuchung anzunehmen. Was die deutschen gelehrten Zöpfe (pun-
äits) anlangt, so sind sie einmal betrogen worden und könnten wieder betrogen
sein." —
So weit der Causidicus des „Parthenon" Nun kurz unsre Meinung.
1, Die Engländer sind in dieser Streitfrage in zwiefacher Hinsicht nicht
ganz unparteiisch. Einmal möchten sie nicht gern, daß ihrem Codex Alexandri-
nus, der frommer Sage zufolge von der heiligen Theela, aber sicher im vier¬
ten oder fünften Jahrhundert geschrieben ist. die Palme des Alters streitig
gemacht würde. Sodann könnte das Fehlen gewisser dogmatisch wichtiger
Stellen des Neuen Testaments, durch die sich der Tischendorssche Codex auszeich'
nen soll, hochkirchlichen Theologen sehr unbequem erscheinen.
2. Causidicus denkt ein wenig zu schnell. Er ist, wie es scheint, kein
Fachmann. Er setzt im Eifer vielleicht zu starke Möglichkeiten. Seine Beweis¬
führung mit den frühern gelehrten Besuchern des Katharinenklosters, welche die
Handschrift nicht gefunden , ist schwach. Punkt 1 des folgenden Plaidvyers da-
ge^en unterschreiben wir. Ebenso leuchtet Punkt 2 ein, und ließen sich dazu
noch viel naher liegende Beispiele als der Autor von „Rockwood" herbeischaffen.
Die betreffende Handschrift würde, wie das „Clerical Journal" meint, in ihrer
Vollständigkeit zwischen 1,100 und 1,200 Fvlioseitcn, jede zu 4 Spalten ge¬
habt haben, und diese in circa 600 Tagen vollzuschreiben, erfordert Finger¬
fertigkeit und Ausdauer, ist aber keineswegs unmöglich, so wenig unmöglich
wie das Gedächtniß und die Beharrlichkeit Scaligers. der in 21 Tagen den
ganzen Homer auswendig lernte. Die Hypothese in Punkt 3 können wir uns
selbst in dieser Form entfernter Möglichkeit nicht gut aneignen, und statt der
Denkbarkeit einer Täuschung substituiren wir lieber die Denkbarkeit des Getäuscht¬
seins. Der vierte Punkt des englischen Kritikers ist in der Ordnung, desgleichen
der fünfte, und auch dem sechsten und für die innere Evidenz des Codex wichtigsten
läßt sich leider nur insofern widersprechen, als wir die hier niedergelegte sehr gün¬
stige Ansicht von den Talenten und Kenntnissen des „Doctors" Simonides blos
in Betreff der Talente unbedenklich finden.
3. Causidicus hat ferner auffallender Weise eine Erinnerung außer Acht
gelassen, die sehr für Simonides und gegen Tischendorf sprechen könnte, näm¬
lich die seiner Zeit von dem Letzteren mit etwas mehr Zuversicht als Vorsicht aus-
gesprvcbne Verdammung des Leipziger Hermas-Manuscripts. das er für eine
von Simonides fabrizirte Rückübersetzung aus dem Lateinischen erklärte. Da
der „sinaitische Fund" einen jenem nahe verwandten Text bietet, so konnte der
Uneingeweihte darin bis vor Kurzem leicht eine Bestätigung der Simonideischcn
Herkunft auch des Codex vom Sinai erblicken, und noch jetzt bleibt wenig¬
stens ein Achselzucken hinsichtlich der philologischen Kenntnisse unseres Tischen-
dorf und der Gedanke gestattet: wer beim Leipziger Manuscript so gröblich irrte,
könnte ja auch, beim sinaitischen sich getäuscht haben.
4. Die Behauptungen des Simonides über die Genesis der Handschrift
erscheinen in einem mehr als zweifelhaften Lichte. Doch könnten seine Zeugen
immerhin gehört werden. Das Kaffeehaus des Popensohnes Hadschi Prodro-
mos und der Berg Athos liegen zwar fern von Leipzig, aber doch nicht außer
der Welt und außer dem Bereich der russischen Gönner Tischendorfs, und die
Aussagen griechischer Kafebschis und Kaluger mögen sehr verdächtig, aber sie
dürften hier doch einigermaßen beachtenswerth sein.
Unser Endergebniß. Ewald irrte schwer mit Chwolsons Fund, Lepsius und
die ganze berliner Akademie mit Uranios-Simonides, Tischendorf mit dem Pastor
Hennae der Leipziger Universitätsbibliothek. Es besteht, allerdings von wenig acht¬
barer Seite angeregt, aber von respektabler Seite adoptirt, der Verdanke, daß
die sinaitische Handschrift möglicher Weise nicht so alt. als sie sein sollte, sondern
— was nicht ohne Beispiel wäre — nur mit getreuer Copirung eines ältern
Schriftcharakters geschrieben ist. Diesem Verdacht gegenüber vornehm thun, ist
nicht zu rathen. Vielmehr wäre zu dessen Beseitigung mindestens eine chemische
und mikroskopische Untersuchung von competentcr und nicht interessirter
Seite allein von Nutzen.
Und nun zum Schluß. Sollen wir ihn noch unsern Tischendorf nennen?
Wir denken, vorläufig nicht. Man büßt ungern einen großen Mann ein, aber
wir sind verstimmt.
Merklich erkältet senkt unser Wohlwollen die Flügel. Mühsam fortbeschworne
Schatten kehren wieder, und von Neuem haben wir zu wehren, daß wir nicht
den zu Anfang dieses Artikels geschilderten Versuchungen unterliegen. Also
nicht mehr unser Tischendorf, unser Erasmus und Vmenes, und nicht eher
wieder, als bis die Zweifel des Englishmans und die unsern widerlegt sind, wo¬
von wir seiner Zeit — nicht so sehr wegen des „sinaitischen Fundes", der uns
kühler läßt wie die Engländer, als im Interesse der Ehre deutscher
Wissenschaft — bereitwillig Notiz nehmen werden.
Aber wvhlzubemerken: Causidicus hat seine Mängel, ist aber kein Simo¬
nides. Also nicht wieder das hohe Roß reite», nicht kurz abtrumpfen. Nicht
mit Worten, die mehr Selbstgefühl als Selbsterkenntniß athmen, sich um die
Sache herumschlängeln, wie bei der Rücknahme des frühern Urtheils über das
Hermas-Manuscript. Sondern glatte klare, ausführliche Gegenbeweise bringen;
denn, wie die Grenzboten damals bei Gelegenheit der Uranivs-Affaire nicht
ohne einige Wehmuth sagten:
Es gibt viel Betrug in der Welt, und auch die Besten können
i rre n!
Der Kaiser Napoleon hat, wie in den beiden verflossenen Jahren, so auch
diesmal, der Legislative eine Auseinandersetzung über die Lage des Landes,
begleitet von diplomatischen Documenten, vorlegen lassen. Der Werth dieser
Mittheilungen ist allerdings relativ; denn mißliebige Momente sind darin mit
Stillschweigen übergangen oder mit vfsiciöser Schönfärberei behandelt. Vor
Allem muß es jedem Leser der veröffentlichten Depeschen, welche dem Publicum
sämmtlich durch die Zeitungen zugänglich gemacht sind, auffallen, daß auf
dieselben schwerlich der Grundsatz der Jury passen wird: die Wahrheit, die ganze
Wahrheit, nichts als die Wahrheit. Schon unter Guizot gestand einer seiner
Juliner, es koste unglaubliche Mühe, die Vorlagen für die Kammern zurecht
zu machen, d. h. Compromittirendes wegzulassen, ohne daß die Lücke gefühlt
werde, aber wenn man schon damals in diesen Mittheilungen nicht immer den
eigentlichen Schlüssel einer streitigen internationalen Frage zu finden hoffen durfte,
so noch viel weniger unter der kaiserlichen Regierung. Napoleon kennt aller¬
dings die Wichtigkeit der öffentlichen Meinung und versäumt nichts, um sie zu
gewinnen, aber er ist darum keineswegs gesonnen, sich ihrem Richterstuhl zu
unterwerfen. Er hat deshalb eine doppelte Buchhaltung eingerichtet, in den
veröffentlichten Depeschen wird der Kampf für die höchsten Interessen des staat¬
lichen Lebens geführt, in den geheimen Depeschen liegen die wahren, nur zu
oft persönlichen Springfedern verborgen. Konsequent wie er ist, ging er noch
einen Schritt weiter und führte auch doppelte Buchhalter ein, neben den be¬
glaubigten Gesandten operiren geheime Agenten, die von jenen unabhängig
sind, und schon oft sind französische Diplomaten zu ihrem Erstaunen in ihren
Angaben direct vom Kaiser nach jenen verborgnen Quellen berichtigt. Dürfen
wir demzufolge nicht erwarten, in den veröffentlichten Documenten bis auf
den Grund der Fragen zü sehen, so geben sie uns doch immerhin merkwürdige
Fingerzeige. Voran steht die Sphinx der römischen Frage. Napoleon hat
hier selbst gesprochen, durch sein bereits im Herbst bekannt gewordnes Schrei¬
ben an Thouvenel. Man findet in demselben nichts, was eine Lösung an¬
deutet, sondern nur den stetig wiederholten Wunsch einer Ausgleichung zwischen
dem Widerstande der einen und der Begehrlichkeit der andern Partei. Er erklärt
sehr richtig die Motive beider, tadelt, daß jede die ihrigen absolut festhält,
anstatt im wohlverstandnen Interesse den Forderungen der Billigkeit und Ge¬
rechtigkeit Gehör zu geben, und meint, man müsse nicht daran verzweifeln, daß
die Wahrheit, dies göttliche Licht, sich Bahn breche und die Gegner zur Ver¬
söhnung führe. Sollte Napoleon, der gewiß nicht an dogmatischer Beschränkt¬
heit leidet, wirklich glauben, daß eine Vereinbarung zwischen dem päpstlichen
Aori xossumus und dem Cavourschen Programm: „Rom die Hauptstadt Ita¬
liens" möglich sei? Sollte er an die freie (römische) Kirche im freien Staate
glauben? Dann würde er sich für mächtig genug halten, um mit Bassanio im
Kaufmann von Venedig zu reden, Schnee und Feuer zu neuem Leben verbinden
zu können. Aber schwerlich wiegt er sich in derartigen Täuschungen. Wer die
Unterhaltungen des Cardinal Antonelli mit dem französischen Botschafter »och
im Zweifel über die Möglichkeit einer derartigen Sisyphusarbeit lassen können,
der wird schwerlich bekehrt werden können. Wir meinen, der Schlüssel für die
neueste, dem Papste günstige Wendung in der kaiserlichen Politik ist nur in
ganz bestimmt französischen Umständen zu suchen. Er liegt vor Allem in den
bevorstehenden Wahlen zum gesetzgebenden Körper. Der Kaiser, der durch seine
hundertarmige Bureaukratie aufmerksam den Puls der öffentlichen Meinung
Frankreichs fühlt, glaubt, daß der Sturz des Papstes in der katholischen Be¬
völkerung eine so gewaltsame Aufregung hervorrufen würde, daß die ergebne
Majorität, deren er zu seinem Scheinconstitutionalismus bedarf, gefährdet sein
könnte. Wenn deshalb erklärt wird, es habe dem Kaiser zweckmäßig geschienen,
das Versöhnungswerk in die Hände von Personen zu legen, welche den bis¬
herigen Erörterungen fern gestanden, so bezeugt dies schwerlich die Zuversicht
Napoleons, daß den Herren Drouin de Lhuys und Latour d'Auvergne ge¬
linge, was den Vorgängern mißlungen. Wenn ihm die Zeit in Rom zu han¬
deln gekommen scheint, so werden sie ebenso andern Personen Platz machen,
wie Thouvenel und Lavalette es jetzt thun mußten. Hat nicht vielleicht im
Hinblick aus eine solche Wendung Lord Russell dem Papste Malta als Asyl
angeboten? Man könnte fragen, warum hat denn der Kaiser nicht den gesetz¬
gebenden Körper vor dem Ablauf seines Mandates aufgelöst? Wir meinen, ein¬
mal weil er die Katholiken erst speciell durch eine dem Papste günstige Politik
beruhigen will, und sodann, weil er die Hände nicht frei hat, in Italien zu
handeln, so lange die mexikanische Expedition nicht beendigt; inzwischen gibt
Persigny für die Wahlen den Präfecten den Befehl, wenn ein Bonapartist
nicht durchzubringen, stets einen demokratischen Candidaten den Klerikalen vor¬
zuziehen. Die ultramontanen Blätter mögen jetzt mit großer Feierlichkeit die
Reformen verkünden, welche der Papst verspricht, Napoleon wird dies nicht
täuschen, er ist sich sicher darüber klar, daß es nur zwei Lösungen für die rö¬
mische Frage gibt, entweder der Papst bleibt in Rom und sein weltlicher
Schutzherr führt die Reformen, die er in dem Briefe an Edgar Ney verlangte,
selbst aus, oder die weltliche Macht fällt, und Rom wird die Hauptstadt Ita¬
liens für neue Concessionen an Frankreich. Für beide Fälle werden die Ita¬
liener durch die Fortdauer ihrer gegenwärtigen Schwierigkeiten mürber gemacht.
Die Eorrespondenz mit dem Turiner Cabinet schließt mit einigen Depeschen,
welche beiderseits den iztatus quo vorläufig annehmen; die Noten Thouvenels
von diesem Sommer dagegen zeigen, wie sehr der Sache Italiens das kopflose
Unternehmen Garibaldis und die ebenso unbesonnene als schwache Politik Ra-
tazzis geschadet hat. Dieser intriguante Mann, der ohne die großen Eigenschaften
Cavours den Ehrgeiz hatte, dessen Werk zu Ende zu führen, stürzte den tüch¬
tigen, vielleicht etwas zu schroffen Ricasoli durch unwürdige Kunstgriffe und
französische Begünstigung. Er glaubte deshalb frei handeln zu können und
verabredete mit Garibaldi eine Schilderhebung in Griechenland, durch welche
die orientalische Frage Oestreich in solche Verlegenheiten bringen sollte, daß
Italien daran könnte, Venedig zu nehmen. Aber Garibaldi ließ sich in Sici-
lien, wo er »och im vollsten Einvernehmen mit den königlichen Prinzen schien,
von Mazziniften bereden, baß Ratazzi ihn täusche, er erhob den Ruf nach Rom,
der mit einer Katastrophe endete, die Napoleon kategorisch verlangte, und deren
Organ Ratazzi sein mußte. Der Fall seines Ministeriums war der verdiente
Lohn, und wenn man auf seine Thätigkeit zurückblickt, so darf man sagen, daß
'der einzige Gewinn dieses Jahres, die Anerkennung Italiens von Rußland
und Preußen, Sulche sein Verdienst, sondern lediglich der französischen Für¬
sprache zuzuschreiben ist. Diese Fürsprache aber ist eben auch ein Moment der
doppelhäutigen kaiserlichen Politik, deren Widersprüche Provost-Paradol in
dem beißenden Dialog des Courier du Dimanche zusammengefaßt, welcher den
Zorn des Imperialismus so sehr erregte.
Bleibt Italien eine Quelle vielfacher Verwickelungen und Verlegenheiten
für die kaiserliche Politik, so bringt der mexicanische Handel noch weit dringen¬
dere Gefahren. Ein scharfer Beobachter Napoleons hat einmal gesagt, er kenne
den Unterschied von Träumen und Denken nicht, er führe seine Projecte zwar
mit großer Klugheit aus, aber die Projecte selbst seien die eines Enthusiasten.
Es ist sehr naheliegend, dies Wort auf die mexicanische Unternehmung anzu¬
wenden. Er ließ sich durch Almonte und dessen Freund, den französischen Ge¬
sandten in Mexico, Dubois de Saligny über die Schwierigkeiten einer Expedi¬
tion täuschen, in der er die Verwirklichung seiner frühern Plane hoffte, nämlich
die Begründung eines französischen Kolonialreiches in Amerika, die Durchstechung
des Isthmus von Panama und die erneute Herrschaft der lateinischen Race unter
Frankreichs Fahne in jener Weltgegend. Diese Ideen wurden von Michel
Chevalier im Anfang vorigen Jahres in zwei Artikeln, der Revue des deux
mondes ausgeführt; Mexico, heißt es dort, sei ein Land von unerschöpfliche»
Hülfsquellen, das durch seine Minen- und Bodenerzeugnisse alle Auslagen
des Unternehmens rasch und reichlich erstatte» werde. Diese Ideen scheinen aber
doch einigcrmaßenksanguinisch. gewiß ist das Land sehr fruchtbar, und die Minen
können einen unvergleichlich höher» Ertrag bei rationellen Bau geben. Aber vor¬
läufig fehlt es an allen Bedingungen solcher Resultate. Zunächst ist das mili¬
tärische Ziel, die Occupation des Landes, »och keineswegs erreicht. Nehmen
wir auch an, daß General Forcy bald in Mexico sein wird, so beginnen damit
erst die eigentlichen Schwierigkeiten. Mit der Hauptstadt kann er sich nicht
begnügen, schon weil er sich daselbst nicht hinreichend verproviantiren kann, er
muß also die größern Städte besetzen, und diese liegen so entfernt von einander,
daß es einer doppelt so großen Armee bedürfen wird, um zum Ziele zu ge¬
langen. Und auch wenn dies mit großen Opfern an Blut und Geld durch¬
gesetzt wird, wenn durch ein Gaukelspiel des allgemeinen Stimmrechts Napoleon
zum Protector des Landes erklärt sein sollte, so ist an einen Gewinn aus
dem Unternehmen nicht zu denken. Um den P, oductenreichthum des Bodens
wirklich productiv zu machen, müßte zuerst eine vollkommen neue Colomsation
Millionen in die Bergwerke und Felder stecken, welche durch Raubbau Verwüstet
fast nichts hervorbringen, und we> sind die Elemente einer solchen Kolonisation?
Die Mer/,caner, wahrlich schlechte Repräsentanten der lateinischen Race, sind
Mischlinge von Spaniern und Indianern, welche, durch Anarchie und Pfaffenthum
auf den niedrigsten Bildungsgrad herabgedrückt, aus der französischen Occupa-
tion einen Vorwand zu forlwäkrendem Guerillakrieg und Räubereien machen
werden. Für Europäer eignet sich das Klima nicht und am wenigsten für die
Franzosen, welche nickt einmal mit der Kolonisation Algiers vorwärts kommen.
Aus allen diesen Umständen erklärt es sich gewiß hinreichend, daß die Engländer
mit Vergnügen sehen, wie der Kaiser sich immer tiefer in eine Angelegenheit
verwickelt, die ihm keinen Gewinn bringt und die Geld- wie Militärkräste Frank¬
reichs um so mehr in Anspruch nehmen muß, als die mexicanische Frage die
amerikanische einst unvermeidlich berühren wird. Mag auch Herr Drouin de
Lhuys sich vorläufig bei dem Fehlschlagen der Vermittelung beruhigen, die Con-
nexität beider Angelegenheiten muß früher oder später zu einer Intervention zu
Gunsten des Südens führen. Der Brief des Kaisers an den General Forer)
gibt auch dafür mannigfache Anhaltepunkte. Diesen bedrohlichen Aussichten
gegenüber haben die im Gelbbuch mitgetheilten Documente über die Mißver¬
ständnisse mit England und Spanien nur ein relrospectives Interesse, zumal
mit keinem der beiden Länder daraus ernstere Verwickelungen hervorgegangen
sind. Aus den letzten Verbalnoten, die mit Spanien gewechselt sind, geht
übrigens hervor, daß Napoleon die Hülfe seines früher» Bundesgenossen jetzt
nicht will, indem er am 1. December erklärt, er werde England und Spanien
zur Theilnahme an den Verhandlungen mit Mexico einladen — „clös quo la
rilra-so clos oxeratioirs miliwiros sorg. termin6o." — Während Frankreich also
im Westen kämpft „xour ronSrs ä la rsov lative, So I'fuere est6 6e 1'0c6so
8a toieo et son pi-ektiZo" ist England im Osten nicht müßig gewesen und hat
sowohl in den serbisch-montenegrinischen Angelegenheiten, wie in der griechischen
Frage große Vortheile errungen.
Am ausführlichsten behandelt das Gelbbuch die serbischen Angelegenheiten,
weil in der That die geschickte Politik des französischen Botschafters und des
Generalconsuls in Belgrad wesentlich zum Abschluß der Convention vom
8. September beigetragen haben, welche dem Fürstenthume immerhin wichtige
neue Rechte sichert. Weniger Grund dagegen hat die französische Regie¬
rung, sich eingehend über Griechenland auszulassen, und in der That fin¬
den wir in dem Buche auch nur die bereits bekannte Circulardepesche vom
4. December v. I.. welche die Ansichten des Tuileriencabinets zusammenfaßt
und nach der Erneuerung des Londoner Protokolls von 1830 ein mehr pla¬
tonisches Interesse für Griechenland zeigt. In der That hat Palmerston durch
seinen großen Schachzug rin den ionischen Inseln die beiden andern Schutz¬
mächte vollkommen aus dein Felde geschlagen und wer auch immer den Schwein-
leuten Thron Griechenlands besteigen wird, er wird sich nur durch Englands
Hülfe darauf Kalten können. Die britische Regierung sagt sich wahrscheinlich
selbst, daß alle ihre Unterstützung das morsche Gebäude der ottomanischen Macht
doch auf die Länge nicht wird halten können, sie will es abstutzen und einen
neuen Unterbau beginnen, der dann Anhalt bietet, wenn das obere Ge¬
wölbe stürzt.
In Summa, meinen wir, wird der Eindruck des Gelbbucbs auf den un¬
befangenen Leser der sein, daß Frankreich eine große Macht bleibt, die ihr An¬
sehen durch gewaltige Mittel nach Außen aufrecht zu erhalten im Stande ist,
daß es aber doch schwerlich Ursache hat die Bilanz des letzten Jahres als eine
England gibt die ionischen Inseln auf. Ausgemacht scheint, daß die dri
lischen Staatsmänner den Besitz derselben nicht mehr für unbedingte Nothwen¬
digkeit halten, falls im Königreich Griechenland eine ihnen passende Regierung
zu Stande kommt. Nur die Einwilligung der übrigen Mächte und das Ja
der Jonier selbst fehlen noch außer jener angenehmen Regierung, und die An¬
gelegenheit wäre geordnet. England, so scheint es, fühlt sich hier sicherer
wie je.
Aber sehen wir nach einem andern Punkte der Karte. Während die eng¬
lische Politik im Begriff steht, eine ihrer drei starke» Stellungen im Mittelmeer
als entbehrlich zu verlassen und gegen blos moralischen Gewinn zu vertauschen,
gehen auf dem weiteren Wege nach Indien, in Aegypten und am Rothen Meer
Dinge vor, die auf bedenkliche Absichten Frankreichs in Betreff dieser Gebiete
gedeutet werden müssen. Von Jahr zu Jahr häufiger erscheinen an den Küsten
des Rothen Meeres französische Kriegsdampfer. Von Zeit zu Zeit verlautet von
Versuchen Frankreichs, dort Inseln oder Buchten zuStativnsplätzenfürsolcheSchiffe
zu erwerben. Agenten aus Paris durchstreifen die Ufcrlandschaften von Habesch
und setzen sich mit dortigen Herrschern in Vernehmen. Vielfach wird von Ver¬
trägen berichtet, die durch derartige Sendlinge im Interesse Frankreichs und
keineswegs blos oder überhaupt zu Handelszwecken abgeschlossen worden. sicher
endlich ist, daß mit dem Kanal, der nach dem Plane des Herrn v. Lesseps
den Isthmus von Suez durchschneiden und das Nöthe mit dem Mittelmeer
verbinden sollte, politische Zwecke verfolgt werden.
Daß durch glückliche Vollendung dieses Unternehmens der Verkehr zwischen
Europa und Ostasien, Australien und dem jetzt gleichfalls in die Geschichte ein¬
tretenden Howareich auf Madagaskar (welches letztere ebenfalls der Politik
Frankreichs dienstbar werden zu wollen scheint) beträchtlich gefördert werden
würde, wenn auch nicht in dem Maße, wie die Pariser Posaune des Herrn
v. Lesseps den Börsen Europas verkündigen zu dürfen glaubte, leidet keinen
Zweifel. Von Anfang an aber wurde bezweifelt, erstens, ob der Kanal sich
ausführen lasse, zweitens, ob er die Kosten seiner Vollendung und Erhaltung
verzinsen werde, drittens, ob die Absicht des Unternehmers so sehr, wie dieser
behauptete, auf den Gewinn der Actionäre und nicht vielmehr auf Verfolgung
politischer Zwecke gerichtet sei. Diese Zweifel sind jetzt so gut wie gelöst, und
die wichtigsten nicht zu Gunsten des Herrn v. Lesseps oder richtiger, nicht zu
Gunsten der Ehrlichkeit seiner Versicherungen. Der Kanal würde sich möglicher
Weise ausführen lassen. Er wird aber auf keinen Fall die zu seiner Vollendung
und Erhaltung erforderlichen Summen verzinsen. Er ist endlich der bloße Deck¬
mantel für eine französische Colonie in Aegypten, und er war dies sehr wahr¬
scheinlich von Anfang an").
Das Alterthum kannte keine unmittelbare Verbindung der beiden Meere.
Die Kanäle, mit denen es dieselben zu verschiedenen Malen verband, gingen
stets von Suez, statt quer über die Landenge, nur bis zu den Bitterseen in
der Mitte derselben und dann westlich, wo sie in den Nil mündeten. Die
neue Zeit hat größere Mittel zur Überwältigung der territorialen Schwierig¬
keiten, und so ist kaum zweifelhaft, daß sie hier Größeres als das Alterthum
wagen und hoffen durfte. Die Stürme, welche den Kanal mit ihrem Flugsand
zu verwehen drohen, erregen Bedenken. Die geringe Wassertiefe bei Port
Said, wo der Kanal ins Mittelmeer münden soll, erfordert die Anlegung
ungeheurer Kais und die Ausbaggerung bedeutender Strecken, welche die an
dieser Küste hingehende Strömung des Nil in Kurzem mit ihrem Triebsand
umgethan machen dürfte. Aehnliche Arbeiten, besonders kostspielige Wasserbauten,
verlangt der sehr seichte Hafen von Suez, wenn, wie projectirt, der Kanal
Schiffen jeder Größe, bis zu 2000 Tonnen Gehalt, zugänglich sein soll. Andere
Bedenken wurden in einem früheren Aufsatz erwähnt. Sie alle aber würden,
wenn man den Kanal wirklich wollte, sich nach menschlicher Berechnung über¬
winden lassen, wenn auch nicht in der kurzen Zeit von sechs Jahren, die
v. Lcsseps dazu für hinreichend erklärte, und wenn auch nicht mit den 162 Mil¬
lionen Francs, die jener dafür in Anspruch nahm.
Scheint somit dem Werke eine unüberwindliche technische Schwierigkeit
nicht entgegenzustehen. so haben sich viel gegründetere Bedenken in Betreff der
Rentabilität desselben erhoben, Bedenken so begründet, daß bereits vielen
Actionären die Augen darüber ausgegangen sind. Niemand in Aegypten glaubt,
daß der Kanal in sechs Jahren oder selbst in doppelt so langer Zeit fertig
werden, Niemand, daß er ohne ganz unverhältnißmäßige Kosten fahrbar er¬
halten werden und daß er die auf ihn verwandten Summen auch nur mit
einem Viertelprocent verzinsen könnte; geschweige denn, daß er, wie Herr
v. Lesseps hoffen wollte und mit einer Keckheit ohne Gleichen der Welt verkün¬
dete, jährlich 40 Millionen Francs einbringen würde. Kein Zweifel, daß der
neue bedeutend nähere Wasserweg nach Ostasien stark benutzt werden und schöne
Summen in die Zellkasse der Gesellschaft liefern würde, die ihn geschaffen. Aber
auch kein Zweifel, daß dieser Transit nicht in dem riesigen Maßstab zunehmen
würde, den die Phantasie oder die Vogclstellerkunst der französischen Unternehmer
den bedauernswerthen Actionären gezeigt hat.
Hat Herr v. Lesseps dies nicht von Anfang an gewußt, so scheint er sich
jetzt darüber klar zu sein. Sollte der Kanal wirklich und im Ernst ein Hebel
für den Welthandel und ein rentables Unternehmen für die Actionäre werden,
und war der Gedanke, seine Gründung zugleich zur Anlegung einer französischen
Colonie zu benutzen, die durch ihre Lage an der großen Handelsstraße von
hoher Bedeutung für das Mutterland und dessen Stellung zu dem Besitzer
Indiens gewesen wäre, nur ein Nebengedanke, so ist dieser Nebengedanke jetzt
allem Anschein nach Hauptsache geworden.
Mit andern Worten: der Gedanke einer Durchstechung der Landenge von
Suez scheint so gut wie aufgegeben, und man wird sich wohl darauf beschränke»,
eine» bloßen Bewässerungskanal zu graben, der von Zakazik am östlichen
Arm des Nil (Damiette-Arm) nach dem in der Mitte zwischen Suez und Pott
Said gelegenen Timsach-See und von dort in weiteren Verzweigungen nach
Suez und Port Said laufen soll. Darauf wenigstens deutet Alles hin, was
bis jetzt von der Gesellschaft erworben und geschaffen worden ist. Am Haupt-
tanal, welcher der Schifffahrt zu Gute kommen sollte, ist trotz verschiedener ent¬
gegenstehender Zeitungsnachrichten, sehr wenig geschehend. Der Bewässe-
rungskanal dagegen, welcher, dem Vorgeben des Herrn v. Lesseps zufolge,
nur den Arbeitern ein jenem das nöthige süße Wasser in die Wüste bringen
sollte, in Wahrheit aber ein Speisungskanal für die hier projectirte
französische Colonie ist, geht mit raschen Schritten seiner Vollendung
entgegen.
Die Gegend, welche dieser Süßwasserkanal durchschneidet, gehörte einst,
wie man meint, zu dem Lande Gösen und war noch vor nicht vielen Jahrhun¬
derten einer der bevölkertsten und am besten angebauten Striche des untern
Nilthales. Jetzt ist sie großentheils Wüste, da es ihr in den letzten Zeiten
fast ganz an süßem Wasser mangelte. Der Kanal wird ihr letzteres zuführen
und überdies einen trefflichen Wasserweg bilden, welcher neuen Ansiedlern das
Herkommen und die Verwerthung ihrer Producte wesentlich erleichtern wird.
Auch wenn der Durchstich des Isthmus nicht vollendet werden sollte, wird der
Stutzen dieses Seitenkanals mit süßem Wasser in nichts geschmälert sein. Von
diesem Gesichtspunkt ausgehend, hat Herr v. Lesseps nicht nur mit dem Nebcn-
kanal begonnen, sondern hier für seine Actiengesellschaft — hinter der, wie
mit Bestimmtheit anzunehmen, sein Vetter, der Kaiser der Franzosen steht —
auch sehr beträchtlichen Grundbesitz an sich gebracht, in dem er weite Strecken
des Wadi Tumeilat, namentlich die früher dem verstorbenen Jlhami Pascha
gehörige Besitzung Ras El Wadi ankaufte. Die Besiedelung dieser Strecken
wird der Actiengesellschaft mit der Zeit zum Vortheil gereichen und im gewissen
Grade auch der ägyptischen Negierung und Bevölkerung Gewinn bringen. Doch
wird der Schaden, den letztere davon haben, selbst wenn der Hauptkanal
ebenfalls zu Stande käme, diesen Nutzen jedenfalls aufwiegen, wo nicht
überwiegen.
Der Hauptkanal quer über den Isthmus würde, um dem Lande selbst
zu nützen, durch belebte Gegenden und an bevölkerten Plätzen vorüberführen
müssen. Er würde aber so, wie er angelegt werden sollte, durch die dürrste
und einsamste Wüste laufen, und so für den innern Handel Aegyptens keine
oder nur geringe Wichtigkeit haben. Der Süßwasserkanal wird der Wüste
allerdings culturfähige Gründe von großer Ausdehnung abgewinnen, aber an
vielen Stellen Aegyptens findet sich noch besseres, leichter für den Ackerbau
ertragfähiz zu machendes Land. Das Unternehmen des Herrn v. Lesseps hat
eine große Anzahl Europäer in das Land geführt, aber wir werden bald sehen,
tap dies ein sehr zweifelhafter Gewinn ist. Durch die Verproviantirung
der Arbeitercolonnen, die im Wadi Tumcilat beschäftigt sind, werden nam¬
hafte Geldsummen unter das Volt der benachbarten Provinzen gebracht,
aber wir werden finden, daß auch darin kein Vortheil für das Land im All¬
gemeinen liegt.
Die commerzielle Bedeutung Aegyptens besteht heutzutage fast ausschließlich
in seiner Ausfuhr von Landeöerzeugnissen und i» seiner Einfuhr europäischer
Fabrikwaaren. Für den europäisch-ostasiatischen Verkehr ist es nur als Durch-
gangspunkt wichtig, aber der Transithandel ist schon jetzt, wo ihn die Eisen¬
bahn von Alexandrie« nach Suez vermittelt, keineswegs noch so ergiebig für
das Land als früher, wo die Waarcnströmung sich langsam und wiederholt
aufgehalten zwischen den beiden Meeren hin und her bewegte, während sie jetzt
mit Dampfeseile herüber und hinüberrauscht. Damals gewannen alle für den
Verkehr Arbeitenden, namentlich Spediteure, Kameelführer, Schiffer und Gastwiithe
Erhebliches, und die verschiedenen Zölle und Steuern waren für die Regierung
eine sehr ergiebige Einnahmequelle. Alles das würde ganz wegfallen, wenn
der Hauptkanal wirklich fertig würde und erhalten werden könnte. Die Schiff/
würden dann eben durchfahren, ohne ägyptischen Boden zu berühren, das ägyp¬
tische Volk würde höchstens von der Verproviantirung derselben einigen Nutzen,
die ägyptische Regierung nur von den Gebühren, die beim Eintritt der Fahr¬
zeuge in den Kanal zu zahlen wären, eine Einnahme haben. Letztere sind in¬
deß bereits auf 99 Jahre von Vollendung des Kanals an der Actiengesellschaft
vorbehalten, und erst nach Ablauf dieser Frist tritt die Regierung in deren
Genuß. In der Zwischenzeit bekommt sie nur fünfzehn Procent vom Rein¬
ertrage, der, wie oben gezeigt, ein sehr problematischer sein würde. Dafür
aber hat sie laut der Eoncessionsurtundc erstens der Gesellschaft alle herrenlosen
Gründe, welche für die Kanalbauten erforderlich sein konnten, und die Nutz--
nießung aller der Strecken, welche jene bewässert und anbaut, letztere mit zehn¬
jähriger Steuerbefreiung, zu überlassen und außerdem der Gesellschaft die ab¬
gabenfreie Einführung aller nothwendigen Werkzeuge und Maschinen vom
Ausland sowie die unentgeltliche Ausbeutung der ägyptischen Steinbrüche zu
gestatten.
Ferner liefert die Regierung dem Herrn v. Lesseps die achttausend Ar¬
beiter, die'er bei seinen Bauten bedarf. Diese Arbeiter müssen, da sie, schlecht
genährt und über die Gebühr angestrengt, massenweise sterben, oft ergänzt wer¬
den. Aegyptens Nerv aber ist der Ackerbau, und es liegt auf der Hand, daß
ein jährlicher Abgang von 8000 Bauern, von denen sichern Nachrichten zufolge
ein Viertel nickt wiederkehrt, auf die Wohlfahrt des Landes nachtheilig wirken
muß. Veistet die ägyptische Regierung somit hierdurch schon mit Aufopferung
ihres eignen Interesses dem Unternehmen des „französischen Kanals"*) Vor¬
schub, so hat Said Paschas Verblendung dem Herrn v. Lesseps noch weit
wichtigere Zugeständnisse gemacht. Der Vicekönig hat mit 85 Millionen Francs
Actien für mehr als die Hälfte der Summe genommen, welche jener für die
Vollendung des Unternehmens beanspruchte, und hiervon bereits sehr bedeutende
Beträge theils in Baarem. theils auf andere Weise eingezahlt, und so wird
an dem Kanal zwar unter französischer Leitung, aber großentheils mit ägyp¬
tischem Gelde gearbeitet. Die Direction verwendet letzteres ganz nach eignem
Ermessen. Sie ist nur der Generalversammlung der Actionäre, die in Paris
stattzufinden hat, Rechenschaft schuldig. Auch das gerichtliche Dominik der Ge¬
sellschaft, welches alle dieselben betreffenden Rechtsstreitigkeiten zu entscheiden
hat, befindet sich nicht in Aegypten, sondern in Paris. Endlich aber kann
auch die große Masse von Franzosen, welche sich infolge des Unternehmens
im Wadi Tumeilat sowie in Zakazik, Damiette und Port Said angesiedelt
hat, der Regierung Aegyptens keine Freude sein, da diese Fremdlinge laut der
Tractate nicht unter ihrer, sondern unter der Gerichtsbarkeit des französischen
Generalconsulats stehen. Schon jetzt entzieht sich auch ein beträchtlicher Theil der
einheimischen Arbeiter am Kanal auf diesem Wege der Autorität der ägyptischen
Behörden, und in viel höherem Grade wird dies der Fall sein, wenn ein
systematisches Cvlonisativnssystem im Wadi Tumeilat zur Durchführung ge¬
kommen ist.
Und das wird nicht lange auf sich warten lassen. Wie schon angedeutet,
concentrirt sich fast die ganze Thätigkeit der Unternehmer jetzt aus das letztgenannte
Thal, welches sich zwischen Ramses und dem Wirket Timsach (Krokodilsee) hin¬
streckt. Der Kanal zwischen letzterem See und dem Nil ist ziemlich fertig und
damit eine große Strecke Culturland der Bewässerung und BePflanzung zugäng¬
lich gemacht. Beinahe im ganzem Wadi Tumeilat schaltet die Gesellschaft schon
jetzt wie ein unumschränkter Grundherr, auf den neugewonnenen Strecken wird
ihr dasselbe Recht zustehen, und Herr v. Lesseps, die Seele der Gesellschaft, der
Vetter Napoleons des Dritten, wird somit in Aegypten über ein Gebiet ver¬
fügen, welches größer als manches deutsche Herzogthum ist.
Dazu kommt schließlich eine wichtige Frage, welche die Concessionsurkunde
unentschieden gelassen und damit dem Tribunal der Gesellschaft in Paris zur
Entscheidung anheimgestellt hat. Was soll geschehen, wenn Herr v. Lesseps
den Kanal über den Isthmus nicht, wie im Vertrag festgesetzt, binnen sechs
Jahren fertig oder nur theilweise fertig hat? Nach dem Text der Concession
bliebe die Gesellschaft auch in diesem Falle im Genuß der ihr zugesicherten
Privilegien. Aber doch nur auf die 99 Jahre, für welche sie concessionirt ist?
entgegnet der Leser, der 99 Jahre für eine lange Zeit, zumal in unseren
Tagen halten mag, aber doch meinen kann, sie seien keine endlose Zeit. Wir
antworten: keineswegs. Zwar ist die Dauer der Gesellschaft und der Privilegien
derselben in der Concession auf hundert Jahre weniger eins festgesetzt. Da
aber diese neunundneunzig Jahre erst von der Vollendung des großen Kanals
der beiden Meere zu rechnen sind (Z. compter ä<z I'aelrevement ach tra-vaux
et Ah I'ouvertui-e an canal maritime Z, ig. Zranäe Navigation), so braucht
Herr v. Lesseps mit seiner Gesellschaft, um sich für alle Zeiten im Besitz
jener Privilegien zu erhalten, eben nichts weiter zu thun, als sich auf die Be¬
wässerung und Bebauung des Wadi Tumeilat zu beschränken und den „canal
maritime a la granäe Navigation" unvollendet zu lassen. Im Obigen
ist bemerkt, daß dies vermuthlich schon jetzt seine Absicht ist, und stört ihm
nicht die hohe Politik den Plan, so wird in zehn Jahren der Vetter in Paris
eine sehr nützliche Kolonie mehr am Mittelmeer haben, die leicht einen Vor¬
wand zu Streitigkeiten mit der ägyptischen Regierung und zu Annectirungen
finden lassen wird.
Said Pascha, der Vicekönig, ist soeben zu seinen Vätern und Brüdern
in dem großen bunten Grabmal unter der Citadelle von Kairo versammelt worden.
Wäre er einer Leichenrede werth, so würde darin unter den vielen Thorheiten,
die er während seiner Regierung begangen hat, der Concession des Suezkanals
unzweifelhaft die erste Stelle gebühren. Vielleicht hoffte er für den Fall eines
ihm unbehaglichen Ausgangs der Angelegenheit auf ein quos eZv des britischen
Neptun; wahrscheinlicher ist, daß der wohlbeleibte Herr wie die Mehrzahl dieser
Türken gar nichts gedacht, nichts gefürchtet und nichts gehofft hat.
Als Ouvertüre gingen Heuer dem Landtage die Wahlen der Avgeord
reden voraus, wobei Herr Wildauer jedenfalls die erste Violine strich. Die
Ereignisse, welche sich dabei zutrugen, lassen sich erst jetzt mit voller Klarheit
überblicken. Da der Mann, um welchen sich der Kampf drehte, seit den Tagen
"
von Frankfurt ein gewisses Ansehen genoß, so gehört jedenfalls eine furze
Uebersicht jener Händel in die Zeitgeschichte.
Die östreichische Regierung war Wildauer für sein Auftreten gegen Metz
ganz gewiß zu größtem Dank verpflichtet; er stritt mit der Zunge glücklicher
für sie als ihre hochadeligen Generale mit dem Degen. Man begreift, daß ihr
sehr daran liegen mußte, einen so ergebenen Anhänger in den Landtag zu
bringen, um so mehr, da man auch von seinem Talent die übertriebensten Vor¬
stellungen hatte. Wildauer wurde daher als Regierungscandidat bezeichnet,
und er widersprach nicht. Der officielle Tirolerbote hatte von ihm schon vor
einem Jahre eine Reihe Artikel, „Worte der Verständigung" gedruckt, in denen
er das vorhandene Material mit unläugbarem Geschick gruppirt hatte, wie ihm
denn Niemand leicht eine saubere Durchführung seiner Arbeiten bestrei¬
kn wird. Dadurch erregte er den Grimm der Klerikalen, und diese behaup¬
teten , er habe sich im Jahre 1861 um ihre Stimmen für die Erlangung eines
Sitzes im Abgeordnetenhause beworben und dabei zugesagt, gegen die Ansiede¬
lung der Protestanten in Tirol zu wirken. Er wurde offen als politischer
Achselträger bezeichnet. Die Sache schien jedoch schon eingeschlafen, als er durch
sein Auftreten als Candidat die Asche von der Kohle blies. Die alten Gerüchte
von der Zweideutigkeit seines Charakters erwachten wieder, seine Freunde glaub¬
ten sie als Verläumdung vornehm beseitigen zu tonnen. Die Führer der
Ultramontanen hatten sich bisher schweigend verhalten, nun fühlten sie sich jedoch
in ihrer Ehre angegriffen und veröffentlichten, Grcuter an der Spitze, eine
Erklärung, worin sie, wenn auch in sehr gemäßigten Ausdrücken, sür die Wahr¬
heit jener Gerüchte einstanden.
Wildauer mußte erwidern, und er suchte den Pelz zu waschen , ohne ihn
naß zu machen. Die Klerikalen wiederholten ihre Anklage schärfer und bestimm¬
ter. Nun konnten auch die Liberalen nicht mehr ruhig bleiben, denn wollte
Wildauer als Kandidat durchdringen, so mußte es durch ihre Stimmen geschehen;
wie sollte man.ihnen aber zumuthen, einem unzuverlässigen Menschen, der nur
den Antrieben niedrigen Ehrgeizes folgend auf jede Weise sich emporzuarbeiten
trachtete, die Eselsbrücke zu bauen? Wildauer wurde daher in der Jnn-
zeitung aufgefordert, sich zu rechtfertigen. Die passendste Gelegenheit dazu bot
die Wahlversammlung der Liberalen am 27. December. Das Comite der
Mittelpartci. welches Wildauer auf seinen Schild geschrieben hatte, erschien
ebenfalls, ein Mitglied desselben. Professor Kleinschrod. hatte im vollen Ver¬
trauen des Sieges die ultramontanen Unterzeichner jener Erklärung aufgefordert,
als Ankläger zu kommen. Sie weigerten sich dessen anfangs, indem sie aus
ihren Charakter als Priester verwiesen, behauptend, daß demselben eine solche
Rolle nicht angemessen sei. Nun wählte aber Professor Kleinschrod solche Aus¬
drücke, daß sie nach ihren eigenen Worten kommen mußten, wenn sie nicht als
Schufte und Verläumder dastehen wollten. Und sie kamen! Auch Wildauer
kam. Noch kurz zuvor hatte er Greuter mit einer Denunciation, welche ihm
Amt und Stelle kosten sollte, bedroht, wenn er mit seiner Anklage fortfahre;
vielleicht mochte er jetzt in der Erinnerung seiner Frankfurter Triumphe denken,
er brauche nur den Mund aufzuthun und seine Gegner müßten erstickt vom
allgemeinen Jubelgeschrei verschwinden.
Lassen Sie mich über die ungeheuer schmachvolle Scene, die erfolgte, schweigen.
Wildauer soll sich dabei ausgenommen Habens wie Einer, dem man das Fleisch
mit glühenden Zangen vom Leibe zwickt. Blaß, verwirrt, niedergeschmettert
verließ er den Saal, wahrend die Anwesenden, erschüttert durch das Gottesgericht
der öffentlichen Meinung, schwer aufathmeten. Nicht blos die politische Ehre,
sondern auch seinen Ruhm als Redner hatte er zurückgelassen; denn nur so
lange sich kein EinWurf gegen ihn erhob, vermochte er zu sprechen, und man
sagte sich nun, daß er von Frankfurt, wenn es dort zu einer Debatte gekommen
wäre, vielleicht einen Orden und Geld (denn das Ministerium ließ ihm für
seine Reise 300 Fi. auszahlen), aber schwerlich Lorbeeren geholt hätte.
Tags darauf trat die Mittelpartei — seine Partei — großentheils aus
Beamten bestehend, zusammen. Hier wurde ihm noch das letzte Feigenblatt ab¬
gerissen, so daß er in stummer Blöße abzog. Gerade seine ehemaligen Anhänger
standen ihm nach allen Berichten am ergrimmtesten gegenüber; sie fühlten sich
blamirt, daß sie einen solchen Erbärmlichen als Kandidaten aufgestellt, sie
waren empört, weil er ihnen Mann gegen Mann feierlichst versprochen, seine
Ankläger niederzuwerfen. Doch genug davon. Offiziere, welche ihm früher
ihre Stimmen geben wollten, sollen nach diesen Auftritten versichert haben, es
Vertrage sich nicht mit ihren Begriffen von Ehre, ihn noch zu wählen, nachdem
er die erhobenen schweren Anklagen nicht zu widerlegen vermocht.
So kam es, daß Wildauer bei der letzte» Wahl von 600 nur 10 Stim¬
men erhielt. Das schreckte ihn jedoch nicht ab, am 3. Januar sein Glück in
Rattenberg zu versuchen, freilich siel er auch hier durch. Muth kann man ein
solches Benehmen wohl schwerlich nennen, und was sollen wir zur Frechheit
mancher ministerieller Blätter sagen, die den Thatbestand zu vertuschen streben,
seine Niederlage aus dem Neide der Gegner ableiten und es den Liberalen ver¬
übeln, daß sie ihn nicht dennoch wählten? Wenn ihn der Herr Statthalter zu¬
gleich mit den Abgeordneten des Landtages einlud, so ist das seine Sache.
Wenn man zu Wien bei Staatsmännern den Hautgout liebt und die Gentz
und die Fröbel beruft, immerhin! Nur möge man sich nicht beifallen lassen, sie
einer Partei, welche sich ehrlicher Zwecke bewußt ist und sich mit dem Ministe¬
rium Schmerling, insoweit dieses ehrlich den Fortschritt will, solidarisch ver¬
bunden glaubt, als Kandidaten zu octroyiren und zu schmollen, wenn man sie
sitzen läßt. Wildauer selbst wird von seinen Freunden schlimm bedient, wenn
sie ihn stets auf solche Art in die Oeffentlichkeit stoßen. In stiller Zurück¬
gezogenheit vernarben seine Wunden gewiß eher.
Zu Innsbruck behielt schließlich die liberale Partei das Oberwasser, obwohl
die Klerikalen alle Mittel erschöpften und ihre letzte Reserve in das Treffen
führten. Dieser Sieg, doppelt wichtig, weil er in der Landeshauptstadt errungen
wurde, zeigt, daß auch in Tirol der Fortschritt wesentlich auf dem Bürger-
thum beruht.
Was die Verhandlungen des Landtages betrifft, so sind die ersten Zu¬
ckungen unserer italienischen Frage von allgemeinem Interesse. Aus Wälsch-
tirol erschienen nur fünf Abgeordnete, und diese legten Verwahrung ein, daß
man aus ihrer Theilnahme am Landtag zu Innsbruck nicht etwa auf die Ab¬
sicht schließen möge, als ob sie sich der Majorität in Bezug der Vereinigung
mit Deutschtirol fügten. Wcilschtirol strebe die Trennung an und müsse sie an¬
streben, es hoffe übrigens die Erfüllung seiner gerechten Wünsche. Elf Ab¬
geordnete, welche dem Ruf nach Innsbruck nicht gefolgt waren, schickten die Er¬
klärung ein, daß das Trentino und die wälschen Cousinen bis zur Säcularisation
1803 nie zu Tirol gehört und daher das Recht auf einen eigenen Landtag hät¬
ten. Sie könnten sich daher nicht bestimmt fühlen, aus dem Landtage zu Inns¬
bruck zu erscheinen. Uebrigens sind beide Parteien der Deutschtiroler darin
einig, den Malscher jede mögliche Rücksicht in Bezug auf Selbständigkeit zu
gewähren, jedoch nie und nimmer für das Ausscheiden eines so wichtigen Ge¬
bietes wie das Trentino aus dem deutschen Bunde zu stimmen. Wenn man
übrigens die Parole der Wälschtiroler offen aussprechen soll, so lautet sie auf
Anschluß an Italien. Sie werden dabei wahrlich nicht durch die Aussicht auf
materiellen Gewinn bestimmt; denn es läßt sich statistisch beweisen, daß ihnen
durch die Trennung von Tirol sehr beträchtliche Vortheile entschlüpfen. Es ist das
„Nationalitätsficbcr". wie sich unsere officiellen Blätter ausdrücken; dieses spornt
sie, daß sie den Fleischtöpfen Aegyptens entsagen wollen. Wir müssen sie des¬
wegen nur um so höher achten, obwohl wir andrerseits die Zumuthung lächer¬
lich finden, daß Deutschland und Tirol ihre unzweideutigen Rechte mir nichts
dir nichts aufgeben sollen.
Ein interessantes Zwischenspiel führte die Jnterpellation Goldeggs herbei:
„warum man Depretis kein Wahlcertificat ausgestellt habe, so daß es ihm un¬
möglich gewesen, auf dem Landtage 1861 zu erscheinen." Depretis ist ein
iwlianissimo, den die Regierung wegen seiner entschiedenen Parteifarbe nach
Grecs internirt hatte. Daß unseren Staatsmännern seine Theilnahme am Land¬
tag wenig Freude verursacht hätte, begreift sich daher leicht. Der Statthalter
erwiderte Goldegg: „Man habe den Aufenthalt des Depretis nicht gewußt, und
ihm daher das Wahlcertificat nicht ausfolgen lassen können." Das Beste kommt
nun Hintennach. Soeben theilt man uns aus Innsbruck mit, Depretis habe
in einem Briefe die Angabe des Statthalters als unwahr bezeichnet, indem er
bereits in den ersten Tagen des April 1861 sein Certificat vom Bezirksamte
gefordert und dieses darüber an die Statthaltern berichtet habe.
Die Frage der sogenannten Glaubenseinheit hängt vorläufig in der Luft.
Die Ultramontanen wollen sich dieses Mal damit begnügen, ein allerunterthänig-
stes Bittgesuch an den Kaiser zu richten, er möge sie in der alten Einfalt er¬
halten und vor der Ansteckung durch Ketzer jeder Sorte bewahren. Amen!
Haben Sie noch Geduld, mit mir eine Bauernhochzeit zu besuchen? Treten
wir wenigstens einen Moment ein. ' Die Braut ist siebzehnjährig; mündig ist
der Bräutigam auch noch nicht; er wird nach der Trauung bei seinem Schwieger¬
vater, einem Stellmacher, in Haus und Lehre treten. So gering ist er nicht,
wie der arme Teufel, der ein Mädchen heirathete, weil er ihr drei Thaler Wasch-
und Nähterlohn schuldig war, die er nun nicht zu bezahlen brauchte. Er hat
seine 40 bis 50 Thaler Geld. Deshalb hat auch der Schwiegervater 10 Thlr.
zu Fleisch für die Hochzeit hergegeben. Die dafür beschafften Braten, sowie
der Branntwein zum Schmause kommen auf ihn. Für das Uebrige sorgen die
Gäste, die trotzdem oft Tage lang bei Tanz und Lustbarkeit zusammenbleiben.
Aus den Teller, der jetzt herumgeht, wollen wir auch ein Geldstück legen.
„Für die Haube" der Braut wird gesammelt und in dieser zarten Form
das Hochzeitsgeschenk von jedem Geladenen beigesteuert. — Da ist denn freilich
eine Bauernhochzeit in der Gegend von Unruhstadt und Karge lockender. Dort
setzt man Ihnen einen Topf zur Seite, in welchem Sie aufheben, was Sie
von den vorgelegten Speisen^ halbe Gans, ganze Pfunde Braten u. f. w. nicht
essen können. Dies Ragout nehmen Sie dann mit.
Vorgelegt und aufgehoben wird aus der Judenhochzeit auch; wenn auch
dabei ein Bogen Papier den Topf vertritt. Eine solche wünschte ich Ihnen
zeigen zu können. Der Bräutigam mit der Kappe auf dem Kopfe, den weißen
Mantel mit buntem Rande über das Sterbehemd geworfen, die Braut ganz
und gar verschleiert, steht das junge Paar unter dem Baldachin, der auf vier
Stäben empvrgehalten wird. Dieses Planchen ist heilig, die Umgebung ganz
indifferent. Synagoge, Platz neben der Kegelbahn, Schenkstube, alles das
kommt vor. Die Trauungscecemonien sind bekannt. Nachdem die 'Rebe, wo
fern eine solche bezahlt wird, gehalten, die Scherben zertreten und die vor-
geschriebenen Gebete von drei „Gelehrten" vorgelesen sind, nimmt der Copu¬
lator den Hut ab und sagt: Ich gratulire Ihnen. Das ist das Zeichen zur
Prosa, auch zur Lust; aber ehe man zur Tafel geht, muß der Sonnenunter-
gang abgewartet werden. Der Schmuck des Spnsesaalcs, der Gäste erinnert
an das Bild, welches uns gewandte Romanschreiber von dem Gegensatz zwischen
dem Werket- und dem Feiertage des Juden geben. Ueber Tisch jagen sich
gereimte Toaste. Israels Jugend bereitet sich lange vorher aus selbige vor
und declamirt sie mit Pathos „schlecht gereimt, doch gut gemeint". Zuletzt
hält der Rabbi eine Rede, in der er gewöhnlich ein biblisches oder talmudisches
Wort so lange foltert und quält, bis es einen Witz ober wenigstens ein Para¬
doxon von sich gibt. Daraus wandert der Opferteller für ihn herum, wenn
nicht der generöse Brautvater dies Servitut klingend abgelöst hat. Der Bräutigam
hat während der ganzen Zeit im Ornat gesessen. Der gute Junge ist Reformer
und Mitglied der deutschen Fortschrittspartei; aber es ward ihm bedeutet, er
müsse — wir sind hier orthodox. Nun bricht man auf. Daß Franz von
Meris hier wäre! Zunächst der Thüre scherzen und necken sich die Jünglinge
und Jungfrauen, halb zwickauernd, halb die Zydöwla (Judenviertel) arg
compromittirend. Unterdeß räumt die sorgsame Mutter des Hauses mit Knechten
und Mägden den Tisch ab und bei all dem Geräusch halten die „Gelehrten" das
Tischgebet. Ihre Hüte, die ihnen gewiß Niemand vertauschen wird, diese un¬
vergänglichen Denkstücke aus den ältesten Zeiten, auf dem Kopfe, das vergilbte
Buch vor sich, lesen sie in singendem Tone unter beständigem Auf- und Nieder¬
bewegen des Oberleibes ihre Formeln ab. Das sind kosmopolitische Töne.
Dem Ohre des einzelnen Menschen bleiben sie ewig unverständlich. Ob sie
noch sitzen mögen, die alten schwarzen Männer, ich weiß es nicht; die Andern
noch weniger, denn die tanzen schon wieder unten, während oben noch gebetet
wird.
So wären wir denn zu dem Juden gekommen, diesem gepeinigten Peiniger,
diesem Märtyrer und Marterer unseres Volkes, diesem allerinteressantesten Gegen¬
stande unserer Culturgeschichte.
Gewiß, ein Stück Leidensgeschichte dieses Stammes ist mehr werth als die
ewig eintönige Leier der polnischen Jcremiaden. die ich Ihnen im sechsten Briefe
aufspielen soll. Lassen Sie mich hineingreifen. Seit dem elften, spätestens seit dem
dreizehnten Jahrhundert gab es Juden in Posen. Sie standen nicht unter städtischer
Jurisdiction; man wies den ungern gesehenen Gästen eine besondere Straße
zur Wohnung an und legte ihnen so viel Hindernisse in den Weg. wie möglich,
erlaubte sich auch Bedrückungen aller Art, welche, wie die Chronik sagt, oft
in Blutvergießen und Mord übergingen. Dieser Zustand dauerte bis zum Fall
Polens, der Haß steigerte sich fortwährend. An christlichen Feiertagen durfte
sich ohne Lebensgefahr fein Jude sehen lassen; auch sonst wurde er auf andern
Straßen vom Pöbel, ganz besonders aber von den Jesuitenschülern geneckt,
gezerrt, gestoßen und bisweilen bis zum Tode gemißhandelt. Als im Jahre
1468 aus Veranlassung eines Feuers das Volk über die Juden herfiel, ihre
Häuser und Läden plünderte, und mehre erschlagen wurden, wurde der Stadt
von Kasimir dem Jagellonen eine Strafe von 2000 Ducaten auferlegt: pro
oaoäe 86U trueiälttioniz ^uMsor-um sagt die Quittung. — Auch im Handel
wurden sie beschränkt. Die Adeligen bedienten sich ihrer und schätzten sie.
Deswegen wandten sich die Bürger 1619 an den judenfreundlichen König
Sigismund den Dritten: „Die jüdische Heuschrecke ist ein grausames Thier, welches
llorem civitatis ckepaseit; es ist ein giftiges Ungeziefer und ein schmutziges
Gewürm, welches nach ps. S8 eomeckit ^aoobum et locum Hus cissolat.
Deshalb rufen wir furchtbar bedrückt zu unserm Erretter: et?unäg.t sus,in
in gentem, Hug,s ipsum rwri rwvit nee nomen eins invoeat, quiir imo
bIg.sM«zir>!Z,t." 1736 ertrank der Sohn des Bürgers Jablvnowicz in der Warthe;
sein Leichnam ward nach vierzehn Tage» bei Gorzyn gefunden. Das war
Grund genug zu einer erst tumultuarischen, dann peinlichen Judenverfolgung.
Die Untersuchung ergab völlige Unschuld und dennoch hatte sie nachstehende
Verordnungen König August des Dritten zur Folge:
1. Wenn ein Jude ein christliches Kind an sich lockt oder mit demselben
schön thut und dieses nachher verschwindet, so wird derselbe ohne alle Rücksicht
für den Mörder des Kindes angesehen.
2. Der Magistrat hat darauf zu halten, daß sich die Juden nicht aus
ihrer Straße entfernen und von den Christen durch eine Mauer getrennt bleiben.
3. Bei Strafe des Gefängnisses darf kein Jude außerhalb seines Quartiers
über Nacht bleiben.
4. Kein Jude darf christliche Dienstboten oder Ammen halten; zur Be¬
wachung des Kirchhofs keinen Christen benutzen bei Strafe des Niederreißens
des Kircbhofhauscs.
5. Wenn die Synagoge für sich einen Doctor und Chirurg halten sollte,
so sollen diese es nicht wagen, einem Christen zu helfen, ihm Ader zu lassen.
Wunden zu heilen, Rath zu geben, Gebärenden beizustehn, bei Strafe des
Gefängnisses, von Peitschenhieben oder Austreibens aus der Stadt.
Es gab einmal eine Zeit, in welcher sich kein einziger Jude in Posen
befand. Jm Jahre 1590 den 11. Juni brannte die ganze Jüdenstraße nebst
einem Theile der christlichen Stadt ab. Aus Furcht vor der Rache des.Volkes
floh auch der Rest der Juden mit den Abgebrannten. Der General von Gro߬
polen, Opalinski, und der Wojwode Posens vermittelten ihre Rückkunft und
schon war die Straße wieder mit 3—6stockigen Häusern bebaut, denn
gerade unter> diesem Drucke haben sich diese Orientalen erhalten und vermehrt.
Wenige von ihnen waren reich, und auch diese nicht in dem Grade, wie man
glaubte; die meisten^ lebten in Armuth. Elend und Schmutz. Und genau so
ist es noch heute. Die Noth zahlloser Judenfamilien bleibt tief unter dem
Niveaw dessen, was ein Christ ertragen würde, ohne sich an der Gesellschaft
zu vergehen.
Die Rache der Geplagten kam in ihrer tiefen Entsittlichung über ihre Ver¬
folger und in dem theils' mit dieser zusammenhängenden, theils aus edleren Quell
fließenden Gefühl ihrer Solidarität. Dieses führt sie zu falschem Zeugniß.
Bestechung in tgi. Wie ernst sie auch unter einander richten mögen; sobald
Noth an den Mann kommt, sobald eine Sache fiscalisch wird, dann stehen
sie Alle für den Einen und winden und lügen ihn von der gerechten Strafe
los. Sie machen dadurch oft den Eindruck, als sei ihre Verderbniß größer als
sie wirklich ist.
Im vorigen Jahrhundert trieben sich ihre abgemagerten, bärtigen Gestalten
mit formlosen schmutzigem Schuhwerk, in Lumpen herabhängendem, bis an die
Knöchel zugeknöpften Rock, einige schlechte Lappen über dem Arm, wie jetzt
nur sehr vereinzelt, in den Winkeln der Hauptstadt, allgemein und in Gruppen
herum. Sie lauerten dem Edelmann auf; sie überlisteten ihn, sie beschwindelten
den Bauer und fristeten so ihr dürftiges Leben von Lug und Trug. Friedrich der
Zweite rechnete es sich als ein ganz besonderes Verdienst an. daß er 1772 4000
Juden qui volaiont vt sllvusiüvnt los xa^san?-, nach Russisch-Polen zurückgeschickt
habe. Und es war ein Perdienst. Wie schwer wir uns an den Juden ver¬
sündigt haben, ich habe die Erinnerung daran vorangestellt, so kann es doch
nicht Verschwiegen werden, daß ihr Einfluß auf das Volk ein sehr nachtheiliger,
ihr ganzes Treiben ein Hauptübel des Landes ist. Ihre Factorei ist bekannt.
Der polnische Edelmann verhandelt stets nur durch einen Factor mit irgend
einem deutschen Geschäftsmann. Der Jude selbst beruft sich in frivolem Scherz
für die Unentbehrlichkeit seines Dienstes auf Gott, der sich ja bei der Gesetz¬
gebung des Moses, als eines Factors bedient habe. Durch diese Factoren
ljcdes Hotel, jedes größere Geschäft hat seine besonderen; auch viele Guts¬
besitzer haben ihre) wird es möglich, daß Leute neben einander, mit einander
leben, die es nicht der Mühe werth achten, einer die Sprache des andern zu
erlernen. Eben dadurch geschieht es aber auch, daß diese auf einander gewiesenen
Nachbarn nicht mit einander fühlen. Freude und Leid nicht theilen, sich fremd
bleiben und mißtrauen. Schon in diesem einen Zuge zeigt es sich, daß der
Jude gern von den Fehlern seines Nächsten lebt und sich dadurch zum Herrn
macht; auf den Märkten der kleinen polnischen Städte ist er letzteres wörtlich.
Fragen Sie nur jene junge Frau. Sie glaubte das Huhn schon mit Hülfe
einer rasch erfundenen Zeichensprache gekauft zu haben, als es ihr die „Jüdin"
aus der Hand riß, es nun auf polnisch verhandelte und der Verblüfften für
einen, freilich nicht viel höheren Preis darbot. Sie soll sich beruhigen, denn
es hat auch sein Angenehmes, wenn ihr eine andere Händlerin die Butter, die
sie nicht erlangen konnte, zu ihrer Ueberraschung noch nach einer Stunde ins
Hans bringt. Es wäre gut, wenn sich dieser Zwischenhandel auf Butter und
Geflügel beschränkte; aber sein eigentlicher Gegenstand ist Getreide, Wolle,
Holz, Grundbesitz. Besser kennt kein Mensch die schlechten Seiten des Polen,
und geschickter beutet sie Niemand aus, als der Jude. — Er hat Geld zur
Hand, wenn die aufgeregte Sinnlichkeit desselben zu ihrer Befriedigung bedarf;
er ist zum Kauf bereit, wenn der Zorn den Jüngling reizt, den Seinigen zum
Trotz seinen Antheil an einem Nachlaß, sein Erbe, oder auch gar seinen
ganzen Hof zu verkaufen. Und hat er einmal eine noch so leise Verbindung
mit Jemand angeknüpft, dann läßt er ihn gewiß nicht los. In meiner Kind¬
heit hat man mir gesagt, der polnische Jude borgt dem Bauer S Thlr. zu
t00<Vg, läßt sich einen Schein über 10 Thlr. geben und behält nun die erbetenen
6 Thlr. als erste Rate zurück, damit dem Schuldner die Bezahlung leichter
werde. Sehr viel anders ist es wahrhaftig nicht, und oft genügt ein Darlehn
von 20 Thlr. bis 60 Thlr., ja ein noch kleineres, oft ein schlau gestellter
Lieferungsvertrag, um ein kleines Gütchen in kurzer Frist in den Besitz des
Gläubigers zu bringen. Sich unter dem Vorwande, der erste Schein sei ver¬
loren, üver dieselbe Summe zwei, drei Quittungen geben lassen, bezahlte
Hypotheken einklagen — das sind keine unerhörte Verbrechen. Verbrechen? Nicht
doch! „Was wollen Sie?" sagt die Frau des Ueberführten zum Untersuchungs¬
richter. „Mein Mann ist kein Verbrecher, blos ein Vergeher." Die besseren
unserer Rechtsanwälte, und dies ist die große Mehrzahl, und unsere Gerichte
verfolgen diese Manoeuvres unerbittlich, doch mit wenig Erfolg. Es fallen ihnen
noch immer zahlreiche Opfer, und das Ergebniß des ganzen Verkehrs ist ein
großes Mißtrauen des polnischen Landmanns wider alles ihm Fremde, ist
Verarmung Vieler, welchen hätte geholfen werden können, wenn sie sich ehr¬
lichen Männern offenbart hätten.
Ist es nöthig, daß ich erwähne, wie die hiesigen Juden sich durch alle
die Tugenden auszeichnen, die ihnen, wo sie in festgeschlossenen Korporationen
leben, überall eigen sind! UnVerdrossenheit, Sparsamkeit, Mäßigkeit u. s- f.
und daß sie überall da, wo sie sich aus dem festen Corporationsverbandc lösen,
für die Civilisation empfänglich, in ihrem Leben und Sitten uns gleich werden,
endlich, daß wir auch unter uns viele rechtliche, durchaus achtungswerthe Juden
haben? Uebrigens rächen sich die Polen auch und suchen ihrerseits, wo sie nur
*
können, den Juden zu überlisten. Oft mit Glück, etwa wie in folgender
Geschichte.
Jasz hat dem Jtzig eines von zwei Schafen gestohlen. Während dieser
mit dem andern heimtreibt, wo er noch ein drittes hat, hört er das entwendete
blöken; er bindet sein Thier fest und folgt der Stimme, die ihn immer tiefer
in den Wald lockt und zuletzt verstummt, weil Jasz, in welchem der Leser den
Blökenden errathen hat, nun zurückeilt, um das andere Schaf zu entführen.
Er weiß, daß Jtzig morgen mit dem dritten dieselbe Straße kommen werde.
Darum wirft er zwei Schuhe an den Weg; erst einen recht schlechten; weiterhin
einen bessern.
Der Jude kommt, besteht den ersten Schuh und straft ihn mit Verachtung;
als er aber den brauchbaren findet, gewinnt der verschmähte neuen Werth, und
während Jtzig nach diesem zurückgeht, gelangt das allein gelassene dritte Schaf
in den Besitz des verschlagenen Jasz.
So neckt der Bolkswitz den Juden.
Ich habe aber die vorausbezablte Wolle selbst gesehen, welche voriges
Jahr eine polnische Edelfrau dem jüdischen Käufer in so schweren Säcken, über¬
haupt mit so viel Tara sandte, daß der Betrogene obrigkeitliche Hülfe gesucht
hätte, wenn er nicht hätte die Rache des ganzen Adels der Gegend fürchten
müssen. Ich berufe mich schließlich auf August Wilkoüökis „Schmieralien"
vergl. p. 30 31.
Unsere Juden sind über Land und Stadt verstreut; in den Dörfern sind
sie besonders Schenkwirthe. in den Städten treiben sie auch Handwerke. Sie
sind namentlich Schlächter. Kürschner. Glaser und Schneider; letztere Gewerbe
vereinigen sie. Viele von ihnen ziehen als Haustrschneider, gewöhnlich von
einem halbwüchsigen Jungen begleitet, auf die Dörfer und arbeiten dort ganz
wie in Berlin die „Schncidcrmamsells".
Auffallend ist der Zug des Juden, selbst an's Licht zu kommen, ein klarer
Beweis, daß ihre völlige Emancipation das beste Mittel wäre, sie für die
Gesellschaft unschädlich zu machen. Sie drängen an die Grenzen; Kempen und
Schwerin a/W. sind verhältnißmäßig am stärksten von ihnen bevölkert.
Jetzt würde es sich hübsch machen, diesen Ungläubigen den polnischen
Geistlichen entgegenzustelle». Da wir aber eigentlich keine solchen kennen, sondern
nur predigende Agitatoren, so wollen wir von diesen Herren erst im sechsten
Briefe reden. Es bleibt mir also nur noch übrig, Sie auf die alten Kirchen von
Gnesen, Inowraclaw, Kruscbwitz und Krone, auf die noch älteren, vielleicht
ältesten halb gothischen Dome zu Bischcwo bei Poln.- Krone und zu Lekno bei
Wongrowicc. die merkwürdiger Weise Nebeutirchen geworden sind, aufmerksam
zu machU. Dann mochte ich Ihnen noch die alten Schlösser zu Czarnitau,
U66. Bromberg, Ratel und Dziekanowic nennen. Letzteres auf dem Lemna-
See ohnweit Gnesen hat unser Kaiser Otto der Dritte besucht. Ratel. auf einer
Insel der Lopez gelegen, hat manchen harten Sturm erlitten. Seiner Zeit
war es eine gefürchtete Räuberburg. Der mächtige Starost Wlvdek einer der
ärgsten Räuber wurde hier gefangen genommen, um mit dem Schwerte Ein¬
gerichtet zu werden. Die Genossin seiner Frevel, die schöne Katharina Wlodl'a*)
ward lebendig verbrannt.
Ratel liegt schon auszerhalb der Pfuelschen Demarkationslinie, also im
Lande der Deutschen, der „Hergelaufenen, die nichts mitzureden haben," wie
öl-. Mebig seine Landsleute nennt. Es befinden sich unter denselben Hoheiten
und Durchlauchten verschiedener deutscher Länder, die hier gern ihre Capitalien
anzulegen scheinen und dadurch den Wünschen des guten Diaconus Fischer in
Pretsch zu Sachsen entgegenkommen, der alles Land für Deutsche kaufen und
den Polen reiche Mittel zur Auswanderung gewähren möchte.
Es gehören ihnen die Kinder unseres früheren Minister Bethmann und
manch andere edle Famile an, deren Namen guten Klang hat. Wie sie hinein¬
gekommen, was und wie sie es treiben, darüber schreibe ich Ihnen einen dritten
Brief.
Richard Schöne, Ueber Platons Protcigoras. Ein Beitrag zur Lösung
der platonischen Frage. Leipzig. Breitkopf und Härtel. 1862. VIII. n. 98 S.
Dieses Schriftchen, wiewohl mit seinem Gegenstand» zunächst einer bestimmten
Fachwissenschaft zugcbörend, verdient dennoch sowohl »in seiner formellen Vorzüglich-
keit willen als wegen der Neuheit seines Grundgedankens eine Beachtung, die über
die Grenzen des specifischen Gelehrtenthums hinausreicht. Was die Form anlangt,
so loben wir in der jugendlichen Erstlingsschrift die Sicherheit des ästhetischen
und sittlichen Taktes, ebenso wie der edle und keusche Ausdruck uns lebhaft erfreut.
Was aber inhaltlich diese Untersuchung über die Zeitfolge der Schriften Platos, ins¬
besondere über die Stellung des Dialogs Protagoras, besonders wichtig und anregend
macht und ihr allgemeines Interesse verleiht, ist der in der That für die Wissenschaft
neue und unserm allgemeinen BildungSgcschmacke doel, so nahe liegende Gesichtspunkt,
unter welchem die Untersuchung geführt wird, der Gesichtspunkt der Stilkritik.
Stil ist hier die eigenthümliche ästhetische Beschaffenheit geistiger Produktionen
genannt, soweit sie naiv oder unwillkürlich, dem producirenden Geiste durch die
Eigenthümlichkeit seiner Natur gleichsam aufgedrungen, dem Producte sich einverleibt.
Der Stil in diesem Sinne entsteht durch organische Nothwendigkeit, wie Farbe und
Duft der Blüthen und die Gestalt der Blätter an der Pflanze. Jeder individuelle
Geist hat seinen Stil, und jede bedeutsame Lebensepochc, die mit der Entwickelung
jener Natureigenthümlichkeit des Geistes in Zusammenhang steht, also vor Allem
jeder bedeutendere Abschnitt im Lebensalter, gibt diesem individuellen Stil wiederum
eine für die bestimmte Zeit charakteristische Färbung. Da nun Alles dies sich nicht
willkürlich, sondern nach natürlicher Nothwendigkeit gestaltet, so ist der Stil ein
sicherer empirischer Ausgangspunkt für die wissenschaftliche Aufsuchung des Verfassers
für ein anonymes oder unsicheres Schriftstück oder Kunstwerk, sowie für die Bestim¬
mung des Zeitpunktes der Entstehung des letzteren. Es kommt nur darauf an,
daß der Stil erkannt werde, daß in dem jedesmaligen Objecte der Kritik das Zu¬
fällige und Beabsichtigte abgelöst werde von jenem naturnothwendigen, daß dieselbe
Eigenthümlichkeit, wo sie thatsächlich wiederkehrt, auch als dieselbe sich dem Forscher
kundgebe, daß endlich gewisse psychologische — oder naturphilosophische und meta¬
physische — Gesetze cudeckt werden, nach welchen sich eine bestimmte Eutwickclungs-
phase des Menschen oder eine bestimmte Gcistcsart und Sinnesrichtung immer mit
bestimmten Eigenthümlichkeiten des Stiles verbindet. Das Organ, womit der Stil
erkannt wird, ist die ästhetische Empfindung des Geistes. Dies ist nach Einiger
Meinung ein unwissenschaftliches Organ, weil Einige es nicht haben. So lange aber
die Welt steht, bestimmen die Naturforscher die Eigenthümlichkeiten ihrer Objecte
nach sinnlichen Eigenschaften, erkennen sie an Geruch und Farbe u. s. w., und
durch gleiche Kennzeichen bestimmen die Aerzte Symptome von Krankheiten u. tgi.
Es versteht sich, daß diese Kennzeichen nur für solche Wcltwesen einen Werth haben,
die da riechen, sehen, tasten können u. s. w., und deren Sinne Feinheit genug
besitzen zu genauen Unterscheidungen. Man sagt, die Stilempfindungcn lassen sich
nicht durch Worte ausdrücken, geschweige durch Begriffe. Was ist aber der Begriff
von Gelb oder Noth, was ist der beschreibende Ausdruck für den Geruch der Nelke
oder Rose? Ueberall werden die sprachlichen Bezeichnungen nur erinnern können an
Empfindungen, die wir wirklich gehabt haben müssen, um jene Bezeichnungen zu
verstehen. Es ist also kein weiterer Unterschied zwischen der auf Stilkritik beruhenden
Wissenschaft und den auf äußerer Sinnesempfindung beruhenden, als dieser, daß
leidlich viele Menschen leibliche Sinne haben, etwas wenigere dagegen geistig«; und
die einzige Forderung, welche an den Stilkritiker hinsichtlich der wissenschaftlichen
Objectivirung seiner Ansichten gestellt werden muß, ist diese, daß er sich nicht hinter
einer vermeintlichen Unsagbarkeit seiner Empfindungen verstecke, sondern dieselben in
solcher Weise, wenn auch nur durch Bilder und Vergleiche, beschreibe, daß durch
die Beschreibung dem Andern verständlich werde, welche Empfindung gemeint sei,
d, h. daß durch Erinnerung in dem Andern die Empfindung entstehe, welche
der Autor meint. Daß endlich durch dasselbe Object in Verschiedenen verschiedene
Empfindungen entstehen können, hebt das Recht dieser Methode nicht auf, sondern
spornt nur zu immer genauerer Beobachtung an und veranlaßt den für jede
Wissenschaft heilsamen Streit. Mit Recht macht Schone darauf aufmerksam, daß
die Kenner in jeder Art von Kunst, namentlich in der bildenden Kunst und in der
Musik?, aber auch in der Poesie und der Schriftstellerei überhaupt, die Gewißheit
ihrer Urtheile überall nur ans dem Wege der Stilkritik gewinnen und die fo ge¬
wonnene Gewißheit jeder andern vorziehen, so daß sie ohne dieselbe nur widerwillig
sich äußeren Beweisen fügen, mit ihr aber auch einer großen äußeren Wahrscheinlich¬
keit, die gegen sie ist, mit Erfolg Trotz bieten.
Was nun den Standpunkt der Schrift rücksichtlich der Platonischen Frage des
Näheren anlangt, so ist derselbe wesentlich durch die noch nicht veröffentlichten
Platonischen Untersuchungen Ch. H. Weißes bestimmt, die dem Verfasser laut
Vorrede durch Vorlesungen an hiesiger Universität bekannt geworden. Der Grund¬
gedanke ist dieser, daß aus psychologisch-ästhetischen Gründen, deren Unterstützung
durch äußere Zeugnisse übrigens keineswegs unterlassen wird, die größere drama¬
tische, überhaupt künstlerische Vollendung eines Dialogs, dnrch welche er mehr unter
den Gesichtspunkt des künstlerischen Selbstzwecks Tro-es-c^ als unter den der
Auffindung und Mittheilung wissenschaftlicher Resultate gestellt erscheint, auf spätere
Abfassungszeit hinweist. Solche größere Meisterschaft in der Handhabung der Kunst-
form zeigt sich schon äußerlich in der Wahl der Erzählungsform gegenüber der un¬
reiferen Form des directen Gesprächs, und weiter in den jedem Beurtheiler drama-
liicher Leistungen geläufigen Kennzeichen, welche hier im Besondern am Prvtngoras
mit sinniger Dctailbetrcichtung hervorgehoben werden. Die Auseinandersetzung mit
den bisher üblichen Beantwortungen der Platonischen Frage, welche wesentlich von
den, Vorurtheil ausgehen, daß der wissenschaftliche Inhalt jedes Dialogs mit den
zur Zeit seiner Abfassung von Plato gehegten philosophischen Ueberzeugungen sich
vollständig decken müsse, also die Möglichkeit einer Absicht des Schülers, in drama¬
tisch.historischen Kunstwerke» seinem unvergeßlichen Meister ein bleibendes Denkmal
zu errichte», von vornherein ausschließen, zeigt, daß alle einzuwersenden Bedenken
Die Erdkunde hat neben ihrer wissenschaftlichen auch eine praktische Bedeutung,
welche für alle am Weltverkehr theilnehmenden Nationen eine Urbcrsickt des auf ih-
rem Gebiete Geleisteten, entweder im Allgemeinen oder nur zu bestimmten Zwecken,
von Zeit zu Zeit wünschenswert!) erscheinen läßt, Ulner den praktischen gcograplii-
schcu Fragen aber ist die auf die Auswanderung bezügliche eine der wichtigsten. Die
Ansiedelungen im Auslande können der Geographie dienstlich sein, wie den ersteren
weitere Fortschritte durch die letztere in Aussicht stehen.
Der Verein von Freunden der Erdkunde zu Leipzig hat sich daher veranlaßt
gesehen, in der Sitzung vom 22. November 1862 folgende Preisfrage zu stellen:
„Welche sind die geographisch-statistischen und politisch-commerciellen Verhältnisse
derjenigen Länder, uach denen in neuerer Zeit der Zug der deutschen Auswande¬
rung vorzugsweise gerichtet gewesen ist, und welche Länder empfehlen sieh hiernach
am meisten für eine wvhlorganisirte deutsche Kolonisation?"
Es wird bei Bearbeitung dieser Aufgabe nicht nur aus Klima, Bodengestaltung,
Bewässerung, Culturfähigkeit, Producte und Bewohner der betreffende» Länder,
sondern auch auf die Verbindungswege mit dem Mutterlande sowie auf die physi¬
kalisch-geographischen Verhältnisse, welche auf den Verkehr mit Deutschland fördernd
oder hemmend einwirken, Rücksicht zu nehmen sein.
Der ausgesetzte Preis beträgt Einhundert Thaler, Die Bearbeitungen müssen
in deutscher Sprache abgefaßt sein und bis spätestens am 30, November 1S63 bei
dem Schriftführer des Vereins, Dr. Henry Lauge in Leipzig iBosenstraße 4) ein¬
treffen, an welchem sie portofrei in der Weise anonym einzusenden sind, daß jede
derselbe» mit dem nämlichen Motto wie das den Namen und die vollständige
Adresse des Verfassers enthaltende versiegelte Couvert versehen wird. Die Veröffent¬
lichung der motivirten Urtheile erfolgt im März 1864.
Gemäß dem vom Vereine angestellten Preisfragenregulativ wird das Manu-
seript jeder mit dein Preise oder einem Accejsit gekrönten Arbeit Eigenthum des
Vereins, jedoch so, daß es dem Vereinsoorstandc freisteht, jede solche Arbeit entweder
ganz oder auszugsweise oder theilweije drucken zu lassen, ohne daß der Verfasser
noch auf Honorar Anspruch zu machen hätte; doch ist der Vcrcinsvorstaud befugt,
dem Verfasser eine anderweitige Veröffentlichung seines Werkes im ersten Falle nach
Jahresfrist, im zweiten und dritten Falle sofort zu gestatten.
Es war ein kühner Gedanke, den man vor Jahren in Berlin faßte und
alsbald auszuführen beschloß, im Treppenhause des neuen Museums „die ge-
sammte Culturentwickelung der Menschheit in ihren geschichtlichen Hauptphasen"
zur Darstellung zu bringen. An dem Hauptsitze der norddeutschen Intelligenz
wollte man auch auf dem Gebiete der Kunst durch die That beweisen, daß
endlich der menschliche Geist zur Reife und Selbständigkeit gelangt sei. Es
sollte sich zeigen, daß nicht .mehr die heiteren Gestalten einer spielenden Mythen-
Welt und die religiösen Vorstellungen eines jenseitigen Reiches seine Phantasie
erfüllen, sondern daß er von der geschichtlichen Wirklichkeit als von der wah¬
ren Heimath des Menschen in der Kunst wie in der Wissenschaft Besitz ergreife.
Die Errungenschaft der modernen Philosophie, daß im Verlauf der Weltgeschichte
der menschliche Geist fortschreitend sein eignes Wesen entwickele, daß die Götter-
kreise der verschiedenen Zeitalter ebensowohl wie die Handlungen und Schick¬
sale der Nationen nur seine Erzeugnisse auf den verschiedenen Stufen seines
Fortganges seien, daß ebendeshalb der Mensch erst im Verständniß der Ge>
schichte zu sich selbst und auf seine eigenen Füße komme — diese Einsicht, eben
erst aus dem Kopfe des Denkers hervorgegangen, sollte unverzüglich an den
öffentlichen Wänden ihren sichtbaren Ausdruck erhalten.
Nun schien auch der Kunst geholfen. Diese hatte durch die neue Welt¬
anschauung, welche die Phantasie entvölkerte und auf das greifbare Diesseits
verwies, vorerst nichts gewonnen, dagegen ihren ganzen bisherigen Besitz ein¬
gebüßt. Den Gestatte», die sie Jahrhunderte lang in sich getragen, war die
Seele genommen :
„Und der alten Götter bunt Gewimmel
Hat sogleich das stille Haus geleert."
In der Gegenwart, die von der Staatsmaschine bis zum Frack mit Selbst-
Zufriedenheit den Charakter der knappsten, überlegensten Nüchternheit zur Schau
trägt, konnte sie keinen Ersatz finden. Aber die Geschichte als das ächte, un-
vergängliche Reich des menschlichen Geistes war ja entdeckt, und an die Kunst,
die jung und unreif, verlassen und rathlos bei Seite stand, erging nun
vom ersten bis zum letzten Aesthetiker der einmüthige Ruf: „Greife zur Geschichte,
male die großen Wendepunkte. in denen sich der Geist zur entscheidenden, die
Geschicke einer Welt bestimmenden That zusammenfaßt, aus denen ja seine
Unendlichkeit in Einen Strahl gesammelt leuchtet, und du wirst das moderne
Ideal schaffen, das keinem früheren weder an Gehalt noch auch an Schönheit
nachstehen wird."
Berlin unternahm es, die neue Epoche, welche sich unvermuthet der Kunst
aufthat, mit einem großen Beispiel einzuleiten. Eine umfassendere Aufgabe
war der monumentalen Kunst noch nicht gestellt worden: das ganze geschicht¬
liche Leben sollte in seinen Hauptmomenten durch einen Cyklus von Gemälden
veranschaulicht werden. Also nicht ein einzelnes Ereigiuß, nicht die eigenthüm¬
liche Erscheinung dieses oder jenes Weltzustandes, sondern der eigentliche Nerv
der Geschichte, ihre Seele, wie sie in den einzelnen Höhepunkten ihrer durch
die Zeiten und Nationen fortlaufenden Entwickelung herausschlägt.
Wir untersuchen hier nicht, wie weit diese Lichtblicke der Geschichte male¬
risch sind und Vorwürfe der Kunst werden können, ohne ihr Zwang anzu¬
thun, auch dies nicht, ob in dem Nebeneinander solcher Darstellungen der Be¬
schauer auch nur eine Ahnung von dem großen Lauf.der Dinge erhalten kann.
Aber zweierlei Bedenken, die sich dem Unternehmen entgegenstellen, sind um
so mehr hervorzuheben, als sie von vornherein unbeachtet geblieben sind.
Die Ergebnisse des geschichtlichen Denkens wollte man von der bildenden
Kunst festgehalten sehen; aber ob diese Stoffe Leben und Gestalt in der Phan¬
tasie gewinnen können, vo» der doch allein die Kunst ihre Vorwürfe empfängt,
darnach frug man nicht. Der Künstler braucht ein Object, das seine Phantasie
entzündet, weil es in der allgemeinen Phantasie, in der inneren Anschauung
des Volkes lebendig und wirksam ist. Die weltgeschichtlichen Ideen aber und
ihre Verwirklichung im Weltenlauf sind erst Ergebnisse der Forschung und der
allgemeinen Phantasie noch ebenso fremd, als Raum und Zeit nach Kantischen
Begriffen. Vor solchen historischen Stoffen steht der Künstler wie vor einer
starren Masse, der er mühselig von außen den Lebenshauch erst einblasen muß,
statt daß sie aus sich selber bewegt ihm lebendig entgegenkommt. Diese
Schwierigkeit ist mit die Schuld, daß er gegenwärtig zwischen zwei entgegen¬
gesetzten, gleich einseitigen Richtungen hin- und hertreibt. In der einen hält
er sich an das Aeußerliche der Geschichte, an ihr Kleid, die malerische Er¬
scheinung ihrer Trachten und Geräthe und an die Haut gleichsam ihrer Indivi¬
duen: der neueste Realismus. In der anderen holt er die Gestalten und Bil¬
der der Mythe, welche die Kunst als abgethan eben erst zur Seite gelegt hat,
als einen ihm geläufigen Apparat wieder hervor, um das, was er in seiner
eigenen Erscheinung nicht recht sassen kann, wenigstens annähernd durch die
noch immer denkbaren Figuren einer vergangenen Phantasiewelt zu verbildlichen.
Diese Richtung, mit der wir es hier zu thun haben, hat bekanntlich Kant<
da et ausgebildet. Ader weil jene Welt nicht mehr im Künstler wirksam ist
und ihre Gestalten zum leeren Zeichen herabgesetzt sind, werden sie nur noch
wie ausgehöhlte Schemen aussehen, wie die abgezogenen Hüllen, die Tricots
einer längst begrabenen Götterwelt. Der Meister, der sich berufen fühlte, die
monumentale Kunst unseres Zeitalters im Berliner Treppenhause zu vertreten,
war ganz dazu angethan, durch die ebenso unwahre als unreine Vermischung
der mythologischen mit der wirtlichen Welt beiden gleich übel mitzuspielen.
Ihm fehlte ebenso sehr der ächte historische Sinn, als die Empfindung für die
stillen Gestalten einer ächten künstlerischen Phantasie. Der Maler früherer Zeiten,
glücklicher Kunstperioden verband heiter und harmlos die Geschichte mit der
Mythe; denn eben dieses Jneinanderspielen der realen in die Phantasiewelt
und umgekehrt lag in der Anschauung jener Zeitalter. Allein die Gegenwart
denkt anders, sie hat die Seele des Lebens und der Geschichte ganz in das
Diesseits verlegt, im Reich der Mythe das bloße Spiegelbild des menschlichen
Innern erkannt, das daher nur noch wie ein Phantom vor dem geistigen
Auge steht. Will uns der Künstler diese idealen Gestalten um ihrer Schönheit
willen zurückrufen, gut. wenn er sich für. sie begeistern und uns diese Begeiste¬
rung mittheilen kann; aber er vermische beide Kreise nicht, und will er uns Ge¬
schichte malen, so suche er nicht durch diese Schemen des „oberen Stockwerkes"
für die nichtssagende Hölzernheit seiner auf der Erde sich umtreibenden
„historischen" Personen einen Ersatz zu geben. In der That ein bequemes
System, an die Gespenster in der Luft gewissermaßen die Schönheit, an die
irdischen Figuren den geschichtlichen Charakter zu vertheilen und durch die Be¬
ziehung beider in das Ganze eine Art Seele zu bringen. Nur Schade, daß
von den drei Zwecken kein einziger erreicht wird; denn eben weil der Künstler
den Stoff nicht in seinem eigenen Wesen zu fassen vermochte, fehlt es den
Theilen, wie dem Ganzen an der Hauptsache: am Leben. So wird die Schön¬
heit zum leeren Formenspiel. der geschichtliche Eharalter zur Carricatur, die
„seelenvolle" Beziehung zum launenhaften, im besten Falle geistreichen Ver¬
knüpfen zweier Gcstaltcnkreise. die sich im Grunde ausheben.
Dies also die eine Gefahr, ber das neue Unternehmen ausgesetzt ist.
Diese Klippe, an welche die moderne Kunst gleich bei ihrem ersten Schritte an-
prallt, konnte wohl dem Mann der Wissenschaft, dem Aesthetiker entgehen,
der sich in das künstlerische Empfinden nicht versetzen kann und das dunkle
Bild, das ihm von diesem oder jenem Vorgang in der Seele schwebt, für
einen malerischen Vorwurf nimmt. Allein die ächte Künstlernatur hätte sie
fühlen, vor der Sprödigkeit. welche der weltgeschichtliche Stoff vorab in jener
innerlichen Bedeutung für die gestaltende Phantasie hat. zurückschrecken müssen.
Ihr wäre die Aufgabe undankbar, ja unausführbar erschienen. Nicht so dem
*
Meister Kaulbach. Einerlei, ob der Plan zu dem Gemäldecyklus seinem Kopfe
entsprossen ist, oder ihm gegeben wurde: genug, daß er ihn mit beiden Händen
ergriff. Es hat im Grunde etwas Komisches, daß die Kunst es unternahm,
das Gesetz des welthistorischen Fortschritts dem romantischen König zu Berlin,
der es durch seine eigenen Handlungen unausgesetzt verletzte, ni noulos zu de.
monstrircn. Indessen Kaulbach war der Mann dazu, die Sache, wenn auch
nicht auszusinnen, doch auszuführen. Er verstand die Zeit und die seltsame
wissenschaftliche Selbstgefälligkeit, die ihr eigenthümlich ist: die eben erst ent¬
deckten Ideen auf monumentalen Manerfläche» sich ausbreiten zu sehen, mußte
dem Geschlecht imponiren. Was lag daran, wenn auch hier und da in der
Wahl des Stoffes neben das Ziel geschossen war? ob das Object von welt¬
geschichtlicher Bedeutung auch erscheinen, malerisch erscheinen konnte, wen« nur
der Beschauer erstaunt den Blick von der irdischen Gruppe zur himmlischen,
und von der himmlischen zur irdischen wander» ließ und in dieser anmuthigen
Abwechslung seinen Kopf wirbeln fühlte? Und diese Mythenwclt, welche in den
Hauptbildern die obere Region ausfüllt, die sich außerdem in den Nebenbildern
in eine Anzahl personificirter Begriffe umgesetzt hat, sie hat, wie die dunkle
Sage geht, noch einen'tieferen Sinn. Sie soll zugleich den inneren, unfa߬
barer, verborgenen Fortgang, „den rothen Faden" der Geschichte zur An¬
schauung bringen. Man sieht, Kaulbach wird um so gelehrter, je weiter er
von der Kunst sich entfernt. War's da noch wunderbar, daß eine gewisse
Kunstgelehrsamkeit für ihren Mann einen eigenen Stil entdeckte, dem sie den
prunkenden Namen des „symbolisch-historischen" gab?
Das andere Bedenken, das dem Unternehmen entgegenstand, ist ein Uebel,
an dem die gegenwärtige Kunst überhaupt leidet, das alvr da, wo es sich um
monumentale Aufgaben handelt, am fühlbarsten hervortritt. Um es lenz zu
hageln die deutsche Kunst des neunzehnten Jahrhunderts hat keine rechte Schule
durchgemacht, sie hat nicht genug gelernt. Das unerquickliche Thema aus¬
zuführen, ist hier nicht der Ort; aber auch dem oberflächlichen Auge kann nicht
entgehen, wie seit dem Beginne des Jahrhunderts unsere Malerei ein immer
neues Ansetzen zu Versuchen aller Art ist, wie sie die verschiedensten Einflüsse
bald von fremden Kunstweisen, bald aus früheren Perioden in sich ausnimmt,
ohne auch nur ein Element der Darstellung, das sie sich anzueignen sucht,
gründlich zu verarbeiten. Noch jede Kunst, die zu einer selbständigen Bedeu¬
tung gelangt ist, hat entweder, von der Pike auf dienend, eine langsame, ste-
tige Entwickelung durchlaufen oder die reife Frucht einer großen vorange-
gangenen Kunstepoche als bildendes, belebendes Element in sich aufgenommen.
Die bildende Kunst ist Darstellung, d. h. gestaltete Erscheinung des Lebens;
also ist die richtige Anschauung der Form (im weitesten Sinne des Wortes),
welche der möglichst vollendete Ausdruck des Lebens ist, die erste Bedingung
aller Kunst. Und diese ist es, welche die jüngere Kunst von der älteren zum
freien Gebrauch sich aneignen kann, ohne deshalb an der Selbständigkeit ihrer
Empsindungs- und Vorstellungsweise Schaden zu leiden. So hat die Kunst
der Renaissance zur Antike zurückgegriffen und die unvergängliche, plastische
Anschauungsweise der Alten zum freien, lebendigen Ausdruck ihrer mehr male¬
rischen Phantasie und ihrer Ideenkreise umzubilden gewußt. Die altdeutsche
Kunst freilich mit ihrer fast eigenwilligen Vorliebe für das tiefinnerliche, in sich
verhaltene Leben ist in allmähligen Gange zu ihrer Höhe nur.aus sich selbst
gekommen; aber ihren bald harten, bald phantastischen Gestalten fehlt doch auch
die Freiheit und letzte Vollendung der Schönheit.
Ueber die Art und Weise, wie die jüngere Kunst von der älteren lernen
soll, kann kein Zweifel sein. Nicht um ein Nachahmen der eigenthümlichen
Erscheinungsweise handelt es sich, ebensowenig um ein äußerliches Absehen ge¬
wisser Kunstgriffe und Fertigkeiten, sondern darauf kommt es an, daß die
neue Kunst an der Art sich bilde, wie in den vollendeten Denkmalen der clas¬
sischen Zeiten die natürliche Form und Erscheinung künstlerisch angeschaut, wie
in ihnen die Natur ungetrübt in dem vollen Ausdruck ihrer schöpferischen Kraft
festgehalten, von innen heraus frei und lebendig bewegt ist. In dieser An¬
schauung und Gestaltung, welche die Natur aus der künstlerischen Phantasie
neu hervorbringt, liegen die ewigen Gesetze der Kunst. Sie machen die Ele-
mente der Bildung aus, welche die junge Kunst sich als die Mittel erwerben
soll, um das, was ihre eigene Phantasie bewegt, zur schönen Erscheinung zu
bringen, um ihre eigene künstlerische Welt aufzubauen. Geht sie auf diese
Weise bei der älteren in die Schule, so versteht sich ganz von selber, daß sie
zugleich mit Ernst und >Liebe die Natur zur Lehrerin nimmt. Die ächte
Rückkehr zu den Alten ist immer zugl eich die zur Natur gewesen. Der Künstler
soll an den Meisterwerken lernen, wie die Natur in mustergültiger Weise auf¬
gefaßt und gestaltet wird: er muß also auch um das Verständniß der Natur
sich ernstlich bemühen.
Daß der Durchgang durch eine solche Schule ein gründliches Studium
voraussetzt, und daß durch dieses allein der Künstler seiner Phantasie die wahre
Freiheit gibt — das ist eine Bemerkung, die überflüssig scheinen könnte, wenn
nicht gerade in der Mißachtung dieses einfachsten Gesetzes die deutsche Kunst
durch einen knabenhaften Uebermuth sich auszeichnete. Sie gerade hat den
verkehrtesten Weg eingeschlagen. Seit fünfzig Jahren wandert sie über die
Alpen, seit fünfzig Jahren müht sie sich in den Akadcmiesälen an den Gyps-
abgüssen classischer Gestalten ab. Aber es fehlt von vornherein am wahren
Jut»resse. am liebevollen Eingehen, dem Verständniß für die schöne Formen-
welt, die uns bessere Zeiten der Kunst überliefert haben. Es fehlt den jungen
Talenten an der Bescheidenheit tüchtiger Naturen, die von dem Gefühl durch-
drungen sind, daß sie, um etwas zu sein, erst werden, lernen, an den Vor¬
bildern wachsen müssen. Die Zustände, die wir hier nur berühren können,
wären einer näheren Beachtung werth. Mit der Eilfertigkeit, die wir an dem
Jahrhundert gewohnt sind, ging die neue Kunst, nachdem sie kaum die Kinder¬
schuhe ausgetreten, an die Darstellung einer in bisher ungekannter Weite er¬
schlossenen Stoffwelt, in die sie sich dann auf Zureden einer voreiligen Kriiik
immer tiefer verrannte, ohne sich zu besinnen, ob ihre ungeschickte Hand auch
wohl im Stande wäre, die spröde Materie in den Fluß der Gestaltung zu
- bringen. Wußte der Figurenmaler doch nicht einmal, wie der menschliche
Kopf auf Hals und Schultern sitzt, wie in der Verbindung der Flächen die
Form, in den Uebergängen der Gelenke die Bewegung erscheint, wie der Kör¬
per nur durch die Kraft des innerlichen Baues zusammenhängt. Aber kam es
auch darauf an? Ueber derlei Dinge fühlte sich der Maler durch die Größe
seines Stoffs hinaus.
Man war mit der Antike, wie mit der Kunst des Cinquecento fertig.
Gibt es doch ganze Richtungen, welche geradezu den überlieferten Meisterwerken
den Rücken kehren, um an ihrer Originalität keinen Schaden zu leiden! Arm¬
selige Phantasie, die sich vernichtet glaubt, wenn sie gut sprechen lernt, weil
sie dann nur noch nachplappern konnte! — Aber auch diejenigen, welche es
noch der Mühe werth halten, an die Beschäftigung mit der alten Kunst ein
paar Jahre zu wenden, bleiben an der Oberfläche haften und kommen über
ein halbes, ungefähres Verständniß nicht hinaus. Warum? Weil es an dem
fortlaufenden Zusammenhang der Schulen fehlt, an dem Verhältniß von Mei¬
stern und Jüngern, an der richtigen Ueberlieferung, welche fortschreitend von
dem älteren zum jüngeren Geschlechte immer tiefer in das Wesen der Kunst ein¬
dringen würde. Von einer eigentlichen Schule, wie sie fast jeder Maler des,
Cinquecento durchgemacht hat, zeigt uns die junge Kunst in Deutschland viel¬
leicht nicht ein Beispiel. Was der junge Künstler in den dumpfen Stuben der
Akademie gelernt hat, das todte Spiel der Nachahmung unverstandncr Formen,
das schüttelt er ab mit dem ersten Schritt, den er ins Freie thui, falls ihm
ein Rest frischer Phantasie noch geblieben ist; oder er schleppt es zeitlebens als
Maske mit sich, die er allen seinen Gestalten anklebt. So pilgert er mit Kalb
betäubten, statt mit geweckten Sinn nach Italien, macht ein paar Copien,
schüttelt dann, in die Heimath zurückgekehrt, den Staub von den Füßen, damit
seine schwachen Erinnerungen classischer Kunst und wird ein Meister auf
eigene Hand. An einer noch zu bemalenden öffentlichen Wand wird's wohl in
den dreiunddreißig Staaten auch nicht fehle», und Deutschland hat das Glück,
das halbe Hundert Raphaels endlich voll zu sehen.
Daher denn überall das Herumtasten, Probiren, Experimente aller Art,
die verschiedensten Manieren. Die geschlechtslose, hermaphroditische Kunst
blüht nie üppiger als in solchen Epochen. Daher überall ein nur nahezu
menschliches Aussehen der Figuren, die Verzerrtheit oder Mattigkeit des Aus¬
drucks, ein kraftloses Linienspiel, die Gespreiztheit der Gruppirung, die Süßig¬
keit eines pvrcellcmcnen Colorits oder die verschwommene Lästigkeit eines un¬
fertigen, über das Ganze gestrichenen „Tons". Daher endlich die Zerfahrenheit
der Richtungen, der Mangel an Entwickelung, ein unaufhörliches Bor und
Zurück, daS Charakterlose einer mit allen Darstellungsweisen liebäugelnden
Kunst, die schwächliche Geilheit einer TreibhauSproductiv». Und an allen diesen
Uebeln leidet namentlich die Historienmalerei.
Wir scheinen von Kaulbach weit abgekommen, doch haben wir ihn mehr
in der Nähe, als es auf den ersten Blick scheinen möchte. Was die Kunst unsrer
Zeit vermag, das wird sich an den Wänden des Treppenhauses zeigen müssen.
Ein Gestaltenkreis, der den classischen, wie den romantischen Menschen umfaßt,
das schöne Heidenthum, die image Christenheit-, eine ganze Welt in Formen
und Farben. Aber gleich anfangs kommt uns ein gegründeter Zweifel auch
an dem Korne» Kaulbachs. Der Kaulbachsche Genius steigt nicht gern in die
Tiefe und Wärme der farbigen Erscheinung herab, in der Herausbildung seiner
Entwürfe zum vollen Schein des Lebens erlahmt sein Flügelschlag. Daß ein
Michel Angelo in seiner sixtinischen Kapelle nicht eine fremde Hand duldete, daß
ein Raphael in den Stanzen des Batitan nur in den Bilder», die er selber
bis zum letzten Strich vollendet hat, wirklich Raphael, in den andern dagegen
unter den plumpen Fingern selbst der geschickteste» Schüler »»kenntlich geworden
ist: was kümmert das eine» Kaulbach! Seine Cartons sind unsterblich; sie an
den Mauern in einem beliebigen bunte» Gewände für die Nachwelt zu fixiren.
überläßt er den Hände» von Schülern. Es ist doch endlich an der Zeit,
das von der Aesthetik gehätschelte Bvrurtheil abzulegen, daß ideale Kom¬
positionen der Ausführung, des lebendigen Farbenscheiues im Grunde nicht
bedürften, daß sie in der Zeichnung, im Schwung der Linien den gemäßen
Ausdruck fänden. E>» Anderes ist, das harmonische Spiel, den Dust, die
Gluth des Colorits zur Hauptsache mache», el» Anderes, de» Gestatte» der
Kunst die einfache, aber lebendige Bollcnduug der Farbe gebe». Die einzige»
Maler, die es wirklich vermocht haben, ideale, große Borsteljunge», i» denen
ebensoviel geistige Tiefe als bildende Phantasie ist, so naturwahr auszudrücken,
daß mit der Erscheinung zugleich der Gedanke in die Seele des Beschauers
schlägt, daß sie vollkommen so wirkt, wie der Künstler sie empfunden hat —
Leonardo da Buici und namentlich Michel Angelo haben ihre Werke entweder
selbst vollendet oder unvollendet gelassen. Gerade deshalb wirken die Gemälde
der Sistinadecke, i» de»e» Michel Angelo dem biblische» Stoff el»c große
Lebensanschauung zu Grunde gelegt hat, so wunderbar, weil die Motive i»
der ursprüngliche» Tiefe ihrer ewigen Bedeutung gedacht, zugleich ganz in die
warme Fülle des Daseins hinausgeführt sind, den Zug mächtiger Natur baben.
Dazu gehört freilich die eingeborene geniale Anschauung, die Vollendung der
Form, die Meisterschaft der Behandlung. Jene Entdeckung der modernen Aesthe¬
tik erklärt sich im Künstler ganz einfach nicht sowohl durch ein Verzichten aus
die Sinnlichkeit des Kolorits, als durch ein Nicht-Können. Ist aber zu fürchten,
daß das zarte Kind einer nur von „Ideen" erfüllten Phantasie unter der Wucht
der farbigen Erscheinung ersticke — nun, so wäre besser, die Puppe wäre
überhaupt nicht geboren.
Indessen wir wollen die Kunst des neunzehnten Jahrhunderts nicht mit
dem Maßstab des Cinquecento messen; der Vergleich möchte ihr das schwache
Lebenslicht vollends ausblasen. Nehmen wir unsere Meister, wie sie sind,
halten wir uns an die Seiten, die sie selber als ihre besten rühmen; bei
Kaulbach also an die Entwürfe, die Cartons und an das, was ihre Eigen¬
thümlichkeit ausmacht: die Erfindung, Auffassung und Zeichnung. Hier haben
wir es ohnedies nur mit einem Carton zu thun, dem neuesten Werk des Kunst'
ters, dem „Zeitalter der Reformation"; das Gemälde, als Abschluß jenes
Cyklus, soll erst noch ausgeführt werden. Und da durch die Ausführung ein¬
gestandenermaßen der gezeichnete Entwurf nicht gewinnen, höchstens verlieren
kann, so darf die Kritik um so ungcscheuter nach diesem urtheilen. Nur noch
einige vorläufige Worte über die Eigenschaften, welche Kaulbachs Stärke in
der Zeichnung ausmachen sollen. Alle die Merkmale herzunenne», welche den
modernen Apelles und Polygnot in einer Person bezeichnen, ist überflüssig:
sie sind uns sattsam aufgezählt worden. Auch läßt sich schon in Kaulvacbs
erstem namhaften Bilde, der Hunnenschlacht, das sein bestes war und geblieben
ist, die wahre Natur seines Talentes nachweisen: das wirklich Künstlerische i»
seiner lebhaften und erfinderischen Phantasie, welche leicht und wie im Fluge eine
Menge Ideen in einen gewissen Fluß zu bringen weiß, das Anmuthige mit
dem Bedeutenden zu verbinden und gleich sehr durch den Reiz des Linienspiels,
wie die überraschende Gewalt des Ausdrucks zu wirken, sucht. Allein ebenso-
sehr das Uebermaß einer Phantasie, die nicht fertig werden kann, die nicht
sowohl aus productiven Drang überquillt, als mit Absicht auch den entlegensten
Inhalt des Stoffes herbeizieht, Gestalten auf Gestalten, Beziehungen auf Be¬
ziehungen häuft und plötzlich mit dem Gegenstände, mit dem es ihr so ernst
schien, nur spielt, weil dem Künstler für die eigentliche Sache, das Herz fehlt;
und zugleich eine merkwürdige Stumpfheit für das Wesentliche in der Kunst,
für das einfache Leben der aus der künstlerischen Anschauung wiedergeborenen
Statur, die Vollendung der Form, die anspruchslose Größe oder Anmuth der
Erscheinung. Daher die Ueberfülle der Komposition, der es am einigenden Mittel¬
punkt fehlt, die Uebertriebenheit des Ausdrucks und der Bewegung neben ge¬
suchter Grazie, die schwammige Behandlung der Körper und doch das steinerne,
Einförmige der Typen: eine nicht unbedeutende Geschicklichkeit, ein gewisses
Talent, aber nirgends eine wahre künstlerische Empfindung und ein solides
Können. Diese Eigenschaften, wie diese Mängel scheinen nun gerade in der
Stoffwelt, in der sich Kaulbach bisher und namentlich in Berlin bewegt hat,
ein günstiges Feld gesunden zu haben. Bei allen Motiven, die er dort behandelt
hat, lieh sich mit dem Realen das sagenhafte leicht vermischen, sich der Be¬
stimmtheit wirklicher Erscheinungen ausweichen, sich Alles mehr oder minder
in den luftigen Kreis eines „idealen" Gestaltenreiches hereinziehen. Mit der
Reformation dagegen betritt er ein neues Gebiet: und nun wollen wir sehen,
wie seine Phantasie die Härte der geschichtlichen Realität, der sie nicht mehr aus
dem Wege gehen kann, überwindet, wie sich auf diesem Felde sein gestaltendes
Vermögen zurechtfindet.
Wie man auch über die historische Bedeutung der von Kaulbach bisher
gewählten Momente denken mag: darüber kann kein Zweifel sein, daß die Re¬
formation den Wendepunkt zwischen der mittleren und neuen Zeit bezeichnet.
Wenn der Künstler in der Auswahl der „weltgeschichtlichen" Stoffe bis
jetzt wenig historischen Sinn bewiesen hat, so ist ihm um so höher anzu¬
rechnen, daß er seinen neuesten Vorwurf gegen die kleinlichen Kabalen, mit
denen man vom privilegirten Sitz der Aufklärung aus sich dagegen stemmte,
durchzusetzen wußte. Freilich wäre das Berliner Unternehmen für immer mit
dem Mal der Lächerlichkeit gebrandmarkt gewesen, wenn man in einer Dar¬
stellung des weltgeschichtlichen Lebens der Reformation ihre Stelle verweigert
hätte. Auf dem Motiv zu bestehen, war daher dem Künstler sowohl durch sein
eigenes Interesse, als durch die Sache geboten. Auch scheint die neue Auf¬
gabe Bedingungen zu enthalten, die seinem Talente eine neue und vielleicht
glücklichere Richtung geben könnten. Der Umschwung der Dinge, welcher die
Reformation bezeichnet, ist jedem Gebildeten gegenwärtig; die frische Strömung
des wieder erwachenden Geistes, welcher jene Epoche durchzieht, die glückliche
Stimmung, mit welcher er von der Erde Besitz ergriff, um von nun an die Welt
mit sich in Einklang zu bringen, empfinden wir um so lebhafter, als sie auch
in uns noch fortwirken. Das neunzehnte Jahrhundert hat entschiedener als jedes
andere das Erbe des sechzehnten angetreten. Demgemäß stehen auch Personen
und Ereignisse zum Theil wenigstens in lebendiger Deutlichkeit vor uns. die
Erscheinungsweise der Männer, welche an der Spitze der Bewegung, ist durch
treffliche Bildnisse bis auf unsere Tage gekommen, und selbst die Culturformen,
die Denk- und Lebensart jener Zeit sind uns nicht fremd geblieben. Dem
Künstler kann dies Verhältniß nur zu Gute kommen. Hier hat er nur eine Welt vor
sich, zu der er sich hingezogen fühlt und die- ihm als eine charaktervolle, deut¬
lich ausgeprägte Wirklichkeit gegenübersteht.
Indessen faßte sich naturgemäß die reformatorische Bewegung des sechzehnten
Jahrhunderts nicht in ein bestimmtes Ereignis; zusammen. Es war eine Welt¬
umbildung, die sich aus allen Gebieten des Lebens — und nicht mit einem
Male — vollzog. Jeder derartige Umschwung schlägt wohl vorab in den Grund
alles geistigen Lebens, in die Religion, erschütternd ein und erhält daher von
dieser Veränderung sein Hauptgepräge; aber dieser Schlag ist vorbereitet
sowohl als begleitet von einer Umgestaltung im ganzen Umkreise des Cultur- und
öffentlichen Lebens. So lag im Bruch mit dem hierarchischen und scholastischen
Mittelalter eine Rückkehr des Geistes zu sich selbst und zur Natur, die sich nach
allen Seiten bethätigte. Der Humanismus entdeckte im Alterthum eine Welt,
die ihm mit der Vollendung eines zur Freiheit schon entwickelten Geistes ent¬
gegentrat, und lernte von ihr die Freiheit des eigenen üben, die neue Bildung
aufbauen. Mit dem Verständniß der griechischen Philosophie ging dem Denker
zugleich der Sinn für das geheimnißvolle Leben der Natur auf. Die bildende
Kunst führte — nicht ohne Hülfe der Antike — die Gestalten des Glaubens
zu schöner Menschlichkeit heraus und nahm ihnen so den blendenden Nimbus
der Jenseitigkeit, die Jahrhunderte lang um das menschliche Auge eine Binde
gelegt hatte. Die Erde selber erschien dem Menschen wieder als seine ächte
Heimath, und der Trieb erwachte, auch ihre unbekannte Hälfte als seine Domäne
in Besitz zu nehmen; zugleich entdeckte er ihre Stelle und Bewegung im Welten¬
system. In der Natur endlich sah er nicht mehr die bloße ihm feindliche Crea-
tur, sondern, da er ihr nun frei gegenüberstand, ein Reich von Kräften und
Stoffen, das er nur zu erforschen brauchte, um es sich dienstbar zu machen:
Naturforschung und der entdeckende, erfindende Sinn reichten sich die Hände.
Und wie sich im religiösen Leben der Geist von jedem Gängelbande der Auto¬
rität losriß, um nur nach dem geprüften Wort der Schrift und nach der innern
Gesinnung zu leben, so sagte sich die neue Philosophie in ihren Begründern Bacon
und Cartesius von allen Vorurtheilen und hergebrachten Meinungen los, um mit
der Selbstgewißheit der Erfahrung oder des Denkens neu anzuheben. Allein
mit allen diesen Richtungen ist der Kreis der neuen Bewegung noch nicht ge¬
schlossen. Die Weltereignisse, welche die Reformation zur Folge hatte, die
Wirkung, welche sie als die nationalste That des deutschen Volkes insbesondere
auf dessen Schicksale ausübte, überhaupt ihr Verhältniß zum politischen Leben
sind ebenso wesentliche Momente als ihre geistigen Verzweigungen.
Ein Aufschwung also, der die Mannigfaltigkeit einer ganzen Welt in sich
faßt, dessen verschiedene Ausgangspunkte mehr als ein Jahrhundert auseinander¬
liegen. Die Beschränkung auf ein bestimmtes Ereigniß war bedenklich; zudem
ließ sich von Kaulbach nichts Anderes erwarten, als daß er den Stoff in seiner
möglichsten Vollständigkeit geben würde. Eine geschichtliche Form aber, in der
auch nur einige jener Mächte auftreten würden, ließ sich nicht finden; auf
Geschichte im eigentlichen Sinne mußte daher auch hier verzichtet werden. Es
handelte sich darum, eine ideale Form zu finden, in welcher die Vertreter jener
verschiedenen Lebenskreise zu bezeichnenden Gruppen sich verbinden und ihr
innerer Zusammenhang durch die Anordnung zum Ausdruck kommt. Und hier¬
für fand sich ein treffliches Vorbild! die Schule von Athen.
In dieser hat Raphael unternommen, die Hauptzüge der griechischen
Philosophie und Wissenschaft in ihren hervorragenden Repräsentanten darzu¬
stellen: diese in einem idealen Raum versammelt, erhaben gleichsam über die
Noth und den Zufall des geschichtlichen Daseins, in ihrer Größe und unver¬
gänglichen Wirksamkeit vereinigt. Der Gegenstand war ihm nicht so fremd,
als es scheinen könnte, möge ihm immerhin der Graf Castiglione oder Pietro
Bembo die leitenden Gesichtspunkte an die Hand gegeben haben; in jener
Zeit, da das Alterthum sich frisch dem Geiste erschloß, die Kunst an der Antike
groß wurde und der gebildete Italiener für Plato schwärmte, lag das Interesse
für griechische Gedanken und Anschauungen in der Atmosphäre der allgemeinen
Bildung. Daher konnte es der Meisterschaft Raphaels gelingen, jene Ge¬
stalten in ihrer großen Ursprünglichkeit aufzufassen und in der einfachen, mo¬
numentalen Anordnung ihre geistige Bedeutung wenigstens annähernd aus¬
zudrücken. Die architektonische Umgebung, eine Halle im edlen Stil des Bra-
mante, die mit der klaren Ruhe der Antike den Reichthum der Renaissance ver¬
bindet, gibt den passenden Raum ab für die ideale Versammlung. Plato und
Aristoteles, sicher und groß dastehend, nur leicht bewegt, durch einfache Ge¬
berden den Inhalt ihres Gesprächs andeutend, bilden mit dem Chor ihrer
Zuhörer den festen Mittelpunkt, zu dem der Lichtgang und die Linicnordnung
der verschiedenen Gruppen das Auge immer wieder zurückführen. In freierer
Bewegung hat sich links anschließend die sokratische Schule mit ihrem Lehrer
versammelt, rechts in bezeichnenden Stellungen und Gegensätzen die späteren
Philosophen. Zu diesen im oberen Raum Vereinigten, den eigentlichen Ver¬
tretern der Philosophie, leiten die im unteren Theil der Halle angeordneten
Gruppen in anmuthigem Flusse den Blick hinauf, links die schweigsame Gesell¬
schaft der Pythagoräer, rechts Archimedes — Bramante mit seinen Schülern
und den Astronomen. Die Mitte des Vordergrunds ist sreigeblicben. Auf den
Stufen liegt (im Mittelgrunde) allein und selbstgenügsam Diogenes, während von
ihm weg ein vornehmer Epikuräer leichten Schrittes hinaufschreitet; auch diese
Figuren führen zum Mittelpunkte zurück. Auf das Einzelne einzugehen, ist
hier nicht der Ort: sonst ließe sich leicht zeigen, daß sich besser die Aufgabe,
ein Bild vom geistigen Leben der Griechen zu geben, nicht lösen, einfacher und
anschaulicher die Sache nicht darstellen ließ. Nicht darin zeigt sich das Ver¬
ständniß der Auffassung, daß im Detail und Kostüm das Alterthum genau
wiedergegeben, der eine und andere Kopf nach antiken Büste» gebildet ist;
sondern darin, daß der Künstler seinen Stoff in wenige klare Gruppen aus-
einandergelegt, diese in rhythmische Beziehung gesetzt und über das Ganze die
eigenthümliche Stimmung, gleichsam den Hauch geistigen Lebens ausgebreitet hat.
Und dennoch: nicht blos war schon alsbald nach dem Tode Raphaels
das Verständniß des Bildes ganz verloren, wie aus Vasari sowohl als aus
dem Kupferstich des Giorgio Mantuano (die Unterschrift legte es als eine Dar¬
stellung der Predigt des Apostel Paulus in Athen aus) von 1SS0 erhellt, nicht
blos schwanken auch heutigen Tages noch die Erklärungen, von denen die eine
am liebsten den vollständigen Entwickelungsgang der griechischen Philosophie
herauslesen möchte; sondern — und das ist das Schlimme — der Beschauer
muß, wenn er ehrlich und vom Interesse für den Inhalt nicht befangen ist, sich
gestehen, daß ihn die Totalwirkung als Ausdruck eben dieses Inhalts kalt
läßt. Dieser gehört nun einmal dem Reiche des Gedankens an, und Raphael
mußte zur symbolischen Geberde greifen, um auszudrücken, was seine Personen
bewegt. Ein solches Geberdenspiel aber, statt den Ausdruck des natürlichen
Lebens zu steigern, hebt ihn vielmehr durch den Zusatz des Künstlicher und
Gemachtem wieder auf: die vorgeführten Gestalten treiben dies Wesen nur
scheinbar, und der Eindruck geht verloren. Auch die ideale Welt, die uns der
Künstler aus seinem Geiste aufbaut, muß Wirten wie die Natur und daher den
vollen Wurf des Lebens haben: was sollen aber diese Figuren, die in den
unbequemsten Stellungen mathematische Probleme lösen, an Säulen gelehnt
auf den Knieen schreiben, auf man weiß nicht woher geholte Steinblöcke sich
stützen? Die mit einem erhobenen Arm die Macht der Idee, mit einem zur
Erde gestreckten die der Wirklichkeit beweisen? So unbequem, so zubereitet, so
hergerichtet, lebt sichs hoffentlich im Reich der Geister nicht. Die Seele,
welche diese Welt treibt, kann eben der Maier nicht packen. Er sucht sie zu be¬
schreiben, anzudeuten, in diese oder jene Bewegung zu fassen; doch der leicht¬
geflügelte Gedanke ist seinen Händen schon entschlüpft, da er eben meint, ihn
festzuhalten, und der Beschauer erwartet nun vergebens, daß er ihm belebend
aus dem Bilde entgegenschlage. Wie ganz anders wirkt da die Vertreibung
des Heliodor, in welcher der Künstler den lebendigen Moment der Handlung
ganz in seine Gestalten goß! Indessen, nicht zu vergessen: man kann dennoch
an der Schule von Athen seine Freude haben, wenn man sich an die Voll¬
endung der Körper, den Reiz des Malerischen, den Rhythmus der Linien hält.
Auch da, wo ein Raphael nicht das Höchste erreichte, weil er den vollen Ein¬
klang der Erscheinung mit ihrem innern Leben nicht zu fassen vermochte,
wirkt noch die Meisterschaft der äußeren Darstellung. Und dann sind es doch
immer Menschen von einem großen Schnitt, wahrhaft schöne Gestalten, die er
uns vorführt, während durch die Klarheit und das Ebenmaß der monumentalen
Anordnung auch das Ganze nicht ohne Wirkung bleibt.
Und Kaulbach? Wird er die Klippe umgangen haben, an der Raphael
nicht vorbei konnte? Nun, wir werden das nicht von ihm erwarten. Ihn auch
nur mit Raphael vergleichen, also mit einem Maßstabe messen zu wollen, für
den er von vornherein zu kurz befunden würde, wäre ungerecht. Sehen wir
zu, was er nach seinem Vorbilde erreicht hat, und wenn es ihm auch nur
halbwegs gelungen ist. seinem Stoss eine künstlerische Seite, ein monumentales
Ganze von lebendigen Gestalten abzugewinnen, wird >sich die deutsche Kunst
zu dem neuen Product nur Glück wünschen dürfen.
Zunächst läßt sich allerlei gegen die Auffassung sagen*), und wenn wir
auch sonst nicht viel Gewicht darauf legen, ob der Künstler den geschichtlichen
Stoff richtig verstanden hat, so darf man doch bei Kaulbach, der ja aus eine
geistvolle und erschöpfende Behandlung seiner Vorwürfe sich nicht wenig zu
Gute thut, wenigstens beiläufig darnach fragen. Der Künstler hat die Bewe¬
gung des sechzehnten Jahrhunderts lediglich in ihrer positiven Einwirkung auf
Cultur und Geschichte betrachtet und ihre Vertreter friedlich in .einem gothischen
Dome versammelt: nebenher bemerkt ein seltsamer Ausenthalt für die Männer
der Reformation, denen es vor Allem auf Befreiung von der Kirche ankam,
ein sonderbares Stelldichein für Naturforscher und Philosophen. Wir wollen
dabei nicht verweilen, daß eine Darstellung jenes Zeitalters doch nicht so ganz
von dem Momente der Opposition und des Kampfes absehen sollte, da doch
der Bruch mit der abgängigen Weltordnung im Wesen jedes neuen Aufschwunges
liegt. Dagegen müssen wir uns gegen die im Grunde pfäffische Auffassung
verwahren, mit der Kaulbach die Menschen einer von Gewaltsamkeit und Fehde
erfüllten Zeit, eherne,.leidenschaftliche Naturen, denen es vor Allem um Selb¬
ständigkeit auf eigene Faust zu thun war, knieend und das Abendmahl empfan¬
gend um die Reformatoren versammelt. Selbst der treuherzige und religiöse
Churfürst Johann, der sittlich strenge Johann Friedrich hatten in ihrem ent¬
schlossenen und thatkräftigen Wesen etwas Derbes, das unter dieser frommen
Hülle ganz verloren geht. Wie aber paßt erst ein Moritz von Sachsen hierher,
der ganz in seine politischen Ränke und in das Leben des Tages aufging! Nichts
Besseres weiß uns Kaulbach von den protestantischen Fürsten und den wohl-
gemuthen Städtern, die sich an die Spitze der Bewegung, einer Weltmacht
entgegenstellten, zu berichten, als daß sie das Abendmahl in beiderlei Gestalt
nahmen? Freilich, die Herren sind auch darnach: so weit sich in der nebel¬
haften Ferne die Köpfe erkennen lassen, sehen sie ganz so nichtssagend und
beschränkt aus, wie man nur heutigen Tages bei derlei Gelegenheiten aus¬
sehen kann. Und wie dumpf, wie schwül, wie weihrauchartig muthet uns der
geschlossene Hintergrund an, in den das Licht nur wie verstohlen fällt, statt
sich auf eine solche Gesellschaft in vollen Strömen zu ergießen! Wie ganz
anders, wie weit geht Einem das Herz auf, wenn man in die große, ins
Freie geöffnete Halle der Schule von Athen sieht! — Uebrigens hätte sich von
den übrigen Anwesenden wohl erwarten lassen, daß sie mit etwas mehr Pietät
und Aufmerksamkeit der feierlichen Handlung beiwohnten. Kein Mensch achtet auf
die heilige Scene, nicht einmal die nächststehenden Elisabeth und Gustav Adolph:
Melanchthon ausgenommen, der vom untern Theil der Kirche, wo er gerade
Geschäfte halber sich aufhält, doch auf Luther hinzudeuten für gut findet. Alle
Uebrigen treiben ihr Wesen in beneidenswerther Unbekümmertheit um das, was
an der geweihten Stelle vorgeht. Auch der am Altar stehende Luther hat bis
jetzt die Ruhe nicht herstellen können: umsonst läßt ihn der Maler den Text
seiner Predigt in die Höhe halten — er predigt tauben Ohren. Der Künstler
mag sich in der Darstellung eines idealen Motivs in unwesentlichen Zügen
immerhin über die Wirklichkeit hinwegsetzen; aber allen Gesetzendes natürlichen
Lebens und eines anständigen Benehmens darf er nicht ins Gesicht schlagen.
Was wird nicht Alles in der Kirche getrieben! Im Chor gesungen, disputirt,
das Abendmahl genommen, in einem Seitenschiffe gemalt und gedruckt, im
andern Astronomie getrieben, im Langhause Frieden abgeschlossen, Verse an
den Fingern abgezählt, in die steinerne Leier einer zerbrochenen Statue geklim¬
pert, um einen Globus mit allen möglichen Geberden sich gedrängt, aus einem
Sarkophag Schriften ausgepackt u. s. w. u. s. w. Dabei liegen zwar
nicht malerisch, doch bunt und wirr, allerlei Geräthe, ausgestopfte Vögel,
Tabak und Bildwerke durcheinander, wie das Gerümpel einer eben be¬
ginnenden Auction. Hat man in Italien Kirchen zu Lazarethen gemacht, so
ist hier der Dom zum Bazar geworden, in welchem alle Gewerbe ge¬
trieben werden, in denen der menschliche Geist seit drei Jahrhunderten ge¬
schäftig ist.
Hier zeigt sich schon in der Auffassung das Bedenkliche — von der Com-
Position ist noch nicht die Rede — wenn der Künstler die ganze Mannigfaltig¬
keit seines Stoffs in einen Rahmen bringen will. Das Verschiedenartigste
wird wohl oder übel zusammmengeschmiedet. Da nun aber die innern Ver¬
hältnisse und Gegensätze, die sich zwischen den verschiedenen Läufen einer
Weltbewegung bilden, sich durch die Gruppirung nicht ausdrücken lassen, so
ist mit dem ungeheuren Aufwande von Figuren doch wenig oder gar Verkehrtes
gesagt. Daß z. B. der Humanismus zuerst zwar der Reformation in die
Hände arbeitete, dann aber (vorab in Erasmus) zu ihr in Gegensatz trat, weil
er durch Huldigungen gegen weltliche und geistliche Fürsten sich Boden zu ver¬
schaffen suchte, für seine Bestrebungen durch den entbrannten Kampf fürchtete
und gern mit Hülfe des Papstes und der Bischöfe die Kirche reformirt hätte,
während die Reformation an das Bedürfniß Aller sich wandte, und daher vor¬
nehmlich auf das Volk sich stützte; daß sie selber gar bald in zwei Parteien
sich spaltete, von denen die eine Alles von der stillen Macht der sich ausbrei¬
tenden Ueberzeugung erwartete, die andere energisch durchgreifend die öffent¬
lichen Dinge fast gewaltsam umzubilden suchte: das sind wesentliche Momente,
die hinter die Scene fallen. Aber nicht nur darin, sondern in der Auswahl
der Figuren wird der Künstler vollständig nicht sein können, und so ist es
Kaulbach begegnet, daß er zweifelhafte Größen in den Vordergrund geschoben,
dagegen wirklich bedeutende Charaktere ganz vergessen hat. Wir wollen nicht
über die Einzelnen mit ihm rechten: aber ein Sebastian Münster, ein Leonhard
Fuchs, ein Paracelsus, ein Molinaeus — die Franzosen hätte besser noch
ein Budaeus vertreten — brauchen uns nicht unter den Ersten in die Augen
zu fallen. Nun gar den Wiedertäufer Sebastian Franke, einen Mann, an
dessen aufregender Vielschreiberei Luther und Melanchthon nur Aergerniß nahmen,
der im Grunde nur das Verdienst hat, eine deutsche Geschichte geschrieben zu
haben — gerade den in seiner ganzen Länge, in der geschmacklosesten Haltung
und Kleidung so voranzustellen, daß er gewaltsam den Blick auf sich zieht!
Doch wir entdecken hier, wenn wir nicht irren, gewisse Rathgeber des Künst¬
lers, denen das unklare Gemisch von Theismus und Pantheismus in der Philo¬
sophie des Mannes, die eben deshalb weder das Eine noch das Andere ist,
für eine tiefe und unübertroffene Weisheit gilt. Haben doch wohl aus dem¬
selben Grunde so ziemlich alle italienischen Naturphilosophen Platz gefunden,
unglücklicher Weise freilich in alle Ecken zerstreut. Auf den guten Meister Hans
Sachs, der im nächsten Vordergrunde die Gruppen vermittelt und den Abschluß
bildet, aus dem das Ganze herauszuwachsen scheint, der, das Bild von unten
gesehen, jedenfalls die Hauptfigur spielt, werden wir noch zu sprechen kommen.
Wie der treuherzige Sänger, der seine evangelische Gesinnung wohl heiter und
anmuthig, aber doch mit der etwas handwerksmäßigen Festigkeit eines gesunden
Menschenverstandes vorträgt, zu der unerwarteten Ehre kommt, würde er wohl
selber nicht begreifen.
Aber wenn Kaulbach Kopf an Kopf sich drängen läßt, um möglichst viel
zu geben, warum zeigt er uns nicht unter den Fürsten den besonnenen und doch
festen Friedrich den Weisen, der als der rechte Schutz für die beginnende Be¬
wegung so ganz der Mann Luthers war?ZNicht den kühnen Philipp von Hessen,
in seiner Energie und Derbheit das ächte Kind jener Zeit, von dem der floren-
tinische Gesandte sagte, daß er bei den Deutschen wie ihr Gott angesehen sei?
Weshalb fehlt die herrliche Gestalt Sickingens, in dem sich zwei Welten gleich¬
sam begegnen, der ächt menschlich mit seinem ritterlichen Wesen, seinen poli¬
tischen Plänen, einen idealen Sinn, eine warme Begeisterung für die Religion
verband? Weshalb unter den Malern der fromm evangelische Lucas Kranach,
der Freund Luthers, der sein Passion«! Christi und Antichristi mit Holzschnitten
Mte? Weshalb unier den Reformatoren der schottische John Knox? Unter
den Philosophen ein Cartesius, in dem die eine Richtung der neuen Philosophie
ihren epochemachenden Anfang fand? — Doch hier gerathen wir an einen andern
munden Fleck, über den so viel zu sagen wäre, daß wir ihn nur berühren wollen.
In der Anordnung zeigt sich nur zu oft ein gänzliches Mißverständniß jener viel¬
seitigen Bewegung: Kaulbach mag sich bei seinen Rathgebern bedanken. Von der
Auffassung der eigentlichen Reformation war schon die Rede. Man kann Petrarca
gelten lassen, als einen der Ersten, der Sinn und Liebe für die Weisheit des
Alterthums und seine Kunst der Darstellung bewies, auch den schönen, aber
confusen Grafen von Mirandola, der gleich sehr für Plato wie für die Kabbala
schwärmte, wenn auch das Hervorholen von Manuscripten ein armseliges Symbol
ist. Was aber sollen Shakespeare (der überdies dem römischen Geiste wohl
verwandt, für den griechischen aber ohne Verständniß war) und Cervantes in
der Rolle von Zuhörern? Mitten in die Gruppe sind Erasmus und Reuchli»
hineingeworfen, offenbar ohne zu wissen, was sie hier vorhaben; weiter zurück
Hütten und Bucer eingeflickt, der Vermittler in allen reformatorischen Streitig¬
keiten neben dem stürmischen Ritter, mit dem er wenig zu schaffen hat. Was
soll dann Bacon knieend vor der Weltkugel, der kühne Reformator der Philo¬
sophie, der die Erfahrung methodisch und erfinderisch zu machen suchte, um
mit ihr die Herrschaft des Menschen über die Dinge zu begründen? Und vor
Allem: weshalb ist das Hauptmotiv des Bildes in den Hintergrund gedrängt,
wo co im Dämmerschein trüber Kirchenfenster so gut wie verschwindet?
Doch mit dieser Frage treten wir in das eigentliche Gebiet der Kunst ein
— und hier athmen wir wieder auf. Nichts unerquicklicher und unergiebiger,
als mildem Künstler über das Stoffliche rechten, und nichts ärgerlicher, als
durch dessen Prätention, geiht- und gehaltreich zu sein, dazu gezwungen werden.
Nur indem sie nach der Darstellung fragt, hat die Kritik es mit der Kunst
zu thun und nur mit dieser will sie zu thun haben. Beginnen wir mit der
Komposition, für die man ja von jeher Kaulbach ein besonderes Geschick
zugeschrieben. Nun ja, eine Menge von Gruppen und Figuren zusammen¬
zubringen, die man mit . der Erklärung in der Hand allenfalls entwirren mag,
selbst sie in eine gewisse rhythmische Anordnung zurechtzuschieben, ist Kaulbach
nicht ohne Talent. Aber wie immer, so fehlt es auch hier dem Ganzen vor
Ueberfülle und Ueberhäufung an Anschaulichkeit und Klarheit. Von einer
Gruppe zur andern schweift der Blick, ohne Ruhe zu finden; denn es fehlt der
feste Mittelpunkt, von dem er ausgehen, zu dem er zurückkehren könnte. Luther
und seine Umgebung können nicht dafür gelten; denn sie sind, wie bemerkt,
in eine dämmerige Ferne zurückgerückt, selber in einem grauen Lichte verschwim¬
mend, können sie sich vom grauen Hintergrunde nicht abheben, und ohnedieß
läßt der überladene Vordergrund das Auge nicht los. Die versuchte Ver¬
mittlung zwischen beiden, gebildet aus den Friedenschließenden und den an den
Treppen Betenden, ist zu matt, in Form und Ton zu kraftlos, um wirken zu
tonnen; auch sie verschwinden vor der herausdrängenden vorderen Masse. Des¬
halb erscheint der Friedensschluß, der wohl das zweite Hauptmoment des Bil¬
des sein soll, ohnedies eine Gruppe von nichtssagenden'Geberdenspiel, eben¬
falls nur wie eine gleichgültige Episode. In die Gruppe der Humanisten und
Dichter schneiden Erasmus und Reuchlin der Form wie dem Lichtgang nack,
gleich zwei Flecken ein; links bildet der Mantel des Franke einen häßlichen
Abschluß, das zopfige, weitläufige Gewand des Bacon eine aufdringliche Zu¬
gabe. Zu der Mitte liegt klobig, knotig, wie ein Haufen zersägter Holzblöcke,
mürrisch und plump, ganz das Gegentheil des classisch hingelagerten Diogenes
in der Schule von Athen, dessen Seitenstück er doch wohl sein soll, mit einem
Ausdruck, für de» Referent eine» anderen Ausdruck als Bersimpclung nicht
finden kann, Hans Sachs, der Held des Bildes. Daß ihm so mitgespielt
wurde, nachdem ihm der Ehrenplatz eingeräumt worden, hat der Meistersänger
wahrlich nicht verdient. — Und nun das unruhige Gedränge der Figuren!
Keine, außer Luther und Hans Sachs, hat Platz, Kopf stoßt an Kopf, viele
Körper werden so durchschnitten, daß man den ganzen Bau sich kaum mehr
vorstellen kann. Links drängt man sich um den Globus, der eben erst herbei¬
geschafft wird, rechts zum Sarkophage. Elisabeth und Gefolge drängen sich
zum Altar. Astronomen drängen sich im einen Seitenschiff, Maler und Buch¬
drucker im andern: die ersteren, wie die letzteren ein Bild im Bilde. Aber da¬
mit nicht genug. Wie eine Schaar von Schatten sitzen hinter den Reforma¬
toren, also Figuren hinter Figuren, auf Chorstühlen die Vorboten der Refor¬
mation: ein schlechter Nachdruck der Erzväter und Apostel aus der Disputa,
eine Art Ersatz für das Mythenstockwerk, das der Künstler diesmal nicht an¬
bringen konnte. Und als Abschluß in der Höhe drängt sich wieder hei der Or¬
gel die Gemeinde!
Man mag an diesem Reichthum, diesem Taumel einer nüchternen, nur
künstlich erhitzten Phantasie sich ergötzen: künstlerisch ist er nicht, am wenigsten
monumental. Die Vergleichung mit der lichten, maßvollen Anordnung der
Schule von Athen überlassen wir dem Leser. Wer so den ersten Gesetzen der
Kunst zuwiderhandelt, wem es so sehr an der Großheit monumentaler An¬
schauung, am Sinn für die einfache, gediegene Erscheinung des Lebens und
für das Ebenmaß fehlt, mit dem die Kunst sogar die kämpfende, bewegte Welt
in das Reich der Schönheit erhebt — nun, der mag immerhin diese Mängel
durch den Reiz des Allerlei und Vielerlei und ein mosaikartiges Spiel mit dem
Stofflichen zu ersetzen suchen; zu dem aber, was den wahren Künstler aus-
macht, gebricht ihm so ziemlich Alles.
Doch das Urtheil könnte voreilig erscheinen, so lange nicht von der Dar¬
stellung der Charaktere die Rede gewesen ist. Dadurck. daß hier Kaulbach ge-
schichtlich ausgeprägte Menschen vor sich hatte, an deren individueller Erscheinung
seine ausschweifende Phantasie einen Halt finden konnte, war ja seinem Ge¬
staltungsvermögen Gelegenheit gegeben, sich zu bewähren. Hier konnte er
zeigen, ob er im Stande ist, lebendige Menschen zu bilden, eine charaktervolle
Schönheit hervorzubringen. Sehen wir uns zuerst den Luther an, der, wenn
er auch die Hauptfigur nicht ist, doch sie sein soll. Kaulbach hat es verschmäht,
das treuherzige Portrait Kranachs zu benutzen, in dem mit der Klarheit eines
gesunden Perstandes zugleich der Ausdruck des gediegenen Charakters ist. Nun
gut; er will uns Luther in der Blüthe des Mannesalters geben. Der Refor¬
mator war damals noch hager; in seinen Zügen las man die kühne Entschlossen¬
heit, den inneren Sturm, die Begeisterung für seine Sache, die Gesinnung,
die sich zwar ganz ans das Wort Gottes stützte, aber in diesem Worte „Schwert,
Krieg und Verderben" fand. Mit der Tüchtigkeit des geraden Sinnes hätte
uns also Kaulbach zugleich das schwungvolle, den Genius, die Arbeit des in¬
neren Lebens zeigen müssen. Wer aber wird diese Züge in dem flach idealisirten
Kopf und dem doch pfäffisch geschwollenen Gesichte finden! Ebenso wird man
in dem Kopfe und der Haltung Zwinglis, des wohlgestalteten, lebensfroher
Mannes, die Kraft und republikanische Entschiedenheit, die ihn auszeichneten,
vergebens suchen. Zu unbestimmt sind übrigens die meisten Figuren d.eS Hinter--
grundes gehalten, als daß die Charaktere heraustreten konnten; nur so viel
läßt sich doch auch in dieser Ferne erkennen, daß die Individualität meistens
entweder verflacht oder verzerrt ist. Ist der stolz daherschreitende Pfau mit
dein verlebten, geschmückte», ausdruckslosen Kops die Königin Elisabeth, die
»ut ungebrochenen, Muth gegen eine halbe Welt kämpfte? Wußte uns Kaulbach
von dem Weibe, das, wie ein Zeitgenosse rühmt. ebenso klug im Regieren
und sorgsam bei Berathung, als fest und umsichtig im Handeln war, nichts
als seine Eitelkeit zu zeigen? Dem schönen Kopfe Gustav Adolphs keinen an¬
deren Ausdruck zu geben, als den eines Blicks zum Himmel, während der Körper
sich eben zurechtgestellt hat, um zu imponiren, um zu sagen: „ich bin auch noch da?"
Dem biederen Albrecht Dürer keine andere Stellung, als die kokette Wendung eines
Tänzers, der vom Gerüst herab der Gesellschaft sein Compliment macht? Und
..... gehen wir weiter vor — dieser Melanchthon! Ein Kopf von matter Süßigkeit
mit dem Beigeschmack hektischer Sentimentalität, das also ist der Kops eines Man¬
nes, dem es bei aller Milde und Feinheit eines attischen Geistes doch nicht an dem
Muth der tiefsten Ueberzeugung fehlte! Was ferner ist aus Hütten geworden! Nach
dem Bericht von Zeitgenossen war er ein schmächtiger, unscheinbarer Mann, der
aber in seinem blassen Gesichte etwas Wildes hatte, das von dein tief leiden¬
schaftlichen, sein Leben wie sein Gemüth bewegenden Sturme zeugte. Da steht
nur, der gekrönte Poet, das Schwert in der Hand, mit aufgerissenen Augen,
dgs ächte Bild eines Statisten. Beim Erasmus hätte Kaulbach gleich sehr dar-
Stellendes Talent und Feinheit der Auffassung zeigen können; die geistvollen
Porträts Holbeins, in denen die Individualität anspruchslos, gesund realistisch
und doch in der ganzen Tiefe ihres Lebens wiedergegeben ist, machten ihm die
Sache leicht. Aber wie hat er den behutsamen, diplomatischen Kopf mit den
feinen Zügen und dem launigen Ausdruck zur leblosen Larve versteinert, das
individuelle Gepräge zur Maste, die an das Narrenhaus erinnert, zum ächten
Kauibachkopf! Ebenso hölzern ist der Körper, die Haltung, es ist etwas Elendes
in der ganzen Erscheinung, der moderne deutsche Schulmeister bat mehr Wurf
und Würde. Eine Art von Gegensatz bildet Reuchlin; der stattliche Mann
dessen v,ornebme Haltung Ehrfurcht einflößte, der aber doch durch sein ruhiges
und mildes Wesen anzog, und dessen Zügen „ein dunkler Drang nach verborgenen
Tiefen" etwas Mystisches gab, wie trägt er hier seine Würde und Bedeutsam¬
keit in der Art eines, alten Polterers zur Schau, mit einem Profil, das wieder
an Caricatur grenzt.
Wie wenig Kaulbach im Stande ist, einen Kopf künstlerisch aufzufassen
und wiederzugeben, selbst dann, wenn er ein treffliches Vorbild hat, zeigt sich
auch an dem Anatomen Besalius; dessen geistreich behandeltes, höchst indivi¬
duelles Bildniß von Tintvret in der Münchener Pinakothek ist hier zum flachen
Typus verkümmert, für dessen Leere und Flausen wir keine andere Bezeichnung
wissen, als eben Kaulbachsche Manier. Es ist in dieser etwas eigenthümlich
Starres, eine Perknöchertheit der Form, der das Lebenslicht ausgeblasen ist,
und die sich vergeblich mit der leeren Allgemeinheit schöner Linien zu schmücken
oder durch die Schärfe übertriebener Charakteristik bedeutungsvoll zu machen
sucht. Wenn die Form nicht die lebendige Erscheinung des künstlerisch verstan¬
denen Organismus ist. die Individualisirung nicht einfach das Wesentliche
gibt, den Charakter in seiner Gediegenheit faßt, so bringt es die Kunst weder
zur schönen, noch zur ausdrucksvollen Gestalt; streift dagegen. , wie so oft bei
Kaulbach. an die Puppe oder an die Fratze. Man wird es müde, das an den
einzelnen Figuren nachzuweisen. Wer für die erhaltenen Meisterwerke der Kunst
Sinn und Liebe hat, wer sich an die herrliche», tüchtigen Menschen eines Masaccio
und Ghirlandaso erinnert, die aus der Wirklichkeit heraus im vollsten Momente
ihres Lebens in das ewige Reich der Kunst erhoben sind, dem wird ebensosehr
die hohle und modern-anspruchsvolle Schönheit in den Köpfen von Bacon,
Petrarca und Pico abstoßen, als die Earicatur in den Fuchs, Münster, Para-
celsus und Franke. Diese zeichnen sich überdies durch lächerliche, automalen-
hafte Geberden aus. Selbst ein Schwärmer, wie Paracelsus, ist doch durch
die Art. wie er jede Autorität abwarf und die Kräfte der Natur zu ergründen
suchte, ein zu bedeutender Mensch, als das, man ihn mit der Geberde des
dummen Erstaunens >charakterisiren dürfte. Man mag übrigens in diesen Ge¬
stalten die bekannte Ironie des Künstlers wiederfinden; uns ist sie bier nur ein
Zeichen, daß es ihm am ernsten Sinn für das Große im Leben, wie in der
Kunst und am ächten Humor fehlt, der immer auf dem Grunde der Begeiste¬
rung spielt. Treibt etwa diese Ironie auch in den blasirten Zügen des Cer¬
vantes ihr Wesen, denen so recht die Absicht aufgedrückt ist, den geistreichen
Kops zu spielen? So hat der Mann gewiß nicht ausgesehen, der die Darstellung
einer abgängigen Weltordnung im Contrast mit der neueii in die Höhe des
ächten Humors zu erheben wußte. Wie selbst in den zurücktretenden Köpfen
eines CusanuS, Celtes, Cranmer der Ausdruck ins Maskenhafte gesteigert ist,
wird dem Beobachter nicht entgehen. Doch bleiben noch zwei Figuren übrig
— von Hans Sachs war schon oben die Rede — die gewaltsam das Auge
herausfordern: Columbus und Shakespeare. Für die in den riesigen Verhält¬
nissen aus ihrer Umgebung ganz herausfallende Figur des Ersteren, für die
weltgebieterische Miene, mit der er sich in Scene setzt, und den erhabenen
Contrast, mit dem er auch in diesem Momente seine Ketten rasseln läßt, für
diese gemachte Größe wird der Beschauer nur ein Lächeln haben. Aber entrüsten
mag er sich, daß man ihm den komödienhaften, frisirten, geschniegelten „schönen
Mann", der sich da vorn so recht zur Schau ausgestellt hat, mit seinen Formen
kokettirt und Alles aufbietet, um nach etwas auszusehen!, für einen Shake¬
speare gibt; für den Dichter, der uns zum ersten Male den ganzen Menschen
darstellte, wie sein Charakter und sein Schicksal aus der Tiefe seiner Leiden
schaften, aus den Conflicten der Natur und Geschichte hervorgehen. An diesem
Shakespeare zeigt sich übrigens deutlich, wie Kaulbach bei aller äußeren Ge-
schicklichkeit gleich wenig Verständniß für die künstlerische Bildung der Form,
wie für das Leben eines Kopfes hat. Vergebens sucht man in allen diesen
Figuren die feste Erscheinung, den sichern Wurf des Körpers, die doch erst der
Gestalt ihr selbständiges Leben geben, und welche die Meisterwerke aller Zeiten
kennzeichnen.
Und '„das Zeitalter der Reformation?" Wie die einzelnen Figuren und
Gruppen ist auch das Ganze wirkungslos. Hier ist nichts von dem bewegten,
schwungvollen Wesen jenes Jahrhunderts, von seiner großen, treibenden Stim¬
mung, von dem frischen Zug, der durch seine Menschen ging. Kaulbach wollte
die Geister jener merkwürdigen Epoche beschwören, und es hat sich nichts als eine
Schaar von Schatten eingesunken. Das ist die Zeit nicht, von der Hütten
ausrief: „O Jahrhundert, die Studien blühen, die Geister erwachen, es ist
eine Lust zu leben!"
Vielleicht wird der eine oder andere Leser finden, daß wir Kaulbach mit
einem zu strengen Maßstab gemessen haben. Aber es ist an der Zeit, das
wahre Gesicht einer Richtung aufzudecken, von der eine gewisse Kritik eine neue
Kunstepoche datiren möchte: die durch die Geschicklichkeit zu blenden sucht, mit
welcher sie das reiche Bildungsmaterial der Zeit, die Fülle des Stoffs in den
Rahmen zwingt, und die durch allerlei Reize gefallen will, da sie die einfache,
vollendete Erscheinung eines schönen Lebens weder zu empfinden, noch darzu¬
stellen fähig ist. Indem sie die Gelehrte spielt, zersprengt sie die Grenzen
der Kunst und will uns über die Halbheit und Ohnmacht ihrer Formen durch
einen Inhalt tauschen, den sie nicht gestaltet, sondern nur andeutet. Indem sie
mit Flitterstaat und Schminke die Liebenswürdige spielt, verletzt sie den Ernst
und das Wesen der Schönheit. Ginge die deutsche Kunst auf diesem Wege
weiter, so wäre nichts mehr für sie zu hoffen; aber in der jüngeren Künstler-
welt regt sich glücklicher Weise ein besserer Sinn. der sich von Kaulbach unwillig
„Undank ist der Welt Lohn! Dieses nur den Deutschen eigenthümliche
Sprichwort bezeichnet recht correct ihr Verfahren gegen uns. Arm. von ihren
Glaubens- und Stammgenossen verfolgt kamen sie im sechzehnten Jahrhundert
zu uns. fanden Schutz, Duldung, Vermögen — und suchten ihre gastlichen
Freunde zum Lohn für ihre Güte zu unterdrücken."
So stimmen die polnischen Zeitungen von Zeit zu Zeit den Chorus an,
und leichtgläubige Deutsche fallen ein. Sehen wir zu, was an der Sache
wahr ist, und ob sie nicht etwa ebensoviel historischen Grund habe, wie die
Mittheilung des Grafen Adam v. Plater, welcher vor acht Tagen unsern Pro-
vinzial-Landtag darüber belehrte, daß die höhern Lehranstalten Großpolens von
der Republik sorgsam gepflegt worden seien, von der preußischen Regierung
aber arg vernachlässigt würden.
Zunächst hätten wir freilich folgende Kreise zu reclamiren: Fraustadt
und Bvmst, bis 1343 schlesisch. damals mitten im Frieden und wider verbriefte
Verträge durch Kasimir den Großen an Polen gebracht, d) Kosten, 1332 durch
Wladislaw Lotietck von Schlesien losgerissen, c) Meseritz, vordem schlesisch,
et) Birnbaum, bis zur Obra neumärkisch, e) Netzedistrict, pommerisch.
Doch mögen wir zugeben, daß die meisten dieser Landschaften damals,
wenn nicht dem polnischen Reiche angehörig, doch nach Sprache und Cultur
Polnisch waren, und die ganze gegenwärtige Provinz Posen ins Auge fassen.
Auch davon wollen wir absehen, daß Germanen vor den Slawen auf diesem
Boden wohnten, und daß Miecislaw der Erste dem deutschen Kaiser Otto tri-
burär und unterthcinig war; denn wir erkennen das Recht der Geschichte an,
welche diese Verhältnisse umgestaltet hat.
Der erste Deutsche in Posen war der erste Bischof von Posen, Jordan,
der sich sofort mit deutschen Amtsbrüdern umgab, 968. Im Jahre 1000 kam
das von Otto dem Dritten errichtete Bisthum Gnesen hinzu. Beide Diöcesen
winden dein Erzbischof von Magdeburg untergeordnet. Daß die deutschen
Priester nicht ohne Gefolge kamen, ist selbstverständlich. Die so angeregte
deutsche Einwanderung kam nie zum Stehen und nahm seit dem dreizehnten
Jahrhundert größere Dimensionen an. Schon 1170 besaßen die deutschen
Malthcser ein reich dotirtes Hospitium in Posen. Wladislaw spectator über¬
ließ ihnen auch das Gnesener Hospital, um es „,hin-v c>.t. meno et^utomcgli zu
benutzen und deutsche Eolonisten anzusetzen" (urkundlich). Dieses hier zuerst
erwähnte deutsche Recht hieß anfangs in» Wi'vdvnsö (Schrodaisch Recht) oder
auch ius novi t'ori. Später tritt das Magdeburger (Stadt-) und das Culmer
(Land-) Recht auf. Dem Malthcserorden folgten die Eisterzienser, durch ihren
Einfluß auf die Bodencultur um das Land hochverdient. 1213 gründeten sie
Owinsk, 1232 Biesen. Bereits 122ü siedelten sich die Cistercienser von Schul-
pforte von ihrer Filla Leubus (in Schlesien) aus in der Wüstenei bei Ratel
an und stifteten 1234 das Kloster Bischcwo. So geht es weiter: Paradies,
Priement, Obra. Dvminicanerl'tohter Posen und dessen Zweigniederlassung Wronkc
1297. Im Jahre 1234 erhielt der Erzbischof von Gnesen die Erlaubniß „Aus¬
länder einzuladen und in den der Kirche gehörigen Dörfern anzusiedeln, damit
sie zum Muster dienen" („ut. gentes Lxti'-mcüiL invitet et in villis ecolsKl^ö
loeeit <zuÄ«z sxomM 8int"). Auch unmittelbar zog der Landesherr deutsche Ein¬
wanderer auf seine Güter, so in den Starosteien Meseritz. Kopnitz, Rogasen. Aehn-
lich verfuhren die polnischen Herzöge von Schlesien, und die acht Quadratmeilen
des Fraustädter Ländchens waren bereits vollkommen germanisirtals sie zur
Krone Polen fielen. Damals entstanden auch viele Städte, wie Posen. Filehnc,
Zduny, Kriewen, Ratel, Dolzig, Gostyn, Krone, sämmtlich mit deutschem
Recht; ebenso die Städtchen um Posen, welche später dem Weichbild der Stadt
einverleibt oder untergegangen sind^). Das Meiste und Wesentlichste geschah
aber doch von den Geistlichen. Zweihundert Hufen Landes, die ihm der Mark¬
graf von Brandenburg abgetreten hatte, ließ der Bischof Zaremba von Posen
durch deutsche Hände urbar machen, nachdem schon einer seiner Borgänger das
Recht gewonnen hatte, seine sämmtlichen Güter zu deutschen Rechten anlegen
zu dürfen.
Eine mächtige Stütze erhielten die Deutschen in Polen, als Eonrad von
Masovien den deutschen Ritterorden wider die heidnischen Preußen, denen er
fast erlegen war, zu Hülfe rief, und als diese Verbrüderung den Polen eine
größere Wohlthat erwies wie nachmals Johann Svbiesti den Mienern. Doch
ist hier nicht der Ort, die Verdienste des deutschen Ritterordens um die
europäische Cultur herzuzählen.
Wenden wir uns lieber zur genauern Beachtung der Art, wie die Ein¬
wanderung vor sich ging.
Gewöhnlich wurde, um ein neues Dorf zu begründen, nach vorgängiger
Genehmigung des Landesherrn ein dazu geeigneter Unternehmer, „Locator"
engagirt und diesem die dazu bestimmte Landstrecke nach Hufen in drei Feldern
zugemessen und durch eine Urkunde mit der Verpflichtung verschrieben, sie mit
neuen Bewohnern zu besetzen und eine Dorfgemeinde daraus zu bilden. Für
das Schulzenamt, welches in der Regel der Unternehmer, meist als erbliches
Recht, überkam, wurden einige Hufen, ebenso für.den Krüger und zwar erstere
jeder Zeit abgabenfrei, angewiesen. Dem Schulzen lag es ob, die Dorfordnung
aufrecht zu erhalten, Streitigkeiten unter den Bauern zu schlichten und zu ent¬
scheiden, für die Sicherheit zu sorgen, kurz die Polizei und die niedre Gerichtsbar¬
keit zu verwalten, wo bei ihm Schöffen zur Seite standen. Nur die höhere Ge¬
richtsbarkeit verblieb dem Grundherrn. Der Schulze zog die diesem zustehenden
Abgaben ein und führte sie ab. Die Ansiedler hatten persönliche Freiheit, waren
von der Gerichtsbarkeit der Kastellane und anderer fürstlichen Beamten eximirt,
Eigenthümer ihres Landes und Bodens und erfreuten sich auch anderer Vorrechte,
so daß ihre Dörfer, wie Oasen in der Wüste, mitten unter den gedrückten und
geknechteten, der adligen Willkür rechtlos preisgegebenen Wohnungen der polnischen
Bauern lagen. Freilich waren alle diese Vortheile nur eine billige Ausgleichung
gegen die Beschwerden und Gefahren, welche die Einwanderer in einem von innern
und äußern Kämpfen zerrütteten Lande, dessen Sprache und Sitten ihnen fremd
waren, zu bestehen hatten, und der Gewinn, den sie durch Vermehrung der
Bevölkerung, erhöhte Cultur und gesteigerten Verkehr ihrer neuen Heimath
brachten, war größer als ihr eigener Vortheil.
Aber die Reaction, die Verletzung verbriefter Rechte begann zeitig, sobald
die Macht des polnischen Adels über die der Landesregierung emporstieg, und
gerade die Exemtion der Deutschen von den fürstlichen Gerichien gab sie einer
Willkür preis, gegen welche Urkunden und landesherrliche Privilegien leinen
ausreichenden Schutz gewährten. Unter den polnischen Fürsten traten nameur-
lieh Easimir der Große von 1333—1370 und Wladislaw Iagiellv warm für
die Deutschen ein. Letzterer gab 1406 dem Erzbischof von Gnesen ein Patent,
neue Städte und Dörfer zu deutschen Rechten anzulegen, frei „von allen polnischen
Rechte», Weisen und Gewohnheiten, welche meistentheils das deutsche Recht gestört
haben" (^b oumibuL M'idus pvlmrieis aucti^ et ooiiZUötudiiüdu« kinn,ö ipisum
ius tKtZutomvum vovsuvvvrunt pvrturbare). Nach ihm kam der Fluß ins Stocken.
Die noch serner zu deutschen Rechten gegründeten Dörfer wurden an Polen über
lassen, und die Fremden zogen nur noch einzeln als Müller, Schmiede, Krüger,
Schäfer an. Im Osten unter der dichtesten polnische» Bevölkerung verschwanden sie
sogar bis auf schwache, jetzt kaum noch kenntliche Spuren. In den Grenztreisen
und namentlich in de> Umgebung von Fraustadt, Bomst, Meseritz, Ezarnikau war
das Deutschthum start genug, auch Bedrückungen auszuhalten. Auch viele Edle
deutschen Blutes hatten sich niedergelassen; leider haben die meisten von ihnen
erst ihre Namen polonisut, spater sich dem polnischen Adel bis zur Unkennt¬
lichkeit amalgamirt. Wer die Beute für lohnend hätt, der reclamire für uns
die dermaligen Familien: Bialtowski (Biberstein), Rydzinski (Warden), Trzinski
(Rohr), GostynSki (Bock). Drzewiecki (Nostitz), Grabowski (Götzendorf). Rvgvwski
(Horn), Bronikowsti (Oppen), Brudzewski (Brause). Firlej (Fürleger), Haza
v. Radkin (Hase v. Radlitz),-Stolinsü (Kaltstein). Wippczrnsti auch Zakrzewski
(Felde,,), Goluchowski (Gluchvw). Bontonski (Nostiz), Elzamowski (Elsenau),
Konarsti (Schleiwitz), Krvkowski (Krokau), Powalski (Lehwald), Kossowsti (Gold-
stein), Plemminski (Schaffenburg).
Die Reformation fand also in Großpolen eine bereits stark gemischte Be¬
völkerung vor. Es ist bekannt, daß ihr die Besten ^des Landes zufielen, und
daß die Duldsamkeit der letzten Jagellvnen die freiesie Bewegung gewährte.
Der erlöschende Fürstenstamm ehrte sich durch das Tvleranzedict von 1S63,
Durch die Energie der evangelischen Magnaten, namentlich des Kron-Grvß-
marschalls Firlej, ward die völlige Religionsfreiheit in die pace-r couvkirta auf¬
genommen, die der Wahlkönig beschwören mußte. Da nun die Eidbrüchigkeit
der östreichischen Kaiser wider ihre evangelischen Unterthanen in Schlesien, nachher
der dreißigjährige Krieg vielen Deutschen die Auswanderung wünschenswert!)
machte, so benutzten die selbst noch evangelischen Magnaten die Gelegenheit,
ihre öden Städte und Dörfer zu bevölkern oder ihre wüsten Lcindereien bebauen
zu lassen. Sie gewährten den Flüchtlingen das, was sie sich bedangen, eine
Wohnstätte, da sie den Gewerben obliegen könnten, in denen sie geübt waren
und ein Gotteshaus, darin sie in ihrer Sprache nach ihrem Glauben beten dürften.
So bedeckte sich der ganze Bezirk mit deutschen Städtchen (vpMum) und Städten
(eivitAL) und mit evangelischen Kirchen. Unter andern gehört selbst das eben wieder
ins Leben gerufene Kirchensystem Revier (Rey-o-wies) jener Zeit an. Die
Macht des Adels erklärt es. daß dieser noch Städte gründet. Bojanowo (1642),
oder vergrößert, Lissa (1639), während die Könige bereits die Dissidenten
verfolgen.
Die neuen Staatsbürger wurden als fleißig, sittlich, ernst und mäßig
gerühmt.
Peter Szinunuta von Lachowv auf Kobylin, Pleschen, Raschkvw, Iutro-
schin und Zduny sagt in dem Privilegio vom 6. September 1636, durch welches
er Deutsche zur Ansiedelung in Zduny, Kobylin und Umgegend einlud: „Damit
ich diesen guten braven Leuten meines Gemüthes Zuneigung und Willfährig¬
keit für die deutsche Nation bezeige, habe ich ihnen bestätigt und bestätige noch
gänzlich hiermit alle Rechte und Gerechtigkeiten ihrer ganzen deutschen Freiheit,
daß sie, ihre Weiber. Kinder und Nachkommen und alle Hausgenossen und
Dienstboten deutschen Geblütes derselben nun zu ewigen Zeiten nöthiglich ge¬
nießen und weder mir, noch meinen Nachkommen, den regierenden Herren, mit
irgend einer Dienstbarkeit sollen verbunden sein."
Noch herzlicher schreibt Konary Kalaczkowski Graf v. Lissen am 24. Juni
1642 in dem Privilegio für die Stadt Jutroschin^
„Und weil ich in freudiger Aufbauung dieser verödeten Stadt und anderer
untertäniger Willfährigkeit der freien deutschen Nation gegen mir tragende gute
Neigung und Wohlgewogenheit guter Maaßen zuvor spüre und zu erkennen habe.
So bin ich hiergegen inclinirt und parat meine ganze Lebenszeit ihnen an
Gnade, Gunst und Gutwilligkeit hier wieder zu erzeigen. Und habe mich be¬
ständig resolvirt, auch für rechtmäßig zu sein erachtet und dahin zu richten, daß
alle und jede deutsche Einwohner dieser Stadt dessen im Werte genieße» und
von mir Dankbarkeit erfahren."
Wie haben sie nun diese Dankbarkeit kennen gelernt? Wie bat das Volk,
welches so gern mit seiner Gastfreundschaft prahlt, diejenigen behandelt, die
für dasselbe arbeiteten und die man unter der Zusicherung der Religionsfreiheit
in die Städte gelockt hatte, nachdem Polen ein katholisches Land geworden war?
Die Chronik von Schwersenz erzählt: Um's Jahr 1730, da Augu¬
stin Schmidt, ein sehr wackerer Prediger, dort lebte, kaufte Adam KoSminst'i
die Herrschaft Schwersenz. Er forderte sofort nach Uebergabe der Güter neunzig
Dukaten von der Schwersenzer und zweihundert Thaler von der mit ihr vereinigten
Posener evangelischen Gemeinde als Schutzherr ihrer Kirchenprivilegia. (Er dachte
Wohl an das Sprichwort vexg. Lutlrorum, äirdit tlurlorum, das beim Adel im
Schwange war.) Bald darauf verlangte er vom Prediger Schmidt einen silbernen
Pokal zu seinem Hausrath und am Frohnleichnamstage den Bau eines Altars an
dessen Hause und die Theilnahme der Gemeinde an der Procession. Wirklich
wurden an diesem Tage viele Akatholiken mitgeschleppt; im folgenden Jahre
aber alle evangelischen Bürger zu einem Cultus gezwungen, der ihnen als
götzendienerisch galt. Schmidt wurde vor Gericht gefordert, „weil er in seinen
Conventikeln (es ist die am 23. August 1683 ausdrücklich privilegirte evange¬
lische Kirche gemeint) mit seiner Sekte durch seine falschen Lehren den Namen
Gottes lästert und die Ehre der Heiligen Schnabel."
Die Chronik von Bojanowo meldet: Im Jahre 17S0 wollte sich die Ge¬
meinde einen Thurm bauen. Als derselbe ein wenig über das Dach hinaus¬
geführt war, wurde das Recht des Weiterbaues streitig gemacht und schließlich
Verweigert. Zur Strafe für den Versuch, die Kirche mit dem Zeichen der Re-
ligionsfreiheit zu zieren, mußten 1,000 polnische Gulden (damals 10 Sgr.,
jetzt 5 Sgr.) an die römisch-katholische Kirche zu Bärsdorf gezahlt werden. Die
Erlaubniß zu jeder Reparatur wurde theuer erkauft und an so kurze Fristen für
den Bau geknüpft, nach deren Ablauf die Zahlungen erneuert werden mußten,
daß die Bürger ihre Werkstätten verließen und jeder nach dem Maß seiner Kraft
mit Hand ans Werk legte. Die Concessionen waren theuer; für die zur
Unterschwellung der Kirche erhielt Bischof Hosius hundert Dukaten; seine
Schreiber, Capläne u. s. w. fünfundfunfzig Dukaten. Fürstbischof Czartorysk
nahm für die Revision der evangelischen Kirche 1756 achtzig Dukaten. Im
Ganzen erpreßten die katholischen Polen von den evangelischen Deutschen dieser
einen Stadt zwischen 1733 und 1756 1,120 Thaler. Noch mehr. Bei einer
Inspection glaubte der Jnstigator des römischen Consistvriums zu Posen in dem
Bilde vom jüngsten Gerichte an der nördlichen Gallerie des Thores unter den
Verdammten einen Jesuiten zu erkennen und drohte mit Klage wegen Lästerung
der katholischen Kirche. „Obgleich man nichts sparte," wurde sein Zorn erst
besänftigt, als der vermeintliche Jesuit noch vor seinen Augen in einen Juden
verwandelt wurde. Die evangelischen Handwerker mußten die zahllosen katho¬
lische» Feiertage einhalten. Der (katholische) Organist von Bcusdorf ging
spähend durch die Häuser. Am Kreuzerfindungstage 1741 wurden die Tuchi
nacher bei der Arbeit überrascht; die aufgezogenen Wersten wurden ihnen zer¬
schnitten, das Garn, in dem sie gearbeitet, ward weggenommen und noch eine
Geldstrafe eingefordert.
Noch Traurigeres erfahren wir aus Lissa. 1658 huldigte Lissa, wie das
übrige Polen (außer Polnisch - Preußen) dem Könige Karl Gustav und blieb
ihm auf Rath des Amos Comerius noch treu, als die Andern von ihm abfielen.
Zur Strafe dafür ward die Stadt von polnischen Rotten überfallen, und da
sie der schon vorher zum Katholicismus abgefallene Grundherr Graf Boguslaw
v. Leszczynski verlassen hatte, leicht genommen.
Viele machten sich weg und die Schweden (in der Stadt) konnten nicht hindern,
daß am 28. (April 1756) früh 300 Wagen sich entfernten. Nachmittags wurde
die Stadt unter dem Versprechen der Gnade zur Uebergabe aufgefordert. So¬
fort begann die Flucht, besonders aber in der folgenden Nacht zogen sie in den
Bruch an der schlesischen Grenze, nach Tarlang, Kraschen und Tschirnau;
auch die Schweden zogen nach Fraustadt ab. die Stadt war recht menschenarm
geworden. Desselben Tages Nachmittags erschienen die Polen, unter ihnen
viele Adelige am Posener Thor, wo ein Bürger, Namens Kölich herantrat und
anzeigte, die Stadt sei leer, die Thore geöffnet, die Schweden abgezogen. Die
polnischen Adeligen, an ihrer Spitze ein gewisser Grzymultawski zogen ein, aßen,
tranken, waren lustig und guter Dinge, aber übernachteten nicht' in der Stadt.
Am andern Tage, den 29. April, brachen die Polen in die Stadt von Neuem
ein, und jetzt begann ein Wüthen, ähnlich dem bei der Zerstörung Magdeburgs.
Grausamkeiten aller Art wurden begangen, Morden der Bürger, Abdanken von
Gliedmaßen, Ausstechen der Augen, Abschneiden der Nasen und Ohren. Aus¬
graben von Todten und Beschimpfung derselben, Schanden der Frauen und
Jungfrauen, Plünderung, Raub, alle Schandthaten wurden ausgeübt. An
verschiedenen Orten zugleich wurde Feuer angelegt, in die neue noch nicht ein¬
geweihte Kirche der Gemeinde böhmischer Konfession Stroh geschleppt und sie
angezündet. Die ganze Stadt mit dem herrlichen Rathhause wurde ein Raub
der Flammen, alle Kirchen brannten nieder, nur die Pfarrhäuser bei der neuen
Kirche blieben unversehrt. Drei Tage wüthete das Feuer, dessen Beute auch
siebzig Windmühlen in der Umgebung der Stadt wurden.
Die Chronik von Posen sagt kurz:
„Emigration der deutschen und schottischen reichen Kaufleute und Fabrikanten,
denen der Aufenthalt in Posen durch die unaufhörlichen Vexationen der Jesuiten¬
schüler unmöglich gemacht wurde, um so mehr, da die Zerstörung der lutherischen
und böhmischen Gotteshäuser 1616 durch die Jesuiten den Dissidenten in Po¬
sen jeden Religionsact hinderten."
Wie der Jesuit Piasincki 1608 von der Kanzel der Maria-Magdalenen-
Kirche dem Volke ungestraft zurufen durfte: „die Stadt will die Ketzer nicht
dulden, der Magistrat auch nicht; du Volk, verwandle ihre Kirchen in Schutt
und Asche," wie dann am 6. September 1603 das erste Mal Feuer an die
lutherische Kirche gelegt und da, dieses zeitig gelöscht ward, am 13. April 1606
durch 300 Jesuitenschüler das Zerstörungswerk vollbracht wurde, können wir
in dem Geschichtswerk des katholischen Lukaszewicz ausführlich lesen. Er er¬
zählt uns auch, daß die Tumultuanten selbst das Hospital, wo die Armuth
wohnt, verwüsteten und ausplünderten und auch die Kirchen, Psarr- und
Schulgebäude der böhmischen Brüder mit Feuer und Eisen vernichteten. Zwei
mal bauten die Lutherischen und die Böhmischen (Calvinisten und Unionisten)
ihre Kirchen wieder auf; zweimal wurden sie, und zwar zuletzt resp, am
12. Juli und 3. August 1616 von den Jesuitenschülern, d. i. von der hoffnungs¬
reichen Jugend des polnischen Adels der Erde gleich gemacht.
Am Ende bin ich nicht, aber ich würde auch nicht bald zu Ende kommen,
vollends wenn ich Sie nach Lemberg. Danzig und in „das betrübte Thorn"
führen wollte; und endlich muß ich doch einmal aufhören.
Wo Gewalt für Recht geht, hat auch die List ein weites, freies Spiel;
je> einholt, welchem das Rechtsgefühl versagt ist. sucht in der Pfiffigkeit eine
gewisse Virtuosität und schätzt sie. So ward es möglich, daß sich da und dort
eine verfolgte Kirchengemeinde durch Schlauheit ihr . Leben fristete, handelte es
steh ja oft nur darum, bis zum Tode irgend eines Gewalthabers Zeit zu ge¬
winnen.
Der Gemeinde Fraustadt ward die Genehmigung zum Bau einer Kirche
unter der Bedingung ertheilt, daß selbige weder in der Stadt, noch in der
Borstadt flehe. Die Bürger erwarben zwei Häuser, welche eines von innen,
das andere von außen an die Stadtmauer stießen und vereinigten sie ungestraft
zum „Kripplein Christi".
Den Evangelischen von Gr.-Drensen erlaubte die Grundherrschaft, selbst
nur zur Härte gezwungen, in ihrer baufälligen Kirche weiter zu beten, aber
Restauration und Neubau wurden verboten. Die Evangelischen umbauten dar¬
auf das morsche Gotteshaus und überbauten es, hielten sich aber treulich inner¬
halb der vorgeschriebenen Grenzen. Der Fürst schützte sie dabei, mußte aber
zuletzt doch den Spruch des Bischofs von Posen anerkennen. Vor diesem er¬
schienen die Boten beider Parteien, ein Pole und ein Deutscher. Das Er¬
kenntniß sprach den zur Kirche gewordenen Umbau der Confession zu, deren
Gesandter zuerst heimkehrte. — Der Deutsche hat gesiegt.
Da die Verfolgungen mehr gegen die Städte gerichtet waren, als gegen
die Dörfer, da sie nicht der Nationalität, sondern dem Bekenntniß galten und
dieses unter dem Adel immer noch — wie selbst bis in die neuesten Zeiten —
einige Anhänger hatte, so versiegte der Strom der deutschen Einwanderung
nicht. Es gab noch Sümpfe trocken zu legen, Wälder auszuroden, Urlaub zu
cultiviren; folglich brauchte man auch den Deutschen noch. Sodann war es für
die an Land überreichen, an Geld stets armen, desselben immer bedürftigen
Magnaten gar bequem, Zinsbauern zu haben. Auf das Verhältniß einer
Ackerverzinsung verstand sich der gemeine Pole nicht; zudem war er ein schlechter
Zahler. Also deutsche Arbeitskraft und deutscher Fleiß thaten Noth. Diesen
Umständen verdanken unsere Hauländereien (Holländereien, olvnckr^) ihr Dasein,
welche um die Mitte und gegen das Ende des achtzehnten Jahrhunderts ent¬
standen und, wie der Name andeutet, auf ausgehauenen und ausgerotteten Wäldern
angesetzt wurden. Sie erhielten entweder einen bestimmten Walddistrict nach
Hufen zugemessen, oder es wurde ihnen freigelassen, sich erst die stipulirte
Zahl von Hufen auszuroden. Je nach der Bodenbeschaffenheit in einem oder
mehreren Stücken erhielt der Colonist sein Theil, meist mit dem Holz zur Um-
zäunung und führte seine Gebäude in der Mitte seines Grundstücks auf. Da¬
rum sind geschlossene Hauländereien bei uns Ausnahme, und die Regellosigkeit
ihrer Anlage zum Theil jetzt noch mitten im Walde ist die Regel. Zur Zeit
der preußischen Occupation waren ihrer vierhundert, davon viele wegen der
Rechtsunsicherheit zur Zeit der Gründung in schwierigem Proceß mit ihrem
Grundherrn. Zu suchen haben wir sie vornehmlich in den polnischen Kreisen:
Buel, Kosten, Sabrina, Schroda, Wreschen; doch kommen sie auch sonst,
selbst in Bomst, Meseritz und Birnbaum vor.
Mit geringem Glück hat die preußische Negierung einen vorübergehenden
Versuch gemacht, Ansiedler heranzuziehen. Daß aber, nachdem Gesetz und
Recht. Freiheit und Ordnung im Lande hergestellt sind, nachdem die preußische
Verwaltung viele deutsche Beamte hierher geschickt hat, welche den natürlichen
Wunsch haben, Angehörige nachzurufen, die deutsche Einwanderung einen neuen
Aufschwung genommen hat, ist natürlich.
So ist es gekommen, daß jetzt von 2.862 Ritter, Frei- und andern Gü¬
tern der Provinz im Departement Posen 7S8, d. h. im Departement
Vromberg 16 über die Hälfte in deutschen Händen sind; daß in diesem Bezirk
nur noch 908.000 Morgen Landes polnische, dagegen 1,085,000 Morgen
deutsche Eigenthümer haben. Nehmen wir die Städte hinzu, so sind wir zu
dem Ausspruch berechtigt, daß mehr als die Hälfte der Provinz den Deutschen
gehört. Es gibt ferner hier sieben Städte, in denen sich gar kein
Pole findet, aber keine einzige r ein p o irisch e mehr.
Bedarf es noch eines Beweises, daß die deutschen Einwanderer die größere
Mühe an die Cultur ihrer neuen Heimath gewandt, daß die Polen die höhe¬
ren Lasten auf jener Schultern geworfen haben, so liegt er darin, daß die
weniger lohnenden Landstriche ihnen übellassen blieben. Wenn wir aber dem
Zuge der deutschen Colonisation folgen, wie sie an den großen Land- und
Wasserstraßen hingeht, wie sie sich von drei Seiten aus in einem immer en¬
gern Ringe um den polnischen Kern legt, wie die einzelnen Punkte der deut¬
schen Diaspora in dem urpolnischen Lande immer weitere Kreise beschreiben,
wie endlich die Polen schrittweis vor ihr zurückweichen, so gewinnen wir die
Zuversicht, daß hier der Deutsche seine culturhistorische Mission erfüllen wird,
und das um so sicherer, je verkehrter die Mittel sind, mit denen die Polen
gegen ihn zu reagiren versuchen.
Soll ich Ihnen nun zum Schluß noch einige Worte über unsere deutschen
Landsleute sagen, so muß ich die Klage voranstellen, daß ihr geistiger und
sittlicher Fortschritt zwei Feinde hat. Der eine ist der Wunsch Vieler, durchaus
und recht bald zu erwerbend sei es, um den Herrn zu machen, sei es, um mit
dem Gewinnst nach Deutschland zurückzukehren. Daraus entsteht eine beklagens-
werthe Engherzigkeit und Kargheit, die zu der Ostentation, mit welcher die
Polen lire nationalen Opfer bringen, einen fatalen Contrast bildet. Der an¬
dere Fehler unserer Landsleute ist die geringe Sympathie für ihre neue Hei¬
mat. Vielen von ihnen liegt weder Land noch Volk am Herzen; es ist keine
Frage nach Vergangenheit, noch nach Zukunft. Fremd, wie sie sind, wolle»
sie bleiben und entfernen dadurch diejenigen von sich, die sie für sich gewinnen
sollten. Ein Beweis dafür ist unter Anderm die allgemeine Unwissenheit in
Provinciellen Dingen, und die eine Thatsache, daß ein Unternehmen, wie das
von Posener Provinzialblättern nicht über den ersten Jahrgang hinaus kam.
In ersterer Beziehung gibt es lobenswerthe Ausnahmen. Es darf z. B.
ein den Reichthum, den die Stadt Wollstein ein milden Anstalten hat, erinnert
werden, ferner an die eifrige Betheiligung am Gustav-Adolph-Verein, vielleicht
selbst an die Zufälligkeit, daß während uns der Czas wegen unserer geringen
Theilnahme für die syrischen Christen ausschalt (August 1860), aus kleinen
deutschen Gemeinden bereits nicht ganz geringe Beiträge aufgekommen waren,
Hauländer sich zur Aufnahme verlassener syrischer Christenkinder erboten hatten,
wogegen gerade unter den Polen sich nichts rührte. Endlich läßt die Stiftung
eines Capitals von 60,000 Thlr. für die Posener Realschule durch den Kauf¬
mann und Abgeordneten Berger in Posen (Fraction Bockum) das Meiste von
dem hinter sich, was die polnischen Magnaten thun. Auch sonst betheiligen
sich unsere deutschen Landsleute nach Kräften an den allgemeinen deutschen
Unternehmen, und Schillerapotheosen, Serresche Schillerkalender können Sie
hier reichlich sammeln. Wir haben auch Fichte gefeiert und dabei einen halben
Band seiner Werke vorlesen hören und von einem Redner gelernt, daß Sokra-
tes, Christus, Spinoza und Fichte die größten Denker aller Zeiten waren.
Auch mit Sänger- und Turnfesten, und Vereinen verschiedener Art können wir
aufwarten.
Im Ganzen sind diese Dinge gut und werden zum Ziele führen. Es hat
immerhin einen Werth, daß wir an den geistigen Bewegungen unseres großen
Vaterlandes lebendigen Antheil nehmen, und wir können uns dessen um so
mehr rühmen, als jetzt auch Ansätze dazu gemacht sind, eine Vereinigung der
Deutschen in der Provinz herbeizuführen. Ein solcher Anfang ist der land-
wirthschaftliche, jetzt wohl deutsche Centralvercin. Seine Tendenz geht darauf,
deutschen Sinn, deutsches Leben zu kräftigen und in der Politik für den Stand¬
punkt zu wirken, welchem das preußische Vaterland über den Parteien steht.
Erst sind wir Preußen, dann Liberale oder Feudale u. s. w., und so lange die
Polen so fest zusammenstehen wie jetzt, kann und darf kein Parteistandpunkt stark
genug sein, uns zu spalten. Mit viel Wärme und großem Geschick wußte das
unter Andern das vom Staatsanwalt Uhlemann geleitete Grcitzer Wahlcomitö
in seinen Manifesten geltend zu machen. Daß es den extremen Parteien ge¬
lungen ist, diese sonst hier allgemeine Anschauung, für welche auch die jetzt
gut redigirte liberale Posener Zeitung kräftig einsteht, zu verrücken, hat uns
zwei Abgeordnete gekostet, einen in Jnowraclcnv, einen in Birnbaum. In
beiden Fällen lag die größere Schuld bei der extremen Rechten.
Unsere bisher von Herrn Dr. Gottschall mit viel Phantasie und wenig
Verstand und Glück redigirte, namentlich von Posener Anwälten subventionirte
Ostdeutsche Zeitung ist ein wohlgemeinter Versuch, die Polen durch Liberalismus,
durch Rechnn ngtragen u. s. f. zu gewinnen. Wenn derselbe Aussicht auf Erfolg
hätte, wäre er unnöthig; denn die Polen wären dann, was sie nun einmal
nicht sein wollen, Preußen. Inzwischen scheint es nicht so; der öftere Wechsel
des zweiten Redacteurs, der soeben erfolgte Rücktritt des Dr. Gott schall und
die projectirte Umgestaltung des Blattes zu einer Volkszeitung beweisen zur
Genüge, daß dasselbe über den Standpunkt des Experimentirens noch nicht
hinausgekommen ist. und daß wahrscheinlich der ganze Gewinn, den die Pro¬
vinz von dem Unternehmen hat. in der seitdem eingetretenen tüchtigem Re¬
daction der Posener Zeitung bestehen wird.
Schließlich noch die Bemerkung, daß die Provinz auf viele ihrer deutschen
Kinder mit Stolz sehen darf. Es sind Männer, die sich auf den mannigfachsten
Gebieten des öffentlichen Lebens hervorgethan, durch die Schule der hiesigen
Verhältnisse gegangen. Aus den in hiesiger Provinz geborenen greife ich drei
in ihrem Wirkungskreise sehr verschiedene Männer heraus: den Dichter Otto
Roquette, den berühmten Ethiker Rothe in Heidelberg und den Major Serre.
Seit-der Zeit, wo der große Reformator der Deutschen in seiner derben
Weise auch gegen den Büchernachdruck eiferte, ist zu Gunsten der Rechte der
Schriftsteller und Künstler an ihren Werken Vieles und Erfreuliches geschehen.
Dem Beispiele Sachsens, welches bereits im Jahre 1686 zuerst unter allen
Reichsständen den Nachdruck schlechthin und zwar selbst abgesehen von jedem
besondern Privilegium mit Strafe bedrohte, ist allmählig die Particulargesetz-
gebung auch anderer deutschen Staaten gefolgt. Endlich hat auch der deutsche
Bund durch eine Reihe sich ergänzender, in den einzelnen Staaten publicirter
Beschlüsse eine Art gemeines Recht auf diesem Gebiete geschaffen. Kein Ver¬
ständiger zweifelt jetzt noch daran, daß der Büchernachdruck moralisch und
wirthschaftlich gleich veroammenswerth ist, und ein Rechtsgutachten wie das noch
zu Ende des vorigen Jahrhunderts abgegebene der Jenenser Juristenfacultät,
Welches unter Zustimmung der Facultäten zu Gießen, Helmstädt und Erfurt den
Nachdruck als etwas an sich Erlaubtes hinstellte, ist heutzutage schlechterdings
unmöglich.
Wenn aber in dieser Beziehung unsere sittliche Anschauung geläutert er-
scheint und in natürlicher Folge hiervon die Gesetzgebung und Praxis unserer
Tage sich vor der unserer Vorfahren vortheilhaft auszeichnet, so ist darum den¬
noch die theoretische Begründung der Autorrechte — auch abgesehen von dem
Ausbau im Einzelnen — keineswegs in der wünschenswerthen Weise klar und
zweifellos. Welche Stellung nimmt im Rechtssysteme der Nachdruck ein? Ist
das Recht der Schriftsteller und Künstler an ihren Werken ein wahres Eigen¬
thum analog dem Grundeigenthume? Constituirt dessen Verletzung durch Nach¬
druck ein wirkliches Vergehen gegen das Eigenthum, und welcher Art müssen
die literarischen Erzeugnisse und Kunstwerke sein, um auf den Schutz der
Gesetze gegen Nachdruck Anspruch zu haben? Das Alles sind Fragen, die
gleich den damit zusammenhängenden praktischen Konsequenzen, namentlich be¬
züglich des Umfangs und der Dauer der schriftstellerischen Rechte, sowie der
rechtlichen Natur der Nachdrucksklage und den subjectiven Voraussetzungen des
Nachdrucksvergehens von der Doctrin noch heute in verschiedenem Sinne be¬
antwortet werden und auch in der Spruchpraxis der deutschen Gerichte und
den Gutachten der Sachverständigen-Vereine nicht selten eine entgegengesetzte
Beurtheilung erfahren.
Indessen läßt sich, Alles wohl erwogen, in Betreff der Hauptfrage nach
der rechtlichen Natur der Autorrechte behaupten, daß im Ganzen nach Zahl
und Bedeutung derjenigen, die sich dazu bekennen, unter den Betheiligten die
auch in der Bundesgesetzgebung und den meisten Particularrechten zur Geltung
gekommene Anschauung vorherrscht, nach welcher, ohne damit irgendwie den
vernünftigen Ansprüchen der Autoren zu nahe treten zu wollen, gleichwohl ein
sogenanntes Schrifteigenthum derselben im Sinne derer, die damit einen
dem Grundeigentum« analogen Begriff verbinden, nicht anerkannt wird. In
dieser Beziehung ist es namentlich von Wichtigkeit, daß der von dem Börsen¬
verein der deutschen Buchhändler im Jahre 1857 unter Mitwirkung juristischer
Sachverständiger ausgearbeitete „Entwurf eines Gesetzes für Deutschland zum
Schutze des Urheberrechtes an Werken der Literatur und Kunst gegen Nachdruck",
über welchen bereits früher von anderer Seite ausführlicher in diesem Blatte
berichtet worden ist, sich über die oben angedeuteten Fragen im Sinne unserer
positiven Gesetzgebung, d. h. also gegen das Schrifteigenthum und die Ewig¬
keit der Autorrechte ausspricht. Denn obwohl es nach dem gegenwärtigen
Stande der Dinge, zumal bei der von Preußen hierzu eingenommenen ableh¬
nenden Stellung, noch keineswegs zweifellos ist, daß dieser Entwurf vom Bunde
in nächster Ze>it adoptirt werden wird, so läßt sich doch mit Sicherheit behaupten,
einmal, daß die in demselben niedergelegten Anschauungen dem Rechtsbewußt-
sein der zunächst in dieser Angelegenheit Betheiligten entsprechen, und sodann,
daß bei der Bereitwilligkeit, mit der zeither die Bundesregierungen den Wün¬
schen des Buchhandels in Betreff der Nachdrucksgesetzgebung entgegengekommen
sind, ein Abweichen der künstigen Gesetzgebung von den in diesem Entwurf nieder¬
gelegten Rechtsanschauungen nicht zu befürchten ist und somit das von einzelnen
Rechtslehrern vertheidigte, von den meisten Schriftstellern gewünschte Schrift¬
eigenthum mit seinen Konsequenzen in Bezug auf Umfang und Dauer der
darin begrifflich enthaltenen Rechte zunächst keine Aussicht hat, in das positive
Recht Deutschlands überzugehen.
Imi geraden Gegensatze hierzu hat die französische Jurisprudenz und Ge¬
setzgebung seit der Revolution die Idee eines sogenannten literarischen oder
qcistigeu Eigenthums mit besonderer Vorliebe gepflegt und steht jetzt eben im
Begriffe, die letzte Eonsequenz hieraus zu ziehen. Denn nachdem die im Früh¬
jahr d, I. in Paris unter dein Vorsitze des StaatsministerS Walewski zusam¬
mengetretene Commission trotz der entgegengesetzten Resolutionen der in, Jahre
t8S8 zu Brüssel und im Jahre 1861 zu Antwerpen abgehaltenen literarischen
Evngresse sich mit 18 gegen 4 Stimmen für die Ewigkeit der Autorrechte aus¬
gesprochen hat, ist es bei de» kurzen Formen der kaiserlichen Regierungsweise
uno der sprichwörtlichen Willfährigkeit der mitwirkenden gesetzgebenden Gewalten
>» Frankreich im hohen Grade wahrscheinlich, daß die Ewigkeit der Autorrechte
demnächst als Gesetz proclamirt werden wird.
Ist aber die französische Nachdrucksgesetzgebung bei den engen Verkehrs¬
und Eulturbeziehungen. die uns mit Frankreich verknüpfen und bei dem immer¬
hin fühlbaren Einfluß, den die einschlagende Gesetzgebung auf die Literatur
selbst hat, schon an sich für uns wichtig, so gewinnt die in Aussicht stehende
Umgestaltung des bisher giltigen französischen Rechts noch dadurch sür uns an
Bedeutung, daß wir im Begriffe stehen, mit Frankreich einen Vertrag zu schlie¬
ßen, der uns die praktischen Consequenzen der französischen Gesetzgebung noch
ungleich mehr als bisher fühlbar machen wird. Nach Artikel 1 des preußisch-
französischen Vertragsentwurfes zu gegenseitigem Schutze der Autorrechte sollen
die Autoren des einen Landes in dem andern denselben Schutz gegen Be¬
einträchtigung ihrer Werte genießen, als wenn sie ihre Werke zuerst in diesem
andere» Lande veröffentlicht hätten, „jedoch nur so lange, als ihre Rechte in
dem Lande, in welchem die erste Veröffentlichung erfolgte, in Kraft sind".
Hiernach werden vom Jahre 1867 ab, wo die zur Zeit noch gegen den Nach¬
druck unserer Classiker bestehenden Bundcsprivilegicn wegfallen, die Werke
Goethes, Schillers. Lessings u. A. in. in Frankreich ungestraft vervielfältigt
und nach Deutschland erpvrtirt werden dürfen. Dagegen wird der deutsche Buch¬
händler die Werke französischer Elassiker — falls inzwischen in Frankreich die
Ewigkeit der Autorrechte proclamirt wird — nicbt vervielfältigen dürfen. Man
sieht daraus, daß die Frage nach der innern Berechtigung und der Zweckmäßig¬
keit dieser von der französischen Gesetzgebung angestrebten Neuerung für uns
keineswegs eine müßige ist.
Unter diesen Umständen ist es von Interesse, die Stimme eines Mannes
zu hören, der wie irgend Einer durch geistige Begabung, Neigung und Beruf
zu einem Urtheile über die hier einschlagenden Fragen befähigt ist und keinen
Widerspruch zu fürchten braucht, wenn er von sich sagt, daß „er nur aus Ehr¬
furcht vor der Wahrheit und aus Gcwissensdraug über den vorliegenden Gegen¬
stand geschrieben" habe. Wir meinen den Philosophen Proudhon, der in seiner
neuesten Broschüre: „Die Uterarischen Majorate". Brüssel. 1862. (Leipzig.
I. I. Weber) die Absicht der französischen Regierung, das den Erfindern, Schrist-
steilern und Künstlern zum Schutze ihrer Werke verliehene Monopol zu ver¬
ewigen und in ein volles Eigenthum zu verwandeln, einer scharfen Kritik unter¬
zieht und mit dieser Arbeit zugleich einen werthvollen Beitrag zu seinen früheren
Studien über das Eigenthum geliefert hat.
Der berühmte Verfasser untersucht, um die namentlich von französischen
Schriftstellern geforderte Ewigkeit der Autorrechte zu widerlegen, diese Rechte
und die Folgen, die ein Gesetz zur Verewigung ihres Schutzes haben würde,
von der ökonomischen, ästhetischen und socialen Seite. Er gelangt hierbei zu
dem in unserer deutschen Gesetzgebung praktisch anerkannten Satze, daß das
Autorrecht kein Eigenthum im juristischen Sinne, und daß demselben deshalb
auch keine ewige Dauer beizulegen sei. Er findet ferner, daß außer der be¬
grifflichen Unmöglichkeit eines f. g. Schrifteigenthums die Aufstellung eines
holeten der Würde des Schriftstellers keineswegs entspreche. Er sagt endlich,
daß die Consequenzen eines Gesetzes, welches die Rechte der Autoren an ihren
Werken zum Eigenthume machte und ihnen überdies ewige Dauer verliehe, für
die Schriftsteller, die Literatur und das Publicum in gleichem Grade verderb¬
lich sein und die Rückkehr zu veralteten, durch die Revolution längst beseitigten
Institutionen einschließen würde.
Die ökonomische Seite anlangend, wird zunächst die Insinuation zurück¬
gewiesen, als solle durch die Verwerfung des s. g. geistigen Eigenthums den
vernünftigen Ansprüchen der Autoren auf ein Entgelt für ihr Werk irgendwie
präjudicirt werden. „Wer denkt denn daran, das Stückchen Vrod zu ver¬
weigern, das man dem Kleinbauer gönnt? Man sollte diese müßige Frage,
den Text der lächerlichsten Declamationen, bei der Untersuchung ein für alle
Mal links liegen lassen. Es handelt sich vielmehr darum, zu erörtern, was
die Natur des Schriftstellerrechtcs ist, auf welche Art sich die Vergeltung seiner
Arbeit vollzieht, und ob seine Arbeit, wie die Bittsteller um das Monopol be¬
haupten und der jetzige Kaiser der Franzosen wenigstens im Jahre 1844 als
Kronprätendent glaubte, ein Eigenthum nach Art des Grundeigentums erzeugen
kann, oder ob nicht die Annahme eines solchen aus einen falschen Vergleich,
auf eine falsche Analogie hinauskommt.
Es wird nun der Inhalt der Autorrechte an den von der Nationalökonomie
aufgestellten Theorien über Produciren und Product sowie an der Theorie des
Capitals und Credits geprüft und die Natur des Gcisteswerkes als eines Produc-
tes, bei dem nur die Bedingungen des Umtausches verschieden sind, nachgewiesen.
Ferner wird die Unanwendbarkeit der juristischen Begriffe von Leihe. Miethe oder
stiller Gesellschaft auf die Rechte der Schriftsteller und ihr Verhältniß zum Publicum
erörtert und dieses Verhältniß vielmehr als das eines öffentlichen, auf eigene Gefahr
handelndenUnternehmens, dem in Anbetracht des mit seinem Handelsbetriebe ver¬
bundenen Wagnisses lediglich ein zeitliches Verkaufsprivilegium bewilligt und der
hiermit in jeder Hinsicht entschädigt wird, definirt. Dann, noch einem glänzend
geschriebenen Excurse über Entstehung und Berechtigung des Grundeigenthums
und einer beredten Warnung gegen das Bestreben, eine historisch und rechts¬
philosophisch noch wenig begriffene Erscheinung wie das Grundeigenthum nicht
auch noch auf andere Gebiete zu übertragen und dadurch die Räthsel unnöthiger
Weise zu vermehren, wird der Regierung schließlich das Recht und die Macht,
ein literarisches Eigenthum mit der Eigenschaft der Ewigkeit zu schaffen, in
folgenden zugleich den Gedankengang der ganzen Erörterung zusammenfassenden
Sätzen abgesprochen:
„Die Regierung kann was sie will, vorausgesetzt daß sie sich innerhalb der
Grenzen der natürlichen und ökonomischen Gesetze und der Regeln des Rechtes hält.
In dieser Weise sann es eine Regierung nicht dahin bringen, daß das¬
jenige, was vermöge der Natur und seiner Bestimmung nur Product ist. als
Grundbesitz und unbewegliches Eigenthum angesehen werde. Sie kann nicht
bewirken, daß ein Tauschvertrag zum Erbpacht werde, so lange sich der Dienst
oder die Waare bei dem Tausche durch ein Iahreslohn oder durch eine Reihe
von jährlichen Zahlungen belohnen, bezahlen lässt.
Sie vermag nicht den Preis eines Productes einem Pachtgelde gleich zu
machen.
Sie kann ohne das Gesetz der menschlichen Beziehungen zu verletzen und
alle Begriffe durcheinandcrzuwerfen, nicht bewirken, daß ein Schriftsteller,
der seine Gedanken in Umlauf bringt, nicht als ein einfacher Producent und
Eintauscher, sondern als ein unabsindbarer, stiller Gesellschafter betrachtet wird,
dem man deshalb bis an das Ende der Jahrhunderte einen ewigen Zins schulde.
Die Regierung ist dies ebensowenig un Stande, als sie den Luftkreis theilen,
auf den Ocean bauen, ohne Arbeit erzeugen. Jedermann Renten verschreiben
kann. Versuchte sie es, so würde es ihr zum Schaden gereichen, die Lächerlichkeit
und der Verfall müßten sie bald zur Wahrheit zurückführen.
Die Gesellschaft hat aus weit hinausgehenden Gründen, die von der
Wissenschaft noch nicht genügend aufgeklärt, aber auch nicht als unstichhaltig
nachgewiesen sind, den Boden theilen und ein Grundeigenthum festsetzen können.
Sie hat es gekonnt, obgleich diese Zueignung nach dem Geständnisse aller Ge¬
setzeskundigen über das Recht des Erbauers an den von ihm gezogenen Früch-
ten hinausgeht, obgleich die politische Oekonomie ein derartiges Zugeständnis,
nicht erfordert, obgleich ein Grundeigenthum bei zahlreichen Nationen nicht be¬
steht, sondern durch ein einfaches Besitzrecht ersetzt wird. Damit es nun gar
ein geistiges Eigenthum geben könnte, müßte die Negierung dem Schriftsteller
das Privilegium des allgemeinen Gedankens und der Studicngegenstände, welche
die gemeinschaftliche Unterlage aller Erkenntnisse bilden, als Domäne überlassen
können. Aber das ist es gerade, was ihr unmöglich fällt, was dem gesunden
*
Menschenverstande zuwider ist, und was außerdem Niemand von ihr verlang.
Wie sollte sie bei der Unmöglichkeit einer Analogie ein einfaches Bervietsäl'
tigungs- und Verkaufsprivilegium mit dem Namen des Grundeigenthums und
zwar einzig zu dem Zwecke, um eine Sinecure für die Erben zu haben, schaffen?
Boileau sagt in seiner Epistel über den Adel-, „Ist die Nachkommenschaft
von Alfane und Bayard nur eine Mähre, so steht sie billig zu Kauf." Kann
die Regierung es dahin bringen, daß die Sohne genialer Männer auch Genies
werden? Nein. Uebcrlasse sie also die Nachkommenschaft eines Genius sich selbst',
die Bäter sind bezahlt morden, und man ist den Erben nichts mehr schuldig!" —
Wir gestehen, daß uns dieser Theil der Prvudhvnschen Studie am mei¬
sten befriedigt hat. Die Ausführung im Ganzen ist rein sachlich gehalten, die
Beweisführung überzeugend, die Diction voll überraschender Schönheiten und
die Bitterkeit der Ausfälle gegen Herren v. Lamartine und Genosse» durch
die widerwärtige Phrasenhaftigteit der Argumentation dieser Individuen hin¬
länglich gerechtfertigt.
Dagegen können wir den Ausführungen des zweiten und dritten Theils
den Borwurf nicht ersparen, daß sie im Einzelnen keineswegs frei von Para¬
doxen und Uebertreibungen aller Art sind und ihrer ganzen Haltung und Ten¬
denz nach mehr dazu bestimmt scheinen, dem tiefen Unmuthe des Autors ge¬
gen den geschichtlichen Entwicklungsgang der französischen Nation Luft zu machen
als die vorliegende Frage unbefangen zu erörtern.
Wenn der Berfasser den neutestamentlichen Magier Simon, weil er das
Evangelium verkaufte, als Ökonomisten und als den eigentlichen Bater der
Lehre vom geistigen Eigenthum hinstellt, so mag dies in dem Zusammenhange,
-in dem es steht, noch für mehr als ein bloßes Wihwort gelten. Aber gegen einen
Idealismus, welcher jeden Autor, der auch nur einen Sou für seine Schriften be¬
ziehe, während er von seinem Vermögen leben könne, einer Unwürdigkei! zeiht,
müssen wir uns im Hinblick auf die Grundbedingungen aller menschlichen Produk¬
tion und im Interesse der literarischen Produktion selbst entschieden verwahren. Es
ist begreiflich, daß sich die Ehrenhaftigkeit des Verfassers gegen den literarischen
Geldschwindcl des heutigen Frankreich, von dein er die eclatantcsten Proben mit¬
theilt, empört. Aber es heißt offenbar in das entgegengesetzte Extrem verfallen und
die realen Verhältnisse der Organisation des Buchhandels nicht minder als der
literarischen Production verkennen, wenn man dem Autor, weil er für seine Person
vielleicht zu leben hat, zumuthet, die Früchte seiner Nachtwachen ohne weiteres
Entgelt mit freigebiger Hand in die Lüfte zu streuen und auf die rein menschliche
Freude des Erwerbens für sich und die Seinigen zu verzichten.
Auch glauben wir nicht, daß zwischen dem Bestreben der französischen
Gesetzgebung, die Autorrechte zum vollen Eigenthum zu erheben und dem von
Proudhon in beredten Worten geschilderten socialen Verfall der Nation seit
dem Kaisertum jener tiefe innere Zusammenhang bestehe, welchen derselbe an¬
zunehmen geneigt ist. und daß die Aufstellung eines sogenannten Schrift,
eigenthums eine Folge davon sei. daß die Franzosen, wie ihnen der Verfasser
vorwirft, ihre eigene Revolution und die großen Principien derselben nicht
mehr begreifen. Im Gegentheil ist gerade die Anerkennung der Autorrechte
im Sinne eines Vollen Eigenthums ein Wer? und zwar eines der besten eben
dieser Revolution, die damit nur wie auf hundert anderen Punkten ein altes
Unrecht gegen die Künstler und Schriftsteller wieder gut machte und mit einem
Schlage jene Ideen der ewigen Gerechtigkeit verwirklichte, die Jahrhunderte
lang umsonst nach Verwirklichung genügen hatten.
Und noch weniger vermögen wir dem Verfasser beizustimmen, wenn er
schließlich in der geschlichen Anerkennung eines geistigen Eigenthums mit der
Eigenschaft der Unverjährbart'eit die Schöpfung einer neuen Art von Famiiien-
stiftungen, der von ih», so genannten literarischen Majorate erblickt und hieran
die Prophezeiung knüpft, daß in Frankreich — sollte das Gesetz über das gei-
stige Eigenthum angenommen werden — der Sache nach von den Einrichtungen
und Ideen des Jahres 1789 nichts mehr übrig sein und es, um auch die letz¬
ten Spuren der Revolution von französischem Boden zu vertilgen und die Na¬
tion in den Zustand gänzlicher Verdummung und Stagnation zu bringen, der
einer gewissen Partei münschenSwerth scheine, genügen werde, das neue Gesetz
seine Folgen nur erst hervorbringen zu lassen, und sie nach Befinden in das
bulltZtin etc;!? loix einzutragen.
Wir haben zu Anfang hervorgehoben, daß die deutsche Gesetzgebung zur
Zeit ein sogenanntes Schrifteigenthum nicht anerkennt und menschlicher Voraus¬
sicht nach auch in nächster Zeit schwerlich hierzu gelangen wird, und wir wün¬
schen uns hierzu, rein juristisch genommen, aufrichtig Glück, Aber wir können
uns nicht davon überzeugen. daß das Einschlagen des entgegengesetzten Weges
wirtlich in jene» Abgrund mittelalterlichen Feudalismus mit Lehenswcsen.
Mcisteniahrunge» und Zünften führen würde, welcher der Phantasie unseres
Autors vorschwebt. Wir hallen es für unlogisch, zu behaupten, indem durch
die Verewigung des geistigen Eigenthums die Idee selbst Von demjenigen,
der sich ihrer znerst bemächtigte, gleichsam in Beschlag genommen würde,
müßte folgen, daß man über einen bestimmten Gegenstand außerhalb
eines darüber bereits existirenden und im Alleinbesitze befindlichen Buches nicht
mehr lesen und schreiben, also geradezu außerhalb des Gedankens des Schrift¬
stellers und Eigenthümer« nicht mehr würde denken, ja sogar anders als in
den von der Kirche Vorgeschriebenen Formeln nicht mehr würde beten können.
Wir meinen endlich, es sei wesentlich falsch, zu sagen, daß mit der Anerken¬
nung der Ewigkeit des geistigen Eigenthums das öffentliche Gesammteigentbum
der Ideen geschmälert werden und die möglichst allgemeine Verbreitung
gerade der wichtigsten und volkstümlichsten Werke darunter zu leiden haben
würde.
Es kann einem so geistreichen und mit der Behandlung des Paradoxen so
vertrauten Manne wie Proudhon nicht schwer fallen, zwischen dem der For¬
derung eines ewigen geistigen Eigenthums zu Grunde liegenden innersten Ge¬
danken und dem 'feudalistischen Grundzuge des Mittelalters eine innere Ver¬
wandtschaft zu entdecken. Aber wir meinen, es ist in den realen Verhältnissen
der Gegenwart hinlänglich Vorsorge getroffen, daß selbst bei einem so eminent
logischen und consequenten Volke' wie die Franzosen die Consequenzmacherei
nicbt so weit geben werde, nach Annahme des vorgeschlagenen Gesetzes über
das geistige Eigenthum nur um des Princips willen nun auch das Lehns¬
wesen und die Meistcrnahrungen wieder einzuführen.
Wir halten ferner dafür, daß bei einem literarischen Erzeugnisse oder
Kunstwerke Form und Inhalt sich niemals so decken, daß nicht — auch nach'
dem eine Idee bereits einmal zur sichtbaren Darstellung im Buchstaben oder
durch die Mittel der Kunst gebracht worden ist — doch noch unzählige andere
Möglichkeiten existirten, dieselbe Idee auf geistig selbständige Weise (— und
mit dieser Eigenschaft der geistigen Selbständigkeit würde ja eben der Begriff
des Nachdrucks, also der Verletzung des einem Anderen zustehenden Eigenthums
von selbst aufhören Anwendung zu leiden —) künstlerisch oder literarisch zu
verarbeiten. Gerade in Betreff der von dem Verfasser angeführten geometrischen,
algebraischen und ähnlichen Werte sind Gesetzgebung und Praxis mindestens bei
uns längst darüber im Reinen, daß sie einerseits allerdings als literarische Er¬
zeugnisse zu betrachten und darum gegen den Nachdruck zu schützen sind, an¬
dererseits aber dnrch die bloße Priorität eines solchen Werkes an sich keines¬
wegs die Abfassung eines andern ähnlichen Werkes zum Nachdrucke gemacht wird.
Wir kommen zum Schluß. Auch wenn man ein geistiges Eigenthum mit
dem Prädicate der Ewigkeit constituirt, werden die Verleger selbst aus Gründe»
des eigenen Interesses ganz wie bisher ihren Vortheil in dem möglichst großen
Absätze ihrer Verlagsartikel suchen und finde». Sie werden in richtiger Erwä¬
gung der Veränderlichkeit des Geschmacks und der Neigungen des Publicums
wie der von dem Verfasser selbst so beredt geschilderten Vergänglichkeit aller
Geisteswerke, weit entfernt, die ihnen von dem neuen Gesetze zu gewährende
Zusicherung der Ewigkeit ihres Verlagsrechtes dahin zu verstehen, als sei ihnen
damit auch die Ewigkeit des wirkliche» Absatzes garantirt worden, nach wie
vor bemüht sein, die Werke der Schriftsteller möglichst schnell, möglichst allge¬
mein und darum auch möglichst wohlfeil zu verbreiten.
Die Ewigkeit der Autorrechte wäre übrigens, wenn sie wirtlich in Frank¬
reich eingeführt würde, nicht einmal etwas Neues. Sie hat z. B. in Sachsen
vor der neueren Gesetzgebung von 1844 bestanden, ohne daß auch nur eine
der von Proudhon gefü'rasteten Folgen eingetreten wäre. Sie besteht noch jetzt
in Hannover, ohne daß Jemand gemeint sei» wird, diese Thatsache mit den
politischen Institutionen des Landes in innere Verbindung bringen zu wollen.
In preußischen Noten und in den preußischen Kammern ist oftmals gcsaat
wordene Die Zustände in Kurhessen sind eine Gefahr für Preußen und für Deutsch¬
land. Die Gefahr, welche noch in weiter Ferne lag. als dieses zuerst ausgesprochen
wurde, ist jetzt in unmittelbare Nähe gerückt, und zwar in vergrößerten Dimensionen.
Unsere Zustände fordern deshalb gerade jetzt eine besondere Aufmerksamkeit. Herr
Schnakcnberg, mit Verschung des Finanzministeriums beauftragt, ist nach der ersten
Ministersitzung ebenso plötzlich verschwunden, wie er gekommen war. Er hatte die
Verwegenheit, dem Kurfürsten gegenüber darauf zu bestehen, daß das Einkommen
der Hofdamen :c, genau so besteuert werde, wie dieses das Gesetz vorschreibt, Die¬
selbe Angelegenheit hat, beiläufig bemerkt, schon vor Jahresfrist veranlaßt, daß
Herr v, Hanstein von der Stelle eines Directors des Obersteuercoilcgiums in den
kränkendsten Formen entfernt wurde. Auch Herr v. Hanstein wollte nicht zulassen,
daß die Hofdienerschaft zu Gunsten der Eivilliste über das Gesetz gestellt werde. Die
Scene zwischen Screnissimo und dem Einlagsministcr Schnackcnberg in Betreff der
Besteuerung der Hofdamen und Laquaicn wird als ganz ungewöhnlich bezeichnet,
was »ach dem hier üblichen Maßstab schon etwas bedeuten will.
Das Finanzministerium ist einstweilen dem Herrn Bode übertragen, zeither
Referent im Finanzministerium, ein fleißiger Arbeiter von sehr schwacher Begabung.
Doch kennt er wenigstens die Routine der Finnnzvcrwaltung, was in Vergleich zu
den früheren Finnnzministern schon als ein Vorzug betrachtet werden darf. Seine
Politische Ansicht, vorausgesetzt, daß er überhaupt eine solche besitzt, wird nicht in
Betracht kommen, da er nur den Platz füllen soll— bis zum geeigneten Augenblick.
Wie es sich mit dem Ministerium der auswärtige» Angelegenheiten verhält,
darüber herrscht Dunkel. Die dreiwöchige Frist, für welche sich Herr Koch zu dessen
Versetzung bereit erklärt hatte, ist abgelaufen und Herr v. Rieß weigert standhaft
die ihm angcsonuene Uebernahme dieses Ministeriums.
Herr v. Stiernbcrg. der Minister des Innern, und Herr Pfeiffer, der Justiz¬
minister, wirthschaften inzwischen ruhig weiter, als wenn Alles in bester Ordnung
wäre; wie es schein! auch — bis zu dem geeigneten Augenblick.
Schon seil einigen Tagen laufen dumpfe Gerüchte in der Stadt um. Zwei
als fanatische Anhänger der Haynauschcn Richtung bekannte Officiere sollen zu hohen
Posten in der Mililärhierarchic berufen sei». Auch mit dem bekannten Staatsrath
Scheffer finden lebhafte Verhandlungen statt, mit Abse u. f. w. Die öffentliche
Meinung betrachtet diese Dinge als Vorboten eines neuen Staatsstreichs. — Sollte
auf einen unvorsichtigen Schritt der Stände gerechnet sein, um für die „künftigen
Ereignisse" eine Handhabe zu gewinnen, so wird die besonnene Haltung der Kammer
eine Täuschung bereiten. Dagegen wird es im vorkommenden Falle an der nöthi¬
gen Energie nicht sehlen, das Land steht hinter seinen Vertretern.
Oeffentliche Ständesitzungen sind schon seit längerer Zeit ausgefallen. Hat
doch die Regirung die versprochenen Vorlagen noch immer nicht gemacht. Am
2. Februar wurde von dem Verfassuugsausschuß folgendes Schreiben an die Land¬
tagscommission gerichtet- „Die landesherrliche Verkündigung vom 21, Juni v. I.
schien dazu bestimmt, dem vielgeprüften Lande den seit mehr als zehn Jahren ent¬
behrten Frieden zurückzugeben. Der Landesherr selbst machte in den tztz 4, 5 und
6 dem treu ausharrenden Volke Zusagen, welche, wenn auch uicht allen gerechten
Wünschen, so doch den klarsten Forderungen des Rechts Genüge zu thun geeignet
waren. Bis jetzt aber ist davon so gut wie nichts zur Ausführung gebracht; so
gut c>>« nichts, obwohl es keinem Zweifel unterliegt, daß binnen der seitdem ver¬
laufenen Frist von sieben Monate» sämmtliche Verheißungen vollständig hätten in
Erfüllung gehen können. Die Stände können, einem solchen Zustande gegenüber,
nicht länger schweigen. Die Herren Ministerialvorständc, nicht etwa blos diejenigen,
welche die landesherrliche Verkündigung vom 21. Juni v, I, gegenzeichneten, sondern
"N gleichen Maße auch diejenigen, welche neuerdings ins Amt traten, haften solida¬
risch dem Lande wegen der Erfüllung alles dessen, was die Staatsregierung. unter
wndesfürstlicher Bürgschaft dem Lande versprochen hat und schuldig ist. Noch immer
handelt es sich darum, einen verfassuugsmüßigen Zustand des Staates und der
Staatsregierung wieder aufzurichten. In dieser ernsten, allgemach unerträglichen
Lage spricht der Verfassungsausschuß das Verlange» ans, aus dein eigenen Munde
der sämmtlichen Herren Ministerialvorstände genügende Aufschlüsse darüber zu eUmUcn,
was zur Durchführung der landesherrlichen Verkündigung bis setzt geschehen öden
doch allernächst zu erwarten ist. Mit besonderer Bezugnahme auf den dem unter¬
zeichneten Ausschusse annoch vorliegenden Antrag des Abgeordneten Oelter l. -steile»
wir daher a» Kurfürstliche LandtagScommissivn das ergebenste Ersuche», den Herren
Ministerialovrstündcu hiervon Kenntniß zu gebe», n»d sehe» in aller Kürze einer
gefälligen Nachricht entgegen, an welchem Tage dieser Woche und zu welcher Stunde
>n einer alsdann anzuberaumenden Ausschußsitzung wir die mündlichen Eröffnungen
der Herren Ministerialvorstände zu erwarten habe». Kassel, den 2. Februar
Der landständische Verfassnngsausschuß." — Bis jetzt ist eine Antwort aus dieses
Schreiben nicht erfolgt.
Gegen den Hauptmann Dörr wird nach Angabe der officiellen Kasseler Zeitung
wegen seiner Schrift gegen Haly»an eine gerichtliche Anklage erhoben. Es kann
dieses nur dazu dienen, die alten scandalösen Geschichten lebhaft in der Erinnerung
aufzufrischen. Daß der Justizminister Pfeiffer eine derartige Anklage betreibt, erregt
allgemeines Staunen. Der Fanatismus muß wirtlich den Verstand start umnebelt
habe», wenn man nicht sieht, wie mit einer solchen Anklage der eigenen Partei ein
schlechter Dienst geleistet wird. Zum Zweck der Vertheidigung darf gar Vieles
gesagt werden, was sonst zu sagen bedenklich wäre, weil die Einrede der Wahrheit
nicht immer schützt. Oder sollte diese Anklage auch mit den „kommenden Ereig¬
nissen" in Zusammenhang stehen? neuerdings ist auch ein pvlizeiUchcs Verbot der
Dörrschen Schrift ergangen, obschon dieselbe seit Monaten in Tausenden von Exem¬
plaren ungestört im Lande Verbreitung erhalte» hat, u»d Jedermann dere» Inhalt
kennt. Die Gewitterwolken haben sich drohend znsanune» geballt, und der Blitz
hat mit zermalmeuder Gewalt eingeschlagen. Jetzt will eine hohe Polizei die Sache
ungeschehen machen.
I» diese», Augenblick verbreitet sich die sichere Kunde von einem aber¬
maligen Umschlag des Windes in den höhern Regionen. Die jüngste» Pläne scheinen
aufgegeben oder wenigstens vertagt. Den Ständen werden in der nächsten Sitzung
mehre Vorlagen gemacht. Unter diese» Vorlagen findet sich eine, welche unser
Staatsleben tief berührt: die Wiederherstellung der alten Gemal»deversassung. Diese
Gemeindeverfassung hat Hassenpflug schmählich verstümmelt, um die Selbständigkeit
der Gemeinden zu vernichten und die Ortsvorstände zu gefügigen Werkzeuge» der
Polizei zu mache». Alle tüchtigen und selbständigen Gemeindcvvrstünde wurden
wegen „feindseliger Gesinnungen gegen die Staatsgewalt" ?c. entfernt, und an>
deren Stelle Kreaturen der Partei gesetzt. Zugleich wurde die lebenslängliche Amts¬
dauer der neuen Bürgermeister eingeführt :c. Nach der Regierungsvorlage werden
alle seit dem Umsturz der Verfassung ergangenen sogenannte» Gesetze und Verord¬
nungen, welche die Gemeindeverfassung betreffe», beseitigt, und die frühere Ge-
mei»deord»u»g vollständig wiederhergestellt. Als einzige Ansnahme von dieser Regel
wird »ur vorgcschlage», die Wahlperiode der Orisvorständt, welche früher auf fünf
Jahre festgesetzt war, künftig auf zwölf Jahre zu bestimmen. Für diese Neuerung
lasse» sich allerdings beachtenswerthe Gründe geltend machen , aber in der Haupt¬
sache ist es ziemlich gleichgültig, ob das Eine oder das Andere beliebt wird, sobald
nur die alte Gemeindeordnung selbst wieder ins Leben drin. Die Regiernngövor-
lage zeigt recht handgreiflich, wie leicht die Wiederherstellung eines verfassungsmäßigen
Rechtszustandes in Kulhcsscn ist, — sobald nur der gute Wille nicht fehlt.
Es liegt in der Natur des Kampfes, welchen die Vertreter des preußischen
Volkes mit der eigenen Negierung zu führen haben, daß die siegreichen Fort¬
schritte der liberalen Parteien nur in Zwischenräumen sichtbar werden. Und
es ist belehrend, in der Presse und der Meinung des Auslandes die Schwan¬
kungen zu beobachten, welche nicht die Sympathie, aber das Vertrauen aus
eine heilsame Lösung des Streites durchmacht. Auch die kleine Zahl der
Liberalen, welche eine Adresse des Abgeordnetenhauses beim Beginn der Ver¬
handlungen für unzweckmäßig erklärte, stand nach den dreitägigen Debatten
unter dem Eindruck dieses nothwendigen parlamentarischen Actes. Und erst
die Antwort des Königs erregte ihr Bedauern über eine dadurch hervorgebrachte
Schärfe des Conflictes, welche das gegenwärtige Ministerium nur fester gestellt
habe. Wir meinen, daß die Verschärfung des Conflictes, das heißt, ein offen¬
kundiges, Jedermann verständliches Darlegen des tiefen Gegensatzes, welcher
zwischen dem preußischen Volke und der Regierung besteht, die erste Grund-
bedingung für eine endliche und vollständige Heilung des Gegensatzes selbst ist,
und daß es eine ebenso unvermeidliche, als freudenlose Maßregel war, die Höhe
und den Umfang der Krankheit festzustellen. Durch zwei Jahre war die alt¬
liberale Partei bemüht, das bereits bestehende Leiden durch Palliativmaßregeln
zu verdecken. Die Aerzte sind ihrer Functionen in nicht sanfter Weise ent¬
hoben worden. Es blieb nichts übrig, als eine gründliche Kur durchzumachen.
Die Antwort des Königs, welche dem Abgeordnetenhaus^ geworden ist,
und das nackte Hervortreten eines persönlichen Willens mit Beseitigung der
Parlamentarischen Formen, deren weise Tendenz ist, die Persönlichkeit des Re¬
genten und die Majestät der Krone vor dem Parteihaß zu schützen, ist ein Er-
e>gniß, für welches Niemand, ohne die größte Ungerechtigkeit, die Vertreter des
Volkes verantwortlich machen wird. Der Takt, mit welchem sie selbst und die
liberale Presse dies ungewöhnliche Schriftstück durch Schweigen beurtheilt haben,
'se ein Beweis für die Mäßigung, mit welcher der Kampf von den Abgeordneten
geführt wird.
Offenkundig ist die Tendenz, mit welcher seitdem Regierung und Volks-
Vertreter weitergegangen sind. Das Interesse des Abgeordnetenhauses ist, das
Ministerium zu einer Auflösung des Hauses zu zwingen und durch eine neue
Appellation an die Wähler die Kampfstimmung zu steigern; die Absicht des Ministe¬
riums muß sein, diese Appellation zu vermeiden und das gegenwärtige Abgeordneten¬
haus zur Unbedeutendheit herabzudrücken, wo möglich zu einem gewagten Schritt
zu verleiten, welcher demselben einen Theil der Volkssympathicn nehmen mag.
Die Mittel, welche der Negierung für solche Politik zu Gebote stehn, sind nicht
sehr ausgiebig. Eine hochmüthige Behandlung des Hauses ist nur geeignet,
den allgemein aufbrennenden persönlichen Haß gegen die Regierung zu ver¬
mehren. Das längere Hinziehen des Zwistes ruft keine Schwächung, sondern
eine Steigerung der liberalen Strömungen hervor, wie aus einzelnen Nach¬
wahlen sichtbar geworden ist. Ein elender Plan, wie er in den Häuptern ein¬
zelner verschrobener Fanatiker der Reaction arbeiten mag, die öffentliche Stimmung
zu Excessen zu verleiten, damit ein gewaltsames Einschreiten der Executive und
militärische Maßregeln im Innern möglich werden, hat zur Zeit durchaus keine
Aussicht auf Erfolg, selbst nicht aus den einzigen, den er haben könnte, die
Häupter der ruchlosen Urheber selbst zu gefährden. Schon die umlaufenden
Gerüchte von einer solchen Absicht sind vielmehr geneigt das conservative Lager
in Uneinigkeit zu bringen und die Freunde der extremen Junkerpartei auf die
Gefahren einer Verbindung mit gewissenlosen Genossen aufmerksam zu machen.
In der That ist man im Ausland über die Stimmung des preußischen Heeres
sowohl als einer großen Anzahl von Konservativen im Irrthum. Und die
gegenwärtige Regierung Preußens in noch größerem, wenn sie unter allen Um¬
ständen auf die Zuverlässigkeit dieser Stützen rechnet.
Eine große Zahl der Conservativen, vor Allen die Mehrzahl des Landadels
sieht mit Mißtrauen auf das Abgeordnetenhaus, in welchem Kreisrichter und
bürgerliche Beamte ihrer Nachbarstädte an einer Gesetzgebung Theil haben sollen,
welche nicht nur über die pe-cuniären Interessen des Adels, auch über Vieles,
was ihm als Standespnvilegium gilt, zu poliren berechtigt ist; sie betrachtet
die Ofsizierstellen im Heer, die höheren Beamtenposten gern ebensosehr für ein
Vorrecht des Adels, als die Hvffähigkeit. Sie ist geneigt, ihr Verhältniß zu
der Krone als ein persönliches aufzufassen und loyale Devotion als eine adlige
Tugend anzusehen, aber sie ist keineswegs so verblendet und so arm an
Rechtsgefühl, daß sie jede eigensinnige Maßregel der Regierung als einen Vor¬
theil für den Staat betrachten sollte. Wahrscheinlich ist, wenn man den mitt¬
lern Durchschnitt der politischen Bildung unserer Landedelleute messen wollte,
ihre Auffassung von Politik und Aufgabe des preußischen Staates eine minder
edle als wünschenswerth wäre, aber auch sie haben sich den bildenden Einflüssen
der Zeit nicht entziehen können. Ihre Sorge um die eigene privilegirte Stel¬
lung wird durch einen starken Zusatz von Vorsicht gemäßigt, und es ist eine
ungerechte Annahme, daß ihnen unabänderlich der eigene Bortheil höher stehe,
als der Vortheil des Ganzen. Und deshalb ist diese Mehrheit dem gegenwärtigen
Ministerium durchaus kein sicherer Anhänger. Mit Kopfschütteln und banger
Sorge wird das letzte Jahr der innern Politik auch von ihr betrachtet, sie besorgt
von der Ueberstürzung ihrer Exaltirten zunächst für sich selbst, dann für ihren
Staat. Ein Bruch mit der Verfassung würde auch den achtbaren Theil der Kon¬
servativen der Regierung entfremden, selbst die sich öffentlich für ihre Anhänger
erklärten, würden noch lauter, als jetzt geschieht, im vertrauten Kreise ihrer
Genossen klagen und sehr geneigt sein, die Sache der Regierung für verloren
zu halten.
Ebenso unsicher ist die Stimmung im preußischen Heere selbst. Zwar die
untern Grade des Offiziercorps, bis etwa zum Bataillonschef, jetzt meist jüngere
Leute, sind in der großen Mehrzahl durch den Zwang des unbedingten leidenden
Gehorsams auch in ihren Ansichten beherrscht. Der gesellschaftliche Abschluß
von der Mannschaft und' leider jetzt auch vom Civil hat die Einzelnen in
eine fast sklavische Abhängigkeit von der Stimmung des Offiziertisches gebracht,
und von den vorgeschriebenen Ansichten, welche mit burcaukratischer Reichlich¬
keit ihnen zugetheilt werden. Ganz anders ist die Stimmung der preußischen
Stabsoffiziere, der Blüthe des Heeres. Auch sie sind gezwungen, Umgang.
Wort, Miene sorglich zu überwachen; denn ein unbewachter Ausdruck der ketze¬
rischen Ansicht, daß zweijährige Dienstzeit allerdings genüge, einen Mann aus¬
zubilden, oder die noch unleidlichere Ansicht, daß die neue Heeresorganisation
die beste taktische Grundlage der Armee, den starken Bataillonsbestand im
Frieden verdorben habe, vermag jetzt den talentvollsten Offizier sofort aus
seiner Carriere herauszuwerfen, wie etwa zur Zeit Philipp des Zweiten der
leiseste Verdacht einer Ketzerei. Aber hinter dem vorsichtigen Schweigen dieser
Gentlemen birgt sich sehr viel gesundes Verständniß der kritischen Lage, in
welche die Armee durch die neuen Einrichtungen gekommen ist, eine scharfe und
bittre Kritik des Kriegsministeriums und der untauglichen Generale des Hofes.
Und es ist Grund zu der Annahme, daß die neue Armeeorganisation in den
Stäben der Corps und Divisionen wenig warme Freunde hat, und daß in der
Preußischen Generalität eine laute Opposition nur durch die zwingendsten Rück¬
sichten der Klugheit zurückgehalten wird. Noch unsicherer ist die Stimmung der
Mannschaft. Ueber diesen Punkt würden Vorurtheilsfreie Offiziere am besten Be¬
scheid geben können. Der preußische Soldat kann auch bei dreijähriger Dienst¬
zeit, bei strengster Beaufsichtigung durch eifrige Compagnicführcr, trotz dem Ver¬
bot liberale Blätter zu lesen, nicht Von dem Zorn isolirt werden, welcher im
Volke gegen die Negierung arbeitet. Er bringt Ansichten und Stimmungen
w die Compagnie, er wird fortwährend von Außen beeinflußt, und es ist
zu fürchten, daß das alte gute Verhältniß zwischen Offizieren und Gemeinen
"
seit Einführung der Hceresorganifation einen starken Stoß erlitten hat. Der
Soldat wird nicht besser dadurch, dah er in politischen Angelegenheiten seines
Staates zum Schweigen verurtheilt, zum Heucheln verleitet wird. Er scheidet
aus der Armee vielleicht mit verhaltenem Groll, in der Stimmung eines
Mannes, dem die Zunge gelöst wird; der Versuch, die militärische Gedanken¬
disciplin auch auf die Reservisten auszudehnen, steigert nur den Grimm der
jungen Bürger. Und wenn die Armee, im Ganzen betrachtet, dadurch herab¬
gedrückt worden ist. daß man das Verkehrteste aus ihr bilden wollte, eine
politische Parteiwaffe, so ist gerade durch denselben Versuch auch ihre Zuver¬
lässigkeit für jeden Act gewaltsamer Reaction vermindert worden. Wir hoffen,
daß Preußen nie in die Lage kommen wird, bei einem innern Zwist aus die
Stimmungen seiner Soldaten mit Sorge achten zu müssen, sollten aber unver¬
antwortliche Uebergriffe einen solchen Zustand herbeiführen, so würde die exal-
tirte Partei wahrscheinlich die Erfahrung machen, daß die Waffe, welche sie
seit Jahren so sorgfältig zugespitzt hat, sich in ihrer eigenen Hand umbiegt.
Da das Abgeordnetenhaus seine große Aufgabe, das Ministerium der
persönlichen Regierung zu stürzen, nur dadurch erfüllen kann, daß es die Un¬
möglichkeit eines solchen Regiments eindringlich erweist, so liegt ihm zunächst ob,
den Conflict auf gesetzlichem Wege zu verschärfen. Das ist, seitdem es irgendwo
eine Volksvertretung gegeben hat, überall der gebotene Weg gewesen. Er
führt bei Ausdauer und Mäßigung des Volks sicher zum Ziele, und dies Blatt
hat nie zu denjenigen gehört, welche den gegenwärtigen Zuständen in Preußen
eine längere Dauer prophezeien. Die einzelnen Schläge, welche das Abgeord¬
netenhaus gegen die Minister zu führen hat: Verweigerung der nicht gesetzlichen
Heeresausgaben für das Jahr 1863, Haftvarmachung der Minister für die
nicht bewilligten Ausgaben des Jahres 1862, Resolution und Vorbehalt einer
Ministeranklage, werden gegenwärtig von der preußischen Tagespresse discutirt.
Die Lage des Staates ist so geworden, dah jeder dieser Schritte, welcher die
Unerträglichkeit des gegenwärtigen Zustandes erweist und der Volksvertretung
nicht die Wärme der Wähler verringert, weil er das Rechtsgefühl derselben
verletzt, als ein Fortschritt betrachtet werden darf. Dem Ministerium bleiben
gegen solchen Widerstand nur drei Wege, entweder die verhängnißvolle Appel¬
lation an die Wähler, oder ein offner Versassungsbruch. oder ein demüthigender
Kampf gegen die immer mächtigere und rücksichtslosere Sprache eines tief em¬
pörten Hauses. Jeder dieser drei Wege führt unvermeidlich zu einer Ab¬
dankung.
Unterdeß wird es nicht unnütz sein, zu erwägen, unter welchen Bedingungen
der Frieden zwischen dem preußischen Volke und nicht dieser, aber einer künf¬
tigen Negierung, geschlossen werden kann. Der Herrscher Preußens, welcher
dies Ein,versiändniß herzustellen für nothwendig hält, hat zweierlei ins Auge
zu fassen. Erstens die Streitobjecte selbst, zweitens das tieft Mißtrauen, wel¬
ches seit länger als zwanzig Jahren gegen die Fähigkeit der preußischen Re¬
genten, sich von dem Einfluß einer Hofcoterie frei zu halten, im Volke groß
gewachsen ist.
Er wird sich nicht verbergen können, daß dies Mißtrauen einigen Grund
hat. Das furchtbare Schicksal Friedrich Wilhelms des Vierten lebt jedem Mit¬
glied der königlichen Familie unauslöschlich im Gedächtniß. Man braucht kein
alter Mann zu sein, um sich der Herzlichkeit und gläubigen Liebe zu erinnern,
mit welcher das Volk den ersten Reden des geistvollen Königs lauschte, umsteh
der Wärme und des hochsinnigen Vertrauens zu erinnern, mit welchen der
neue König sein hohes Amt zum Wohl seines Volkes zu verwalten gelobte.
Und wenige Jahre darauf begann die Königskrankheit des Fürsten damit, daß
er die persönliche Anhänglichkeit an sich selbst gegenüber der Liebe zu dem Staate
forderte. Aus den elenden Zuständen seiner letzte» Regierungsjahre suchte
wieder sein erlauchter Nachfolger sich selbst, die Zukunft seines Hauses und
den Staat dadurch zu retten, daß er jahrelang in erklärter Oppo¬
sition gegen das Regierungssystem seines nächsten Anverwand¬
ten, fern von Berlin auf den Kreis seiner Pflichten beschränkt lebte.
Diesem weisen Verhalten verdankte er, daß das Volk wieder ihm mit neuem
Vertrauen und junger Hoffnung entgegenjubelte. Und auch er wurde, seit er
die Krone trug, leise, unmerklich, ohne es selbst zu ahnen und die Verände¬
rung zu begreifen, in eine unhaltbare Stellung gegenüber seinem treuen Volke
gedrängt. Was zweimal geschehen ist, so darf sich ein Prinz desselben Hauses
fragen, kann das nicht noch einmal geschehen, zum verhängnißvollen dritten Mal?
Welche Wandlung eines unbefangenen Sinnes wird durch die Krone hervor¬
gebracht? Welche feindliche Gewalt arbeitet in der Luft, in welcher der König
athmet?
Wenn ein Fürst, der die Krone tragen soll, zweifelnd so fragt, möge
er auch die rechte Antwort finden. Er wird seine Minister aus der Majorität
der Volksvertreter wählen, er wird nur mit seinen Ministern regieren, er wird
jede unverantwortliche Beeinflussung seiner Ansichten durch direkte Vortrage
Einzelner in Staatsangelegenheiten vermeiden, er wird alle die Personen von
sich entfernt halten, welche unter den letzten Regierungen einen gefährlichen
persönlichen Einfluß geübt haben, er wird seine nächste persönliche Umgebung
aus politischen Freunden seines Ministeriums wählen, er wird nie vergessen,
daß ein Fürst nie zum Parteimann werden darf, er wird den Zugang zu sich
leicht machen, und er wird Hoftraditionen des siebenzehnten Jahrhunderts,
welche den Fürsten immer noch fast ausschließlich in die Gesellschaft seines alten
Lehnsadels bannen, schonend beseitigen. Sein Ministerium aber wird er aus
dem Haus der Abgeordneten bilden, welches er vorfindet. Dies Ministerium
wird voraussichtlich ein Coalitionsministerium sein, Aitliberale, Männer des linken
Centrums, ein und das andere gemäßigte Mitglied der Fortschrittspartei (Justiz
oder Handel oder Landwirthschaft), ferner einer von den drei liberalen Generälen,
deren sich Preußen erfreut, einer der Diplomaten, welche im Gegensatz zu dem jetzt
herrschenden System stehn. Es wird nicht leicht sein, ein solches Ministerium zu
bilden, und es ist nicht unmöglich, daß die Uebelstände, welche jedem Coalitions-
Ministerium anhaften, allmälig auch bei dieser Bildung hervortreten werden.
Aber es ist in der Lage/Preußens die einzig mögliche Wahl.
Die Grundlagen aber, auf denen das Ministerium zu bilden sein wird,
sind erstens: Reform des Herrenhauses durch Entfernung der gegen das Gesetz
eingefügten Mitglieder und durch eine genügende Wahl neuer; zweitens: Re¬
form des Heeres mit möglichst engem Anschluß an die bestehenden Einrichtungen
auf Grund von Vorschlägen, welche eine gemischte Commission zu machen hat.
Diese Commission wird aus einigen Organisationstalenten des Heeres gebildet
und aus Vertrauensmännern, welche das Abgeordnetenhaus erwählt.
Entschließt ein Regent Preußens sich freiwillig und zur geeigneten Stunde,
diesen Weg zu betreten und herrscht zwischen ihm und den Männern, welchen
er die Verwaltung des Staates übergeben will, ein aufrichtiges Einvernehmen
über die beiden großen Maßregeln, so sind für den Fürsten selbst die größten
Schwierigkeiten beseitigt; er hat den Wagen seines Staates in das Gleis ge¬
bracht und mag mit gutem Gewissen der Zukunft vertrauen. Das gegen¬
wärtige Ministerium hat jedem spätern der liberalen Partei die Stellung
erleichtert; wenn sonst in den Höhen, Beamtenkreisen kopfschüttelnd gegen ein
Ministerium, das seinen Schwerpunkt etwa im linken Centrum hat, bemerkt
wurde, daß diese liberalen Fractionen nicht reich an Talenten und die Talente
nicht genügend mit Autorität umgeben seien, so haben die letzten Monate auch
diese Einwendung gründlich widerlegt. Mehr als eine tüchtige Kraft ist
durch die Debatten eines Sommers und Winters in den Vordergrund getreten.
Aber selbst wenn die Zahl bedeutender Fachmänner für die innern Geschäfte
unter den Liberalen weit geringer wäre, als sie ist, es wird ihnen nicht schwer
werden, sich vor dem Volke und dem Auslande als tüchtig und bedeutend zu
erweisen, da sie den Vorzug haben, Nachfolger des gegenwärtigen Ministeriums
zu sein.
Noch ist der Conflict zwischen Krone und Volk in Preußen jetzt durch
eine schnelle und aufrichtige Aenderung des Systems zu beseitigen. Aber die
Brandung schwillt, und die Sibylle verbrennt den Zögernden eines ihrer Bücher
Es war der verewigte Ernst Guhl, der in seinen Künstlerbriefen zuerst
für weitere Kreise auf die Lücken aufmerksam machte, die bis jetzt in der Kennt¬
niß des Lebens Michelangelos bestanden, und auf die reiche Quelle, welche sich
namentlich in den Briefen für manche bis dahin wenig beachtete, jedenfalls
nicht im Zusammenhang behandelte Seite desselben eröffnete. Obwohl er
nur die in Bottaris und Gayes Sammlungen mitgetheilten Briefe benutzen
konnte, wußte er, gestützt auf die darin enthaltenen Züge, soweit es in Form
eines Commentars möglich war, die Grundlinien zu einem Gesammtbild des
Künstlers zu entwerfen, das für die Würdigung von Michelangelos Persönlich¬
keit bahnbrechend genannt werden darf. Namentlich ging er in Michelangelos
Wesen jener „merkwürdigen Doppelnatur" nach, „in der sich eine herbe und
strenge Größe mit einer gewissen Weichheit der Empfindung auf das Wunder¬
barste verbindet". Er fand auf Grund dieser Briefe, daß zu dem Eindruck
der Größe, den man, wenn von Michelangelo die Rede ist, als den vor¬
wiegenden bezeichnen kann, sich überall zugleich der einer »ungemeinen Milde
und Liebenswürdigkeit" gesellen werde. Diese neugcfundene Seite wurde viel¬
leicht zu stark hervorgehoben, allein das Resultat war in jedem Falle, daß das
Bild einer höchst vielseitig entwickelten' Persönlichkeit sich aus den vorhandenen
Documenten müsse gewinnen lassen.
Guhl beabsichtigte auch eine ausführliche Lebensbeschreibung des Künstlers
auszuarbeiten. Ob ihn nur sein früher Tod, der als die Zerstörung vieler
schöner Hoffnungen zu beklagen ist, daran verhinderte, oder die inzwischen be-^
gvnnene Arbeit von Hermann Grimm, wissen wir nicht. Aber auch Grimm
scheint durch die Künstlerbriefe zu seinen Studien über Michelangelo geführt
worden zu sein. Durch ihr Erscheinen war der Aufsatz „Rafael und Michel¬
angelo" angeregt, der in den „Essays" von H. Grimm wieder abgedruckt
worden ist. Jetzt hat auch sein großes zweibändiges Werk seinen Abschluß
gefunden*), ein Werk, daß wir es gleich sagen, welches unserer Literatur Ehre
wacht, das in großem Sinn sich die Aufgabe gestellt und' in großem Sinn sie
ausgeführt hat. Mit ausdauernder Energie hat sich der Verfasser in einen
überreichen Stoff vertieft, der in der That endlos schien und auf jedem gewon¬
nenen Punkte wieder neue unabsehbare Perspectiven eröffnete; mit kritischem
Scharfblick hat er diesen Stoff gesichtet, Beziehungen aufgefunden, an denen
die bisherige Forschung vorüberging, auf schon Bekanntes neue Schlag¬
lichter geworfen und endlich das Ganze in eine Form gegossen, die, wie ein
ächtes Kunstwerk thun soll, die Mühe des Suchens und Zurichtens vergessen
läßt.
Wenn es zum Verständniß einer Künstlernatur selbst einer künstlerischen
Ader und zur Vereinigung zerstreuter, an entlegenen Orten verborgener Notizen
zu einem zusammenstimmenden Gemälde der Gabe comvinatorischen Scharfsinns
bedarf, so bringt Grimm eben diese Eigenschaften in hohem Grade mit. Nur
liegt eine Gefahr dabei nahe. Mit der Gabe der Combination wird, ermu-
thigt durch jeden glücklichen Fund, auch die Lust und Neigung dazu Hand in
Hand gehen. Es sind der Punkte viele, wo er seine Vorgänger berichtigt und
mit zureichender Begründung Neues aufstellt. Aber häusig sind es auch Nur Ver¬
muthungen, mit denen er eine in den Quellen gelassene Lücke überbrückt, und
wir gewinnen bald den Eindruck, daß er gerade ihnen mit besonderer Vorliebe
nachgeht. Die schönsten und überraschendsten Ausführungen gehören zum Theil
diesem Gebiet an, und es ist wahr, immer sind sie blendend und geistvoll be¬
gründet. Um Einzelnes hervorzuheben, wird z. B. Niemand widerstreiten, wenn
Grimm die Entstehung der beiden Gedichte an Dante in die Zeit versetzt, da
Michelangelo aus der belagerten Stadt Florenz entflohen war und in Venedig
ein Geächteter lebte. Sein Aufenthalt daselbst dauerte zwar nur vierzehn Tage,
und war von mannigfachen Anträgen, besonders aber von der Angelegenheit seiner
Rückkehr nach Florenz in Anspruch genommen. Auch betrachtete er sich die
ganzen letzten dreißig Jahre als einen freiwillig von Florenz Verbannten.
Indessen, sollten diese Gedichte an einer bestimmten Stelle der Lebensbeschrei¬
bung eingereiht werden, so lag es immerhin nahe, daß er eben in jenen Tagen
lebhaft an das verwandte Schicksal Dantes erinnert wurde, und solcher Stim¬
mung die Klage über „die undankbare Heünath" entsprang, „die stets die Besten
mit den bittersten Schmerzen belud". Unbedenklich erscheint, wenn man Va-
saris Autorität nicht gelten lassen will, die Behauptung, daß bei den beiden
Medicäcrstatuen in der Sacristei von San Lorenzo bisher die Namen ver¬
wechselt worden seien, da vielmehr die nachdenkliche Figur den melancholischen
Giuliano, die andere den kriegerischen, hochmüthigen Herzog von Urbino bedeute.
Daß die Madonna zu Brügge ein Werk Michelangelos ist, darf als erwiesen
gelten. Die Ansicht, daß die angebliche Galatea Rafaels in der Farnesina viel¬
mehr eine Venus sei, ist mit Glück auf den Zusammenhang dieser Composition mit
der Fabel von Amor und Psyche gestützt. Ueberraschend ist die Entdeckung, welche
Grimm auf einem alten Stich vom Jüngsten Gericht in der sistinischen Kapelle ge'
macht hat. Bestätigt es sich, daß auf einem Stich vom Jahre 1548 an der Stelle
der Maria zur Seite des weltrichtcnden Jesus sich ein Mönch befindet, so wirft
dies allerdings el» bedeutsames Licht auf die Stellung, welche Savonarola im
Herzen, ja in der Weltanschauung des Künstlers noch lange nach dem Tode
des Mönchs von San Marco behauptet hat. Höchst anziehend ist ferner die
Conjectur, die aus Anlaß des bekannten Berichts von Meister Franz v. Hol¬
land aufgestellt wird. Meister Franz beschreibt nämlich zwei Zusammenkünfte,
die er mit Michelangelo, Vittoria! Colonna, einem Herrn Lattantio Tolomei
und dem Kanzelredner Fra Ambrosio aus Siena an zwei Sonntagen in der
Kirche San Silvcstro gehabt. Dieser Lattantio Tolomei, vermuthet Grimm,
sei vielmehr Claudio Tolomei, der in dem reformatorischen Kreise, der sich um
Vittoria Colonna bildete, eine Rolle spielte, und Fra Ambrosio sei vielmehr
Fra Bernardino von Siena, d. h. kein anderer als Bernard Occhino selbst ge¬
wesen. Allerdings würde dadurch dies Zusammensein, dessen Beschreibung
zugleich für den Verkehr 'Michelangelos - mit Vittoria Colonna für jetzt die
wichtigste Quelle ist, eine erhöhte Bedeutung gewinnen. Mit Recht hat Grimm
den ganzen Bericht seinem Buch einverleibt, es ist nur zu bedauern, daß seine
Nachforschungen nach dem Original erfolglos gewesen sind.
Auch das vielbesprochene Verhältniß Michelangelos zu Raphael ist ein
Punkt, der sich schwer durch stricte Beweismittel erledigen läßt, bei dem viel¬
mehr nach Kenntnißnahme der Acten dem Takt des Geschichtschreibers die
Entscheidung überlassen bleiben muß. Die Zeugnisse lauten zu Ungunsten dieses
Verhältnisses, aber sie sind verdächtig. Sicher ist, daß die Gegnerschaft der
beiden Männer wenigstens mehr ein Austreten ihrer Anhänger wider einander,
als in ihrer eigenen Seele zu Hause gewesen ist. Grimm gibt sich viele Mühe,
ihr Andenken von all den kleinen Flecken zu reinigen, welche in dieser Bezie¬
hung namentlich der geschwätzige Vasari ihnen angehängt hat. Aber es ist
schließlich doch ein ganz allgemeines ideales Motiv, das ihn dabei leitet. Ihre
Feindschaft, meint er, würde gegen ein Naturgesetz verstoßen, das keinen Wider¬
spruch dulde; die Vortrefflichkeit bilde zwischen denen, die sie besitzen, eine
unzerstörbare Gemeinschaft. Allein es scheint mir weder nöthig, an ein so
ideales Princip zu recurriren, noch allzuhohes Gewicht aus den Werth oder
Unwerth der einzelnen überlieferten Züge zu legen. Die Hauptsache wird die
scharfe Charakterisirung der beiden Künstlernaturen sein. Ein tieferes Eindringen
in die Individualität eines jeden wird vollkommen hinreichen, um die Klust,
welche sie thatsächlich trennte, zu erklären, ohne daß hierbei auf den Einen
oder Andern ein besonderer Vorwurf fällt. Sie waren weit gegensätzli¬
chere Naturen als Goethe und Schiller, die Grimm zum Vergleich herbeizieht.
Letztere hatten Berührungspunkte, bei denen gerade ihr innerstes Wesen sich
gegen einander öffnete. Sobald diese einmal gesunden waren, ergab sich der
innigste Verkehr von selbst — bei' Raphael und Michelangelo wäre dies un¬
denkbar gewesen.
Auch im Verhältniß Michelangelos zu Papst Leo dem Zehnten will
Grimm „seine Spur" von Spannung und Mlßhclligkeit zugeben. Was er
noch im ersten Band darüber gesagt, erscheint ihm jetzt als durchaus unhaltbar.
Allein daß die Charaktere unmöglich mit einander Harmoniren konnten, wird
er schwerlich widerrufen wollen. Die Biographen erzählen gar nichts über
das Verhältniß der Beiden. Aber schon dies Schweigen erscheint bezeichnend,
während sie das Verhältniß zu Julius dem Zweiten als ein freundschaftliches,
vertrautes, wenn auch durch einzelne jähe Ausbrüche unterbrochenes schildern; es
ist um so beredter, als Michelangelo in seiner Jugend drei Jahre lang im
Hause Lorenzos des Prächtigen aufgenommen war und zugleich mit dessen
Söhnen erzogen wurde, von welchen eben Giovanni, nachmals Leo der Zehnte,
im Alter ihm am nächsten stand. Ich möchte eher sagen: von dieser Jugend-,
genossenschaft ist in dem spätern Verhältniß „feine Spur" mehr zu entdecke».
Mag es auch als Rücksicht für Michelangelo gedeutet werden, daß der Papst
ihn zwei Jahre lang nicht durch eigene Aufträge an der Arbeit am Grabmal
Julius des Zweiten verhinderte, wie Michelangelo denn wirklich nur mit
Thränen die neuen Aufträge entgegennahm, so ist es doch Thatsache, daß die
Schwierigkeiten, die er mit den Vorbereitungen zur Herstellung der Fayade von
San Lorenzo in Florenz hatte, vermehrt wurden durch Hindernisse, die von
Seiten des Papstes kamen, Thatsache, daß es eine Laune Leos war, die ihn
zwang, den Marmor, anstatt wie anfangs in Carrara, später in Serravizza und
Pietrasanta zu brechen, wo allein zum Transport eine neue Straße ans Meer
gebaut werden mußte. Allerdings war es wirklicher Geldmangel, der Leo
nöthigte, die Mittel für künstlerische Zwecke einzuschränken; allein wir lesen
nirgends, daß dieser Geldmangel auch für Raphaels Arbeiten vorhanden war,
und als Michelangelo vom Papst unter einem nichtigen Vorwand nun förmlich
untersagt wurde, an den Arbeiten fortzufahren, werden, wie Grimm selbst er¬
zählt, Anstalten getroffen, um den Bau der Fayadc — es war die Familien-
kirche der Medici — ohne Michelangelos Mitwirkung dennoch weiter zu betreiben.
Vier Jahre hatte er auf diese Weise rein verloren; er hatte sich dazu in den
Steinbrüchen krank gearbeitet. Der Schmerz und die Entrüstung, die er über
diese Behandlung fühlte, wird nicht nur von Condivi bezeugt, sondern spricht
laut auch aus der Denkschrift, die er selbst über den Fcxzadenbau aufsetzte, und
wenn er seine Vorwürfe nicht direct gegen den Papst richtete, so folgt nicht,
daß er ihn damit von aller Schuld freisprach.
Hiermit ist natürlich die Reihe derjenigen Punkte, wo wir das Gefühl
haben, auch auf unsicherem Boden zu stehen und wo die Darstellung Grimms
noch zu weiterer Untersuchung anregt, nicht erschöpft. Vieles darf noch von den
unveröffentlichten florentiner Papieren gehofft werden. Daß das ganze Mate¬
rial noch nicht zur Benutzung offen stand, ist bei den Vorzügen des Grimm-
schen Buchs doppelt zu bedauern. Je umfassender das Werk angelegt, mit je
größerer Vollendung es ausgeführt ist, um so schärfer treten auch die Stellen
hervor, wo uns die Hand authentischer Geschichtserzählung verläßt. H. Grimm
arbeitete mit einem weit reicheren Material als alle seine Vorgänger, aber noch
nicht mit dem ganzen. Er selbst fühlte diesen Mangel am besten, der nicht
sein Verschulden ist und eine Zeit lang selbst die Fortsetzung der Arbeit in
Frage stellte.
Am Schlüsse des ersten Theils hatte er die Hoffnung ausgesprochen, daß
er für die Fortsetzung den handschriftlichen Nachlaß Michelangelos werde be¬
nutzen können, der zu Anfang des Jahres 18S8 durch das Vermächtniß des
florentinischen Staatsministers Cosimo Buonarroti in den Besitz der Stadt
Florenz gelangte, und zu welchem zwei Jahre später »ach dem Tode des letzten
Sprößlings der Familie, des Malers Michelangelo Buonarroti, auch noch der
Rest des Familienarchivs kam. Diese Hoffnung ging nicht in Erfüllung. Nicht
nur durfte er selbst in Florenz keine Einsicht von den Papieren nehmen, sondern
auch ihre Bekanntmachung durch den Druck ist überhaupt noch zweifelhaft, da
das Testament des Cosimo Buonarroti ausdrücklich die Clausel enthalt, daß
von den Papieren wie von den Handzeichnungen nichts veröffentlicht werden
solle. Indessen darf man, wie es scheint, die Hoffnung doch nicht aufgeben, daß
die Stadt, wie dies dringend im wissenschaftlichen Interesse liegt, auf irgend eine
Weise diese Verordnung umgehen werde. Auch gab man mir im Sommer 1861
in Florenz zu verstehen, daß es mehr eine gewisse Eifersucht der Stadt sei,
welche einem Ausländer die Einsicht und Benutzung der Papiere nicht ver¬
statten wolle, da sie selbst, die Eigenthümerin, den Ruhm beanspruche, daß
ihre eigenen Gelehrten mit der Benutzung dieses werthvollen Materials voran¬
gingen. Und mit den Vorarbeiten zur Herausgabe sind in der That die floren-
tinischen Gelehrten längst beschäftigt. Als Verwaltungsrath für den ge-
sammten Nachlaß wurden in jenem Testament der Director der Galerie der
Statuen, der Director der Laurcnziana und der Bürgermeister der Stadt ein¬
gesetzt. Von ihnen erhielt zuerst der Beamte an der Galerie der Statuen,
I. C. Cavallucci, die Erlaubniß, den Nachlaß einzusehen, die Documente zu
copiren und für den Druck vorzubereiten, zu welchem Geschäft ihm sein College
Carlo Pini und Gaetano Milanesi, Mitglied der Crusca und Director des
toscanischen Centralarchivs beigegeben wurden. Carlo Milanesi konnte schon
im ersten Hefi des ^iclrivio storiev vom Jahre 1861 berichten, daß die Co-
Pirung und Sichtung vollendet und die ganze Sammlung druckfertig sei. Nach¬
dem nun die Sache so weit gediehen, die florentinischen Gelehrten ausgedehnte
Einsicht von den Schätzen genommen, ist in der That nicht mehr einzusehen,
was der Herausgabe im Wege stehen soll. Mit Recht sagt C. Milanesi: „offen¬
bar Halle Buonarroti mit seiner Schenkung die Absicht, für die bessere Erbat-
tung dieser Documente zu sorgen, aber wie kann dieser Zweck besser erreicht
werden, als durch ihre Vervielfältigung mittelst des Druckes? Dies allein
schützt sie gegen unvorhergesehene Unglücksfälle, Sind sie einmal durch den Druck
allgemein verbreitet, so hätte man, selbst wenn sie unglücklicherweise zu Grunde
gehen sollten, einen vollgenügenden Ersatz. Und das Vermächtnis; an die
Stadt schloß doch von selbst die Absicht ein, sie „für die allgemeine Benutzung
zugänglich zu machen". Allein in diesem Stadium befindet sich leider die
Sache noch immer. Noch fehlt ein entscheidender Beschluß des Verwaltungs-
raths, in jedem Falle scheint die Herausgabe noch weitausschend, und so ent¬
schloß sich denn Grimm, nachdem er eine Zeit lang geschwankt, doch sein Buch
zu Ende zu führen, zugleich in dem Bewußtsein, daß am Ende diese Briefe
gewissermaßen doch nur ein geringer Theil dessen waren, was ihm fehlte.
Wiederholter Aufenthalt in Rom und Florenz, genauere Kenntniß der europäi¬
schen Museen, tieferes Studium der Geschichte von Toscana sowohl als der
politischen Ereignisse, die das sechzehnte Jahrhundert erfüllen, schienen ihm
noch wichtigere Erfordernisse, und wenn er sich nun beschied, dem ungeachtet
nach dem Maß seiner Fähigkeit Michelangelo und seine Zeit darzustellen, so
konnte er, wie er sagt, mit leichterer Mühe sich in das Schicksal finden, die
Briefe zu entbehren.
Ganz ist übrigens der Buonarrotische Nachlaß nicht in den Archiven zu
Florenz verschlossen. Ein nicht unbeträchtlicher Theil ist an das britische Museum
gekommen. Auf welche Weise, ist nicht recht aufgeklärt. Die florentinischen Blätter
führten seiner Zeit laute Klage über die Nachlässigkeit des Oberbibliothekars
der Laurenziana, dessen Aufsicht sie anvertraut waren, und der sie in Privat¬
hände übergehen lieh, weil er sich nicht die Mühe nahm, sie genau anzusehen.
Diese Briefsammlung nun ist von H. Grimm in ausgedehnter Weise benutzt,
und was daraus für die im ersten Band behandelte Zeit von Werth war. im
ersten Capitel des zweiten Theils nachgetragen worden. Die Ausbeute beschränkt
sich allerdings fast nur auf Privatverhältnisse, die meist nicht von erheblicher
Bedeutung sind. Bon der Strömung der Zeit, von der Trauer um das, was
ihm mißlungen, der Hoffnung auf die Zukunft enthalten die Briefe wenig.
Einzelne Seiten seines Charakters zeigen sie in ihrer ganzen Schärfe, wo man
früher nur ahnte, daß es so wäre, aber auch „hier wieder nicht bei Ereignissen,
die bedeutend sind." Indessen sind zur Feststellung von Daten auch solche an
sich unbedeutende Notizen für den Geschichtschreiber nicht zu unterschätzen, und
Grimm selbst hat bewiesen, welchen Werth er mit Recht auch aus diese Ge¬
nauigkeit im Einzelnen legt"), trotzdem daß er in seiner zuweilen etwas über-
schwänglichen Weise meint: wenn wir auch nur seine Arbeiten, die Biographie
Cvndivis und die Geschichte von Florenz und Rom besäßen, aus dem Marmor,
den diese liefern, ließe sich die Gestalt des Mannes heraufbauen, wie er war,
und was dazu kommt, helfe das Bild nur glätten und feiner ausarbeiten, ohne
daß der ersten Anlage nach eine Falte anders gelegt zu werden brauchte.
Allein es ist aller Grund vorhanden zu vermuthen, daß dasjenige, was
noch im Buonarrotischen Archiv verborgen ist, die Papiere im britischen Mu¬
seum, welche vorzugsweise die Korrespondenz der Familie enthalten, an Werth
weit überragt. Schon die Zahl der noch rückständigen Documente ist erstaun¬
lich, sie beträgt etwa 1100, während bis jetzt erst 200 auf Michelangelo bezüg¬
liche Schriftstücke veröffentlicht worden sind. Unter jener Zahl befinden sich
etwa 300 Briefe von Michelangelo selbst. Weit größer ist die Zahl der an ihn
gerichteten Briefe, und wir finden darunter nicht nur die Namen einer Menge
gleichzeitiger" Künstler, wie Bartolomeo Ammarati, Baccio d'Agnolo, Agnolo
Bronzino, Tommaso Cavalieri, Ascanio Condivi, Franz von Holland, Baccio
da Montelupo, Giovanni da Udine, Sebastian bei Piomdo, Andrea und Jacopo
Sansovino, Giorgio Vasari und vieler Anderer, sondern auch die Namen anderer
hervorragender Persönlichkeiten, wie Benedetto Varchi, Pier Soderini, Vit-
toria Colonna, Franz der Erste von Frankreich, Caterina de' Medici, Cosimo
der Erste. Außerdem neue Documente, die sich auf das Grabdenkmal Julius
des Zweiten, auf die Fayade von, San Lorenzo, die fünfzehn Statuen für die
Kapelle Piccolomini im Dom von.Siena und andere Arbeiten Michelangelos
beziehen.
Man wird es unter diesen Umständen kaum übertrieben finden, wenn
Milcmesi, dessen Bericht diese Notizen entnommen sind, hinzufügt! „mit diesen
Documenten in der Hand läßt sich das Leben Michelangelos von neuem schreiben.
Nicht nur wird durch sie Vieles berichtigt, Vieles zum ersten Mal bekannt,
sondern es wird durch sie auch der vollständige Beweis hergestellt, daß Michel¬
angelo, der große Künstler, ein ebenso großer Mensch und Bürger gewesen,
ein Muster der. Rechtschaffenheit im öffentlichen wie im Privatleben. Außerdem
aber enthalten sie so Vieles über die Geschichte der gleichzeitigen Kunst und
Künstler, daß diese Sammlung eine Art Archiv der gesammten Kunstgeschichte
des Jahrhunderts bildet, das von ihm den Namen hat, und als der gewal¬
tige Mittelpunkt dieser künstlerischen Thätigkeit, als die unbestrittene, allver¬
ehrte Autorität erhebt sich Michelangelo selbst in seiner ganzen Größe."
Es liegt auf der Hand, welcher Schach hier noch verborgen sein muß, gerade
für eine solche Fassung der Aufgabe, wie sie Hermann Grimm sich gestellt hat,
nämlich Michelangelo im ganzen Zusammenhang seiner Zeit darzustellen, das
Leben des Künstlers zugleich in eine Geschichte des ganzen Zeitalters nicht blos
nach seinem kunsthistorischen, sondern auch nach seinen politischen, religiösen,
kulturgeschichtlichen Beziehungen zu verflechten.
Es gehört zu den ersten Anforderungen an die moderne Bivgraphik, das
Bild eines bedeutenden Mannes aufzutragen auf den Hintergrund der ganzen
Zeit, der er angehört. Die umgebende Welt erscheint theils als der Stoff,
mit welchem und in welchem er arbeitet, theils als ein Komplex befruchtender
Momente, die auf ihn wirken. Wir müssen kennen, was vor ihm war, um
zussverstehen, mit welcher Mission er an seinem Theile in die geschichtliche Ent¬
wicklung eingriff, und das Neue selbst wieder, das mit ihm in die Erscheinung
tritt, sind wir verpflichtet aus den allgemeinen Bedingungen der Zeit nach
zuweisen.
Diese Doppelaufgabe, mit dem Leben des Einzelnen zugleich die Geschichte
der Zeit zu verbinden, drängt sich nun wohl in seltenen Fällen so unabweis¬
bar von selbst, man kann sagen so verführerisch auf, als eben im Leben
Michelangelos. Unter all den mannigfaltigen Erscheinungen jenes vielbeweg-
ten Jahrhunderts wird es nicht leicht eine geben, die außerhalb des Gesichts¬
kreises fällt, den die Biographie Michelangelos im Auge zu behalten hat. In
diesem Sinn sagt Grimm: „er und die Ereignisse, die er erlebte, sind eins.
Je erhabener der Geist eines Mannes ist, je mehr erweitert sich der Umkreis,
den seine Blicke berühren, und was sie berühren, wird ein Theil seines Da¬
seins." Daß seine künstlerische Mission nur im Zusammenhang mit der gan¬
zen Kunstentwicklung seiner Zeit verstanden werben kann, versteht sich ohnedies
von selbst. Allein neben dem Künstler interessirt uns in nicht minderem Grade
der Mensch, der Denker, der Dichter, der die ersten Eindrücke einer idealen
Weltanschauung in der Schule Polizians und im Umgang mit den platonischen
Akademikern erhielt, der dann ein Schüler Savonarolas wurde und neben
seinem Dante die Bibel studirte, und der endlich gegen den Abend seines Le¬
bens mit der italienischen Reformationsbewegung in Verbindung steht und von
ihr aufs tiefste berührt wird. Dazu dann sein äußeres Leben, das wechselnde
Verhältniß zu seinen Auftraggebern, seine Theilnahme an den politischen Käm¬
pfen. Aus dein Freund des medicäischen Hauses wird ein glühender Anhänger
der Republik, das Schicksal seiner Vaterstadt wird sein persönliches Schicksal,
mit jedem Papst, der zur Regierung gelangt, beginnt gleichsam ein neuer Ab¬
schnitt seines Lebens, und die politischen Wechselfälle, denen die Herren von
Rom unterworfen sind, greifen zum Theil direct in seine künstlerische Wirksam¬
keit el». Sind wir dann am Ende dieses Lebens angelangt, und werfen einen
Blick rückwärts, so fällt uns mit einem Male die ungeheure Veränderung ins
Auge, die sich inzwischen auf allen Gebieten vollzogen hat. Nicht blos die
Kunst ist eine andere geworden, wesentlich durch die Einwirkung Michelangelos
selbst, sondern auch das Verhältniß der Kunst zum Leben, die persönliche Stel¬
lung der Künstler, die politischen, religiösen, socialen Bedingungen haben sich
geändert, das Papstthum hat sich erneuert, das Hofleben inzwischen seinen mo¬
dernen Charakter entwickelt, das ganze Jahrhundert hat eine völlig andere Ge-
stalt angenommen. Und es ist keineswegs eine willkürliche Abschweifung, wenn
der Biograph Michelangelos auch alle diese Veränderungen aufmerksam ver¬
folgt; denn auf Schritt und Tritt drängen sie sich im Lebendes Künstlers auf,
sein Charakter wie seine äußere Stellung werden durch sie wesentlich bestimmt.
Sein Leben ist recht eigentlich ein Stück Zeitgeschichte, wie hinwiederum die
Zeitgeschichte mit dem wechselnden Verlauf ihrer Erscheinungen ein wesentliches
Moment seines Lebens ist. Für den Biographen eröffnet sich somit eine Auf¬
gabe, so wcitumsassend und so vieler Detailstudien bedürftig, daß auch nur ein¬
zelne Punkte wesentlich gefördert zu haben, verdienstvoll ist, eine Aufgabe, wür¬
dig eines Historikers im größten Sinn.
Einen ersten Versuch, von diesem Gesichtspunkt aus das Leben Michel¬
angelos zu schreiben, machte der Engländer Harford (I^its o! Nieriölmrgölo
Kuonai-roti II vol. I^onäou 1857). Er streute zu diesem Zweck da und dort
längere Cxcurse ein, in denen er sich über die politischen Verhältnisse in Flo¬
renz, über die platonische Akademie, über Savonarola, Viktoria Colonna, die
Reformationsbewegung in Italien u. s. w. ausführlich verbreitet. Aber diese
Excursc könnten ebensogut als Anhang am Schlüsse stehen, sie sind zu wenig
innerlich verknüpft mit der eigentlichen Erzählung, man vermißt den schärferen
Nachweis, wie das Leben des Künstlers in jedem Moment in die allgemeinen
Ereignisse und Erscheinungen übergreift oder durch sie beeinflußt wird. Da¬
nger ist es nun gerade die Eigenthümlichkeit von Hermann Grimms Dar¬
stellung, daß er diesen Zusammenhang jeden Augenblick festhält. Ein schneller
und unaufhörlicher Wechsel führt uns aus des Künstlers Werkstatt in die seiner
Mitgebenden, führt uns bald in die Gemächer des Vatican, bald in die
Rathsversammlung von Florenz, läßt bald die Entwürfe des deutschen Kaisers,
bald die Anfänge der deutschen Reformation vor uns vorüberziehen, schildert
hier eine blutige Schlacht, dort einen üppigen Hof, um dann wieder zu
einem fein ausgeführten Künstlcrporträt oder an das Malergerüft Michel¬
angelos selbst zurückzuführen — und dies Alles in rastloser Durchkreuzung und
Unterbrechung; immer wieder reißt der Faden ab, um später gelegentlich wieder
angeknüpft zu werden.
Es ist nun nicht zu läugnen, die Erzählung ist immer spannend und geist¬
voll, auch die Anordnung des Stoffs zeigt künstlerisches Verständniß. Man
kann nicht sagen, daß der Eindruck ein verwirrender ist, wenigstens für den, der
mit der Geschichte des Jahrhunderts bereits vertraut ist. Aber Eines leidet
unter dieser Form der Darstellung doch Noth, und dies ist die Persönlichkeit
Michelangelos selbst.
Michelangelo greift nämlich nicht in solcher Weise in die geistige und po¬
litische Bewegung seiner Zeit ein, daß sein Leben von selbst ein natürlicher
Mittelpunkt derselben wäre; kaum für seine künstlerische Bedeutung trifft dies
zu, wenigstens erst in seinen späteren Jahren. Er erscheint der ihn umgeben¬
den Welt gegenüber überhaupt weit weniger activ, als vielmehr passiv, er ist
in seinem Leben wie in seiner geistigen Entwicklung weit mehr durch sie be¬
stimmt, als er ihr — wiederum mit Ausnahme der Kunst — zurückgibt. Wie
wenig ist uns zum Beispiel aus Anlaß der Belagerung von Florenz im Jahre
1529 von der Theilnahme Michelangelos Authentisches überliefert worden.
Wir wissen, daß er als Obercommissär der Befestigungsarbeiten allerdings eine
bedeutende Rolle dabei spielte, und lassen uns darum die ausführliche Beschreibung
der Belagerung ganz gern gefallen, weil wir wissein dies war die Luft, die er
damals einsog, die Scenen, die er mit ansah, das Pathos, das ihn erfüllte.
Aber wie sehr tritt doch seine Persönlichkeit zurück in den Dienst des all¬
gemeinen Ganzen? Und so ist es überall. Wir wissen, daß er Mitglied der
platonischen Akademie, daß er ein Anhänger Savonaroias war, daß er mit
Victoria Colonna über das Dogma der Rechtfertigung durch den Glauben
grübelte, daß er in die politischen Stürme seiner Vaterstadt mit dem Herzen
wie mit der That verwickelt war. Aber es sind fast nur zerstreute zufällige
Notizen, die uns davon Kunde geben. In keiner dieser Beziehungen greift er
mit einer Selbständigkeit ein, die namhafte Spuren zurückgelassen hätte. Wir
verstehen Michelangelo 'nicht, wenn nur nicht allen jenen Beziehungen nach¬
gehen, aber wir können diese erschöpfend verstehen, ohne von Michelangelo
Notiz zu nehmen. In einer allgemeinen Geschichte der Zeit würde es nur stören,
wenn immer wieder das eine Bild dieses Künstlers auftauchte, aber umgekehrt
stört es in einer Darstellung, deren Mittelpunkt Michelangelo ist und sein soll,
wenn die übrigen weltgeschichtlichen Potenzen gleichsam in ihrer natürlichen
Größe aufgerückt werden, in welcher sie den einzelnen Mann erdrücken müsse».
Sollte also Michelangelo zum Mittelpunkt seiner Zeit gemacht werden,
— und in gewissem Sinne ist dies allerdings die Aufgabe des Biographen
— so war hierzu ein Standpunkt erforderlich, der nicht der des reinen Historikers
im engeren Sinne ist; es bedürfte hierzu einer künstlichen Beleuchtung und Grup-
pirung, in welcher eben das Princip der biographischen Kunst besteht. Der
Geschichtschreiber stellt den einzelnen Mann in seinem wirklichen Verhältniß zu
Zeit und Umgebung dar; er thut dies, indem er sich auf eine bestimmte Ent¬
fernung stellt, in welcher für ihn innerhalb des Gesichtskreises, den er über¬
sieht, das Einzelne im richtigen gegenseitigen Verhältniß steht. Der Biograph
dagegen stellt sich mit Absicht in die Nähe des Gegenstandes, den er heraus¬
greift, und setzt ihn noch überdies auf ein Postament, um ihn von allen Sei¬
ten betrachten zu können. Alles Andere aber, was den Gegenstand als dessen
Lebenselement umgibt, wird sich von hier aus perspektivisch abstufen. Es ver¬
liert dadurch nichts von seiner Bedeutung, aber es ist nun ein Mittelpunkt da,
auf welchen das volle Licht fällt, gegen den das Andere je nach Verhältniß
zurücktritt, und der immer wieder von selbst seine Anziehungskraft ausübt,
wenn auch der Blick abwechselnd die Ferne durchmißt. Der Schein, als stehe
diese Figur nun wirklich beherrschend im Mittelpunkt, ist allerdings eine Illu¬
sion, aber er ist berechtigt, weil man an jede einzelne Figur einen ähnlichen
Maßstab anlegen kann, er ist keine künstliche Verschiebung, er ist nicht unwahr,
so wenig als die Gesetze der Perspektive unwahr sind.
Dieser beherrschende Mittelpunkt nun, auf den sich alles Andere zurück¬
bezieht, ist es, den wir vermissen. Das Interesse wird.zerstreut, indem auf je¬
den einzelnen Punkt, den der Gang der Erzählung berührt, ein zu volles Licht
fallt. Gerade ein besonderer Vorzug von Grimms Darstellung wird in dieser
Beziehung verhängnißvoll, nämlich die lebendige drastische Erzählung. Indem
Alles, auch das Beiwerk mit größter Lebendigkeit erzählt wird, tritt es mit
dem Anspruch auf, daß es um seiner selbst willen da sei; es fesselt viel zu sehr
für sich, anstatt nur ein Moment in der Biographie zu sein, die sich nun ein¬
mal um den einen Helden drehen soll.
Das Gesammtbild des Künstlers, das doch des Ganzen Resultat sein soll,
ist jeden Augenblick unterbrochen. Der Leser muß es aus den einzelnen Stü¬
cken sich selbst zusammensetzen, anstatt daß es der Biograph vor ihm aufbaut.
Die Erlebnisse Michelangelos sind wie eingeengt durch die Masse des Stoff¬
lichen, das von allen Seiten herandrängt, und diese Wirkung ist um so un¬
vermeidlicher, je bunter dieses Stoffliche seinem Inhalt nach ist. In dieser
Beziehung hat der Verfasser demjenigen, was wir oben das Verführerische in
dem Gegenstand mit seinen reichen Beziehungen nach allen Seiten nannten, zu
sehr nachgegeben. Der wahre Geschichtschreiber zeigt sich auch in der Be¬
schränkung. Grimms Buch aber macht zuweilen den Eindruck, als ob er alle
Einzelstudien, die ihm für seinen Zweck allerdings unentbehrlich waren, als
Theil der Darstellung selbst einzureihen bemüht gewesen sei. Was hat z, B.
eine seitenlange Beschreibung der Malereien Rafaels in der Farnesina, was ein
Excurs über die venetianische Schule, eine Charakteristik Correggios oder die
Herleitung der Motive der deutschen Reformation und manche politische oder
geschichtsphilosophische Auseinandersetzungen mit dem Leben Michelangelos zu
thun? Die Gestalt Michelangelos wird nicht gehoben, sondern beeinträchtigt
durch das eingehende sich Verbreiter über Dinge, an denen er gar keinen oder
nur einen sehr bescheidenen Antheil hat.
Es war immerhin die Aufgabe, ein Bild von der ganzen Zeit zu geben,
in weicher ein so außerordentlicher Mann wirkte, die Atmosphäre zu schildern,
in welcher er lebte und groß wurde. Allein bei der überwältigenden Fülle des
hier in Frage kommenden Stoffs war es um so mehr geboten, dabei die dop¬
pelte Rücksichtnahme festzuhalten, einmal wie das äußere Leben in diesem Zu¬
sammenhang verlief, sodann aber, wie der innere Mensch unter den mannig¬
fachen Strömungen, die ihn erfaßten, lernte, wuchs, sich kräftigte, schließlich
vielleicht abnahm. Gerade diese letztere Aufgabe aber, an Bedeutung und Inter¬
esse der Schilderung des äußeren Lebens nicht nachstehend, kommt nach mei¬
ner Ueberzeugung nicht zu ihrem vollen Recht, und es ist nicht blos die Ueber-
fülle des Thatsächlichen und die Neigung des Verfassers zu Abschweifungen auf
seitwärts liegende Gebiete, was im Wege steht, sondern es sind gerade solche
Erscheinungen, welche in dieser Beziehung sehr bedeutsam in die Entwicklung
von Michelangelos Persönlichkeit eingreifen, mit ausfallender Kürze behandelt,
so die Einwirkung des Platonismus sür die jüngern Jahre, und für die spätere
Zeit die Einwirkung des reformitten Christenthums. Wie der junge Künstler,
auferzogen mit den Söhnen Lorenzos und durch Freundschaft mit den Män¬
nern der platonischen Akademie verbunden, zuerst in die classische Bildung
jener Zeit eingetaucht, und seine Seele mit den platonischen Idealen geschwellt
wird, wie dann die Predigt Savonarolas sein empfängliches Herz ergreift, wie
unter der Arbeit am Marmor die tiefsten philosophischen Probleme durch seinen
Kopf jagen, wie er sich abmüht in dem Kampfe, den die ästhetische und die
religiöse Weltbetrachtung in ihm entzünden, wie dann die Freundschaft Vikto¬
ria Cvlonnas für ihn entscheidend wird, indem er von nun an — zugleich
unier dem Druck der sich neigenden Jahre, doch nicht ohne herbe Kämpfe —
mehr und mehr in eine religiöse Denkart sich versenkt, die bald in reuevoller
Zerknirschung, bald in verlangendem Ausblick nach dem ewigen Ziel sich kund¬
gibt, — diese ganze Entwickelung ist so einzig, und das Aufsuchen ihrer einzelnen
Aeußerungen und Wendungen so unentbehrlich zum Verständniß dieses Geistes,
daß w>r ohne sie nur den halben Michelangelo haben, und die Biographie
es geradezu als eine Hauptaufgabe betrachten müßte, diesen Entwickelungs-
gang, soweit es die Quellen verstatten, aufzuhellen und zur Darstellung zu
bringen.
Es ist möglich, daß Grimm dies einer späteren Arbeit vorbehalten hat.
Denn ich sagte mit Absicht — soweit es die Quellen verstatten. Wir stehen
hier abermals an einer Lücke, für welche der Verfasser nicht verantwort¬
lich ist.
Die Hauptquelle hierfür wären nämlich die Gedichte Michelangelos. Nun
beruhen aber alle bisherigen Ausgaben der Gedichte auf einem unzuverlässigen
Text. Sie wurden zum ersten Male herausgegeben von Michelangelo dem
Jüngern im Jahre 1623, und nach dieser Ausgabe sind alle späteren gedruckt
worden. Dieser Michelangelo versichert nun zwar in seiner Vorrede, er habe
die vaticanische Handschrift zu Grunde gelegt, dabei die Gedichte, die sich im
Besitz der Familie und sonst in Florenz befanden, verglichen, und die besten -
Lesarten gewählt. Allein schon jetzt läßt sich dieser Versicherung mit Grund
widerspreche». Der gedruckte Text weist die zahlreichsten Abweichungen von dem
vaticanischen Manuscript auf, das zum Theil die eigene Handschrift des Dich¬
ters ist, und zwar sind dieselben derart, daß die spätere Ueberarbeitung des
Herausgebers evident ist. Es ist nämlich in der Regel ein dunkler, schwerver¬
ständlicher, minder correcter Ausdruck in einen flüssigeren, eleganteren ver¬
wandelt. Noch bezeichnender für dies Verfahren ist das Manuscnpt, das im
britischen Museum aufbewahrt wird. Es ist dies die Reinschrift, nach welcher
der Druck vorgenommen wurde, enthält aber an vielen Stellen noch nachträg¬
liche Abänderungen, die in den Druck übergegangen sind, und außerdem eine
Reihe von Gedichten, die als schwierig angestrichen und fortgelassen wurden.
Eine weitere Handschrift befindet sich noch in Florenz im buonarrvtischen Nach¬
laß. Sie wurde dem Professor Cesare Guasti, Mitglied der Akademie der
Crusca und Secretär der Oberaufsichtsbchörde der toscanischen Archive über¬
geben, von welchem schon längst eine Ausgabe der Gedichte auf Grund dieses
florentiner Manuscriptes angekündigt ist. Die Verzögerung hat, wie es scheint,
dieselben Gründe, aus welchen überhaupt der Nachlaß noch zurückgehalten wird.
Inzwischen also haben wir einen unzuverlässigen, überarbeiteten Text, und
es ist wahr, daß dadurch Alles, was bisher über Michelangelos Gedichte ge¬
schrieben worden ist, von seiner Brauchbarkeit einbüßt. Grimm macht denn
auch den allcrvorsichtigsteu Gebrauch, indem ersieh aus die Benutzung weniger
Gedichte beschränkt, die zugleich einen realen Boden habe», wie die Terzinen
auf ven Tod von Bruder und Vater, die Sonette an Dante, die wenigen un¬
zweifelhaft an Vittoria Colonna gerichteten Gedichte, und einige, welche Michel-
angelos Stimmung in seinen letzten Jahren bezeichne». Mehre von ihnen
sind von Grimm vortrefflich, wenn auch frei, ins Deutsche übertragen. Diese
kritische Behutsamkeit ist jedenfalls einem Verfahren vorzuziehen, welches sich
Sehen wir uns nämlich die Varianten der vaticanischen Handschrift, welche
bisher bekannt sind, und diejenigen des Manuscripts im britischen Museum, soweit
Grimm sie mittheilt, näher an. so ergibt sich, daß die Aenderungen doch im
Wesentlichen sich auf die äußere Form beschränken. Es kommen Wohl Ab-
schwächungen vor, namentlich ist manchmal das persönliche Colorit verwischt, zu¬
weilen sind ganze Perioden umgestaltet, aber auch dann ist es blos ein Weiter-
spinnen solcher Gedanken, die auch von Michelangelo ausgedrückt sind. Eine
Unterschiebung fremder Gedanken wird sich im Grunde nirgends nachweisen
lassen. Die Ideen sind dieselben, wie denn überhaupt Niemand behaupten wird,
daß der in den Gedichten Michelangelos der verschiedensten Gattung niedergelegte
Gedankeninhalt die Erfindung eines Akademikers des siebzehnten Jahrhunderts
sein könne. Ich will die Wichtigkeit der Herstellung des ursprünglichen Textes
natürlich nicht bestreiten. Aber wichtiger, als etwaige Berichtigungen, wird für
die Kenntniß von Michelangelos innerem Leben ohne Zweifel die Bereicherung
sein, die wir aus den handschriftlichen Schätzen noch zu erwarten haben, zumal
wenn, wie Grimm versichert, gerade eine Reihe Gedichte philosophischen Inhalts im
britischen Manuscript als „schwierig" angestrichen und vom Druck ausgeschlossen
worden sind. Leider theilt Grimm von diesen ungedruckten Sachen nur ein
Sonett mit, das geeignet ist, hohe Erwartungen von dem noch zu hebenden
Schatz zu machen. Im Uebrigen aber wird man schon jetzt die Vermuthung aus¬
sprechen können, daß die ursprünglichen Texte der Interpretation eine harte
Aufgabe stellen werden. Es liegt uns eine römische Ausgabe der Gedichte vom
Jahre 1817 vor, welche anhangsweise 26 Gedichte aus der vaticanischen Hand¬
schrift enthält, die nicht in die gewöhnliche Sammlung übergegangen sind. Sie
sind zum großen Theil unverständlich, sie zeigen, wie schwer Michelangelo, der
nach Condivis Ausdruck nicht ein „Dichter von Profession" war, mit der
Sprache zu ringen hatte, und erinnern oft lebhaft an jenen halbbehauenen
Marmorblock, der heute im Hof der Akademie zu Florenz steht. Michelangelo
wollte aus ihm die Statue eines Apostels heraufbauen, aber noch steckt sie tief
darin in der rohen Marmorhülle, die allerorten die Spuren der Hammer¬
schläge des Meisters zeigt.
Wie dem aber auch sei, diese und andere Fragen werden sich erst erledigen
lassen, wenn einmal die florentiner Papiere ans Tageslicht getreten sind. Wir
hoffen, daß durch sie die bisherigen Arbeiten über Michelangelo noch eine erhebliche
Bereicherung erfahren, daß Manches, was bis jetzt blos auf dem Weg der
Combination sich gewinnen ließ, dann documentarisch sich begründen lassen
Werde. Wir wünschen aber auch, daß die biographische Verwerthung dieses
Materials dann in eine Hand kommen möge, welche denselben hingebenden
Fleiß und denselben Geschmack zu dieser Arbeit mitbringe, wie sie Grimms
Werk auszeichnen. Am besten, wenn er dann selbst wieder Hand anlegt. Nachdem
er jetzt die äußeren Schicksale mit einer Ausführlichkeit, die wenige wesentliche
Nachträge mehr erfordern wird, behandelt hat. kann er sich um so unbeirrtcr durch
fernabführenden Ballast der noch ungelösten Aufgabe zuwenden, die volle
Persönlichkeit Michelangelos in den verschiedenartigen Aeußerungen seines Geistes
zu schildern und damit das Gesammtbild des außerordentlichen Mannes zu
Allein die Zeitgenossen winden dem Dichter den schönsten der Kränze. Ge¬
rechter vielleicht mag die Nachwelt richten, als einen Seherblick des Genius
mag sie Einzelnes preisen, was den Mitlebenden unverstanden vorüberschwebte.
Doch jene sraglose. unwillkürliche Rührung der Seelen, die der Künstler als
edelsten Lohn erstrebt, er wird sie am gewaltigsten in seiner Zeit erregen.
Wie könnte heute ein Jüngling von den Leiden des jungen Werthers so schmerz¬
lich ergriffen werden wie damals, da die Werther noch auf unsren Straßen
verkehrten? Und ich bezweifle, ob je eine moderne Hörerschaft den Scherzen
der Narren Shakespeares ein so herzliches baucherschüttcrndes Gelächter ent¬
gegengebracht hat, wie es dem Dichter zuscholl aus den Reihen der Gründ¬
linge seines Parterres. Denn immer wird heute inmitten der jubelnden Menge
ein nüchterner stehen und meinen: so, ganz so empfinden wir nicht mehr.
Alle Welt weiß, wie wenigen Dichtern beschieden ward, noch in der Zukunft
vom Bolle geliebt, nicht blos durchgrübelt zu werden von den Fachgelehrten.
Warum aber ist bei den Deutschen die Zahl der Dichter so auffällig gering,
welche den Jahrhunderten getrotzt? Denn wer außer dem Forscher liest noch,
was über die Literaturbriefe, über die Werke von Lessings Mannesalter hinaus¬
liegt? Es ist wahr, weit später als andern Völkern ist den Deutschen der
Tag der Dichtung erschienen, und in dem Jahrhundert seit jener Morgen
graute, hat unser Volk erstaunlich rasch gelebt. Aber ist mit solcher Antwort
das Räthsel gelöst? Warum erfreut sich der Brite noch an seinem Spenser.
während Klopstock und Wieland unserm Volke nur Namen sind? Hat doch
auch über den Glanz von Spensers Dichtung sein großer Nachfahr Shake¬
speare seinen breiten Schatten geworfen, und ungelenke Freude kann der derbe
Realismus der Gegenwart an jenen zierlichen Allegorieen so wenig empfinden,
wie unser aufgeregtes Wesen an dem ruhigen Flusse des Epos. Offenbar,
wir müssen eine andre Antwort suchen.
Ein Märchen ist es. erfunden in philisterhaften Tagen, als könne je
ein vorwiegend literarisches Volk bestehen. Zuerst nach dem Ruhme seiner
Fahnen schaut ein Volk aus. wenn es seiner Vergangenheit gedenkt, und gern
vergißt es die Mängel, das Veraltete eines Kunstwerks, wenn die Glorie
einer großen Zeit aus der alten Dichtung redet. Und nie genug werden wir
die Briten um jenes vornehmste Zeichen ihrer Gesundheit und harmonischen
Größe beneiden, daß ihnen die Kunst eine goldene Frucht an dem Baume
staatlicher Größe reifte. Liest der Engländer die Verse von der Fecnkönigin,
so steigt vor seinen Augen auf das Bild der jungfräulichen Königin, er sieht
sie reiten auf dem weißen Zelter vor jenem Heere, dem die unüberwindliche
Armada wich, und hinter den kriegerischen Schaaren der Engel in Miltons
verlorenem Paradiese erblickt er kämpfend Cromwells gottselige Dragoner. So
tritt auch dem Spanier aus den Dichtungen seiner Lope und Cervantes das
Weltreich entgegen, darin die Sonne nicht unterging. Also erhalten durch die
Wucht großer staatlicher Erinnerungen diese Werke einen monumentalen Charak¬
ter. Wo aber fand die deutsche Dichtung des achtzehnten Jahrhunderts solch
ein Fußgestell staatlicher Größe, daraus sie sich sicher emporheben konnte? Von
einem gesunkenen, verachteten Reiche, von einem mißhandelten Volke gingen
unsere Sänger aus, und wie ihnen im Leben keines Mcdicäers Güte lächelte, so
auch im Tode sind sie, was sie find, durch sich selbst allein. Als Lessing sein
letztes Drama schrieb, frug er zweifelnd, ob die Tage reiner Menschensitte so
bald erscheinen würden, die dies Werk auf der Bühne ertrügen; Heil und
Glück rief er dem Orte zu, der zuerst die Aufführung des Nathan schauen würde.
Und — vor zwanzig Jahren ging in Konstantinopel der Natha» in neugrie¬
chischer Bearbeitung über die Bretter. Als dann vor den verwunderten Türken
die edlen Worte erklangen: „es strebe von Euch jeder um die Wette, die
Kraft des Steins in seinem Ring an Tag zu legen", und die rechtgläubigen
Moslemin in lauten Beifall ausbrachen. da mochte Wohl ein Deutscher stolzer
den Nacken heben. Denn dier. weit über die Grenzen christlicher Gesittung
hinaus, wo Keiner des Dichters Namen kannte, keine volksthümliche Erinne¬
rung des Gedichtes Zauber erhöhte — hier strahlte siegreich die Macht des
deutschen Genius allein, das weltbezwingende Lächeln der Menschenliebe.
Durch sich selbst allein wirken jene Künstler auf die nachgebornen. Noch
mehr, sie selbst erst sind die Schöpfer eines freieren öffentlichen Lebens in un¬
serm Volke, sie standen unbewußt im Bunde mit jenen Staatsmännern, die
dem deutschen Staatswesen ein menschlicheres Dasein bereitet. Wie sich von
selbst versteht in einer Zeit., wo das häusliche Leben die beste Kraft der
Deutschen erschöpfte, geschah dies Hinüberwirken Lessings auf unser öffentliches
Leben vornehmlich durch seine Person, durch die souveräne Selbständigkeit
seines Charakters. Erst in diesem Jahre ist ein gutes Bild aus Lessings Ju¬
gend in weiten Kreisen bekannt geworden, und mit schalkhaftem Behagen sehen
wir den Mann vorgebildet in den Zügen des Kindes. Da sitzt Theophilus
Lessing, sittsam, ernst, in priesterlich langem Gewände, ehrbarlich ein Lämm¬
chen fütternd, daneben der aufgeweckte Bruder, „mit einem großen, großen
Haufen Bücher", in der eleganten rothen Tracht der Zeit; und auch der Un¬
kundige kann errathen, daß Jenem bestimmt sei. zu leben als dunkler Ehren¬
mann und Conrector, diesem — als Gvtthold Lessing. Kraft und Wahrhaftig¬
keit spricht aus den derben Zügen des Knaben, und wahrlich, hart gebettet
hat die Zeit den starken und wahren Mann. Dessen Puls bei voller Gesund¬
heit so schnell schlug wie der Puls Anderer im Fieber, ihm war eigen im
höchsten Maße jene Lebhaftigkeit des Redens, welche die Obersachsen vor an-
dern Deutschen auszeichnet. Wie rasch jagen sich da Fragen, Ausrufe, schnell
wiederholte abgebrochene Worte, und er besaß den Muth also zu schreiben, wie
seine Landsleute dachten und sprachen. Nie hat ein Schriftsteller getreuer jenes
Wort erfüllt, das seltsam genug zuerst ausgesprochen ward in einer Nation,
die es nicht versteht — das Wort: 1e Ltilö e'sse, I'Komms. Dramatisch be¬
wegt wie das Leben selber strömt sie dahin, diese schmucklose, wasscrtlare
Prosa - dem Unkundigen ein Kind der Laune, des Augenblicks, dem Tiefer¬
blickenden ein Werk vollendeter Kunst, die schwierigste aller Schreibweisen, denn
unerträglich verletzend muß jeder triviale Gedanke, jede falsche Empfindung sich
verrathen unter dieser leichten, nichts verbergenden Hülle.
Und dieser Natürlichste der Menschen wuchs empor in einer Umgebung,
wo jedes einfache menschliche Gefühl in feste, herzlose, beengende Formen gebannt
war. in einem Baterhause, wo hart abweisend der Befehl der Aeltern, unter-
würfig und in schnörkelhaftem Ausdruck die Antwort der Kinder erklang. Der
Mize Schmerz um eine verbildete Jugend spricht aus dem Worte des Man-
>"ü: „Der Name Mutter ist süß, aber Frau Mutter ist wie Honig mit Citronen-
fast". AIs er dann in Leipzig sich herausriß aus der dürftigen Buchgelehr-
samkeit der Schule und jenes Doppelwesen seiner Natur, das schon das
Bild des Kindes ahnen läßt, sich entfaltete — der Gelehrte, der in jedem
Buche der wittenberger Bibliothek geblättert und an schlechten Büchern mit
Vorliebe seinen Scharfsinn übte, und der Weltmann von feinen Formen, der
sich gern im Lärme des Tages tummelte, um die rasche Wallung seines Blu¬
tes zu übertäuben - — da brach jener schwere Kampf aus mit seinen Aelter»,
der längst schon gedroht. Sie kennen jenes bittere Wort, das Lessing am Abend
seines Lebens schrieb: „ich wünsche was ich wünsche mit so viel vorher em¬
pfindender Freude, daß meistentheils das Glück der Mühe überhoben zu sein
glaubt, den Wunsch zu erfüllen." Seiner Jugend vornehmlich gilt diese Klage
wider das karge Glück. Auch der Geduldigste unter Ihnen ertrüge nicht mehr
die Oede des Daseins jener Tage. Ein Volk ohne Vaterland, darum gezwungen
im Hause jede Freude zu suchen, und dennoch unfrei sogar im häuslichen
Leben.
Sie werden freilich immer wiederkehren, am heftigsten in fruchtbaren, auf¬
strebenden Zeiten, jene traurigen Zerwürfnisse von Vater und Sohn, herz¬
ergreifend traurig, weil jeder Theil im Rechte ist und das alte Geschlecht die
junge Welt nicht mehr verstehen darf. Aber in Lessings Leben — wie herzlich
er auch von seinem Vater gesprochen, wie groß immer die innere Verwandt¬
schaft der beiden Streitenden — in Lessings Leben erscheint dieser Kampf un¬
gewöhnlich hart, das alte Geschlecht ungewöhnlich klein und gehässig. Denn
der Hader bewegte sich nicht um politische und religiöse Fragen, die doch nur
mittelbar den Frieden des Hauses berühren; eine große gesellschaftliche Um¬
wälzung vielmehr begann sich zu vollziehen, die Ehre des väterlichen Hauses
ward blosgestellt durch die sociale Stellung des Sohnes. Bis dahin war wer
hinausstrebte aus der Erwerbsthätigkeit des Bürgerthums in den Dienst des
Staates und der Kirche gegangen. Die regsamsten Kräfte des Adels und der
Mittelclassen hatte das Beamtenthum und jene Zunstgelehrsamkeit des Kathe¬
ders verschlungen, die kaum noch den Namen der akademischen Freiheit kannte.
Höchstens dem bildenden Künstler ward gestattet, seiner Kunst zu leben und im
Gefolge eines Hofes ein Unterkommen zu suchen. Der Sohn aber des ehren¬
fester Pastvrenhauses wagte, was vordem nur verdorbene Talente zu ihrem
Unsegen versucht, er wurde der freie Schriftsteller, der erste deutsche Literat
— nicht in klarer Absicht, nein, wie die Menschen werden, wozu der Geist sie
treibt, weil er nicht anders konnte, weil dieser freie Kopf den Zwang des
Amtes nicht ertrug. Wie er also unserem Volke eine neue ungebundene Berufs¬
classe erschuf, so wandte er auch zuerst mit Bewußtsein sich an ein neues Publi-
cum. Nimmermehr mochte er der unfreien Weise der Mehrzahl seiner Vor¬
gänger folgen, die nur geziert für die Höfe, plump für das Volk zu schreiben
wußten, Wohl dachte er groß und menschlich von den niederen Ständen, von
»dem mit seinem Körper thätigen Theile des Volks, dem es nicht sowohl an
Verstand als an Gelegenheit ihn zu zeigen fehlt", er wünschte ihnen als Trö¬
stung Gedichte zum Preise der „fröhlichen Armuth". Er selber indeß suchte
sich andere Leser. Wie er sich hinausgerettet aus dem Bannkreise der alten
Stände, so sprach er auch zu einem gebildeten Publicum, das keine Stände
kennt, und half also diesen Kern unsres Volkes erziehen, der in der Literatur
zuerst, dann im Staate zur entscheidenden Macht emporwachsen sollte.
Zum ersten Male sahen die Deutschen das ruhelose und doch nie würde¬
lose Leben eines abenteuernden Schriftstellers. Sie wissen, wie schön Goethe
dies geschildert: „Lessing warf die persönliche Würde gern weg, weil er sich
zutraute, sie jeden Augenblick wieder ergreifen und aufnehmen zu können."
Wie geistvoll hier der Herzenskündiger geurtheilt, das mag Ihnen ein erst vor
Kurzem wieder aufgefundenes Epigramm aus Lessings Studentenzeit bewähren.
Goethe hat es nie gekannt, und doch stimmt es wörtlich mit seinem Urtheile
überein. Achtlos, übermüthig wirft der Dichter in den ersten Zeilen seine
Würde hin, um sie am Ende gefaßt wieder auszunehmen — in den Versen:
Wie lange währt's, so bin ich hin
Und einer Nachwelt unter'n Füßen.
Was braucht sie, wen sie tritt, zu wissen,
Weiß ich nur, orr ich bin.
Worte, überaus bezeichnend für Lesstngs rasche, ungestüme Weise des Lebens
— denn er vor Allen besaß jenen gemeinsamen Charakterzug aller vorwärts¬
strebender Geister, die Gleichgiltigkeit gegen seine eignen Werke, sobald sie
vollendet — aber bezeichnender noch für die Meinung, welche unsres Volkes
beste Männer von dem Werthe des Nachruhms hegten. Ist den hellen Köpfen
der Romanen der Nachruhm das eingestandene höchste Ziel des Schaffens, so
leben die Deutschen des Glaubens: der Ruhm sei. wie die Liebe, wie jedes
ächteste und höchste Glück des Lebens, eine Gnade des Geschicks, die wir in
Demuth hinnehmen, doch nimmermehr erstreben sollen. Und noch immer hat
unser Volk sich jener Männer mit der wärmsten Liebe erinnert, die am wenig¬
sten davon geredet, daß sie ein solches Gedächtniß erhoffen. — Einen leisen
Schatten freilich hat diese harte, kampferfüllte Jugend in Lessings Wesen zurück¬
gelassen. Jenen prosaischen, nüchternen Zug, der Lessing von späteren glück¬
licheren Dichtern in ähnlicher Weise unterscheidet, wie Friedrich der Große
einem Cäsar, einem Napoleon gegenübersteht. Sie können ihn nicht allein
aus der Naturanlage des Dichters erklären. Erinnern Sie sich, da'ß in je¬
nen Tagen, wo das Gemüth jede Härte am schmerzlichsten empfindet, kein
Frauenauge gütig über ihm waltete, daß ihm allein die streng abweisende
Mutter, die lieblos meisternde Schwester gegenüberstand. Und jene innige
Zartheit der Empfindung, die ein hartes Geschick dem Jüngling verkümmerte
— wie vermöchte der Mann sie je aus sich heraus zu entfalten?
Also hinausgetreten aus den altgewohnten Kreisen des bürgerlichen Lebens,
hat er mit unverwüstlichem Muth seinen Kampf geführt wider die falschen
Götzen der literarischen Welt. Die Freude am Kampfe, am Widerspruch —
vergeblich hat man es läugnen wollen — blieb herrschende Leidenschaft in ihm,
der von früh auf es liebte, „Rettungen" verkannter Charaktere zu schreiben,
der das Bekenntniß streitlustigen Stolzes niedergelegt in dem Worte: „auf wen
Alle losschlagen, der hat vor mir Frieden." Wie die Schwäche und zugleich
die Größe der modernen Culturvölker gutcntheils darin gelegen ist, daß sie
nicht vermögen, wieder ganz jung zu werden, so offenbarte auch die unreife
deutsche Dichtung jener Tage alle Mängel der Kindheit und des Greisenalters
zugleich. Eine Weltliteratur mag man sie nennen, wenn das widerstandlose
Aufnehmen fremdländischer Ideale und Formen zu solchem Namen berechtigt.
Und doch war die in festen überlieferten Formen erstarrte Dichtung nicht ein¬
mal der correcten Redeweise mächtig. Von beiden Schwächen hat Lessing unsre
Dichtung geheilt. Nur eine Seite seines kritischen Wirkens erfassen Sie, wenn
Sie in ihm lediglich den trotzigen Streiter wider die rögle-L cku bon gout er-
' blicken, wenn Sie ihm nicht folgen in jene ersten Jahre, da er mit der pein¬
lichen Strenge des Pädagogen die kläglichsten Übersetzungsfehler armseliger Ge¬
sellen rügte.
Kein Wunder aber, daß jener Kampf mit den Regeln der französischen
Aesthetik allein noch haftet in dem Gedächtniß der Nachwelt. Denn das erste
unsterbliche seiner Werke schuf er erst, da er in den Literaturbriefen auf die
zuversichtliche Behauptung: „Niemand wird läugnen, daß die deutsche Schau¬
bühne einen großen Theil ihrer ersten Verbesserung dem Herrn Professor Gott¬
sched zu danken habe" — seinen kecken Schlachtruf erschallen ließ: „ich bin dieser
Niemand". Allerdings der Zorn des tiefempörten nationalen Stolzes redet an?
dieser Polemik. Wider den Dünkel der Kritik lehnt der Kritiker sich auf und hält ihr
das Recht des Künstlers entgegen, der sich selber seine Bahnen bricht. Doch schärfer
noch befehdet der Deutsche die Anmaßung des fremden Volkes, das jeden anderen
Volksgeist in die Enge seiner conventionellen Empfindungen zu bannen gedachte.
Wer hört nicht das schadenfrohe Gelächter des nationalen Selbstgefühles aus
jenen erbarmungslosen Zeilen, die der untrüglichen französischen Aesthetik be¬
weisen, daß sie die Regeln des Aristoteles nicht verstanden, die Voltaires Drama¬
tik enthüllen wie sie ist — gesucht, gemacht, der Natur entfremdet, „so steif,
als wäre jedes Glied an einen besonderen Klotz geschmiedet". Mochten die Einen
i>n derben Liede den alten Fritz preisen, der sich auf die Hosen klopft und
die Franzosen laufen läßt, die Andern Beifall rufen, wenn der deutsche Kritiker
Voltaires Blöße zeigte: beide feierten Siege eines wieder erwachenden Volt'Sehnens.
Wucht und Nachdruck aber erhielten jene kritischen Schläge erst durch Lessings
Dichterthaten. Auch er hatte sich geübt in den überlieferten Formen und Empfin¬
dungen anakreontischer Dichtung, und lange Zeit lockte seinen Scharfsinn, der
es liebte zu spielen, jenes Grenzgebiet zwischen Dichtung und Prosa: — Fabel
und Sinnspruch, Doch zur rechten Geltung gelangte das ihm eigene schöne
Gleichgewicht des ordnenden Verstandes und schöpferischer Phantasie in dem
Drama. Wie er schon als Student an der wirtlichen Bühne sich geschult,
ja seine Rollen gedichtet hatte für bestimmte Schauspieler aus der Truppe der
Neuberin, die uns als die Vorläufern! der modernen Schauspielkunst gilt: so
kamen seine dramatischen Anschauungen zur Reife im Verkehr mit jener Ham¬
burger Vühne. die heute als die erste Erscheinung des neuen deutschen Schau¬
spiels bezeichnet wird. Und wie co damals schon unter den Franzosen sich die
natürlichere Schule Marivaux zum Muster wählte, so führte er jetzt die ger¬
manische Dichtung auf den gerade» Weg zurück, brachte ihr die Naturwahrheit,
die freie Bewegung des shal'cspeareschen Dramas. Aber ein Reformer —
wie der maßvollen Natur des Künstlers ziemt — nicht ein Revolutionär —
wie sollte er sich vermessen, auf unsre Verwandelte Bühne den ungebundenen
Scenenwechsel des altenglischen Schauspiels einzuführen? Der so viele falsche
Götzen gestürzt, wie sollte er sich selber Shakespeare als neuen Götzen setzen — was
die Gedankenlosen noch heute nachsprechen? In der Charakterzeichnung aller¬
dings folgte er Shakespeares Spuren; doch der Bau seiner Dramen wich nur
wenig ab von der Weise der Franzosen, die mit ihrer klaren Verstandesschärfe
dem Gegner doch sehr nahe standen und in ihm — seine dramatischen Thaten
bezeugen es — einen billigen Richter fanden. Sogar die Rollen, welche das
französische Schauspiel uns überliefert, hat er sorglich beibehalten, nur daß jetzt
statt des Liebhabers, des edlen Vaters, der Buhlerin, die Tellheim. Odoardo.
Orsina erschienen, lebendige Menschen mit dem unendlichen Recht der Persönl¬
ichkeit. Auch die dramatischen Probleme, die er sich stellt, sind die höchsten
nicht; gewaltigere Kämpfe von reicherem tragischen Gehalt sind seitdem über
unsere Bretter gegangen. Doch in seinem engen Kreise schaltet er mit einer
dialektischen Kunst und einem Reichthume der Erfindung, weiß er seine Charak¬
tere in eine leidenschaftliche dramatische Bewegung hineinzuwcisen, die allen
Zeiten bewundernswerth bleiben wird,
Und wenn alle diese gemeinsamen Charakterzüge der Dramen von Lessings
Mannesalter die Bühne umgestalteten, wie hat doch jedes einzelne davon noch
seinen besonderen Einfluß geübt aus unser öffentliches Leben. Schon Sarah
Sampson, dies erste bürgerliche Trauerspiel der Deutschen konnte nur gedichtet
werden in einem Volke, dessen Mittelstände sich erhoben, und wirkte belebend
Zurück ans das Selbstgefühl dieser Classe. Welch ein Griff aber mitten hinein
in das nationale Leben der Gegenwart, als Lessing sich des Stiefkindes unsrer
Dichter, des Lustspiels, erbarmte und in Minna von Barnhelm— mit Goethe
zu reden — ein Werk schuf von specifisch nationalem Gehalt. Hier klingt etwas
wieder von dem Lärm des schlesischen Winterlagers, von dem Trommelwirbel
der Grenadiere des alten Dessauers, den der Knabe schon von den Fenstern
von Se. Afra gehört. Wie lange hatten unsre Dichter, wenn sie die Form
suchten für den unfertigen, nach Gestaltung ringenden Gehalt ihrer Seele, sich
hinweg geflüchtet aus der armen Gegenwart und die Heroen einer Vergangen¬
heit, die so nie gewesen ist, „aus des Sittenspruchs geborgten Stelzen steigen"
lassen. Hier endlich wagte ein Dichter das Gemüth der Gegenwart dramatisch
zu verkörpern und gab ein Werk, volkstümlich sogar in seinen Schwächen, in
der Breite der komischen Scenen, und ebendarum ein Werk für alle Zeiten.
Denn wie das Erzbild in freier Luft im Laus der Jahre sich verschönt, so
haben manche veraltete Wendungen in diesem Lustspiele für uns Nachlebende
einen neuen schalkhaften Reiz gewonnen. Wie der Gott aus der Maschine
tritt in dieses Drama noch der große König hinein, mit seinem Herrscherwort
die erregten Gemüther versöhnend.
Wie anders schon der politische Sinn in Emilia Galotti. Denn sicherlich,
nicht allein des Kunstwerks haben Sie sich erfreut, das, nach Goethe, „gleich der
heiligen Insel Delos aus der Gottsched-Weiße-Gcllertschen, Wasserfluth empor¬
stieg, um eine kreißende Göttin barmherzig aufzunehmen". Keiner unter
Ihnen, der nicht den sittlichen Zorn wider höfische Tyrannei und Verderbniß
aus diesem Drama vernommen hätte. Und doch, wer hätte vor der Katastrophe
der Emilia nicht empfunden, daß der Sinn unsres Volkes seitdem herzhafter
und stolzer geworden, daß auch Lessing von der Schüchternheit einer unfreien
Zeit sich nicht völlig befreien konnte? Ein Knabe hat mir einst gesagt: aber warum
schlägt der Odoardo nicht lieber den Prinzen todt? — und ich fürchte nicht, daß
Sie dies Wort belächeln werden. Lernen wir erst wieder jene Bescheidenheit
Lessings, der vor einem Kunstwerke seiner Empfindung nicht traute „wenn sie
von Niemandem getheilt würde", fassen wir den Muth, unbekümmert um literar¬
historische Pedanten, zu bekennen was wir fühlen, so werden Sie Alle gestehen:
wir verstehen diesen Mann nicht mehr, der in gerechter Sache das mißhandelte
geliebte Kind opfert, statt den frechen Dränger zu tödten. Angeekelt von dem
falschen Pathos der französischen Tragödie strebte Lessing vor Allem die Leiden¬
schaft in seinen Charakteren zu erregen, im schärfsten Gegensatze zu Corneille
wies er die Bewunderung aus dem Drama hinweg und wenn es ihm unfehl¬
bar gelingt, unser Mitleid für seine Helden zu erwecken, so bemerkt er nicht
immer, daß unser Mitgefühl mit einem leidenschaftlich bewegten Menschen auch
ein achselzuckendes Mitleid sein kann. Aber dürfen wir ihm eine Unsicherheit
des Gefühles nicht vorwerfen, die einem staatlosen Volke natürlich war, so
bleibt ihm allein der Ruhm einer Kühnheit, die unsere freiere Zeit kaum mehr
zu würdigen weiß. Welchen Schrecke!, mußte es in ängstliche Gemüther werfen,
daß ein Dichter die sittliche Fäulnis) der Mächtigen auf der Bühne erscheinen
ließ wenige Jahre nachdem ein adliges Haus seiner Heimath ein prunkendes
Hochzeitsfest gehalten, weil seine Tochter zur Mätresse des Landesherrn erHoden
war! Wenn er absichtlich vermied, seine Fabel mit dem staatlichen Leben zu ver¬
knüpfen, wenn er nur durch das persönliche Schicksal seiner Heidin die Hörer
erschüttern, nur „eine bürgerliche Virginia" schaffen wollte, so hat seitdem die
Geschichte seinem Drama einen großen Hintergrund gegeben. Wer hört das
Schlußwort des Prinzen, jenen Ausbruch ohnmächtiger leichtfertiger Reue, und
denkt dabei nicht an das gräßliche aprös nous 1s äewgk? Wer sieht nicht hin¬
ter den Gestalten Marincllis und der Orsina die Schreckensmänner der Revo¬
lution emporsteigen?
Und was war, blicken wir zurück, mit diesem kritischen und dichterischen
Wirken erreicht? Gebrochen war der Aberglaube an fremde Weisheit, den
Deutschen der Muth zurückgegeben, in der Kunst sich eigene Pfade zu suchen.
Eigene Werte der Dichtung waren unsrem Volke geschenkt, welche, in die eine
Schale geworfen, alle Glorie der französischen Dramatik in der andern himmel¬
hoch emporschnellten. Das Kunstvcrständniß endlich unsres Volks ward geläu¬
tert, die Reinheit der Gattungen in der Kunst wiederhergestellt, der Vermi¬
schung von Dichtung und bildender Kunst in der beschreibenden Poesie, der
Vermischung von Poesie und Prosa in dem Lehrgedichte ein Ziel gesetzt. Und
noch der Lebende sollte die Früchte seines Schaffens schauen; denn nie wieder
wagte unter uns ein Mann von Geist ein Lehrgedicht zu schreiben, und sah
Lessing auf die jungen Stürmer und Dränger, so hörte er die Deutschen mit
Stolz, ja mit Uebermuth wegwerfend reden von den einst vergötterten Franzosen.
Wer darf sagen, nach welcher Richtung Lessing am tiefsten gewirkt? Auch
durch die beherrschende Vielseitigkeit seiner Bildung ist er ein Bahnbrecher der
gegenwärtigen Gesittung geworden. Der den theologischen Beruf entschieden
von sich gewiesen, er sollte der Theologie seit Luther die erste nachhaltige Um¬
bildung bringen. Die Freiheit, die wir Luther dankten, die Begründung des
Glaubens auf die heilige Schrift, sie selber war eine neue Knechtschaft geworden.
Lessing erst erkannte in den Schriften des Neuen Bundes den Beleg, nicht die
Quelle des christlichen Glaubens und leitete also aus den Weg, den die wissen-
schaftliche Evangelienkritik der neuen Zeit weiter verfolgt hat. Nicht völlig neu
war diese Richtung; freute sich doch selbst jener harmlose Hamburger Naturdichter
Brockes, derselbe, der neun Bände lang das irdische Vergnügen in Gott besun¬
gen, im Stillen an den geheimgehaltenen Streitschriften des Reimarus wider
den Offenbarungsglauben. Neu aber war der Muth, herauszusprechen, was
Tausende meinten, Schmach und Unglimpf zu ertragen von den „kleinen
Päpsten", denen Lessing zuerst das tausendmal nachgesprochne Wort engegen-
warf: lieber einen große» Papst als diese vielen kleinen — jener Muth, der
am schneidigsten ans der „ritterlichen Absage" an Götze spricht: „schreiben Sie,
Herr Pastor, und lassen Sie schreiben, so viel das Zeug halten will; ich schreibe
auch. Wenn ich Ihnen in dein geringsten Dinge, was mich und meinen Un¬
genannten angeht, Recht gebe, wo Sie nicht Recht haben, dann tan» ich die
Feder nicht mehr rühren!" Aber vergleichen Sie selbst die heftigsten dieser
Slleitschriftcu mi! den gleichzeitigen Angriffen der Franzosen auf die Kirche,
und Sie werden mit to.staunen wahrnehmen, daß der deutsche Denker in der
Sache die Romanen an Verwegenheit überbietet, in der Form aber jenes edle
M.,ß einhält, welches, eine schöne Frucht deutscher Duldung, unsre freien
Geister davor bewahrt Freigeister zu werde» in dem von Lessing gebrandmarkten
Sinne.
U»d läßt sich nicht aus diesem maßvolle» Wesen des Denkers das Räthsel
erklären: warum doch er, der hinwcgschautc über alle geoffenbarten Religionen,
für de» alte» Gedanken einer Union der christlichen Kirchen sich erwärmen
konnte? Es ist ein großes Ding, die Weissagung des Genius; nicht heute,
nicht morgen, nicht so erfüllt sie sich, wie der am Buchstaben haftende Denker
sie auslegt. Jene Union — belächelt als ein Unding von denen, die an der
Oberfläche der Dinge verweilen — alltäglich, stündlich schreitet sie vorwärts,
seit die Bildung des Protestantismus, die Ideen Lessings beginnen das Eigen¬
thum unsres ganzen Volkes zu werben. Auf eine solche Union, die alle kirch¬
lichen Schranken überwunden, auf ein solches „neues Evangelium" deutet das
reifste Werk dieser theologischen Kämpfe Lessings, die Erziehung des Menschen¬
geschlechts. Seine ersten Schriften liegen noch jenseits der Grenze dessen, was
modernen Menschen lesbar scheint; mit dieser tritt er bereits mitten hinein in
die moderne Wissenschaft. Denn lösen Sie ab, was uns befremdet, die para¬
bolische Hülle, so schauen Sie als Kern: eine Philosophie der Geschichte, Sie
hören die Lehre von dem Fortschreiten der Menschheit und von dem Gott, der
die ganze Welt beseelt, Sie finden jenen historischen Sinn der Gegenwart, der
in den positiven Religionen „den Gang des menschlichen Verstandes" erkennt
und seinen stolz-demüthigen Ausdruck erhält in Lessings Worten: „Gott hätte
seine Hand bet Allem im Spiele, nur bei unsern Irrthümern nicht?" Wohl
mochte er empfinden, daß diesem kühnsten Fluge seines Geistes die Zeitgenossen
nicht folgen konnten; darum bat er: lasset mich stehen und staunen, wo ich stehe
und staune.
Auch die Dichtung, welche diesen Kämpfen entsproß, ragt hinaus über
das Verständniß seiner, und sollich nicht auch sagen: —> unserer Zeit. Denn
wohl in tausend Herzen lebt jenes Evangelium der Duldung Rathaus des
Weisen. Aber vor diesem Werke am schmerzlichsten empfinden wir, daß die
besten Männer unsres Volkes Helden des Geistes waren; hier gerade thut
sich vor uns auf eine unselige Kluft zwischen den Gedanken unsres Volks und
seinem politischen Zustand. Erst wenn die Ideen des Nathan in unsrer Ge¬
setzgebung sich verkörpert haben, dann erst dürfen wir uns rühmen in einer
gesitteten Zeit zu leben. Wie Sie auch denken mögen über den Inhalt von
Lessings theologischen Systeme: in Einem mindestens ist er schon jetzt der an¬
erkannte Lehrer unsres ganzen Volks: er hat die sittliche Gesinnung vorgezeich¬
net, daraus alle wissenschastiuhe Forschung entspringen soll. Er sagte: „ich
weiß nicht, ob es Pflicht ist, Glück und Leben der Wahrheit zu opfern. Aber
das weiß ich, ist Pflicht, wenn man Wahrheit lehren will, sie ganz oder gar
nicht zu lehren." Zum Gemeinplätze geworden sind seine Aussprüche über das
Recht der freien Forschung, und noch hat Keiner die Kühnheit jenes Wortes
überboten: „es ist nicht wahr, daß Speculationen über Gott und göttliche
Dinge der bürgerlichen Gesellschaft je nachtheilig geworden; nicht die Specu-
lationen — der Unsinn, die Tyrannei, ihnen zu steuern."
Und alle diese Werke in einer durchsichtigen Form, daraus überall das
leuchtende Auge des Denkers hervorblickt. Komisch beinahe, wie in seinen
ersten Werken das leidenschaftlich bewegte Herz ankämpft gegen die Steifheit
des überlieferten Verses. Wie anders der der ungebundenen Rede auss Nächste
verwandte Jambus des Nathan und jene Prosa, die gar nicht anders kann
als die augenblickliche Stimmung des Schreibers getreulich widerspiegeln. Die
augenblickliche Stimmung, sage ich, denn Sie müsjcn mir den paradoxen Satz
erlauben: wenn so häufig geklagt wird über die Widersprüche in Lessings
Schriften, über die Schwierigkeit, aus seinen Briefen seine Herzensmeinung
herauszulesen, so kann ich in dieser Klage nur den sichersten Beweis für die
Wahrhaftigkeit, die Unmittelbarkeit seiner Schreibart finden. Wie ihm zu
Muthe war hat er geschrieben, jede Regung der Neckerei, des Widerspruchs¬
geistes, jeden Einfall eines halbfertigen Gcdankcngangs rücksichtslos heraus¬
gesprochen, jeder Uebertreibung übermüthig eine andre entgegengestellt. Und
eben weil ihn beim Schreiben nie der Gedanke störte, als könne je die Nach¬
welt über seinen Schriften grübeln, eben darum ist es so leicht, den Einen,
Stanzen Menschen aus all seinen Widersprüchen herauszufinden.
Fragen Sie endlich, wie Lessing sich stellte zu dem größten Gegenstande
männlicher Arbeit, zum Staate, so ließe sich wohl dawider fragen: ist es nicht
genug an den politischen Thaten, die ich soeben geschildert? Waren es nicht po¬
etische Thaten, als er die Schranken der bestehenden Stände durchbrach, als
^' ein Erzieher wurde des modernen Bürgerthums, als er unsrem Volke ein
starkes Selbstgefühl zurückgab, gegenüber der Kunst der Fremden und einem
Volke gedrückter Kleinbürger den unendlichen Gesichtskreis der Humanität er¬
schloß? Gewiß, nur jene sich liberal dünkenden Pedanten, welche alles staat¬
liche Leben allein in bestimmten Verfassungsformen enthalten glauben, werden
hierauf mit einem kurzen Nein antworten. Aber auch zu einem herzhaften Ja
werden sich nur Wenige zwingen. Denn gelernt haben wir endlich, jeden
Mann zu fragen, ob er ein Vaterland habe, ob er das Wohl und Weh des
Gemeinwesens als seine Lust und sein Leid empfinde? Hier aber erscheint mo¬
dernen Augen eine Lücke in Lessings Bildung. Wer stimmt ihm nicht zu, wenn
er die Freunde Ramler und Gleim tadelt, daß in ihren preußischen Kriegs¬
liedern der Patriot den Dichter überschreie? Wer entschuldigt es nicht, daß dem
Mitlebenden der welthistorische Sinn des siebenjährigen Kriegs verschlossen blieb,
und er darin allein den großen Genius des Königs zu bewundern fand? Und
doch, stellen Sie eine Ode Ramlers, ein Lied des Preußischen Grenadiers neben
jenen geistsprühenden Brief Lessings, der in solchem Patriotismus nur „eine
heroische Schwachheit" sah: — und Sie werden gestehen, daß auf diesem Ge¬
biete Lessing jene ärmeren Geister um ihren Reichthum beneiden konnte: sie
waren reicher um die große Empfindung der Vaterlandsliebe.
Selbst in Tagen, die des freien politischen Lebens entbehren, entzieht sich
deiner gänzlich der Einwirkung des Staats. So läßt sich auch von ihm man¬
ches Wort und manche That aufweisen zum Belege, daß er die Unfreiheit, die
Kleinheit deS deutschen Staatslebens empfand: wie er gleich seinem Geistes¬
verwandten Thomasius hinausstürmte aus der Zahmheit und Enge des kur-
süchsischen Wesens, wie er mit überlegenem Lächeln auf den Gegensatz des
Sachsenthums und Preußenthums hinabsah, wie er das engherzige Mäcenaten-
thum des Pfälzer Kurfürsten hochsinnig zurückwies, wie auch ihm die Klage sich
entrang: wann werde Deutschland je Einem Beherrscher gehorchen? Aber blicken
Sie von solchen vereinzelten Zügen auf jene Freiheitstragödie Henzi, die von
blinden Verehrern als ein ganz modernes Werk gepriesen wird, so erkennen Sie
sofort, wie ganz anders als die Gegenwart Lessings Tage sich zu den Kämpfen
des Staatslebens stellten. Welche Armuth der Motive hier bei ihm, der uns
überall sonst durch die Fülle poetischen Details entzückt. Wie künstlich wird
doch die lebendige Fülle des Parteiwesens zugespitzt zu dem kahlen abstracten
Gegensatze von Tyrannei und Freiheit! Nicht blos die Jugend des Dichters ist
schuld an solcher Armuth, die Gesinnung eines Bürgerthums vielmehr spiegelt
sich darin wieder, das die werkthätige Theilnahme am Staate noch nicht kannte
und darum von dem Inhalte politischer Kämpfe noch keine Anschauung besaß.
Nur delührt offenbar, an wenigen Stellen berührt hat Lessings Denken die
politischen Fragen. Den Publicisten von Gewerbe rief er sogar, seinem prak¬
tischen Wesen getreu, die Mahnung zu, solche Dinge zu überlassen „dem
Staatsmanne und vornehmlich demjenigen, den die Natur zum Weltweisen
machen wollte, weil sie ihn zum Vorbilde der Könige machte".
Trotzdem sind jene hingeworfenen politischen Gedanken Lessings keineswegs
überlebt, nicht einmal erledigt. Denn wie man von der Humanität der Deut-
sehen des achtzehnten Jahrhunderts gesagt hat, sie sei herabgestiegen vom Him¬
mel auf die Erde, so hat auch Lessing, der die alltäglichen Pflichten des Staats
übersah, einige der höchsten Probleme der Staatskunst beleuchtet, die erst eine
ferne Zukunft lösen wird. Die Gesittung der Gegenwart steht zugleich über
und unter den Ideen der Humanität unsrer Väter. Sie blickt hernieder auf
ein Volk von Privatmenschen, das den Patriotismus nicht kannte, aber demü¬
thig schaut sie empor zu jenen Weisen, die, menschlichen Sinnes voll, nach der
Grenze frugen, „wo Patriotismus Tugend zu sein aufhört". Mit der traurigen
Wirklichkeit, die Lessing umgab, mit dem Elend der Nothstaaten, darin er
lebte, entschuldigen wir es, daß auch ihm. wie allen deutschen Denkern seiner
Zeit, sehr schwer ward, die Nothwendigkeit des Staates zu verstehen, daß auch
ihn jene Frage beschäftigt hat. die ein Volk mächtiger und glücklicher Bürger
nie lange betrachten mag. die Frage: ist die Abschaffung des Staats möglich
oder zu wünschen? Desgleichen in die überwundene Epoche vorherrschenden Privat¬
lebens verweisen wir seine Lehre, daß der Staat, obwohl er erst „den Anbau
der Vernunft möglich mache" doch nur ein Mittel sei für die Bildung des
einzelnen Menschen. Aber weit hinaus über den Gesichtskreis der Nachwelt
selber schweift er wieder, wenn er in den Freimaurergesprächen die tiefsinnige
Frage durchdenkt: wie lassen sich die Uebel der Beschränktheit und der Härte
heben, die das Bestehen mehrer Staaten nothwendig hervorruft? Wie ist eine
Verbindung möglich aller guten Menschen ohne Ansehen des Standes, des
Landes und des Glaubens zum Zwecke rein menschlicher Gesittung? In diesen
Worten, fürwahr, eröffnet sich die Aussicht auf einen menschlichen Verkehr der
Völkergesellschaft, den erst ferne Tage schauen werden. Wie aber? Steht nicht
dies Weltbürgerthum ein Todfeind gegenüber dem ersten und berechtigtsten
Streben der Gegenwart, dem Drange nach nationaler Staatenbildung? Ich
denke, nein. So tiefsinnig, so überschwänglich reich ist das Leben der Staaten,
daß niemals eine Geistesrichtung allein darin herrschen kann. Noch heute leben
sie. jene Gedanken von dem Weltbürgerthume. und eben jene dürfen sich heute
Lessings getreueste Schüler nennen, die — seinem Geiste, nicht dem Klange
seiner Rede folgend — am rührigsten für den nationalen Gedanken wirken.
Wenn erst von den großen Culturvölkern jedes zerrissene sich geeint, jedes ge¬
knechtete aus seinem Volksgeiste heraus seinen Staat sich gestaltet hat. wenn
damit verschwunden sind die größten, die gefährlichsten Anlässe des Haders, die
bisher Staat mit Staat verfeindet: dann erst wird jener gesicherte Verkehr der
Menschen, jenes Weltbürgerthum sich vollenden in einem tieferen, reicheren
Sinne als Lessing meinte, und allüberall wird man reden von seinem Seher-
Seiste. Dann auch wird die Welt ein Wort verstehen, das die Gegenwart in
ihrem schweren Kampfe nimmermehr verstehen darf — das himmlisch milde:
was Blut kostet ist gewiß kein Blut werth.
Daß solche Zeiten harten aufreibenden staatlichen Kampfes unsrem Volke
kommen würden, geahnt zum Mindesten hat es Lessing. Das bezeuge Ihnen
sein gehaltvolles Urtheil über die Geschichte. Wie sicher begriff er das der
Kunst verwandte Wesen der Geschichtsschreibung, wenn er die Bildung des »Ge¬
lehrten und des schönen Geistes zugleich" von dem Historiker forderte; wie viel
sicherer noch die politische Bedeutung der geschichtlichen Wissenschaft, die erst
in der jüngsten Vergangenheit sich entfaltet hat, wenn er das vielgcscholtene
Paradoxon aufstellte: im Grunde könne ein Jeder nur der Geschichtsschreiber
seiner eigenen Zeit sein. So schienen ihm alle Vortheile umfassender archiva-
lischer Forschung nichtig gegen die Vorzüge des zeitgenössischen Geschichtsschrei¬
bers, daß er seinen Menschen bis in Herz und Nieren blicken, daß er seine
Leser durch die Erzählung von ihrer eignen Schuld und Strafe im Innersten
ergreifen und — vor Allem — daß er eine Macht werden kann im poli
lischen Leben.
Soll ich noch schildern, wie wenig die Mitlebenden ihm dankten, wie
schwer das Geschick bis zum Ende ihn heimsuchte? Das widrige Sprichwort,
das in jenen weichlichen Tagen von Mund zu Munde ging, das Wort: „ge¬
theilter Schmerz ist halber Schmerz" hatte der Jüngling schon mit der stolzen
Gegenrede abgewiesen:
Was nutzt mir's, daß ein Freund mit mir gefällig weine?
Nichts, als daß ich in ihm mir zwiefach elend scheine.
Einsam ist er durch das Leben geschritten, und sein alle Weichheit des
Gefühls mißachtender Sinn neigte sich zu dem Grundsatze antiker Sitt¬
lichkeit, der Weiber und Sklaven von den höchsten Forderungen des Sit-
tengesetzes ausschloß. Sie wissen, wie ein Jahr einer glücklichen Ehe ihn
lehrte größer von den Frauen zu denken, und wie am Abend seines
Lebens jene schreckliche Klage sich ihm entrang: „meine Frau ist todt, und
diese Erfahrung habe ich nun auch gemacht. Es ist mir lieb, daß mir
viele solche Erfahrungen nicht mehr übrig sein können, und ich bin ganz
leicht." Wenn er aber aus dem tiefen Schmerze hinausblickte in sein Haus
und in die Welt der Kunst, so hat er sicher empfunden, daß seine Saat auf¬
ging. Die Kinder seines Weibes hörte er verkehren in dem Ton schlichter offener
Herzlichkeit, er sah eine segensreiche Verwandlung des häuslichen Lebens und
durfte sich sagen, daß er selber ein Großes daran gewirkt. Und in der Kunst,
deren Fesseln er gebrochen? Da stürmte Götz v. Berlichingen über die Bretter,
und die Jünglinge klagten in überströmender Empfindung um die Leiden des
jungen Werther. Mochte der Maßvolle der regellosen Weise des jungen Ge¬
schlechtes zürnen und spotten über die weichen Gefühle die seinen Kellerlöcher
Sinn nie berührt, und die Rechte der Cultur vertheidigen wider Rousseaus
Naturschwärmerei: — mit freudigem Verständniß hat er doch den Genius begrüßt,
als Goethe jene grandiose Fabel besang, die zu ewig neuen Liedern den Sinn
der Sterblichen begeistern wird, die Fabel von dem Lichtbringer Prometheus,
Um das Todesjahr Lessings ging von der Einsiedelei in Sanssouci die
denkwürdige Schrift aus „über den Zustand der deutschen Literatur". Zu ihr
möchte ich alle jene führen, die noch immer das Tendenzmärchen wiederholen,
dem großen König habe das Herz gefehlt für unser Volk. Ist es nicht genug
an dem einen Fluche der Deutschen, der noch heute gewaltig fortwirkt in
allen Zweigen unsres Volkslebens bis hinab in die Sprache und die traulichen
Umgangsformen des Hauses — daß Luther der einen Hälfte der Nation der
gepriesene Erretter, der anderen ein Gräuel ist? Noch fern ist die Zeit — doch
auch sie wird erscheinen — wo Alles, was deutsche Zunge redet, den deutschen
Helden in Luther begrüßen wird. Schon jetzt aber ist die Stunde gekommen,
den anderen Mann, der nächst Luther am gewaltigsten für die neueren Deut¬
schen gewirkt, von den Schmähungen zu entlasten, womit blinde Parteiwuth
ihn bedeckt. Nicht die preußische Neigung des heutigen Liberalismus hat unse¬
rem großen Könige den Ruhm eines nationalen Helden angedichtet: kein An¬
derer als Goethe hat das gute Wort gesprochen, Friedrich der Große erst hat
durch seine Thaten unsrem Volksleben jenen großen heroischen und nationalen
Inhalt gegeben, den Lessing in schöne Formen bildete. Ihn, der also den
Stoff geboten für die neu erstandene Dichtung — hören wir ihn reden über
die Kunst der Deutschen! Klagen, nichts als Klagen über die form- und zuchtlose
Sprache. Klagen, daß unsre Sprache noch nicht in die Schnürbrust eines Wörter¬
buchs der Akademie eingezwängt sei, daß die Dramen Shakespeares, „würdig der
Wilden von Kanada", und die „abscheulichen Plattheiten" des Götz von Ber-
lichingen das rohe Volk erfreuen! Sie erstaunen über diesen unerhörten Be¬
weis der französischen Bildung des Königs und seiner gänzlichen Unkenntniß
der deutschen Dichtung. Aber lesen Sie weiter in derselben Schrift, und zum
Herzen wird Ihnen reden die deutsche Empfindung desselben Mannes, der be¬
wegte Ausdruck des Zornes und der Scham über solche Armuth der Kunst
seines Volks, das frohe Aussprechen endlich einer großen nationalen Hoffnung.
Nicht an Geist gebreche es den Deutschen; schon sei der Ehrgeiz der Nation er¬
wacht, „und vielleicht werden, die zuletzt kommen, alle Vorhergehenden über¬
treffen. Ich bin wie Moses" ruft der König am Ende, „ich sehe das gelobte
Land aus der Ferne, doch ich bin zu alt, um es je zu betreten."
Halten Sie neben diese Worte des Königs Lessings berufene Klage: der
Charakter der Deutschen sei, keinen eigenen Charakter haben zu wollen — so
werden Sie erstaunen, in wie seltsamem Irrthume die Beiden sich verfingen.
Der König erwartet den Glanz unserer Dichtung von den französischen Regeln,
und siehe, er kam durch die Freiheit. Der König meint in der Ferne das
gelobte Land zu sehen, und siehe, er selbst stand mitten darin. Desgleichen
*
der Dichter, der so schmerzlich frug nach dem Nationalcharakter der Deutschen
— hätte er lesen können in der Seele jener preußischen Soldaten, die bei
Roßbach die Franzosen warfen und bei Leuthen in der Winternackt das „Herr
Gott Dich loben wir" sangen, gewiß, er hätte begriffen: die lebendige Staats¬
gesinnung, die er suchte, sehr unreif war sie, doch sie war im Werden, So
standen die Beiden im Nebel der Nacht — der König, der einen Lessing suchte
für unsre Kunst, und der Dichter, einen Friedrich suchend für unsern Staat.
Inzwischen ist es Tag geworden, die Nebel sind gefallen, und wir sehen die
Beiden dicht neben einander auf demselben Wege — den Künstler, der unsrer
Dichtung die Bahn gebrochen, und den Fürsten, mit dem das moderne Staats¬
leben der Deutschen beginnt.
Und wäre es denn ein Zufall, daß achtzig Jahre nach Lessings Tode gerade
sein Bildniß den Anstoß gab zu einem heilsamen Umschwunge unsrer Bildner¬
kunst? Versuchen Sie sich zu versenken in die Seele des Künstlers, dem jene
Aufgabe ward. Sollte er Lessing bilden in der Toga— ihn, der das gespreizte
Römerthum der Franzosen erbarmungslos verspottet? Oder in dem beliebten
Theatermantel — ihn, der im Leben jeden falschen Schein verschmäht? Da
blieb kein Ausweg: kraftvoll, schlicht und wahrhaft wie er selber — oder gar
nicht mußte Lessings Bild erscheinen. Und der glückliche Entschluß einmal ge¬
faßt, hat unserm Rietschel jedes Glück des Genius gelächelt, aus jeder Noth
ward ihm eine Tugend. Der steife Haarbeutel ward ihm ein Anlaß, die voll¬
endeten Linien des wallenden Haars zu zeichnen, und die Enge des kurzen
Beinkleids erlaubte ihm, die gedrungene Kraft der Glieder zu zeigen. So
sehen wir Lessings Bildniß vor uns — die erste Bildsäule der Deutschen, darin
der entschlossene wahrhaftige Realismus der Gegenwart sich ehrlich offenbart —
schmucklos und stark, gehobenen Hauptes, und diese trotzigen Lippen scheinen
zu reden:
was braucht die Nachwelt, war sie tritt, zu wissen,
weiß ich nur wer ich bin.
Ein oberflächlicher Beobachter unsrer Zustände könnte leicht zu dem Ge¬
danken verführt werden, daß nach den kurzen Jahren der Erregung wieder jene
politische Oede, jene Abstumpfung gegen das öffentliche Leben'de/Nation ein¬
getreten sei, wie sie die zehnjährige Ncactionsperivde kennzeichnete. Die Bürger-
Versammlungen debattiren über die Gasbeleuchtung, und die Tagesblätter be-
sprechen die Richtung neuer Eisenbahnen und die Reform der Volksschule
eingehender als die deutsche Frage. Hort man den richtigen Durchschnitts¬
menschen, so ist ihm der Nationalverein und der Refoimvercin, Kurhessen und
die preußische Vcrfassungskrisis gründlich verleidet, und vom Handelsvertrag
mag er vollends gar nichts wissen, der doch blos eine diabolische Erfindung
des Louis Napoleon ist, um Unfrieden und Zank unter die Deutschen selbst
auszusäen. Sieht man jedoch näher zu. so wird man bald erkennen, daß
solche mißgelaunte Stimmung blos davon rührt, daß man die großen politischen
Fragen, die Lebensfragen der Nation, die augenblicklich nirgends einen Aus¬
weg bieten, wohl abschütteln möchte, daß man sie aber nicht'los werden kann.
Sie sind lästig, weil man vergebens sich ihrer zu erwehren strebt. Mir wahrer
Zudringlichkeit kündigen sie jeden Augenblick ihr Dasein an. Wer auf der
Karte die piojectirten Eisenbahnen verfolgt, stößt sofort die Nase auf Preußen
und auf die freundliche Art des diplomatischen Verkehrs zwischen deutschen
Bundes- und Nachbarstaaten. Ueber den fatalen Handelsvertrag stolpert man
ohnedies jeden Augenblick, und wer beim Glase Wein sitzt, muß gefaßt sein,
daß ihn sein Nachbar über die Folgen der drohenden Concurrenz der französi¬
schen oder der östreichischen Weine ins Gespräch zieht. Sonst überließ man
solche Dinge getrost der Fürsorge der Regierung, ein thätiges Interesse beschränkte
sich auf die Kreise, welche zunächst betheiligt'waren. Heute hat sich das Inter¬
esse in alle Kreise verbreitet. Niemand kann sich der Discussion von Fragen
entziehen, welche gerade hier schärfer als irgendwo in altgewohnte Anschauungen,
in festgewurzelte Parteivevhältnisse einschneiden, die aber andrerseits auch zu
einigen berufen sind, was bisher durch Gewohnheit, Vorurtheile und pro-
vincielle Absonderung getrennt war.
Gerade bei der Enge der Verhältnisse in dieser südwestlichen Ecke des
Vaterlands, wo die gegnerischen Elemente zugleich jeden Augenblick persönlich
auf einander stoßen, hat der politische Kampf eine herbere Form angenommen,
als in anderen Gegenden, wo entweder die Einheit des politischen Bewußtseins
durch jene Parteikämpfe kaum berührt ist, oder die größeren Verhältnisse auch
der Debatte eine weitere Arena gewähren. Hier dagegen sind alte Freund¬
schaften, durch gemeinsame Erfahrungen und Verfolgungen gekräftigt, unerbitt¬
lich auseinandergefallen, indeß man gleichzeitig langjährige politische Feinde sich
zu gemeinsamen Zwecken verbinden sieht. Es ist eine Zerklüftung gerade unter
den liberalen Parteien eingerissen, die zunächst sich sehr unerquicklich ansieht,
und über welche vielleicht jene Staatsmänner, welche sich von schutzzöllnerischen
Demokraten den Dank sür ihre „nationale" Haltung Votiren lassen, eine innige
Freude empfinden. Allein diese Zerklüftung ist doch nur das Symptom einer
heilsamen Krisis, ein nothwendiger Uebergangszustand. Denn gerade dies
Macht die Nachwirkung der eßlinger Versammlung so bedeutend, daß durch sie
der landsmannschaftliche Charakter, den bisher die liberale Partei in Schwaben
»ut Zähigkeit festhielt, gründlich erschüttert wurde, daß in den Streitigkeiten,
welche zu den Beschlüssen vom 14. Den. v. I. führten, das spröde schwäbische
Naturell aufthaute gegen die allgemein nationalen Ideen. Bei einem solchen
Proceß geht es nicht ab ohne Schmerzen. Sie sind um so fühlbarer, je we¬
niger ungetrübt die Freude an dem neugewonnenen ist, das man eingetauscht
hat gegen altes Liebgewordenes.
Es wird sich Gelegenheit finden, auf die Wirkung zurückzukommen, welche
°>e eßlinger Versammlung auf die Stellung Schwabens zur deutschen Frage
ausgeübt' hat und noch ausübt. Inzwischen ist es die Agitation für und gegen
den Handelsvertrag, welche noch immer im Vordergrund'steht.
Im Grunde ist es dieselbe Bewegung, die schon im Jahr 1833 vor
dem Zustandekommen des Zollvereins im Gange war. Es sind dieselben Mo¬
tive, zum Theil wieder dieselben Erscheinungen. Es war deshalb sehr zeit¬
gemäß, daß eine kleine Flugschrift, die kürzlich im Namen des Comite der
Stuttgarter Versammlung vom 3. Januar herausgegeben wurde, und die sich
als „kleine Beiträge zum Streit über den deutsch-französischen Handelsvertrag.
Erstes Heft", ankündigte, gerade an diese Vorgänge wieder erinnerte, deren
Auffrischung freilich denen nicht willkommen sein kann, welche im Zollverein,
den sie damals bekämpften, heute die Grundlage ihres Wohlstands preisen.
Damals wurde gegen die Zvllvereinigung mit Preußen in gleicher Weise agitirt,
wie jetzt gegen die Zollerleichterung gegen Frankreich. Industrielle riefen:"man
richtet uns zu Grunde! Nationalökonomen predigten, man gebe die inländische
Industrie sicherem Ruin Preis, wenn man sie nicht durch hohe Zölle vor der
Concurrenz der erstarkten preußischen Industrie beschütze. Moritz Mohl zeichnete
sich schon damals unter den Einsichtigen besonders aus; er verfaßte den Stutt¬
garter Kaufleuten ihre Petition an die Stände gegen den Eintritt in den Zoll¬
verein, welcher nachher viele andre Petitionen in demselben Sinne nachfolgten.
Der ganze Unterschied zwischen damals und jetzt ist die volkswirtschaft¬
liche Erleuchtung, welche inzwischen über die würtenbergische Negierung ge¬
kommen ist. Als sie damals den Zvllvereinsvertrag den Ständen vorlegte,
begleitete sie ihn mit einem Vortrag, worin sie die Einwendungen widerlegte,
welche man aus der Concurrenz der überlegenen preußischen Fabrikation in
Eisen-. Wollen-, und Baumwollwaaren gegen den Vertrag abgeleitet hatte.
Damals sprach sie es als Grundsatz aus: „daß die Grundbedingung des Empor¬
kommens aller Production die sreie Entwickelung des Handels sei, der Handel
aber verlange für sein Gedeihen freie Bewegung im weiten Felde. Je weiter
dieses Feld sich ausdehne, desto mannigfaltiger werde die Gelegenheit zur Ver¬
werthung des eigenen Ueberflusses, desto zahlreicher böten sich die Mittel zur
Befriedigung unserer Bedürfnisse dar." Damals stellte sich die Regierung unbe¬
irrt durch das Geschrei der Fabrikanten und eine kurzsichtige Opposition an die
Spitze der Bewegung, während sie sich heute auf die schutzzöllnerischen und parti-
cularistischen Elemente, auf die blinden Leidenschaften stützt, die sie damals be¬
kämpfte. Ein seltsamer Fortschritt in den nationalökonomischen Anschauungen
unserer regierenden Kreise, und schwer erklärlich. wenn nicht ganz andre Motive,
als volkswirtschaftliche, diese Bekehrung bewirkt hätten!
Eben diese veränderte Stellung der Regierung ist es aber auch, welche die
jetzige Agitation zu einer weit tiefergehenden gemacht hat, die über die zunächst
Betheiligten weit hinausgreift. An und für sich bringt es der Sache freilich
wenig Gewinn, wenn sie zu einem Gegenstand der Agitation für unverständige
Kreise gemacht wird, wenn Schaaren von Arbeitern, Bauern, Weingärtnern
für oder wider in Bewegung gesetzt werden. Allein nachdem einmal die Schritte
der süddeutschen Regierungen zu einer nicht mehr abzuläugnenden Krisis des
Zollvereins geführt baben, sind die auf dem Spiel stehenden Interessen zu
allgemein, um nicht von selbst die ganze Bevölkerung zur Antheilnahme auf¬
zufordern. Zudem brachte es der schwierige Stand, welchen die Freunde des
Vertrags von Anfang an hatten, mit sich, daß man zu Mitteln greifen mußte,
um in populärer Form und in möglichst weitem Umkreis eine unbefangenere
Auffassung zu verbreiten. Die Gegner hatten gleich im Anfang an die Vor¬
urtheile der Massen appellirt; diese'n galt es entgegenzuwirken.'
Wie viel in dieser Beziehung noch zu thun ist, lehrt fast jede Versamm¬
lung, welche die Gegner des Vertrags für ihre Zwecke in Scene setzen. Es
ist unglaublich, welche Unkenntnis; noch über wesentliche Punkte auch in solchen
Kreisen herrscht, von denen man voraussetzen sollte, daß sie sich längst in den
Besitz des thatsächlichen Materials gesetzt hätten. Es wird erzählt, daß kürzlich
in Stuttgart eine Besprechung von Producenten moussirender Weine in Sachen
des Handelsvertrags stattfand. Nachdem einer der Herren die Schädlichkeit des
Vertrags auseinandergesetzt und dabei noch die Härte der Uebergangssteuer in
die norddeutschen Staaten erwähnte, warf ein anderer dazwischen: aber meine
Herren, Preußen hat ja den Wegfall der Uebergangssteucr für den Fall der
Annahme des Bertrags zugesagt. ' Großes Erstaunen. „Unglaublich — woher
wissen Sie das? — Stand das wirklich in den Zeitungen?" Es kam bis zu
einer Wette, so neu und unerhört war diese Nachricht. Ist es unter diesen
Umständen ein Wunder, wenn man die Weingärtner in Canstadt eine Resolu¬
tion poliren ließ, welche sich U.A. darauf stützt, daß die würtembergischen
Weine bei der Uebergangssieuer, welche sie in die Thalerstaatcn zahlen müssen,
durch einen Zoll von sieben Gulden per Eentner nicht genügend geschützt seien?
Wo solche naive Unkenntnis; noch herrscht, braucht man es natürlich mit
den Gründen gegen den Handelsvertrag überhaupt nicht allzugenau zu nehmen.
Warum sollte ein Freiherr, in dessen Adern das Blut der Stuarts rollt, den
Bauern von der schwäbischen Alp nicht versichern dürfen, der Handelsvertrag
sei ein Werk des Nationalvereins! Ein solcher Beweisgrund ist wenigstens
sicher verständlich zu sein, so verständlich, wie die Ansprache des Herrn v. Ker-
storff an den grvßdeutsch-geselligen Club zu München: „Lieber zehn Zollver¬
eine sprengen als die bayrische Unabhängigkeit aufgeben!"
Ein beliebtes Argument ist noch immer dies, daß Preußen es nicht aufs
Aeußerste ankommen lassen und schließlich nachgeben werde, weil es müsse. So
versichern die Leiter jener Gegenversammlungcn wenigstens noch öffentlich,
während sie im Stillen wohl längst überzeugt sind, wie dürftig und morsch
dieser Grund ist, und in der That bereits die Chancen eines Zollbündnisses
der süddeutschen Staaten mit Oestreich von ihnen in Erwägung gezogen werden.
Hier ist aber auch der Punkt, wo die Ernüchterung unfehlbar eintreten wird.
Schon ist die Uneinigkeit, die unter den Gegnern des Vertrags eingetreten ist,
in dieser Beziehung ein bedeutsames Anzeichen. Anfangs bildeten die Gegner
eine geschlossene Einheit, sie bedienten sich bald politischer, bald schutzzöllnerischer,
bald auch freihändlerischer Waffen, aber immer in der einen Richtung, den
Vertrag selbst zu bekämpfen. Neuerdings ist nun eine Spaltung der' schntz-
Mnerischen und der freihändlerischen Vertragsfeinde hervorgetreten, die zwar
in politischer Hinsicht zusammengehen und beide die Zolteinigung mit Oestreich
wollen, aber gegenüber dem Vertrag selbst eine sehr verschiedene Stellung
einnehmen.
Wäbrend nämlich Mohl und seine industriellen Freunde auf der absoluten
Ablehnung des Vertrags, wie überhaupt jedes Vertrags mit Frankreich beharren
und der Forderung einer Tarifresorm gegenüber eher eine Erhöhung des Schutz¬
zolls verlangen, behauptet eine nationalökonomisch freier und richtiger denkende
Fraction. die in der Kammer namhafte Vertreter hat, nur die unbedingte
Annahme des Vertrags sei von den süddeutschen Regierungen verweigert wor¬
den, der Annahme eines Vertrags überhaupt sei jedoch dadurch nicht prciju-
bicirt; sie erklärt ferner die Reform des Tarifs, die Erschließung des Zvll-
vereinsgebiets gegen den Weltverkehr für unaufschiebbar, mahnt zu weitgehenden
Concessionen in Vetreff der Tarifpositionen des Vertrags und will überhaupt
die Polemik nicht gegen den Tarif, sondern gegen den Ausschluß Oestreichs
concentrirt wissen. Der Eintritt Oestreichs in den Zollverein, meint Professor
Schäffle. müsse vorausgehen, dann erst dürfe ein Vertrag mit Frankreich ab¬
geschlossen werden.
Man kann dem häuslichen Streit dieser beiden Richtungen mit Gelassen
heit zusehen. Dringt Mohls Votum für unbedingte Ablehnung durch, so ist.
wie sein Gegner selbst erklärt, die Folge nur die, daß schließlich die unbedingte
Annahme des Vertrags, wie er ist, unabweisbar wird. Die andere scheinbar
vermittelnde Ansicht/welche jedenfalls beweist, daß man die Polemik gegen
die Vertragsbestimmungen selbst als wenig haltbar allmälig aufgibt, kann man
getrost der'Auseinandersetzung mit Oestreich überlassen, wo der künstliche Enthu¬
siasmus für den Eintritt in den Zollverein — und zwar in den bisherigen
Zollverein, also noch abgesehen von der Tarisrefvrm — bekanntlich sehr rasch
erloschen ist. Ein wirkliches Moment der Vermittlung zwischen den streitenden
Ansichten ist, so wie die Dinge einmal liegen, ohnedies in diesem Vorschlag
nicht enthalten.
Was die Regierung schließlich thun wird, weiß Niemand, sie selbst wahr¬
scheinlich am wenigsten. Die Verlegenheit scheint groß zu sein. Officiell wird
zwar noch immer der bisherige schroffe Standpunkt festgehalten. Die Minister
sind erfreut, durch die ländlichen Versammlungen ihre Bemühungen für die
Interessen des Landes so warm anerkannt zu sehen und unerwartetes Lob
für die bewährte „nationale" Haltung einzunehmen. Herr v. Hügel drückte
neulich dem Baumwoilensabritanten Staub, einem der thätigsten Agita¬
toren, der eine zahlreich bedeckte Dankadresse überreichte, die Genugthuung
aus, welche die Regierung „den so vielfach zu Tage getretenen Miß-
kcnnungen gegenüber" über diese Würdigung ihres Vorgehens empfinde.
Allein nicht alle Minister denken wie Hr. v. Hügel, und selbst dieser beobachtet
über die Zukunft weises Stillschweigen. Die Enquete, welche das Finanzministe¬
rium neuerdings wieder bei den Industriellen des Landes anstellt, scheint nicht
darauf hinzuweisen, daß es die bisher getroffene Entscheidung als eine unwider¬
rufliche ansieht. Es versteht sich von selbst, daß bei dieser'Enquöte die Gut¬
achten theils für, theils gegen den Vertrag lauten werde», und so sieht es
denn ganz danach aus, als wolle man sich eine Brücke offen halten und mit
dein Anschein, noch freie Hand zu haben, vor die Kammer treten. Damit ist es
natürlich sehr wohl vereinbar, daß man in der Zwischenzeit nach Oestreich
hinüberhvrcht und verlockenden Versprechungen für den Fall des Ausscheidens
aus dem Zollverein einstweilen Gehör schenkt.
Auch die Verschiebung der Einberufung der Ständeversammlung läßt sich
in diesem Sinne deuten. Anfangs hieß es, bald nach Neujahr solle der Landtag
wieder zusammentreten, aber dieser Termin schiebt sich von Monat zu Monat
hinaus, wofür die Regierung allerdings auch den Rückstand in den Commissions-
arbeiten für sich anführen kann, zumal da dringliche Angelegenheiten nicht vor¬
liegen, mit Ausnahme etwa des Handelsgesetzbuchs, das noch immer der Ein¬
führung harrt. Wahrscheinlich wird der Landtag im Frühsommer zusammen¬
treten, aber nach kurzer Session und ohne Berathung des Handelsvertrags eine
Vertagung bis zum Herbst eintreten. Wäre die Regierung ihrer Sache sicher,
würde sie mit den bisherigen Noten des Hrn. v, Hügel die Sache als abgemacht
betrachten, so würde sie nicht säumen, sich ein Vertrauensvotum von der Kammer
einzuholen. Daß sie damit zögert, beweist, daß sie ihr letztes Wort noch nicht
^. gesprochen haben will.
„Gewiß war die Theilung Polens eine große, schwere Versündigung"
— so sagte neulich ein versöhnungsdurstiger Deutscher zu dem Sohne eines der be-
rühmtesten polnischen Helden, Herrn v. D. — „Glauben Sie das nicht," er¬
widerte der Angeredete, der dessen ohn^eachtet bei allen Agitationen mit¬
spielt, „das mußte so kommen. Die Wirthschaft ward zu toll. Der große
Fritz ist mein Mann" u. s. f.
In der That gibt es kein trüberes und zugleich kein lehrreicheres Blatt der
Geschichte, als das von dem Untergange Polens, nach dem Aussterben der
Jagellonen. „Polen gleicht einem Schiffe auf dem Meere," so sprach der letzte
derselben, Sigismund der Zweite August vor seinem Tode, „das dem Toben
aller vier Elemente ausgesetzt ist. Es nahen sich die schäumenden Wellen,
welche es hin- und herschleudern und endlich zertrümmern werden."
Der Warnungsruf ward überhört, durch die paew eorivont-i das Wahl¬
reich gegründet, und dadurch die Uebermacht des Adels über den König zum
Gesetz erhoben. Der sichere Weg zur Anarchie. Stephan Bathvry, der zweite
Wahlkönig, stand schon in offenem Streite mit den Magnaten, als er ihnen
auf dem Reichstage zu Thorn 1577 zurief: „Ich bin Euer rechtmäßiger König,
kein erdichteter, kein gemalter. Ich will herrschen und gebieten und dulde nicht,
daß man meiner Freiheit ein Gebiß anlege. Seid immerhin Wächter Eurer
Freiheit, aber meine Zuchtmeister dürft Ihr nicht sein. Schützt Eure Freiheit,
aber Frechheit ist keine Freiheit." Er war nicht mehr im Stande, den Strom
aufzuhalten. Gewählte Könige und erbliche Staatsämter, deren Einkünfte in
dem Besitz von Krongütern lagen. Ein ohnmächtiger König und ein über¬
müthige Adel, dem die Verfassung in dem nie po2ng,ig,in, liberum veto, eine
furchtbare Macht gab, die er selbst aber noch durch Konföderationen verstärkte.
Statt stehender Heere für den Nothfall herbeigerufene Sensenmänner! Kein
Volk, sondern acht bis zehn Millionen der Scholle zugehörige Leibeigene ohne
politische Existenz, deren Haus und Hof, Weib und Kind, Acker und Vieh, ja
deren Arbeitsgeräth dem Herrn gehörte, deren — ich nehme die Worte eines
berühmten Polenfreundes, des General Dumouriez, auf, „Sklavenstand ver¬
kauft, gekauft, eingetauscht oder vererbt wird und allen Veränderungen des
Eigenthumes wie Hausthiere unterliegt, der sociale Verband der Polen ist ein
Ungethüm, bestehend in einer Vereinigung von Köpfen und Magen, ohne Arme
und Beine." Die Edelleute durften nicht wagen, ihren Bauern Waffen zu
geben. — Das Land war schwach bevölkert; es hätte die dreifache Bewohner¬
zahl ernährt.
Die Leitung der öffentlichen Dinge lag bei den Frauen. Am 19. Juli
1645 schrieb Herr v. Flecellcs von Warschau aus an Fürstin Ludowina Maria
Gonzaga, die Braut König Wladislaw des Vierten: „Es ist die Sitte unter
den Senatoren und Magnaten, daß sie sich, um eine königliche Gnade zu er¬
halten, an die Königin wenden, und an diese mit Hülfe der Ehrendame. Von
dieser letzten hängt es also besonders ab, recht geschickt die Sache einzufädeln,
damit die Königin und auch sie ihre wesentlichen Vortheile davon haben." Ein
ferneres Uebel, für das trotz aller Erfahrungen noch heute Proceß- und händel¬
süchtige Volk doppelt verhängnißvoll, war der traurige Zustand der Gerichts¬
pflege. Einen mächtigen, unterrichteten und unabhängigen Richterstand hatte
die Adelsrepublik nicht. Im Strafverfahren herrschte die Folter. Die Ncchts-
befugnisse, die Grenzen derselben, selbst im räumlichen Sinne, waren streitig,
die Richter, wie Alles, käuflich. In dem soeben erwähnten, vom Grafen Nac-
zynski herausgegebenen Briefwechsel räth der Vertraute der Prinzessin, ihre
Besitzungen in Paris zu verkaufen. „Hier wird Geld anfangs nöthig sein;
aber ich versichere, dahin einem halben Jahre höchstens Ew. K. H. schon soviel
hier werden eingenommen haben, um Alles zu bezahlen." Die Bestechungen
fielen „gleich Sägespänen auf den Boden", und das Sprichwort sagte: zeige
mir den Mann, so zeige ich dir das Gesetz. Nur adelige Katholiken waren zu
Richtern wählbar. Eine auswärtige Universität besuchten sie nicht, und in Po¬
len wurde seit Sigismund dem Dritten kein Nechtsunterricht mehr ertheilt; die
juristische Facultät zu Krakau war durch die theologische verdrängt. Ward nun
aber auch von diesen bestechlichen und unwissenden Richtern ein Erkenntniß er-
reicht, so leisteten ihm die Parteien, wie sie es jene noch lieben, nur gezwungen
Folge. Zu alledem kam die von den Jesuiten künstlich unterhaltene Rohheit
und Unwissenheit des Adels, namentlich auch des niederen, und die nur von
den Spaniern übertroffene Unduldsamkeit gegen „Akatholiken", sowohl gegen
die Protestanten, wie gegen die griechischen Katholiken").
Diese veranlaßte unter Johann Kasimir den furchtbaren Aufstand der Ko¬
saken, welcher, da der Adel den Concessionen des Königs die Genehmigung
versagte, den Abfall dieser Soldaten der Krone Polens zu der Rußlands zur
Folge hatte. Smolensk, Sevcricn, Czernichow, Kiew, die ganze Ukraine gin¬
gen verloren, und die Macht der Republik war gebrochen. Der schwache König
sah dies selbst und sagte bereits am 4. Juli 1661: „Utirmm tun talsus va>
tes, aber es ist gewiß, daß ohne die Bestimmung des Thronfolgers zu Leb¬
zeiten des regierenden Königs die Republik in äirextionem Feutiuiu kommen
wird, Nußland wird die Länder seiner Sprache und Lithauen sibi ctestinadit.
Dem Brandenburger Mehle Groß-Polen, und mit Schweden wird er sich über
Preußen einigen. Das Haus Oestreich, wenn es auch bei diesem Zerstückeln
die lautersten Absichten hätte, non ävsrit Krakau und die anliegenden Woywod'
schaften zu fassen; denn jeder wird lieber einen Theil Polens Mois «zruiesitam
haben wollen, als ganz Polen mit seinen Gerechtsamen und Freiheiten, oonUA
xrineisttzs wtam."
1668 verzichtete Johann Kasimir auf den Thron. Ueber ihn und die fol¬
gende Zeit schreibt Lelewel:-->
„Der Staat war vermindert und geschwächt: vermindert durch den Verlust
verschiedener Provinzen, geschwächt durch den Abzug der Kosaken, durch die
Entfernung der Socinianer und vieler Protestanten und durch die Ausschließung
der zurückgebliebenen Dissidenten von dem Genuß der staatsbürgerlichen Rechte.
Geschwächt war ferner die gesammte Masse der Nation durch wirkliche Ver¬
armung und Noth, durch jesuitische Erziehung oder gänzliche Vernachlässigung
derselben, durch die geistige Finsterniß, die hier, wie überhaupt in Europa
*) Wir haben oben einige Fälle von polnischer Unduldsamkeit gegen die deutschen Städte
aufgeführt; das Sendschreiben von dem Zustande und den Drangsalen der Dissidenten in
Polen und Lithauen (Freistadt 1717) enthält Beispiele von den Verfolgungen einzelner Pro¬
testanten, von denen Kattner einige mittheilt.
Hauptman» Kahler hatte eine spöttische Bemerkung auf Luther mit einer solchen auf den
Papst erwidert. Er wurde zum Zungcnausrcißen und Viertheilen verurtheilt; da er aber ka¬
tholisch ward, wurde er blos — enthauptet a, ä, 1712, Sigismund von Unruh büßte
-»> 6. 1715 einige Bemerkungen über die Jesuiten, die er in seine Brieftasche eingetragen
hatte, durch Hinrichtung, nach vorangegangenen Zungcimusreiszen und Handabhauen. Güter-
confiscation war selbstverständlich.
(vrgl. z. B. Is 5lacte 6e Louis <zuator?s, ferner Spinoza, Leibnitz'. Newton!!)
wcibrend des siebzehnten Jahrhunderts geherrscht hatte, endlich durch die von
siebzigjährigen heftigen Erschütterungen eingetretene Abspannung. So folgte
ein Zustand der Erstarrung und Lähmung, so daß die Polen während der fer¬
neren Regierung der Könige aus dem sächsischen Hause keine Regung nationaler
Lebensthätigkeit mehr äußerten. Die Nation hielt sich dabei für glücklich; so
sehr war sie der Leiden und Erniedrigung gewohnt. In falschen Begriffen
und Ansichten befangen, freute sie sich ihrer Gesetzlosigkeit und rohen Gast¬
freiheit."
All diese abstracte Darstellung vermag uns nicht so in den Geist jener
Zeit zu versetzen, als ein paar Blicke in die wahrheitstreuen üai^s^ üomons
v. Wojcicki.
In diesen lernen wir z. B. Herrn Noch Bialkowski kennen, einen Edel¬
mann von riesiger Kraft, der sich aus wichtigen Gründen auf Schreiben und
Lesen nicht eingelassen hat. Dieser ließ sich nach dein Tode seiner ersten Frau,
bald nach der Bar'schen Convention 1768 in der Wvywodschaft Kalisch nieder.
Da in Polen nach großen Siegen, bei hoben Festen u. d. gi. ganze Massen
geadelt wurde», so gab es dort noch zur Zeit der preußischen Occupation, wie
es in Litthauen noch vorkommt. Dörfer mit mehr als hundert Edelleuten, die
an Wochentagen hinter ihrem Pfluge gingen, an Sonntagen in geflickten Kon¬
tusch, etwas abgeriebenen Schuvan und einem alten Paß, den Säbel an der
Seite, zu Fusz oder auf einem schlechten Gaul in die Kirche kamen. Sie hatten
den Vorzug, ihre Schläge nur auf dem Teppich zu erhalten. In einer solchen
Ansiedlung der elrodrui spuckt», (niedern Adels), von der das polnische Sprich¬
wort sagt: wenn sich der Hund mitten auf das Gut des Szlacbcic setzt, so
reicht sein Schwanz über die Grenze hinaus, nahm Herr Noch v. Bialkowski
seine Wohnung. Einst traf er fremde Hütejungen auf seinem Besitzthum und
züchtigte sie. nicht ahnend, daß es die jungen Herren v. Dqbrowski, seine
Nachbarn seien. Der Vater bot die s^l^lrtl», des Ortes zur Rache auf. Herr
Noch schlief nach seiner Gewohnheit ein bischen nach Mittag, als Herr v. Dh-
drewski mit einem Haufen des beleidigten Adels in seine Schlafkammer dringt,
ein anderer Theil vor der Thür des Hofes sich aufstellt. Mit gezogenem Säbel
und den Worten: „Du bist es. du Räuber, welcher adeliges Blut nicht zu
achten weiß, der jetzt seine Strafe erhalten muß", stürzt der Angreifer herein.
Herr Noch sucht den bekannten, aber tüchtig berauschten Nachbar durch Worte
zu besänftigen, aber vergebens. D-rbrowski haut drauf los, Herr Noch parirt
mit einem Schemel, der aber vor dem wüthend einhackenden Gegner in
Stücken umherfliegt. Jetzt ergreift der Zurückgedrängte seine Flinte und hält
mit dieser die Rasenden in einiger Entfernung. In dem Augenblick stürzt die
junge schwangere Frau von Bicrlkowska ins Zimmer und bittet den Nachbar
sich zu mäßigen. Der stößt die Frau voll Wuth von sich, so daß sie aus
Mund und Nase blutend auf die Erde stürzt; der Liegenden tritt er mit einem
Fuß auf den Leib. Empört durch die Beschimpfung seiner Frau schießt nun
Herr Roch den Dqbrowsl'i nieder. Die Andern fliehen; der Befreite verfolgt
sie schießend und verwundet Etliche von ihnen.
Es war nicht zu fürchten, daß die Justiz der Republik nach solchen Dingen
fragen werde, aber die Rache der Adligen zu bedenken. Deswegen bringt Noch
seine Frau zu einem befreundeten Nachbar, wo sie bald darauf stirbt. Er
selbst flüchtet nach Keto. wird unterwegs von dreißig Bewaffneten überfallen,
entkommt diesen und findet in der Kirche des Bernhardinerilosters Schul).
Letztere wird von der Rotte drei Tage lang belagert, worauf die Belagerer um¬
kehren, weil die Ernte nahet und die adeligen Herren ihre eigenen Knechte waren.
Einer von ihnen setzte sich ruhig in den Besitz des vormalig Bialtowstischen
Gutes.
Der Gcflücbtetc aber ging zu dem reichen Herrn v. Garczynski im Posen-
schen; er hatte nichts als seine vier Hunde gerettet. Mit selbigen wollte er
am Geburtstage seines Gönners einen Eber fällen, um sich dankbar zu erweisen.
Er hatte die Thiere bereits vom Stricke losgemacht, als er einen alten Bettler
erblickte. Herr Roch rief demselben zu, er solle sich auf einen Baum retten.
Der Greis hatte sich aber wohl mit der Turnkunst nicht so eingehend beschäf¬
tigt, wie unsere Landboten. Er zog es vor, sich niederzusetzen und durch seine
umgekehrt in den Mund genommene Mütze die Hunde von sich zu schrecken.
Diese warfen sich jedoch über ihn, und in wenigen Minuten war er zerrissen.
Herr Noch seufzte tief auf, bat den Himmel wegen dieses unverschuldeten
Mordes um Entschuldigung, brachte mit vieler Mühe die Hunde von dem
Leichnam weg. setzte seine Jagd fort und erfreute seinen Wohlthäter durch den
lebendig eingefangenen Eber. Von dem Bettler war keine Rede mehr.
Ueberfälle, wie sie Noch provocirt hatte, geschahen auch ohne besondere Ver¬
anlassung, bald aus purem Muthwillen, bald aus Naubsucht. Am heilen Mit-
tag klebte ein Szlachcic dem andern einen Zettel ans Fenster und kehrte so
eilend um, daß er nicht erhascht werden konnte. Der Zettel enthielt die Worte:
„Wir befehlen hiermit Janusch Hochwohlgeboren unter der alten Eiche am
Kreuzwege eine Schatulle mit 24.000 Gulden niederzulegen. widrigenfalls möge
er, wo er sich auch befinden mag. gewiß sein der Rache seiner adligen
Brüder" (lzraeig, x-I-relrta), Die Edelleute hatten aus zweierlei Ursache ihr
Manifest mit zweiunddrußig Kreuzen unterzeichnet. Die Drohung ward durch
wiederholte Ueberfälle ausgeführt, und beiz einem derselben rissen die adeligen
Räuber dem alten Janusch Svkolnicki Stiefeln und Strümpfe von den Füßen
und brannten ihn mit einem glühend gemachten Bratspieß. Das Fleisch zischte.
Janusch seufzte schwach auf und siel in Ohnmacht. Die brüderliche Correspon-
denz sowie die Raubanfälle wurden fortgesetzt, bis die Söhne des alten Jcinusch
in dem unterdeß preußisch gewordenen Lande Soldaten zu Hülfe nahmen.
Casimir Wojcicki verbürgt sich für die Wahrheit der Geschichte und ist selbst im
Besitze eines der verschiedenen Drohzcttel").
So standen die Dinge, als die drei umliegenden Länder an Friedrich,
Maria Theresia und Katharina die tüchtigsten, die Polen an Stanislaus Po-
niatowski den schwächlichsten Regenten hatten. Mit geschickter Hand wußte
Katharina die Angelegenheiten des Nachbarlandes zu verwirren, die Adelspar-
teicn wider einander zu Hetzen und zuletzt die beiden andern Mächte vor die
Wahl zu stellen, entweder müssige Zuschauer der russischen Gebietserweiterung
zu sein oder an der Beute Theil zu nehmen. So kam es 1772—73 zur ersten
Theilung Polens. Im Interesse der Sicherheit ihres eigenen Reiches rissen die
paciscirenden Mächte 392S ^M. Polnischer Erbe an sich. Nußland nahm
2000 !^M. zwischen Dura und Dniepr, Oestreich 1400 flM. Rothreußen.
sowie Theile von Podolien und von den Woywodschaften Sandomir und Krakau.
Preußens 630 l^M. mit 400,000 Einw. (61S Einw. auf der UM.) bestanden
aus dem Fürstbisthum Ennelcmd, Polnisch-Preußen, den Woywodschaften
Kulm, Pommerellen und Marienburg außer Thorn und Danzig und dem nörd¬
lich der Netze liegenden Theil der Woywodschaften Posen, Gnesen, Inowraclaw
(Nctzedistrict).
Nach öl-. Metzig lautet das Bekenntniß unserer evangelischen Geistlichen:
„Im Anfange schuf Gott den preußischen Staat." Sie können ge¬
trost weiter lesen: „und Polen war wüste und leer." Ein amtlicher
Bericht aus dem Jahre 1773, welcher sich bei den Acten der bromberger Re¬
gierung findet, sagt u. A.:
„Die Viehraccn waren schlecht und entartet, die Ackergeräthe im hohen
Grade unvollkommen und außer der Pflugschaar ohne alles Eisen; die Aecker
waren ausgesogen, voller Unkraut und Steine, die Wiesen versumpft, die
Wälder, nur um das Holz zu verkaufen, unordentlich ausgehauen und gelichtet,
das Land wüst und leer! Die alten festen Städte, sogenannte Schlösser, lagen
in Schutt und Trümmern, ebenso die meisten kleinen Städte und Dörfer.
Die meisten der vorhandenen Wohnungen schienen größtentheils kaum geeignet
menschlichen Wesen zum Aufenthalt zu dienen. Die roheste Kunst, der ungebil¬
detste Geschmack, die ärmlichsten Mittel hatten aus Lehm und Stroh Hütten
zusammengestellt. Durch unaufhörliche Kriege und Fehden der vergangenen
Jahrhunderte, durch Feuersbrünste und Seuchen, durch die mangelhafteste Ver- ^
waltung war das Land entvölkert und entsittlicht. Die Justizpflege lag ebenso
im Argen, wie die Verwaltung. Der Bauernstand war ganz verkommen, ein
Bürgerstand existirte gar nicht. Der Netzdistrict war ganz entvölkert, so daß
z. B. die Stadt Bromberg kaum 800 Einw. besaß (am 3. December 1861
21.21S Einw.), Wald und Sumpf nahmen die Stätten ein, wo vordem — nach
den noch jetzt vorhandenen altgermanischen Begräbnißplätzen zu urtheilen —
eine zahlreiche Bevölkerung Platz gefunden hatte."
Der König Friedrich der Zweite selbst sagt:
„Die Städte waren im erbärmlichsten Zustande. Kulm hatte gute Mauern,
große Kirchen; aber statt der Straßen sah man nur die Höhlen der Häuser,
die ehedem existirt hatten, vierzig Häuser bildeten den Markt, davon achtund¬
zwanzig ohne Thüren, Dach und Fenster, herrenlos. Bromberg war in dem¬
selben Zustand. Der Untergang dieser Städte rührte von der Pest 1709 her;
aber die Polen hatten keine Borstellung, daß man herstellen könne, was das
Unglück verwüstet. Man wird es kaum glauben, daß in diesen trostlosen Ge¬
genden ein Schneider ein selten Ding war; man mußte ihrer in den Städten
etabliren, ebenso Apotheker, Stellmacher, Tischler, Maurer."
Was man immer von dem Antheil des großen Königs an der Theilung
Polens denke, dem erworbenen Lande ward er ein Bater, und wenn ein Denkmal in
der Welt verdient ist, so das Friedrich des Zweiten, welches wir am 31. Mai
1802 zu Bromberg unter den Auspicien unseres Kronprinzen enthüllt haben,
Mit jugendlicher Frische, mit Begeisterung griff der alle Herr das Werk an;
er wollte „ein Lykurg und Solon dieser Barbaren" werden. Und er ward es.
Handelsstraßen, ein großer Kanal. Posten, öffentliche Gebäude, Kolonisation,
Herstellung der Justizpflege und damit Einsetzung des Menschen ni sein Recht.
Sie waren ein wenig verwundert, die Herren vom Adel, als einer der Ihrigen
wegen der Ermordung eines Bauern zum Tode verurtheilt ward und jede Be¬
mühung, die Strafe in eine Geldstrafe zu verwandeln scheiterte.
Unterdeß war auch Polen nicht müssig. Es geschah viel sür die Reform
und innere Kräftigung des Landes, und am 3. Mai 1791 wurde die berühmte
Constitution proclamirt. welche das Schicksal mit der ihr sonst nicht verwand¬
ten tlopstockschen Messiade theilt, von Jedermann bewundert, von den Wenig¬
sten gelesen zu werden. Das Veto und die Wählbarkeit des Königs waren
gefallen, aber zu einer Freigebung der Bauern, ja auch nur einer wirklichen Er'
leichterung ihrer Lage hatte man sich nicht entschlossen. Ehe die Konstitution
ins Leben trat, was nie geschah und nie beabsichtigt war*), bildete sich auf
russisches Anstiften unter Anführung von Felix Potocki und Xaver Branicki
am 14. Mai 1792 die berüchtigte Konföderation von Targowitz zum Umsturz
derselben. Von Neuem Bürgerkrieg und russische Drohungen. Preußen erbot
sich für die Abtretung von Thorn und Danzig zur Hülfe. Dieser Antrag ward
abgewiesen. Der Kampf begann, und da derselbe die preußische Action im
Westen lähmte, Friedrich Wilhelm der Zweite kein Interesse hatte, sein Land
für die Polen ohne jeden Gewinn den Chancen eines Krieges auszusehen, so
ging er zu den Feinden über. Da endlich die polnischen Helden, durch die
fortwährenden innern Streitigkeiten ihrer Magnaten gelähmt, nicht einmal an
ihrem König einen Rückhalt und keine regelmäßigen Heere zu ihrer Verfügung
hatten, so war der Koalition leichtes Spiel gegeben. Am 22. Juli, resp.
14. October 1793 erfolgte die zweite Theilung. Polen ward auf 4007 Q. M.,
seine Armee auf 15,000 Mann beschränkt. Preußen erhielt Danzig, Thorn
und was ihm von Groß-Polen noch fehlte bis an die Weichsel und Pilica.
Nun brach der große Polcnaufstand aus. in dem Kosciuszko seine ruhmwür¬
digen Schlachten schlug, und welchem die französische Republik ihre Unterstützung
zusagte. Aber das Volk war nicht zu begeistern. Es sah entweder in dem
Adel seinen offenen Feind, durch dessen Sünden das Land ins Unglück gekom¬
men, und höhnte ihn durch das Liedchen:
'?anowie! ?ano>vis! — Ihr Herren! Ihr Herren!
(Un6ele mieli n gtovis, Was hattet Ihr im Kopfe,
^coelo lig,8 üclracliiili — Daß Ihr uns Verriethet
I lcraj s^vöj üZudili — Und unser Land verspieltet,
oder es nahm keinen Antheil an der Sache, da es ihm gleich sein konnte,
wem es leibeigen war. Als Kosciuszko den Bauern Freiheiten geben wollte,
drohte der Adel mit Abfall, und der Dictator wagte den Schritt nicht, mit
dem er allein siegen konnte. Nun noch schlechte Führer und Rathgeber, die
Schimpflichste Empfänglichkeit für russisches Geld und zum Theil damit zusam¬
menhängend der ewige innere Streit. „War denn je bei uns in der Re¬
publik Einigkeit?" klagt Wybicki. Er könnte hinzusetzen: „Und hatten die
Franzosen, diese Abgötter der Polen, für sie je etwas Anderes als Worte?"
Im Widerspruch mit allen Betheuerungen zeigte sich die französische Republik
Ende 1794 zu dem Separatfrieden geneigt, den sie dann im April 179S zu
Basel abschloß, ohne Polens zu gedenken. Daraufhin durften es dessen Feinde
schon im Januar 1795 ungestraft wagen, die dritte Theilung zu proclamiren,
und am 25. November unterzeichnete Stanislaus August zu Grodno die Ent¬
sagungsurkunde, Rußland nahm das Land bis an den Riemen und Bug,
2381 Quadratmeilen, Oestreich die 843 Quadratmeilen zwischen Pilica und
Bug, Preußen die übrigen 697 Quadratmeilen mit Warschau.
Es war ein furchtbares Trauerspiel, und die Lehre, weiche alle Völker aus
Polens Geschichte nehmen können, war theuer erkauft. Mit Wehmuth stehen
wir vor der Riesenleiche und schreiben ihr die Grabschrift:
Du bezwangst Dich, nicht des Russen,
Nicht des Austricrs Schwert, nicht des Preußen,
An Deiner Zwietracht bist Du verblutet.
Von Neuem kann ich den Ernst rühmen, mit dem die preußische Regie¬
rung ihre Schuldigkeit gegen ihre polnischen Unterthanen erfüllte, und an die
Reise Friedrich Wilhelm des Dritten durch die eroberten Provinzen sowie an
seine berühmte Cabinetsordre vom 10. Juli 1798 erinnern.
--- „Diese Gesetzlosigkeit und diese Willkür sind aufgehoben und ist
an deren Stelle die der preußischen Verfassung eigenthümliche Gleichheit vor
dem Gesetz getreten; der geringste Unterthan hat vor Mir und vor
dem Gesetze den Werth der Menschheit; er hat die Pflicht der Treue
und des Gehorsams gegen seinen Landesherr» und gegen seine Obrigkeit, und
wenn er diese beobachtet, so hat er „gleich dem Vornehmsten ein heiliges Recht
auf Schutz und Sicherheit seiner Person und seines Eigenthums."
Friedrich Wilhelm hatte keinen Dank von seinen neuen Unterthanen. Sie
fielen 1806 von ihm ab und Napoleon zu, demselben Napoleon, der, wie sein
Minister 1812 offen schrieb, keine Thorheiten im Kopfe hatte und sich der
Polen stets nur als Mittel bediente, sie nie als Hauptsache ansah. Der Kaiser
beraubte Preußen und errichtete das Herzogthum Warschau. (Unsre Eltern
haben uns viel von dem Heere brodlos gewordener sütpreußischer Beamten
erzählt, die damals die alten Provinzen überflutheten und zu geringer Freude
derselben in alle frei gewordenen Posten eingeschoben wurden.) Napoleon
durchzog das neue Herzogthum, und so glühend er die Preußen haßte, ward
er dennoch zu dem Geständniß genöthigt, daß ja hier alles Gute, Ordentliche,
Borschreitende diesen zu verdanken sei. Er gab dem von ihm restituirten Stück¬
chen Polen einen Herrscher, über dessen Unfähigkeit er offen zu Wybicki sprach
(vgl. dessen von Naczynski edule Memoiren). Es folgten acht Jahre, wo Auf¬
stand, Krieg, viermaliger Durchmarsch napoleonischer Heere die Arbeit der letzten
Jahrzehnte verdarben. Verarmt, ohne Handel, ohne Gewerbe, ohne Industrie,
ohne geregelte Ackerwirthschaft, ohne Cultur, kurz in materieller, wie in geisti-
ger Hinsicht tief gesunken, kehrte das freie Land 1815 unter die verhaßte preu-
ßische Herrschaft zurück.
Das Thema, auf welches wir die Aufmerksamkeit des Lesers dieser Blätter
lenken möchten, hat nur eine praktische, keine theoretische Bedeutung. Die Ge¬
schichte selbst, in der jedes Ereignis; mit dem vorhergehenden und folgenden in
ursächlichen Zusammenhange steht, macht keinen Abschnitt; nur Zeiten großer
Umwälzungen und Zeiten stetiger Entwickelung lassen sich unterscheiden. Darauf
also muß es ankommen, zwischen diesen beiden die richtigen Marksteine zu
finden. Eine Periodenabtheilung, die allen Gesichtspunkten gleichmäßig gerecht
würde, kann es aus Gründen, die in der Sache selbst liegen, kaum geben,
und ich möchte daher auf eine richtige Periodenabthcilung nicht so großen
Werth legen, als es wohl manchmal geschieht; andrerseits aber ist der Schade,
den eine entschieden falsche stiften kann, nicht gering anzuschlagen. Als war¬
nendes Beispiel führe ich die in unseren Handbüchern übliche Datirung des
römischen Kaiserreichs von der Schlacht bei Aelina statt von der bei Pharsalus
an, die den Thatsachen ebensosehr wie der Ausfassung urtheilssähiger Ge¬
währsmänner des Alterthums widerspricht. Ihr allein verdankt man die falsche
Beurtheilung des Horaz, von dessen Gedichten viele — und nicht die schlechte¬
sten — vor das Jahr 31 fallen, und der sich's nun bei seiner der Monarchie
günstigen Weltanschauung oft genug hat gefallen lassen müssen als höfischer
Schmeichler zu gelten. Der denkende Primaner verwindet allmälig diese Vor¬
urtheile; bei wie Vielen aber bleiben nicht solche Jugendeindrücke?
Man hat sich dahin geeinigt, die Grenze zwischen mittlerer und neuerer
Geschichte in die Mitte des Jahrtausends zu setzen, in welchem wir leben. Die
kleine Schwankung, ob 1492, ob 1517, trägt nichts aus. Die Grenze ist
darum so glücklich gewählt, weil die beiden in diese Jahre fallenden Ereignisse
zugleich die letzten Glieder einer Kette von Thaten sind, die seit dem vierzehnten
Jahrhundert auf geistigem und staatlichem Gebiete den Untergang des Alten und
das Werdx.l des Neuen eingeleitet hatten, zugleich aber auch die Genesis zweier
Mächte bezeichnen, die unmittelbar nach ihrer Entstehung in Kampf mit ein¬
ander gerathen sollten, und deren Kampf für die neue Geschichte zum eigentlich
bestimmenden geworden ist, ja in veränderter Gestalt in die Gegenwart hinein¬
ragt und seines Abschlusses noch harrt. Die Entdeckung Amerikas begründet
die spanische, mittelbar die habsburgische Weltmacht; die Reformation aber eröff¬
net die von Norddeutschland ausgehende Regeneration des germanischen Wesens.
Das Zweckmäßige jener Abtheilung ist denn auch verdienter Maßen all-
gemein anerkannt worden. Der beste Prüfstein für sie ist die Betrachtung unter
einem Gesichtspunkte, die denen, welche sie zuerst gemacht haben, ohne Zweifel
fern gelegen hat. Der Orient, dessen Geschicke in unseren Handbüchern nach
der Mongvlenzeit im Wesentlichen ganz bei Seite gelassen zu werden Pflegen,
hat um dieselbe Zeit die politische Gestaltung erhalten, welche in ihren Grund¬
zügen bis in die Gegenwart geblieben ist. 1517 siel Aegypten in die Hände
der Osmanen, deren Machtstellung am Mittelmeer durch diese Eroberung ihren
Abschluß erhielt. Fast gleichzeitig gelangten damals an zwei von einander weit
entlegenen Punkten die Nachkommen Alis, deren Ansprüche vom Beginn des
Chalifats an die mohammedanische Welt in Athem erhalten hatten, zur ersehnten
Herrschaft, in Marokko 1519, in Persien 1500. Während so das revolutionärste
Element des Islam in gesetzliche Bahnen übergeleitet wurde, erweiterte sich
zugleich bei der nationalen Unterlage, welche das Alidenthum in Persien hatte,
durch dessen politische Consolidirung der Riß zwischen Schiiten und Sunniten
zur unausfüllbaren Kluft: der Hauptanstoß für den künftigen Untergang der
islamischen Welt war damit gegeben. Die letzte Welle der großen türkisch¬
mongolischen Völkerwanderung, die mit dem Hunneneinbruch begonnen hatte
und Stoß auf Stoß das ganze Mittelalter hindurch fortgegangen war, über¬
schwemmte damals die Tartarei; die Invasion derselben durch die Usbeken nöthigte
den mongolischen Adel und seinen König Baber zur Auswanderung, und veran¬
laßte so die Stiftung des Großmogulreichs in Indien (1526). Es war auch ein
Zeichen der Zeit, daß im Laufe weniger Jahre die beiden großen Militäraristo¬
kratien der Mameluken in Kahira und der Patanen in Delhi ein jähes Ende
nahmen und solideren politischen Gebilden Platz machten. In allen großen
moslemischen Reichen mit Ausnahme des osmanischen waren dem Eintritt der
neuen Zeit Perioden der ärgsten Zerrüttung vorausgegangen, welche das Aus¬
einanderfallen aller größeren Staatsorganismen in einen Komplex von Klein¬
staaten ohne nationale Bedeutung zu besiegeln schienen: für Marokko, Persien
und Indien sind die Dynastien, welche zu Anfang des sechzehnten Jahrhun-
derts zur Herrschaft gelangten, zugleich die Gründer des modernen Staates
geworden. Das neue Staatensystem, welches von jener Zeit datirt, hat dem
Oriente im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert eine schöne Abendröthe
gebracht, und Namen wie Soliman, Ismail und Schah Abbas, Baber und
Akbar haben eine über die Grenzen des Islam hinausreichende universelle Be¬
deutung erlangt.
Das Mittelalter ist nichts als die Vorhalle der neuen Geschichte, wie sich
schon daraus entnehmen läßt, daß der in staatlicher Beziehung so angemessene
Abschnitt zwischen beiden für die Literatur so gut wie gar keine Bedeutung hat.
Einen ganz anderen tieferen Sinn hat die Scheidung zwischen dem Alter,
thun und der mit dem Mittelalter beginnenden Neuzeit. Man
Wollte ein Geschichtschreiber der Zukunft mit der Entfernung des Königs
Otto von Griechenland einen Hauptabschnitt in der Geschichte Europas machen,
hö würde seine Berechtigung dazu sich schwer bestreiten lassen, wenn er
auf den uns beschäftigenden Präcedcnzfall, die angeblich so wichtige Apana-
girung des Romulus Augustulus, hinwiese. Das eine wie das andere Er¬
eignis) ist an der Mitwelt spurlos vorübergegangen, und es fragt sich, ob die
Nachwelt zu einer entgegengesetzten Auffassung berechtigt ist. Es ist nicht
einmal wahr, daß Romulus der letzte abendländische Kaiser gewesen ist. Ju¬
lius Nepos war es, der, von Konstantinopel aus anerkannt, nach der Ab¬
setzung des Romulus wieder den Purpur nahm und auf der östlichen Seite des
adriotischen Meeres noch bis 480 regierte. Diese kleine Ungenauigkeit möchte
indeß noch hingehen. Wenn man das Ende des weströmischen Reichs bestimmen
will, kann man sich doch nur entweder auf den Standpunkt der thatsächlichen
Zustände oder auf den des formellen Staatsrechts stellen; einen dritten Stand¬
punkt gibt es nicht. Thatsächlich war es mit dem abendländischen Kaiserthume
schon im Jahre 4SS zu Ende, in welchem Valentinian der Dritte ermordet
und Rom von den Wandalen geplündert ward. Von da an siel die Macht in
Italien den Häuptlingen der deutschen Söldncrschaaren zu, die sie freilich im
Namen der obscurer Nachfolger Valentinians ausübten, ohne jedoch durch ci-
was Anderes als die mehr als einmal mit Erfolg geltend gemachten Suze-
ränitätsrcchte des oströmischen Kaisers eingeengt zu sein. Dalmatien und Gal¬
lien, die letzten noch übrigen Provinzen, standen seit etwa 461 vollkommen
unabhängig von Ravenna da. In diese Zeit also das factische Ende des rö¬
mischen Reichs im Abendlands zu setzen, wie schon der verständige Zosimus
(1. 57) gethan zu haben scheint, ist das einzig sachgemäße. staatsrechtlich
betrachtet aber dauerte das römische Reich im Abendlande auch nach 476 noch
fort. Wie kommt es doch, daß Niemand zu sagen im Stande ist. welcher
deutsche Stamm eigentlich dem Römerreiche ein Ende gemacht hat? Wir wissen
jetzt freilich durch die Auszüge des Joannes von Antiochien bestimmt, was vor¬
der nur wahrscheinliche Combination war. daß das Volk, dessen Häuptling
Odoaker war, die Skiren gewesen sind, und können mir Fug vermuthen, daß
der sonst nicht wieder vorkommende Name der Turcilinger keinen Stamm,
sondern das Geschlecht bezeichnete, aus welchem die Skiren ihre Könige nah¬
men — warum aber fühlt jeder, daß es dennoch eine Lächerlichkeit wäre, die
Skiren die Zertrümmercr des Römerreichs zu nennen? Gewiß darum, weil im
Jahre 476 nicht ein deutscher Bolkskönig ein deutsches Reich an die Stelle
eines römischen setzte, sondern der Häuptling einer jedes bestimmten nationalen
Gepräges entbehrenden Söldnerschaar einen Rivalen verdrängte und. was
schon dreimal dagewesen war, den Kaiserthron unbesetzt zu lassen für gut fand.
Odoaker. der nicht als .König der Skiren, sondern als Waffcngcfährte Ricimers
zu Macht und Ansehen gelangt war, unterscheidet sich durch nichts in seiner
Stellung von Ricimer. der erst ein, dann zwei Jahre ohne Kaiser regiert hatte,
durch nichts von Gundobald, der den Königstitel geführt hatte, so gut wie
Odoaker. Glieder des römischen Reichs waren alle drei in gleicher Weise,
nicht blos formell, sondern aller Wahrscheinlichkeit zufolge auch nach ihrer eig¬
nen Auffassung. Der Neichszusammcnhang und die Oberhoheit des ost-
römischen Kaisers wurde nach 476 ebenso anerkannt wie vorher und kann in
keiner Weise als etwas rein Illusorisches angesehen werden.
Die Theilung des Reichs unter die Sohne des Theodosius war eine rein
administrative Maßregel, sie sollte die Einheit des Ganzen weder aufheben, noch
hat sie dieselbe wirklich aufgehoben. So lange Arcadius lebte, nahm er als
älterer Bruder die erste Stelle ein, dann Honorius, da Theodosius der Zweite
ein Kind war. Nach Honorius Tode ward Valentinian der Dritte von Kon¬
stantinopel aus mit Waffengewalt eingesetzt, erkannte die Oberhoheit des dor¬
tigen Kaisers an, und seitdem galt das abendländische Reich nicht blos in der
diplomatischen Etikette als das geringere (der oströmische Kaiser, der in Kon¬
stantinopel antretende Consul wurden stets an erster Stelle genannt), sondern
war auch thatsächlich mehr oder weniger abhängig von Ostrom. Der in
Ravenna erwählte Kaiser mußte von Konstantinopel aus bestätigt werden und
wenn die Anerkennung nicht nachgesucht war, galt der Erwählte als h-rkm-
nus (Usurpator). Fünfmal hat der oströmische Kaiser den abendländischen er¬
nannt, in zwei Fällen mit Waffengewalt eingesetzt. Die Abhängigkeit Italiens
Von Konstantinopel ist im Princip auch nach 476 stets anerkannt worden,
nur trat, da der abendländische Kaiserthron erledigt war, an die Stelle der
Ernennung des Kaisers die Anerkennung als ^dz*) oder die Verleihung des
Patriciats.
Als Theoderich Italien eroberte, trat wenigstens insofern eine wesentliche
Aenderung ein, als nunmehr nicht eine neue deutsche Söldnerschaar, sondern
um wirkliches Volt zur Herrschaft über Italien gelangte. Der Rechtstitel, auf
den Theoderich sich stützte, blieb seine Ernennung durch Zeno. Allein von einer
Durchdringung Italiens mit deutschen Elementen, von einer Einrichtung des
neuen Staats auf deutschen Grundlagen ist bei den Ostgothen keine Rede, die
unier allen germanischen Völkern den größten Respect vor der in^'sstg.« imperii
Uomsui gehabt haben. Theoderich und Athalarich haben sich durchaus nur
als deutsche Regenten eines integrirenden Theils des römischen Reichs betrachtet,
und daß ihren Nachfolgern von Konstantinopel aus die Anerkennung versagt
wurde, hat ihr Ansehen nicht blos bei ihren römischen, sondern auch bei ihren
gothischen Unterthanen augenscheinlich untergraben. Nur hieraus erklärt sich
der eingefleischt römische Standpunkt der Geschichtswerke des Cassiodor, der,
wenn auch Römer, doch Minister des Theoderich, und des Jordanes, der, wenn
auch Geistlicher, doch ein halber Göthe war. Die Unternehmungen Justinians
gegen Wandalen und Gothen sind eine bloße Fortsetzung der früheren von
Theodosius dem Zweiten und Leo dem Ersten zur Geltendmachung ihrer ober¬
herrlicher Rechte ins Abendland unternommenen Züge, nur ungleich erfolgreicher;
die überraschende Schnelligkeit und die noch überraschendere Dauerhaftigkeit der Kr»
folge.Justinians erklärt sich eben allein daraus, daß an den politischen Verhältnissen
des Abendlandes inzwischen nichts Wesentliches geändert worden war. Man bedenke
nur, daß die letzten, immer noch nicht ganz unbedeutenden Neste der justinianischen
Eroberungen erst im elften Jahrhundert den Normannen zur Beute gefallen sind, und
daß diese lange Dauer der oströmischen Herrschaft einen sehr wesentlichen Einfluß
auf den Charakter der Bevölkerung von Unteritalien und Sicilien ausgeübt
hat. Wenn irgend etwas, so beweist dies, daß der Eintritt der Herrschafte»
Odoakers und der Ostgothen, die aus nationalen Wurzeln keine Lebenskraft
gesogen hatten und für Italien spurlos vorübergingen, in keiner Weise einen
Abschnitt zu bilden geeignet ist. Einen solchen begründet erst der Einfall der
Langobarden S68 oder vielmehr die ihre Eroberungen in Italien auf lange Zeit
abschließende Einnahme ihrer künftigen Hauptstadt Pavia 572.
Erst die Langobarden haben mit der römischen Vergangenheit gebrochen.
Wie kein anderes ist dieses deutsche Volk seinen germanischen Erinnerungen
treu geblieben, bei keinem ist das Christenthum weniger tief eingedrungen, als
bei den Langobarden; es ist daher kein Wunder, daß nichts ihnen so fern lag,
als sich nach Art der Ostgothen vor dem alten Zauber des römischen Namens
zu beugen. Keine Rede mehr von einer Anerkennung der byzantinischen Ober¬
hoheit: schon Agilulf nennt sich i-ox totius IW1is.e. Erst die Langobarden
haben einen germanischen Staat in Italien gegründet. Die wichtigste aller
germanischen Institutionen, das Lchnwesen, finden wir gleich anfangs bei ihnen
schon sehr entwickelt, und wenige Jahre nach der Besitznahme Italiens hören
wir von dreißig Herzögen, die in den einzelnen Städten unter dem Könige ge¬
bieten. Den weltgeschichtlichen Beruf, die unterworfenen Romanen durch ger¬
manische Neubildungselemente zu befruchten und zu selbständigen Nationen zu
erziehen, der in Spanien den Westgothen, in Gallien den Franken zugefallen
war, diesen Beruf, dem die frommen und loyalen Ostgothen nicht gewachsen
gewesen waren, haben in Italien die heidnischgesinnten und illoyalen Langobarden
unter ungünstigen Verhältnissen in nur 200 Jahren in der glücklichsten Weise erfüllt.
Wir haben die Frage nach der Grenze zwischen alter und mittlerer Ge°
schichte bisher wesentlich unter dem römischen Gesichtspunkte erörtert; betrach¬
ten wir sie vom germanischen aus, so erscheint das übliche Jahr 476 noch
unglücklicher gewählt. Es ist allgemein anerkannt, daß die germanische Völker¬
wanderung das weltgeschichtliche Ereignis, ist, welches scharf genug den Ueber¬
gang aus der von den Römern vertretenen alten Zeit 'in die neue bezeichnet,
deren Träger in Europa die Germanen sind. Man sollte also billigerweise zur
Grenze entweder den Ausgangspunkt, oder den Endpunkt, oder ein Ereigniß aus
der Mitte derselben nehmen, das an Folgenschwere alle übrigen weit überragt. Bei
dem Jahre 37S ist es nicht nöthig länger zu verweilen, da es sich noch Niemandem
als Grenzjahr empfohlen hat und auch schwerlich empfehlen wird. Eine Thatsache,
die den Anforderungen der dritten Kategorie entspräche, ist noch nicht ausfindig
gemacht worden, aus dem einfachen Grunde, weil es keine gibt. Die Absetzung
des Romulus Augustulus, weit entfernt, eine solche zu sein, steht mit der großen
Völkerwanderung weder an sich noch in ihren Ursachen in einem andern als
einem sehr mittelbaren Zusammenhange. Die letzte Welle der germanischen
Völkerwanderung ist der Zug der Langobarden nach Italien. Darin besteht
seine große Bedeutung auch für die deutsche Welt und noch über diese hinaus.
Mit dem Wegzuge der Langobarden nimmt die Wanderung türkischer Völker,
die gleichzeitig mit der deutschen begonnen hatte und stoßweise das ganze
Mittelalter hindurch fortdauerte, ihren ungehemmten Fortgang gegen Westen.
Die Avaren und ihre Erben ergreifen von nun an dauernd Besitz von den
Ebenen Ungarns und Osteuropas, und gleichzeitig fangen auch die Slaven an,
sich aus dem Dunkel hervorzustehlen. Es läßt sich also nicht leicht ein Ereignis?
finden, welches für die Geschicke des Abendlandes epochemachender gewesen
Wäre, als die Eroberung Italiens durch die Langobarden. In dieser Hinsicht
hat sie schon Schlosser als zweckmäßigste Grenze zwischen Alterthum und
Mittelalter warm empfohlen, selbstverständlich ohne dem Schlendrian der Hand¬
bücher gegenüber damit das Geringste auszurichten.
Das einzige germanische Volk, bei dem eine wichtige politische Verände¬
rung ungefähr in dieselbe Zeit fällt wie das Ende des ravennatischen Kaiser¬
hauses, sind die Franken. Die große Bedeutung dieses Volkes für die eigentlich
deutsche Geschichte kann allein das zähe Festhalten an dem sonst so unpassenden
Endjahre 476 entschuldigen; dann sollte man aber ehrlich sein und es geradezu
durch das Jahr 486 ersetzen, an welches sich Chlodwigs Sieg über Syagrius
und die Erhebung der Franken zum herrschenden Volke in Gallien knüpfen.
Eine in ganz andrer Weise universelle Bedeutung darf die Zeit für sich in
Anspruch nehmen, der die Invasion Italiens durch die Langobarden angehört.
Sie fällt zusammen mit dem Verschwinden der letzten noch übrigen germanischen
Kleinstaaten und bezeichnet ziemlich correct die Entstehung des westeuropäischen
Völkervereins, wie er sich bis in das achte Jahrhundert und mit Verhältniß-
mäßig geringen Veränderungen bis in die Neuzeit hinein erhalten hat. Im
Laufe des zweiten Drittels des sechsten Jahrhunderts waren nach einander
Thüringer, Burgunder, Vandalen, Ostgothen, Gepiden aus der Reihe der
selbständigen Völker gestrichen worden. 685 kam die Reihe an die Sueven:
durch ihre Unterwerfung und die im Anfange des nächsten Jahrhunderts all¬
mählich erfolgte Besetzung des von den Römern in Spanien wiedergewonnenen
Landes wurde die ganze pyrenäische Halbinsel in der Hand der Westgothen
vereinigt. In Britannien entschied sich um dieselbe Zeit der anderthalbhundert¬
jährige Kampf zwischen Britten und Sachsen mit der völligen Niederlage der
Ersteren und ihrer Beschränkung auf Cornwall, Wales und Cumberland; die
Jahre 585 und 587 sahen die Gründung der Reiche Mercia und Ostsachsen,
und damit den Abschluß der sogenannten angelsächsischen Heptarchie. Auch für
das Frankenreich ist diese Zeit ein Wendepunkt, wenn auch ir andrer Weise:
die lange Regierung Chiothars des Zweiten ist bemerkenswerth durch die letzte
selbständige Kraftäußerung des merovingischen Königthums, die Wiedervereini¬
gung von Austrasien mit Neustrien 613; dieses selbe Austrasien aber muß
der König schon 622 wieder an das Kind Dagobert überlassen, in dessen Namen
Pipin und Arnulf, die Stammväter des karolingischen Hauses, die Regierung
führen. Damit war die Machtfrage zwischen König und Majordomus im Prin¬
cip bereits entschieden.
Mit allen diesen bedeutsamen Veränderungen auf dem Gebiete des Staates
treffen nicht minder folgenreiche auf dem Gebiete der Kirche zusammen. Dieselbe
Wichtigkeit, welche in politischer Beziehung die Ausbreitung der Germanen
über das römische Reich hat, gebührt auf geistigem Gebiete der Entwickelung der
päpstlichen Macht. Der aber, welcher das Papstthum zuerst in weltgeschichtliche
Bahnen gelenkt hat, ist unbestritten Gregor der Große (590—604). Die¬
selbe Zeit besiegelte den Triumph des Katholicismus über den Arianismus
im Abendlande durch die Bekehrung der Westgothen (687) und Langobarden
(von 603 an). Endlich wurde damals die letzte der mit der Völkerwanderung
auf den Schauplatz getretenen deutschen Nationen, die noch heidnisch war, die
Angelsachsen, zum Christenthum bekehrt (596), und damit trat auch England
in die Reihe der Culturstaaten ein. Wir behaupten nach alledem zuversichtlich,
daß der Jahrhunderte lang vorbereitete Uebergang aus dem Alterthum in das
sogenannte Mittelalter sich im Abendlande in entscheidender Weise erst im
letzten Drittel des sechsten Jahrhunderts vollzogen hat.
Um zu zeigen, daß der Abschnitt mit dem Jahre 476 für das Morgenland
nicht blos bedeutungslos, sondern sinnlos ist, wäre jedes Wort zu viel. Der
Uebergang aus der alten in eine neue Zeit hat sich im christlichen Orient mehr
innerlich vollzogen; bei einigem Nachdenken wird man sich sagen, daß er mit
dem Uebergange aus dem Römischen in das Byzantinische zu¬
sammenfallen muß.
Ehe wir diesen Zeitpunkt bezeichnen, möchte ein Wort darüber, was denn
eigentlich Byzantinisch ist. am Platze sein. Byzantinisch beliebt man alles das
zu nennen, was sich von da an ereignet hat, wo Byzanz aufhörte Byzanz zu
heißen. Die landläufige Vorstellung vom byzantinischen Reiche ist die, daß es
ein altersschwacher Staat gewesen sei. gestützt von feilen Beamten und feigen
Soldaten, dem die Nachbarn mit langsamer Stetigkeit eine Provinz nach der
andern entrissen und der doch weder zu leben noch zu sterben vermochte. Beim
Philologen Pflegt sich dieser Anschauungsweise eine gewisse selbstgefällige Dank¬
barkeit gegen die Vorsehung beizumischen, welche die tausendjährige Stagnation
des byzantinischen Reichs eigens deshalb durch eine beispiellose Kette unver-
dienter Glücksfälle vor dem Uebergehen in Fciulniß bewahrt habe, um uns
zur rechten Zeit die Schätze des griechischen Alterthums zu überliefern und zu¬
gleich Schulmeister, um die blondhaariger Barbaren des fernen Westens in den
richtigen Gebrauch der Partikel «>- einzuweihen.
Das naive Kopfzerbrechen, wie ein so gearteter Staat so lange habe be¬
stehen können, erinnert mich immer an die vom Kurfürsten Karl Theodor ge¬
stellte Preisfrage, warum Wasser mit einem Fische nicht mehr wiege als Wasser
ohne einen Fisch. Bekanntlich gingen verschiedene Lösungen ein, bis den Preis¬
bewerbern zu ihrem großen Verdruß eröffnet ward, daß die Voraussetzung
eine fälschlich erfundene sei. Die Nachbarn haben hinreichende Gelegenheit
gehabt, in dem östlichen Römerreich auch in byzantinischer Metamorphose noch
das gräuliche Thier wiederzuerkennen, das eiserne Zähne hatte, um sich fraß
und zermalmte und das Uebrige mit seinen Füßen zertrat*). Das byzantinische
Reich war ein durch Wiedergeburt verjüngter Staat, der mit den Erfahrungen des
Alters die Rührigkeit und Leistungsfähigkeit der Jugend verband. Verwaltung
und Finanzen befanden sich mit seltenen Ausnahmen in guter Ordnung. Im
Kriegswesen ward das überkommene altrömische Schema beibehalten, aber uner¬
müdlich durch zeitgemäße Verbesserungen fortgebildet. Die Erfindung des grie¬
chischen Feuers hat bei weitem nicht so nachhaltig, aber viel unmittelbarer
!n die Kriegführung eingegriffen, als die des Schießpulvers, und noch in den
letzten Zeiten des Reichs sind durch nach türkischem Muster eingerichtete leichte
Reiterschwadronen unverhoffte Erfolge erzielt worden. Für den nöthigen Stoff¬
wechsel im Staate ward durch das liberalste Herbeiziehen auswärtiger Capaci-
täten auf administrativen und militärischem Gebiete gesorgt: man denke an den
Perser Thcophobos, an den Georgier Tornitios, vor Allem an die Schaaren
von armenischen Adligen, die uns jedes Blatt der byzantinischen Geschichte in
den einflußreichsten Stellen zeigt. Das militärische Rohmaterial fand in den
ausgestoßenen Wildsängcn des germanischen Nordens erwünschte Ergänzung.
So kam es, daß die Byzantiner in Bezug auf Kriegskunst ihren Nachbarn
überlegen geblieben sind bis zum Auftreten der Janitscharen. Der Wohl ein¬
gerichtete Staatsmechanismus fand denn auch die geeigneten Spitzen. Es gibt
nicht leicht eine Herrscherreihe, die bei solcher Länge eine solche Menge der aus¬
gesprochensten Talente aufzuweisen im Stande wäre. In den großen Einbußen,
die das Reich beim ersten Anprall der Araber erlitt, hat man einen der wesent¬
lichsten Gründe für seine lange Dauer zu erkennen, indem der Verlust von
Syrien, Aegypten und Afrika das Reich von heterogenen Bestandtheilen befreite
und nur eine compacte, einheitliche Masse von romanisirten Griechen (in
Sicilien und Unteritalien), Nationalgriechen und gräcisirtcn Thraciern und
Kleinasiaten übrigließ. Abgesehen davon hat das byzantinische Reich bis auf
die Angriffe der Normannen im elften Jahrhundert auf die Dauer keine erheb¬
lichen Gebictsschmälcrungen erlitten, wohl aber eine Reihe glänzender und in
der Mehrzahl nachhaltiger Eroberungen gemacht. Das sechste Jahrhundert sah
die Reiche der Wandalen und Ostgothen seinen Anfällen erliegen, das zehnte
Kreta, Cypern und den größten Theil von Syrien sammt der Hauptstadt An-
tiochien, das elfte das bulgarische und das großarmenische Reich. Die Wieder¬
gewinnung Konstantinopels durch Michael Paläologos ist einer der spätesten
und zugleich stärksten Belege für die katzenartige Lebenszähigkeit dieses Reiches.
Bon allen altrömischen Eigenschaften sind zwei den Byzantinern bis zuletzt
geblieben: rastlose Begehrlichkeit und schwächeren Völkern gegenüber gewissen¬
lose Nichtachtung der heiligsten Menschenrechte. Durch diese Eigenschaften haben
die Byzantiner ein beträchtliches Capital soliden Hasses bei den übrigen christ¬
lichen Böllern des Orients angesammelt. Dasselbe mag unter dem gemein¬
samen Drucke der Türkenzeit sehr zusammengeschmolzen sein; kommt aber erst
einmal der classische Nachwuchs der Byzantiner, das verzogene Nesthäkchen der
europäischen Diplomatie, in die Lage, von seiner vielbesungenen Freiheit den
ihm gut dünkenden Gebrauch zu machen, den nämlich, welchen in sinniger
Kürze ein ominöses altgrichisches Sprichwort schildert:
'^kvöä^« /<0()!ii^0!' Z^e^ o»on s^t-z -*)
dann werden wir ja sehen, ob jenes Capital von Nationalhaß wirklich ganz
aufgezehrt ist. — Wenn die Geschichte durch die lange Dauer des byzantini-
sehen Reichs der Nachwelt eine Lehre hat geben wollen, so kann es nur die
sein, daß ein Staat für die höchsten Güter der Menschheit wenig oder gar
nichts wirken und doch die heftigsten Stürme überdauern kann, vorausgesetzt,
daß er nicht aus ungleichartigen, auseinanderstrebenden Bestandtheilen zusam¬
mengesetzt ist und die physischen Machtmittel: Finanzen und Heerwesen, nicht
verkümmern läßt.
Den ersten Grund zu diesem in kulturhistorischer Beziehung mit Recht, in
Polnischer aber unvcrdientcrwcise geringgeschätzten Organismus hat Diocle-
tian gelegt. Konstantin hat dessen Plan modificirt und durch Hineinziehung
der christlichen Kirche erweitert. Die bedeutenderen unter den folgenden Kaisern
haben jeder seinen Theil zum Ausbaue beigesteuert, den Schlußstein aber haben
dem Ganzen erst Justinians Negicrungsmaßrcgcln eingefügt. Der mit Bewußt¬
sein und planmäßig gethane Schritt vom Römischen zu dem, was wir Byzan¬
tinisch nennen, ist gleichbedeutend mit der Umbildung des unmöglich gewordenen
Svldatcnkaiserthums in eine Bureaukratie, mit der Einführung einer straf¬
fen Centralisation in allen Zweigen der Verwaltung, mit der endlichen Nivel-
lirung der noch übrigen provinziellen Gegensätze. Hand in Hand damit ging,
wie schon die Verlegung der Hauptstadt von Rom nach Nitomedicn, dann nach
Konsiantinopcl zeigte, eine Vertauschung der römischen Basis des Staates mit
einer griechischen, oder richtiger gesagt, hellenistischen, die im Verlaufe endlich
zur völligen Verläugnung des römischen Charakters führen mußte. In dieser
Hinsicht ist von oben her einige Mal eingehalten worden; das Absterben der
westlichen Extremitäten des römischen Reichs drängte aber mit Nothwendigkeit
vorwärts auf der einmal betretenen Bahn. Justinian für seine Person hat
das Lateinische als Regierungssprache noch beibehalten, wohl im Hinblick aus
seine italischen Ncunionspläne, wie die Sprache der Institutionen zur Genüge
darthut: aber schon die Novellen sind griechisch, desgleichen die Gesetze aller
seiner Nachfolger, und schließlich bewahren nur noch die Münzen ein seltsames
Gemisch beider Sprachen.
Nicht durch ein bestimmtes Gesetz, aber in Folge der neuen Organisation
ganz von selbst trat bei der Besetzung des Kaiserthrons eine wesentliche Ver¬
änderung ein. Von jetzt an bestimmte in der Regel jeder Kaiser vor seinem
Tode seinen Nachfolger, der zu seiner Anerkennung der Bestätigung des Se¬
nats bedürfte; hatte er diese erlangt, so ward er den Ncnnbahnparteien vor¬
gestellt und von diesen durch Acclamation angenommen: von einer Betheiligung
der Armee an der Wahl ist in der nächsten Zeit keine Rede. Dieser Modus
der Ernennung mußte unter der Regierung kräftiger Kaiser zur Bildung dauer¬
hafterer erblicher Dynastien führen, nach denen das römische Reich in früherer
Zeit vergeblich gestrebt hatte. Bis auf Justinians Zeit war der Thron meist
»ut romanisirten Barbaren aus den Grenzprovinzen besetzt worden: Mar-
clam und Anastasius waren Jllyrier, Leo der Erste ein Thracier, Zeno gehörte
dem rohen, mitten im Reiche seine Unabhängigkeit bewahrenden Volk der Jsau-
rcr an. Justin der Erste und sein Haus waren Slaven. Noch war damals
die Entwicklung des neuen Beamtcnstaates nicht abgeschlossen, noch konnte man
handfester Krieger auf dem Throne nicht entrathen. Es war dies die Zeit,
in der bulgarische Horden während mehrer Jahrzehnte die Balkanhalbinsel von
einem Ende bis zum anderen durchstreiften, sogar Konstantinopel belagerten
und Anstalt machten, sich in den besetzten Landstrichen dauernd niederzulassen,
und es scheint in der That, als hätten die Bulgaren mehr als irgend ein anderes
Volk auf die Mischung der neugriechischen Nationalität Einfluß geballt. Mög¬
lich auch, daß schon damals sich Slaven im Gefolge der Bulgaren nach Hellas
geschlichen haben; allein einen Zusammenhang zwischen diesem Umstände und der
slavischen Herkunft Justinians anzunehmen, ist man nicht berechtigt. Eine ganz
andere principielle Bedeutung hat die Erhebung des Tiberius zum Regenten
und nach dem Erlöschen des justinischen Kaiserhauses S78 zum Kaiser: in sei¬
ner Person besteigt der erste Grieche den Thron der Cäsaren. Tiberius wiederum
erkor sich zu seinem Nachfolger und Eidam den Mauritius aus der vollständig
hellcnisirtcn Provinz Kappadokier, deren Einwohner in der classischen Zeit als
erprobte Chaisenträger, in der byzantinischen als geschmeidige Bureaukraten
galten, denen um Carriere zu machen kein Mittel zu schlecht sei. Auch seine
Wahl stand also in zweifacher Hinsicht in einer charakteristischen Beziehung zu
dem von Justinian zum Abschluß gebrachten Regierungssystem. Es ist nun
im hohen Grade merkwürdig, daß der späte syrische Chronist Gregor Barhe-
bräus mit dem an der syrischen Historiographie öfters zu rühmenden gesunden
.historischen Sinn den zweiten Justin als letzten Kaiser der Römer rechnet
und mit Tiberius das Reich der Griechen beginnen läßt. Für uns liegt in
der That hier die Grenze zwischen Alterthum und Mittelalter, insoweit es sich
um das oströmische Reich handelt.
Um dieselbe Zeit ging eine wichtige Vorhut des christlichen Orients ver¬
loren: das christliche abyssinische Reich in Südarabien ward 576 von den Per¬
sern erobert. Von den Zeiten Konstantins an war mit Jemen und Abyssinien
ein ziemlich lebhafter Verkehr unterhalten worden; dieser hörte jetzt ganz aus
und ist erst an der Schwelle der neuen Zeit von den Portugiesen wieder er¬
öffnet worden. Noch verhängnißvoller war jener Schlag, insofern durch ihn
die Hoffnung auf Diversionen von dieser Seite völlig abgeschnitten ward, die
in den Stürmen, welche bald darauf von Arabien aus über das oströmische Reich
hereinbrachen, sehr wichtig hätten werden können. Mit der Ermordung deö
Mauritius durch Phoccis und der Regierung des Letzteren (602), einer blutigen
Reaction der Militärpakte! gegen das neue Regierungssystem, beginnt das große
orientalische Drama, welches der erstaunten Welt zuerst eine beispiellose Macht-
entfaltung der persischen Macht unter Chosru Perwiz. dann nicht weniger un¬
erhörte Erfolge der Oströmer unter Heraklius Vorführt und mit dem jähen und
schmählichen Zusammensturz beider Mächte unter dem Allahrufe einer Schaar
gottbegcisterter Beduinen endigt. Den richtigen Abschluß bildet das Jahr 641,
welches durch den Tod des Heraklius (der Syrien bereits preisgegeben hatte),
den Verlust Aegyptens und die über Persiens Loos entscheidende Schlacht bei
Nehawend ausgezeichnet ist.
Auch im Orient hat der große politische Umschwung seine Rückwirkung auf
die Kirche geäußert: nicht blos durch den Masscnübcrtritt zum Islam, sondern
namentlich auch dadurch, daß die bis dahin von Konstantinopel aus mit Hülfe
Von Beamten und Soldaten niedergedrückten häretischen Kirchen der Nestorianer
und besonders der Mvnophysiten nunmehr ihr Haupt neben und unter dem
Schutze der Araber über die heilige orthodoxe anatolische Kirche erheben und
alle Aussichten des Patriarchen von Konstantinopel auf eine der des römischen
Bischofs analoge Weltstellung für immer zu Nichte machen.
Nun noch ein Wort über die Literatur. Es ist in der Natur der Sache
begründet, daß im Abendlands, wo es sich um das Uebergehen der Herrschaft von
den Römern auf die Germanen handelt, das Ende der alten Geschichte im
Wesentlichen auch das Ende der alten Literatur sein muß. Hier ist denn
auch das Grenzjahr 476 als unhaltbar allgemein preisgegeben und vielmehr
etwa die Mitte des sechsten Jahrhunderts als Endpunkt angenommen worden.
Es liegt auch aus der Hand, daß eine Grenzlinie nicht richtig gezogen sein
kann, durch welche zwei so echtrömische Erscheinungen wie Bvöthius und Cas-
siodor, durch welche die die Entwicklung auf den betreffenden Gebieten abschließen¬
den, den folgenden Jahrhunderten zur alleinigen Richtschnur dienenden Werke
eines Priscian in der Grammatik, eines Jsidor im encyklopädischen Fache, vor Allem
aber das Liorpus M-is von der römischen Literatur ganz ausgeschlossen werden.
Am schärfsten läßt sich die alte und die neue Zeit auf dem Gebiete der
Geschichtschreibung auseinanderhalten. auf welche die politischen Veränderungen
am unmittelbarsten rückwirken. Die Männer, welche man an die Spitze der
mittelalterlichen Geschichtschreibung zu stellen pflegt, Cassiodor und sein Epito-
mator Jordanes (SSI), Gildas der Weise (559), Gregor von Tours (S93).
Jsidor von Sevilla (628). sind vielmehr in ihren Ländern die letzten Vertreter
des Alterthums; sie stehen in ihrer Anschauungsweise, wenn auch der Satzbau
und die historische Conception die einbrechende Nacht genügend verräth, noch
ganz auf römischem Boden, und sind auch ihrer Nationalität nach alle wenig¬
stens von der einen Seite her Romanen. Die Keime der mittelalterlichen
lateinischen Historiographie liegen nicht hier, sondern in den im Frankenrciche
mit dem achten Jahrhunderte beginnenden Klosterannalen, die, anfangs äußerst
mager und unvollständig, sich mit der Zeit immer mehr erweitern. Einen
mächtigen Impuls erhielten diese noch in ihrer Kindheit befindlichen historischen
Studien von den angelsächsischen Klöstern aus, wo man zuerst wieder auf die
Klassiker zurückging. Dort entstanden die für das ganze Mittelalter maßgeben¬
den Arbeiten des Beda, von dort verbreitete sich die Bekanntschaft mit Geschicht¬
schreibern des Alterthums nach dem Karolingerreichc, unter deren Einflüsse die
Werke des Paulus Diaconus und Einhard entstanden sind. Mit Gregor steht
der Letztere in keinem nachweislichen Zusammenhange: sein Leben Karls ist
durchaus Renaissance. Zwischen dem Beginn jener klösterlichen Annalistik
und dem Untergänge der antiken Geschichtschreibung liegt ein volles Jahr¬
hundert, aus welchem uns nur der barbarische Fredegar und die Kests. regnen
?i-gncoi-um dürftige Kunde bewahrt haben. Diese gähnende Kluft ist ein spre¬
chendes Zeugniß dafür, daß hier zwei Weltalter sich scheiden.
Der Schluß der griechischen Literaturgeschichte wird einstimmig erst mit
14S3 gemacht. Folgerichtigerweise müßten aber dann auch alle Werke der
Neugriechen bis dahin, wo sie aufhörten sich auf wissenschaftlichem Felde einer
anderen als der Volkssprache zu bedienen, also bis in verhältnißmäßig sehr
neue Zeit, in einer griechischen Literaturgeschichte Aufnahme finden; denn zwi¬
schen Byzantinern und Neugriechen ist kein Unterschied. Meiner Ueberzeugung
nach gehört die byzantinische Literatur nicht in eine griechische Literaturgeschichte,
wenn auch der Uebergang aus dem Alterthum in das Mittelalter hier kein
so schroffer ist wie im Abendlande. Der Schritt vom Griechischen zum Byzan¬
tinischen ist in der Hauptsache gleichbedeutend mit der Vertauschung des heid¬
nischen Standpunkts mit dem christlichen. Dieser Schritt ist in der Literatur
viel später gemacht worden als in Staat und Kirche, und man würde sehr
irren, wenn man mit Konstantin die byzantinische Literatur beginnen ließe.
Die Grenze fällt vielmehr mit den oben angedeuteten großen politischen Ver¬
änderungen zusammen: das Ende der griechischen Literatur erfolgte mit dem
Schlüsse des sechsten Jahrhunderts. Am deutlichsten springt der Abschnitt bei
der griechischen Philosophie in die Augen: die letzten neuplatonischen Philo¬
sophen, ein Damascius und Simplicius, lebten unter Justinian und erhielten
durch den Edelmuth des Chosru Nuschirwan, der ihre Restitution zu einer
Bedingung des Friedens mit den Römern machte, Duldung bis an ihr Ende,
welches zugleich das der heidnischen Philosophie war. Aber auch die christliche
Philosophie hörte im Orient um dieselbe Zeit auf. Joannes Philoponos, ein
wenigstens durch classische Gelehrsamkeit ausgezeichneter Erklärer des Aristoteles,
dessen langes Wirken sich von Justinian bis in das siebente Jahrhundert hinein
erstreckt, hatte-noch den Muth, den Gedanken der Dreieinigkeit bis in seine
letzten Konsequenzen durchzudenken, und selbstverständlich den Erfolg, in den
Ketzerverzeichnissen mit einem ungewöhnlich schwarzen Striche aufgeführt zu
werden. Die heilige orthodoxe cmatolische Kirche, die auf dogmatischen Gebiete
in dem 631 auftauchenden Monotheismus bald auch ihren letzten Gegner über¬
wand , konnte fortan selbständiger Denker entrathen und sich ganz auf sich selbst
zurückziehen. Wie leicht es war, innerhalb derselben ohne großen Aufwand
von Denken große Berühmtheit zu erlangen, beweisen die Erfolge der frommen
Röhrwasserbercdtsamkeit des Joannes Mansur von Damaskus, des Berthei¬
digers der Bilder gegen den Kaiser Konstantin Kopronymos. Um sich die Be¬
deutung des sechsten Jahrhunderts als Wendepunkt zweier Literaturen recht zu ver¬
gegenwärtigen, blicke man auf die Dionysiaka des Nonnus oder eines der
späteren Gedichte der ägyptischen Dichterschule aus dem fünften Jahrhundert,
mit ihren sorglich gefeilten Versen, in deren Bau selbstgeschaffene Schwierig¬
keiten mit Meisterschaft überwunden werden, strotzend von antiquarischer Ge¬
lehrsamkeit und phantastischem Inhalt, und vergleiche damit die hüpfenden
Versehen der Anatreonteen, oder gar die zwei an Form und Inhalt gleich leicht
wiegenden jambischen Gedichte, in denen Georg der Pisidier das göttliche und
das menschliche Hexaemeron besang, nämlich den sechsjährigen Feldzug des Hera-
klius gegen die Perser, den die geschmackvolle» Höflinge mit dem sechstägigen
Schöpfungswerk verglichen! Oder man denke an das geographische Werk des
Alexandriners Pappus aus dem Ende des vierten Jahrhunderts, von dem wir
uns durch den Auszug des Moses von Chorene noch eine Vorstellung machen
können, in welchem die Geographie rein theoretisch, auf mathematischer Grund¬
lage und durchaus im Anschluß an die gute Tradition des Alterthums behan¬
delt war. und man halte dagegen „des Christen Topographie" von Kosmas
aus der Mitte des sechsten Jahrhunderts, in welcher die Umkehr der Wissen¬
schaft mit einer selbst an einem ägyptischen Mönche bewundernswerthen Igno¬
ranz in den ersten Grundbegriffen und mit einer rücksichtslosen Gründlichkeit
durchgeführt worden ist, die selbst den unbescheidensten Forderungen der Ortho¬
doxie des neunzehnten Jahrhunderts genügen dürfte — in welcher aber auf
der anderen Seite der Gebrauch, den der weit herumgekommene Versasser von
seiner Autopsie macht, von dem Bestreben zeugt, die Geographie wieder in
nähere Beziehung zum praktischen Leben zu setzen.
Auf keinem Gebiete tritt der Umschwung der Geister, der sich auch im
Orient endgiltig im sechsten Jahrhundert vollzogen hat, so offen zu Tage als
»> der Geschichtschreibung, an der sich ein ganz analoger Entwicklungsgang
Verfolgen läßt wie im Abendlande. Die historische Kunst der Griechen hat
während des fünften und sechsten Jahrhunderts in der von Eunapius begrün¬
deten historischen Schule, deren namhafteste Vertreter Zosimus, Olympiodor,
Pnscus, Eustathius, Procopius. Agathias, Menander und Thcophylaktus
Sunokatta sind, eine schöne Nachblüthe erlebt. Ein Vorzug dieser Schule ist
U)r echt geschichtlicher Sinn, ihr unerschrockenes, rastloses Bemühen um richtige
Information, welches auch den altgriechischen Hochmuth den Barbaren gegen-
über bei Seite setzt, und es nicht verschmäht, von wohlunterrichteten Persern
sich Aufschlüsse über Haupt- und Staatsactionen ihres Reichs in die Feder dictiren
zu lassen oder armenische Qucllenwcrke im Originale zu studiren; ihre Genauig¬
keit in der Wiedergabe deutscher und persischer Namen werden die Zeitgenossen
schwerlich zu würdigen gewußt haben, für uns ist sie unschätzbar. Sie be¬
fleißigen sich ferner großer Sorgfalt in Beschreibung der Localitäten, auf de¬
nen die Ereignisse spielen, und schalten mit Vorliebe geographische und ethno¬
graphische Skizzen ein. Noch bemerkenswerther ist ihr Streben, der Geschichts-
darstellung einen möglichst urkundlichen Charakter zu verschaffen: in größerer
Anzahl als irgend einer ihrer Vorgänger theilen sie Actenstücke, Briefe, Ge-
sandtschaftsberichte u, s. w. mit. In diesem löblichen Eifer sind sie freilich nur
zu oft der Versuchung erlegen, in diplomatischen Durchstechereien das eigent¬
liche Getriebe der Weltgeschichte zu erblicken; und wie wenig sie ihre kritische
Methode an dem Klatsch der Antichambre bethätigten, davon sind die Anet-
dota des Procopius ein laut redendes Beispiel. Mit den Geschichtschreibern
des classischen Alterthums sind sie ohne Ausnahme wohlvertraut und nehmen
sich dieselben zum Muster, in einem Grade, der ihrer Darstellung wenig zum
Vortheil gereicht. Ihre Achillesferse ist der gesuchte, prunkvolle Stil, der bei
Allen in Manier, bei Vielen in Geschmacklosigkeit, bei Thcophylaktus in un¬
verständlichen Schwulst ausartet. Den Vergleich mit Herodot oder Thucydides,
den sie nachäffen, oder auch nur den mit Polybius halten sie nicht aus; aber den
besten der späteren griechisch-römischen Historiker darf man sie getrost zur Seite stel¬
len: Schönrednern wie Herodian sind sie an Ernst der Forschung sogar weit über¬
legen. Mit ihrer Haupttugend, der Objektivität, hat es freilich eine eigne Bewandt-
niß. Sie stehen mit ihren politischen Anschauungen und Sympathien auf dem
Boden der ersten drei Jahrhunderte des Kaiserreichs; dem unter ihren Augen
sich vollendenden Beamtcnstaate stehen sie nicht feindlich, aber gleichgiltig gegen¬
über. Die älteren Vertreter der Schule waren sämmtlich Heiden, der geistvolle
Eunapiuv sogar ein fanatischer Heide; da offene Ausfälle gegen die Staatsreli¬
gion immer gefährlicher wurden, so kam man mehr und mehr dahin überein,
das Christenthum als etwas, das ist, zu nehmen, es, soweit es irgend ging,
zu ignoriren und als ein Institut zu behandeln, welches zu discutiren unter
der Würde der geschichtlichen Muse sei. Dieser von bedeutenden Männern wie
Eunapius und Zosimus angeschlagene Ton ward, da die literarisch gebildeten
Kreise auch damals noch vom Christenthum wenig berührt worden waren, für
die Geschichtschreibung so maßgebend, baß auch die späteren christlichen Reprä¬
sentanten der Schule sich ihm nicht haben entziehen können: ihre kühl referi-
renden Notizen über kirchliche Dinge, die nicht allein im sechsten Jahrhundert die
christliche Welt bewegten, haben mehr als Einen darunter bei neueren Forschern
in den unbegründeten Verdacht heimlichen Heidenthums gebracht. Wohl das
Merkwürdigste ist, daß diese conventionelle Neutralität ihre Rückwirkung auch
auf die Kirchenhistorikcr ausgeübt hat: diesem Einflüsse verdanken wir die in
Anbetracht des Zelotismus der Zeit sehr unparteiisch gehaltenen Werke des
Sokrates und Sozomenus, .und das noch unparteiischere des Euagrius, bei dem
freilich mitunter der Argwohn aufsteigt, ob uns nicht absichtlich die beschämend¬
sten Seiten der Geschichte des Christenthums mit äußerlicher Betrübniß und
innerlichem Behagen vor die Augen geführt werden*). Theophylaktus Simo-
katta schrieb bald nach 610, Euagrius S93; mit jenem hört die politische, mit
diesem die kirchliche Geschichtschreibung völlig auf.
Um dieselbe Zeit aber fängt die byzantinische Chrvnikenliteratur an,
deren ältester und culturhistorisch merkwürdigster Repräsentant Joannes Malaka
unter Justin dem Zweiten (56S—578) schrieb, fast in jeder Beziehung das
gerade Gegenstück der Schule des Eunapius. Diese Weltchronikcn haben sich
aus Stadrchroniken entwickelt und ihren mehr noch spießbürgerlichen als
mönchischen Charakter nie verläugnet; der volksthümliche Ursprung und die
Bestimmung für das Volk ist schon in der barbarischen, an lateinischen und
syrischen Worten und Redewendungen der Septuaginta überreichen Sprache
deutlich ausgedrückt, die aber dem Wortgeklingel der höheren Geschichtschreibung
gegenüber etwas Erquickendes hat. Von historischer Kritik ist bei Malaka und
seinen Nachfolgern keine Spur: mit gleicher Gläubigkeit' wird Wichtiges und
Unwichtiges reproducirt, mit Vorliebe Theuerungen, Seuchen. Kometen und
alle möglichen Portenta, Erbeben, Bauten, die Angelegenheiten der Rennbahn.
Während Malaka über viele der wichtigsten Ereignisse der Regierung Justinians,
die er selbst mit erlebte, schweigt oder confuse Notizen gibt, widmet er dem
gelehrigen Hunde eines fahrenden Jtalieners eine ganze Seite. Bemerkens-
werth für den Einfluß des griechischen Romans sind die genauen Personal¬
beschreibungen der handelnden Personen, welche das ganze Buch durch¬
ziehen. Die Geschichte des Alterthums kennt Malaka nur durch einen homöo¬
pathisch verdünnten Auszug aus Julius Africanus; von der römischen Republik
weiß er buchstäblich nichts. Charakteristisch für seine correcte Gesinnung gegen
das Kaiserreich ist seine Darstellung der älteren Kaiscrgeschichte, in der vielleicht
aus Pädagogischen Rücksichten die Loyalität in ein förmliches System gebracht
'se: fast alle Kaiser sterben eines natürlichen Todes, wobei denn begreiflicher¬
weise die Diagnose am häusigsten auf Blutsturz oder Bräune lautet. Während
in der Darstellung der Zeitgeschichte das Interesse der Kirche hinter dem der Renn¬
bahn zurücktritt, und man statt eines Stadtprcdigers öfter einen Kutscher zu
hören meint, verfolgt die ziemlich eingehende Darstellung der griechischen Mytho¬
logie und Heroengeschichte lediglich einen christlich-apologetischen Zweck: das
euhemeristische System ist hier bis an die Grenze des Möglichen hin aus¬
gebeutet, die Greuel des Heidenthums) namentlich die angeblichen Menschen¬
opfer bei Städtegründungen, werden mit Vorliebe regisirirt. Dieses merk¬
würdige Buch, das Bentley zur Folie einer seiner glänzendsten Schriften
gemacht, an das er aber mit auffallender Einseitigkeit den ganz unhistonschcn
Maßstab eines strengen Classicismus gelegt hat, ist bis in das zwölfte Jahr¬
hundert die Grundlage der byzantinischen Wcltchroniken geblieben. Ein anderer
Joannes aus Antiochien, der unter Heraklius schrieb, nahm die Chronik des
Malaka unter Auemerzung der gröbsten historischen Verstöße und unter Hin-
zufügung von Auszügen aus Dio und Eutropius in die seinige auf; die der¬
selben Zeit angehörende Osterchronik sorgte durch Hinzufügung von Consular-
sasten für einen nothdürftigen chronologischen Faden und verallgemeinerte den
Inhalt durch Streichung des speciell auf Antiochien Bezüglichen und Einflech-
tung merkwürdiger Begebenheiten aus der Chronik von Konstantinopel. So
oder so, bald in der ursprünglichen, bald in einer revidirten Gestalt, hat das
Malaka'sche Gcschichtsscbcma trotz oder wegen seiner Dürftigkeit die byzantinische
Annalistik bis auf Michael Glykas herab beherrscht, und erst unter den Kom-
ncnen und Paläologen nahm die Geschichtschreibung wieder einen höhern Flug,
erlahmte aber bald, indem sie sich zu künstlicher Classicitcit hinaufschrauben
wollte, unter dem Fluche, der auf allem neugriechischen ruht: es ist eine Re¬
naissance im übelsten Sinne des Worts, die unsere Theilnahme nur wenig zu
fesseln im Stande ist.
Wie im Abendlande, so folgt auch im christlichen Orient auf das Er¬
löschen der altgrichischen Historik eine Lücke, aber nicht von einem, sondern
von zwei vollen Jahrhunderten, für die wir buchstäblich nur zwei Geschichts¬
quellen haben, die dürre Möncbschronik des Theopbanes und das übcrlurze
und nicht einmal gut unterrichtete Compendium des Nicephorus, beide erst
aus dem neunten Jahrhundert. Gewiß ist der Grund, daß uns über einen
so wichtigen Zeitraum wie den der bilderstürmenden Kaiser alle gleichzeitigen
Berichte fehlen, nicht in dem Verluste der Geschichtsquellen, sondern in dem
unhistonschcn Sinne der Zeit zu suchen. Wer je in der Lage gewesen ist, Unter¬
suchungen über die spätere Kaisergeschichte anzustellen, wird es empfunden
haben, daß man, selbst wo es sich noch um die Zeiten Dioclctians oder Con-
stantins handelt, nicht umhin kann, das Zeugenverhör bis zum Ende des
sechsten Jahrhunderts auszudehnen, ebensogut aber, daß man kaum jemals,
nicht einmal in der Geschichte eines so späten Kaisers wie Justinian, nöthig
hat, über den angegebenen Zeitpunkt hinauszugehen. Diese Zeit empfiehlt
sich also auch in praktischer Rücksicht besonders gut als Grenzscheide.
Es ergibt sich aus unseren Betrachtungen, daß die Grenze zwischen Alter¬
thum und Mittelalter auf dem Gebiete des Staats, der Kirche und der Literatur
nicht vor dem letzten Drittel des sechsten und nicht nach dem ersten Drittel deS
siebenten Jahrhunderts angesetzt werden darf, und zwar hat sich der Umschwung
im Abendlande früher vollendet als im Orient. Die in dieser Hinsicht epoche¬
machenden Ereignisse sind für das Abendland der Abschluß der italienischen
Eroberungen der Langobarden 572, für das oströmische Reich die Thronbestei¬
gung des Tiberius 378, für den eigentlichen Orient die Eroberung des persi¬
schen Reichs und Aegyptens durch die Araber 641. Das Angemessenste würde
also sein, von Einzelheiten ganz abstrahirend das Jahr 600 als Grenze zu
nehmen. Soll aber, da die Phantasie nun einmal ein greifbares Ereigniß
braucht, eines der drei gewählt werden, so kann die Wahl nicht zweifelhaft
sein: die wenn auch noch so große Bedeutung der Araber für das Mittelalter
tritt hinter der der Germanen zurück. Wir entscheiden uns also für das Jahr
672, das sich auch noch dadurch empfiehlt, daß es in die nächste Nähe des
Selten hat es zwei politische Factionen desselben Volkes gegeben, deren
gegenseitiger Haß und deren verschiedene Zielpunkte so verhängnißvoll für die
Sache ihres Vaterlandes wurden, als in Polen die der Conservativen und der
Exaltirtcn. Mehr als einmal hat der Grimm innern Partcihasses ein lebendes
Staatswesen zum Untergänge gebracht, aber fast immer vermochte das größte
nationale Unglück, fremde Knechtschaft, auch erbitterte Gegner zu gemein-
samen Maßregeln gegen den fremden Feind zu vereinigen. Das unabänderliche
Schicksal der polnischen Parteien scheint zu sein, daß die Kinder desselben Landes
einander die aufgebende Saat ihrer Hoffnungen niedertreten.
In Polen war seit dem Tode des Kaiser Nikolaus den Konservativen
und Exaltirtcn die Hoffnung hoch gestiegen. Die Schwäche Rußlands trat sehr
auffällig zu Tage, die größten socialen Umwälzungen hatten vom weißen bis
zum schwarzen Meer begonnen, der Krimkrieg, der italienische Krieg, die
Bewegungen in den Donauländern füllten die Phantasie der Jugend und er«
öffneten eine Menge von Perspectiven, gerade so glänzend und unsicher, wie sie
ungeduldigen Politikern am meisten zu behagen scheinen. Beide polnische Par¬
teien machten in dieser Zeit Fortschritte, beide schieden sich in Zweck und
Mitteln weiter von einander als je. in beiden wuchs Argwohn und Haß, wo¬
mit die Gegner betrachtet wurden.
Die polnische Aristokratie sah plötzlich in erreichbarer Nähe, was unter
Kaiser Nikolaus Phantasiebild Einzelner gewesen war: ein selbständiges Polen
mit eigener Verwaltung und nationalem Heer, nur durch Personalunion mit
Rußland verbunden. Vielleicht war es sogar möglich, die oberste Leitung des
Reiches in Warschau zu fixiren, und aus dem Vicctonigthum eines kaiserlichen
Prinzen eine Secundogenitur zu bilden. Man wußte aus der Regierungszeit
des verstorbenen Großfürsten Konstantin, daß es keine unüberwindlichen Schwie¬
rigkeiten gehabt hatte, einen widerwärtigen Czarowitsch in einen warmen Polen
zu verwandeln, und man durfte hoffen, daß einem solchen Polenreiche die Ge¬
legenheit nicht fehlen werde, sich von dem in seinen Grundfesten erschütterten
Nußland so weit abzulösen, als vorteilhaft wäre. Wie klug und erfolg¬
reich die Partei bis zum Beginn dieses Jahres operirt hat, ist bekannt. Die
Schwierigkeit, das aufsässige Polen von Petersburg aus zu regieren, erwies sich
im letzten Herbst den Russen fast unüberwindlich. Es war damals zu Peters¬
burg auch in der Näbe des Kaisers eine verbreitete Ansicht, daß man Polen
auf die Länge nicht festhalten werde. Einer der russischen Generäle nach dem
andern halte sich als unbrauchbar erwiesen. Der Großfürst, dessen die Polen be¬
durften, war ihnen als Statthalter gesandt. Ein entschlossener Vertreter der
conscrvaNven Partei, Marquis Wielopolskj, war Rathgeber des Großfürsten
und Leiter der innern Verwaltung geworden, geräuschlos und systematisch ar¬
beitete er an der Emancipation des polnischen Elementes. Die Russen wurden
so viel als möglich aus den Beamtenstellen entfernt, — wozu die Unfähigkeit
der Mehrzahl genügenden Vorwand gab —, der Großfürst wurde für seine hohe
Aufgabe — noch ist unbekannt wie weit — gewonnen. Zuletzt wurde sogar
in der innern Verwaltung die polnische Sprache wieder eingeführt. Die Russen
waren thatsächlich bereits aus dem Lande gedrückt, selbst ein Theil des Heeres
bestand, wie verlautet, aus Polen unter Polnischgesinnten. Nie war Polen,
etwa eine kurze Zeit vor der Thronbesteigung des Kaiser Nikolaus aus¬
genommen, einer friedlichen Emancipation so nahe als in diesem Winter.
Und mit Stolz durften sich die Führer der aristokratischen Partei sagen, daß
sie durch eine Politik, wie sie der Aristokratie des civilisirten Europas jetzt
nicht mehr möglich wäre, ihrem Vaterlande die einzige unter den gegebenen
Verhältnissen erreichbare Selbständigkeit eingeleitet hatten, eine Selbständigkeit'
deren Princip war, nach Archen so lange als nöthig für russisch zu gelten, im
Innern sich von den Nüssen zu scheiden. — — Und diese Politik hatte
für Polen die höchste Berechtigung. Allerdings war der Hintergedanke der
thätigsten Parteiführer ein Staat, in welchem die Aristokratie des Landes
unter den Formen einer modernen Verfassung regierte. Aber eine solche
Herrschaft ist nach europäischen Begriffen für die Slavenländer noch auf
Jahrhunderte Bedürfniß. Es gibt dort keinen Mittelstand, es gibt dort kein
Bürgerthum im Sinne unserer Cultur, der Bauer ist ein Sklave, auch der kleine
Edelmann nur zu häusig verkümmert und verdorben. Und mit den Führern
der aristokratischen Partei ist die Mehrzahl des großen Adels, die Mehrzahl
der hohen Geistlichkeit enge verbunden, sie sind, so bald die Nüssen entfernt
sind, die gebotenen Herren des Landes.
Aber wie gesehen und verdeckt diese Aristokraten auch handelten, und wie
souverän ihr Einfluß in ruhigen Zeiten auf die Bevölkerung sein könnte,
es ist ihr Fluch, daß sie nicht die Fähigkeit haben, ein rohes, der Aufregung
bedürftiges Volk zu erwärmen und durch die einzigen Impulse zu führen, welche
den Unwissenden in den Kampf treiben, durch Erregung seines religiösen und
Polnischen Fanatismus. Sie beherrschen nicht die Gemüther der Menge, und
nicht, was dort öffentliche Meinung genannt werden kann, ja sie selbst sind des¬
halb in drückender Abhängigkeit von einer anderen Gewalt, die sie insge-
heim beargwöhnen und verachten, von der sie selbst beargwöhnt und gehaßt
werden. Die exaltirte Partei in Polen stellt die bunteste Mischung von Con¬
trasten dar. Emigranten, welche im Ausland ihre patriotische Stimmung
zu einem fanatischen Haß gegen Nüssen und Deutsche gesteigert haben,
junge Enthusiasten, welche stolz daraus waren, die rothe Blouse Garibal-
dis zu tragen, durchgcwctterte Abenteurer, die im ungarischen Feldzug. in der
Krim, in Italien, in Amerika den Schlachtfeldern zugezogen sind, Hirn-
Verbrannte Socialisten und ruchlose Verschwörer, welche Orsinis Bombe und ein
vergiftetes Dolchmesser sür die letzte Waffe der Freiheit halten; junge Schriftsteller
mit französischer Bildung, welche für den Constitutionel und die Glocke
von Herzen geschrieben haben, warme Patrioten, denen das Herz gegen die
Rohheiten und Laster der russischen Beamten empört ist, fanatische Dorfpfaffen,
denen die Mütze russischer Popen tödtlich verhaßt und eine bewaffnete Procession
des Jahres 1848 die größte.Erinnerung ihres Lebens ist, die kurzsichtige, aber
begeisterte Jugend polnischer Schulen und Universitäten. Wenn es möglich
Wäre, einen politischen Katechismus aus den verschiedenen Elementen dieser
Partei zusammenzustellen, er würde eine tolle Mischung von ehrlichen patrioti-
schen Wünschen und den verrücktesten Vorstellungen über Verfassung und
Zukunft des neuen Polenreichs enthalten. Aber wie phantastisch und verdorben
auch das politische Credo einer großen Anzahl dieser Exaltirten ist, sie halten
den Verschwörungsapparat mit allen seinen italienischen Erfindungen in kun¬
diger Hand, sie verstehen die Neigungen des Volkes zu dramatischen Emotionen
zu befriedigen, sie beherrschen die öffentliche Meinung mit einem Terrorismus,
dem sich auch die aristokratische Partei fügen muß, Trauerkleider, Pro-
cessionen, Singen polnischer Lieder, zwangsweises Erbeben von Geldbeiträgen,
geheime Druckerstätten, Spionage, geheime Gesellschaften mit verschiedenen
Graden und Geheimlehren, alle diese Mittel wurden seit dem Regierungsantritt
des Kaisers Alexander allmälig in Warschau ausgebreitet und mit großer Vir¬
tuosität gehandhabt. Die aristokratische Partei brauchte die steigende Erregung
des Volkes für ihre Zwecke, sie war aber auch genöthigt, diesem Treiben nach¬
zugeben, wo sie es für gefährlich hielt und doch nicht hindern konnte. In den
letzten Wochen ist auch in deutschen Blättern der Argwohn ausgesprochen
worden, daß die Mordversuche an dem Marquis Wielopolsti seine eigene Er¬
findung seien! Sollen auch die Attentate aus den Großfürsten Konstantin als
kluge Dichtungen des kaiserlichen Prinzen hinweg erklärt werden? Daß beide
den kurzsichtigen Fanatikern tödtlich verhaßt waren, ist ebenso unzweifelhaft,
als daß Mitglieder des Revolutionscomit« genau den Grad von politischer Sittlich¬
keit besitzen, dessen sich Ravaillac erfreute, durch den Orsini in unsern Tagen die
Bewunderung von Narren und Schurken für sich gewann.
Die conservative Partei aber wollte trotz Sorge und Haß die Revolutions-
männer zum Herausholen einiger feurigen Kastanien benutzen, und wenn
die gefährlichen aber unvermeidlichen Dienste gethan wären, mit ihr kurze
Abrechnung halten. Die Führer des Adels wußten seit einem Jahre, daß
die Revolutionspartei einen Aufstand vorbereitete, sie hatten dabei Alles
für sich und ihr Polen zu fürchten, aber es war ihr Verhängniß und das
Verhängniß ihres unglücklichen Vaterlandes, daß sie nur mit halber Kraft
den Verschwörern, welche die öffentliche Meinung tyrannisirten, entgegentreten
konnten.
Als die Anzeichen eines bevorstehenden Ausbruchs in Petersburg drohend
wurden, beschloß die Regierung, durch eine große Aushebungsruzzia der Ver¬
schwörung zuvorzukommen. Wir wissen nicht, wie weit die Führer der aristo¬
kratischen Partei in der Stille bei dieser Maßregel betheiligt waren. Es lag
in ihrem höchsten Interesse, einen Aufstand zu verhindern, sie können sich aber
auch die Gefahr nicht verborgen haben, daß gerade die Aushebung eine ver¬
zweifelte Empörung des Landes hervorrufen und dadurch ihre eigene politische
Thätigkeit in Frage stellen könne. Gleichviel aber, ob die Razzia durch Wielo¬
polsli begünstigt oder nothgedrungen unterstützt wurde, sie wurde verhängniß-
voll auch für die aristokratische Partei der Polen. Gerade die Mittel, durch
welche man eine allmälige Ablösung von Rußland bewirken wollte, die massen¬
hafte Einführung polnischer Beamten, erwies sich als die beste Unterstützung
des Aufstandes, und die russische Regierung mußte allerdings sehr mißtrauisch
gegen eine Verwaltung werden, welche — wenn auch wider ihren Willen —
dergleichen Unterstützung des Aufstandes möglich gemacht hatte.'
So wird in diesem Augenblick in Polen die aristokratische Partei durch
die demokratische und diese durch jene in das Verderben gezogen. Auf beiden
Seiten kämpfen Intriguen und Waffen, für welche wir eine warme Theilnahme
nicht zu empfinden vermögen.
Freilich ebensowenig gegen das hunnische Verfahren der Russen.
Mit dieser Sachlage in Polen contrastiren auffallend die Zustände in
Galizien und Posen. ' Galizien ist jetzt, ohne Zweifel, die loyalste Pro¬
vinz des Kaiserstaates. Durch die scheußlichen Metzeleien des Jahres 1845,
welche die östreichische Negierung damals mit macchiavellistischer Politik nicht
nur zuließ, sondern sogar in den Hauptmördern belohnte, ist die Kraft des
Adels gebrochen, der Bauer dadurch und durch die folgende radicale Auf¬
hebung seiner servitutem in einen vertrauten Anhänger der Regierung ver¬
wandelt, die katholische Geistlichkeit steht dort nicht einer ketzerischen Landes¬
regierung gegenüber, auch die entfernteren Gefahren, welche die ruthcnische Be¬
völkerung durch ihre Hinneigung zu Nußland bereitete, sind bei der gegenwärtigen
Lage des Nachbarreichcs in weite Ferne gerückt. Der Gutsbesitzer ist jetzt froh,
allmälig wieder freie Feldarbeiter für seine Flur zu finden, einige gute Ernten
haben ein Gefühl von Behagen in die Landschaft gebracht, Handel und Ver¬
kehr beginnen sich dort, wenn auch langsam, zu heben. In Lemberg trauern
alle Damen von polnischer Familie, auch Deutsche, welche sich des Vorzugs er¬
freuen, dazu gerechnet zu werden, mit hochherziger Ausdauer in Schwarz,
Gymnasiasten und Studenten tragen leidenschaftlich an Busennadeln und Hemden¬
knöpfen die polnischen Farben, verpönte polnische Lieder werden, so oft die
Begeisterung gemüthlich hervorbrechen will, gesungen, und die elegante Jugend
übt nach diesen 'Richtungen in der Gesellschaft strenge Polizei. Aber über
Traucrbälle und Trauerdiners kommt dort der Patriotismus nicht hinaus, die
Deputaten des Landes stimmen wie ein Mann für die Negierung. das große
Terrain ist für die Polen todt und verloren. Und diese Sicherheit erklärt das
Verhalten der östreichischen Regierung, deren höchster Gesichtspunkt gegenwär.
lig ist, gute Wirkungen auf Europa hervorzubringen und vortheilhaft von den
selbstmörderischen Versuchen der preußischen Negierung abzustechen.
Die Provinz Posen ist nicht mehr ein Land der Polen oder Nothreußen
Wie Galizien. sie ist ein deutsches Colonistcnland, in welchem der Kampf zweier
grundverschiedener Bildungen und Racen allerdings noch nicht ausgekämpft ist,
die Ueberlegenheit des deutschen Elements aber mit jedem Jahre sichtbarer
hervortritt. Auch in den Kreisen mit vorwiegend polnischer Bevölkerung haben
die Fortschritte, welche die Colonisation seit dem Jahre 1848 gemacht hat, den
Polen nahe gelegt, daß eine Erhebung keine andere Folge haben könnte, als ihrer
Nationalität den letzten Stoß zu geben. Dazu kommen eigenthümliche Verhält¬
nisse. Wenn die gegenwärtige preußische Regierung etwas besser über die
Stimmungen und Zustünde ihres eigenen Staates unterrichtet wäre. würde sie
wissen, erstens, daß Posen seit Jahren von den Polen als ein letztes Asyl be¬
trachtet worden ist. wo sie gern einen Theil ihres Vermögens anlegen, wohin
sie für den Fall einer Krisis Familien und Capital bei Verwandten und
Freunden zu sichern haben. Die geordneten Zustände der Justiz, die bis jetzt
angenommene Sicherheit der Person und des Eigenthums, so wie die Unmög¬
lichkeit dort einen Krieg zu etabliren, legten diese Verwerthung nahe. Ferner
aber neigt der polnische Adel Posens zum großen Theil der aristokratischen
Partei Polens zu, und Gnesen darf als eine Hauptfestung dieser Fraction be¬
trachtet werden, deren stilles Princip ist, dem gegenwärtigen Aufstand keinen
Vorschub zu leisten, so lange das ohne große Gefahr vermieden werden kann.
Bereits sind die katholischen Geistlichen, die Hauptagitatoren, in diesem Sinne
von ihrem Erzbischof unterwiesen worden. Es ist deshalb auch für Posen bei
der gegenwärtigen Jnsurrection nicht nur keine Gefahr, sogar keine ernste Un¬
ruhe zu befürchten.
Der Aufstand in Polen selbst scheint nach den Nachrichten dieser Tage im
Erlöschen, freilich ist bei dem dünn bevölkerten Land und einer culturarmcn
Bevölkerung darauf nicht mit Sicherheit zu bauen. Das Feuer mag einmal
gedämpft, plötzlich an anderer Stelle wieder hell aufschlagen, Monate mögen
vergehn, bevor die Ruhe wieder hergestellt ist. Den Russen wird es schwer,
mit einem Heere, welches seit sieben Jahren nicht rekrutirt und gegenwärtig in
Rußland selbst überall nothwendig ist, der Bewegung Herr zu werden. Aber
das Schicksal des Aufstandes ist doch nach menschlicher Berechnung besiegelt,
wenn nicht die Schandthaten des russischen Heeres in dem verzweifelnden Volk
neue Kräfte zum Kampfe rufen. Denn die Mehrzahl der größeren adligen Edel¬
leute würde nur durch übermächtige Entwickelung der Kampfstimmung gezwungen
an einer Jnsurrection Theil nehmen, welche sie in der Stille als das größte
Unglück Polens verdammt.
Dem Deutschen ist nicht zweifelhaft, wie er den Kampf in Polen anzu-
sehn hat. Der Pole, welcher deutsch versteht und der deutschen Sprache einen
guten Theil von dem verdankt, was er als seine Bildung und seinen Wohl¬
stand betrachtet, heuchelt ein Nichtverstehn unserer Sprache; seit länger als einem
Jahre ist, wer in Warschau deutsch spricht, auch der friedlichste Bürger, der Fremde,
welcher auf den Schutz des Gastrechts Anspruch hat, keine Stunde sicher, von
einem übermüthigen Haufen beschimpft und thätlich gemißhandelt zu werden.
Viel tiefer als der Haß gegen die Russen nistet in dem exaltirten Polen der
Haß gegen das deutsche Wesen. Und nicht ohne einigen Grund, wie thöricht
sich dieser Haß auch äußert. Denn wir Deutsche sind nicht Feinde, aber siegreiche
Gegner der polnischen Art. Wir sind in einem langsamen, aber unaufhaltsamen
Foitschritt gegen Osten begriffen, größere Ausdauer und Arbeitskraft, festere
Mäßigung und schere Moral haben uns überall, wo Na« an Race stieß, ihnen
überlegen gezeigt. Unsere Vorfahren haben in den roder Ansängen des pol.
Nischen mittelalterlichen Staats unter den Fremden den besten Theil der Städte
gegründet, sie zuerst haben barbarische Häuptlinge mit deutscher Industrie und
deutschem Geld bekannt gemacht. Wir haben in späterer Zeit von den verwüsteten
menschenleeren Polenlandschaften so viel besetzt, als nothdürfrig nöthig war. eine
scchsbundertjährige deutsche Cultur an der Ostsee zu schützen. Noch heute stehen
die Polen in jeder Richtung des Erwerbs und Verkehrlebens unter dem Ein¬
flüsse unserer Thätigkeit und Industrie. Es liegt sehr in ihrem Weien. gegen
diese Überlegenheit, welche zum großen Theil auf einer Schwäche des slavischen
naturels fußt, aufzubäumen. Wir erwiedern ihren Haß nicht, aber wir haben
keine Sympathien für ihr politisches Treiben. Wenn sie sich tapfer gegen
Uebermacht schlagen, werden wir-ihnen den Antheil gönnen, den der muihige
Krieger auch von Fremden zu fordern hat; wo unsere menschliche Empfindung
durch die Barbarei der Kosaken aufgeregt wird, oder wo wir persönlich in die
Lage gesetzt sind, das Schicksal eines Flüchtlings an der Grenze zu mildern,
da werden wir nicht daran denken, wie sie in friedlicher Zeit zu Warschau
deutsche Landsleute geschmäht, bedroht, geschlagen haben. Aber wir werden nicht
vergessen, daß es ihr Schicksal ist. uns. die Stärkeren zu Gegnern zu haben,
und wir werdett unsere Würde nicht so vergessen, daß wir ihre Verschwörungen
als eine Sache betrachten, welche mit unserem kaltblütigen, ehrlichen, vernünf¬
tigen Kampf nach größerer Freiheit und Einheit irgendwie nahe verwandt ist.
Für den deutschen Politiker aber hat der gegenwärtige Aufstand der exaltirten
Partei an sich keine große Bedeutung. Diese Unglücklichen, Begeisterte und
Verschwörer, sind ganz darnach angethan, ohne Erfolg für ihre Sache unterzugehen.
Ob sie den Stahl mit Strychnin bestreichen oder in den Kaffeehäusern von Paris
und Neapel umherlungern, oder als wackere Jungen auf dem Schlachtfelde
fallen, sie scheinen bestimmt zu vergehen, wie der Schaum einer Brandung. Sie
sind unfähig, einen polnischen Staat zu gründen. Weit wichtiger für uns ist
die Partei, welche nach polnischen Verhältnissen in Wahrheit die nationale
genannt werden muß. Wenn die Exaltirten in den benachbarten Slaven-
ländern nur Verwirrung hervorzubringen vermögen, Schwächung der Polen,
Schwächung der Russen, so vermöchte dagegen die aristokratische Partei
sehr wohl innerhalb der Grenzen von t815 einen polnischen Staat ein¬
zurichten. Und dieser Staat, durch deutsches Land von der See abgeschnitten,
und deshalb als Freund und als Feind auf unsere Cultur angewiesen, würde
für Deutschland nach mehr als einer Rücksicht eine freundliche oder seind-
liebe Bedeutung gewinnen. Und die Erwägung, ob wir einen solchen Staat
im preußischen und deutschen Interesse zu wünschen haben oder nicht, ist geeignet,
ernste Männer zu beschäftigen.
Die Convention, welche die preußische Regierung mit Nußland abgeschlossen
hat, zeigt freilich, daß das gegenwärtige Ministerium weder diese noch andere
weit näher liegende Erwägungen anzustellen geneigt war. Was von dieser
„Militärconvention" bis jetzt auf officiellen Wege bekannt wurde, gibt die
schmerzliche Ueberzeugung, daß die bestehende Regierung Preußens einen Fun¬
damentalsatz des Staatsrechts, die erste Pflicht und das erste Ehrenrecht der
Landesregierung unbeachtet gelassen hat. Jede Regierung hat vor andern
Aufgaben die, nach Kräften zu verhindern, daß in ihrem Lande bewaffnete
Fremde Gewaltthat üben. Lange bevor die Anfänge von dem, was jetzt
Völkerrecht heißt, niedergeschrieben waren, galt die Grenze für eine heilige
Schranke, deren Überschreitung durch. Bewaffnete mit jedem Machtmittel
abgewehrt werde müsse. Vermochte eine Regierung nicht das Eindringen
fremder Bewaffneter zu verhindern oder zu strafen, so galt das von je für
ein Zeichen ihrer Ohnmacht. Daß aber eine Negierung das eigene Land,
den Grund, auf dem die Bürger wohnen, ihre Häuser, ihre Leiber, ihr Ver¬
mögen in irgend einer, wenn auch noch so beschränkten Ausdehnung, einer
fremden Macht aus Discretion preisgibt, damit diese ihre Staatszwecke auf
fremdem Boden durchsetzen könne, das ist ein Beginnen, welches nicht zahl¬
reiche Vorgänge in der Geschichte hat, welches jedesmal der gefälligen Neue¬
rung als Abhängigkeit und Würdelosigkeit gedeutet wurde, und welches dreizehn
Jahre nach dem Tag von Ollmüh jedem Preußen, dem die Ehre seines Staats
am Herzen liegt, heiße Nöthe in das Antlitz treibt. Und welcher Art sind
die Fremden, denen man die Erenzkreise auf einer Strecke von 175 Meilen
geöffnet hat? Verzweifelte Polen, trunkene, rachelustige Russen. Die Negie¬
rung hat ihr eigenes Land in die Möglichkeit gesetzt, daß Gemetzel unter den
Fremden die Saaten preußischer Bürger vernichtet , daß Menschenblut die Wände
und Thüren unserer Häuser beschmutzt, daß Mord und rasendes Getümmel die
Straßen der Grenzorte füllt. Sie, welche verständig Strafen ertheilen läßt,
wenn Jemand in der Nähe der Dorfdcichcr nur einmal sein Gewehr losschießt,
sie setzt Städte und Dörfer längs der ganzen Polargrenze in die Gefahr, daß
bewaffnete Fremdlinge im Getümmel ihre Gewehre in die Dächer, durch die
Fenster preußischer Bürger abfeuern, daß Gewaltthat, Feuersbrunst, Raub und
Mord auch an preußischen Bürgern innerhalb der Heimatsgrenze mitten im
Frieden verübt werde. Es ist eine elende Beschönigung durch die Regicrungs-
prcsse, daß dergleichen nicht wahrscheinlich sei, es kann in jeder Nacht, an jedem
Punkt der Grenze ein solcher Einbruch geschehen. Die völkerrechtliche Bestim¬
mung, daß jeder bewaffnete Hause bei Überschreitung der Grenze seine Waffen
niederzulegen habe, soll nicht mir die Hochachtung vor dem dritten, nicht
c»n Streite betheiligten Staat ausdrücken, sie ist auch eine nothwendige Maßregel
zum Schutz der Bürger dieses Staats. Wenn Todesnot!) und Rachsucht, alle
die finstern.Leidenschaften des Krieges ungehindert und ungestraft in das Land
brechen dürfen, werden dann die verfolgten Kämpfer in ihrer eigenen legten
Gefahr sich an dem Grenzpfahl zur Erde beugen und ihre Aufregung und
Wuth in Resignation abdämpfen? Und wenn es möglich wäre, daß die bevor-
zugten Russen zu so zweitheiligen Verhalten gezwungen werden könnten, jenseit
der Grenze wie Banditen zu plündern und zu morden, diesseits mit bescheidener
Enthaltsamkeit die Ankunft preußischer Truppen zu erwarten, kann man dasselbe
von den verzweifelten Polen hoffen, von ihnen, die jetzt durch Preußen so gut
>vie durch Russen gehetzt, zerstreut, gefangen und erschossen werden sollen?
Denn ein zweiter Fundamentalsatz der politischen Selbständigkeit war
bis jetzt, daß jeder Fremde, der nicht gegen die Gesetze des Staates
verstößt, das Gastrecht des fremden Landes genieße, Freiheit der Person.
Sicherheit seiner Habe, gleiches Recht mit den Bürgern des Landes. Nur
für gewisse Classen von Criminalverbrechen, welche in der ganzen civilisir-
ten Gesellschaft ebenmäßig verurtheilt werden, haben unsere Culturstaaten
vorsichtige Ausnahmen von dieser Regel zugelassen. Solche Auslieferung
Einzelner, welche gewisse schwere Verbrechen begangen haben, geschieht
nur unter bestimmten Vorsichtsmaßregeln. Eifersüchtig aus ihre Hoheits-
rechte wachen auch kleine Staaten mit Tapferkeit darüber, daß dieses Aus'
lieferungsrecht nicht von einer heischenden Regierung für politische Par-
teizwecke gemißbraucht werde. Männer, welche an der Grenze die Waffen
niederlegen und unbewaffnet preußisches Gebiet betreten, haben gegen unsere
Gesetze in keiner Weise gefrevelt. Sie haben Anspruch darauf, unter dem
Schutz dieser Gesetze zu stehen und darnach behandelt zu werden. Die Würde
des Staates verlangt, daß er ihnen unparteiisch den ganzen Schutz seiner Ge¬
setze gewähre. Jetzt aber sollen preußische Truppen dazu gebraucht werden, um
die gehässigsten Dienste russischer Gensdarmen zu verrichten, die Uebergetretenen
an ihre unmenschlichen Verfolger auszuliefern. Ja noch mehr, die Zeitungen
melden übereinstimmend, daß sogar durchreisende Polen, welche aus andern
Ländern kamen, im Frieden und ohne Waffen, nur wegen der Absicht nach
Polen zu reisen, von preußischen Militärbehörden als Verbrecher an die Russen
ausgeliefert worden sind. Eine solche demüthigende und gegen alle Humanität
streitende Willfährigkeit ist nicht mehr Freundschaft gegen den benachbarten
Staat, es ist ein Aufgeben des nationalen Stolzes. Und dieses Uebersehen
der Staatsehre und Staatswürde wird dadurch nicht geringer, daß der un¬
geheure Apparat dreier Armeecorps deshalb in Bewegung gesetzt worden
>se. Niemals dürfen auch früher mit Nußland aus weit andern Ruck-
sichten abgeschlossene Auslieferungsverträge in so willfähriger Weise gedeutet
werden.
Die Superiorität, welche diese Maßregel anderen fremden Mächten gegen
Preußen gegeben hat, wird von dem preußischen Volk bereits mit tiefer
Scham empfunden, Selbst das Eine vermochte Herr von Bismarck nicht, was
man von dem früheren Gesandten in Paris als selbstverständlich erwarten
durfte, er vermochte nicht, sich ein Urtheil über die Stellung des Kaisers Na¬
poleon zu der Convention zu bilden. Der Kaiser, dem die polnische Jnsurrection
an sich betrachtet in diesem Augenblick nur Bedeutung hatte, insofern sie die
Nüssen engagirte. konnte keine willkommenere Gelegenheit erhalten, den populären
Stimmungen seines Volkes nachzugeben, die Aufmerksamkeit von Mexico abzu¬
ziehen, sich ohne jede Gefahr liberal zu erweisen und Preußens Ansehn durch
Aeußerungen der eigenen Humanität und Mäßigung hcrabzudrMen. Daß
die Partei des Herrn v. Bismarck die sittliche Empörung des gesammten
Europas über diese Convention nicht sehr schmerzlich empfindet, durfte
nicht auffallend sein, sie ist in der letzten Zeit an jede Art von mißachtenden
Urtheil gewöhnt worden. Daß man aber in Berlin keine Ahnung davon hatte,
wie diese außerordentliche und leidenschaftlich erklärte Hinneigung zu Nußland
den Westmächten allerdings Veranlassung zu Einmischungen gibt und wie sie
das Gefährlichste für Preußen heraufbeschwört, eine Tripleallianz zwischen
Frankreich, England und Oestreich, daß man von dieser Gefahr beim Abschluß
der Convention gar keine Ahnung hatte, ist sehr seltsam, und man ist wohl zu
der Ansicht berechtigt, daß es auf diese Weise in Preußen nicht mehr lange
fortgehen kann.
Es ist die Annahme glaubhaft gemacht worden, Herr v. Bismarck habe
vor Abschluß der Convention nichts davon gewußt. Diese Annahme ist wenig¬
stens nicht ganz begründet. Es ist möglich, daß der Plan zur Convention in
militärischen Kreisen gefaßt wurde, denen die Erinnerung an Paraden preußischer
Garden unter Kaiser Nikolaus mehr die Seele füllte, als die Rücksicht auf
Wohl und Wehe preußischer Grenzdörfer; aber gewußt hat Herr v. Bismarck
jedenfalls von der großen Action noch vor ihrem Abschluß. Dagegen wäre es
ungerecht, ihm zur Last zu legen, was hier und da in der Presse über die ge¬
heimen Artikel des Vertrages verlautet, über noch geheimere Intentionen der
Regierung und über vertrauliche Aeußerungen, die der offenherzige Minister¬
präsident hier und da ausgestreut habe. Es sei eine große Angelegenheit, un¬
gewöhnliche Vortheile stehen in Aussicht, die vierte Theilung Polens, Warschau
u. s. w. Wie viel man seinen Gegnern auch von geistvollen Einfällen zutrauen
möge, solches Schulknabengeschwätz sollte man preußischen Ministern nicht nach¬
sagen und wenn sie noch so sehr unsre Gegner sind. Denn dergleichen Pläne
in der gegenwärtigen traurigen Lage des preußischen Staates in Angriff zu
nehmen und darum mit Nußland Verträge abzuschließen, wäre zwar an sich
nur eine sehr unnütze Stilübung; von solchen abenteuerlichen Operationen aber
gegen Andere zu sprechen, wäre nicht nur eine Verletzung der Amtsverschwiegen¬
heit, sondern auch eine Sottise.
Allerdings ist jetzt, wo der größte Staat Deutschlands eine Demüthigung
erleidet, welche die Anhänger Preußens auch unter dem gegenwärtigen Ministe¬
rium sür unmöglich gehalten hätten, durchaus nicht an der Zeit, weder in Ver-
trägen noch in der Presse über die Zukunft Warschaus zu verhandeln. Und
deshalb wird hier nur kurz als eine bescheidene Meinung ausgesprochen, daß
Warschau, welches vor 300 Jahren eine deutsche Stadt war, vor 63 Jahren
eine preußische Stadt war, in irgend einer Zukunft wieder einmal eine deutsche
Stadt sein wird. Die Deutschen aber stehen zu dem polnischen Wesen so, daß
sie kaltblütig- erwarten müssen, bis ihre Pioniere, die vordringende Pflug-
schaar. der Webstuhl und die Druckerpresse ihre geräuschlose und unwiderstehliche
Arbeit vollständig gethan haben. Wer den wilden Birnbaum Polen schütteln
will, bevor seine Früchte gereift sind, der wird sich umsonst die Sehnen der
Arme zerreißen, die gereifte Frucht fällt bei leichter Berührung in die Hand.
Es hat noch Zeit, bis es soweit kommt. Vorläufig braucht Preußen wenig¬
stens zehn friedliche Jahre, bevor die Hauptarbeit in der Provinz Posen ge¬
than ist.
Es ist keine ganz unberechtigte Annahme, daß in irgend einer Zukunft
Warschau eine dauerhafte deutsche Stadt sein wird. Ob dann der schwarze Adler
von Preußen über dem weißen Adler schwebt oder ein anderes Wappenbild,
das wird unter Anderen auch davon abhängen, wie schnell und wie gründlich in
Preußen die persönliche Negierung mit der parlamentarischen vertauscht wird.
Zwei Vortrüge, in wclckcr der zu früh für die Kunst und Wissenschaft ver-
storbene Gelehrte seine Ansicht über die in jüngster Zeit viel besprochene Frage in
Betreff des Wesens und der Bestimmung der Kunstakademien niedergelegt hat. Fer¬
ner eine Rede über den Zusammenhang der Baukunst mit staatlicher Entwicklung,
eine andere über das Berliner Schauspielhaus, eine dritte über den großen Kur»
fürsten und Friedrich den Ersten in ihrer Stellung zum preußischen KunstleVcn, ein
Vortrag über die Thätigkeit des letztverstorbenen Königs für dasselbe, einer über die
heilige Familie im Verlauf der italienischen Malerei, endlich ein Blick auf Palermo
vom Standpunkt der Kulturgeschichte. Wir können auf die einzelnen Gedanken, die
hier entwickelt sind, nicht nüber eingehen und bemerken nnr, das; in diesen Vortrügen
ein Geist von edelstem Streben, freiestem Sinn und feinster Bildung zu uns redet
und daß in denselben Belehrung und Genuß in anmuthigster Harmonie verschmol¬
zen sind, womit wir das Buch alle» Freunden der Kunst warm empfohlen haben
wollen. Vollständig unterschreiben wir, was der Verfasser gegen den rohen Realis¬
mus sagt, wenn wir im zweiten Vortrag über die Kunstakademie lesen- „Wenn die
Akademien die Aufgabe haben, das gesammte Material des Wissens und des Kön¬
nens dem Künstler darzubieten, dessen er zu seiner tüchtigen Ausbildung bedarf, so
haben sie auch andrerseits Bedacht darauf zu nehmen, ihm die geistigen Schatze
der Vergangenheit zugänglich zu machen, damit er das letzte Ziel künstlerischer Thä¬
tigkeit erfüllen könne, welches nicht darin liegt, die Wirklichkeit und die Dinge so
wie sie sind, so getreu als möglich nachzubilden, sondern sie Poetisch zu ver
edeln und zu verklären."
Allen Gesinnungsgenossen d. Bl. angelegentlich zu empfehlen, desgleichen den
Gegnern, welche die Wahrheit noch hören wollen. Der Verfasser stellt sich die Auf¬
gabe, erstens das zu einem Urtheil über die Zollvcreinsfrage nothwendige thatsäch¬
liche Material auch dem großern Publicum zugänglich zu machen, zweitens für die
mit Rücksicht auf den wahren Vortheil Deutschlands allein wünschenswerthe Lösung
dieser Frage nach Kräften mitzuwirken. Dem ersten Theil dieser Aufgabe sind die
ersten drei Capitel gewidmet, welche in klarer allgemein verständlicher Sprache zu¬
nächst die Geschichte des Zollvereins bis zur jetzigen Krisis erzählen, dann die Ent-
wickelung von Handel und Gewerbthätigkeit in demselben betrachten und schließlich
die finanziellen Ergebnisse des Vereins und die Vertheilung der Einkünfte desselben
ins Auge fassen. Die folgenden Abschnitte zeigen zuvörderst, was an der Organi¬
sation des Vereins von Anfang an mangelhaft gewesen oder durch die seitherige
Entwickelung mangelhaft geworden ist, schildern dann die gegenwärtige Krisis und
werfen zum Schluß einen Blick in die Zukunft. Wir stimmen allen diesen Aus¬
führungen im Wesentlichen bei. Namentlich unterschreiben wir Alles, was der Ver¬
fasser über Oestreichs Stellung zu der Frage bemerkt, wenn er sagt: „Allen Respect
vor den Fortschritten, welche Oestreich in seiner innern Verwaltung neuerdings
gemacht hat. Aber wer aus dem zweifelhaften Aufleben einer kräftigen und liberalen
innern Politik des Kaiserstaates darauf schließen wollte, daß derselbe nun auch in
der äußeren Politik aufhören werde, der Hemmschuh der deutschen Entwickelung zu
sein, der würde in einem großen Irrthum befangen sein. Der Argwohn liegt nahe,
daß Oestreich sich in den Zollverein stürzen will, um mit feinen Würzburger Bun¬
desgenossen der 'handclsfrcihcitlichen Entwickelung Deutschlands ein stets wirksames
Halt entgegenrufen zu können. Freilich noch näher liegt der Argwohn, daß Oestreich
selbst weder daran denkt, noch es wünscht, daß seine Vorschläge überhaupt nur ernst¬
lich in Betracht gezogen werden." Diese Gedanken sind eben nicht neu, am wenig-
sten den Lesern d. Bl. Aber sie können nicht oft genug wiederholt werden, und so
legen wir sie sammt ihrer Begründung in der Schrift den Zweifelnden wie den im
Gegentheil Befangnen nochmals zur genauen Betrachtung ans Herz.
Gute populäre Darstellung der Hauptschlachten des großen Krieges, die sich
besonders dadurch vor ähnlichen Arbeiten auszeichnen, daß der Verfasser (er ist mehr
Geograph als Historiker) den lokalen Bedingungen, unter denen diese Schlachten
geliefert wurden, ausführlich und nach eigener Anschauung Berücksichtigung ange-
deihen läßt. Die Beschreibungen der Schlachtfelder von Prag, Collin, Roßbach,
Cunersdorf und Torgau sind vorzugsweise zu loben.
Zweck des Werkes ist, dem gebildeten Publicum ein Buch zu liefern, das,
zwischen Johannes v. Müller sowie ähnlichen gelehrten Historikern und bloßen Ab¬
rissen die Mitte haltend, Schweizern „die Geschichte des Vaterlandes zur Belehrung
und Warnung vorführt." In der neuen Bearbeitung ist zunächst der Stoff
Passender und übersichtlicher geordnet. Dann befolgte der Herausgeber den lobens-
werthen Grundsatz, die Thatsachen für und durch sich selbst sprechen zu lassen, und
so schied er an mehren Stellen Hinweisungen auf Ereignisse späterer Zeit und Ver¬
gleiche mit denselben aus, und dasselbe geschah mit Betrachtungen, die auf die
Frage hinausliefen, was bei dem oder jenem Ereignisse unter etwaigen günstigeren
oder ungünstigeren Bedingungen geschehen sein würde. Die Eintheilung in Perioden
geht von der Absicht aus. durch die Arbeit die Entwickelung der Eidgenossenschaft
als eines selbständigen Staats darzustellen. In Betreff der Entstehung und Berech¬
tigung des Bundes der Urschweiz und deren Verhältniß zum Habsburgischen Hause
folgt der Herausgeber der Ueberzeugung, daß das schon unter König Rudolf begin¬
nende Streben, Rechte des deutsche» Reichs in Habsburgische Erbherrschaft umzu¬
wandeln, ein Streben, das besonders im dreizehnten Jahrhundert auch in andern
Gegenden des Reichs die Bildung geschlossener Territorien bewirkte, zur Entstehung
des Schweizcrbundcs die Veranlassung gegeben hat. Die vorliegenden Bände erzählen
tue Geschichte der Eidgenossenschaft bis zur Feststellung der neuen Verfassung. Eine
sehr dankenswerthe Beigabe ist das angehängte ausführliche Inhaltsverzeichnis).
Von Kobersteins Grundriß der deutsche» Na ti o n al l i t e r a tur,
vierte, größtentheils völlig umgearbeitete Auflage (Leipzig, F. Eh. W. Vogel) liegt
die vierte Lieferung des dritten Bandes, Bogen 160 bis 172, vor. Ueber den
Werth des Ganzen haben wir uns wiederholt ausführlich geäußert, und könne» wir
die frühere warme Empfehlung hier nur wiederholen.
Das Januarheft des Sammelwerks „das Staatsarchiv. Sammlung der
officiellen Actenstücke zur Geschichte der Gegenwart. Herausgegeben von L. K. Aegidi
Und A. Klauhold. Hamburg, O. Meißner" enthält zunächst die neueste preußische
und die französische Thronrede, dann das ExposS über die auswärtigen und nommer«
ä'eilen Angelegenheiten, welches am 12. Januar d. I. den, Senat und dem gesetz-
gebenden Körper Frankreichs vorgelegt wurde, endlich alle bekannt gewordenen Acten-
stücke, welche in Betreff der italienischen Frage vom 20, Mai 1862 bis zum Z. Ja¬
nuar 1863 zwischen Paris und Rom, Paris und Turin und Paris und London
gewechselt wurden. In Kurzem erscheint ein Heft, welches die neueren Noten und
Depeschen in der deutsch-dänischen Angelegenheit entHallen soll. Wir empfehlen das
Unternehmen, namentlich auch weil die Herausgeber sich bemühen, die betreffenden
Actenstücke so rasch zu bringen, als es die Natur ihrer in monatlichen Heften er¬
scheinenden Sammlung erlaubt.
Vielleicht gut zur Unterhaltung, aber sicher nicht zur Belehrung; denn der
Verfasser hat sein Buch ohne Kenntniß der neuern Forschungen compilirt, und diese
sind auch bei derartigen populären Schriften zu berücksichtigen. Die Abbildungen
sind hübsch. Nicht dasselbe läßt sich von denen sagen, welche dem im gleichen
Verlag und von demselben Verfasser erschienenen Bändchen „Friedlich Schiller. Sein
Leben und Wirken" beigegeben sind.
Schriften aus dem Nachlaß Ritters bedürfen keiner Empfehlung. Es genüge
daher zu bemerken, daß das Ritterschc Manuscript von dem Herausgeber mit aka¬
demischen Heften verglichen, sonst aber mit keiner Zuthat, wie sie die Ergebnisse
neuerer Untersuchungen hätten bieten können, versehen wurde. Der Inhalt umfaßt
nach einer Einleitung über die Erde als Wohnplatz der Menschen, Begriff, Zweck
und Quellen der Geographie und Hülfswissenschaften derselben, in drei Abschnitten
die Grundzüge der vergleichenden Erdkunde. Die erste Abtheilung behandelt die
Erde als planetarisches Individuum in ihren allgemeinen Obcrflächenvcrhültnisscn,
die Nundung der Erde, die Vertheilung von Luft, Wasser und Land über den Erd¬
ball, den Gegensatz der Land- und Wasser-Halbkugel, dann (ein Capitel reich an
glänzenden Gedanken) die Weltstellung der Erdtheile und deren Einfluß ans den
Entwickelungsgang der Geschichte, endlich das historische Element in der geographi¬
schen Wissenschaft (ebenfalls ein Capitel reich an höchst geistvollen Reflexionen über
die Wechselwirkung, die Erde und Menschheit, Natur und Geist auf einander üben,
über Europas Weltstellung und über die Perfectibilität des Erdballs). Der zweite
Hauptabschnitt betrachtet sodann die Erdoberfläche genauer nach ihren Plateaus
erster und zweiter Höhe oder Größe, ihren Gebirgen und deren Entstehung, >H"'N
Niederungen, Einsenkungen und Tiefländern, endlich nach ihren Strömen und dem
System derselben. Die dritte Abtheilung führt uns die Konfiguration der Erd¬
theile, die horizontale Gliederung derselben, die Inseln vor Augen, schildert in
großen Zügen die horizontalen Dimensionen der alten Welt und schließt mit einem
Blick auf die neue Welt von demselben Gesichtspunkt aus.
Wenn wir irgend ein polnisches Blatt lesen, einen polnischen Redner
hören, gleichviel welchen, denn sie haben nur ein Lied, so begegnet uns die
Klage: in der wiener Schluhacte vom 9. und 15. Juni 1815 und in dem
Besitznahmepatent und der sie begleitenden Proclamation vom 15. Mai 1815
sei klar und bestimmt zwischen dem „Großherzogthum Posen" und der Krone
Preußen eine bloße Personalunion geschlossen. Außerdem aber seien den Polen
bestimmte Verheißungen in Bezug aus Wahrung ihrer Nationalität und Sprache,
auf ihren Zutritt zu den Siaatsämtern. auf das beständige Amt eines polni¬
schen Statthalters und auf den Schutz ihrer Religion und Kirche gegeben, und
diese Verheißungen seien unerfüllt geblieben, das Völkerrecht verletzt, das ihrige
mit Füßen getreten worden.
Diese Anklagen nöthigen mich, die Besitzcrgreifungsverhandlungcn, sowie
das Benehmen des Staats gegen die Provinz zum Gegenstände eines beson¬
dern Briefes zu machen und darin Einiges ausführlicher mitzutheilen.
Man möge über das Verfahren König Friedrich Wilhelm des Zweiten bei
der zweiten Theilung Polens so hart urtheilen, wie man kann, 1815 hatte
Friedrich Wilhelm der Dritte die Provinz Posen in gutem ehrlichen Streit
erworben; es stand das Recht der niedergeworfenen Empörung, sowie das der
Eroberung auf seiner Seite. Noch mehr: was die Polen unter Kosciusztos
Führung an öffentlicher Achtung und Theilnahme gewonnen hatten, tels hatten
sie durch die hündische Weise — das Wort ist nicht zu start — in der sie
sich an die Fersen Napoleons hefteten und unter seiner Führung wider edlere,
freiheitsliebende Völker kämpften, verwirkt. Nie waren sie in Europa geringer
geachtet, als damals, wo Talleyrand schrieb: die polnische Frage sei nur eine ein¬
fache Angelegenheit der Theilung und der Grenzbestimmungen, welche die dabei
tnteressirten Staaten unter sich abzumachen hätten, für Frankreich, für ganz
Europa habe sie nur geringes Gewicht. Lord Castlereagh, auf den Graf
Czicszl'owski sich sonst so gern beruft und dessen Noten er zu Gesetzen erheben
möchte, durch welche wir gebunden wären, schrieb im October 1814. daß er
nicht begreife, warum Preußen nicht auf Kosten eines Feindes schadlos gehalten
werden solle, der, nach den Principien des Völkerrechts die Gesammtheit seiner
politischen Rechte eingebüßt habe.
Nur Kaiser Alexander zeigte Sympathien für die Polen; aber nicht nur
der Freiherr v. Stein trat ihm entgegen, sondern selbst sein eigner Minister
Pozzo ti Borgo: „Sind die Polen." sagte dieser, „so gut für eine freie Ver¬
fassung vorbereitet, warum haben sie denn bei Bonaparte keine Schritte gethan,
sich als Nation zu stellen, sondern nur als französisches Militärdepartement?
Weshalb haben sie gar keine» Widerwillen gezeigt, zu marschiren, um die
Spanier zu morden, und Feste und Gelage an-urichten, jedesmal wenn ein
Regiment nach den Pyrenäen zog? Die Polen fordern nicht ihre Befreiung,
sondern ihre Selbstherrschaft, nachdem sie Madrid verwüstet und Moskau ver¬
brannt haben. Sie declamiren Dramen über ihr Unglück, und doch ist ihr
Loos kein anderes, als was alle Völker, die sich so betragen, getroffen hat."
(Pertz, Stein IV. S. 184.)
In dieser Stimmung gegen die Nation ging man an die Arbeiten des
Congresses. Es handelte sich nur darum, die Modalitäten zu finden und zu
bestimmen, welche dem Frieden und der Ruhe der Staaten die möglichste Dauer
geben würden.
Die Arbeit, die einzelnen Bestimmungen der Verträge in Betreff unserer
Provinz zu analysiren, ist nicht so leicht, wie sie Graf Czieszkowsli und die
Zierde des polnischen Junkcrthums, Herr Referendarius Dr. V. Niegolcwski,
nehmen. Es gehört dazu, daß man auf den Text des Friedens von Tilsit
zurückgehe, daß man diejenigen Paragraphen hübsch mitlese, welche die andern
preußischen Erwerbungen angehen, daß man endlich auch das Datum der ein¬
zelnen Acte u. s. f. beachte. Wir haben auf preußischer Seite drei ganz vor¬
zügliche Darstellungen des Sachverhaltes. Mit der Schärfe eines genialen
Militärs, der ernstem Nachdenken nicht aus dem Wege geht, hat der damalige
Major, jetzige General, v. Voigts - Nhetz, der bedeutendste Schriftsteller in
unseren Provinzialangclegenheiten, im Jahre 1849, wo er Mitglied der ersten
Kammer war, eine Denlschnft über die politische Stellung der Provinz Posen
zur preußischen Monarchie und die nationale Berechtigung ihrer polnischen
Bewohner, nach staatsrechtlichen Urkunden und officiellen Documenten als
Manuscript drucken lassen. In der Weise eines wohlmeinenden Patrioten hat
sich „ein früherer Abgeordneter der Provinz Posen", in welchem man den
General v. Ölberg zu errathen glaubt, seiner früheren Mandanten in einer
schon erwähnten Schrift „Das Großherzogthum Posen und die Polen" (1861)
»»genommen, in deren erstem Abschnitt er die Voigts - Rhei?schen Nachweisungen
Popularisirt. Endlich hat in demselben Jahre der Geheime Regierungsrath Noels
mit objectiver Ruhe „Die staatsrechtliche Stellung der Polen in Preußen" in
einer mehr wissenschaftlich gehaltnen Broschüre untersucht. Von den gegneri¬
schen Schriften sind die Deutschen Glossen zu einem polnischen Texte (Posen,
Merzbach 18S9) hervorzuheben, welche die Verlorne Sache nicht ohne Scharfsinn
und mit anerkennenswerther Mäßigung führen.
Die Congreß-Haupt-Acte vom 9. Juni 1815 sagt:
Artikel 1. I^es ?vlcmiu,-, suMs rsspeetiks 6s I» ilillLÄe, as 1'^.utrivKö
''t c!s In ?lui-8ö obtiouäront uns rexi^Leutatioll se des institutions ug-dio-
>mios reglss» d'apiss 1s moi!^ ä'sxi»thu>.s politiius, ^ils edacun clss
8« nvsrnsmsirts, g.ux qusls ilsz uiipartiennsut, ^jugsra utits
et souvsnlrdls as Isur avsoräsr.
Es sollte jedem schwer werde», nachzuweisen, daß dieses überaus mäßige
Versprechen nicht bereits durch die Einrichtung der Prov.-Landtage 1823 erfüllt
worden sei.
Artikel 2: ig. xartie an äueve as Varsovis one L. N. le roi cle?russs
p»»8v<ZsrÄ> toute LouvviÄiuets et proxriets poa- Im et ses sueevsssm-s
!-i»Uiz le; titre as grana-cluelr6 as ?osen-
Der Artikel 23 lautet:
La Uf^ches Is roi as ?russo, etant rsutrs, pg.r uns suite as Ix».
«Isrnisrs guerrs en posssssiou as pIuZieur» proviuess se tsrritoirss eini
ti.VÄient ete ceäss p^r la xmx as liti-it, it est reconnu se äselAie par 1s
pre-zend article- czsue L. N., Los lieritisrs et suceesLeurs pvs-zöäerout as
nouveim soiume g.uperravgnt su tondo Louverniusts se proprists iss
Sllivtintz, s»voir: 1» pavtie as ses auoienves proviuevL poloumses, affig-
»Sö ü. l'anticis II, I» ville as vient^ik se sou tsrritoirs est in'ä -r 6t6
Kxs pur 1s ti'glee as 1'it->it, Is esrels as Oottbus etc., dann heißt es: Art. 24:
L- !s roi as krussv röuwr» Z, s» mooarcdie su ^Ilemagns, su asch, an
^nan ste.
Nun bitte ich Sie. sehen Sie sich diese Paragraphen recht genau an. Sie
send ein Zauberspiegel, desto reicher, je länger man hineinblickt, und wenn Herr Re¬
ferendar v. Niegolcwski sich so recht hinein vertieft hat, so sieht er sich wieder als
Wojcwvre». zu seinen Füßen leibeigene Bauern, auf seiner Tafel Fülle des
holden Ungartrankes, seine Wojts den freien Kurbacz über Mädchen schwin¬
gend, ohne daß lästige Kreisgerichte sie bei dieser harmlosen und anmuthigen
"ltpolnischen Arbeit stören.
Daraus, daß die alten Provinzen nur rsntrent en xo^esLioii, während
von den neuen gesagt ist. Is roi Iss rsunirg. K, sa, moral-elrie, folgt doch für
jedes nicht im preußischen Solde stehende Auge die reine Personalunion. Wie
Schade, daß bei jenem Paragraphen neben dem possöckeront das lästige comme
auparavant steht, welches auf deutsch heißt, wie vor dem Fried en v on Til¬
sit, und daß der Schluß des Artikels 23 dies noch ganz ausdrücklich aussvncht.
Der König besitzt die bezeichneten Länder ii. tons les autres etions «u pi-e-
tevtivns ciuelcvnciues, czus 8. N. xrussienne g. xc>shea16s et exerees g-vaut
Ill puix cke ?i1.<it et auxquels eile i>'l>, powt renonce par ä'-rudi-es traites,
sedes on evnveutions. Und vor 1807 hat wohl Niemand an eine Personal¬
union gedacht. Wie Jammerschade, daß Art. 42 den Erwerb von Wetzlar
ähnlich wie den von Posen beschreibt: 1a ville ne ^Vet^I^r -rvee son teiritoiie
passe en wuto propriete et souveiainetö Z. La N^. 1e roi as?russe, und
daß Bürgermeister und Rath v. Wetzlar bis jetzt versäumt haben, ihre Perso¬
nalunion mit der Krone Preußens geltend zu machen. Wie sehr bedauerlich,
daß sich aus dem Stil sämmtlicher 121 Artikel — freilich, wer wird die auch
lesen? — beweisen läßt, daß die Stilisten des Vertrages den verschiedenen
Wendungen keinen andern verschiedenen Sinn gaben, als daß sie für die wieder
erworbenen und für die neu erlangten Besitzthümer je eine Hauptgruppe von
Phrasen haben. Aeußerst traurig und beklagenswerth endlich, daß vollends die
Schlußacte dem preußischen König am Ende von Artikel 25 ausdrücklich den
Titel eines Großherzogs von Niederrhein, nirgends aber den eines Großherzogs
von Posen beilegt.
Diesen hat sich Friedrich Wilhelm der Dritte selbst gegeben, natürlich ohne
dabei im Entferntesten den Gedanken einer Personalunion im Sinne zu haben.
Mit seltner Konsequenz hat die Regierung diesen ihren Standpunkt von 1816
bis 1862 festgehalten. Ohne den Schluß des wiener Kongresses abzuwarten,
nahm der König Besitz von seinem Lande und erließ am Is. Mai 1815 das
folgende Patent:
Wir Friedrich Wilhelm von Gottes Gnaden, König von Preußen u. s. w.
Vermöge der, mit den, am Kongreß zu Wien Theil nehmenden Mächten
geschlossenen Uebereinkunft sind mehre Unserer frühern polnischen Besitzungen
zu Unsern Staaten zurückgekehrt. Diese Besitzungen bestehen in dem zum
Herzogthum Warschau gekommenen Theile der preußischen Erwerbungen vom
Jahre 1772, der Stadt Thorn mit einem, für dieselbe neu bestimmten Gebiet,
in dem jetzigen Departement Posen, mit Ausnahme eines Theils des powitzschen
und des pcysernschcn Kreises; und in dem, bis an den Fluß Prosna belegnen
Theil des täuschen Departements, mit Ausschluß der Stadt und des Kreises
dieses Namens.
Von diesen Landschaften kehrt der knien- und michelausche Kreis in den
Grenzen von 1772, ferner die Stadt Thorn nebst ihrem neu bestimmten
Gebiet zu Unserer Provinz Westpreußen zurück, zu weicher auch, wegen des
Strombaus, das linke Weichsclufer, jedoch blos mit den unmittelbar an den
Strom grenzenden oder in dessen Niederungen befindlichen Ortschaften gelegt
wird.
Dagegen vereinigen wir die übrigen Landschaften, welchen wir von West-
Preußen den jetzigen croneschen und kaninschen Kreis als ehemalige Theile
des Netzdistrictes. hinzufügen, zu einer Provinz und werden dieselben unter
dem Namen des Großherzogthums Posen besitzen, nehmen auch den Titel eines
Großherzogs von Posen in Unseren Königl. Titel und das Wappen der Pro¬
vinz in das Wappen Unseres Königreichs auf.
Indem Wir Unserem Gcncrallieutcnat v. Thumm den Befehl gegeben
haben, den an Uns zurückgefallenen Theil Unserer früheren polnischen Provinzen
mit Unseren Truppen zu besetzen, haben Wir ihm zugleich aufgetragen: den¬
selben in Gemeinschaft mit Unserem, zum Oberpräsidenten des Großherzogthums
Posen ernannten wirklichen Geheimrath v. Zerboni ti Sposetti förmlich in
Besitz zu nehmen. Da die Zeitumstände es nicht gestatten, daß Wir die Erb-
huldigung persönlich empfangen, so haben Wir den zu Unserem Statthalter
im Großherzogthum Posen ernannten Herrn Fürsten Anton Radziwill Liebden
ausersehn und ihn bevollmächtigt, in Unserem Namen die deshalb nöthigen
Verfügungen zu treffen. Des zu Urkund haben Wir dies Patent eigenhändig
vollzogen und mit Beidrückung Unseres Königlichen Jnsiegels bekräftigen lassen.
Dieses Patent, sowie die dasselbe begleitende Proclamation wurden in die
preußische Gesetzsammlung (1815, VII. Ur. 277.278.) aufgenommen; die wiener
Verträge nicht.
Daß der König zum Behufe der Organisation einen besondern Statthalter
ernennt, daß er diesen, sowie den Oberpräsiventen aus den Provinziellen
wählt, ist um so unversängliebcr. als auch alte Provinzen — wie Pommern
^ ihre Statthalter haben. Wichtig ist. daß er die neue Erwerbung selbst
als eine Provinz bezeichnet, daß er Titel und Wappen derselben seinem Titel
u»d dem Wappen seines Königreiches nicht beifügt, sondern in dasselbe auf¬
nimmt. Entscheidend und jeder Vorstellung von einer Personalunion absolut
widerstrebend ist das Arrangement, vermöge dessen er Theile der neuen Pro-
v>nz an Westpreußen verweist. Westprcußischcs in dieselbe aufnimmt. Dies
Verfahren wiederholte er noch 1818. wo Schermeisel und Grechow zur Provinz
Brandenburg geschlagen wurden. Die königliche Proclamation an die Ein¬
wohner des Großherzogthums Posen lautete:
Einwohner des Großherzogthums Posen!
Indem Ich durch Mein Besitznahmepatcnt vom heutigen Tage denjenigen
Theil der ursprünglich zu Preußen gehörigen, an Meine Staaten zurückgefallnen
Districte dos bisherige» Herzogthums Warschau in ihre uralten Verhältnisse
zurückgeführt habe, bin Ich bedacht gewesen, auch Eure Verhältnisse fest¬
zusetzen. Auch Ihr habt ein Vaterland und mit ihm einen Beweis Meiner
Achtung für Eure Anhänglichkeit an dasselbe erhalten,
Ihr werdei Meiner Monarchie einverleibt, ol'ne Eure Nationalität
verläugnen zu dürfen.
Ihr werdet an der Constitution Theil nehmen, welche Ich Meinen Unter¬
thanen zu gewähren beabsichtige, und Ihr werdet, wie die übrigen Pro¬
vinzen Meines Reichs eine provinzielle Verfassung erhalten. Eure Reli¬
gion soll aufrecht erhalten und zu einer standesmäßigen Dotirung ihrer Diener
gewirkt werden.
Eure persönlichen Rechte und Euer Eigenthum kehren wieder unter den
Schutz der Gesetze zurück, zu deren Berathung Ihr künftig zugezogen wer¬
den sollt.
Eure Sprache soll neben (poln, hieß es od»K, an der Seite) der deutschen
in allen öffentlichen Verhandlungen gebraucht werden, und Jedem unter Euch
soll nach Maßgabe seiner Fähigkeiten der Zutritt zu den öffentlichen
Aemtern des Großherzogthums. sowie zu allen Aemtern, Ehren und Würden
Meines Reiches offen stehen.
Mein unter Euch geborner Statthalter (es ist eine bestimmte Person, der
Fürst Nadziwill, gemeint) wird unter Euch residiren. Er wird Mich mit Euren
Wünschen und Bedürfnissen, und Euch mit den Absichten Meiner Regierung
bekannt machen.
Euer Mitbürger, Mein Oberpräsident (wieder ist von einem schon bekannten
Manne, Zerboni, die Rede) wird das Großherzogthum nach den von Mir
erhaltenen Anweisungen organisiren und bis zur vollendeten Organisation in
allen Zweigen verwalten. Er wird bei dieser Gelegenheit von den sich unter
Euch gebildeten Geschäftsmännern den Gebrauch machen, zu dem sie ihre Kennt¬
nisse und Euer Vertrauen eignen.
Nach vollendeter Organisation werben die allgemein vorgeschriebnen Rcssort-
verhältnisse eintreten. Es ist Mein ernstlicher Wille, daß das Vergangene einer
völligen Vergessenheit übergeben werde. Meine ausschließliche Fürsorge gehört
der Zukunft. In ihr hoffe ich die Mittel zu finden, das über seine Kräfte
angestrengte tief erschöpfte Land noch einmal auf den Weg zu seinem Wohl¬
stande zurückzuführen.
Wichtige Erfahrungen haben Euch gereift. Ich hoffe auf Eure Anerken¬
nung rechnen zu dürfen.
Es findet sich in der Proclamation allerdings eine Verheißung, die ber
Lebzeiten Friedrich Wilhelm des Dritten unerfüllt geblieben ist, aber nicht der
Provinz Posen allein, sondern mit ihr der ganzen Monarchie. Für diese Nicht¬
erfüllung haben die beiden ältesten Söhne des verstorbenen Königs schwer gelitten
und sie haben aus freier königlichen Entschließung das väterliche Wort eingelöst.
Wir können also getrost sagen, kommt und sehet, ob die preußische Regierung
den Polen auch nur die kleinste von diesen Zusicherungen unerfüllt gelassen
habe. Am 8. Juni 181S wurde von dem Generallieutenant v. Thumm und
dem Oberpräsidenten v. Zerbvni eine besondere Urkunde über die Besitznahme
des an „Preußen" zurückgefallnen Theils des Herzogthums „Warschau" auf¬
genommen. In dieser hieß es:
„Wir erklären diese Landschaften und Districte für einen Theil der prcuß.
Monarchie und ihre Bewohner für Unterthanen Sr. Majestät des Königs von
Preußen."
Am 3. August 1815 fand sodann die Erbhuldigung Statt. Fürst Radzi-
will hielt vor derselben eine Ansprache. Er preist seine Landsleute glücklich,
daß sie nun einem Staatskörper einverleibt werden, dessen Ruhm
und Macht auf einer weise beschränkten Freiheit, aus einer unparteiischen Ge-
rechtigkeu und einer Alles umfassenden Fürsorge der Regierung beruhe. Er
verweist sie auf die preußischen Anstalten, an denen sie sich bilden könnten, und
schließt-.
„Die Vorzeit endlich hat Euch ein eigenthümliches Gepräge aufgedrückt.
Diese Eigenthümlichkeiten bestehen in Eurer Sprache, in Euren Gewohnheiten
und Euren Sitten. Diese Euch theuren Züge sollt Ihr behalten; denn Ihr
ererbtet sie von Euren Vätern.
Die neue Familie, die Euch unter sich aufnimmt, läßt sie Euch unan¬
getastet. Um so mehr muß die herzliche Innigkeit, mit der Ihr zu dem neuen
Beherrscher übergeht, fortwährend wachsen, weil Ihr Glieder seines Staates
werden kommt, ohne die Merkmale Eures Stammes aufzugeben.
Ihr kennt die Heiligkeit des Eides, kennt die Unverletzlichkeit der Pflichten,
die Ihr durch ihn übernehme, Zu diesem Eide fordere ich Euch jetzt auf.
Gelobet unverbrüchliche Treue dem besten der Könige mit aufrichtigen Herzen,
Verhaltet Euch endlich darnach und glaubet mit Zuversicht, daß des Königs
väterliche Fürsorge niemals von Euch weichen wird."
Darauf haben sie geschworen, Beamte, Geistliche, Rittergutsbesitzer, ohne
Protest, ohne irgend eine Einschränkung, unter einmüthigem Jubel. Die Eides¬
formel war genau die von 1796. Wir geben ihren Wortlaut in einem con-
"eden Beispiel. Das Protokoll über den Eid des gegenwärtigen Erzbischofs
von Posen, des Herrn v. Przylusti, lautete:
Ich Leo Przylusti gelobe und schwöre zu Gott dem Allwissenden und
Allmächtigen einen leiblichen Eid, daß ich dem Allerdurchlauchtigsten, Groß-
mächtigsten Fürsten und Herrn, Herrn Friedrich Wilhelm. König von Preußen,
Markgrafen von Brandenburg, Großherzig und rechtmäßigen, unmittelbaren
Landcserbherrn, dcsgl. Seiner Königl. Majestät dermaligen und künftigen
Herrn Söhnen. den Durchlauchtigster Fürsten und Herrn, dem Kronprinzen
Friedrich Wilhelm (folgt die Reihe der erbberechtigten Nachfolger irr exten?«)
eine rechte, wahre Erbhuldigung leiste, und verspreche ich Höchstgedachter Sr.
Mnigl. Majestät und Dero Königl. Erben und Nachfolgern zu allerzeit getreu,
gehorsam, gewärtig und unterthänig zu sein, Höchstdero Ehre und Bestes nach
äußerstem Vermögen fördern, Schaden und Nachtheil abwenden, die Meinigen,
sowie meine Untergebnen dazu anhalten und weder gegen Se. Königl. Majestät,
Dero Königl. Haus, Land, Armee und sonstiges Allerhöchstes Interesse etwas
Nachtheiliges vornehmen, noch mit Seiner Königl. Majestät Feinden
das geringste Verständniß haben, auch nicht dulden zu wollen, daß gegen
diese Verpflichtung von einem Andern gehandelt werde und auf diese Weise
mich so zu verhalten, wie es treuen Vasallen und Unterthanen gegen ihre
rechtmäßige Landesherrlichkeit überall gebühret. So wahr mir Gott helfe durch
seinen Sohn Jesum Christum, die übergebcnedcite, von der Erbsünde unbefleckte
Jungfrau und Mutter Gottes Maria und alle liebe Heilige.
Vorstehenden Eid habe ich bei der Erbhuldigung am 3 August 1815 für
Leo Przylusli, Kan. K. Prz.
Bald nach der Uebernahme trug sich ein interessanter Zwischenfall zu.
Der Oberpräsident v. Zerbvni hielt nach gemachten Erfahrungen den obigen
Eid nicht für bindend genug. Er setzte also für die polnischen Beamten noch
folgenden Revers auf, den sie nach geleisteten Schwüre vollziehen sollten:
„Ich Endesunterzeichneter bekenne hierdurch feierlich und öffentlich, daß ich
ungezwungen in die Dienste Sr. Majestät von Preußen, meines Allcrgnädigsien
Herrn, getreten bin und den mir vorgelegten Diensteid freiwillig und ohne
Reservation geschworen habe.
Ich erkenne Se. Majestät den König von Preußen als den einzigen recht¬
mäßigen Souverän dieses Landes und den Antheil von Polen, welcher durch
den Congrch zu Wien dein königlich preußischen Hause wieder zugefallen ist,
als mein Vaterland, das ich gegen jede Macht und gegen Jedermann, wer es
auch sei, unter allen Umständen und Verhältnissen mit meinem Blut zu ver¬
theidigen verpflichtet und bereit bin.
Ich gelobe Sr. königlichen Majestät von Preußen und Höchstdero Hause
die unverbrüchlichste Treue, die gewissenhafteste Erfüllung der von mir über¬
nommenen Dienstpflichten und einen unbedingten Gehorsam.
Für die Erfüllung dieser Gelübde verpfände ich meine Ehre und will
für einen ehrlosen Mann und für einen Verräther an meinem Vaterlande
und meiner eignen Nation gelten, wenn ich dies mein Versprechen breche."
In der That haben einige Personen den Revers unterzeichnet. Der Graf
Czieszkowski aber hat aus dieser wohlgemeinten Taktlosigkeit eines seine Be¬
fugnisse überschreitenden Beamten Capital gemacht und in seiner bekannten „Zu¬
sammenstellung von Staats- und völkerrechtlichen Urkunden, welche das Ver¬
hältniß des Großherzogthums Posen zur preußischen Krone betreffen. Nebst
einigen Erläuterungen" nicht nur aus dem Revers nach dem Eide den wirt¬
lichen Eid gemacht, nicht nur seine Freude bezeigt, daß hier endlich kategorisch
ausgesprochen ist, was eigentlich das Baterland der Bewohner des Groß-
herzogthums ist; sondern er hat auch diese Präsidialvervrdnuiig feierlich in
dn> „Cyclus der Staats- und völkerrechtlichen Urkunden, welche das Verhält-
niß des Großherzogthums Posen zur preußischen Krone feststellen" aufgenommen.
Hätte doch der gute alte Herr v. Zerboni diese Ehre erlebt; sie hätte ihn viel¬
leicht für den Aerger entschädigt, welchen ihm seine Eigenmächtigkeit verursacht
hat. Graf Czieszkowski weiß nämlich sehr gut, daß die Sache vor die Herren
v. Radziwiil und Hardenberg kam, daß diese ein Gutachten des höchsten Justiz¬
beamten der Provinz erforderten, daß darauf der Llppellationögerichtspräsident
von Schönermark am 20. Juli 1816 erklärte: „Die zweite Periode läßt den
Unterschreibenden den Antheil von Polen, welcher dem königlich preußischen
Hause zurückgefallen ist, als sein Vaterland anerkennen. Der Begriff des Vater¬
landes bezieht sich nicht auf einzelne Provinzen, sondern auf den ganzen Staat,
dem man angehört. Das Vaterland des Einwohners des Gro߬
herzogthums ist also jetzt das ganze preußische Land, und wenn
Vaterlandsliebe und Vaterlandstreue in seinem Herzen wurzeln soll, muß
man ihm nicht aus dem großen Vaterlande ein kleines auszeichnen." Unser
Herr Graf weiß endlich, daß Fürst Radziwill durch Rescript ä. el. Deberan,
8. September 1816 der Zerbvnischen Haupt- und Staatsaction einen unbarm¬
herzigen Todesstoß versetzte.
Im selbigen Jahre führten die Cabinetsordre vom 20. Juni und das Pa¬
tent vom 9. November die alipreußischcn Gesetze in vollem Umfange in Posen
wieder ein. Am 5. Juni 1823 erschien das Gesetz wegen Anordnung der
Provinzialstände. Neufchatel und Valengin durch Personalunion der Krone
Preußen verbunden, wurden ausgenommen, die Provinz Posen nicht, und
das ausführende Gesetz für dieselbe vom 3. August 1824, sowie die ergänzende
Verordnung vom 15. December 1830 stimmen vollständig mit denen für die
anderen Provinzen überein. Wir konnten nun diesen Faden an sämmtlichen
organischen Gesetzen weiter spinnen und würden erst bei der Gen.-Ordnung
von 1850 auf einen Anstoß kommen, wo die nie praktisch gewordene Pfuelsche
Demarkationslinie vorausgesetzt ist. Es reicht aber hin, ans den verschiedenen
ihrem innersten Sinn übereinstimmenden Cabinetsordrcs resp, Landtags-
«bschieden des Königs Friedrich Wilhelm des Vierten einige Stellen hcraus-
zuHeben, um zu zeigen, daß auch dieser Monarch den Standpunkt seines Vaters
festgehalten hat.
Im Landtagsabschicd vom 6. August 1841 heißt es:
„In Uebereinstimmung mit dem Inhalte der wiener Tractate hat das
Besitznahmepatcnt und der Zuruf Unseres in Gott ruhenden Herrn Vaters Ma¬
jestät vom 15. Mai 1815 die Einwohner der Provinz Posen der Monarchie
einverleibt und damit den Charakter einer vollständigen, untrennbaren, alle
Verhältnisse durchdringenden Vereinigung ausgesprochen. Das Großherzogthum
Posen ist eine Provinz Unseres Reiches in demselben Sinne, in derselben un¬
bedingten Gemeinschaft, wie alle übrigen Provinzen, welche Unserem Scepter
unterworfen sind.Mit dieser Stellung des Großherzogthums Posen ist die Stellung der
verschiedenen Nationalitäten, die es in sich schließt, ist der Gang ihrer fernern
Entwickelung unverrückbar vorgezeichnet. Der polnischen Nationalität ist durch
die wiener Tractate und durch den Zuruf vom 15. Mai 1815 Berücksichtigung
und Schutz verheißen. Die rühmliche Liebe jedes edlen Volkes zu seiner
Sprache, seiner Sitte, seinen geschichtlichen Erinnerungen auch in Polen zu
achten und zu schützen, war der Vorsatz der Vollzieher des wiener Tractates,
und auch unter Unsrer Negierung soll ihr Würdigung und Schutz zu Theil
werden; Unsere ausdrücklichen Verheißungen, wie die Anordnungen, welche
ihnen gefolgt sind, haben dafür Zeugniß gegeben. Aber wie jede Gabe an
die Bedingung geknüpft ist, daß sie nicht mißbraucht werde, so können auch
Wir Unsere Verheißung und Unsere Absichten von dieser Bedingung nicht losen.
In der untrennbaren Verbindung mit Unserer Monarchie hat das National-
gefühl der polnischen Unterthanen Unserer Provinz Posen die Richtung seiner
ferneren Entwickelung, die feste Schranke seiner Manifestation zu erkennen.
Die Verschiedenheit der Abstammung, der Gegensatz der Namen Polen und
Deutsche findet seinen Vereinigungspunkt in dem Namen der einen Monarchie
des Staates, dem sie gemeinsam und für immer angehören, in dem Namen
Preußen."
„Nicht ohne Verschuldung darf diese Thatsache verkannt und der Unter¬
schied der Nationalität als Grundlage eines politischen Gegensatzes wieder
hervorgerufen werden. Jeder Versuch, in unklaren Streben eine politische
Absonderung des polnischen Elements festzuhalten, hemmt Uns in dem Gange,
den Wir in landesväterlicher Fürsorge für das Wohl Unserer polnischen Unter¬
thanen begonnen haben."
Wir haben gesehen, daß sich das absolute Königthum in Preußen den
Polen gegenüber nichts vergeben hat.
Die preußische Verfassungsurkunde hat es ebensowenig gethan. Ihr erster
Paragraph lautet:
Alle Landestheile der Monarchie in ihrem gegenwärtigen
Umfange bilden das pr cußis es e Sta als geb ick. Das ist so kW, daß
die polnischen Abgeordneten sich seinen andren Rath wußten, als unter einer
langen Verwahrung lire Mandate niederzulegen, um nicht schwören zu müssen.
So ehrlich dies Verfahren war. so unbequem war es. und nach den Erfahrungen
der Demokraten auch noch recht bedenklich. Wir hatten also die Freude, die
Herrn im November 18S0 auf dem „berliner Landtage" (so sagen sie) wieder-
zusehen. Sie gaben eine Erklärung mit sechs langathmigen Erwägungen ab
und wollten nun schwören. Ihr kleines Manifest sprach mitten unter gekünstelter
Deductionen doch auch das aus. sie seien gewählt „um auf dem durch die Ver¬
fassung gebotenen Wege die Rechte des Landes wahrzunehmen".
Der Abgeordnete von Auerswald sah in ihrer Auslassung die Erklärung,
»daß die Polen die Verfassung zwar beschwmcn. sich aber vorbehalten wollen,
sie unter Umständen für sich verbindlich nicht halten zu wollen" und verlangte
eine nähere Erörterung dieses Punktes. Der Präsident ließ diese nicht zu:
"Jedenfalls wäre ein solcher Vorbehalt ungiltig. Wenn die Herren den Eid
leisten, so leisten sie ihn stricte und unbedingt aus Beobachtung der Verfassung."
Und sie haben ihn geleistet, nicht sie allein, sondern auch die in die Stellen
ausscheidender Mitglieder in' den letzten zehn Jahren eingerückten Landboten
Polnischer Zunge.
Die Provinz Posen ist also nach den Verträgen, nach den Landesgesetzen,
nach der von den polnischen Abgeordneten selbst immer wieder beschworner
Verfassung ein integrirendcr Bestandtheil der Monarchie, und wer an diesem
Verhältniß rütteln und lockern will, für den hat das Strafgesetzbuch den Na-
wen des Landesverräthcrs und die Strafe des Zuchthauses.
Wenden wir uns nun zu der Frage, welchen Grund die Preußen pol¬
nischer Abstammung zur Klage über die Regierung haben, so wollen wir uns
von vornherein einem offnen Bekenntniß nicht entziehen.
Erstens ist bekannt, daß die preußische Handelspolitik als solche ein sehr
junges Datum trägt, und daß unsre Minister der auswärtigen Angelegenheiten
M ihrem Titel ein Privilegium sahen, sich in den einheimischen Angelegenheiten
auswärtig zu erhalten, daß darum bei manchem politischen Acte den gewerv-
Uchen Verhältnissen des Landes nicht Rechnung getragen wurde. Darunter ha-
den unsre östlichen Grenzprovinzen schwer gelitten. Am härtesten ist Schlesien
getroffen worden; aber den gerechtesten Grund zur Klage hat Posen, weil un¬
ter den wiener Acten sich ein Handels- und Schifffahrtsvertrag zwischen Ruß-
land und Preußen findet, und unsre Regierung die Pflicht und bei einigem
Muthe auch die Kraft gehabt hätte, die Jnnchaltung der Verträge von dem rus-
sischen Nachbar zu erzwingen. Indessen sind durch die russische Grenzsperre die
deutschen Bewohner der Provinz mehr beschädigt worden, als die polnischen.
(Vgl. den ersten Brief.) Es ist zu bedauern, daß der vorjährige Antrag des
Dr. v. Niegvlcwski nach dieser Richtung hin ein Kleid angelegt hatte, das ihn
von den Verhandlungen unseres Landtages ausschloß.
Zweitens hat die Behörde gefehlt und fehlt noch darin, daß sie nicht in
den ander» Landestheilen, wenigstens in den Nachbarprovinzen. Sorge getragen
hat, Gelegenheit zur Erlernung der polnischen Sprache zu bieten. Die prager
„Studenten" lernen italienisch, die tandsdcrgcr Gymnasiasten kein polnisch
Wort. Doch ist dies allerdings ein etwas weitgehendes Axiom*).
Drittens kommen bei jeder Verwaltung Menschlichkeiten und Schwachheiten
vor; dieselben werden aber da, wo der Behörde Mißtrauen entgegenkommt,
doppelt empfindlich. Darin liegt einerseits ein Grund dafür, daß von hier
aus so viel Beschwerden laut werden, andrerseits hätte darin Veranlassung ge¬
legen, bei der Auswahl der Beamten für unsre Provinz dreifache Vorsicht an¬
zuwenden. In alten Zeiten machte ihnen das pioeul a ^ope xroeul g, tut-
wiiuz ihre Wirksamkeit zu leicht.
Das ist Alles, worüber geklagt oder genörgelt werden kann. Germanisirt
hat die Regierung hier (leider! D. Red.) niemals. Wiedcrhvlentlich bot sich ihr
Gelegenheit dazu. So bald nach der Besitzergreifung, da die durch die napoleo-
nischen Zeiten erschöpfte Provinz durch wiederholte Mißernten in tiefste Ver¬
armung gerathen war. Damals wäre es der Verwaltung ein Kleines gewesen,
mit verhältnißmäßig geringen Summen den Händen der polnischen Edelleute
die Hälfte ihres Grundbesitzes zu entwinden. Sie zog vor, dieselben in ihrem
Eigenthum zu befestigen, indem sie ihnen durch die Errichtung einer Credit¬
anstalt der Posener Landschaft kräftige Unterstützung schuf. Zu diesem Be¬
hufe gab der Fiscus nicht nur, was in jener Zeit ein erhebliches Opfer war,
200.000 Thlr. auf etwa ein halbes Jahrhundert zinsfrei her, sondern es wur¬
den dem so ins Leben gerufenen Pfandbriefsinstitut auch Vergünstigungen ge¬
stattet, deren sich in den andern Provinzen keines erfreute. Die Beleihung der
Güter wurde an keine politische Bedingung geknüpft. Am allerwenigsten trat
bei derselben eine Bevorzugung der deutschen Nationalität hervor. Unter den
Gutsbesitzern, welche das landschaftliche Reglement vollzogen, mit denen dasselbe
berathen und festgestellt war. befanden sich siebenundsechzig Polen und nur sieben
Deutsche. Die Verwaltung der Landschaft ward dem von den Interessenten selbst
gewählten Vorstände überlassen, und dieser war exclusiv polnisch. Selbst durch
die Vorgänge von 1830 fand sich der Staat nicht bewogen, an diesem Ver-
hältniß etwas zu ändern. Erst als die Verschwörung des Jahres 1846 seine
geringe Betheiligung landschaftlicher Beamten aufwies, stellte der Minister, ohne
sonst'an den cochorativen Verhältnissen etwas zu ändern, einen königlichen Be¬
amten an die Spitze der Landschaft. 1848 wurde sogar diese Ernennung
zurückgezogen und der Direction die alte Freiheit wieder gegeben. Die Polen
und ihre Anwälte unter unsrer Bevölkerung berufen sich gern auf die Land-
schaftsdircction als auf ein Zeugniß für die Tüchtigkeit polnischer Beamten;
indessen ist unsre „alte" oder „polnische" Landschaft weitaus die theuerste im
Lande. Nach dem Ausgabeetat von 18S8, welcher in den spätern Jahren noch
gesteigert worden ist, kostet die Direction jährlich 19,048 Thlr. 13 Sgr. — Pf.;
während die ostpreußische Landschaft bei drei Provinzialdirectioncn und viel
ausgedehnterer Thätigkeit nur 31.171 Thlr. 16 Sgr. 1 Pf., d. h. 20"/»
weniger Unkosten veranlaßte. Im Jahre 184? war die Emission neuer
Pfandbriefe von 1842—1847 gestattet worden; unter anderen Bedingungen,
denn man bedürfte keiner Reizmittel mehr, um das Capital nach unserer
Provinz zu locken. Diese Emission zu gestatten, hatte der absolute König
das formale Recht; auch das materielle stand auf seiner Seite, denn da
die ersten Pfandbriefsinhaber das Recht hatten, jeder Zeit ihre Forderung
zu kündigen, so waren sie durch die weitere Belastung der ihnen verpfändeten
200.000 Thlr. Malischer Gelder nebst Auskünften (1,800.000 Tblr. im Ganzen)
nicht beeinträchtigt. Die zweiten Gläubiger haben das Kündigungsrecht nicht
Wieder, die Regierung die Macht nicht mehr, die zinslose Darlehnung der
200,000 Thlr. zu prolongircn. Die Concession zu einer dritten Pfandbriefs¬
emission, die namentlich für diejenige» Herrn, welche 1846—1848 ihren lcmdes-
verrätherischcn Bestrebungen viele pecuniärc Opfer gebracht hatten, ein dringend
Bedürfniß geworden war, konnte der „alten Landschaft" nur auf dem Wege des
Gesetzes ertheilt werden. Bei den Verhandlungen, welche deshalb mit ihr ge¬
pflogen wurden, ging die Ncgicrungsbemühung namentlich dahin, die Societät
zum Verzicht auf diejenigen Privilegien zu bestimmen, durch welche die hinter
ihr stehenden Gläubiger ihren Schuldnern gegenüber fast rechtslos sind. Die
Polnischen Herren gaben kein Titelchen von ihrem Rechte auf und zogen es
vor. daß die Landschaft mit Ablauf der letzten Amortisationen der aufgenom¬
menen Pfandbriefe von 1842/6 eingehe und sie neuen Grund zu einem
Schmerzensschrei hätten. Die Behörde hat nämlich im wohlverstanden Inter¬
esse der Provinz eine neue Landschaft gegründet, welche im Gegensatze zu der
alten, nur Rittergüter beleihenden, alle Landgüter bis herab zum Werthe von
6000 Thlr. aufnimmt. Die Verwaltung dieses Institutes ist sehr vereinfacht
und liegt in äußerst humanen und gewandten Händen. Die polnischen Herren
schreien und schreiben wider die neue Landschaft, legen auch wohl die etwa
angenommene Landschaftsrathstclle mit Ostentation nieder, wenn die allzuhohe
Taxe eines befreundeten Gutes einer Revision unterworfen wird, belagern aber
dabei doch die „preußische Landschaft" mit Anträgen auf Darlehen; denn Alles
kann der Pole fürs Vaterland: schreiben, reden, sich national putzen, demon-
striren, trauern, trinken, beten, Processionen halten, nur nicht Geld entbehren.
Wenn er dessen bedarf, leistet selbst Herr v. Niegolewski beim Krcisgericht zu
Grätz den Homagialeid ohne Verwahrung. Fragen Sie nur unsre so schon mit
Arbeit überlasteten deutschen Kreisrichter, die mehr als eine Nacht, mehr als
einen Sonntag daran setzen, um halbbankervtten polnischen Edelleuten recht
rasch zu Gelde zu verhelfen. Auffallend ist es, daß deutsche Besitzer solche Zu-
muthungen nicht machen, polnische Richter sie den „Brüdern" nicht erfüllen, und
daß unsre politischen Herren sie so rasch vergessen. Wir haben sie aus den
Landtagen nie davon reden hören.
Eine zweite Gelegenheit zur Germanisirung bot das Jahr 1830, in wel¬
chem die Mehrzahl des polnischen Adels unsrer Provinz die Schwere des Ge¬
setzes aus sich herabzog. 1402 Personen wurden zur Güterconsiscation und zu
Freiheitsstrafen verurtheilt, darunter sind 1200 völlig begnadigt worden. Die
Güter wurden nur 22 Besitzern vorbehalten; sie hatten dieselben einzulösen,
indem sie den fünften Theil des Werths an die Staatskasse zahlten. Dieser
sind 'dadurch im Ganzen 60,000 Thlr. zugeflossen, die zu Provinzialzwecken ver¬
wendet worden sind. Dabei trug sich das Wunderliche zu, daß die, welche arm
ins Gefängniß gegangen waren, reich daraus zurückkehrten. Die königlichen Guts¬
verwalter hatten durch treuen Fleiß die Domainen aus dem kläglichen Zustande
herausgearbeitet, in den sie durch ihre Besitzer gekommen waren. In den Jah¬
ren 1846—48 hat sich das wiederholt.
Die polnischen Unruhen von 1830—ZI hatten nicht nur den preußisch¬
polnischen Landadel stark angegriffen, sondern auch erschüttert. Hätte die Re¬
gierung diesen Umstand einfach ignorirt, so wären die entwerthetcn Güter von
selbst in deutsche Hände gekommen. Statt dessen beschloß die Behörde als
Käuferin aufzutreten, theils um die auf einzelnen Gütern eingetragenen fisca-
lischen Gelder zu retten, theils um die Gutspreise zu steigern, theils um solcher¬
gestalt wohlgesinnte, der Landescultur förderliche Männer dem Großherzogthum
zuzuführen. Die gekauften Güter wurden entweder zur Verbesserung der Lage
der vorhandenen, meist polnischen Bauern durch Regulirung ihrer Verhältnisse,
Vergrößerung zu kleiner Stellen durch Vorwcrksgrundstücke und Ermäßigung
ihrer Leistungen benutzt, oder an geeignete Erwerber parzcllirt oder im Ganzen
überlassen. Die bäuerlichen Renten und, wo sie zur königlichen Verwaltung
geeignet erschienen, auch die Forsten wurden dem Staate vorbehalten.
Wäre derselbe dabei wirklich germanistrungslustig gewesen, so würde
er doch wohl die Polen von diesem Geschäft ausgeschlossen und den deutschen
Käufern w Bezug auf den Wiederverkauf besondere Beschränkungen aufgelegt
haben. Beides ist nicht geschehen.
Von 1815 bis 1831 lag die ländliche Polizei in den Händen der meist
Polnischen Gutsbesitzer, auch die gewählten Landräthe gehörten ihnen an. Da
aber diese Herren 1830/31 den Beweis gaben, wie wenig Unterthanenpflicht
und Amtseid bei ihnen Gewicht haben, ward ein Verhältniß geändert, welches
zur „warschauer Zeit" gesetzlich gar nicht bestand. Es wurden dabei die
Polen nicht allein gestraft. Die Einrichtung der Polizeidistrictscommissariate
und die Ernennung der Landräthe durch den Minister traf die deutschen Grund¬
besitzer ebenso schwer wie die polnischen. Daß die Landräthe, welche nur
Beamte, nicht Kreisinsassen sind, zu wünschen lassen, und daß die einflußreiche,
gut dotirte Stellung, die zwischen 1830 und 18S0 noch „ohne das dritte
Examen", bei uns zu Lande oonclitio sine qus. non für die Anerkennung
eines Juristen, erreicht werden konnte, ihre Versuchungen hat, ist selbstver¬
ständlich. Dennoch mögen Sie einem Manne, der sein Herz von jeder Liebe
zu einem Landrathe frei weiß, glauben, daß diese Beamten bei uns nicht
schlimmer sind, als in den deutschen Provinzen. In vielen Stücken sind sie
besser, weil sie mehr selbst arbeiten.
Die Zeit von 1830 bis 1840 war übrigens eine der gesegnetsten in der
Geschichte unserer Provinz. Die Namen Flvttwcll und Grolmann haben bei
Freund und Feind guten Klang. Der gefürchtete Oberpräsident war nicht
sowohl ein Polcnfeind. als überhaupt ein unermüdet thätiger, oft und an
allen Orten selbst Sehender, unerbittlich strenger Vcrwalwngschef. Es ist
bezeichnend, daß niemals ein gemüthlicheres Leben, eine friedlichere Vermischung
der Bevölkerung, ein herzlicherer geselliger Verkehr zwischen den Angehörigen
beider Nationen bei uns bestanden hat. Der Pole muß seinen Herrn
fühlen, damit ihm wohl sei und er Frieden halte. Flottwell hat
seine Verwaltung in einer besondern Denkschrift geschildert, und diese ist 1848
von der extremsten preußischen Demokratie unter dem Titel: „Das enthüllte
Posen" herausgegeben worden. Wohl uns, wenn wir nie andere Enthüllungen
zu fürchten haben! Es entsprach der Gcmüthsweichheit des Königs Friedrich
Wilhelm des Vierten, daß er die polnische Nation durch Güte gewinnen, die Wider¬
strebenden durch Wohlthaten an sich fesseln wollte. Er überschüttete 1840 ihren
Adel mit Orden, Titeln und Rangerhöhungen. Er ließ eine mildere Regierung
eintreten. Er bot den CzartorM. Plater, Miclzynski, Czicst'owski, Bart
kowsti die Hand, sich in Preußisch-Posen niederzulassen. Er, der zu zürnen
wußte, hatte für sie nur Amnestie. Und sie? Mag der Aufstand von 1848.
die Verschwörung von 1846 nur ihren Haß gegen uns, das Volk, beweisen.
Aber da der König seinen furchtbaren Leiden erlag, da alle Parteien des
deutschen Landes nur noch Erinnerung an die seltenen Gaben seines Geistes
und Herzens hatten und in aufrichtiger Trauer einig waren, da haben sie ihm
das Glockengeiäut mißgönnt, das schwarze Kleid, den Trauerrand um ihre
Blätter versagt, ein Zeugniß sowohl für ihren sittlichen Bildungsstand, wie
für die Aufrichtigkeit ihrer Declamation von Personalunion, Nachher haben
sie alle dem Könige nicht erwiesenen Todtenehren für Schneidergesellen und
Setzerlehrlinge bereit gehalten, und Meuchelmörder, wie Jarvszynski, Ryll und
Rzvnka als Märtyrer betrauert.
Aber die Sprachenfrage? Die einfache Thatsache, daß Sie, Herr Redacteur,
der Sie wiederholt für das Recht des mißhandelten Bruderstammes in Schleswig-
Holstein eingetreten sind, sich erbieten, Ihr Blatt der preußisch-deutschen Auf¬
fassung der Pvlenfrage zu öffnen, beweist mir, daß man uns doch in Deutsch¬
land für so schwarz nicht hält, wie uns Herr v. Bentkowski, der Sprach-
meister, schildert, und daß Sie nicht glauben, das Schicksal der preußischen
Polen sei dem der Deutschen Schleswig-Holsteins gleich. Nichts wäre auch
falscher. Aus dem Markte, in der Gesellschaft, in der Schule, in der Kirche ist
das Polnische völlig frei, stellenweis allein herrschend. In Kirche und Schule
ist sogar das Deutsche unterdrückt, und es gibt Stellen, wo es den Deutschen,
namentlich den katholischen, hier zu Lande nicht viel anders ergeht, als den
Schleswigern, nur daß der Terrorismus von einer andern Stelle ausgeht.
Die Unterrichtssprache aller katholischen Schulen der gemischten Kreise ist
polnisch. Der arme deutsche Junge versteht davon nichts und bittet den Lehrer
schüchtern, er möge ihm das auch zeigen. „Kannst polnisch lernen, dazu bist
du hier; deutsch lernst du ja beim Vater." Noch schlimmer erging es einem
deutschen katholischen Knaben, den der Lehrer beim Spiel belauscht hatte und
andern Tags mit den Worten strafte: „wie kannst du in einer so schmutzigen
Sprache, wie die deutsche ist, spielen."
An den Höhren Lehranstalten katholischer Konfession ist polnisch die Unter¬
richtssprache der vier untern Classen; in Prima und Secunda soll es die
deutsche sein. Als Unterrichtsgegenstand wird die polnische Sprache in allen
Schulen der Provinz getrieben. Die Gottesdienste der Polen sind lateinisch
und polnisch. Versprengte Deutsche müssen in diesen Sprachen einstimmen,
und eine Wittwe zu K. bei M6, die in der katholischen Kirche still für sich
aus dem deutschen Buche betete, ward zur Strafe aus ihrem Dienst gejagt-
Wo die deutschen Minoritäten stark sind, richtet etwa die Behörde gegen
besondere Entschädigungen deutsche Gottesdienste ein.
Ein junger Geistlicher, der einen solchen abzuhalten hatte, reichte eine
polnische Quittung für das dafür erhobene Gehalt ein, bemerkend, er sei im
Deutschen nicht genug gefördert, um eine deutsche Quittung ausstellen zu
können.
Die Communal-Verhandlungen unserer kleinen Städte geschehen polnisch;
bei den Wahlen gehen beide Sprachen nebeneinander, was 18S8 sür Herrn
von — Ski in Schlimm nicht ausreichte, der — auch die Namen polnisch zu
hören verlangte").
Wir haben also nur mit den Verhandlungen vor Gericht und vor der
Verwaltungsbehörde zu thun, wobei erinnert werden muß, daß dort durch die
Zweierleiheit der Sprache die Arbeit verdoppelt und die meist bald gewünschte
Ausfertigung verzögert wird. Ueber den Sprachenverkchr vor diesen Instanzen
haben wir ausführliche Gesetze, Verordnungen, Cabinetsordres und Tribunals¬
entscheidungen, welche ausreichen und, soweit dies irgendwo gesagt werden kann,
auch befolgt werden.
Eine Cabinetsordre vom 20. Juni 1816 befiehlt die Übertragung der
bisherigen Gesetze, der jedesmaligen Nummer der Gesetzsammlung und des
Amtsblattes ins Polnische, „nur versteht es sich von selbst, daß bei all diesen
Uebersetzungen der deutsche Text das eigentliche Gesetz bleibt und bei etwaiger
Dunkelheit der Erklärung zu Grunde gelegt werden muß." Die Anwendung
der verschiedenen Sprachen vor Gericht sind durch Abschnitt IV. der Ver¬
ordnung vom 9. Februar 1817 geregelt. Die Korrespondenz der Gerichte
unter einander, so wie mit andern Behörden mit Ausnahme derjenigen des
Königreichs Polen geschieht deutsch. Bei Processen entscheidet die Sprache des
Klägers; ist dieser weder der deutschen, noch der polnischen gewachsen, so wird
erstere gebraucht; ebenso wenn er beider gleich mächtig ist. Bei einseitigen
Acten der freiwilligen Gerichtsbarkeit wird die Sprache der Erklärenden zur
Richtschnur; soll aber aus denselben ein Gebrauch beim Hypothekenbuch folgen,
so müssen sie entweder in beiden Sprachen oder nur in deutscher auf¬
genommen werden.
Beim öffentlichen Verfahren wird der Dolmetscher zugezogen. Wir haben
übrigens manche Verhandlung gehört, bei der kein deutsches Wort fiel, weil
Richter, Staatsanwalt und Vertheidiger, des Polnischen mächtig, sich im
Interesse prompteren Geschäftsganges desselben bedienten.'
Wieder ist es bezeichnend, daß da, wo das Gesetzetwa eine Härte hat.
sie Niemand lieber hervorzukehren pflegt, als der Polnische Richter, welcher
"ußeramtlich mit demonstrirt.
Die Verwaltungsbehörden correspondiren nach dem Regulativ vom
^4. April 1832 unter einander deutsch. Den Bürgermeistern der kleinen
Städte und den Geistlichen ist, wenn sie das Deutsche nicht können, polnische
Korrespondenz gestattet. Privatpersonen, von denen es nickt feststeht, daß sie
deutsch sprechen, erhalten deutsche Verfügungen mit polnischer Uebersetzung.
Da kann nun Niemand deutsch. Derjenige Probst, der auf einem preußischen
Gymnasium sein Abiturientenexamen bestanden hat, ist nicht im Stande,
gedruckte Schemata „auf deutsch" mit Ziffern auszufüllen. Herr von W.
auf D., der eben beim Rector war, ihn deutsch bat, seine Jungen gut deutsch
zu lehren, geht hin und schickt der Regierung die ihm zugekommene deutsche
Perfügung zurück. Der biedere Rittergutsbesitzer X. auf U., der vor zwei
Jahren im schönste» Deutsch mündUch und schriftlich die straflose Heimkehr
seines verurtheilten Verwandten erbat und erreichte, gibt jetzt sogar dem Ober-
Präsidenten seine deutsch adressirtcn Verfügungen uneröffnet zurück.
Witzig war ein Probst. Er halte vordem deutsch geschrieben, nun polnisch.
„Warum jetzt, da Dn doch anders kannst?" — „Seht Euch doch nur meine
früheren Berichte an; sie sind ja voll Fehler." Es war richtig, aber sein Polnisch
war leider viel incorrecter als sein Deutsch. Endlich der Probst Kinecki wider¬
legt in selbstgeschriebenem langen Aufsatz in der Posener Zeitung einige falsche
Angaben über seine Weigerung, deutsch zu schreiben, das er natürlich nicht
kann. Der Oberpräsident v. Bonin erwähnt des Falles in seiner berühmten
dankenswerthen Kammerrede vom 23. März 1861. Nun erklärt Herr Kinecki
in der Posener Zeitung, daß er sich die betreffenden Erklärungen natürlich habe
machen lassen. Sein neues scriptum ist auch von neuer Hand geschrieben,
ragt aber Correcturen der alten wohlbekannten, die den gewandten Stilisten
verrathen.
Unter den im Deutschen völlig ungeübten Pröbsten befand sich auch Herr
R.. der in Breelau studirt und eine Agentur (die schwedter) angenommen
hatte, bei der Alles nur deutsch verhandelt wird.
Selbst Pokrata hält sich über die Großpolen auf, welche selbst nur noch
gebrochen und falsch polnisch reden und dabei wer weiß was zum Schutz ihrer
Muttersprache anstellen. In nachfolgendem unübersetzbarem Gespräch, läßt
das Witzblatt einen Großpolen seinen Streit mit dem Landrath erzählen, der
ihm, da er einen deutschgeschriebencn Brief nicht annahm, den Executor über
den Hals geschickt hat. Er ist beim Landrath gewesen, hat sich auf die Ver¬
träge berufen u. f. w. Da er aber schlecht angekommen ist, wird er klage»
und seine Sacke bis zur Nichtigkeitsbeschwerde verfolgen.
^OLttZM äoswt bitt list. Oil llMlll'ven., ^al'lZ850vol av mirilZ An den
Herrn Justyn v. Wygcmski auf Wyganowv Hochwohlgeboren i. t,. <l. Es ver¬
steht sich «lo oüew'intra, Ismtrot, pri-zweue egrelnitor». Dieser ist kein Spaß,
vitze MeellÄtöm alö lantiDt-r. I in6viy mu: Warum schreiben Sie an mir
deutsch und ich verstehe nicht deutsch. ^ ein mi oäp0vis(1/.i<)1. Das ist wieder
der .vnilZNlliK ^oiiUÄi^Kj Schuld, früher haben Sie angenommen, mu rra
t,o: Ich habe Recht; im wiener Congreß und im Occupationspatent vom
>5. Mai g. lantrot: Bleiben Sie mir mit dem Patente vom Halse; unis fly
edos r?i^Mo po^vilräa, to öd^üp. „^Viye ^uLkiri^^s^? Na sitz roiiu-
?r»ditz rin Bagatellproceß Ä elroö pi^e^>ron v pivi^s^elr ivstg-ne^^en
^niostz Nichtigkeitsbeschwerde alö Oberer^duvütg..
Nun müssen Sie vollends erwägen, daß „das um seine Sprache ringende Volk"
M Zeit der „Freiheit" in der Kirche und vor Gericht larcinisch sprach, daß es
jetzt noch die lateinische Messe und im Salon die französische Konversation hat, und
daß sie zur warschauer Zeit amilich fast nur deutsch verkehrten. Ich habe zahllose
Verfügungen und Bescheinigungen der damaligen Patrimonialgerichte gesehn,
die alle deutsch waren, und noch eben kam mir ein Attest in die Hände, welches
Herr Bogustaw v. —ki am 18. Juli 1808 deutsch ausgestellt hat. Auf dem
Gute seines Sohnes erschien vor wenige» Wochen der des Polnischen nicht
mächtige Kreisthicrarzt. Der Schmied machte ihm den Krankheitsbericht über
daH Vieh im wohlverstandenen Interesse des Herrn auf Deutsch. Da erschien
der Herr mit der Peitsche scheltend und drohend, weil er auf seinem Gehöft
kein deutsches Wort hören wollte.
Statt ungerecht und unwahr zu klagen, sollten die polnischen Herren lieber
die Augen aufmachen und sehen, was die preußische Regierung für sie gethan
bat. Eine mir bekannte Stadt hatte 1830 noch eine einclassige simultan
schule, heute eine katholische Schule mit fünf, eine evangelische mit drei Classen,
eine jüdische Privatschule, eine polnische höhere Töchterschule und eine jener
königlichen Mittelschulen (Nectorclasscn). deren die Negierung 1843 in allen
Gerichtsstätten einrichtete. In einem derjenigen Kreise, die noch zu »/z pol-
>usch und katholisch sind, übernahm die preußische Verwaltung', fünfzehn
evangelische und vier katholische Schulen, also elf deutsche mehr
Ebendort waren 1858:
; also 21 evan-
Mische Schulen mit 23 Lehrern; 56 katholische Schulen mit 62 Lehrern; die
Regierung erhob also — unter dem Widerstreben der Geistlichen,
Gemeinden und Patrone die Zahl der katholischen Schulen aus
das Bierzehnfa che, die der Lehrer fast auf das Sechzehnfache.
Ueberhaupt fand die preußische Regierung 1815: zwei katholische Priester
seminare, ein katholisches Lehrerseminar, zwei Gymnasien und 543 Elementar¬
schulen mit 884 Lehrern und 31.000 Schülern.
König Wladistaw Czartoryski oder Dictator Mieroslawski würde heute fin-
den: drei Priesterseminare (Posen, Gnesen, Trzemesznv); zwei katholische Lehrer¬
seminare: Posen und Paradies, das Gebäude zu einem dritten in Exin; ein
evangelisches Lehrerseminar in Bromvera,; ferner sieben Gymnasien : zwei in Posen,
eins in Lissa, eins in Bromberg, eins in Ostrowo, eins in Trzemesznv, eins
in Krotoschin; ein Privatgymnasium inFilehne; vier Progymnasien: in Sabrina,
Rogasen, Scbneidemühl, Inowraclaw; endlich fünf Realschulen: in Posen, Mese-
ritz, Fraustadt, Rawicz, Bromberg und 2,149 Elementarschulen mit 2,954 Lehrern
und 218.097 Schülern. Mit diesem Reichthum an Schulen nimmt Posen eine
ehrenvolle Stelle unter den preußischen Provinzen ein.
Auch anderer Einrichtungen tonnen wir uns freuen, so der Ackerbauschule
in Wielowies bei Krotoschin, welche zwölf Schüler in dreijährigem Cursus zu
brauchbaren Ackerwirthen erzieht. Es arbeiten an derselben außer dem Director
und dem Kreisthierarzt ein für die Anstalt vocirter Lehrer und als Gehülfen
tüchtige Handwerker. Dann verweisen wir auf die Irrenanstalt zu Owinsk, die
Taubstummenanstalt zu Posen, das Armenhaus zu Kosten, die Gärtnerlehr¬
anstalt zu Posen und ganz besonders auf das Krankenhaus der barmherzigen
Schwestern zu Posen, welches sein Bestehen der preußischen Princessin Louise
dankt.
Weiter ist an den Bau der Ostbahn zu erinnern, an die Posen-Stargarder
und an die viele Mühe, die sich der Minister v. d. Heydt gegeben hat. die
Posen-breslauer Bahn zu erreichen. Wir haben jetzt ein großes Schienenkrcuz
von Nord nach Süd. von West nach Ost. An Chausseen fand Flottwell vier
Meilen vor. heute hat das Departement Posen in Meilenlänge der Chausseen
nur Arnsberg vor sich; in relcuivem Verhältniß steht es mit Liegnitz und Pors-
dam auf einer Stufe. Es hat 210.6. Bromberg 112,1 Meilen Chaussee; die
Nrovinz hatte 18S2: 120.2 — 1862: 322.7 Meilen Chaussee. Die Jahre
von 18S2 bis 18S9 gehörten dem in dieser Richtung unendlich eifrigen Ober-
Präsidenten v. Puttkammer und unter seiner Leitung dem Regierungsrath Zie-
gert (jetzt in Oppeln).
Vorzügliche Sorgfalt ist der Bodcncultur. z. B. der Trockenlegung. Kanali-
sirung der Brüche zugewendet worden. Ueber die umfassenden Arbeite» >in
Obrabruch hat der Regierungsrath Meerkatz in Posen im vierzehnten Baron
des Archivs für Landeskunde (18S9. II.) ausführlich Nachricht gegeben, Nicht
direct von der Verwaltung ausgegangen, doch von ihr unterstützt, trat die große
Versuchsstation für Agriculturchemie zu Kuschen bei Schmieget ins Leben.
Zuletzt das Große: die Bauernemancipation, die Gemeinhcitstheilung, die
Justizeinrichtung. Und wieder das Kleine: die Sorge der Behörde für den
Einzelnen.
Bisweilen erkennen die Polen das auch an, natürlich in einer Form, die
ihnen selbst schmeichelt. So schreiben die pig.äomc>6el xolskw: „Die Physiognomie
des Großherzogthums Posen ist eine ganz andere, als die der übrigen Theile
des früheren Polens. Wenn man dasselbe durchstreift, so sieht man zu seiner
Freude, daß das polnische Land nicht nur durch die Freigebigkeit seiner Natur,
sondern auch durch die Industrie, die Ordnung und den Fleiß polnischer Hände
zu hoher Blüthe gelangen kann. Einen angenehmen Eindruck macht der Anblick
der sorgfaltig und bequem, sogar oft luxuriös aufgeführten Wirthschafts¬
gebäude, Wohnhäuser und Paläste. Die Haltung und der Zustand der länd¬
lichen Bevölkerung macht ebenfalls nicht geringe Freude. Zunächst zeichnet sich
dieselbe durch ihre Moralität und ihre richtig begriffene Religiösität vor der
ländlichen Bevölkerung der übrigen polnischen Landestheile aus. Liederlichkeit
und Trunkenheit sind bei ihr selten. Ihre Kleidung ist ordentlich und hin¬
reichend, aber der Schnitt ist mehr deutsch als slavisch. Fast jeder, mit Aus¬
nahme ganz alter Greise, ist des Lesens und Schreibens kundig. In der Kirche
sagen sowohl Männer wie Frauen ihre Gebete nicht mehr aus dem Gedächtniß
her, sondern lesen sie aus dem Buche ab. In Hinsicht der Wohlhabenheit,
der Bildung und Moralität des Volkes hat also das Großherzogthum Posen
»hre Zweifel die übrigen polnischen Länder weit überholt.
Es ist dies (so fährt das Organ der katholisch-aristokratischen Emigration
fort) das Verdienst der erleuchteten und für das Wohl der untern Classen
väterlich besorgten preußischen Regierung; noch mehr aber der eifrigen Geist¬
lichkeit und des Adels. Keine polnische Provinz besitzt so viel gebildete Geist¬
liche, und in keiner sind dieselben eifriger für das Wohl des Volles besorgt."
Welches gute Stück Gesclüchte im Gelde steckt, so zu sagen im Geldstück
und im Geldzettel sich verkörpert, das hat jeder erfahren, dem Francs und
Sovereigns durch die Hände gegangen sind, der die schwierige Operation voll¬
endet hat, einen Zehnguldcnschein in Kreuzer oder, wenn das Glück gut ist,
>n Sechskreuzerstücke umzusetzen, oder dem etwa in einem thüringischen Städt¬
chen für einen preußischen Fünfundzwanzigthalerschein jenes mannichfaltige Ab-
bild deutscher Einheit zu Händen gekommen ist, das wir Alle kennen. Wie
sollte e<> sich anders Verhalten in den Anfangszeiten der Geschichte, wo die
Schöpfungen des Menschengeistes noch den Reiz deS Werdens an sich tragen,
die Dinge und die Begriffe, die Menschen und die Völker noch ihr ursprüngliches
scharfes Gepräge zeigen, sich noch nicht an einander ab- und verschlissen haben?
Versuche» wir es denn, von den merkwürdigen Dingen, welche die Thaler und
Pfennige des Alterthums in ihrer Sprache erzählen, einiges Wenige in die
«nsrige zu übersetzen.
Wie der Diamant nur durch sich selbst geschliffen werden kann, so bildet
der Mensch sich nur am Menschen. Perkehr der Menschen mit einander— das
ist Civilisation; und er wirkt um so rascher und mächtiger, je größere und je
verschiedenartigere Massen sich einander berühren. Denn das Ungleiche muß
sich paaren, wenn etwas werden soll; das ist wie ein Gesetz der Natur
so auch das der Geschichte. So beherrscht und durchdringt der gewaltige Gegen¬
satz von Orient und Occident die ganze Menschengeschichte; so in engeren, aber
immer noch ungeheuren Kreisen die Geschichte des Alterthums der Gegensatz
von Griechenland und Rom, die Geschichte der Neuzeit der Gegensatz von
Romanen und Germanen. Viele Wege führen nach diesem Ziel; für die stetige
Steigerung dieses Verkehrs arbeiten wir Alle, was wir auch treiben, ob wir
Bücher machen oder Stiefel, vorausgesetzt freilich, daß beide etwas taugen.
Aber unter den zahllosen Civilisativnsmitteln gibt es doch zwei, die in unver¬
gleichlich gewaltiger Weise die Menschen und die Volker zusammenführen und
zusammenbinden und deren Wirksamkeit, im grauen Alterthum beginnend,
noch bis auf den heutigen Tag beständig im Zunehmen ist, so daß deren Son¬
nenhöhe kein menschliches Auge abmißt — ich meine die Schrift und die Münze.
Und doch sind beide einmal nicht da gewesen und beide sind positive Erfindungen
deS Menschengeistes, so gut wie die Dampfmaschine und der Telegraph, nur
daß wir zufällig den Namen des Erfinders und das Jahr der Erfindung bei
jenen anzugeben nicht vermögen. Ich meine auch nicht Erfindungen in dem
Sinne, daß die Entwickelung des Menschengeistes in jedem Volte darauf mit
Nothwendigkeit hingeführt und aus gleichem Bedürfniß überall ähnliche Wir¬
kungen sich selbständig erzeugt hätten; nein es hat, wie eine erste Dampf¬
maschine, so auch ein erstes Alphabet und ein erstes Geldstück gegeben, und
aus diesen sind im Laufe der Jahrtausende, von geringfügigen Ausnahmen
abgesehen, alle jene zahllosen Schriftgattungen und Münzordnungen hervor¬
gegangen, deren Alterthum und Neuzeit, Orient und Occident sich bedient
haben und heut« noch bedienen. Alle Nationen, zu denen von diesem phöni-
kischen Uralphabet, von dieser kleinasiatischen Münzvrdnung kein Schößling
gelangt ist, stehen in Folge dessen, wo nicht außerhalb der Civilisation, doch
außerhalb desjenigen Kreises derselben, der in der Entwickelung des Menschen-
^schlechtes von jeher die Führung gehabt hat und mit geschichtlicher Nothwen¬
digkeit von Jahr zu Jahr mehr an die Spitze und der Alleinherrschaft näher
kommt. Es mag sich wohl verlohnen, den geistigen und geschichtlichen Proceß,
der zu der Erfindung des Geldes geführt bat, und dessen älteste historische
Erscheinung sich zu vergegenwärtigen.
Der ursprüngliche Verkehr ist Tausch, das beißt die Auswechselung zweier
Waaren, von denen jede dem gegenwärtigen Besitzer entbehrlich ist und das
Bedürfniß, des andern Theils unmittelbar befriedigt. Ein Verkehr dieser Art
ist nothwendig in sehr enge Grenzen eingeschlossen. Im Kleinverkehr mag es
c>uf dem Dorf vorkommen, daß der Schneider dem Schuster den Rock und
dieser dafür jenem die Stiefel macht; in der Stadt reicht man damit nicht
aus. Im Großverkehr ist der Tausch besser angebracht; es ist angemessen, daß
wir unser Korn nach England und Kohlen von da zurückbringen. . Aber auch
der Kaufmann kann mit dem Tausch allein nicht bestehen; denn er ist dadurch
gezwungen, immer so viel Waare zu kaufen wie er verkauft, und nie mehr
zu verkaufen als er einkauft. Die Bedingung jedes ausgedehnten Waarenaus.
tausebes, die Bedingung des freien Handels ist die Feststellung eines Gegen¬
standes , der zur allgemeinen Vermittelung geeignet ist. Der ältesten Zeit, wo
die grüne Erde noch ungetheilt und die Weide frei und grenzenlos war, lag
dafür nichts so nahe wie das Hcerdcnvieh. dessen Mehrung jedem Haushalt
unmittelbar nützlich war. Noch heutzutage ist bei den sogenannten wilden
Völkern die übrige Habe wesentlich dieselbe, und unterscheidet sich der Reiche
vom Armen allein durch die Zahl der Rinder, der Stuten oder der Kcimeele.
So ist es in der Urzeit der Römer und der Griechen, so in der germanischen
Urzeit gewesen : man rechnet nach Rindern und Schafen, und das Rind ist so
zu sagen das Großgeld, das Schaf das Kleingeld: zehn oder zwölf Schafe
gelten so viel als ein Rind. — Aber dies Verkehrmittel reicht bald nicht mehr;
der steigende Verkehr bedarf eines festeren und feineren Vermittlers und findet
dieses einzig im Metall. Das Metall ist dauernder als fast alle übrigen
Waaren; viele Ursachen, die andere Waaren verderben, haben dem Metall nichts
an. Ebendaher ist es auch beweglicher, der Transport desselben und verhält¬
nißmäßig geringen Kosten und Gefahren verbunden; besonders seit die See¬
schifffahrt beginnt und der überseeische Handel, muß das Metall als Tausch-
Mittel an die Stelle des Heerdenviehs getreten sein. Es ist allgemein gültiger:
die Brauchbarkeit des Metalls ist weniger als die der meisten anderen Waaren
Von klimatischen und sonstigen örtlichen Verschiedenheiten abhängig. Es ist einer
scharfen Werthbestimmung mit großer Leichtigkeit fähig; im Ganzen genügen dazu
Auge und Wage, und auch Stcmpeiung kann leicht und der Substanz des Metalls
unbeschadet stattfinden. Es ist fester im Preise eben wegen seiner Dauerhaftig¬
keit; denn obwohl die jährliche Production des Metalls weit ungleicher ist als
zum Beispiel die des Korns, so ist dock» jene immer nur ein verschwindend
kleiner Theil des gesammten Vorraths, diese dagegen der Gcsammtvorrath selbst,
und daher erzeugt die Ausbeutung auch des reichsten Goldlagers nicht von einem
Jahr zum andern solche Schwankungen im Goldpreis wie die Aufeinander¬
folge guter und schlechter Ernten im Kornpreis, Endlich und hauptsächlich ist
das Metall unter allen Waaren diejenige, die den idealen Begriff des Werthes
mit der mindesten Unvollkommenheit ausdrückt. Denn das Wesen des Werthes
ist die Fähigkeit gleich dem Quecksilber sich unendlich zu theilen und unendlich
zu verbinden; und diese Operation verträgt keine andere Waare so grenzenlos
wie das Metall, Vorzugsweise gilt dies Alles von den sogenannten edlen Me¬
tallen, dein Gold und dem Silber, Nicht blos kommen die eben bezeichneten
Eigenschaften, besonders die Unzerstörbarkeit und die Transportabilität, ihnen in
höherem Grade zu als den unscheinbareren Geschwistern; sondern sie haben eine
Eigenschaft vor diesen voraus, die sie recht eigentlich zu den geborenen Werthmaßcn
macht. Man nennt sie die edlen, weil sie müßig gehen, genau genommen in
der Wirthschaft überflüssig sind. Ohne Eisen. Kupfer. Blei, Zinn, Zink könnte
die entwickelte Industrie nicht bestehen; der wirthschaftlich nothwendige oder auch
nur zweckmäßige Gebrauch vom Silber ist gering und noch geringer der vom
Golde, Sie zieren wie Perlen und bunte Steine, aber sie fördern den Men¬
schen nicht; und darum schwankt das Begehren diese Metalle zu besitzen weit
weniger als das Begehren nach ihren unedlen Genossen. Als die Gewohnheit
aufkam sich vor Speer und Schwert durch Kupferrüstung zu schützen, stieg der
Gebrauch und also der Preis des Kupfers; als die Wagen auf eisernen Schienen
zu rollen begannen, schlug das Eisen auf; die Bedürfnisse des Menschen
wechseln, aber seine Thorheiten bleiben dieselben. Nach Golde drängt, am
Golde hängt das Menschenherz nun einmal heute noch wie in der Morgen¬
dämmerung der Menschengeschichte; und ob es als Ring in der Nase oder als
Armband getragen wird, als goldener Reif um das Haupt oder als goldene
Uhr in der Tasche, das macht nationalökonomisch wenig Unterschied. So bleibt
der Verbrauch von Gold und Silber in einem festeren Verhältniß zu der Ge-
sammtzahl der civilisirten Menschheit als der der andern Metalle; und dazu
kommt und ist vielleicht noch wichtiger, daß jene ja eben sonst nichts zu thun
haben und also weit passender als die übrigen nützlicher beschäftigten Stoffe ge¬
braucht werden als Zwischenträger und Vermittler unter den übrigen Waaren. ^"
Insofern sind allerdings die edlen Metalle der vollkommenste Ausdruck für den
idealen Werthbcgriff, der im Gebiet der Waaren überhaupt sich finden läßt.
Freilich aber keineswegs der vollkommenste reale Ausdruck des Werthbegriffs
überhaupt. Der ausgemünzte Staatscredit, unser Papiergeld übertrifft in allen
jenen Eigenschaften, die das Wesen des Geldes ausmachen, um ebensoviel
das Metallgeld wie dieses die andern Waaren. Es ist dauerhafter; denn das
verruchte Geldstück ist vernichtet, der beschädigte Zettel ist nur der Ausdruck der
Creditsumme, auf die er lautet, und deshalb der Ersetzung sähig. Bei dem
Zettel ist die Transportabilität noch größer und die Werthfeststellung noch weit
einfacher als selbst bei dem vollkommensten Metallgeld. Vor allen Dingen aber
hört die Waareneigenschaft, die bei dem Metallgeld nur zurücktritt, hier voll¬
ständig auf und findet der Begriff des Werthes in dem Zettel einen reineren
und zugleich weit minder kostspieligen Ausdruck als in dem Geldstück. Auf
dem Glauben, daß diesem Gegenstand allgemeine Gültigkeit zukomme, beruht
.^nicht das Geldstück wie der Zettel; und wenn heutzutage, wo der dreitausend-
jährigen Entwickelung des Metallgeldes gegenüber das auf den Credit der
Skalen fundirte Papiergeld noch in seinen ersten Anfängen steht, wenn heut¬
zutage der Glaube, daß ein Goldstück an jedem Ort ausgegeben werden kann,
noch allgemeiner verbreitet ist als der Glaube, daß man an jedem Ort eine
englische oder preußische Banknote nimmt, so sind wir eben hierin noch im Lernen
begriffen und theils noch nicht ganz befreit von dem blinden Haschen des Wil¬
den nach dem glänzenden Spielwerk, theils des Glaubens an eine gesicherte
und geordnete politische Zukunft, namentlich auf dem Kontinent, noch allzu
wenig gewöhnt. Es gibt nichts Höheres, nichts unerschütterlicher Festes als
den Credit eines Gemeinwesens, das seine eigene Kasse führt und seine Aus¬
gaben sich von Niemandem und durch Niemanden dictiren läßt, als durch sich
selbst nach den Erwägungen des Gemeinwohls. Wenn die Zettel der großen
Gemeinwesen Europas erst auf diesem Gründe ruhen, wenn das Erschüttern
dieser Grundfeste des Staats erst ebenso nicht blos als Verbrechen, sondern
auch als Lächerlichkeit gelten wird, wie heutzutage die Brandschatzungen der
wegelagernden Junker des Mittelalters, dann stehen unsre Zettel fester als
heute unsre Metallmünze steht, deren gefährliche Schäden und deren bedenk¬
liche Abhängigkeit von der Waarenstellung des Goldes und Silbers dem Kauf¬
mann wie dem Staatsmann wohl bekannt sind.
Dem Alterthum ist der große und fruchtbare Gedanke eines Gesammtcredits des
Gemeinwesens, gegenüber den einzelnen Bürgern wie dem gesammten Ausland,
'u der Hauptsache fremd geblieben; nur die Anfänge dazu finden sich nament¬
lich in der Scheidemünze, am meisten entwickelt in der späteren römischen Kaiser¬
zeit, freilich in der Hauptsache mehr durch gewissenlosen Mißbrauch des Münz-
vegals als durch bewußten Fortschritt zu einem principiell verschiedenen Geld¬
system. Wie das Alterthum zu der Bildung sich selbst regierender Großstaaten
und zu der eines wahrhaften international geordneten Staatensystems nicht ge¬
langt ist, so ist es auch im Geldwesen durchaus über das Metall nicht hinaus¬
gekommen. Zu fester und selbständiger Entwickelung ist das Metall als all¬
gemeiner und ausschließlicher Werthmesser im Alterthum an zwei verschiedenen
Punkten gelangt, deren Gegensatz bedeutsam ist. Es gibt zwei gleich uralte und
gleich selbständige Festsetzungen dieser Art; die eine gehört dem asiatischen
Osten an, die andere der italischen Halbinsel. Seit es eine Geschichte
gibt, finden wir im innern Asien Gold und Silber neben einander als all¬
gemein vermittelnde Waaren verwendet, in Italien dagegen in gleicher Stel¬
lung das Kupfer. Jene Ordnung, die auf der gesetzlichen Feststellung des
Werlhverhältnisses der beiden edle» Metalle zu einander ruht, tritt uns mit
historischer Bestimmtheit zuerst entgegen im persischen Reich; sicher aber hat sie
im Orient gegolten, seit die Despotie, namentlich das Großkönigthum daselbst
überhaupt zu fester Form gelangt ist. Einfacher war die italische Ordnung: man
kaufte und verkaufte hier gegen Kupfer nach dem Gewichte. — Forschen wir nach
der Entstehung dieser Systeme, so liegt die des letzteren auf der Hand. In ältester
Zeit, wo man das Eisen noch nicht zu bearbeiten, namentlich nicht gehörig zu
stählen verstand, war das Kupfer Alles in Allem, war nicht nur der Kessel und
der Harnisch von Kupfer, sondern auch die Pflugschaar, das Messer, das
Schwert; und Italien selbst erzeugte von diesem Metall nur eine äußerst ge¬
ringe Quantität. Große und reiche Landschaften, wie namentlich Latium,
waren dafür durchaus angewiesen auf die Einfuhr von außen her; über¬
haupt aber verbrauchte Italien weit mehr Kupfer als es hervorbrachte. Unter
solchen Verhältnissen war es Wohl natürlich, daß jeder Verkäufer für seine
Waare bereitwillig Kupfer nahm; und damit erhielt dieses Metall in Italien
als höchst nöthige und immer knapp vorhandene, deshalb stets begehrte Waare
den Charakter des allgemein giltigen Tauschmittels, erst gewohnheitsmäßig
und sodann auch durch gesetzliche Ordnung. — Ganz anders im Orient. Wenn
dort seit frühester Zeit Gold und Silber in festem Verhältniß zu einander als
allgemeine Wcrthmesscr gelten, also eben das System besteht, was im Wesent¬
lichen noch in den heutigen Münzordnungen herrscht, so beruht dies ohne Zweifel
auf der uns Occidcntcilcn seltsam erscheinenden, aber mit dem Wesen des Orients
und der Orientalen aufs engste und innigste verwachsenen Neigung des Schätze-
sammelns, wie sie poetisch niedergelegt ist in dem indischen Märchen von den
goldgrabenden Ameisen, in der arabischen Legende von der Höhle Aladdins
voll ungezählter Goldstücke und herrlichsten Geschmeides; wie sie in ernsterer
Weise sich ausdrückt in dem orientalischen Staat, dessen Ideal für die Unter¬
thanen jene gvldgrabenden Ameisen sind, für den Herrscher jener Besitzer des
Feenhortes. Das Aufhäufen des glänzenden Metalls und der bunten Stein¬
chen, der sogenannten Schätze, welches noch heute in Ostindien und China geübt
wird und von unseren Märkten noch heute das Silber in stetigem und bedenk¬
lichem Abfluß entführt, eben dieses hat den Anstoß gegeben zu der Feststellung
der Gold- und Silbcrwährung, wobei die nächste Ursache wahrscheinlich das
orientalische Steuersystem gewesen ist. Dies beruht im Wesentlichen darauf,
daß dem König, seinem Hos und seinen Unterbeamten Alles, dessen sie ve-
dürfen, in Naturalien geliefert wird. Wo der Herrscher eben verweilt, da sind
die Unterthanen verpflichtet, ihn und die Seinigen zu speisen; dazu sind weiter
einzelnen Oertlichkeiten je nach Gelegenheit feste Lieferungen aufgelegt an Wein,
Sklaven, Pferden und dergleichen. So weit es außerdem noch möglich ist oder
dafür gehalten wird, den Unterthanen weitere Lasten zuzumuthen, werden
sie angewiesen, nicht die Kasse des Königs — denn eine solche gibt es eigent¬
lich nicht — sondern seine Schatzkammer mit Gold und Silber zu füllen;
und hierfür zuerst mögen jene Verhältnisse festgestellt, die Gewichte genau und
allgemein geordnet worden sein. — So stehen gleich an der Schwelle der Ge¬
schichte Orient und Occident, noch mit einander unbekannt, im schärfsten und cor-
relaten Gegensatz: dort herrscht das Prächtige, hier das Nützliche; dort das ziel¬
lose Aufhäufen, hier das Einsammeln zu praktischen Zwecken; dort das launische
Trachten des despotischen Herrschers, hier der verständige Wille des Kriegers
und des Bauern; dort Gold und Silber, hier das Kupfer.
Aber das Metall, auch wenn es im Verkehr und selbst im Gesetz anerkannt
ist als ausschließlich allgemeines Tauschmittel, ist darum noch nicht Münze.
So lange es dem Verkehr überlassen bleibt Qualität und Quantität des zum
Tauschmittel gewählten Metalls selber festzustellen, so lange ist noch keine Münze
vorhanden; selbst dann nicht, wenn der Besitzer dieses Metalls dasselbe in regel¬
mäßige, vielleicht einem bestimmten Gewicht entsprechende Formen, in sogenannte
Barren gießt und diese sogar zeichnet. Die Münze ist erst da, wenn solche Metall¬
stücke in bestimmter, ein für allemal feststehender Qualität und Quantität unter
öffentlicher Autorität angefertigt und mit festen, diese öffentliche Werthbestimmung
verbürgender Stempeln bezeichnet werden. Der Fortschritt hierin ist viel weniger
ein technischer — technisch unterscheidet die Münze sich nicht wesentlich vom Barren
^- als ein politischer. Das Geld, wie es vor dem Beginn des Münzers auf¬
tritt, ist in der Hauptsache vom Staat unabhängig: derselbe betheiligt sich nur
insoweit bei der Entwickelung desselben, als er die gewohnheitsmäßig festgesetzte
ausschließliche Geltung der einen oder der anderen Waare als des allgemeinen
Tauschmittels in der Regel nachträglich durch Gesetz fixirt und regulirt, etwa
auch Wage und Gewicht obrigkeitlich ordnet. Die Münze dagegen ist eine
wesentlich politische Institution: sie trägt von Haus aus das Wappen und,
sowie die Schrift darauf beginnt, auch den Namen des Staats, der sie
ausgibt, ist von Haus aus eine an jeden Bethätigten gerichtete öffentliche
Zusicherung des conventionellen Werthes; welche Zusage innerhalb der Grenzen
des prägenden Staats selbst dann auf Geltung Anspruch hat, wo sie nach¬
weislich der Wahrheit widerstreitet. Insofern ist die Münze ein mächtiger Factor
in der staatlichen Entwickelung. Eine wichtige Thätigkeit, die eigentlich priva-
ter Natur und ursprünglich den Privaten überlassen war, wird diesen ent¬
zogen und von dem Gemeinwesen übernommen. Die folgerichtige und Pflicht-
mäßige Handhabung der neuen Institution bringt den Mitgliedern des Gemein¬
wesens ebenso unermeßlichen Vortheil als die willkürliche und gewissenlose
ungeheuren Schaden, wie denn das Emporkommen besonders der großen
griechischen Handelsstädte, vor Allem Athens, in erster Reihe auf ihren Münz-
vrdnungen ruht. So zieht die Landesmünze die Bande des Gemeinwesens
fester zusammen; sie steigert, wenn der Ausdruck erlaubt ist, das ccntnve-
tale, das communistische Element, das jedem Staatswesen ebenso nothwendig
ist, wie sein Gegensatz. Von Haus aus ist mit der Münze der Begriff der
Staatshoheit verknüpft und findet in ihr seinen sinnlichen Ausdruck; nur de>
Staat ist ein vollfrcier, der Münzen jeden Werthes mit eigenem Bild und
eigener Schrift zu schlagen befugt ist; von Haus aus bezeichnet das Wappen
den Freistaat, das Bild des Herrschers das monarchisch regierte Reich. So ist
die Münze, indem sie den ganzen menschlichen Verkehr durchdringt, das leben¬
dige Abbild der Allgegenwart des Staates und jedes einzelne Geldstück ein
Verkündiger, ein wandelnder Zeuge von den politischen Institutionen seiner
Heimath.
Aus eben diesem Grunde ist es von vornherein gewiß, daß die Münze
nur entstanden sein kann im Occident; denn im Orient gibt es nicht Politie,
sondern nur Despotie, wohl Reiche, aber kein Gemeinwesen. Und so zeigt es
uns auch die Geschichte. Die Gold- und Silberwährung ist im Orient zu
Hause, die Münze in Griechenland. In der Metallwährung sind die Griechen
nicht selbständig wie die Orientalen und die Jtaliker. Wohl w ird in den ho
menschen Liedern zur Bestimmung der Werthe neben dem Vieh auch in mannich-
facher Art das Metall, besonders Gold und Eisen verwendet; aber zu einer
allgemein giltigen und selbständigen Metallwährung in der Epoche vor dem Aus-
ommen der Münze sind die Griechen nicht gelangt; vielmehr stehen sie im
Westen, besonders in Sicilien dafür unter dem Einfluß der italischen Kupfer-,
im Osten unter dem der asiatischen Gold- und Silberwährung, nur daß bei-
diesen, besonders bei den europäischen Griechen, die ihren beschränkteren öko¬
nomischen Verhältnissen angemessenere Silberwährung von Haus aus überwogen
hat und die Goldwährung zurücktritt. Indeß ganz wie das Alphabet der
Consonantcnreihe nach in Asien entstanden, in Griechenland aber die Vocale
demselben eingefügt worden find, so haben Asien und Griechenland die Mctall-
münzc in Gemeinschaft erfunden, indem sich in Asien die Gold- und Silber¬
währung, aus dieser sodann auf griechischem Boden die Münze entwickelt
hat. Es gibt ein großes Goldstück, dem Gewicht nach beinahe dreimal so
schwer wie unser Friedrichsdor und also nach dem heutigen Verhältniß der Me¬
talle ungefähr sechzehn Thaler werth', ohne Aufschrift,, auf der einen Seite
mit einem Löwenkopf mit aufgesperrtem Nachen und ausgestreckter Zunge be¬
zeichnet, während auf der anderen sich nur die Löcher des Eisenbvlzens zeigen,
der das Metallstück unter dem Stempel festhielt. Dazu gehört ein ähnliches
kleineres, vom sechsten Theil des Gewichts des größeren Stückes. Diese Stücke
haben unsre Münzforsch er dem äußern Anschein nach für die ältesten aller vor¬
handenen Münzen erklärt und im Wesentlichen gewiß mit Recht. Die Zeit
ihrer Prägung ist nicht mit Bestimmtheit auszumachen: aber sie sind nicht so
uralt, wie man wohl annimmt; ihr Ursprung fällt sicher später als die Ent¬
stehung der ebenfalls in Kleinasien heimischen und der Münze nirgends geden¬
kenden homerischen Gedichte und wahrscheinlich später als der Beginn der
Olympiadcmcchnung; es ist kein zwingender Grund vorhanden, die Ent¬
stehung der Münze über das siebente Jahrhundert vor Chr. hinaufzurücken.
Aber der Entstelmngsort ist bezeichnend. Die Griechen nennen jenes große
Goldstück den phokaischen stäter. das dazu gehörige kleine das phokaische
Sechstel; diese Münzen galten also als ursprünglich und hauptsächlich geschlagen
>» der Stadt Phokaea. Phokaea ist ein Hafenort des kleinasiatischen Ioniens
unweit Smyrna; jetzt ein namenloses türkisches Städtchen, aber einst der Stamm¬
sitz einer kühnen Schifferbevölkerung, die in der griechischen Geschichte ungefähr
die Rolle gespielt hat. wie in der des Mittelalters die Portugiesen: von hier
aus ist zuerst das westliche Mittelmeer befahren, von hier aus sind die italische
Westküste, die Insel Corsica, die Gestade der Provence und Kataloniens in
den Kreis des griechischen Lebens gezogen worden. Auf diesem Punkte also,
wo Asien und Europa sich berühren, in einer auf asiatischem Boden gegründe¬
ten, aber in ihrer Thätigkeit durchaus dem europäischen Verkehr zugewandten
Stadt, in einer Stadt, die wie keine andere es sich zur Aufgabe gemacht hat,
den fernen Westen mit dem Osten zu vermitteln, in der Mutterstadt Marseilles,
da mag wohl zuerst die Münze entstanden sein.
Nach Kleinasien also, an die ionische Küste führt uns die älteste Geschichte
des Geldstücks — in eben jene Gegend, wo die Buchstabenschrift ihre Ausbil¬
dung empfangen hat, wo der griechische Handel zuerst erblüht ist, wo zuerst
das Schifferdvrf zu einem Gemeinwesen freier Bürger sich entwickelt, wo Poesie
und Philosophie ihre frühesten und mit die herrlichsten Blüthen getrieben haben.
Der Pfennig ist ein geringes Ding, und es mag Manchem seltsam vorkommen,
wenn ich seinen Ursprung zusammen nenne mit dem göttlichen Homer und dem
Weisen Thales; und doch schickt sich dieses Alles recht wohl zusammen — sind
es doch vier der gewaltigsten irdischen Dinge, die in die Schöpfung der Münze
sich theilen: Staat, Handel, Kunst und Wissenschaft. Wer über Münzen han¬
delt, der hat ein Recht darauf Zahlen vorzubringen; und obwohl ich mich
dieses Rechts mit Bescheidenheit bedienen werde, so würde ich doch dem Ge¬
genstand nicht genügen, wenn ich ganz schwiege von den Anfängen des Münz-
shstems. Die älteste asiatische Ordnung von Maß und Gewicht ist erst vor
wenigen Jahren uns genau bekannt geworden durch die von Layard in Ninive
gefundenen, mit Werthaufschriften in verschiedenen Sprachen versehenen uralten
Königsgewichte. Dieses System dreht sich durchaus um das Ganze von sechzig
Theilen. Manche Stücke dieses Systems sind uns Allen wohlbekannt und
heute noch geläufig: wenn wir die Ekliptik in 360 Grade, wenn wir die Stunde
in 60 Minuten, die Minute wieder in 60 Secunden theilen, wenn unsere Zeit¬
ordnung, so viel irgend andre Rücksichten es zulassen, um die Ziffern 12, 60
und 360 sich bewegt, so ist das eben altererbte Wissenschaft von den Usern
des Euphrat, die Weisheit der Chaldäer des alten Testaments, die hierin heute
noch die Welt regiert. Ganz ebenso war einst auch das Gewicht getheilt: das
große Gewicht — das Talent der Griechen — zerfiel in 60 Manahs oder
Minen, die Mine in 60 kleine Einheiten; und diese letzte Einheit, von der
3600 auf das Talent gingen, ist nichts Andres als jenes große Goldstück, der
phokaische stäter vom dreifachen Gewicht unseres Friedrichsdor. Es war
also das Guldensystcm, wie wir es heute noch Alle kennen, das hier zu Grunde
lag; und ganz wie unserem Gulden, unserer Rechnung von sechzig Kleinmünzcn
auf die Großmünze, heutzutage das Stück von hundert Sons, der französische
Fünfsrankenthaler Concurrenz macht und dasselbe bedrängt und verdrängt,
ganz ebenso ist es im Alterthum gewesen. Aus die asiatische Mine gehen
sechzig Münzstücke, auf die griechische fünfzig Münzstücke oder hundert Münz¬
einheiten, hundert Drachmen. Der Kampf des decimalen Systems also mit
dem duodecimalcn, wie er heute noch unter unsern Augen geführt wird, ist nun
bereits 3000 Jahre alt; und das Recht darin, so weit man von einem solchen
hier sprechen kann, möchte wohl sich finden auf Seiten der alten Chaldäer und
ihrer heutigen Nachfolger, unserer .lieben Brüder in Schwaben. Denn hinsichtlich
der praktischen Bequemlichkeit für den täglichen Verkehr kommt der Zahl 60 in der
That keine andere gleich, da sie für alle Zahlen bis 6 sowie für 10 und 12 gleiche
Theile ergibt.
Auch der Gedanke, der heute noch wesentlich unsre Münzordnungcn be¬
herrscht und zerrüttet, der Versuch zwischen Gold und Silber ein festes Verhältniß
zu finden und gesetzlich festzuhalten, schreibt sich her aus den Stcuerpatenten der
uralten Sultane des Ostens. Die Goldmünze ist älter als die silberne und steht
darum auch zu dem Gewichtssystem in einem einfacheren Verhältniß; aber auch
die Silbermünze ist nicht viel jünger und, was besonders beachtenswerth ist, sie
steht von Anfang an nicht selbständig da, sondern neben und unter der Goldmünze.
Die älteste Ordnung, die die Münzen offenbaren, ist die des persischen Reiches;
nach ihr wird das Silberstück etwas leichter geschlagen als das Goldstück, so
daß jenes den neunzigsten, dieses den sechzigsten Theil der Mine wiegt; es
gelten dann zwanzig dieser leichteren Silberstücke so viel wie ein Goldstück. Dies
ergibt ein Verhältniß der beiden Metalle wie 3:40 oder ungefähr 1: 13; und
merkwürdig ist es, daß trotz aller Wechselfälle der Weltgeschichte, trotz Peru,
Talifornien und Australien dasselbe im Großen und Ganzen sich bis auf den
heutigen Tag nicht sehr wesentlich Verschoben hat. So weit es übrigens ver¬
schoben ist. ist dies geschehen zum Vortheil des Goldes: dies ist heure reichlich funf-
jehnmal so viel werth wie das Silber. Was nun den gleichzeitigen Gebrauch der
beiden edlen Metalle in der Wcrthmünzc anlangt, so wäre leicht zu zeigen, wie die
Finanzpolitiker des Alterthums genau wie die neueren sich hier mit der Quadratur
des Zirkels, mit der Fixnung eines nicht zu fixirenden Verhältnisses geplagt ha¬
ben ; wie das Nebeneinanderstehen der beiden Werthmetalle auch damals das
Münzwesen zerrüttet und Krise nach Krise über die Völkerölonomie herbeigeführt
hat; wie sodann im Alterthum ebenso wie heutzutage alle Staaten, die von frei
und weit blickenden Staatsmännern geleitet wurden, das Silber ausgaben und
zum ausschließlichen Goldverl'ehr übergingen, bis endlich in der spätrömischen
Zeit nicht blos der römische Kaiser, sondern auch das römische Gold allein
die Welt regiert hat. Es wäre dies und manches Andere zu sagen; aber es
genügt hier daran erinnert zu haben, daß die Münzordnung fast so voll¬
endet ins Leben getreten ist wie die Buchdruckerkunst und daß sie dem praktisch
politischen Nerstand ihrer namenlosen Schöpfer ebensolche Ehre macht, wie
die Stempel der alten Münzen zeugen von dem frischen Aufblühen griechischer
Kunst.
Die weitere Entwickelung des Münzwcscns im Alterthume kann hier nicht
gegeben werden. Unsere Wissenschaft ist nicht so gering, daß sie sich in einen
Fingerhut fassen und also davontragen ließe. Es sei mir nur gestattet als eine
Exemplification von den Ergebnissen der geschichtlichen Münzbetrachtung schlie߬
lich im kurzen Abriß die Geschichte einer einzelnen Münzsorte vorzuführen, die frei-
lich unter allen wie die älteste so auch die dauerndste und geschichtlich merkwürdigste
ist- Es ist dies keine andere als der schon genannte phokaische Gvldstater.
Seine Heimath ist, wie gesagt, Kleinasien; er ist ursprünglich die Stadt-
»ninze Phvtaeas und anderer griechischer Freistaaten auf der kleinasiatischen
Küste. Aus ihm geht dann ebenfalls in Kleinasten in der ersten Hälfte des
sechsten Jahrhunderts vor Chr. hervor der sogenannte stäter des Krösos. ein¬
seitig geprägt wie der phokaische und bezeichnet mit dem halben Stier und dem
bald en Löwen, in den Trümmern von Sardes noch heutzutage häufig zu
finden. Dieser ist nichts als die Hälfte des phokaischen Staterö. eigenthümlich
"ber ist ihm die reiche theils decimale, theils duodccimale Entwicklung der
Theilmünzen. Nicht wesentlich verschieden von dem phokaischen stäter und
offenbar aus ihm entwickelt ist auch die persische Neichsgoldmünze. nur daß
°" Ganzstücke hier sehr selten und die dem kröfischen stäter entsprechenden
Haften weit häusiger geschlagen sind; dies sind die sogenannten goldenen Da-
"item. gleich den vorigen nur einseitig gestempelt und bezeichnet mit dem Bilde
des Großkönigs als Bogenschützen: in königlichem Gewände, die Lanze in der
Hand, ruht er auf dem einen Knie, im Begriff den Pfeil zu entsenden. Die
Prägung des Dareikos begann unter Dareios, dem Vater des Xerxes, um
das Jahr S00 vor Chr.; bemerkenswert!) ist es, daß dazu Theilmünzen in
der Neichsprägung nicht vorkommen, wohl aber die von Dareios abhängigen
haibfreien Fürsten und Städte dergleichen geschlagen haben. Hier zuerst
scheint die Prägung der großen goldenen Cvurantmünzen als ein Reservat-
recht des Grvßlöniglhums aufgefaßt zu sein, während Kleingold und Sil¬
ber zu schlagen auch den Satrapen und den freien Reichsstädten verstattet
ward. Damit mag auch zusammenhängen, daß hier wohl zum ersten Mal das
Bild des Herrschers auf der Münze erscheint. In der älteren griechischen Prä¬
gung kommen diese Goldstücke nicht vor, da hier, wie schon gesagt ward,
für die Goldwährung, wie sie in Persien und Kleinasien neben und über
der Silberwährung bestand, die Mittel nicht ausreichten; dagegen wurde
das Silber zwar meisientheils nach der asiatischen Silberwährung ausgemünzt,
aber in zwei großen Handelsemporien, in Korinth seit ältester Zeit, und seit
Solon auch in Athen, vielmehr geschlagen nach dem asiatischen Goldsuße;
deshalb ist die attische Hauptinünze, das silberne Tetradrachmon, dem Ge¬
wichte nach dem phvkaischen Gvldstater gleich. Aber als ein griechischer König
sich anschickte den Orient für sich und seine Nation zu erobern, als Philipp
von Macedonien den Plan entwarf zum Umsturz des persischen Reiches oder
vielmehr der persischen Dynastie, da war es seine Kriegserklärung und ein Theil
seiner Kriegsrüstung, daß er goldene Dareiken schlug oder wie sie jetzt nach
ihm und seinem großen Sohne heißen, goldene Philippecr und goldene Alexan-
dreer. Freilich sind dies nicht mehr jene genau justirten. aber schwerfällig
geformten und einseitig geprägten Goldstücke, wie der Perserkönig sie ausgab:
es sind Münzen der vollendeten Technik und schönen griechischen Stils, mit dem
Kopf des Apollon oder der Pallas auf der einen Seite, auf der andern mit
Bildern, die an Philipps olympische Festsicge, das heißt an die durch ihn
bewirkte monarchische Einigung Griechenlands, an Alexanders Siegessahrt
nach dem Osten erinner». Die Bilder der Könige zeigen diese Münzen noch
nicht; noch kämpfte in ihnen die altgriechische Politik mit dem Herrenthum des
Orients und sie verschmähten es noch, sich der griechischen Welt geradezu alö
orientalische Großkönige darzustellen.
Diese Goldstücke mit dem Namen Philipps und Alexanders, in ungeheuren
Massen geschlagen, bezeichnen ebenso die Unterwerfung des Orients unter die
griechischen Machthaber wie die des Occidents unter die Goldwährung des
Ostens. Es folgten die Wirren nach Alexanders Tode; Jahrhunderte hin¬
durch stand das persische Großkönigthum Herren- und meisterlos. aber immer
noch staatsrechtlich vorhanden; das Landesfürstenthum gegenüber dem GrosMmg-
thum thatsächlich allein oder doch übermächtig und doch noch in einer gewissen
formell anerkannten Unterordnung und nomineller Botmäßigkeit — ganz und gar
wie es seiner Zeil zuging in dem heiligen römischen Reich mit seinen Schattcnkai-
sern. seinen Kurfürsten, seinen vieljährigen Interregnen. Es ist charakteristisch,
daß während dieser ganzen Epoche die Reichsgoltprägung ebenso ruht wie das
Reich selbst oder, wenn sie geübt ward, nicht gemünzt wurde auf den Namen
der zeitigen Machthaber, sondern ans den des großen Alexander. Dies galt
nicht blos im Umfang des Alcxandcrreiches — mit einziger Ausnahme von
Aegypten, das auf eigenen Fuß sein eigenes Großgoid geprägthat; es galt
selbst bei den barbarischen Nationen, zu denen niemals Alexanders Phalangen
gedrungen waren. Während im übrigen Occident, in Italien, in Spanien
überhaupt so gut wie gar kein Gold geschlagen ward, geschah dies in
nicht geringem Umfang bei den keltischen Stämmen an der Loire und Rhone,
aber durchaus nach dem Fuße, mit dem Wappen und selbst mit den Namen
des makedonischer Königsgoldesdie ältesten Münzen, die man auf deutschem
Boden, in den rheinischen Gebieten findet, sind Philippeer. Auch die römische
Republik hat hieran nichts geändert. Sie unterwarf sich allmälig den größten
und wichtigsten Theil der Monarchie Alexanders und trat thatsächlich als ge-
bietende Schutzmacht in die Erbschaft der Perser und der makedonischer Könige
ein; aber die Neichemünze derselben war doch zu sehr Königsmünzc, als daß
die Republik Rom deren Prägung wieder hätte aufnehmen können. Bon dem
Augenblick an aber, wo in Rom die Republik unterging und die Monarchie
begann, seit Cäsar das Regiment des römischen Reiches an sich nahm,
begann er auch aufs neue die seit Alexanders des Großen Tod im Orient
unterbrochene Prägung des Neichsgoldes. Auch sein Goldstück zeigt sein
Bildniß so wenig wie das Alexanders; auch er hat als Republikaner die
Monarchie gegründet und es seinen Nachfolgern überlassen, diese letzte Con-
sequenz des Herrenthums zu ziehen. Sein Goldstück ist zwar nach römischem
Fuß regulirt, aber dennoch bis auf eine Kleinigkeit dem Philippeus gleich und
offenbar mit Rücksicht auf diesen und nach dessen Muster geschlagen. Von Cäsar
»n wird die Goldwährung, wie sie es lange im Orient war. so setzt auch im
Occident vorherrschend und beginnt allmälig die Silberwährung zu verdrängen.
Vor allen Dingen aber haftet seit Cäsar das Recht der Goldprägung wie einst
an dem orientalischen Großkönigthum, so jetzt an dem neuen Kaiserthum deS
Occidents und des Orients. Das Münzrecht stand in der früheren Llaiserzeit
nicht wenigen Communen und Clientelstaaten zu; manche Städte und Lehn-
fürstcn Roms haben damals Silber, unzählige Kupfer geschlagen; die Prägung
der kupfernen Reichsscheidemünze verwaltete nicht der Kaiser, sondern der
Reichssenat; die Goldmünze aber ist nie anders geschlagen worden als im
Namen und Auftrag des Kaisers. Sogar jenseits der Reichögrenzen nahm,
ganz wie in ältester Zeit, jetzt der römische Großkönig das ausschließliche Recht
der Goldprägung in Anspruch: nie haben selbst die Arsakiden des mächtigen
Parthcrstaates, nie der gewaltige Ostgothenkönig Theodorich unter ihrem Na¬
men Gold geschlagen, und erst die Sassanidendyuastie des Perserreichs im Orient,
erst die fränkischen Könige aus der Zeit Justinians haben diese Regel durchbrochen.
Noch ein Schriftsteller des sechsten Jahrhunderts unsrer Zeitrechnung sagt
ausdrücklich, daß es nicht Rechtens sei weder sür den König der Perser noch
für einen andern König der Barbaren, Gold mit eigenem Stempel' zu schlagen,
mögen sie Gold haben so viel sie wolle»; er setzt hinzu, daß solche nichtrömische
Goldstücke auch von den Handelsleute» nicht genommen würden, nicht einmal
wenn diese heisst Barbaren seien. Hiebei ist es geblieben, trotz aller politischen
und finanziellen Krisen, welche die römische Monarchie so oft bis in die Grund¬
festen erschütterten, ja trotz der völligen Zerrüttung der römischen Münze selbst
in der verhängnißvollen zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts. Das Gold¬
stück, das nach Cäsars Ordnung etwa 7V-. Thaler gelten sollte, und das bis
in das dritte Jahrhundert hinein sich ziemlich auf dieser Höhe behauptet hatte,
sank während des dritten Jahrhunderts durch fortwährende Miinzverschlech-
terungen mit furchtbarer Geschwindigkeit. Halte es in dem vorhergehenden
Jahrtausend sich nur allmälig ungefähr um den achten Theil seines Gewichts
verringert, so finden wir jetzt die Gewichte der neugeprägten Goldstücke fast
fünfzig Jahre hindurch nicht blos sinkend, sondern auch so ungleich und schwan¬
kend, daß ohne Anwendung der Wage diese Münzen gar nicht haben umlaufen
können. Als dann unter Konstantin dem Großen wieder eine feste Regel ein¬
tritt, ist das neue konstantinische Goldstück auf 4 Thlr. 7 Gr., also auf die
reichliche Hälfte des cäsarischen gesunken. Mit dieser konstantinischen Münz-
vrdnung nahm indeß die römische Goldmünze einen neuen Aufschwung: bis
tief in das Mittelalter hinab hat sie wesentlich unverändert sich behauptet; das
neue Goldstück, der Solidus, oder wie es später heißt, der Byzantiner, ist bis
weit über die Grenzen des einschwindenden römischen Reiches hinaus noch
beinahe ein halbes Jahrtausend hindurch das allgemeine Verkehrsmittel geblie¬
ben und der Ausgangspunkt der mittelalterlichen und damit der modernen
Münzordnungen geworden. Man braucht dafür nur an den Namen dieses
Goldstücks zu erinnern: dieser konstantinische Solidus ist ja kein anderer als der
italienische Soldo, der französische Son — freilich sehr heruntergekommene
Nachkommen ihres stattlichen Ahnherrn. Immer aber ist es eine vollständig
erweisliche geschichtliche Wahrheit, daß der phokaische Gvldstatcr, der persische
Dareikvs, der makedonische Phiiipvcus, der cäsarische Aureus, der Solidus
Konstantins, der Besant des Mittelalters — Münzen, deren älteste in das
siebente Jahrhundert vor Christus, deren jüngste in das fünfzehnte Jahrhundert
unserer Zeitrechnung fallen und die zusannnengenommen einen Zeitraum von
mehr als zweitausend Jahren umspannen, daß sie alle nichts Anderes sind als
wechselnde Namen derselben Münzsorte und zwar derjenigen Münzsorte, mit der
überhaupt die Prägung begonnen bat und an deren Prägerecht von den Zeiten
des Dareios und Xerxes an bis herab auf Justinian der staatsrechtliche Begriff
des Großkönig- oder des Kaisertums gehaftet, in dem dieser politische Begriff
Wenn hinsichtlich der in den vorstehenden Blättern entwickelten Ansichten der
Sachkundige im Allgemeinen ohne weitere Nachweisung wissen wird, wo er deren nähere
Ausführung und wissenschaftliche Begründung zu suchen hat, so möchte dies doch
nicht der Fall sein in Betreff der Angaben über das babylonische Gcwichtsystem.
Es wird darum wohl gestattet sein, über dieses hier nachträglich ein paar Worte
beizufügen zum Ueberschlagen. — Erst vor wenigen Jahren ist uns über das ba¬
bylonische Gcwichtsystcm authentische Kunde zugekommen durch die von Layard in
den Ruinen von Ninive entdeckten Bronze- und Stcingewichtc, theils in Löwen-,
theils in Entenfvrm, die sich jetzt im britischen Museum befinden und über die
den sorgfältigsten Bericht Norris im 16, Bande des ^onimg.1 ok tue ^«iatie 80-
«ist? ot vreat Ilriwin (1856) erstattet hat. Die meisten derselben tragen zwie¬
fache und größtentheils mit Sicherheit erklärte Wcrthcmgaben theils in Keilschrift,
theils in einem dem phömkischen verwandten Alphabet, theilweise auch die Namen
assyrischer und babylonischer Könige. Das System ist ein zwiefaches; es findet sich
eine leichtere und eine schwerere Reihe, die aber cvrrclat sind, indem die Einheit
der leichteren Reihe genau die Hälfte der schwereren Einheit ist. Die Annahme von
Norris, daß das schwerere System assyrisch, das leichtere babylonisch sei, ist, soweit
ich urtheilen kann, nicht begründete daß von den beiden Drcißigminenstückcn des
leichtere» Systems das eine einen König von Babylon, das andere einen König
von Assyrien nennt und daß beide Reihen sowohl, wie es scheint, gemischt gefunden
werden als auch in der äußeren Form der Gcwichtstücke zusammentreffen, spricht
vielmehr dafür, daß das schwerere und das leichtere System neben einander in
Gebrauch gewesen sind. Auch geht durch das gesammte vorderasiatische Münzsystem,
das entschieden von diesem babylonischen Gewicht abhängt, dieselbe doppelte Einheit
des phvkaischen Statcrs und des Dareikos, von denen der letztere die Hälfte des
ersteren ist; dabei scheint der Unterschied hervorzutreten, daß die städtische Prägung
sich überwiegend der größeren, die königliche fast ausschließlich der kleineren Einheit
bedient hat. Man wild vorläufig am besten thun, beide Gcwichtsysteme als schweres
""d leichtes babylonisches Gewicht zu bezeichnen ; die Benennung des Gewichts als
babylonisches empfiehlt sich deswegen, weil Aelianoe das leichtere der beiden Systeme
unter diesem Namen anführt. — Das Merkwürdigste, was die in Ninive auf¬
gefundenen Gcwichtstückc gelehrt haben, ist das von dem griechischen wesentlich ab-
weichende Theilsystem, da» freilich von Norris und Hultsch verkannt wurde, aber
bei genauer Betrachtung der vorliegenden Stücke sich mit schlagender Deutlichkeit
"gibt und auch bereits von Hincks, wenn auch nur in einer beiläufigen Erwäh-
ilung, richtig aufgefaßt worden ist. Während nach der griechischen Ordnung die
große Einheit — das Talent — in 60 Minen und jede Mine in 50 stäter oder
100 Drachmen zerfällt, wird dagegen die große Einheit des babylonischen Gewichts
zwar auch in 60 Minen, die Mine aber nicht in 100, sondern wieder in 60 Ein¬
heiten getheilt, so daß das griechische Talent aus 3,000 oder 6.000, das babylo¬
nische aus 3,600 Einheiten besteht. Es finden sich von der schweren Mine Thcü-
stückc von V« (Löwen Ur, 12, 13,) und (Löwe Ur, 14.) so wie ein nicht ganz
klares Stück wahrscheinlich von '/»-> (Ma Ur, 15,), ferner von der leichten Mine
Theilstücke von "/>- (Enten Ur, 3, 4.) und °/->o (Ente Ur. 5,). Alle diese Stücke
find mit ihren Werthen bezeichnet und es hat die Keilschrift nachweislich besondere
Zeichen für Vi-, V-->, V°° und'/isoo der Mine gehabt; ja Hincks sah im britischen
Museum eine Tafel, aus der ihm hervorging, daß die nach diesem System geführten
Rechnungen gestellt waren auf Minen, Sechzigste! der Mine und Dreißigstel des
sechzigstes. Analog verfuhr die chaldäische Zeitmessung: der Saros von 3,600
Jahren zerfällt in 6 Neren von 600 und in 60 Sohlen von 60 Jahren, das Jahr
von 360 Tagen in 12 Monate zu je 30 Tagen, der Tag in 24 Stunden zu je
60 Minuten. — Unter den aufgefundenen Gewichtstücken ergibt unter denen, die
sichere und verständliche Wcrthangaben haben, das relativ höchste Effectivgewicht
das Fünfminenstück der schwereren Reihe von 13 Pf, 6 U. 4 Ser, Troygewicht oder
5,055 Grammen, wonach sich die leichte babylonische Mine auf 505,5 Gramm stellt*).
Weniger kann das Normalgcwicht nicht betragen haben, da ein Uebergewicht des
einzelnen Gcwichtstücks nach allen Analogien im höchsten Grade unwahrscheinlich
ist; daß es mock etwas höher gestanden hat, ist wahrscheinlich, obwohl die Auf¬
gefundenen Gewichte weit genauer justirt gewesen zu sein scheinen, als die gewöhn¬
lichen griechischen und römischen Gcwichtstücke. — Allerdings gibt Aclicmvs an, daß
das babylonische Talent 72 attische Minen wiege, welche mi.t Recht von Norris
auf das leichtere babylonische Talent bezogene Angabe für dessen Mine das fühlbar
höhere Gewicht von 524 Gr. ergeben würde. Aber wahrscheinlich beruht diese
Differenz hauptsächlich darauf, daß das babylonische Talent vielmehr gleich 72 euböi-
schen Minen war und Aelicmos nach der Gewohnheit der Griechen die euvoische
Mine ungenau der attischen gleich achtet, während sie vielmehr sich zu ihr verhielt
wie 39 : 40, Nach der euböischen Mine berechnet, stellt sich die babylonische jener
Angabe zufolge auf 5to,8 Gr,; was als Normalgcwicht betrachtet, zu den höchsten
Effectivgewichte» der Funde von Ninive sehr wohl stimmt.
Vergleichen mir nun mit diesen babylonischen Gewichten die Münzen der ältesten
vorderasiatischen Prägung, so fügen sich diese in der einfachsten Weise jenem Syst>n>
ein. Legen wir das wahrscheinliche Normalgcwicht von 510,8 Gr. sür die leichte
und 1021.6 Gr. für die schwere babylonische Mine zu Grunde, so stellt sich die
kleine Einheit oder das Sechzigste! von jener ans 17, von dieser auf 8,5 Gr. Die
beiden ältesten Gvldsorten aber, denen wir in Vorderasien begegnen, sind der phvkaischc
stäter und der Darcitos, dieser die Hülste von jenem, wiegend in den schwersten
Exemplaren jener 16,57, dieser 8,49 Gramm, Also sind diese Stücke offenbar
geschlagen auf die beiden babylonischen Minen als deren Sechzigste,, — Auch die
älteste Silbcrprügung beruht auf demselben System, Sie ist der Goldprägung in¬
sofern correlat. als auch sie sich um zwei Einheiten bewegt, von denen d.c kleinere
die Hälfte der größeren ist: das größere Stück, das reichlich 11 Gr, wiegt, ist wie
das Goldstück der schweren Mine besonders in der städtischen Prägung verireten.
^s kleinere ist der sogenannte Silberdareikos oder vielmehr, wie ich dies anderswo
nachgewiesen habe, der medische Sekel (Siglos) der Griechen, welcher in den schwer¬
sten Exemplaren bis 5.63 Gr. wiegt. Sie sind auf die babylonischen Minen ^ in
der Weise geschlagen, daß das schwer- Silberstück V» der schweren, das leichte '/--.
der leichten babylonischen Mine ist. welches ein Normalgcwicht für jenes von 11.33,
et>r dieses von 5.66 Gr, ergibt. Daß in der Silberprägung nicht, wie in der des
Goldes, das Sechzigste!, sondern das Neunzigstel zu Grunde gelegt ward, beruht
darauf, daß die Silbcrpräguug, obwohl sehr alt. doch jünger ist als die Goldprä¬
gung und in Vordereren nicht selbständig auftritt, sondern die Silbermünze hier
>'vn Anfang neben und unter der goldenen und in einem festen Verhältniß zu dieser
gestanden hat. Dabei war theils das relative Wcrthverhältniß der Metalle ma߬
gebend, welches im persischen Reich nach Herodots Angabe dahin festgesetzt war. daß
Man dem Gold den dreizehnfachen Werth des Silbers beilegte; theils war es für
die Bequemlichkeit des Verkehrs erforderlich, die Zahl der auf das Goldstück gehenden
Silberstücke abzurunden. Beides geschah in gebührender Weise, indem man das
Silberstück nickt auf ein '/°° - sonder» auf '/«« der Mine ausbrachte und zwanzig
solche Silberstücke dem Goldstück gleichsetzte. Es gab dies einerseits einen bequemen
Umsatz, andrerseits als legales Werthvcrhältniß der Metalle V«° Mine Gold — -°/.->
Mine Silber oder 3: 40 oder 1: 13'/,, was eben das von Herodot gemeinte und
nnr nicht ganz genau angegebene Verhältniß ist").
Doch verdient schließlich Erwägung, wie die Griechen mit diesem babylonischen
''^'
Talent umgegangen sind. Es ist dasselbe deutlich die Grundlage ihres gesammten
Gewicht- und Münzwesens geworden, die Anwendung aber doch sehr eigenthümlicher
'Art. Zunächst ließen sie in der Prägung der Theilmünzcn das strenge Sexagcfimal-
system fallen und theilten entweder decimal oder häufiger duodccimal, wie denn
bekanntlich in dieser Beziehung der stäter von zwei Drachmen und zwölf Obolen
für die Griechen hauptsächlich maßgebend gewesen ist. Sehr maßgebend sind
hiefür die Theilmünzen des troesischen Statcrs vom Gewicht des Darcikos^), von
denen Herr v. Prokesch in seiner reichen Sammlung eine wahrscheinlich vollständige
Reihe besitzt! es sind Drittel, Sechstel und Zwölftel, ferner Fünftel und Zehntel.
Fünfzehnte!, Dreißigstel, Sechzigste! dagegen sind bisher nirgends nachgewiesen und
wahrscheinlich nie vorhanden gewesen; sie beschränken sich auf das rein orientalische
Gewichtsystcm und sind der von Haus aus hellenischen Prägung fremd. — In
dein Gewichtsystem aber wurde schon angegeben, daß die Griechen die Mine statt in
60, vielmehr in 50 oder 100 Theile zerlegten und dadurch ans ein großes Ganze
von 3000 oder 6000 statt von 3600 Einheiten kamen, dabei aber doch die einmal
gegebene Gewichtnorm als Grundlage festhielten. Dieses letztere nun konnte in
doppelter Weise geschehe»' nur konnte entweder die große Einheit, die Mine oder
das Talent des babylonischen Systems festhalten und also mittelst des veränderten
Theilungprincips zu einer andern Normirung der kleinen Einheit gelangen, oder
man hielt die nach dem babylonischen Gewicht normirten Gold- und Silbermünzen
als Einheiten fest und bildete aus diesen abweichende große Einheiten, andere Minen
und Talente. Die Griechen, sind den letzteren Weg gegangen. Das wirkliche leichte
babylonische Talent beträgt 30649, dessen Mine 510,8 Gr., woraus sich das Gold¬
stück von V,«°« des Talents, '/.» der Mine 8,5 Gr. entwickelt. Indem das
eubvische System das gleiche Goldstück auf Mine und 7z«g„ des Talents ansetzt,
erhält es ein Talent von nur 25441, eine Mine von nur 425.7 Gr. Das wirkliche
schwere babylonische Talent beträgt 61298, dessen Mine 1021,6 Gr., woraus sich
das Silbevstück von des Talents, '/».. der Mine--- 11.35 Gr. .ergibt. Indem
dieses Silberstück als '/su»° des Talents aufgefaßt wird, erhält man dasjenige Talent
von etwa 34,050 Gr., welches Herodot das babylonische nennt und aus dem
später das äginäische hervorging. Die kleine Einheit also, von der beide Systeme
ausgehen, ist nicht blos dem uralten babylonischen Gewicht, sondern geradezu der
vorderasiatische» Prägung entlehnt und wenigstens das letztere System kann nicht
aufgekommen sein, bevor die Prüguug der Silbermünzen begonnen hatte.
Der Verfasser erzählt, wie er im Anfang des vorigen Jahrzehnts mit einem
Auswandcrerschiff von Hamburg nach Neuyork gereist ist und sich von da nach
Mittelamerika begeben hat, wo er. sehr verschiedenen Berufsarten folgend, das Land
>n die Kreuz und Quer durchzog und mancherlei interessante Beobachtungen über
dessen sociale Verhältnisse machte. Von Greytowu fuhr er in einer Piragua auf
dem San Zuanfluß und dem Nicaragua-See nach Granada, wo die Wahl an ihn
herantrat, als katholischer Geistlicher oder als Arzt sieh weiter zu helfen. Er ent¬
schied sich auf Zureden eines deutschen Doctors für den letztern Nahrungszweig und
begab sich mit jenem zunächst nach der Jndianerstadt Massaya und von hier nach
Leon, wo er mehre Monate praktizirte. nachdem er in sehr ergötzlicher Weise von
der dortigen medicinischen Facultät die Erlaubniß dazu erworben. Indeß wurde
'hin der Aufenthalt in Nicaragua bald unbehaglich, und so brach er nach der West¬
küste ans und ging zunächst nach Punkas Araras, von da nach San Jose und von
hier, wo der bekannte von Bülow ihn als Ingenieur für den Embryo der Colonie
von Angostura engagirt. über Cartngo in den Urwald. Nach einiger Zeit des
dortigen Lebens überdrüssig, kehrte er nach Leon und dann nach San Josö zurück,
von wo er einen Ausflug nach China zu machen gedachte, aus dem indeß eine
Reise in die Heimath wurde, Herr Marr besitzt ein gutes Auge, er versieht, was
er gesehen — und er hat viel gesehen und erlebt — lebendig wiederzugeben, er
macht endlich manchen glücklichen Witz, Die Schilderung seiner Fahrt aus dem
San Juan, seiner Besteigung des Vulkans von Telica, seiner Beobachtungen im
Etablissement des Grafen Lippe und unter den übrigen nach Costarica verschlagnen
adeligen berliner Bummlern, seine Bilder von dem Sonderling aller Sonderlinge,
der in der Wildniß von Angostura haust, sind allerliebst. Schade, daß er den an¬
genehmen Eindruck dieser Malereien und die lehrreichen Capitel seines Buchs über
das Treiben der Eingebornen vielfach durch Kokettiren mit seiner eignen Person.
Anspielungen auf unsaubere Genüsse u. s. w. und andrerseits durch Behagen an
Schmutz stört. Man darf gescheit sein, ohne das dem Leser in jedem Capitel un¬
ter die Augen zu halten, und man kann, ohne Prüde zu sein, Erlebnisse, wie das
in Nagarote in anständigerer Sprache erzählen, als es hier beliebt worden ist.
Schilderung der letzten großen Industrieausstellung in London, deren einzelne
Abtheilungen dem Verfasser Gelegenheit zu allerlei Excursen und Moralien. Be-
trachtungen, Rückblicken und Weissagungen geben. Ueber Methode und Ton des
Herrn Bucher haben wir uns früher zur Genüge ausgesprochen, auch kennt hieber
Leser aus dem Feuilleton der Nationalzcitnng. Wir sehen auch hier wieder einen
Mann von Geist und Kenntnissen vor uns. Wir treffen auf sehr viele feine Ge¬
danken, nützliche Vorschläge, überraschende Wendungen und brillante Erörterungen,
Aber auch hier drückt nicht selten der Polyhistor den Humoristen, und an mehr als
einer Stelle wollte uns scheinen, als wäre hinter dem rasch und glänzend combi-
»irenden Denken des Verfassers ein gewisses Etwas verborgen, was wie versetzte
Pedanterie aussieht. Das schließlich? Plaidoyer für Großdeutschland, dem Buche
"ach des Verfassers eignem Geständnis, nur angehangen, weil ihm so „eine Ver¬
breitung" gesichert wurde, „die es in andrer Form wahrscheinlich nicht gefunden
haben würde", wiederholt nur Bekanntes und längst Widerlegtes und kann darum
als unschädliche Schrulle eines sonst scharf sehenden und meist verständig urtheilenden
Schriftstellers mit Schweigen übergangen werden.
Gibt eine sehr ins Detail gehende und viel Neues enthaltende Schilderung des
Lebens und Charakters, der Sitten und Sagen derjenigen Stämme des Kaukasus,
welche sieh noch jetzt frei von russischen Joche erhalten haben, also der im Westen
des Gebirgs arges.ssenen, namentlich der Adighe, dann eine Uebersicht über die letz¬
ten Kämpfe diese, Völkerschaften, deren Verhältniß zur Türkei, zum Islam und zu
Schamyis Bestrebungen — Vorgänge und Zustände, denen der Verfasser als Befehlshaber
einer polnischen Truppe im Dienste dieser Gegner Rußlands nahe stand. Unter den mit¬
getheilten Sagen ist eine, die insofern besonders interessant ist, als sie die Prome¬
theusmythe mit den deutschen Sagen von bergentrücktcu Heroen mischt, und die
wir deshalb hier geben. Der Abasa erzählt: „Auf dem hohen Berge, wo Verewige
Schnee liegt (Elbrus) befindet sich auf dem obersten Gipfel eine große, runde, sehr
schwere Steinplatte. Mitten auf derselben sitzt ein uralter Greis. schneeweißes
Haar bedeckt sein Haupt, sei» Bart reicht bis an die Füße, sein ganzer Körper ist
mit weißen Haaren dicht bewachsen, seine Nägel an Händen und Füßen sind lang
und wie die Klauen des Adlers geformt, seine Augen roth und leuchtend wie
glühende Kohlen. Um den Hals, um die Mitte des Leibes, an Händen und Füßen
trägt er schwere eherne Ketten, welche an die Steinplatte angeschmiedet sind. So
sitzt und leidet er seit Jahrtausenden. Er war früher einer der besten Diener des
großen Tha und ward von diesem seines Verstandes und seiner Frömmigkeit
wegen noch bei Lebzeiten zum vertrauten Umgänge zugelassen. Da kamen schlechte
Gedanken in seinen Kopf, er wollte ebenso mächtig und noch mächtiger werden als
der große Tha selber, und da er viele seiner Geheimnisse kannte und Alles zu wisse»
glaubte, so suchte er ihn zu stürze». Ein langer Krieg entspann sich, zuletzt wurde
der Tollkühne besiegt und zur Strafe auf dem hohen Berg angeschmiedet. Nur
wenige Me»schen konnten ihn sehe» , den» das Hinaufsteigen zu ihm ist mit laufe»d
Gefahren verbunden, Niemand aber konnte ihn zweimal sehen und solche, die
den Versuch machten, sind nie mehr zurückgekommen. Doch gibt es Greise '»
den Bergen, die ihn gesprochen, aber es ist ihnen verboten, Alles zu sagen, was
sie gesehen und aehört. Ihr Bericht lautet, daß der Alte sehr fröhlich u»d
munter ist, wen» er el»c» lebendige» Menschen erblickt; er fragt jeden nach drei
Dingein ob Fremde bereits das Land durchziehen und Städte und Dörfer angelegt
sind; ob schon im ganzen Lande die Jugend in Schulen gebildet wird, und ob die
wilden Obstbäunie viele Früchte tragen. Er erkundigt sich mit vieler Begierde nach
diesen drei Dingen, und wenn er, wie gewöhnlich, eine verneinende Antwort er¬
hält, ist er außer sich vor Betrübniß.
Washington wurde aus drei Gründen an der Stelle angelegt, wo es steht
Der Potomac sollte es zur Hafenstadt machen. Die gleichwohl ziemlich große
Entfernung von der See sollte es vor einem feindlichen Einfall sichern. End¬
lich lag es so ziemlich in der Mitte aller damaligen Staaten der Union. Alle
diese Vortheile haben sich seht als nichtig erwiesen. Der Fluß ist seitdem
seichter geworden, und nur kleine Schiffe können gegenwärtig noch so weit
heraufkommen. In Betreff des zweiten Punktes ist zu bemerken, daß Washing¬
ton die einzige große Stadt der Uiuon ist. welche seit Anerkennung der letz¬
teren in Feindeshand gerieth. 1812 wurde es von den Engländern genommen
und niedergebrannt. Der dritte vermeintliche Vorzug endlich verschwand mit
jedem Jahr mehr, in welchem die Grenzen der Vereinigten Staaten weiter nach
Westen gerückt wurden, und wie die Dinge jetzt stehen, wird Washington ver¬
muthlich bald, statt im Centrum, an der Peripherie des Gebiets liegen, welches
Onkel Senn sein nennt.
Georg Washington hat in seinem großen Leben wenig Fehlgriffe begangen.
Die Wahl dieses Punktes zur Bundesstadt war ein solcher, und wer das nicht
Zugibt, dem bezeugt es das Aussehen der Stadt. Washington, sagt Trvllope,
sehr unbefangner Beobachter, ist nichts als eine unfertige Sammlung un¬
bebauter breiter Straßen, und von der Vollendung läßt sich jetzt wenig hoffen.
Es ist im Vergleich mit den Ansprüchen, die es macht, der unansehnlichste und
unangenehmste aller Orte. Es gibt einen vollständig ausgeführten Plan von
Washington, und wenn man diesen bei seinen Wanderungen mitnimmt, l-an man
sich in den Straßen verirren, nicht wie man sich in London zwischen Shoreditch
und Russell-Square, sondern wie man sich in den Wüsten des heiligen Landes,
zwischen Emmaus und Arimathia verirrt. Niemand weiß zu sagen, wo die
Plätze des Plans sind, und ob sie wirklich existiren. Die Häuserzeilen, die man
nach demselben sucht, sind größtentheils noch Häuserzeilen in »pö. Statt
eines Straßennetzes trifft man auf mehr als fünf Sechstheilcn des Terrains,
welches der Stadtplan umfaßt, rauhe Hügel und Sumpflachen; ist man Jäger,
so kann man, das Haus des Präsidenten vor Augen, sehr leicht die Hoffnung
hegen, Schnepfen zu schießen. Jener Plan ist ein Parallelogramm von über
vier Meilen (englisch) Länge und etwas mehr als zwei Meilen Breite. Eine
solche Fläche mit Häusern mäßig dicht besetzt, würde einer Stadt'von einer
Million Einwohnern entsprechen. Das jetzige Washington aber hat eine blei¬
bende Bevölkerung von höchstens 60,000 Einwohnern, und selbst in der be¬
lebtesten Zeit der Congreßscssivnen halten sich hier schwerlich mehr als 80,000
Menschen auf. Die Gründer der Stadt haben offenbar das ungeheure Wachs¬
thum der Union geahnt und daran die Hoffnung geknüpft, das politische Cen¬
trum derselben müsse in gleichem Maß zunehmen. In letzterer Erwartung
täuschten sie sich, und so ist Washington jetzt in gewisser Beziehung das Gegen¬
bild von London. Will dieses, weil man ihm bei seiner Geburt die Mittel
zu geben vergaß, sich nach seinem wachsenden Leibesumfang zu richten, fast in
seinem eignen Fett ersticken, so erinnert jenes an das Haus des guten Ehe¬
manns, der nach seiner^Verheirathung die Freunde mit großer Selbstbefriedigung
durch ein halbes Dutzend Kinderstuben führt und nach zwanzig fahren immer
noch nur ein einziges schwächliches Kind besitzt.
Drei Hauptstraßen oder „L.viZnuL8" durchziehen Washington der ganzen
Länge nach: Virginia Avenue, Pennsylvania Avenue und Massachusetts Avenue
genannt. Aber nur die zweite derselben ist gewöhnlichen Menschen bekannt
und auch diese nur zur Hälfte. Diese Straße ist gleichsam das Rückgrat der
Stadt, und diejenigen Partien des Stadtplans, welche mit Häusern bedeckt
sind, gruppiren sich um jene westlich vom Capitol laufende Hcilfle. Die östliche
Fortsetzung derselben, von der Front des Capitols aus, ist wiederum Wüste.
Der Plan der Stadt ist übrigens etwas complicirt, „ein gewaltiges Labyrinth,
nicht ohne System". Das Capitol soll nach demselben der Mittelpunkt sen>>
Es blickt nach Osten, vom Potomac und — unglücklicherweise auch von der
Hauptmasse der Stadt hinweg. Der jetzigen Hauptstraße, dem Schatzgebäude
und der Wohnung des Präsidenten kehrt es den Rücken zu. Vermuthlich fei¬
ten die nach Osten gehenden Straßen nach der Absicht der Gründer sich zuerst
mit Häusern und Menschen füllen, sie wollten aber nicht, und so zeigt das
Gebäude dem, was jetzt Washington ist, die Kehrseite.
Man kann auch sagen, Washington habe zwei Mittelpunkte: das Capitol
und das Haus des Präsidenten. Am Capitol laufen die vier Averner zusammen,
die nach den Staaten Pennsylvanien, Newjersey, Delaware und Maryland
benannt sind. Sie kommen von dem einen Ende der Stadt auf das Capitol
zu und gehen von ihm nach dem andern Ende der Stadt. Pennsylvania-,
Newyork-, Vermont- und Connecticut-Avenue thun desgleichen auf dem sogenann¬
ten Präsidentenplatz. Auf dem Papier scheint dies klar und verständlich zu
sein, in Wirklichkeit ist es nicht so. Jene Mittelpunkte sind große Plätze, und
folglich ist die eine Hälfte jeder Straße weit von der andern entfernt, und es
sieht aus, als sollte zwei Straßen ein und derselbe Name gegeben werden.
Für die Einwohner freilich ist dies nicht von Gewicht, da sie recht wohl wissen,
daß immer die eine Hälfte der Straße und zwar meist die größere Hafte bloße
Mythe ist. ein unbekanntes Stück Land weit draußen in der Wildniß, Schnepfen-
boden, auf dem man bis an die Waden in Morast versinkt, wenn man sich
hinwagt.
Selbst in den Theilen der Stadt, die wirklich Stadt zu sein beanspruchen,
stehen die Häuser nicht ohne Unterbrechung neben einander. Hier ein Haus,
dort ein freier Platz, dann zwei oder drei Häuser und darauf wieder freier
Raum. Hiernach wieder zwei kleine Häuschen und alsdann vielleicht ein statt-
liches anspruchsvolles Gebäude. Nur der Handel hätte die Lücken füllen können,
dieser aber scheint die Stadt fast ganz ignorirt zu haben. Gesetzgebung und
Executive vermochten das nicht zu ändern, und so ist Washington in der
Hauptsache eben Plan oder wenn man viel sagen soll, eine zerstreute Anzahl
von G^ander in einer Wildniß geblieben.
Die Stadt hat aber auch keine Zukunft. Die Gesellschaft, in die man
bier kommt, besteht meist aus Personen, die hier nur zeitweilig wohnen, und
unter denen, die immer da sind, fand Trollope nicht einen, der mit Liebe
von der Stadt sprach. „Die Herren und Damen von Boston glauben, die
Sonne scheine nirgends so wie in ihrer Stadt, und Boston Commons ist in
der That sehr anmuthig. Die Newyorker glauben mit unerschütterlicher Treue
an Fifth Avenue, und Fifth Avenue ist daraus berechnet. Glauben einzuflößen.
Philadelphia ist für den Philadelphia der Mittelpunkt des Weltalls, und das
Wachsthum der Stadt rechtfertigt diese Parteilichkeit vielleicht einigermaßen.
Dasselbe kann man von Buffalo. von Chicago und von Baltimore sagen, in
keiner Weise aber von Washington auch nur Aehnliches. Selbst die Ein¬
wohner dieser Stadt rümpfen die Nase über dasselbe. Sie fühlen recht wohl,
daß sie von etwas Mißlungenem, von einem Fehler umgeben sind," und die
Urgesundheit. namentlich die Fieberluft der Gegend, kann sie darin nur bestärken.
Sechs Hauptgebäude gibt es in Washington, bei welchen keine Kosten
gespart wurden, und mit denen man auch wirklich etwas erreicht hat. wenn
auch das. was man erreichte, durch höchst selbständige Abweichungen von der
anerkannten Regel architektonischen Geschmacks zum Theil verdorben worden ist.
Man hat das Capitol, das Postamt, das Patentamt, das Schatzgebäude, das
Haus des Präsidenten und das smithsonische Institut, Die fünf ersten sind
in griechischem, das letzte in romanischem Geschmack erbaut, das heißt in
einem Geschmack, den man in Washington romanisch nennt, während Trol-
lope ihn lieber als bastardgothisch bezeichnen -mochte.
Das Capitol ist unzweifelhaft ein imposanter Bau, und es würde auch ein
schöner Bau sein, wenn man es nicht in neuester Zeit durch Anbauten verdorben
hätte. Die Freitreppe und der große Porticus im Osten, die Kuppel in der
Mitte waren von vortrefflichem Geschmack, die Flügel zur Rechten und Lin¬
ken standen in gutem Verhältniß zum Mittelgebäude, der Stein war glänzend
wie Marmor. Es ließ sich nichts aussetzen, als daß die Front, wie schon
bemerkt, statt nach der Stadt im Westen, nach der Wildniß im Osten hinsah,
und daß diese Front mit Statuen und Gruppen amerikanischer Bildhauer geziert
war, die nur von fern leidlich, von nahe betrachtet aber geradezu lächerlich sind.
„Die Bildhauerei beschäftigt sich," wie Trollopc sagt, „in Washington vor¬
züglich mit zwei Gegenständen, die bis zum Ueberdruß wiederholt werden.
Der eine ist ein steifer, gesund, aber häßlich aussehender Herr mit riesigen
Kinnladen und dicken Backen, welcher den großen Kriegsmann repräsentirt.
Der andere ist eine schwermüthige, schwächliche Gestalt, ohne Haare, aber oft
mit Federn auf dem Kopfe, die den rothen Indianer vorstellen soll. Es wird
immer angenommen, der Indianer empfange irgend eine Wohlthat, aber er
sieht stets so aus, als freue ihn diese Wohlthat ganz und gar nicht. Auch
der kolossale Washington von Greenough, der vor dem Gebäude sitzt und der
einen Arm nach der Stadt ausstreckt, ist wenig werth. Es ist wuchtige Gro߬
artigkeit, aber steif, häßlich, ohne Leben."
Dennoch muß das Gebäude in seiner ursprünglichen Gestalt einen sehr
guten Eindruck gemacht haben. Seitdem sind demselben aber schwere Flügel
angesetzt worden, so schwere Flügel, daß sie größer als das eigentliche Gebäude
erscheinen und die Symmetrie des Ganzen wesentlich beeinträchtigt worden ist.
Diese Anbauten, denen es an sich nicht gerade an Schönheit fehlt, hat man
an den Hauptbau mit so schmalen Zwischenräumen angefügt, daß der Davor¬
stehende das Licht durch dieselben hindurch sieht, und dies nimmt dem Ganzen
die Einheit, das Aussehen der Zusammengehörigkeit, welches einem so kolossalen
Bau- am wenigsten mangeln sollte. Auch die Kuppel ist erhöht worden, und
man hat ihr eine doppelte Trommel gegeben, die noch nicht fertig ist und
darum noch nicht beurtheilt werden sollte, von der man aber doch schon jetzt
sagen darf, daß auch sie ein Mißgriff ist. Wäre die Stadt rings um das Capitol
aus weite Strecken vollendet, so würde sich letzteres wahrscheinlich weit besser
aufnehmen. Jetzt ist daran nicht viel mehr zu loben als die hübschen Garten¬
anlagen, die sich vor der östlichen Front hinziehen.
Im Sitzungssaal des Senats wie in dem der Repräsentanten siebt es jetzt
ziemlich lückenhaft ans. Von den 68 Sesseln und Pulten, die dort in Huf¬
eisengestalt um den Besitzenden herumstehen, sind 19 oder 20 infolge der
Revolution des Südens unbesetzt, und hier im Repräsentantenhause finden sich
gegenwärtig nur 178 Mitglieder zu den Sessionen ein. während 63 jenseits
der Vorpostent'edle der föderalistischen Armee tagen und statt sür die Union
gegen dieselbe berathen.
Und in demselben Grade wie die Zahlen der beiden Häuser hat zufolge
des Kriegs auch das Ansehn derselben abgenommen. <sie berathen noch Gesetz¬
entwürfe', ihr Einfluß auf das aber, was geschieht oder unterlasse» wird, ist
gleich Null. Noch ist die Säbclherrschaft nicht erklärt, aber sie ist
im Anzüge.
„Ich wohnte," erzählt Trvllopc, „einigen Debatten im Repräsentanten-
Hause bei und namentlich jener, bei welcher ein Capitel aus dem Buche Josua
vorgelesen wurde. Die Frage, um die es siel, bier handelte, betraf die relative
Macht der Civil- und Militärbehörde. Der «Zonares, hatte seine Obergewal
in Militärsachen auszusprechen gewünscht. Die Armee aber und die vollziehende
Gewalt lehnten sich dagegen auf, indem sie zwar nicht gerade das Recht des
Congresses läugneten, wohl aber die artigen Gemeinplätze vorbrachten, mit
denen die wirkliche Macht die blos nominelle in der Regel so gut zu behandeln
weis;. Die Frau sagt dem Manne selten mit vielen Worten, das! seine Mei¬
nung im Hause nichts gilt, sie handelt nur, als ob es so wäre. Ein Beobachter
mußte an jenem Tage anerkennen, daß der Kongreß die Rolle eines Ehemanns
spielte, der vergeblich sein Ansehen geltend zu machen sucht.
„Ick habe erfahren." sagte einer der Herren nach dem andern unwillig,
„daß die Militärgewalt unserer Generale über jener dieses Hauses steht. Einer
unternahm dabei einen beredten Streifzug auf das Gebiet der Sklaverei und
irug dabei auf das Vorlesen jenes Capitels aus dem Buche Josua an. Diese
Abschweifung schien das Haus etwas von der Verlegenheit der ursprünglichen
Fi'"ge zu befreien, aber von Tage zu Tage zeigte sich mehr, daß der Congreß
Boden verlor, und das Heer gegen sein Donnern gleichgiltig wurde, das Heer
"icht blos, sondern auch die Minister."
Die Minister sind in dem Hause nicht anwesend, und so haben die Ab¬
ordneten nicht Gelegenheit, ihnen durch mündliche Fragen scharf zu Leibe zu
liehen. Bedeutende Sachen, darunter die Arm^eangelegenheitcn, werden in
beiden Häusern stehenden Ausschüssen zugewiesen, die sich mit den Ministern
'» Verbindung setzen. Der Minister ferner sitzt fest in seinem Amt, fest und
sicher für die Zeit der Präsidentschaft, wenn er sich mit dem Präsidenten zu
vertragen weiß, und so legt er in der Regel auf geschriebene oder gedruckte
Botschaften des Congresses keinen großen Werth. Scward konnte dem Cor-
greß ein Schnippchen schlagen, und er that es. Der Armee konnte er keins
schlagen, und so ging er mit der Armee.
Nun kam es freilich vor, daß von Zeit zu Zeit ehrgeizige Mitglieder im
Eongreß aufstanden und sich vernehmen ließen: „Sie hätten erfahren" u. s. w.
Aber obwohl sie dabei sehr entrüstet thaten, kehrte sich Niemand sehr an ihr
Poltern. Andere wollten „Alles und zwar aufs Genaueste" von dein Unfall
bei Balls Bluff wissen, aber Niemand konnte ihnen etwas darüber sagen-
Wieder Andere wollten über die Blockade des Potomac „endlich auf den Grund
kommen", aber eine solche Belehrung schien nicht für sie zu taugen. „Man
packe sie in Kisten und schicke sie nach Hause", sagte ein Soldat zuTrollope.
Und was sagte der Kriegsminister, z. B. in Betreff der Fragen über die
Affaire bei Balls Bluff? „Der Sprecher legte dem Hause ein Schreiben des
Knegssecretärs vor, in welchem er sagt, er habe die Ehre, den Empfang des
Beschlusses vom 6. d. M. zu bestätigen, welcher erkläre, die Antwort des De¬
partements auf die Resolution am zweiten Tage der Session erscheine dem
Hause nicht genügend, und man dringe auf weitere Antwort. Der Secretär
habe nun zu erklären, daß Maßregeln getroffen worden, um zu ermitteln, wer
für die unglückliche Bewegung hei Balls Bluff verantwortlich sei, daß es sich
aber mit dem öffentlichen Interesse nicht vertrage, diese Maßregeln gegenwärtig
bekannt zu machen."
Eine Volksvertretung umgeben von einem Feldlager wird immer eine
ziemlich traurige Rolle spielen. Hier hatte das Pole die Armee verlangt, und
da stand sie nun. Sie war jünger als der Evngrcß und hatte den älteren
Bruder so ziemlich aus der Gunst verdrängt, wie das schon oft durch einen
Neugebornen geschehen ist. Wollte der Congreß sich mit ein paar wohlgesetzte»
Noten oder ein paar hitzigen Debatten unterhalten, so war das ganz gut,
nur durste er mit seinen Reden die Armee nicht angreifen. Er konnte auch
nach Belieben Militärausschüsse einsetzen und so viel fragen, als ihm gefiel.
Aber wir Alle wissen, wozu solche Neugier führt, wenn der Fragende keine
Gewalt hat, durch Androhung von Strafe eine Antwort zu erzwingen. Bor
allen Dingen sollte er Gelder bewilligen für das, was das Heer brauchte, dann
hatte er seine Schuldigkeit gethan, und man brauchte ihn nicht mehr.
„Man packe sie in Kisten und schicke sie nach Hause", sagte inner Soldat
zu Trollope. „Ich muß jetzt lernen", sagten Mitglieder voll Unwillen, und
sie stampften heftig auf in dem Sitzungssaal. Man hätte meinen sollen, da¬
mals hätten sie bereits etwas gelernt.
Geht man von dem Capitol nach Westen, so zieht sich die Pcnnsylvania-
Avenue in gerader Linie nach dem Schatzgebäude oder Finanzministerium. Die
Entfernung der beiden Orte von einander beträgt eine reichliche englische Meile,
und die Leute sagen, man habe die beiden Gebäude absichtlich so weit aus-
einandergcstellt, um die in den Burnus des Finanzministeriums sitzenden Se-
cretärc vor dem Ueberlausenwerden durch die Kongreßmitglieder zu schützen.
Trvliope mag dies nickt unterschreiben, zweifelt aber nicht an der Thatsache,
daß sowohl Senatoren als Repräsentanten jenen hohen Beamten sehr fleißig
Besuche machen, und daß es sich dabei vorzugsweise um Begünstigungen
handelt.
Die Strecke der Pennsylvania-Avenue. welche man hier durchschneidet, rst
die Gegend der schönsten Läden in Washington, das heißt die besuchte Seite
der Straße, die rechte, wenn man vom Capitol kommt. Bon der andern
scheint die Welt nichts zu wissen, und die Läden sind selbst auf jener schlecht
und theuer, was beiläufig auch von den Gasthöfen gilt. Wiilards Hotel ist
das vornehmste, aber das unablässige Drängen und Treiben von Menschen in
den Sälen und Gängen des Hauses verheißt weder Bequemlichkeit noch Ruhe.
Aehnlich verhält sichs mit dem zweitgrößten, dem National-Hotel.
Das erstere, in dessen großem Speisesaal täglich dritthalbtausend Gäste
essen, war bei Russells Anwesenheit gedrängt voll Stellenjäger, die buchstäblich
nach Tausenden zählten, und die Gier, mit der diese Menschenclasse der Fährte
nach einem Amt folgte, drückte sich oft sehr grotesk aus. Sobald ein Senater
>n der großen Halle des Hotels erschien, stürzte sich sofort ein Befördcrungs.
hungriger auf ihn, oder ein ganzes Nudel von Patrioten drängte sich, ihn
beim Knopfloch zu nehmen und ihm ein Wort im Vertrauen ins Ohr zu flü¬
stern. Die widerlichen Kerle zankten sich dann kläffend um ihn. wie eine
Schaar Hunde um einen Knochen. In der Barbierstube setzte eine Glasthür
die dort Verweilenden in den Stand, zusehen, was in der großen Halle vor¬
ging, und bei einer Gelegenheit, als Russell sich eben die Haare machen ließ,
fuhr plötzlich neben ihm ein gut eingeseifter Politiker von seinem Stuhl auf
und durch d>e Glasthür in die Halle, wo er laut ausrief: „He. Senator, Se¬
nator, salto!" Aber der Senator entwischte glücklich dem Verfolger, und die¬
ser lehne nut den Seifentlexcn im Gesicht und der Serviette unterm Kinn be¬
trübt auf seinen Sitz zurück. Ein anderer Herr, der ebenfalls von edler
Begeisterung seinem Vaterlande zu dienen glühte, gelangte zwar daym, seinen
Wunsch bei einem einflußreichen Manne anzubringen, mußte aber seine Ansprüche
immer mehr hcrabstimmen. Nachdem sein Verlangen nach einer Richterstelle
sür unerfüllbar erklärt worden, ließ er sich herab, um einen Secreiärposten bei
^r Post zu bitten, und als auch dieser-nicht zu haben, pctitionirlc er um das
Amt eines LcucktthurmwärlerS, „gleichviel wo".
Willards Hotel hat zwischen zwei- und dreitausend Betten und eine so
wcuuügfaltige Speisekarte, daß ein separates Frühstück für einen Mann von
einfachen Gewohnheiten aus „schwarzem Thee mit Zwieback, Eiern auf Butter,
huschen Eisen, einer wilden Taube, Schweinsfüßen, zwei gebratenen Nothkehlchen.
Austern und verschiedenen Brödchen und Kuchen besteht. Es bedarf eines be¬
deutenden Verwaltungstalents, um solch einen Gasthof gehörig zu administriren,
und die Amerikaner stellen wirtlich die Kunst der Gasthalterci so hoch, daß sie
ihre Achtung vor derselben in einem eignen Sprichwort ausgeprägt haben.
Sie sagen: „Brown ist ein gescheidter Mensch, aber er lange nicht zum
Gastwirt!),"
„Das Postamt und das Patentamt stehen in geringer Entfernung von
der oben genannten Hauptstraße in Fstreet und zwar einander gegenüber. Ersteres
ist unstreitig ein schöner Bau, ein Viereck ohne bestimmte Front und ohne
Haupteingang. Verziert ist es mit korinthischen Säulen, die ohne Unterbau
auf gleichem Niveau mit der Straße endigen. Das Gebäude würde jeder
Stadt zum Schmuck gereichen. Allein die Straßen ringsum sind unfertig, und
man muß zu ihnen durch Schmutzscen hindurch, die sehr unschön sind, aber das
Gute haben, daß sie den Zudrang der Leute vermindern und so den über-
angcstrcngten Postexpedientcn einige Erleichterung schaffen. Die Seite, auf
welcher der Zudrang des Publicums am größten ist, war bei Trollopes An¬
wesenheit stets mit mächtigen Bergen von Mehlfässern verbarricadirt, da wäh¬
rend des Kriegs hier zugleich das Proviantmagazin für die Armee sich befand.
Die Einrichtungen für das Publicum fand unser Reisender geradezu barbarisch.
Es gibt in Washington nur ein Postamt und nirgends Straßenbrieftasten,
nirgends Stellen, wo man Briefmarken kaufen oder Briefe abgeben kann, ja
nicht einmal eigentliche Briefträger. Dabei sind die Entfernungen in der
Stadt sehr beträchtlich, die Fahrgelegenheiten beschränkt, die Tiefe und Zähig¬
keit des Schmutzes auf allen Wegen ohne Gleichen.
Auch das Patentamt ist ein großer Bau mit Colonnaden, deren Säu¬
len der dorischen Ordnung angehören und welche an jeder der drei Fronten
Hintaufen. Man geht auf Stufen hinauf/ welche für das Auge angenehmer
als für die Beine sind. Das ganze Gebäude ist massiv und sehr wirksam, es
würde sogar einen großartigen Eindruck machen, wenn die Straßen umher
fertig wären. Der Nützlichkeitstrieb der Nation hat indeß viel dazu beigetragen,
das Aussehen des Hauses dadurch zu verderben, daß er ihm Fenster gab, welche
weder der Zahl noch der Größe nach zu ihm passen. Selbst unter dem
Porticus hat man solche Fenster angebracht, damit der ganze Raum benutzt
werden könne und kein Licht fehle. Den Effect eines Dutzends von Fenstern
in einem edlen dorischen Porticus, zwischen den Säulen hin mag man sich vor¬
stellen. Im Innern befindet sich eine Sammlung der Modelle aller derjenigen
Erfindungen, auf welche die Vereinigten Staaten Patente ertheilt haben, und
gegenwärtig hat man einen der Säle zu einem Militärspital eingerichtet.
Das Schatzamt oder Finanzministerium ist ein noch nicht vollendetes
Gebäude. Fertig ist nur die nach Süden gekehrte Front, die im Norden ist
noch zu bauen. Vollständig wird der Bau wahrscheinlich einen größern Ein¬
druck auf den Fremden machen, als irgend ein anderer in der Stadt, und zwar
sowohl seiner günstigen Lage als seines Charakters wegen. Das Schatzamt
steht aus der Pcnnsyivania-Avenue. Diese hat sich aber hier gedreht und läuft
gerade Von Norden nach Süden, so daß sie Platz sür das SchatzgcbÄude und
das Haus des Präsidenten läßt, durch welche beide sie gerade hätte hindurch¬
gehen müssen, wenn sie die frühere Richtung hätte beibehalten sollen. Das
Schatzamt ist mit Kolonnaden von Mischen Säulen geschmückt, und erhebt sich
auf einem Unterbau, zu dem Freitreppen hinaufführen. Die Granitquadcrn.
die man dazu verwendet hat. machen dasselbe ganz massiv. Steigt man die
Stufen im Süden hinan, so trifft man zwei dieser Quadern (an jeder der bei¬
den Seiten des Ausgangs einen) deren Fläche zwanzig Fuß Länge und achtzehn
Fuß Breite hat. Auch die Säulen sind alle aus einem Stück und haben
eine Länge von zweiunddreißig und einen Durchmesser von fünf Fuß,
Nicht fern von hier befindet sich die Wohnung des Präsidenten — das
«Weihe Haus", wie eS in der ganzen Welt heißt. Es ist ein hübsches Gebäude,
sauber, anständig, aber nicht groß, ganz wie es für den ersten Beamten einer
Republik paßt. In London gibt es weit größere Häuser, die nur von einer
Familie bewohnt sind. Seine Fe>?abe ist einem netten Garten zugekehrt, der
sich nach der unvermeidlichen Pcnnsulvania-Avenue öffnet, und zu welchem das
Publicum stets Zutritt hat. In der Mitte der Anlagen steht, unmittelbar dem
Weihen Hause gegenüber, die Reiterstatue des Generals Jackson. Sie ist sehr
schlecht, aber doch nicht so schlecht, als sie hätte sein können, wie eine andere
Reiterstatue beweist, die des Generals Washington, welche sich aus einer ähn¬
lichen Gartenanlage in der Nachbarschaft der nach der Vorstadt Georgetown
führenden Brücke erhebt. „Von allen Reiterstatuen aus Marmor oder Erz, die
ich gesehen." sagt Trvllope. „ist diese unstreitig die erbärmlichste und lächerlichste.
Das Pferd ist höchst albern ausgeführt, der Reiter darauf aber offenbar be¬
trunken. Ich möchte glauben, es werde eine Zeit kommen, in welcher man
buse Statue unter jeder Bedingung entfernt."
Das Haus des Präsidenten siebt, wie bemerkt, ganz hübsch aus, steht aber
"uf sumpfigem Boden, nicht viel über dem Wasserspiegel des Potomac und ist
deshalb sehr ungesund. Man sagte Trollvpe, Alle, die darin wohnten, bekämen
das Fieber. Das kommt davon, daß man die Lage der Stadt ohne Rücksicht
"us Boden und Umgebung gewählt hat. Große Städte gründet man heutzu¬
tage nicht an ungesunden Stellen. Die Menschen sammeln sich an solchen nicht,
oder verlassen sie. sobald sie ihre Beschaffenheit kennen gelernt haben. Der
arme Präsident freilich kann vor Ablauf seiner Regierungsperiode das Weiße
Haus nicht verlassen. Er muß zusehen, wie er mit der Wohnung auskommt.
wei.be die Nation für ihn eingerichtet hat.
Das letzte große öffentliche Gebäude Washingtons, das Smithsonian Insel'
ente nennt Trollope bastardgothisch und meint damit, in der Hauptsache sei es
gothisch, aber man habe sich damit Freiheiten erlaubt, welche die architektonische
Reinheit stören. Es ist von rothem Stein aufgeführt und an sich nicht häßlich.
„Es hat eine sehr hübsche normannische Pforte, und kleine lombardisch-gothische
Einzelnheiten sind gut nach dem kölner Dom copirt. Aber man hat Fenster
darin angebracht mit Stabbvgen, und die Stäbe scheinen brechen und sich
beugen zu wollen, so schmal und so hoch sind sie. Ferner sind die Thürme
mit den hohen Zinnendächern ein Irrthum, wenn sie nicht etwa dem ganzen
Bau den Namen des Romanischen geben sollten, welchen es angenommen
hat. Das Gebäude enthält- Sammlungen und dient zu Vorlesungen. Es
wurde der Stadt von einem Engländer, James Smithson geschenkt. Ich
kann nicht sagen, daß die Stadt dafür dankbar wäre; denn Alle, mit denen
ich darüber sprach, meinten, es sei eine Fehlgeburt. Indeß darf man nicht
außer Acht lassen, daß Niemand in Washington auf etwas darin Befindliches
stolz ist, so wenig wie auf die Stadt selbst. Wäre das smithsvnische Institut
in Newyork oder Boston, so würde man ganz anders darüber sprechen."
Man hat den Versuch gemacht, in Washington einen ungeheuren Obelisken
zu Ehren Georg Washingtons aufzurichten, des „Ersten in Krieg und Frieden",
wie das Land ihn mit Stolz nennt. Dieser Obelisk ist ein rechter Typus der
Stadt. Er ist nicht fertig, da noch nicht der dritte Theil davon aufgebaut ist,
und er wird, so weit menschliche Boraussicht reicht, unvollendet bleiben.
Fertig würde er zwar sicherlich nicht das schönste, wohl aber das höchste
Monument seiner Art auf Erden sein. Aber was wäre das im Vergleich
mit den großen Pyramiden? Moderne Unternehmungen dieser- Gattung
lassen sich an einfacher Größe mit denen der alte» Welt nicht vergleichen-
Statt der bloßen Größe erstreben die Neueren immer entweder Schönheit
oder Nützlichkeit. Bei dem Washington - Monument würde keines von
beiden zu finden sein. Ein Obelisk in den Verhältnissen einer Nadel mag
sehr anmuthig sein; aber ein Obelisk, der eine Menge flachdachiger, weit¬
greifender Bauten als Unterlage bedarf, und dessen Schaft so dick sein s^l
wie ein Kirchthurm, kann unmöglich Anspruch auf Zierlichkeit haben. Jetzt
ist ungefähr der dritte Theil des Schaftes gebaut, und so steht er da. Nie¬
mand weiß auch nur ein Wort dafür zu sagen. Niemand glaubt, daß das
Geld zusammenkommen wird, das zu seiner Vollendung erforderlich ist. Trollope
erzählt: „Ich sah irgendwo eine Glasbüchse zu diesem Zwecke aufgestellt, und
als ich hineinblickte, bemerkte ich, daß nur halbe Dollars hineingelegt waren,
darunter — zwei falsche. Man sagte mir auch, der Grund des ganzen Baues
tauge nichts, der Boden so nahe am Flusse und morastig werde die Last, die
er tragen solle, nicht ertragen können."
„Eine traurige Stelle," fährt unser Reisender fort, „war dieser Sumpf,
als ich an einem Sonntagsnachmittag allein daran hinwanderte. Der Boden
war gefroren, und ich konnte trocken darüber gehen, aber kein Grashalm zeigte
sich. Nach allen Seiten um mich her gab es Vieh in großer Menge, mäch¬
tige Ochsen, die hungernd nach einer Mahlzeit brüllten. Sie waren Schlacht¬
thiere für die Armee, und wahrscheinlich sollten sie den hungrigen Magen nie
wieder füllen. Da auf dem braunen häßlichen Gefilde, im Angesichte des
Hauses des Präsidenten, stand der nutz- und gestaltlose Steinhaufen. Mir
war. als sähe ich in demselben den Genius des Ortes. Groß, anspruchsvoll,
kühn. ruhmredig stand er da. beretts um v,ele Köpfe größer als andere Obe¬
lisken, und doch noch ein Kind, häßlich, widerwärtig, eine Lüge. Der Grün¬
der des Monuments hat gesagt- hier soll der Weltobelisk stehen, wie der
Gründer der Stadt etwas Aehnliches von seinem Kinde gedacht haben mag.
Möglich allerdings bleibt es. daß sowohl die Stadt als der Obelisk einmal
fertig werden; gegenwärtig aber scheint Jedermann weder an das Eine noch
an das Andere zu glauben. Ich habe großes Vertrauen zu dem amerikanischen
Charakter, vermag aber weder der Stadt Washington noch dem Washington-
Denkmal eine Zukunft zu weissagen. Die Prahlerei ist zu groß und das. was
man bisher daran gethan hat, zu geringfügig gewesen."
Aehnliches sagt der Verfasser des Aufsatzes im „C o rnhill - Ma g azin ",
mi Amerikaner. An die Möglichkeit denkend. daß Washington der Union ge¬
nommen werden könnte, bemerkt er: „Der Verlust der Stadt wird vielleicht
für unmöglich gehalten. Die Arbeiter schichten Quader auf Quader beim Bau
des weitgedehnten Schatzamtes und bauen geschäftig an der großen Kuppel des>
Capitols. Nur ein Bauwerk verwittert in Vernachlässigung — der unfertige
Schaft des Washington-Denkmals. Ich tastete eines Nachmittags mich durch
die Pfützen und Sümpfe der Straße nach der Wohnung des Vortiers und pas-
sirte. nachdem ich den Schlüssel bekommen, über ein kolbiges Feld und durch
une Heerde von Armeevieh nach den wackeligen Stufen. Ich stieg diese hin¬
auf, schvv die Riegel einer Breterthür zurück und stand nun unter dem tempo¬
rären Dache. Der Regen war hindurch getröpfelt und hatte auf dem Boden
"ne Lache Kalkwasser gebildet, und die Blöcke von Marmor, Granit. Kupfer
und Blei, welche den Schaft bilden, sahen verwittert und von Frost angefressen
aus. Trübsinnig las ich auf ihnen die Inschriften:
„Louisiana, ewig treu der Union, verehrt diesen Granitblock."
„Alexandria. die Heimath Washingtons, sendet diese Tafel zu dessen
Denkmal. — Freiheit und Einigkeit!"
„Diese Probe von Tennessee-Marmor bezeugt die nimmer ersterbende An-
hänglichkeit der Nachbarn Henry Clavs an die Union, gegründet von Georg
Washington, dem Vater seines Landes."
Dieselben traurigen Gedanken mache» sich viele Amerikaner, namentlich
im Osten und in den kräftigen und weniger verdorbenen Staaten, die in dem
letzten Me nschenalter aus den Hinterwäldern des Westens hervorgewachsen sind.
In Washington scheint man von dieser Betrübniß über die Noth des Vater¬
landes wenig zu empfinden. Trollopc erzählt:
„Leute, die man in Washington traf, waren wegen der Lage der Dinge
nicht so unglücklich. Sie zeigten sich hauptsächlich gleichgiltig, freilich gleich-
giltig infolge des Verlusts alles ihres Glaubens. „Wir haben eine Armee,
ja; aber was für eine Armee! Keiner gehvrchi, keiner thut etwas. Keiner
denkt an Vorrücken. Zweimalhunderttausend Mann vielleicht stehen um Wa¬
shington herum, und die Beschaffung von Lebensmitteln und Kleidern für die¬
selben nimmt alle Kräfte in Anspruch. Die Lieferanten werden reich dabei.
Und die Negierung! Wer vertraut auf sie, wer auf Seward und Cameron?
Der Congreß! Was kann, was soll der Congreß thun? Fragen wird er thun,
die Niemand beantworten mag, und endlich eingepackt und nach Hause ge¬
schickt werden. Der Präsident und die Constitution kommen nicht besser weg.
Der erstere, so sagte man, thut nichts, weder etwas Gutes noch etwas Schlech¬
tes. Die letztere ist zerfallen und hat sich nicht bewährt. So aßen, tranken
und lachten die Leute und warteten, bis das Chaos käme, doch hielten sie
sich an der Ueberzeugung fest, daß Hie Atome, in welche die Welt sich auf¬
lösen werde, in irgend einer Weise sich wieder zusammenfinden würden, ohne
daß sie selbst, die Leute, etwas dazu thäten."
Auch die Erbitterung über England und dessen Verhalten zu den Er¬
eignissen in Amerika, die in andern Gegenden Amerikas herrschte, wurde von
den Bewohnern der Bundesstadt, so weit Trollope sie kennen lernte, nicht ge¬
theilt. „Wir," so hätte Jemand in Washington sagen können, „wissen recht
gut, daß jeder zuerst für sich sorgen muß. Wir sind den Engländern wohl¬
geneigt und sehen sie immer gern an unserm Tische, so oft sie über das Meer
herüberkommen. Aber wir sind auch zu gut mit der Welt bekannt, als daß
wir erwarten sollten, sie würden an unsern Sorgen theilnehmen. Wir zerfallen
in Stücke, und das ist natürlich für die Engländer ein Vortheil. — Nehmen
Sie aber doch eine andre Cigarre".
Ja. Dank der wohlwollenden Fürsorge und der Strenge der preußischen
Regierung steht der polnische Klerus unserer Provinz so hoch über dem des
„Königreichs", wie er wiederum mit einigen Ausnahmen unter der katholischen
Geistlichkeit von Schlesien und Rheinland steht. Sie sind vorüber, die urgemuth-
lichcn Zeiten, wo der Geistliche in stiller Selbstgenügsamkeit das Aeußere seines
Amtes versah und die reichlich gebotne Muße zwischen dem ungarischen Freund
und der polnischen Freundin theilte; die schönen Zeiten, mo der alte Pfarrer am
ersten Ostertage seine kurze, originelle Rede schloß: „Morgen. Ihr wäret so auch
nicht gekommen; aber Ihr brauet auch nicht, 's ist keine Kirche. Warum?
ich verreise. Wohin? Ihr möchtet's gerne wissen?! Pah! ich sag's Euch nicht.
Amen." Vater unser. Segen!
Diese Herren hatten dabei nicht einmal alle den Vorzug, daß sie Frieden
hielten. Auch sind jene anmuthigen Zeiten noch gar nicht sehr lange vorüber.
Man lese nach, wie Flottwell über die Geistlichen in Posen klagt. Als ich vor
zwanzig Jahren an Gelde arm. an guten Vorsätzen reich, die Alma Viadrina
bezog, war der erste lebendige Student, der mich begrüßte, ein katholischer
Theologus. ein wohlgenährter Oberschlcsicr. Er hatte vergeblich versucht, seinen
Ueberschuß an Kneipengelehrsamkeit mit dem Deficit an geistlicher auszugleichen;
er kam nicht ins Seminar. Ruhig trug er sein Geschick-
, ich gehe nach Posen
oder Pelplin, dort nehmen sie jeden, es fehlt zu viel. Wirklich hat der Hoch-
Würdige Bischof Sedlag („unseligen Angedenkens", wie Dzicnnik sagt) ihn reci-
pirt, und vielleicht eifert er nun irgendwo für sein polnisch Vaterland und
verweigert deutsche Adressen. Noch vor fünfzehn Jahren blieben aus Mangel
"n qualisizirten Polen dreihundert geistliche Stellen in der Provinz Posen un¬
besetzt, und sogar 18S0 setzte Bischof Marwitz von Culm der Klage, daß er
nicht mehr Polen anstelle^ öffentlich diese Thatsache entgegen. Immer noch
leben unter uns ehrwürdige Reliquien jener Zeit. Geistliche, für deren Gaben
und Kräfte eine Predigt oder ein Bericht transcendente Dinge sind. Auch wird
da und dort ein „polnischer" Amtsbruder versprengt. Einer von ihnen zeichnete
sich vor drei Jahren als Wunderdoctor der ordinärsten Art aus. Wir haben
die Zettel gesehen, auf denen er „Mücken- und Wanzenfett" verordnete. Zu¬
letzt nahm das Kreisgericht von seiner Wirksamkeit Notiz, und da überdies ver¬
lautete, daß es mit den Weihen des geistlichen Arztes, der schon anderswo
gerichtlich bestraft war. nicht ganz richtig sei, so hätte man den (nachher durch
die Amnestie erlassenen) fünfzig Thalern Geldbuße gern eine ernstere Ahndung
hinzugefügt. Aber der katholische Klerus hat das mit der Judenschaft
gemein, daß er keinen der Seinigen fallen läßt. Es soll dadurch die Achtung
vor dem Stande erhöht werden. Das Gegentheil wird erreicht. Bei aller
Kriecherei vor demselben bat das Volk doch keine Verehrung sür ihn; je tiefer
es sich neigt, desto größer ist die innere Verachtung, die sich auch in Reden
kundgibt; ebenso im Mißtrauen gegen alles das, was der „Pfaff" — so nennen
sie ihn, wen» sie deutsch reden — unternimmt.
Eine Landgemeinde im Kreise Posen verweigerte dem Probst die Geneh¬
migung, als er das Kirchenvermögen und die pass, saers, in seine Verwahrung
nehmen wollte. Man wisse noch zu gut, hieß es, wie es 1848 mit den, .«irchen-
vennögen zugegangen sei. Vor etwa vierzehn Tagen*) geschah es — auch im
Landkreise Posen — daß ein Bauer den Probst bei seiner Ermahnung an
die Gemeinde, die neue Freiheit nicht auf die Abgaben für die Geistlichen
anzuwenden, aufforderte, vein Evangelium zu bleiben. — Das Witzblatt
„Czma" führt uns einen mit handgreiflicher Deutlichkeit gezeichneten Probst,
welcher durch die genaue Kenntniß der besten Ungarweinquellen und seine geschäft¬
lichen Verbindungen mit ihnen Nuf hat, beim hohen Kartenspiel vor und
läßt ihm zu Ehren den Chorus singen: Tausend Thaler sind für den Probst
nur eine Bagatelle; für seine Verluste steht ihm seine Herrin ein.
Mit dieser Nichtachtung des katholischen Volkes vor seinem Klerus siebt
diejenige vor den heiligen Acten in Verbindung. Wir haben noch niemals
Stille und Ernst bei ihren Gottesdiensten angetroffen, noch keinen in Ordnung
erhaltenen Leichenzug gesehen. Redlich verdient ist die Geringschätzung durch
die geringe Sorge der Geistlichen für die Bildung des Volkes, namentlich fer'
die Schulen, welche der allergrößten Mehrzahl von ihnen erst am Herzen liegen,
wenn sie Gelegenheit zur Wühlerei bieten. Ich kann mit den Namen der
Dörfer dienen, in denen wegen eingefallenen Schulhauses oder wegen Vacanz
die Schule fast ein Jahr lang ausfiel.
Die neuere und neueste Zeit hat uns eine Anzahl ausgezeichneter Klerike>
gebracht, sittlich reiner, gründlich unterrichteter, beredter, in Armen- und
Krankenpflege überaus eifriger Männer, die jedem Lande zur Zierde gereichen
würden. Leider richten sie aber all ihre Thätigkeit auf polnische, oft auch aus
jesuitische Zwecke. In einer Stadt der Provinz wirkten zwei Männer neben¬
einander, von denen man zu glauben versucht war, sie hätten unserem Anastasius
Grün zu seinem Bilde der Dicke und der Dünne gesessen.
Machen wir mit Einigen von ihnen und ihrer Predigtwcise nähere Bekannt¬
schaft. Herr Probst, auch Abgeordneter, Nespondek aus Punitz predigt am
Tage der Himmelfahrt:
„Wenn diejenigen, welche, verfolgt von den Ihrigen im polnischen Lande
gastliche Aufnahme und auf ihren Wanderungen reichliches Brod bei uns fanden,
öffentliche Zusammenkünfte halten und mit keckem Leichtsinn Programme auf¬
stellen, um sich so schnell als möglich in unsern alten Sitzen auszubreiten und
uns zu ihren Knechten zu machen, werden wir da die Hände müßig in den
Schooß legen und uns dem Schlafe überlassen? O. schlaft nur, schlaft nur
noch ein wenig, und Ihr werdet bald durch die bittern Worte des Propheten
geweckt werden: Unglück wird über dich kommen, Druck und plötzlich Elend
werben über dich hereinbrechen (Jesaias 47, 11), denn ich will dies Volk mit
Wermuth speisen und mit Galle tränken; ich will ihre Weiber und ihre
Felder den Fremdlingen geben (Ier. 8, 10; 9, 15). Wir unsrerseits
werden nicht vom hitzigen Kampfplatz weichen; wir werden Euch mit dem geist¬
lichen Arme schützen gegen zeitliche und ewige Gefahren. Wir waren in und
nut der Nation in den Epochen ihres Glanzes; wir werden ihr auch in ihrem
Drucke nicht untreu werden, bessre Zeiten von Gottes Barmherzigkeit erwartend.
Die Vorsehung bat ihre bestimmten Zeiten; unsere Sache ist es, unter Gebet
und Arbeit abzuwarten, bis diese Zeiten kommen, bis die Gerechtigkeit sich zum
Gerechten Werber." — „Und was wollen wir. indem orr als Seelenhirten
und Hüter der göttlichen Gerechtigkeit in erster Kampfllnie stehen? Wir wollen,
daß Eure Häuser und Aecker nicht den Fremden zu Theil werden. Wir wolle»,
daß Eure Söhne und Töchter und die künftigen Geschlechter nicht der Schmach
und dem Hohne preisgegeben, nicht bei den Nachbarn zum Gespött werden,
und weil wir das aufrichtig wollen, so werden wir nicht aufhören zu bitten
und unsre Warnung vom Altar und von der Kanzel zu erheben: „Hütet Euch
den falschen Propheten, die in Schafskleidern zu Euch kommen, inwendig
"ber reißende Wölfe sind. Wir sind Bein von Eurem Bern, Blut von Eurem
^tut; wir werden als Diener des lebendigen Gottes fort und fort mit
stehender Stimme das Gebet wiederholen: Vergib, Herr,, o vergib deinem
Avlke und überliesere dein Erbe nicht der Schande." — — „O Maria unsere
Beschützerin und Vermittlerin, wir kämpfen gegen die Hinterlist des Teu°
l^is. gegen den Herrn der Finsterniß dieser Welt, gegen die geist¬
liche Bosheit, die unterm Himmel ist; schütze uns mit deiner Rechten
Segen die Pfeile, die uns tiefe Wunden versetzen. O Maria unsere Königin,
Wanze deine heilige Fahne auf die feindlichen Mauern, damit wir triumphiren."
Dieser fromme Erguß einer priesterlichen Seele steht im ^Foäiülr KatoliLlci
wörtlich zu lesen. Der Tygodnik erscheint in Grätz unter der gewandten Re¬
daction des öl-. v. Prusinowst'i, des einzigen polnischen Abgeordneten, der siel,
eine gewisse Selbständigkeit wahrt, den aber sein glühender Haß gegen Pro¬
testantismus und Preußenthum mehr als einmal in schweren Conflict mit dem
Gesetze gebracht hat, dessen mildeste Auslegung für die Ausschweifungen seiner
geistlichen Beredsamkeit keinen Schul; hat. Er ist die Seele der specifisch katho¬
lischen oder klerikalen Partei unter den Polen, bei der wir außer ihm z. B.
noch den durch seine halbvergcblichen und vielgeschvlteneu Bemühungen um eine
Agitation für den Papst bekannten Probst Napoleon v. Osmolski in Wvngro-
wicc finden.
'->- Wollen Sie Herrn v. Prusinvwski näher kennen lernen, so lassen Sie
sich von Pokraka führen. Der beschreibt uns die schauerlich mönchische Ein¬
richtung, die im Nedactionozimmer mit französischem Comfort streitet. Dem
Probst dient die s^I-rA (drmse longuv) zum Ruhesitz; außer den Organen
der Jesuiten liegen ihm Bibel und Acten der Inquisition zur Hand. Im
Nebenzimmer ist seine Gesellschaft von Damen und Herren mit Karten, Wein
und heiterm Gespräch beschäftigt. Der Geistliche aber, der Mann mit dein
ernsten, ruhigen Gesicht und der römischen Nase gebietet seinem Schreiber die
Thür zu schließen, damit dem düstern Cabinet. der Stätte seiner Thätigkeit,
Ruhe und Berborgenheit bliebe, und dictirt ihm dann zu dessen Erstaunen eine
römische „Originalcorrespondenz" voll Entsetzens über die Theilnahme des Dzien-
nik für Garibaldi.
verfolgen wir die Koryphäen dieser Partei weiter, so zeigt uns die Czma
ihr weltlich Haupt, unter dem Namen des Grafen Cäsar Bohater beim Karte»'
spiel um Tausende. Karlchen, I(!U'0loin. der Sohn spielt mit; er war ja in
Metz bei den Jesuiten (W>2non6v) in der Lehre, ist also gewandt genug,
dem Vater und seinem Probst die Summe abzunehmen. Der Alte will Stand
halten, „bis der Berg ein Loch hat" (gor-r, Berg ist der Name des Gutes
v. Graf Cäsar Plater); dies Mal aber wird er von seiner lieben Frau gestört,
welche das ganze Kleinhvmburg aufhebt und Graf „Bohater" beginnt die
geistlichen Uebungen, bei denen ihn nachher der piiter ^esuit-i antrifft.
Endlich können Sie auch die Physiognomien dieser Herren in dem L5in.ja
'MellMpolLlii sehen, der uns ein Rad zeigt, an dessen einer Seite drei Polen
von der Bewegungspartei, an der andern die Ultramontanen ziehen und
worunter zu lesen ist! warum die polnische Karre steht (Dia c/sgo Lollw
^olskis stoi).
Den Klerikalen am nächsten, aber noch weniger als sie im Bolle gewur¬
zelt, steht die Partei der aristokratischen Emigration. Aus ihrem Organe, dem
niaäomosci xolskis habe ich am Schlüsse des vorigen Briefes eine Probe mit-
getheilt. Sie sind es, die unermüdlich auf Frankreich hoffen, sie erfüllten 185S
Und 1859 die Nation mit der Hoffnung, Kaiser Napoleon werde in seinen
Friedensbedinguuge» sich ihrer annehmen. In dieser Zuversicht find sie incu-
rabcl, und es ist schon alles Mögliche, daß Fürst Wladislaw Czartvryski in
dem Manifest, mit dem er nach dem Tode des alten Fürsten Adam seine Herr¬
schaft antritt, darauf hinweist, daß die Polen auch im Lande etwas für sich
thun können. Die Hauptsache bleibt ihm aber dabei doch, „die Thätigkeit des
Landes kundzugeben und zu deuten, die nationalen Rechte vor der öffentlichen
Meinung und den Regierungen Europas zu vertheidigen, mit auswärti¬
gen Staaten Verbindungen anzuknüpfen und zu pflegen, welche
Polen zur Abschüttelun g seines Jo ches und zur Gewinnung eines
unabhängigen Lebens und Wirkens behülflich sein können."
Er setzt seinen Landsleuten auseinander, daß das Meiste für Polens Be¬
freiung durch die fremden Staaten, namentlich auch zur Beschleunigung der
entscheidenden Kämpfe mit den Erbfeinden geschehen werde, und fährt fort:
"Auch außerhalb des Landes gibt es daher für die Polen ein weites Feld der
Wirksamkeit, auf dem große Vortheile zu gewinnen sind. Dieser wichtige
Theil der allgemeine» nationalen Arbeit fällt seiner Natur nach der Emigra¬
tion zu, und es ist als eine Fügung der Vorsehung zu betrachten, daß ganz
Polen, obgleich es der Unabhängigkeit und eigenen Negierung entbehrt, den-
noch seinen auswärtigen Dienst hat, der heute schon im Stande ist,
die auswärtigen Interessen und Bedürfnisse der Nation wahr¬
zunehmen und zu vertheidigen."
Am 29. November 1862 bei der Revolutionsfeier im Saale der polnischen
Bibliothek ließ sich Fürst Wladislaw wieder vernehmen. Er plaidirte für mo¬
ralischen Kampf und verglich das durch unzeitigen Aufstand zerrüttete Galizien
alt Großpolen, „das in jeder Noth mit geordneten Kräften zum Kampf tritt."
Diesen gallisirenden Patrioten gehörte auch Graf Titus Dzialinski an,
der 1889 sein Mandat als Abgeordneter niederlegte, um kein Geld bewilligen
Zu dürfen, das möglichenfalls gegen den Wohlthäter seines Volkes, Napoleon
den Dritten, gebraucht werden könne. Der hat es offen gesagt, er Halle
jeden für einen Verräther und Schurken, der polnische Erde an Deutsche Ver¬
rüfe, letzteres, weil sie am Tage der Freiheit dem polnischen Volke als recht¬
mäßigem Besitzer zurückfallen müsse. Er hat uns auch unterrichtet, wie weit
das polnische Vaterland reicht; „das ganze Großherzogthum Posen, das Groß-
fürstenthum Litthauen, die Lande Kral'an, Sandomir, Sieradz, Lenczyc, Ku-
iawien, Nussimin, Volhynien, Preußen, Masvwien, Podlachien, Kulm,
Elbing. Pommern, Samogitien, Liefland und die übrigen" (vgl. seine
Erklärung im Januar 1860 im Dziennik Poznanski). Im EinVerständniß mit
jener Peu'dei erscheinen die Broschüren bei Denen in Paris; sie erregte und
nährte die Erwartung eines europäischen Kongresses, aus dem die polnischen
Mitglieder des preußischen Landtags neben den Vertretern der legitimen euro¬
päischen Mächte sitzen sollten. Auf ihre Veranlassung unternahm endlich der
Graf Montalembert eine Reise nach Polen, auf der er auch fast so viel Tage
in, Posen war, wie ich Jahre. Trotzdem hat sein Scharfblick gesehen, was
mir bis heute entgangen ist. Gestatten Sie mir eine Blumenlese aus der
Nation «u äeuil, welche als Frucht dieser Inspektionsreise 1861 in Paris
erschienen ist.
„Es hat sich wieder einmal eine erlauchte, großmüthige, glühende, vater¬
landsliebende, freisinnige, gewissenhafte, geistreiche, gläubige Nation, die zu
leiden und zu sterben weiß, der Welt offenbart, und als hätte sie weder Mitleid
noch Gefühl, hat diese sich von ihr abgewendet. S. 11.
Unsere Demokraten haben etwas mehr Theilnahme für Ungarn, weil es
minder katholisch ist als Posen. S. 11.
Polen ist von unerbittlichen Feinden geschlagen, gemordet, beschimpft
worden. Religion, Gesetzgebung, Erziehung, Sprache, Tracht, Geld, Handel,
Besitz, nichts ist geschont worden, und doch ist Polen nicht untergegangen.
S. 12.
Ich finde, daß Polen in seinem Unglück alle Tugenden besitzt und zeigt,
deren Mangel man ihm vorwarf, und welche gerade den meisten Völkern
Europas fehlen. Besonnenheit, Klugheit, Zucht. Mäßigkeit und Selbstbeherr¬
schung, um die Feinde desto leichter zu überwinden, die Selbstzucht, die erste
und beste Bedingung der Selbstregierung. S. 13.
Die Constitution vom 3. Mai 1791, die beste, die aus Menschenhänden
kam (mit leibeigenen Bauern). S. 16.
In Polen role in Ungarn ist der Adel, d. h. der große und kleine Besitz
tief innerlich mit den Bauern, den arbeitenden Classen vereinigt. S. 18.
Nachdem ich einen Augenblick die Hand an das Herz Polens gelegt, scheue
ich mich nicht zu versichern, daß es die gesundeste Rat,on Europas ist-
s. 21.
Ohne Polen würde die Kirche im ganzen Norden und Osten Europas, von
der Weser ins zur Wolga keine Zuflucht, keinen Altar mehr haben! (Fürst'
biscbof Heinrich in Breslau?) S. 21.
Diese Republik, welche die Päpste als die ganz besonders rechtgläubige
bezeichnet haben, hat zuerst bei Juden und Protestanten die Gewissensfreiheit
geachtet (vgl. unsern zweiten, dritten und vierten Brief). S. 23.
Die Feindschaft Preußens ist leider nur zu gewiß. Friedrich der Zweite
(schon vor der zweiten Theilung gestorben, Herr Graf!) ist der unversöhnlichste
Werkmeister des Unterganges der Polen gewesen, und heute haben sie keinen
erbitterteren Feind als Preußen und hinter ihm ganz Deutschland- Denn ich
bin verurtheilt, es auszusprechen, seit dieses Deutschland in seinem Herzen Von
dem Teufel der Demokratie und der Einheitsbestrebungen berührt worden ist.
findet man bei ihm von jener edlen Theilnahme. die es dem polnischen Auf.
stände von 1831 so reichlich entgegenbrachte, keine Spur mehr. Ich muß hm-
Mügnn diese Feindschaft ist gegenseitig. Jeder aufmerksame Beobachter
wird' anerkennen, daß die preußischen Polen bitterer und deftiger
über ihr Joch klagen, als ihre Nachbarn über das moskowitische.
Sie geben zu. daß sie für ihre Person mehr Freiheit haben, aber
sie fügen hinzu, daß sie als Nation mehr bedroht sind").
Meine Freunde an der Warthe wollen mir verzeihen: hatte ich die Ehre
Pole zu sein, ich möchte es lieber in Preußen als in Rußland sein. S. 36.
Es ist indeß gewiß, daß Preußen in den seinen Gesetzen unterworfenen
Polnischen Provinzen die polnische Nationalität durch Mittel, welche die Russen
nicht oder nicht mehr anwenden, verfolgt. Es arbeitet systematisch darauf, die
Polen von allen Aemtern auszuschließen, die polnische Sprache zu vernichten,
den Protestantismus einzuführen, den Grundbesitz in deutsche Hände zu
bringen. Alle Richter-, Verwaltungs- und Kassenstellen werden den Deutschen
gegeben." S. 37.
Nachher erzählt er von den evangelischen Kirchensystemen für fünf oder
sechs Deutsche in einem polnischen Dorfe, und dann bringt er em hübsch
erfundenes Märchen von der neuen Landschaft. Durch Kriege, unentgeltliche
Verwaltung der großen Staatsämter haben sich die Polen in Schulden gestürzt,
die Bauernbefreiung hat die Armuth vergrößert. Sofort hat die Regierung
den Deutschen große Summen zum Ankauf polnischen Landes gegeben. Tue
Geängsteten haben nur die neue Landschaft gegründet, welche ihnen große
Dienste geleistet hat. „Durch eine Maßregel, welche es schwer ist, nicht als
Willkür oder Bosheit anzusehen, bat d,e Verwaltung die Fortführung dieser
Einrichtung, die schon anhob den Boden zu entlasten, untersagt. Sie borgt
selbst den Deutschen Geld und verbietet den Polen, sich gegenseitig solches zu
leihen. Alle Quellen des Credites werden also für den Polen verschlossen und
den Deutschen geöffnet." S. 38. (vgl. unsern fünften Brief.)
Es ist wohl nicht gut denkbar, daß Graf Montalembert Europa wider
besseres Wissen mit solchen kolossalen Unwahrheiten unterhält. Welches ist.'
also das Gewissen der Männer, die ihm das Material gaben?!
Lasse» wir ihn schließen: „Lebe wohl, du theures, edles Polen, Wenn
Gott deine Prüfung verlängert, will er dich ruhmvoller Befreiung um so
würdiger machen. Lebe Wohl, Niobe der Völker! Ein Gruß der Hoffnung
dem unsterblichen Bilde des Rechts, der Unschuld, des Unglücks, aber auch der
Kraft, der wahren, sittlichen Kraft, der einzigen, die es verdient, daß man ihr
aus Erden diene und sie bewundere." S. 48.
Die dritte Partei, im Volke, unter den Literaten, dem niedern und jun.
gern Klerus zahlreich vertreten, ist die social-demokratische. Sie ist so breit,
wie nur die deutsche radicale Partei in ihrer weiten Linie bis Kinkel oder
Karl Vogt sein kann. Auch ihre äußerste Linke wohnt im Auslande. Dort
gerirt sie sich offen als Bewcgungspartei und spricht es aus:
„Ganz Polen ist wiederherzustellen durch die sociale Revolution und den
Aufstand. Das ist die Losung!" Es sieht in der ersten Nummer der in Paris
erscheinenden dö.el?iro 66. I'rnczgi-ZÄ iMc?/^ rw!«kielr 18S9. Ur. 24. 8. belehrte
uns: „Der Aufstand muß immer wieder von Neuem versucht werden" (denuncirt
von den aristokratischen vis-äoinosei 1839 Ur. 36) und wieder sagt dire^no^:
„Die Revolution wird gelingen, wenn sie fanatisch ist, ein Vertilgungskrieg
gegen die Unterdrücker."
Aehnlich dachte wohl der Vicar, welcher Ostern 1861 predigte: So gewiß
Christus seine Ketten gesprengt und seine — Feinde niedergeschmettert hat,
so sicher werden auch wir bald unsre schweren Fesseln zerreißen, unsre Unter¬
drücker überwinden und triumphirend auferstehn.
Im Allgemeinen treten sie bei uns vorsichtiger auf, maßvoll kann man nicht
sagen. Ihre inländischen Organe sind der DsivnmK ?vMSQsKj und der I^cl-
vMcmw, letzterer eben wieder neu erstanden. Interessant ist ihr Krieg gegen
Adel und Geistlichkeit und deren Gegenwehr.
„Dort fahren die Demokraten," sagte Herr v. D., der sich auf seinen
Aufenthalt in Moabit viel zu gut that, zu seinem Wagcnnachbar und zeigte
auf das Gespann des Herrn v. W. „Wenn es losgeht, sind sie wieder alle in
London." Dafür rächen sich nun jene durch Spott, und Herr v. D. kommt im
Pokraka schlecht fort. Lassen Sie uns auch lesen, wie Nadwislanin den eben
verlaufenen Provinziallandtag beschreibt:
„Die wichtigsten Berathungen wurden darüber gepflogen, ob diese Ein¬
ladung zum Diner anzunehmen, jene abzulehnen, ob man im Frack oder der
Czamarke erscheinen solle. Sobald die officiellen Diners vorüber waren,
neue Noth; denn Frau R. ladet zum Balle, Frau F. zum Namenstage ein.
Doch man wird einig und beschließt, der Trauer wegen den Ball mit Ent'
rüsiung abzulehnen, die andre Einladung aber mit Demonstration anzunehmen-
— Welcher Luxus!" Nadwislanin beschreibt ihn ausführlich — „vier Tage wurde
gejubelt, getanzt, doch in Czamarken. Den Tag darauf Trauergottesdienst für
die Gräfin Zamoyska — die ganze Kirche gefüllt — die reine Crome. Der
Geistliche sprach von der Kanzel vortrefflich über Ägyptische Knechtschaft. d,e
Nation in Trauer. Aufopferung fürs Vaterland, von der Proscr.pe.on un
Königreich, vom qalizischen Blutbade, den Vorfällen in Rypin und schloß an
einer Aufforderung zu Beiträgen sür die Militärschule in Batignoles. we che
1600 polnische Groschen (8 Thlr. 26 Sgr. 4 Pf.) ergaben; dabei obligates Ge-
murmel über die endlosen Sammlungen, die Manchem kaum mehr etwas zu
Schuhwer? übrig lassen. Für das Denkmal und die Familie des verstorbenen
Dichters Kondrodowicz ist jedoch im Großherzogthum nicht ein Groschen her.
gegeben - dafür aber war er auch nicht vom Carmoisin - Adel. sondern em
schlichter Graukittel."
Nadwisicmin und Dziennik wollen, daß das Volk die Tändelei rrnt den
Demonstrationen lasse und zu Thaten übergehe; welcher Art? liegt auf der
Hand. Zu ihnen ist in neuester Zeit ein Satiriker gestoßen. welcher sich gleich¬
zeitig gegen die sittliche Schwäche der Nation richtet. Es liegen mir die ein¬
zelnen Blätter vor. Das erste vom 17. August nennt sick „?ol^w". Wind¬
beutel, das andere vom 3. September O-ma, Nachtvogel. Die Czma ist die
Tochter des Potrata und vermählt sich im November mit dem Markgraf
Wieikopolski; demnach trägt das dritte Blatt dem Titel KöujA Mi-Moxolsw.
Nicht eigentlich eine Partei, aber eine interessante Gruppe und kaum in
einer Stadt ganz ohne Vertretung bilden die Deutschen, die. weil sie in
Posen geboren sind, sich für Polen halten. Ihr Führer ist der schon öfters
erwähnte frühere Bataillonsarzt Dr. Metzig. Er hat. als die preußische Re.
gierung 1848 durch Abberufung Willisens einen „falschen" Weg einschlug, seinen
Abschied genommen und lebt in Lissa seiner Praxis und seinem großen Welt-
historischen Berufe, den er erfüllen wird, sobald er nur einmal zum Abgeord¬
neten gewählt wird. Er wird dann nach Berlin gehen, auch wenn, um mit
Luther zu reden, dort so viel Teufel auf ihn lauerten, als Ziegel auf den
Dächern sind. Er wird das Lügengewebe unserer Beamten zerreißen und den
König seinem Volke, das Volk seinem Könige gewinnen. Auch will er >n
Polnisch-Lissa eine slawische Universität gründen. Es wird ihm leicht sein, durch
seine Verbindungen von den 2,300,000 Slawen der Monarchie 2.000,000 Thlr.
zu erbitten. Davon werden 600,000 den Bürgern der Stadt zu Wohnungen
sür Professoren und Studenten gegeben. S00.000 Thlr. gehen für die Uni-
bersitätseinrichiung auf; 1.000,000 Thlr. gewähren jährlich 50,000 Thlr. zur
Besoldung der Professoren. — Unermüdlich setzt Dr. Metzig in Schrift und
Rede seine Ideen der ungläubigen Welt auseinander; mit »och größerer Ge-
duld sieht er zu. wie die polnischen Brüder ihn bei jeder Landtagswahl über-
gehn, ihm Berücksichtigung bei den Nachwahlen versprechen und. wo es zu
diesen kommt, ihm wieder polnische Treue halten. Ein wohlthätiger, friedlieben¬
der Mann, hat er sich d^es schon zu Forderungen und Drohungen heroischer
Natur fortreißen lasse», die namentlich vor viel Jahren einiges Aufsehen
machten.
Im Dienst und Gefolge der Parteien sehen wir nun zunächst die große
Zahl der Erben Johanns ohne Land. Es ist. als ob Riehl hier die Studien
zu seiner Zeichnung des vierten Standes gemacht hätte. Nirgends gibt es
mehr dunkle Existenzen, welche ohne Besitz ohne Arbeit, ohne Erwerb ihr
Leben fristen, trübselige Erben der einstmaligen Abenteurer aus der ärobna
KAlaelitg,.
Der Capitauo, der Emigrant, dem Sie auf jedem Edelhofe begegnen, wo
ihm Mitleid eine Freistätte gewährt, ist noch die edelste, würdigste Gestalt
dieser Art. Oft steht er schon in höhern Jahren, hat Welt und Menschen
kennen gelernt, ist mäßig in seinen Bedürfnissen, wie in seinen Ansichten, ein
treuer Freund des Hauses. Desto widerwärtiger ist die Menge der jungen
Pflastertreter. Unser Volksverein würde unter ihnen prächtige Statisten für
den bewußten Frack in der Wilhelmsstraße finden. Pokraka hat ein treffendes
Bild des Pflastertreters lites'obruk gezeichnet, der, weil er nichts gelernt hat
und nichts lernen will, für nichts Interesse hat, als für Politik. Nach allerlei
mißlungenen Versuchen bettelt er sich bei einer Zeitung an. Da er aber statt
der technischen Artikel, für die er gemiethet ist, nur politische schreiben will
muß ihn der Redacteur entlassen. Er trägt sich ganz national und läßt nur
bei polnische» Handwerkern arbeiten, wie er sagt; in Wahrheit aber können
Sie wohl bei einem deutschen Schneider an der Tafel mit Kreide gezeichnet
lesen: „12 Thlr. für die Czamarke. das Maß des Herrn von X." Sein ganzer
Beruf ist, Zeitungen zu lesen. Demonstrationen zu unterstützen u. f. w. Solch
ein Pflastertreter ist dann glücklich, wenn ihm das Martyrium einer Polizei¬
streife einen kleinen Glorienschein gibt.
Es ist vielleicht mit das größte Unglück an dem gegenwärtigen Agitations'
schwindet, daß, während im letzten Jahrzehnt ein guter Theil der polnischen
Jugend ernst gearbeitet hat, die jetzige die Legion der Zdijobruks recrutiren zu
wollen scheint. Alle Lehrer der polnischen Gymnasien klagen, daß ihre Schüler
nicht mehr lernen, sondern nur noch „wirken" wollen. Die neuerdings ent¬
deckte große Knabcnconspiration bat einen neuen Beweis dafür gegeben. Sie
werden mir nicht zumuthen, über diese Kinderei ausführlich, zu berichten.
Das sind die Factoren der polnischen Bewegung. Von ihnen geht ein
Druck auf die öffentliche Meinung aus, welchem zuletzt auch die Vernünftigsten
nachzugeben sich genöthigt sehen. Ein Keil treibt den andern, und Herr v. Ölberg
bat durchaus Recht.^wenn er feststellt, daß die Zahl der Polen, von denen die
dermaligen Klagen, Ansprüche. Demonstrationen. Drohungen u. s. w. ausgeben,
höchstens 2.000 Köpfe, V«v»<> Theil der Gesammtbevölkerung des Staates beträgt,
»ut die andern 700,000 Polen unter deren Joch vielleicht noch mehr leiden
als wir. Nadwislanin denuncirt jeden Polen, der in einem deutschen Hotel
einkehrt u, s. w. Andre erwählen Andres, so daß ein polnischer Gutsbesitzer
bei Gelegenheit der »iederstetterschen Affaire sagte: wenn man mir nur die
Polnische Polizei fern hielte, mit der preußischen wäre ich schon
jusrieden.
(Schluß in nächster Nummer).
Klopstock ist nicht selten als Beispiel gewählt worden, um den Gegensatz
ju charakterisiren. in welchem die Gegenwart zu der Empfindungsweise des
vorige» Jahrhunderts steht. Es wird uns leicht, seine Eitelkeit zu verurtheile»,
über seine Affectation zu lächeln, seiner Großmannssucht zu zürnen. Nicht
ebenso leicht, die relative Bedeutung zu würdigen, welche die ost maßlose
Selbstschätzung des Dichters für die Literatur und den Volksgeist gehabt hat.
In einer Zeit, welcher der sichere Regulator für den Werth des Mannes, ein
kräftiges Volksleben, eine starke öffentliche Meinung fehlt, wird auch der
Kräftige in Gefahr sein zwischen Selbstüberhebung und Selbstverachtung zu
schwanken; wo eine sichere Selbstachtung sehr schwer gefunden wird, kommtauch
der Mann von kräftiger Anlage in die Versuchung, seine Große und Bedeutung
zur Schau zu stellen, indem er sich ängstlich bemüht, den Zeitgenossen bei jeder
Lebensäußerung groß und bedeutend zu erscheinen. Und wieder, so lange die
Bedeutung eines Mannes vorzugsweise auf der Zahl persönlicher Anhänger und
Verehrer berühr, wird er sich bestreben, durch eine industriöse Artigkeit seines
Briefwechsels, durch gesellschaftliche Wirkungen, durch Verbindung und Pro-
tection Einfluß zu sichern. Der Gelehrte, der Dichter, dessen Leistung von
den Kreisen seiner Verehrer mit Entzücken, und fast sklavischer Hingebung auf¬
genommen wird, mag selten der Gefahr entgehen, auch Unbedeutende!», was
^ gesagt und geschrieben, eine übergroße Bedeutung beizulegen.
Der Cultus des Genius, wie man die empfindsame Unterordnung der
Gebildeten unter die Einwirkungen ihrer geistigen Führer genannt hat. ist uns
eigenthümliche Erscheinung einer Zeit, in welcher das Emporarbeiten des
Volkes und seiner Führer zu einer freieren Männlichkeit begann. Und es ist
nach vieler Beziehung lehrreich zu beobachten, wie die Männer unserer Nation
allmälig mannhafter, besser, edler wurden, weil sie durch mehr als eine Gene¬
ration bald kindisch, bald pedantisch bemüht waren so zu erscheinen. Niemand
bat diesen Erhebungsproceß aus dem Schein in das Sein in seinem Leben
großartiger dargestellt, als Friedrich der Große.
Es ist wahr, Klopstock war nickt ganz so glücklich. In seinen Werken,
wie in seinem Leben fällt uns nicht selten peinlich auf, wie anspruchsvoll er
nach Schönheit und Seelenadel suchte.
Die Schwäche in den Charakteren des Messias, die unwahre, zuweilen
abgeschmackte Künstlichkeit in den Motiven, macht dies Hauptwerk Klopstocks
schon jetzt fast ungenießbar. Aber unvergessen wird ihm bleiben, daß der
Stolz und hohe Sinn, mit dem er sein poetisches Schaffen den Zeitgenossen
gegenüber vertrat, die Poesie überhaupt den Deutschen zu einer großen und
würdigen Sache machte und den Dichtern in der Meinung der Menschen eine
hervorragende Stellung gab. Er hatte wesentlichen Antheil daran, daß Goethe
und Schiller der Mittelpunkt ihrer Zeübildung werden konnten.
Der Leser wird deshalb mit wohlwollendem Lächeln auf den folgenden Brief °
Klopstocks und seine Beilagen herabsehen. Dies Blatt verdankt die Mittheilung
einem Freunde, der die Veröffentlichung anheimstellte, falls die Stücke nicht bereits
irgendwo gedruckt zu finden sein sollten. Nun sind dieselben allerdings nicht
unbekanntder Brief Klopstocks ist im Anfange dieses Jahrhunderts öfter ge¬
druckt, z. B. mit den Beilagen im Leipziger Allg. Lid. Anzeiger 1800, S. 969!
die betreffenden Nachrichten aus Schulpforta sind ferner, in Schlichtegroll,
Nekrolog der Teutschen 1802, Band I. S. 44 zu finden. Aber trotzdem verdienen
die Schriftstücke als ein auffallendes Lebenszeichen aus der Jugendzeit unserer
Bäter die kurze Beachtung, welche sie b/er in Anspruch nehmen.
Zunächst folgt der Brief Klopstocks an den Rector Karl Wilhelm Ernst
Heimbach in Schulpforta:
„Die Erinnerung in der Pforta gewesen zu sein, macht mir auch deswegen
nicht selten Vergnügen, weil ich dort den Plan zu dem Messias beinahe ganz
vollendet habe. Wie sehr ich mich in diesen Plan vertiefte, können Sie daraus
sehen, daß die Stelle, welche Sie im Anfange des neunzehnten Gesanges bis
zu dem Verse, der mit „um Gnade" endigt, finden, ein Traum war, der
wahrscheinlich durch mein anhaltendes Nachdenken entstand. Wäre ich Maler
gewesen, so hätte ich mein halbes Leben damit zugebracht, Eva, die äußerst
schön und erhaben war, so zu bilden, wie ich sie sah.
Das Ende des Traums fehlt indeß in der angeführten Stelle. Es ist-
Ich sah zuletzt mit Eva nach dem Richter in die Höhe mit Ehrfurcht und
langsam erhobenem Gesicht, erblickte sehr glänzende Füße, und erwachte schnell.
Sie empfangen hierbei die große Ausgabe des Messias, die Herrn Gösche»
nicht wenig Ehre macht. Ich bestimme sie für die ^chulbibliothek und über-
lasse Ihnen, bei Verschweigung meines Wunsches, einen Platz für sie zu wäh¬
len. Sollten Sie finden, daß dies irgend einen guten Einfluß auf die Alum¬
nen haben könnte, so lassen Sie das Buch auf folgende Art in die Bibliothek
bringen. Sie wählen den unter Ihren Jünglingen, welchen Sie für den be¬
sten halten, ich meine, nicht nur in Beziehung auf seinen Geist, sondern auch
auf seine Sittlichkeit, zu der. wie ich glaube, auch der Fleiß gehört. Bitten
Sie diesen in meinem Namen, das Buch zu tragen, und es dahin zu stellen,
wo Sie's ihm defekten werden. Vielleicht mögen Sie ihm auch die wenigen
zu Begleitern geben, die gleich nach ihm die Besten sind. Machen Sie dies
alles, wie sich von selbst versteht, nach Ihrem Gutbefinden, oder unterlassen
Sie es auch ganz, und nehmen mein Andenken in aller Stille in die Biblio-
thek auf. Aber Eins, warum ich Sie bitte, werden Sie, weiß ich gewiß,
nicht unterlassen. Der Conrector Stüvel war mir der liebste meiner Lehrer,
Er starb zu meiner Zeit. Ich verlor ihn mit tiefem Schmerze. Lassen Sie von
einem Ihrer dankbaren Alumnen irgend etwas, das der Frühling zuerst gegeben
hat. junge Zweige oder Blüthenknospen oder Blumen mit leiser Nennung
meines Namens auf sein Grab streuen.
Man beachte das Datum des Briefes. Es waren fünfzig Jahre verflossen,
seit Klopstock auf dem zürcher See mit Doris Hirzel gefühlvoll Hallers Lieder
gesungen und die hübschen Mädchen geküßt hatte, welche dem Teufel Aba-
donna die Seligkeit erbaten. Man mußte im Jahr 1800 schon ein alter
Mann sein, um sich an das Aufsehen zu erinnern, das einst in den literarischen
Kreisen die ersten Gesänge des Messias gemacht. Unterdeß hatte Friedrich der
Zweite die Seelen gefüllt und war gestorben, die Häupter eines fremden Königs
und seiner Königin waren auf dem Blutgerüst gefallen, das wärmste Interesse
der Gebildeten hing an einer kleinen Residenz Thüringens und dem Bunde
Zweier Dichter, denen Klopstock in ihrer Jugend ein großer Mann gewesen
war. Die Deutschen waren durch eine lange Kette innerer Entwickelungen von
dem Messias bis zum Wallenstein, vom Kunstepos zum historischen Drama
großen Stils hinaufgezogen worden. Daß der greise Klopstock seine eigene Be¬
deutung nach den glänzenden Erfolgen seiner Jünglingszeit schätzte, ist natür¬
lich, aber sehr lehrreich ist, wie tief die Sentimentalität seiner Jugend noch in
den Seelen der Lehrer und Schüler lag.
Die Schulpforta ließ sich diese Gelegenheit zu einer erhebenden Festfeier
nicht entgehn. Rector Heimbach hielt zuerst am grünen Donnerstag bei der
gewöhnlichen Schulfeierlichkcit folgende Anrede:
„Lange nicht — vielleicht niemals — hat die Schulpforta einen so still
hohen Triumph genossen, als ihr heute der älteste, der ehrwürdigste und ruhm-
vollste ihrer Schüler gegönnt hat. Der Meister der vaterländischen Harfe, der
Sänger des Messias — hat ihr folgendes Andenken seiner Liebe, ein ewiges
Monument ihres Ruhmes gegeben, uns, rührend genug in eben den Tagen
gegeben, in weiche die Feier der großen Handlung fällt, die sein Lied aus-
spricht, <Der Brief Klopstocks wird vorgelesen.)
Ich füge diesem Brief keinen Commentar bei. Wer seiner noch bedarf, für
den war er nicht geschrieben. Aber wehe dem, dem nun das Herz nicht höher
schlägt bei dem Gedanken, in der Schule zu leben, die einen Klopstock bildete,
und die ersten Töne der himmlischen Harfe in ihren stillen Gängen vernahm;
auf eben der Erde zu wallen, welche des großen Jünglings Fuß betrat, und
auf welcher er in stiller Entzückung durch die Lichtmeere des Himmels, wie durch
die Tiefen des Hades schaute! Wehe, wehe ihm, wenn er nicht Muth hat,
Klopstock nachzueifern — nicht an Geisteskraft — die deutsche Nation hat nur
Einen — nicht an hellstrahlenden Ruhme — er ist das Erbtheil weniger —
aber wie Er's selbst meint, in dem reinen, hohen, lebendigen Sinne für alles
Große, Wahre und Edle, welchen Er in dem Dankhymnus an den Erlöser
am Schlüsse der Messiade so wahr und einfach von sich bekennt:
Umsonst verbürg ich vor Dir — Erlöser —
mein Herz der Ehrbegierde voll.
Dem Jünglinge schlug es laut empor: dem Manne
Hat es stets gehalten nur geschlagen.
Ist etwa ein Lob, eine Tugend
Dem trachtet nach! — Die Flaum' crkohr
ich zur Leiterin mir,
Hoch weht die heilige Flamme voran, und weiset
Dem Ehrbcgierigen bessern Pfad."
,
Das war die Vorbereitung. Am Ostermorgen aber wurde die große Fest-
feier veranstaltet, ganz im Stil der Wertherperiode, der dadurch nicht besser
ward, daß die Feierlichkeit einen religiösen Anstrich erhielt. Die Alumnen
hatten aus ihrer Mitte zwei der würdigsten erwählt, von denen einer die Auf¬
gabe erhielt über die Grabstätte des seligen Conrcctors — in der Kirche —
Blumen zu streuen und dabei Klopstocks Namen zu murmeln, worauf der Chor
„Auferstchn, ja Aufersteh»" sang und der Rector in der Kirche eine Ode von
Klopstock declamirte. Bon der Kirche bewegte sich der Zug in die Schulbibliothek
hinter dem Exemplar des Messias, welches mit einem Lorbeerzweige überdeckt von
einem Alumnus getragen wurde. Unter den Klängen einer sanften Musik
wurde das Werk von den beiden erwähnten Schülern ehrfurchtsvoll aufgestellt,
und der Rector benutzte diese neue Gelegenheit zur Erhebung, um eine zweite
warme Rede zu halten, welche folgendermaßen lautete:
„Mit dem tiefgefühlten Entzücken einer glücklichen Mutter empfängt die
Pforte dieses heilige Geschenk des Ersten ihrer Söhne, der längst ihr geheimer
Stolz war. Sie befehlet» sich gern, daß sie auf dieses unsterbliche Wer? wenig
Anspruch machen dürfe — den hohen himmlischen Geist, der in ihm weht,
hat keine Menschenschule gegeben. Aber wohl wußte sie, daß es in ihrem Schooß
empfangen war, und sagte sich oft mit demüthiger Freude, daß sie es gewesen,
die Klopstocks Geist zu dem erhabenen Gedanken, den Messias zu singen geweckt,
und mit der ätherischen Kost der griechischen und römischen Muse genährt habe.
Dankbar legt sie das Geschenk der Weihe in dem kleinen Heiligthum ihres .
Musei nieder, ans daß es jetzt und künftig seine heiligen Flammen in des
Jünglings Herz Ströme.
Den Platz, welcher ihm als Werk der Kunst gebührt, hat längst Vaterland
und Ausland, mit Einer Stimme entschieden; aber als Gabe der achtenden Liebe
Klopstocks an die Pforte — räumt diese ihr den Platz über alle ihre Schätze ein.
Ihr, denen Talent und Fleiß, Kenntniß und Sittlichkeit den hohen Lohn
erwarb, des großen Dichters Willen zu vollstrecken, groß ist die Verpflichtung,
die ihr damit übernehme, ihm und seinem Verdienste, wenn gleich in weiter
Ferne zu folgen. Hier neben dem heiligen Denkmale seines Geistes und Her¬
zens gelobt, gelobt aufs neue, zu trachten nach jeglichem Lobe und nach jeg¬
licher Tugend, und Herz und Leben dem Auferstandenen zu heiligen, den wir
heute feiern, und den Er in unsterblichen Tönen auf Sions Harfe sang.
Und ihr andern, denen ein freundliches Geschick es vergönnte, dieser Feier
Zeugen zu sein, wenn ihr ein Herz habt für dieses Gelöbniß, so sprechet leis'
es nach, und wandelt voll höhern Eifers den Pfad, auf welchem Er mit hell-
lodernder Fackel euch vorleuchtet."
!>lector Heimbach verfehlte nicht dem Sänger des Messias zu berichten,
wie sehr sein Geschenk von der Schule gewürdigt worden sei, Klopstock freute
sich über den Bericht, wollte aber noch einige nähere Umstände über die Feier¬
lichkeit erfahren. Er beschenkte den Rector mit einem Oelblatt vom Oelberge,
das ihm ein „würdiger Reisender" aus dem heiligen Lande gebracht hatte, die
Schüler aber mit vier goldnen Medaillen „von einem seiner Freunde" als Preis
für solche, welche Stücke aus dem Messias am besten declamiren würden.
Die Jugend Pfortas gerieth darüber in angenehme Aufregung und schrieb
lateinische Distichen auf den Fürsten der deutschen Verleger und Drucker (l^xo-
teetmitÄS <Ä<zriNÄnil>,k ?iiireii>i), Göschen, und Oden an Klopstocks himmlischen
Namen, in welchen nach sechzigjährigen friedlichem Grabesschlummer auch
der lieve verewigte Conrector Stubet (nicht Stüvel) als Engel auftritt und über¬
rascht die Schüler Pfortas also anredet:
Wie, denkt jener noch mein, jener so liebend mein,
Junge Blumen aufs Grab feierlich streuend mir,
Dessen himmlische Harfe
Selbst der Seraphim Chor oft rührt ?
Das zweite große Treffen, welches durch die Vertreter des Volkes gegen
das Ministerium geliefert wurde, die Verhandlung um die russische Convention,
ist beendigt. Es war ein neuer Erfolg der parlamentarischen Partei, eine
große Niederlage des Ministeriums. Die Debatte hat außer ihrer unmittelbaren
Wirkung noch ein günstiges politisches Resultat gehabt, sie hat einen Theil
der Altlibcralen dem Kriegsplan der opponirenden Majorität näher gestellt.
Die Behandlung der polnischen Frage bot einige Gefahr. Keine Partei
in Deutschland hat durch die fünfzehn Jahre seit 1848 größeren Zuwachs an
Tüchtigkeit und politischer Einsicht erworben, als die Demokratie. Die Phrase,
der Socialismus, das Weltbürgerthum sind von der großen Mehrzahl der
Leiter kräftig überwunden, eine nüchterne, mannhafte, nationale Politik wird
mit achtungswerther Taktik verfolgt. Und wenn den Deutschen nach irgend
einer Richtung ihr Herzensbedürfniß sich zu begeistern und Trophäen ihrer
Siege heimzuführen befriedigt werden könnte, so würde in kurzer Zeit die letzte
Spur jener alten pessimistischen Ausfassung unserer politischen Lage beseitigt sein,
und eine fröhliche Eintracht alle liberalen Fractionen umschließen. Wir Alle
empfinden, wie bitter unsere Hoffnungen auf eine solche Zeit getäuscht wurden,
die Summa unserer niederschlagenden Erfahrungen ist durch einige neue ver¬
mehrt, deren bittere Folgen noch unsere Nachkommen tragen werden. Mehr
als im Jahr 1848 war, so scheint es, gerade jetzt der Ungeduldige in Versu¬
chung, an der Möglichkeit einer gesetzlichen Reform deutscher Verhältnisse zu
zweifeln und die Solidarität der kämpfenden Völker gegen die Gewalthaber zu
betonen. Und der polnische Kampf konnte als ein Prüfstein betrachtet werden,
an dem sich deutlich erkennen ließ, wie viel ausländisches Kupfer dem deutschen
Gold noch beigemischt war.
Wer den Verlauf der dreitägigen Debatte unbefangen betrachtet, wird im
Ganzen nicht nur mit dem Resultat im preußischen Abgeordnetenhaus!?, auch
mit der Haltung des Volkes zufrieden sein. Allerdings sprach einer und der
andere Redner am Dönhofsplatz seine Sympathien für die polnische Sache
weitläufiger aus, als für einen deutschen Abgeordneten taktvoll war, allerdings
erklärten in wenigen deutschen Städten warmherzige Versammlungen unzufrie¬
dener Patrioten ihr inniges Mitgefühl mit der, Erhebung des polnischen Volles
gegen seine Tyrannen. Aber auch der feurigste Vertreter polnischer Freiheit re-
servirte die deutschen Rechte auf früheren polnischen Grund, und eine Volksver¬
sammlung in Leipzig, in ihrer Zusammensetzung nicht unähnlich einer früheren
welche 1848 den Polen Geld und Waffen nach Posen gesammelt hatte, befehlet
sich diesmal mit wackeren guten Wünschen für Polen und mit einer Zustim¬
mung zu den Beschlüssen des preußischen Abgeordnetenhauses. Im Ganzen
War in der Presse und im Volke mehr Eifer dem gegenwärtigen Ministerium zu
opponiren, als ein declamireiider Enthusiasmus für ein fremdes Volksthum sichtbar.
Und wir dürfen wohl mit dem Verlauf zufrieden sein, den die Polen¬
debatte gehabt hat, und mit der klugen Methode parlamentarischer Kriegsführung,
welche dabei zu Tage kam. Dem Ministerium hat dies zweite Treffen noch größere
Wunden geschlagen, als die Adreßdebatte. Wenn die Abneigung im Lande gegen
die herrschende Politik noch einer Steigerung sähig war, so ist diese erreicht.
Die Mißachtung der auswärtigen Mächte kann schwerlich großer werden. Eine
loyale Kritik, die wärmste Liebe und Hingabe an die Idee des Staates weiß
nichts mehr zur Vertheidigung dieser Politik aufzufinden, auch die Kritik des
In- und Auslandes ist mit ihrem Tadel fertig, sie hat ihren Recensionen
nichts mehr zuzufügen. Ja die Politik der Kreuzzeitungspartei hat den seltenen
Erfolg gehabt, die Botschafter und Gesandten in Berlin und die leidenschaftlichsten
Journalisten der Fortschrittspartei, Oestreicher, Engländer, Franzosen, ja selbst die
Russen in einmüthiger Verurtheilung zu vereinigen, und diese Politik gleicht, um
das Bild eines englischen Historikers zu gebrauchen, jetzt bereits dem Stink¬
thier, welches der Sage nach einsam durch die Oede der Bäume irrt, und durch
seinen üblen Geruch vor allen Angriffen der Bewohner des Waldes geschützt ist.
Unter solchen Umständen ist kaum von Wichtigkeit, weiche Stellung Herr
v. Bismarck zu andern einflußreichen Persönlichkeiten einnimmt. Das flackernde
Feuer seiner Pläne verbreitet keine Wärme, es zündet nicht, und wird wie eine
Theaterflamme von den Gegnern abgeschüttelt, aus welche es grade geschleudert
wird. Der letzte Notenwechsel mit Oestreich hat fast nur insofern Interesse,
"is er zeigt, wie der Stil der Journale bereits in die Sprache diplomatischer
Actenstücke eingedrungen ist. Es ist wahrscheinlich, daß eine einflußreiche Partei
in der Stille mit dem Ministerpräsidenten höchlich unzufrieden ist. es ist wahr¬
scheinlich, daß der Ministerpräsident ebenso unzufrieden mit einigen seiner Gön¬
ner ist. Die traurige Thatsache ist, daß der Staat in seiner gegenwärtigen
Lage ohne Politik existirt, und daß jede auswärtige Macht, sei diese Rusland
oder Oestreich oder Frankreich, ein Zusammenhandeln mit dem gegenwärtigen
Ministerium vermeiden wird, sobald irgend ein anderer Bundesgenosse zu er¬
langen ist, und daß sie die Hände, welche man zu Berlin ihr entgegenstrecken
wäg, nur mit einem Gefühl der Superivntät ergreifen wird, welche den Bundes¬
genossen zu einem Diener herabdrückt. Die gegenwärtige Regierung findet
keinen Verbündeten, so wenig sie ein Volk gefunden hat.
Die gesammte Hoffnung der Preußen ruht auf dem Hause seiner Abgeord¬
neten, und wir dürfen wohl die Haltung des tüchtigen und stolzen Volkes eine
Musterhafte nennen. Auch das Abgeordnetenhaus geht unbeirrt auf dem Wege
seiner Pflicht vorwärts. Es ist eine ernste und strenge Aufgabe, welche es
uicksichtglog zu erfüllen hat. So weit aus der Ferne ein Urtheil über seine
Politik erlaubt ist. hält das Haus zweierlei für seine Aufgabe. Erstens durch
gesetzliche Mittel die Kampfstimmung zu steigern, bis das gegenwärtige System
zusammenbricht. Zu diesem Zweck ist das Ministerverantwortlichteitsgesetz ein¬
gebracht. Und es läßt sich schon jetzt voraussagen, daß dieser Gesetzentwurf
der nächste Mittelpunkt werden wird, um welchen sich der Verfassungskampf
bewegt, und daß die Absicht ist. diesen Entwurf, sobald er Gesetz ge¬
worden, zu einer Anklage gegen die jetzt im Amt befindlichen Minister zu be¬
nutzen. Die zweite Aufgabe ist, ohne Rücksicht auf das gegenwärtige Ministe¬
rium die wichtigen organischen Gesetze, auf denen ein Neubau des preußischen
Staates beruhen muß, durchzuarbeiten, damit eine neue Negierung die nöthigen
Gesetzvorlagen geprüft und fertig vorfindet. Dies Verfahren, welches bei einer
Organisation der Kreise und Gemeinden dem Abgeordnetenhaus vortrefflich ge¬
deih« mag, hat bei der Berathung über die wünschenswerthe Militärorgani-
sation größere Schwierigkeiten.
Es war gewiß eine richtige Maßnahme des Hauses, sich nicht auf eine
Verwerfung der Militärnovelle zu beschränken, sondern zugleich die Gesichts¬
punkte festzustellen, nach denen die Nation das Heer eingerichtet zu sehn wünscht.
Aber die Abgeordneten werden nach den Erfahrungen der letzten Jahre nicht
verkennen, daß eine solche Neubildung in ihrem Detail durchaus nicht von
einer so zahlreichen Versammlung berathen werden kann, und daß ein Haus
der Abgeordneten, auch wenn es sich beschränkt, wenige Grundzüge festzu¬
setzen, sehr vorsichtig verfahren muß. Noch ist, so scheint uns, das organisa¬
torische Talent nicht gefunden, welches die große Frage endgiltig zu lösen im
Stande ist. und das Haus wird vermeiden, durch seine Beschlüsse sich selbst zu
binden und den Parteigenossen die unbefangene Würdigung eines einheitlichen
Planes zu erschweren, welchen doch ur> geeigneten Augenblick die Organisations¬
kraft eines Einzelnen auszuführen hat. Es wäre schädlich, wenn wieder
den Commissionen und im Hause Debatten über militärisches Detail sich
breiten sollten, man konnte in den letzten Jahren die Beobachtung machen
daß sie ihrer Natur nach nicht die Stärke der Kammer waren. Denn obgleich
die Schwäche des gegenwärtigen interimistischen Systems auch von Laien richtig
empfunden wird, folgt noch nicht, daß Laien oder Einzelne, welche zufällig
militärische Kenntniß erworben haben, im Stande sind, den Neubau zu leiten-
Es ist z. B. mißlich, die Zahl der Auszuhebenden auf irgend einen Bruchtheil
zu beschränken, so lange die Unmöglichkeit nicht erwiesen ist, die gesammte
waffenfähige Jugend eines Jahrganges auszuexerciren, es ist z. B. bedenklich, die
Dienstzeit der Infanterie auf zwei Jahre zu fixiren, während man schon jetzt
in einem andern deutschen Staate damit umgeht, alle junge Männer von
bestimmter turnerischer Ausbildung zu einjährigen Dienst einzustellen.
Indem dies geschrieben wird, erheben sich Vor dem königlichen Schlosse
in Berlin Gerüste und Tribünen zu einer großen militärischen Feier. Wir
wissen nicht, mit welchen Empfindungen der Kriegsherr Preußens das Gedächt¬
nißfest an die Erhebung des Volkes begehen wird, das Fest der großen Erhe¬
bung, welche Friedrich Wilhelm dem Dritten einen Staat wiedergab, den er durch
seine kraftlose Politik verloren hatte. Seine Generale hatten in den Jahren
vorher ein schönes schlagfertiges Heer lange und sorgfältig gedrillt, sie waren
schmachvoll geschlagen worden, sie hatten schmachvoll die Festungen dem Feinde aus¬
geliefert. In der höchsten Noth erkannte der König, daß nur die Kraft, die Liebe
und der Eifer des Volkes ihn retten könne. Freiwillige Gaben, freiwillige Männer,
nicht zuletzt die Landwehr, hoben ihn aus Demüthigung und bittrer Noth herauf.
Das preußische Volk und die> ganze Welt weiß, wie die Begeisterung der Jugend,
die Hingabe der Bürger den zögernden und unsicher» König aus dem Verderben
emporgerissen hat. Damals empfand er. wie er fortan mit seinem Volke zu leben
hatte. Er versprach fernem Volke die Verfassung, und er hielt sein Versprechen nicht.
Er regierte lange, er arbeitete ehrlich und emsig für das Beste seiner Preußen,
aber er konnte die Verkümmerung nicht abhalten, welche während fünfundzwan¬
zig Friedensjahren auf seiner Umgebung, seinem Heer, seinem Beamtenthum
und seinem Volke lag. — Erst unter seinem Nachfolger und dessen Zeitgenossen
traf die Nachwirkung einer öden, mittelmäßigen, an Wärme und Erhebung
armen Zeit wie ein schwerer Fluch. Der Sohn hatte in ihr die Fähigkeit verloren,
die Bedürfnisse der Zeit zu versieben, seinem reichen Geiste fehlte die Stetigkeit,
welche ein kräftiges Staatsleben, eine nationale Politik dem Staatsmann ver¬
leiht. Eine kurze Hoffnung, daß er aus freier Erkenntniß das für Preußen Nöthige
thun werde, wurde bitter getäuscht, in Zorn und offner Auflehnung rang das
Boll mit ihm um die Verfassung. — Und wieder vor wenig Jahren hat das
Volk zum dritten Mal gehofft, und zum dritten Mal ist es an seinem Fürsten
irre geworden. Wenn Fahnen und Standarten auf dem Döhnhofsplatz flattern,
wenn die Fanfare schmettert, wenn die armen Invaliden in langer Reihe vor
dem projectirten Denkmal Friedrich Wilhelm des Dritten aufgestellt werden,
und Hurrahrufe des Heeres über den weiten Platz schallen, dann wird die Zahl
der wehenden Fahnen doppelt so groß sein als 1813, viele neue Orden wer¬
den neben dem eisernen Kreuz auf der Brust unserer Generale glänzen, welche
^ Frieden grau geworden sind, Alles wird sehr stattlich und prächtig aussehen,
^eit schöner und reichlicher als in dem dürftigen Jahr 1813, aber dem Fürsten,
der dies große Erinnerungsfest feiert, wird Eines fehlen, was seinem Vater vor
fünfzig Jahren bei dem ersten militärischen Gruß in Breslau die Freuden-
Dränen über die Wange fließen machte.
Wer aber ein guter Preuße ist, verlebt diesen Tag in 'stillem Ernst und
denkt, wie er das erlauchte Haus der Hohenzollern für die Zukunft des Staa¬
t
Der Verfasser glaubt an Gespenster, da«! heißt, er hält die Gespenster nicht für
ein leeres, grundloses Nichts, sondern für Phänomene, die ihre Ursachen in krank¬
haften Zuständen, chronischen oder temporären Störungen des Gehirns oder der
Sehkraft, eigenthümlichen Verhältnissen in der Atmosphäre und ähnlichen Dinge»
haben. Er geht bei seiner Untersuchung der Sache durchweg gründlich zu Werke
und wird dabei durch gute Kenntnisse im Bereich der Physiologie, Physik und Psy¬
chologie sowie durch einen Vorrath interessanter Beispiele unterstützt. Auch hat er
die Bescheidenheit, die Hypothesen, zu denen er gelangt und die sich wohl hören
lassen, nicht für ausgemachte Wahrheiten auszugeben. Im Stil kommen gelegent¬
lich Nachlässigkeiten vor, von denen wir nur eine anführen wollen, die eine ernst¬
haft erzählte Geschichte in einen Spaß verwandelt. Eine Mrs. A. hatte gespenstische
Augen- und Gehörtäuschungcn, erblickte abwesende Personen, hörte ihren verreisten
Gemahl des Nachts neben sich athmen u. s. w. „Ja als sie während dieser Zeit
einmal mit einem Nachbar spazieren ritt, kam es ihr vor, als höre sie den Huf-
schlag des neben ihr reitenden Gemahls, obwohl sie gar nichts sah."
Von Meyers Neuem Co nvcrsationslexikon (Zweite umgearbeitet,
Auslage) liegt uns jetzt der vierte Band vor, welcher die Reihe der Artikel von
„Brückenkopf" bis „Covolo" fortführt. Die Brauchbarkeit dieses Nachschlagebuchs
ist von uns wiederholt anerkannt worden, und wir können nach Einsicht dieses
neuen Bandes jene früheren Urtheile nur wiederholen. Die Artikel, namentlich die
technologischen und naturwissenschaftlichen sowie die meisten historischen, sind sorg¬
fältig gearbeitet, ausführlicher als die der meisten ähnlichen Unternehmungen gehalten,
und durchgehends bis auf die letzten Jahre fortgeführt. Die artistischen Beigaben,
vorzüglich die Karten, verdienen ebenfalls Lob, und der Preis ist ein sehr mäßigere
Die illustrirte Zeitschrift für Geographie „Globus", welche, von Dr. Andrae
redigirt, im Verlag des Bibliographischen Instituts zu Hildburghausen erscheint, und
von der uns Ur. 25 bis 30 vorliegt, fährt fort, zu musterhaft ausgeführten Holz¬
schnitten gute Texte zu liefern. Von interessanten größeren Aufsätzen in derselben
machen wir namentlich auf die Streifzüge durch Kalifornien, Radaina von Mada¬
gaskar, Dr. Carvs Briefe über Polen, die Mittheilungen über Mexiko, Eglis Aufsatz
über die Handelsverhältnisse von Schanghai, ferner ans die Artikel „Neapolitanische
Eharaktertöpfc", endlich auf ein sehr verstündiges Wort über die Ausführbarkeit des
Suezkanals und die bis setzt vollendeten Arbeiten an demselben aufmerksam. Vo» bete
Artikeln, in denen der Herausgeber seine Ansichten über die Neger predigt, denken wir das¬
selbe wie von den früheren. In seinem Eifer gegen die Auswüchse des Abolitio-
nismns geht Herr Andrae bis zu Uebertreibungen, die auf eine Art Monomanie
schließen lassen.
Schönes Papier, sorgfältiger Druck, Ausstattung mit Bildern in Tondruck
lassen das Buch als Prachtwerk bezeichnen, und der Text ist ebenfalls zu loben,
wenn man an ihn keine andern Ansprüche macht, als an derartige Nippestischlite-
ratur billigerweise zu steilen sind.
Erzählt in ansprechender Weise die Erlebnisse des Verfassers während seiner
Universitätszeit, seine Betheiligung an der Burschenschaft und seine Conflicte mit
den Behörden in Jena, Halle und Heidelberg bis zu seiner Verhaftung an letzteren
Orte, die ihn auf mehre Jahre in den Kerker führte. Die Blicke, die uns auf
das damalige studentische Dichten und Trachten eröffnet werden, die Mittheilungen
über den wunderlichen Jünglingsbund, die Charakterbilder einer Anzahl von Haupt-
Persönlichkeiten der älteren Burschenschaft sind, da der Verfasser durchgehends den
Eindruck der Wahrhaftigkeit macht, werthvolle Bereicherungen unseres Wissens von
jener Zeit enthusiastischen, aber unklaren Strebens. Weniger gefällt das Urtheil,
welches Ruge über jenes Streben, füllt, wenn er seine Betheiligung an demselben
überall als vollkommen in der Ordnung darstellt, jede von seinen Handlungen als
durchaus in den Geboten der Sittlichkeit und der Vernunft begründet ansieht und
offen bekennt, daß er sich und seine Freunde als Märtyrer in einer großen Sache,
jeden Widerspruch gegen diese Auffassung als Ausfluß von Bornirtheit betrachtet.
Mit dieser hohen Meinung von sich und der alten Burschenschaft, die sich an einer
Stelle allen Ernstes sogar zu dem hochkomischen Anspruch steigert, das dankbare
Vaterland habe einst, wenn es die volle Freiheit erlangt, den guten Jungen vom
Jünglingsbnnde, azul as rsxublieu, non äespsrasssnt, ein Denkmal zu errichten,
steht Rüge in unsern Tagen wie eine Ruine da. Das Treiben jenes Bundes war
im Wesentlichen gemüthliche Konfusion, Abkehr von praktischen Zielen und realen
Bedingungen, kannegießernde Romantik, und selbst in das, was an dem Streben
der jugendlichen Weltverbesserer zu loben ist, in ihre Opposition gegen den alther¬
gebrachten Saufcvmment und die herkömmlichen Mißbräuche des Paukcns, mischt
sich ein starker Zug philisterhafter Altklugheit.
Die Geschichte eines polnischen Emigranten von 1831. der in Paris plötzlich
den Entschluß faßt, sich nach Podolien aufzumachen und dort für eine neue Erhe¬
bung des Volks gegen Nußland zu wirken, und der, dabei entdeckt, nach Sibirien
gebracht wird, von wo er nach einigen Monaten entflicht, um sich über Archangel,
Petersburg und Riga nach Preußen zu retten. Das Buch liest sich unterhaltend
wie ein Roman, macht aber durchweg den Eindruck einer wahren Geschichte. Wir
haben in-dem Verfasser einen ehrlichen, nicht ungebildeten, wenn auch gegen uns
Deutsche eingenommenen Mann, einen Ungewöhnlich energischen, vor dem kühnsten
Wagniß nicht zurückschreckenden Charakter und zugleich einen Schriftsteller vor uns,
der sehr gut sieht und seine Erlebnisse und Beobachtungen lebendig und anschaulich
wiederzugeben weiß. In fesselnder Weise erzählt er seine mit wenigen Mitteln unter¬
nommene Reise von Paris durch Deutschland und Ungarn nach Kaminiec Podolski.
Sehr anziehend ist sein Verkehr mit der dortigen polnischen und russischen Gesell¬
schaft, in der er sich als französischer Sprachlehrer eingeführt, seine endliche Verhaftung,
sein Verhör und seine Verurtheilung zur Deportation nach Sibirien geschildert.
Nicht weniger interessant sind dann seine Mittheilungen über die Gefangnencolonie
in der Nähe von Tobolsk, in welcher er eine Zeit lang lebte, und über Sibirien
überhaupt. Ebenso spannend als lehrreich endlich ist die Erzählung von seiner
Flucht mitten im Winter und durch die ungeheure Strecke Landes von Tobolsk bis
nach Memel, Man nehme die Karte und verfolge den Weg des kühnen Flüchtlings,
man vergegenwärtige sich dazu die Wildnisse und den Winter Nordostrußlands, und
man wird eine Vorstellung von den Leiden und Entbehrungen der Flucht und
andrerseits von dem Maß von Unerschrockenheit, Ausdauer und Klugheit gewinnen,
welches dieselbe gelingen ließ. Aus der Nähe von Tobolsk entflohen, begab sich der
Erzähler in der Verkleidung eines Kaufmannskncchts zur Messe von Jrbit, von
dort, unter dem Vorgeben, in den bohotolskischcn Eisenwerken Arbeit suchen zu
wollen, über Werchoturie in den Ural, von da als angeblicher Salzsieder nach
Solikamsk, und hierauf (zuerst als Pilger zu den berühmten sokolewskischcn Klöstern,
dann als Schiffsknecht) über Czerdin, Kai, Lalsk und Großustjug nach Archangel.
Von hier gedachte er mit Hülfe eines fremden Schiffes aus Rußland zu entkommen.
Da dies indeß unthunlich war, so mußte er sich auf dem Landwege und über die
großen Seen weiter zu helfen suchen, was ebenfalls bedeutende Schwierigkeiten hatte.
In Petersburg eingetroffen, gelingt es ihm, Platz auf einem nach Riga fahrenden
Dampfschiffe zu finden. Von da schlägt er sich, immer »och in der Tracht eines
russischen Mujik, jetzt aber in der Eigenschaft eines Einkäufers von Schweinsborsten,
durch Kurland weiter, bewerkstelligt glücklich den gefährlichen Uebergang auf preu¬
ßisches Gebiet, gelangt nach Königsberg, wo man ihn verhaftet, entgeht, indem
die preußischen Behörden (jedenfalls von Oben her dazu veranlaßt) durch die Finger
sehen, der letzten Gefahr einer Auslieferung nach Rußland, und kehrt endlich über
Danzig, Stettin, Berlin, Leipzig (wo er von Robert Blum unterstützt wird), Frank¬
furt, Heidelberg und Straßbnrg wohlbehalten nach Paris zurück. Das Buch ist
nicht nur außerordentlich reich an spannenden Abenteuern in Gebirge, Wald, Tun¬
dra und Steppe, sondern auch voll von lehrreichen Schilderungen des russischen
Volkslebens. Es hat etwas von dem Charakter des Robinson und kann deshalb
als ebenso nützliche wie angenehme Lectüre bestens empfohlen werden. Die politischen
Ansichten des Verfassers kann man getrost auf sich beruhen lassen, und die Vorrede
des Uebersetzers, eines Gesinnungsgenossen des Doctors Metzig in Lissa, darf ohne
Schaden für die staatsbürgerliche Bildung des Publicums zum Ueberschlagen empfohlen
werden.
Wie der Verfasser mit lobenswerther Bescheidenheit selbst bemerkt, würde man
irren, wenn man nach dem Titel hier eine ästhetisch-kritische Darstellung der Wirk¬
samkeit Goethes als Dramaturg erwartete. Das Buch enthält vielmehr nur gewisse
Materialien zu einer solchen Arbeit, und zwar sind es großentheils weniger wichtige,
Geschäftliches betreffende Episoden aus der Directionszeit des Dichters, die uns hier
dargeboten werden. Indeß findet fiel, darunter auch manches Interessantere.
Namentlich erhalten wir über eine Anzahl von Mitgliedern der alte» weimarischen
Bühne und über deren Verhältniß zu Goethe und Kinns schätzbare neue Auskunft,
und da der Verfasser seine Darstellung durchgehends mit Urkunden (Briefen, Denk¬
schriften u, f. w.) belegt, so kann seine Arbeit als theilweise sehr werthvoller Bei¬
trag zu den Quelle» über jene wichtigste Epoche der Geschichte der deutschen Bühne
empfohlen werde». Das Buch beginnt mit einer Anzahl von Notizen über die
Theatcrgcschichtc Weimars vor Gründung eines eigentlichen Hoftheaters und bespricht
dann die ersten Leistungen des neuen Instituts. Ein dritter Abschnitt bringt fernere
Notizen über Fr. L. Schröters Betheiligung a» der Entrichtung der gedachten Bühne.
Ein vierter behandelt die Wirksamkeit der Christiane Neuman»-Becker i» Weimar
und de» Versuch Goethes und Kirms', die durch „Euphrosuncs" Krankheit und spä¬
tern Tod entstandene Lücke durch Sophie und Marianne Koch auszufüllen, ein Be¬
streben, welches durch den Vormund der letzter», den bekannte» Opitz, auf verdrie߬
liche Weise vereitelt wurde. Da»n folgt die Darstellung eines zweiten Versuchs in
dieser Richtung, der mit einer Madame Burgdorf gemacht wurde und Goethe wie
dessen Finanzminister Kirms noch mehr Verlegenheit und Aerger brachte. Ein fer¬
neres Capitel liefert interessantes Material zur Beurtheilung des Verhältnisses Ifflands
zu Weinrar. Vo» den weitere» „Episoden" hebe» wir zunächst die Mittheilung über
den Vater Karl Marias v. Weber und dessen Beziehungen zu Kirms während seines
Aufenthalts in Salzburg, München und Freiberg hervor. Dann das Charakterbild
des Sängers Leißring, den Schiller in, „langen ,Peter von Itzehoe" vor Augen
hatte. Dann die Notizen über Leben, Wirke» u»d unglückliches Ende der Sophie
Ackermann, die über Goethes Schwager Vulpius, die über das Künstlerpaar Voss
und die über Karoline Jagemann und ihren Einfluß auf die Oper in Weimar, so¬
wie die Nachrichten über Pius Alexander Wolfs und dessen Gattin. Von den klei-,
»are» Mittheilungen, die sich unter der Rubrik „Verschiedenes" anschließen, möge
die hübsche Abfertigung, die Goethe einem wiener Buchhändler zu Theil werden ließ,
hier eine Stelle finden.
Der unternehmende Buchhändler Wallishausser hatte seiner Zeit nach und nach die
besten Producte von fast sämmtlichen östreichischen Bühncnschriftstellcrn an sich gebracht
Und versuchte nun, dieselben „auch im Reich" anzubringen. Im März 1800
wandte er sich zu dem Zwecke an die Direction des weunarische» Hoftheaters.
Er bot dieselben im Allgemeinen, >c nach der Zahl der Acte, das Stück zu zwei
b>s sechs Kaiserducaten um und schloß mit folgenden speciellen Anpreisungen-
„Dermalen ist nachstehendes Stück vo» der k. k. hoflheatralischen Direction
""genommen, und wird bis künftigen Monat aufgeführt! Das große Geheim¬
niß, ein fürstliches Jamilicngemälde i» vier Auszügen von F. W. Ziegler. Nach
Meiner Beurtheilung glaube ich, daß dieses Stück von allen seinen vorige» eines
der besten ist, und auf den Theatern eine gute Sensation machen wird. Dann
have ich noch ein Manuscript a» mich gekauft, welches auch vor Ende dieses Jahres
"icht gedruckt wird, und im verfloßnen Jahr mit gutem Beifall auf hiesigem Hof-
thcctter ist gegeben worden. Nämlich- Die Hausehre, ein Schauspiel in fünf
Auszügen von Octavian August Hannamann, Eriminal-Justizrath in Wien. Dieses
Stück biete ich Ihnen an für drei Ducaten. Und ich glaube, da es gewiß aosts-
tisolr gut ist (!) und zu diesem wenig Personale hat, daß Sie werden guten Ge¬
brauch damit machen. In Erwartung baldiger Antwort verbleibe ze.
Der Brief, dem einige Zeit nachher ein ähnlicher folgte, war anfänglich nach
„Imma" adressirt. Goethe ließ beide Schreiben durch Kirms folgendermaßen be¬
antworten:
„Auf die unterm 18. und 24. März an die Direction des hiesigen Theaters
erlassenen Zuschriften habe ich die Ehre zu erwidern: daß, da man mit Manu-
scnptcn von dem Herrn Hofrath Schiller, dem Herrn Geheimrath v. Goethe, dem
Herrn v. Kotzebue und Herrn 2ffland hier dergestalt versehen werde, daß zu
deren Einstudirung die Zeit fehlt, man von Ihren Anerbietungen vor der
Hand Gebrauch zu machen nicht im Stande sei."
Ein Anhang gibt biographische Notizen über die Vertreter der Musik am Hofe
Weimars von 1752 bis 1832, über den Personalbestand des weimarischen Hof¬
theaters von 1784 bis zu Goethes Tod, über die Gäste an dieser Bühne von 1784
bis 1317, einen interessanten Beitrag zur Lebensgeschichte der Corona Schroeter
(aus welchem hervorgeht, daß dieselbe um das Jahr 17K0 zu Guven geboren wurde
und 1802 zu Ilmenau in Zurückgezogenheit von der Welt starb), einen Aussatz über
Wielands und Schweitzers Alceste, die erste deutsche Oper der neuern Zeit, und ein
Personen- und Sachregister.
Die erste Abtheilung enthält den Briefwechsel Jean Pauls mit Emanuel Osmund,
die zweite den Briefwechsel mit Friedrich v. Oertel und Paul Aemil Thieriot. Wer
nicht Literarhistoriker ist, wird sich durch diesen Wust vo» Gcfüblsschwclgerei, Wort-
blümelci und anderer süßlicher Unnatur hindurchzuarbeiten schwerlich Neigung und
Vermögen haben. Nirgends so sehr, wie an Jean Paul und Genossen werden wir
inne, daß unser Geschlecht ein anderes gesunderes und wahrhafteres ist, als das,
welches entweder so empfand oder so zu empfinden schien wie diese Briefe mit ihren
Strömen von Liebe, ihren Ueberschwänglichkeiten und ihrer zu allerhand Kapriole»
gequälten Sprache, hinter deren Phrasen sich nur ein dünner, schwächlicher, oft rein
prosaischer Inhalt verbirgt. Es genügt daher, wenn wir über jene drei Freunde
Richters einige Notizen geben. Emanuel Osmund war ein jüdischer Kauf¬
mann in Bayreuth, welcher mit jenem im Jahre 1797 zu Hof bekannt wurde und
als „kenntnißreicher und denkender Jude, der seine alten Rabbinen fleißig und mit
Verstand gelesen hatte, dem Dichter aus diesem Schatz des Wissens reiche Gaben bot":
aber auch als praktischer Geschäftsmann einen schätzenswerthen Rathgeber und Helfer,
namentlich in Geldangelegenheiten, abgab. Jahre hindurch verging fast kein Tag.
an welchem Jean Paul ihm nicht ein Billet schrieb, wenn solche Billete auch oft
nichts Anderes enthielten als ein mit empfindsamen Schwulst verbrämtes „Guten
Morgen". — Der zweite Freund. Friedrich v. Oertel, seit 1794 mit Richter
befreundet, war Gutsbesitzer in Belgcrshain bei Leipzig und hat außer einem Buch
„Vom Adel" gegen Kotzebue und einem andern über die Humanität vorzüglich Ab¬
handlungen kritischen Inhalts für Zeitschriften geschrieben. Was für ein Kritiker
er war. wird der Leser sich vorstellen, wenn er ihn über Richter sagen hört', „Paul
ist ein Prophet, ein Apostel, und ich bin dem schon gram, der ihn anch nur kunst¬
mäßig l>den will. Lese! um Gotteswille». lest! das sollte die einzige Recension sein."
— Der Dritte. Paul Anait Thi eriot aus Leipzig, hatte sich schon als Student
im Jahre 1797 an Richter angeschlossen und liebte diesen so schwärmerisch, daß er
sich sogar dessen Handschrift bis zum Verwechseln aneignete. Ursprünglich Philolog. zog
er später als Virtuos auf der Violine umher, auf der er Vortreffliches leistete, und
starb 1831 zu Wiesbaden als Sprachlehrer. Ein gutherziger und von Natur hoch¬
begabter Mensch, aber voll Ecken und Schärfen, haltlos und ohne Achtung vor
Formen, war er in vielen Stücken der Karikatur nahe und in allen Beziehungen
der Typus jener hypcrgenialcn Eulenspiegel, welche damals in Deutschland der
„Philisterei". d. h. dem gesunden pflichtmäßigen Denken und Handeln praktisch Hohn
sprachen. Welchen vertrackten Stil er sich angewöhnt, mag man in seinen Briefen
nachlesen. Von seinen wunderlichen Streichen mögen zwei hier Platz finden. Ema-
nuel hatte den Umhcrstrcifcndcn einst gastlich aufgenommen. Plötzlich verschwand
dieser, und nach wochenlangem Suchen erst fand man ihn in einer Bauernscheune
auf dem Stroh bei Wasser und Brot und Horaz und Homer wieder. Nach Wei¬
mar empfohlen, verscherzte er sein Glück, indem er auf ein Billet Goethes, worin
dieser ihm geschrieben, „die Herzogin Amalie wünscht diesen Abend die Bekanntschaft
Ihrer Violine zu machen", nichts Klügeres zu thun wußte, als daß er den Kasten
mit seiner Geige und den Kastenschlüssel muss Schloß schickte.
Sieben Biographien: Cochrane. Havelock. Robert Owen, der bekannte Socia¬
lst > de Quinccy, der Opiumcsser, ferner der Humorist Sidney Smith, der Agita¬
tor für Abschaffung des Sklavenhandels Zacharias Macaulay und dessen berühm¬
terer Namensvetter Thomas Babington Macaulay. Nicht viel Neues dabei, am
wenigsten über sociale Zustände Englands.
Fünfundzwanzig Charakteristiken neuerer Tondichter, zunächst die Gruppe:
C. M. v. Weber, Spohr. Maischner, Kreutzer und Lortzing, dann die Italiener
Rossini. Bellini. Donizetti und Verdi, hiernach die Franzosen Boieldieu, Ander,
Herold, Adam und Halövy, dann Meyerbeer, ..das größte musikalische Genie, das
sich nach Weber der Oper widmete", Nicolai und v. Flotow. Dann folgen Franz
Schubert, Mendelesohn-Bartholdy, Schumann, Gabe und Moritz Hauptmann.
Hierauf Berlioz. Endlich die Koryphäen der Zukunftsmusik, Richard Wagner und
Franz Liszt. Das musikalische Urtheil des Verfassers ist unsicher, seine allgemeine Bil¬
dung — man lese die Einteilung — sehr dürftig.
Uebertragungen von Märchen und Legenden in alter Mundart, die bereits in
^lehrten Zeitschriften, wie Haupts „Altdeutschen Blättern". Fromanns „deutschen
Mundarten", und Pfeiffers „Germania" mitgetheilt waren. Der Uebersetzer hat
auch die Handschriften, aus denen jene schöpften, vor sich gehabt. Ein Theil der
zweiunddreißig Erzählungen wird dem Inhalt nach auch dem größern Publicum be¬
kannt sein, andere — z, B, gleich die erste- „Abenteuer eines alten Räubers" —
sind völlig neu. Den „Ritt nach dem Kalkofen" könnte Schiller beim „Gang nach
dem Eisenhammer" vor sich gehabt haben. „Die Bürgschaft" wird (nach Petermann)
fast wörtlich so unter den Arabern des östlichen Libanon erzählt.
Der bekannte fleißige Sammler süddeutscher Sitten und Sagen bietet hier eine
recht ansprechende, mancherlei Neues enthaltende Sammlung von Liedern, Reim¬
sprüchen, Thiermärchen, Schwänken, Räthseln und Legenden aus der Welt der
Kinder und Ammen dar. Einiges ist im schwäbischen Dialekt und paßt deshalb
nicht, wie die Vorrede meint, für die gesammte deutsche Kinderwelt. Die eingedruck¬
ten Holzschnitte sind großentheils recht hübsch. »
Eingehende und sachverständige Besprechung des Gegenstandes und namentlich
der großartigen dabei zu Tage getretneu Entwickelung der Selbsthülfe durch das
Genossenschaftswesen, dessen günstiger Einfluß aus die Haltung der Fabrikbevölkerung
sich nach den hier mitgetheilten Beispielen glänzend bewährt hat. Allen, die sich
für die sociale» Fragen interessiren, warm zu empfehlen.
Das Werk, auf nicht weniger als vier starke Bände berechnet, macht große
Ansprüche. Es will uns die Wurzeln der jetzt in Europa auf religiösem, politischem
und socialem Gebiet herrschende» Ueberzeugungen aufzeigen, dem Christenthum seine
Stellung in der Reihe der weltgeschichtliche» Bildungen anweise», „den Standes-
vorurtheilen und der Unduldsamkeit, ven Knechtssinn und der Unzufriedenheit zu
Gunsten der Freiheit, Völkereintracht und Menschenliebe die Begründung entziehen."
Es will endlich „den Menschen zu der Erkenntniß führen. daß er höher stehe, als
er dachte, besser sei, als er glaubte, und glücklicher, als er meinte." Diese Absichten
sind jedenfalls gut gemeint, wenn auch etwas evnfuscr als billig. Aber dem Ver¬
fasser mangelt so ziemlich Alles, was zu seinem Vorhaben außer dem guten Willen
erforderlich ist. Er ist — man lese die ersten zehn Seiten oder ein paar Para¬
graphen aus dem Abschnitt „Gott in der Geschichte", etwa die seltsamen Entdeckung-"
in Betreff des alttestamentlichen Gottes — offenbar ein Dilettant, der sich in ver>
schiedenen Wissenschaften antodidaktisch umgesehen hat, aber vom Wesen wahrer
Wissenschaft keine Vorstellung besitzt und nicht einmal folgerecht zu denken »n
Stande ist.
Ein Versuch, die Entwickelung Schillers als Dichter, Philosoph und Geschicks
schreiber zur Anschauung zu bringen, die Einflüsse, die auf Denken und Schaffe«
desselben gewirkt, nachzuweisen, und — nebenher ein wenig Großdeutschthum zu
Predigen, Was an dem Unternehmen zu loben ist, gehört meist in die zahlreichen
Citate aus andern Literaturhistorikern; doch muß bemerkt werden, daß für den Ver¬
fasser Leute wie Joseph v, Eichendorff (in seiner Geschichte der poetischen Literatur
Deutschlands), Röpe, der „Ehrcuretter des Hauptpastors Goeze", Onuo Klopp und
Gfrörer Hauptautoritäten sind. Lessing ist ihm „ohne Zweifel der tragischeste Cha¬
rakter unserer Literatur", der zwar treu und gewaltig nach der Wahrheit ringt,
aber „dennoch vom Dämon des Scharfsinns endlich überwältigt wird und an der
Schwelle des Allerheiligsten unbefriedigt untergeht." Schillers Geschichte des Abfalls
der Niederlande ferner ist eine durchaus unwahre. „Die ganze Revolution und Re-
formation in den Niederlanden war eine gemachte," ihre Quelle „war weder der
spanische Druck noch die Religion, sondern einzig und allein der Ehrgeiz und
die Selbstsucht einiger hervorragender Edelleute, bevorab des Prinzen von Oranien."
.Auch bei der Geschichte des dreißigjährigen Krieges „mangelte es Schillern an con-
creter Anschauung", womit Herr Kühn meint, daß er Ouro Klopps Buch über
Tilly und Aehnliches noch nicht hatte lesen können. Er würde dann unter
Andern, erfahren haben, daß Tilly, „diese große und edle Seele", „dieser große
Deutsche, im ganzen dreißigjährigen Kriege vielleicht die einzige echt ritterliche Gestalt
war", daß „bei ihm in einer für seine Zeit beispiellosen Weise die Anerkennung der
Rechte andrer Menschen wohnte, nicht blos in Bezug auf ihre Habe, ihr Eigenthum,
ihren Anspruch an Frieden und Lebensglück, sondern vor allen Dingen auf ihre
religiösen und kirchlichen Gewohnheiten", und daß er, „auf dessen ehrwürdiges und
ruhmbedecktes Haupt der Parteigeist der Protestanten Verläumdungen auf Verläum-
dungen häufte", vielleicht „ganz allein den national-deutschen Standpunkt einnahm,
den des deutschen Patriotismus für Kaiser, Reich und Nation", was um so mehr
hervortritt, wenn man ihn mit Leuten vergleicht, „wie der hasenschartige (Pfui,
Herr Doctor!) verwachsene Mädchen- und Fraucnschänder Mannsfeld" oder der „mvrd-
brennerischc und persönlich blutdürstige Christian von Braunschweig". Tilly war
»ach des Verfasser- Meinung vermuthlich unpersönlich blutdürstig, und Magde¬
burg wurde natürlich nicht von ihm, sondern von seiner eignen Bürgerschaft nieder¬
gebrannt, die dabei einer Weisung Gustav Adolphs folgte. Armer Schiller, der die
Entdeckung dieser sublimen Wahrheiten nicht erlebte! Eine interessante Beigabe zu
dem Buche ist ein Porträt Schillers nach einer Zeichnung des Kupferstechers F. Bote,
der den Dichter im Mai l804 in einer berliner Gesellschaft zeichnete. Das Origi-
»albildchcn ist gegenwärtig im Besitz des Bildhauers I. Otto Endres zu München.
Es ist nicht, wie Herr Kühn zu glauben scheint, das einzige Schillerpvrträt ans
dieser Zeit, aber es gibt die Züge des Dichters in ganz vortrefflicher Weise wieder.
Der Verfasser, Sohn Wilhelm Müllers, des Dichters der „Griechenlieder", und
einer der geachtetsten jünger» Sprachforscher, behandelt hier ein Thema, welches
bisher noch nicht für das größere Publicum bearbeitet worden ist, obwohl die
Wissenschaft, die sich mit ihm beschäftigt, in den letzten Jahrzehnten nicht weniger
bedeutsame Fortschritte gemacht und nicht weniger gründliche Umgestaltungen erfahren
hat, als die Naturwissenschaften, deren Resultate jetzt mehr und mehr Gemeingut
geworden sind. Haben wir ihm und dem Uebersetzer so schon für den Versuch zu
danken, der Welt der allgemein Gebildeten ein völlig neues Gebiet des Wissens aus¬
zuschließen, so muß das Werk um so wärmer willkommen geheißen werden, als es
den zum Theil nicht leicht für den Laien klar zu machenden Stoff mit großer Ge-
schicklichkeit in das rechte Licht stellt. Ueberall finden wir, daß der Verfasser seinen
Gegenstand gründlich kennt, ihn vollkommen in der Gewalt hat, und die Präcision
des Vortrage läßt nur eins bedauern- die Darstellung ist so knapp, daß es schwer
fällt, ans dem Buch einen Auszug zu geben. Die wissenschaftliche Kritik wird an
der vom Verfasser gegebenen Lösung einzelner specieller Fragen, z. B, an seiner
Ansicht vom Ursprung der Sprache, hier und da auszusetzen haben. Auch mußten
Vorträge, die sich an Laien richteten, wohl schon der Kürze und Uebersichtlichkeit halber
manches Ergebniß der gelehrten Untersuchung, das noch fraglich scheint, als fertig
und abgeschlossen behandeln. Indeß' treten solche Mängel, die übrigens populären
Schriften über naturwissenschaftliche Gegenstände oft weit mehr anhaften, vor der
schönen Entwickelung der wirklich gewonnenen, von allen sprachkundigen anerkannten
Resultate in den Hintergrund. Mancher wird ferner die systematische Ordnung der
einzelnen Materien der hier beliebten vorziehen, die den Leser zuerst zu Bekannten
und dann zu weniger Bekannten und Leichtem führt. Möchten wir hierin dem
Verfasser vielmehr unsern Beifall aussprechen, da dieser Weg das Verständniß dem
größern Publicum beträchtlich erleichtert, so Hütte die Bearbeitung einige andere
Eigenthümlichkeiten des Originals als Uebelstände ansehen und umgestalten sollen.
Gewisse englische Philosophen sind wohl für ein englisches, nicht aber für ein deut¬
sches Publicum Autoritäten, und wenn der Verfasser in den beiden ersten Vorlesungen
nachzuweisen versucht, daß die Sprachwissenschaft keine historische, sondern eine phy¬
sische Wissenschaft sei, die Sprache keine Geschichte, sondern nur ein Wachsthum
habe, so ist das in dem Sinne, in dem er es meint, allerdings vollkommen rich¬
tig, aber der Ausdruck Physisch und die Gegenüberstellung von Wachsthum und Ge¬
schichte ist wiederum uur für ein englisches Publicum, dem durch schroffe Worte ZU
demonstriren war, daß die Sprache kein Erzeugnis) menschlicher Willkür sei. Wir
Deutschen wissen, daß sie, ganz ebenso wie alles andere Geistige, ein Product der
Wechselwirkung zwischen Freiheit und Nothwendigkeit ist. Indeß sind auch diese
Mängel wie verschiedene andere, die ebenfalls daraus hervorgehen, daß die Um¬
arbeitung des zu Engländern redenden Buchs für Deutsche nicht sorgfältig genug
vorgenommen wurde, nicht von so tiefgehender Bedeutung, daß wir Anstand neh¬
men müßten, dem Werke als Ganzem warme Anerkennung zu zollen, und so möge
es mit seinem reichen Detail von Beispielen aus der vergleichenden Grammatik und
seinen glänzenden Aufschlüssen über die Bestandtheile der Sprache u. c>. allen Freun¬
den derartiger Untersuchungen als eines der lescuSwerthcsten Bücher seiner Gattung
angelegentlich empfohlen sein.
Nachdem Kurhessen eine rechtmäßige Landesvertretung wiedergewonnen,
Hessen-Darmsiadt seine zweite Kammer in volksthümlich liberalem Geiste er¬
neuert hat, schickt sich nun auch Nassau an, der Regierung eine selbständige
Repräsentativ» der öffentlichen Interessen und Sympathien gegenüberzustellen.
Wahrscheinlich noch im Lause dieses Jahres wird die Neuwahl der beiden Kam¬
mern vorgenommen werden, und seit dem l. Februar bereits, wo in Nüdcs-
heim die alljährliche Lichtmcßversammlung stattfand, ist die Opposition damit
beschäftigt, ihre Kräfte für diesen entscheidenden Feldzug zu verstärken, zu sam¬
meln und zu ordne». Als sie am 1. März zu Limburg an der Lahn eine erste
Hauptmusterung hielt, durfte sie sich mit stolzer Hoffnung gestehen, daß —
wie auch gegnerische Organe seitdem anerkannt haben — Bildung und Wohl¬
stand des Landes in ganz überwiegender Mehrheit auf ihrer Seite seien. Man
rechnete aus. daß höchstens ein Sechstel der Sitze der zweiten Kammer an die
Regierungspartei fallen könne. Zweifelhafter allerdings steht es um die erste
Kammer, in welche die zu Sitz und Stimme berechtigten Standesherrn, ihrer
Vorrechte hier so unwerth wie anderswo, reine Geschöpfe der Negierung als
Stellvertreter zu schicken gewohnt sind. Aber selbst wenn dieses Haus seinein
preußischen Vorbilde auch serner nacheifern sollte, ist die Hauptsache gethan.
sobald die zweite Kammer eine starke und zuverlässige liberale Mehrheit hat;
zumal da in finanziellen Angelegenheiten beide Kammern gemeinschaftlich be¬
rathen und beschließen.
Zeit ist es in Wahrheit, daß auch hier endlich dem Belieben der Negierung
und des Hofes unübersteigliche Schranken gesetzt werden. In Wiesbaden hat
in^n sich nicht daran genügen lassen, die zehnjährigen Siegesfeste der Reaction
mitgefeiert, und z, B., um nur der ärgsten Ausschweifung zu gedenken, das
rechtskräftig aufgehobene Jagdrecht auf fremdem Grund und Boden wieder ein¬
geführt zu haben, wiewohl man selbst von dem nach dem octroyirtcn Wahl¬
gesetz gewählten Landtage dazu die verfassungsmäßig erforderliche Zustimmung
nicht erlangen konnte. Nein, als mit der Regentschaft in Preußen und dem
italienischen Kriege die Nation sich allenthalben auf ihre Rechte und Bedürf¬
nisse wieder besann, sah die nassauische Negierung darin nur eine Aufforderung
zu verschärfter Polizeihcrrschaft. Sie vermerkte es sehr übel, daß die Mit¬
glieder der parlamentarischen Opposition in Wiesbaden unter den Ersten waren,
welche in Deutschland wieder die Stimme erhoben für ausgiebige constiiutio-
nelle Freiheit und nationale Einheit. Sie sah sofort in ihnen angehende
Thrvnräuber und begann sie als Landesfcindc zu behandeln. Das von ihnen
gegründete Blatt wurde unterdrückt. Eine Negierungepresse entstand, deren
Freiheit von legalen und moralischen Bedenken in Deutschland ihres Gleichen
nicht hat. Dem Landtage begegnete man mit ausgesuchter Mißachtung. Der
Staatsminister Fürst Wittgenstein und der unter ihm die Zügel führende Re¬
gierungspräsident v. Winzingervde erschien gar nicht im Ständcsaale; ihre
Cvnunissärc gaben nur dann Auskunft und Bescheid, wenn nicht viel daran
gelegen war, und zuckten stumm die Achseln, wo die pflichtmäßigen Erkundigungen
der Volksvertreter einem gekränkten oder bedrohten Recht des Landes galten.
Unzählige Male, wie man sich denken kann, hat der Landtag in dieser trüben
Dämmerung zwischen dem Absolutismus und einem freien nationalen Leben
auch in Nassau Veranlassung gehabt, nichtverwilligte Ausgaben zu rcclamireru
aber so lange er besteht — wurde in Limburg erzählt — ist niemals eine dieser
unrechtmäßig ausgegebenen Summen wieder zur Kasse gekommen, mit alleiniger
Ausnahme von fünf oder sechs Gulden, die dem Lande zur Last geschrieben
waren für die Wahlreise eines Amtmanns im Interesse der Regierungspartei.
Ja, conscqucnie Verfolgung der Sache hat es im höchsten Grade wahrscheinlich
gemacht, daß die Negierung in keinem anderen Falle auch nur die ersten
Schritte gethan hat, um die Sache dem gerechten Verlangen des Landtags
nachkommend aufzuhellen. So springt man in unsern Tagen mit deutschen
Volksvertretern um!
Es ist unmöglich, daß so viel Uebermuth und Verblendung sich nicht rä¬
chen sollte. Das Herannahen der Neuwahlen hat denn auch den gegenwär¬
tigen Machthabern eine gewisse Sorge um die Zukunft eingeflößt. Während man
sich bis dahin mit dem Alleinbesii, aller äußern Machtmittel und mit den gu¬
ten geselligen Beziehungen zu den Gesandten und Generälen des benachbarten
Bundestags begnügt hatte, begann man nun allmälig die Nothwendigkeit einer
Stütze im Lande, einer wirklichen Regierungspartei zu begreifen. Auf den
guten Willen der Amtmänner und der Geistlichen — von denen namentlich die
katholische Hälfte durch unwürdige Zugeständnisse an die Curie ein für alle Mal
gewonnen war — glaubte man sich doch nicbt beschränken zu dürfen. M^l
ergriff daher aufs eifrigste die Gelegenheit, welche die un vorigen Herbst voll¬
zogene Bildung der großdculschen Partei darbot. Alles, was abhängig war,
wurde in den „Refvrmverein" getrieben. Der nassauische Zweig dieses Deutsch'
land überschattenden Baumes der Erkenntniß erklärte sich feierlich für eine
Art politischer Leibgarde des Herzogs, So hatte die Regierungspartei die Ge¬
nugthuung, schon vor der Opposition auf dem Platze gewesen zu sein. Dar¬
auf werden sich indessen ihre Erfolge in der Wahlcampagne auch wohl be¬
schränken.
Für eine wirkliche Partei im Sinne der augenblicklichen Regierung fehlt
es in Nassau so ziemlich an Allem. Rechnet man einen großen Theil der Geist¬
lichkeit und einen kleinen Theil des Beamtenthums ab, so gibt es keine Be-
Völkerungsclassen, aus denen dieselbe sich recrutiren könnte. Der Adel, aus
dem in frühern Zeiten so erlauchte politische Namen hervorgegangen sind, ist
der Zahl, dem Besitz und der Begabung nach außerordentlich unbedeutend.
Selbst bei Hofe spielen fremde Cavaliere eine Hauptrolle. Die Masse der Be¬
amten ist zu aufgeklärt und gutbürgerlich gesinnt, um im Herzen mit den Trä¬
gern der Reaction zu sympathisiren. Dagegen besitzt das Land ein sehr wohl¬
habendes, fortgeschrittenes, kernhaftcö und politisch begabtes Bürgerthum. Der
Wein des Rheingaus und das Eisen der Lahn und der Dill wachsen dem Nas¬
sauer nicht umsonst in die Hand. Selbst in Wiesbaden ist der Geist der Be¬
völkerung so gesund, daß der doppelte Einfluß des Hofes und des Bades
nichts über ihn vermögen, und die letzte Wahl zur zweiten Kammer einstimmig
auf den charakterfester Führer der Opposition siel. Welche andere Residenz von
ähnlichem Umfang kann das von sich sagen? Die Nassauer sind allerdings von
zu bedächtigem Temperament, als daß sie über Negierungssünden rasch die Ge¬
duld verlören. Sie besitzen am wenigsten von allen mittclrheinischen Deutschen
jenes Talent des unproductiven Naisonnirens, das zumal die Pfälzer, die halb¬
servilen und halbradicalcn Frondeure, so hervorstechend bezeichnet. Aber wenn
sie sich einmal erheben, so geschieht es, um sich nicht vor erreichtem Ziel wie,
der niederzulegen. Und jetzt ist ihnen die Geduld vergangen. Sie sind offen¬
bar entschlossen, der täglichen Verletzung ihrer Interessen und Rechte durch eine
ausgeartete Gewalt ein Ende zu machen.
Was diesen Entschluß unaufhörlich erneuert und befestigt, ist die Gefahr,
>n welcher der Zollverein schwebt. Die nassauische Regierung hat sich für be¬
fugt gehalten, ihren Beitritt zum preußisch-französischen Handelsvertrage ins
Ungewisse zu verschieben. Sie ist also mitschuldig an der durck, die Nicht-
genehmigung dieses Vertrags entstandenen Unsicherheit unsrer volkswirthschaft-
lichen Zukunft; mitschuldig daran, daß uns die unmittelbaren und mittelbaren
Vortheile des Vertrags nicht schon längst zu Gute kommen. Ihr Land aber
kann so wenig jene Unsicherheit der Zukunft ertragen als diese Einbußen der
Gegenwart leicht verschmerzen. Abgesehen von derjenigen Zunahme eines be¬
reichernden Verkehrs, die der Handelsvertrag vermöge seines Tarifs dem ganzen
Zollverein gebracht haben würde, hätte Nassau noch besondern Vortheil gezogen
aus der ^lnfheiu>ng der Nebergangssteuer auf Wein, die Preußen bei erfol¬
gender Annahme des Vertrags in Aussicht gestellt hat. Die Weinberge des
Rheingaues fürchten sieh nicht vor der gesteigerten Concurrenz der Ge>s-
cvgne, der Champagne und Burgunds, init welcher die vertragsmäßige Herab--
Satzung der Weinzölle sie bedroht — wenigstens dann nicht, wenn gleichzeitige
Erleichterungen ihres Absatzes nach dem Norden sie in den Stand sehen, ihren
Nebenbuhler auf seinen eigene» alten Gebieten aufzusuchen und aus dem Felde
zu schlagen. Nur die Nebergangssieuer, welche sie selbst noch immer zu erlegen
haben, quält sie, nicht der hohe Zoll, der dem Concurrenten theilweise ab'
genommen werden soll. Auch die Uebcrgangsstcner ist ihnen lästiger wegen der
mit der Erlegung verbundenen überflüssigen Arbeit, als des Geldes halber.
Es gibt in Nüdesheim, Geisenheim und Eltville Weinhandlungen, die blos
der Ucbergangssteuer wegen el» paar Eommis mehr zu hallen genöthigt sind.
Eine zweite Beschwerde der nassauische» Weinproducenten ist der einem Rabatt
gleichkommende Steuercredit, den die Grvßweinhandlungen des Zollvereines
genießen, wen» sie über eine bestimmte Menge fremden Weins importiren.
Aber auch diese Begünstigung des ausländischen Gewächses hoffen sie bald
loszuwerden, we»n der Zollverein in freierer und beweglicherer Form erneuert wird.
Genug, die nafsauische Weinproduction ist dringend daran betheiligt, daß der
Handelsvertrag je eher desto lieber in Kraft trete, und eine Auflösung des
Zoliverbands mit Preußen vollends, das Nassau auf zwei Seiten völlig um¬
schließt, betrachtet sie nicht mit Unrecht als ihren Ruin. Das Letztere gilt
auch von der zweiten großen Industrie des Landes, von der Eisenproduction
der Lahn und der Dill. Ihr verspricht der Handelsvertrag allerdings nicht die
goldenen Berge wie dem Weinbau; aber sie ist doch hinlänglich erstarkt und
stützt sich auf "einen hinlänglich gute» Rohstoff, um der erweiterten Concurrenz
halber den Vertrag nicht perhorresciren zu müssen. Dagegen ist das Eisen
Nassaus mindestens ebensosehr wie der Wein bei der Aufrechterhaltung des
Zollverbands mit Preußen interessirt, zu deren Bedingungen jetzt die Annahme
des Handelsvertrags gehört. Wohl neun Zehntel des geförderten Roheisens gehen
zu weiterer Verarbeitung über die nördliche und westliche Grenze; was mit
diesem anfangen, wenn wieder wie vor einem Menschenalter die schwarzweißen
Grenzpfähle den orangeblauen feindlich absperrend gegenüberstehen? Auf der
andern Seite gibt es so> gut wie gar seine Industrie im Lande, die von dem
Tarif des Handelsvertrags etwas Ernstliches zu fürchten hätte.' Man bildet es
sich zwar hier und da ein; aber dann liegt es zum Theil an den seltsamsten
Gründen. Die hvchhmncr Champagnerfabrik z. B. möchte sich nicht gern des
Bortheils beraubt sehe», unter gefälschter französischer Firma den Weltmarkt
zu beziehen — ein Vortheil, den Würzburger und rüdesheimer Fabriken längst
ohne Schaden und Bedauern haben fahren lassen.
Es ist gewiß, daß die kurzsichtige Tendenzpolitik der Negierung in der
Handelsvertrags- und Zvllvereinsfrage, indem sie so viele und individuelle
Interessen verletzt und bedroht, die staatliche Selbständigkeit Nassaus in den Ge¬
müthern seiner Bevölkerung stärker erschüttert als alle Agitationen des National-
vercins. Ohnehin siel die Saat, welche dieser ausstreut, hier auf keinen unfrucht¬
baren Boden. Ein bayrisches und selbst ein hannoversches Staatsgefühl mag
es geben — ein nassauisches Staatsgefühl gibt es nicht, außer etwa da, wo
Staat und Hof zwei Ausdrücke für denselben Begriff sind. Das Herzogthum
ist zu jung und zu klein, es hat auch zu wenig gethan, um das politische
Selbstgefühl seiner Bürger zu entwickeln, als daß es zu irgend einem Grade
von Patriotismus auffordern sollte, der mehr wäre als das gewöhnlichste und
unschuldigste Heimatsgefühl. Ist doch gerade im Gegensatz zu Allem, was den
Staat ausmacht - zum Amtmann, zur Negierung und zum Hofe das bür¬
gerliche Selbstbewußtsein allmälig emporgewachsen: wie sollte es sich nun
an diejenigen Mächte anlehne», die es gern für immer am Boden gehalten
hätten?
Der nassauische Liberalismus trägt die Spuren dieser seiner Herkunft.so gut
wie das Gepräge des gesund und harmonisch entwickelten Volksstammes. dem
er angehört. Er vertritt eine seltene Mischung von Besonnenheit und That¬
kraft. Es fehlt in seinem Schoße nicht an Gruppirungen und Nuancen, aber
aus einiger Ferne betrachtet nimmt er sich schon vollkommen einfarbig aus.
Kein nationales Bekenntniß verweist ihn auf den rechten Flügel des Nationai-
vereins; seine Thätigkeit und Entschlossenheit sichern ihm einen Platz im Vorder¬
treffen. Daß er die Hoffnungen theilte, welche das liberale und preußenfrcund-
liehe Deutschland ein paar Jahre lang auf das erste Ministerium König Wilhelms
setzte, hat ihn nicht einen Augenblick abgehalten, in die selbständigeren Wege
einzulenken, die der Nationalverein mit der Adoption der Reichsverfassung be¬
schult. Einer nicht sehr zahl- und einflußreichen Schaar von Alllibcralcn zu
Gefallen hat man allerdings in Limburg darauf verzichtet, den tvburger Be¬
schluß vom 6. October 1862 ins Wahlprogramm aufzunehmen; man hat sich
mit dem allgemein gefaßten Beschluß des ersten deutschen Abgeordnetentages be¬
gnügt. Aber diese Concession hat keine andere Bedeutung, als daß man um
einer vor der Hand noch theoretischen Frage willen auch nicht ein einziges
Dutzend Anhänger missen mag, wenn man doch gewiß ist, daß die Frage nur
praktisch zu werden brauchte, um auch diese in den Schoß des Nationalvereins
und unter das Banner der Reichsverfassung zu führen.
Zu dem deutschen Parlament, wenn es sich dereinst aufs neue versammelt,
um als eine der ersten geistigen Gewalten der Welt bis in die späteste Zu¬
kunft fortzuleben. wird auch Nassau ein zwar kleines, aber nicht zu verachtendes
Contingent von Rednern und Parteiführern stellen. In Deutschland steckt die
staatliche Beredtsamt'eit bekanntlich noch in den Kinderschuhen, und es gibt
daher unter uns wenige so ausgebildete Sprecher, wie der Dr. Karl Braun
in Wiesbaden. Eine köstliche Ruhe bewahrt ihn vor der gemeinsten aller ora>
dorischen Jugendsünden, vor dem allzu geschwinden und trüben Fluß der Rede;
und damit verbindet er juristische, finanzielle und nationalökonomische Kenntnisse,
die ihn zum Range einer Specialität erheben, sowie einen Witz, der auf dein
weimarischen Abgcvrdnetentage z, B. selbst jene würtembergischen Schutzzöllner
wider ihren Willen zur Heiterkeit stimmte, denen seine Wirksamkeit für den
Handelsvertrag ein Gräuel ist. Der echte Repräsentant aber, und eigentliche
politische Führer des nassauischen Liberalismus ist Brauns langjähriger Freund
und Parteigenosse, Dr. Lang in Wiesbaden. Charakterstärke, Energie und
kühle Klugheit stellen ihn an die Spitze der Fortschrittspartei, wie sie ihm im
Ausschuß des Nationalvereins, dessen nassauisehcs Mitglied er ist, einen hervor¬
ragenden Platz sichern. Er vor Allen ist ganz von jenem hohen nationale»
Selbstgefühl erfüllt, das die Schwinge ist, auf der das deutsche Volk jetzt zu
würdigen Geschicken emporstrebe. Solche Feldherrn und solch ein Heer werden
nicht lange vergebens kämpfen. Binnen Jahresfrist wird Nassau aus einer
Dependenz der östreichisch-mittelstaatlichen Koalition zu einem kaum noch an¬
gefochtenen Besitz des verjüngten Deutschland geworden sein.
Welches Bedürfniß und welches Vermögen die polnische Nation habe, sich -
gängeln zu lassen, beweist auch das jetzt etwa dreizehnjährige Bestehen eines
eomits ein'ecwur, welches seinen Sitz in Posen hat und Von dort aus jedem
Wahlkreise seinen Abgeordneten zuweist. Ost waren die zu wählenden Männer
dem Wahlkörper sehr unliebsam, und doch ist in den ganzen dreizehn Jahren
nur ein Abgeordneter nicht wider, sondern nur ohne den Willen des eowite
gewählt worden, öl-. Prusinowski hatte Mar 1862 erklärt, er werde sich >n
Lissa wählen lassen und dem Kolko (dem Verein der polnischen Abgeordneten
auf dem Landtage) nicht beitreten. Man befehlet sich und stellte für einen Wahl¬
kreis, in dem ohne Geistliche nichts zu hoffen war, statt drei nur zwei Kan¬
didaten auf. Prusinowski ward als dritter gewählt.
Ein zweites Zeugniß für die innere Unselbständigkeit der Nation ist die
Stellung eben dieses polnischen Abgcordnetenclubs, des Kolko. Außer Herrn
v. Taczanowski gehören ihm die polnischen Mitglieder beider Häuser des Land¬
tags an. Graf M,, der sich ausschließen wollte, ward wie einst C. Marcius
Cvriolanus durch seine Pani gewonnen. Bei Gelegenheit eines großen Ehren¬
diners, für das auch besondere Denkmünzen geschlagen wurden, ward dem
Kollo die Führerschaft der Nation feierlich übertragen, auch für nicht parla¬
mentarische Dinge. Auf dem Landtage zeichnete sich der Club durch seine Ein¬
stimmigkeit aus. Er besteht aus Mitgliedern aller Parteien, die sich scharf
bekämpfen und im Falle eines Sieges furchtbar über einander herfallen würden.
Jetzt aber findet sie jede Frage einig. Ziel ist, stets dem Ministerium Ver¬
legenheiten zu bereiten^ wider die Grundsteuer, wider die Gewerbefreiheit, wider
die Militärorganisation, VL/^tlco jväuo — alles eins! Sie waren es, die dem
hagenschen Antrag seine Majorität verschafften, und laut triumphirten ihre
Vlätter über die bedeutsamen Folgen ihres Verhaltens. Es sind edle Männer
im Koll'v, wie der sinnige Graf Eziestowski, der „Hegel der Polen", der gründ¬
liche und gelehrte Dr. Libell, Redner, wie Janiczewski, der sich 1848 in Frank¬
furt geltend zu machen wußte, aber diese sind jetzt in den Hintergrund getreten.
Der große Redner der Fraction ist v. Niegvlewsti. über den in der
Session vom 31. Mai 1861 durch Einmüthigl'eit des Abgeordnetenhauses die
Censur ergangen ist, daß er die einfachsten Rücksichten der Schicklichkeit, der Sitt¬
lichkeit und der Naterlandstieve auf das frevelhafteste verletzt habe. Auf dem
Landtage hört er bekanntlich nie eher auf zu reden, als bis ihm vor edler
Aufwallung die Stimme versagt. Außerhalb des Landtages versuchte er einmal
ein Hauptcvntrvlamt der preußischen Verwaltung zu organisiren, um dann mit
gewaltigen Enthüllungen vor das Land zu treten. Und wer weiß, was ge¬
schehen wäre, wenn der Translateur Post die 600 Thlr. angenommen hätte,
d>c ihm Herr v. B. im Auftrage seines Freundes für einen kleinen Verrath
tot. Der sonderbare Mann machte statt dessen dem Staatsanwalt Anzeige von
der Sache. Auch das wird Ihnen an dem preußischen Abgeordneten Nicgo-
lewski gefallen, daß er sich von Lcmartvwicz die polnische Uebertragung der
Mussctschen Antwort auf das beckcrsche Nheinlicd widmen ließ. Dies Jahr
bat der junge Herr mit dem schönen schwarzen Haar ein kleines Unglück ge¬
habt. Er trat am 28. Juni gerade aus der Szpingierschen Konditorei, als
Herr v. Poleski „zufällig" eine Flasche voll Firniß zerbrach, deren Inhalt sich
über das Haupt des Volksbefreiers ergoß. Herr v. Poleski, bekannt durch seinen
leidenschaftliche» Haß gegen den früheren Minister Heydt, ist ein armer Mann,
.der sein früheres großes vermögen nur zum Theil durch Spiel verloren hat;
einen größeren Theil verzehrten Unglücksfälle. So hatte er einem polnischen
Edelmann 6000 Thlr. geliehen, die dieser mit andern Summen bald darauf
in einer Nacht an einen reichen Grafen im Spiel verlor und deshalb nicht
ersetzen konnte. Der inzwischen verarmte Creditor wandte sich nun an den
Grafen, dessen Eigenthum der Rest seines Vermögens in jener Nacht geworden
war, und beschwor ihn bei seiner Ehre um Ersatz. Bitter enttäuscht rächt sich
Poleski durch eine kleine Schrift über das Spiel: ?voies6 ^elae^va, die dem
Herrn Grafen übel mitspielte. Dieser sucht beim Kollo Hülfe. Verweise ihn ab;
indeß Herr v. Niegolewsti nimmt sich des biedern Freundes an. Unter dem
Vorgeben, alle Exemplare einer gewissen Petition, die Pvlcsti beim Landtage
eingereicht hatte, seien verloren, lockt er diesen nach Berlin und schmeichelt ihm
dort unter dem Versprechen, der Graf werde ihm jetzt 10,000 Thlr. zahlen,
eine Ehrenerklärung für diesen ab. Da Potest'i das Geld nicht erhielt und
bald genug erfuhr, daß auch seine Petition wohlerhalten sei, suchte er eine
Unterredung mit Niegvlcwski. Bei dieser begegnete ihm „das Versehen", dessen
Opfer die schönen schwarzen Haare wurden. Er meldete den Vorfall sofort
selbst bei der Polizei an, hoffend, der Widerpart werde das auch thun.
Der aber hat großmüthig geschwiegen und selbst die Zeitungen nicht daran gehin¬
dert, den Fall unter voller Namennennung zu besprechen.
Die Vermittelung zwischen dem hohen Kolkv und seinen Trabanten einer¬
seits und der polnischen Masse andrerseits ist in die Hände der Geistlichen ge¬
legt. An ihrer Spitze steht Herr Leo v, Przuluski, Erzbischof von Posen,
richtiger von Gnesen, ein Greis von 73 Jahren, doch rüstig, behäbig und von
gefälliger Weise. Vordem in Gnesen Domherr, wußte er durch allerlei Mittel
die Beamten und Offiziere so für sich zu gewinnen, daß er bei Dunins Ab¬
gange iM-song, AiÄtiLsim», war. Als die Bewegungen anhoben, hielt er sich
ruhig; er hinderte nicht, er schützte auch wohl die rebellische Geistlichkeit ein
wenig, aber er hielt sich persönlich frei. Da läutete NadwiSlanin wider ihn
und seine Umgebungen Sturm; der Streit spielte bis in die deutschen Ze>'
tungen hinein und endete damit, daß der alte Herr sich der Partei ergab. D>e
verhaßten Domherren Richter und Polczynsti mußten eifrigen Polen weiche»
u. f. f. Dann unternahm der Erzbischof statt der Reise zur Krönung, bei der
sich die andern Oberhirten zusammenfanden, diejenige nach Kreuz und empfing
dort die sprechendsten Zeugnisse von der Huld seines Königs und seiner Königin.
Die Gelegenheit, seinen Dank abzustatten, gaben ihm die Wahlen, zu denen
er einen Hirtenbrief erließ, zum Theil bewogen durch die ächt christliche Weise,
in der Bischof Marwitz von Kulm seinen Klerus zur Ordnung gerufen hatte.
Nach den gewöhnlichen Gemeinplätzen schrieb der Herr Erzbischof:
„In der That, Geliebte, unterliegt es keinem Zweifel, daß. wie es
einerseits unsre Pflicht ist. festzuhalten an den Worten des Erlösers:
gebet dem Kaiser, was des Käfers ist, so wie an der Lehre des Apo¬
stels Paulus vom Gehorsam gegen die Obrigkeit, andrerseits es uns ge¬
ziemt, treue Erinnerung und herzliche Anhänglichkeit an die alten Ueber-
bleibsel unserer Nationalität zu bewahren. Durch Gottes Barm¬
herzigkeit auf den Stuhl des heiligen Adalbert berufen, um den unsere Nation
sich von jeher in entscheidenden Augenblicken schaarte, können wir es unmög¬
lich unterlassen, Euch daran zu mahnen, daß es unsre Pflicht ist, die Sitte,
die Sprache und die historischen Ueberlieferungen zu vertheidigen. Ist Euch
doch durch internationale Verpflichtungen und die feierlichen königlichen Ver¬
heißungen in dieser Beziehung jede Freiheit für Herz und Gewissen garantirt.
Wir fühlen uns um so mehr zu unzweideutigen Erklärungen hierüber veranlaßt,
als sich von andrer Seite Stimmen vernehmen lassen, welche die wahren Ge¬
sinnungen und die Sache selbst mit dem tadelnswerther Mißbrauch verwechselnd,
die Anhänglichkeit an die Nationalität ein heidnisches Gefühl nennen."
Die Überraschung und Entrüstung über dieses Schriftstück waren bei uns
gleich. Wir fragten uns. ob der Bischof ferne 100.000 deutschen Seelen
gar nicht mehr zähle? Ob er für die Katholiken oder für die Polen ge¬
wählt sei? Wie er, auf Grund der Bulle alö siüuw anurmruiQ gewählt, dazu
komme, sich als Primas Polens zu geriren? Und wer auf das Einzelne sah,
fand es bedenklich, daß er in dem angeführten Worte Christi dem Satze: Gott,
was Gottes ist, etwas so gar Anderes substituirt habe.
Wie der Herr v. Przyluski dies Jahr seine Rolle in Rom gespielt, wie
^ nachher an seinen Worten gedeutet hat, ist in allen deutschen Zeitungen
besprochen worden.
Jetzt ist er so weit, daß er bei seinen Diners, wie Kaiser Napoleon die
Damen, die in seinen Salons ein unmodisch Mäntelchen zeigen, so die Männer
neckt, die nicht in der Czamarka erscheinen.
Nachdem der Bischof das Signal gegeben, hat es sein Klerus nicht an
Eifer für polnische Wahlen fehlen lassen. Mit ihm arbeiteten die Edelleute.
Zuerst wurden die Listen genau revidirt, ja die Steuerrollen durchgesehen und
dann selbständige Listen entworfen, mit denen die amtlichen verglichen werden
konnten; selbst des Lesens und Schreibens unkundige Leute haben die Bücher auf¬
gesucht. Bürger, die ein Landgut besitzen, bemühten sich um doppeltes Wahl¬
recht. Dann sind die Urwähler zu ihrer Pflicht vorbereitet worden, namentlich
deutschen Katholiken ward viel von Sünde gesagt und mit Versagung der
österlichen Absolution gedroht. Zuletzt wurden die Leute in der Kirche ver¬
sammelt, wo jeder seinen Stimmzettel erhielt. Es versteht sich, daß ihn man¬
cher originalitcr abgab, auch mancher andere Scherz kam vor. So erschien ein
,Bauer", wie man hier die Tagelöhner nennt und beantragte den ihm zu¬
gesicherten Morgen Land. Er war sehr niedergeschlagen, als man ihn mit
leeren Händen abziehen ließ. Ueberhaupt ist das Volk in der Auffassung der
ihm gemachten Vorspiegelungen sehr treuherzig. Der Landmann an der Orla,
der 1859 seinen Proceß verlor, sagte dem Richter: gut, aber nun wird der
Gorbaly (Buckelige) kommen, dann erhalten wir Alles wieder. Er meinte
Garibaldi. Noch besser gefiel mir aber der Format aus dem Kreise Wongro-
wicc. Ob seines Trunkes aus dem Dienste des deutschen Herrn gejagt, wider¬
setzt er sich, er werde sich nicht durch den Fremden von seiner eignen heiligen
großpolnischen Erde verdrängen lassen.
Sehr gewandt zeigten sich die Polen in der Weise, wie sie die deutschen
katholischen Wähler des fraustädter Kreises singen: da war Herr v. Chlavowski
auf einmal wieder preußischer Lieutenant. Zvliowski Kammerherr, und sie bemüh¬
ten sich glauben zu machen, es handle sich um den Gegensatz preußisch und
deutsch. Ein wackerer Müller war sehr überrascht, in den Deutschen die Preußen
zu finden.
Der letzten Wahlhandlung ging die Hauptpredigt voran. Eine der merk¬
würdigsten hat Probst Rymarkiewicz in Kozmin gehalten. Er ward denun-
cirt und zahlte deshalb SO Thlr. Strafe; ich glaube nicht, daß die andern
milder redeten.
Er erzählte seinen Hörern, was die Juden einst gegen Antiochus gethan,
verrieth ihnen, daß sie von tausend Antiochus bedroht seien, und machte nun
die erbauliche Anwendung.
Trotz alledem waren wenigstens die UrWähler nicht überall und nicht durch¬
aus nach Wunsch. Wie das Volk Gegensätze scharf auffaßt, so ist an vielen
Wahltischen das Wort gehört worden: ,,0diei'g,in lliiMsuiejWeFo
rriego" — ich wähle Se. Majestät den König. In solchen Fällen lohnte der
Kurbacz und die Dienstentlassung. „Laßt Euch vom König die Mühle ver¬
pachten." „Hütet dem König die Schafe." Bei Deutschen wurde mit der
Entlassung Ernst gemacht. Polen kamen mit Hieben und dem Schrecken
davon.
Außer den Wahlen und ihrem Gefolge indem die Polen bekanntlich gar
drollige Opposilionsmittcl. Das erste sind die Lieder. Sie haben deren eine
große Zahl, weich, schwärmerisch, ziemlich eintönig. Auch die besten erheben
sich nicht bis zu der Höhe von Grün und Herwegh, geschweige denn zu der
von Arndt und Schenkcndorf. Die gewöhnlich gesungenen sind alt. Voran
steht das „Böse". Graf Montalembert ist nie zu so tiefer Andacht gestimmt
worden, als da er diesen Gesang hörte. Armer Graf! es ist die Melodie
eines evangelischen Liedes aus der allernüchternsten Zeit, die Melodie von
— Wilschels Vaterunser. Doch hier ist das Lied.
H^UM 6v LoFA. 1. eos ?oIskH pr2L2 kirk licxns viel:! — 0lac2ge dia?l!iem xotyAi
i oro3^, — eos ^ --Ästaniüt lare^q sog^j opielii, — va rief^c^so, Kt^re
xrü^valio.ja. mise^ — ?l2<za l^ve o!lar2«z ^anosiin dui^amie — 0^272«^
>vowosö rae2 iiam >vrüei6 ?amis! 2. Ictöi ^s xotöm et:riitzt> upacllciem — ^spieiat vgle^Ried 2g.
n^SvvitztL^iz. spritz — I etc^o svviat. c»^ ales my^kwa swiirälciem —
viss7.e^tzSeiÄeIi us^et xomn»2ut M^j si^'dz -. ?r2ca etc. 3. ^166 no>v6^' ?o1i;ce 6viewoSö staroSMi^. — Il2^2in^ pola, sxusto-
823es lair^; — ^ki^air K2e?ez6ele, l>c>1<6^ na vielii >v nich' liwilnh. — ?oxi2S-
swü kÄi'^, LoSö ^ggniLWÄn^: ?r20ä ete. 4. LoSs v82LLkw1^all^ va KtüröM ^voll — Iswisnie 6nata ogteZo
2aIeS^ — ^r>v^ kuck xolslci ng. 2l>.^v82S 2 niöwoli — 'Wsxisrgj 2amiar^
L2laediztii^ mtoä^le^ — ?r2cet öde. 5. Lose, KtörkAO i'g.als spravieÄIivsk; — 2ela2ne lxzrtg, vtgäeöv
^ürta KruL2^ — Znivvecs t^ed vrogö>v /amiar^ s^Icocllivvk — 0du66 ua-
ä^i^'ez >v xolLkiH eins^^: ?i2cet ete. 6. Lo26 ng.^wißts2x, pi2S2 Jos vieille euä^ — 0ääal^ va oas
Klg^i, worä^ do^jii — ?otHL2 vowosci pez^tem l'^vo^e tua^ — ?va jeckuo
dato ^riiota poKoM: ?r2ca ceo.
Hymne an Gott. 1- Gott, der Du Polen durch so viele Jahrhunderte — Mit dem
Glanz der Macht und des Ruhms umgeben hast — Der Du es mit dem
Schilde Deiner Ovhut bedeckt hast — Gegen das Unglück, das es betreffen
sollte — Bor Deinen Altar bringen wir unser Flehn — Wolle uns wieder¬
geben. 0 Herr, das Vaterland, die Freiheit. 2. Du. der Du später, gerührt durch seinen Fall, — die Kämpfer für
die heiligste Sache unterstützt hast — Und der Du die ganze Welt zum Zeu»
gen wollend ihrer Tapferkeit — Sogar im Unglück noch seinen Ruhm erhöht
hast — Vor Deinen Altar bringen wir :c. 3. Gieb dem neuen Polen den alten Glanz wieder — Befruchte die Fel¬
der, die verheerten Hufen. — Möge Glück, möge Frieden auf ewig darin
blühen, — Höre auf zu strafen erzürnter Gott — Vor :c. 4. Allmächtiger Gott, von dessen Willen — Das Dasein der ganzen Welt
abhängt — Entreiße auf immer das polnische Volk der Knechtschaft — Unter-
stütze die Entwürfe der edlen Jugend, — Vor ?c. 6. Gott, dessen gerechter Arm — Die eisernen Scepter der Herrscher der
Welt zerbricht — Verrichte die schädlichen Absichten dieser Feinde — (wörtlich:
dieser bösen Feinde. Dämonen) — Erwecke die Hoffnung in unsrer polnischen
Seele. - Vor ,c.
6, Heiligster Gott, durch Deine großen Wunder — Hatte ferne von uns
die Verluste, die Morde des Krieges — Vereinige durch das Band der Frei¬
heit Deine Völker — Unter einem Scepter des Friedensengels — Vor :c.
An der Prosna hat es das Lied allmälig auf dreizehn Strophen gebracht,
eine prosaischer wie die andre; dort wird es geschrieben colportirt, mit der
Unterschrift: Vivat ?nIom'a, psi-eilt Kermama; doch dies Alles ist apokryph.
Die ersten drei Strophen haben schon vor Durm in Gebetbüchern gestanden.
Wir lassen noch zwei solche Gcbctstieder folgen:
KgMnz? — I SnikS? ,hos?c?le mtz-
ei?erst.^og. grob.^. M7 eg.l! cltuZo cierpim^ ^jus —
^iewoli na^^t'^ ol:o>v^ Sterns^ —
Lvree ^e^usf. ete.5. mz^ 2<?nöt7 ^velle nie-
elreem^ — öl ogövv nah^i^et lota-
Mmz^ Litz — t.Mo ^j!til?in0
«6 xiÄAnikm^ — ?<>et laevi em Mi'ü-mon
^ ferne l<i^vawi .sitz.0 clodr^ -le-in dtogoxlav im —
v-Um ng.s oitz^on l^v^in —
Leiee 5<z?in8a «zte.6. , lirölo^vo?ol8lei^ Koror^
— Aodaci: eieixi 1^6^ biecln^ luci
^ lüövnie wxyvva. ?>vo^jeh' odion^
— ^et! mitosieiä7.is, uxros nam cual.
I'me?: c^^ste Serao matlci "I'^vo^ —
I'rüöi? miee?, co aus^ez zu'iivi-i^rire
— Loree <zte. ^mon!II. ?ieSü alö ^Switzts^oj Rai^i
?annz^ 1<i6Iov^ n^üöj.1. NatKo Llri^Stuss.! ^l^Satzes/^
U^i'^A — ^ ^tzlciem pr^drorlxim <Jo
I>e^o oltarzig. — LuiZ two^j dö^dronir^
6Mi >öl()A — 'l^vo^je^ Mosel
de-iZamv ^6 ^ami — 0 eng.et(o nah?la,
UMi^ sitz 2g. mani.2. ZÜlg. ^ahne^j 66ri56 nkoionovana
^ Xiölova pols^ir 2vio6 rils
Kve oc^ — 15a. nah^s ß> or?le-
^!>M^ gniev ?g.na — 0klirr^ Ki'^v
ttz, v Kt6r6^ sitz ohl-og' droe^ —
?>voj<zj gen3. Lnoc srogis ^i-izmn ^gniotto
KarKi nah?le — V ssi eaelr jeht milvsö,
Thränen, das Blut, die —
das noch frische.Grab der Mär¬
d wir leiden schon so lange, —
rich die Fesseln unsrer Sklaverei.
erz Jesu ze.
Herr wir wollen durchaus keine
e, — Für unsre „bösen Feinde"
wir Dich an, — Wir dürsten
das Joch abzuwerfen, — Unter
em das Herz so blutet.
guter Jesus segne sie, — Aber
fe für uns mit Deiner Rüstung.
erz Jesu :c.
Maria, Königin der Polnischen
e, — Sieh, wie dein armes Boll
t, — Wie flehentlich es deinen
tz anruft, — Ach erbitte ein Wunder
Gnade für uns — Um des reinen
ens deiner Mutter willen, — Um
Schwertes, das deine Seele durch¬
hat. — O Herz Jesu. ze. Amen.
Gesang zu der allerheiligsten Jung¬
frau Maria, unsrer Königin.
O Mutter Christi, heiligste Ma¬
— Mit Seufzen kommen wir zu
em Altare; — dein wehrloses Volk
det der wilde Feind; — das Kreuz
Herrn zerschlägt er und beschimpft
Bild — Um dein Erbarmen flehn
mit Thränen — O du, unsre
ter, nimm dich unser an.
Auf dem Klarenbcrg gekrönte —
gin Polens, wirf auf uns deine
en — Besänftige den Zorn des
n um unsre Sünden — Biele ihm
Opfer das Blut, mit dem der Feind
besudelt. — Um dein ?c.
Obgleich das grausame Joch un¬
Nacken zerdrückt hat. — Ist in
den
na Lti'^ut^ MtÄWö, — ^ieelr n^in
O^je^nez oäkupi on^ra — «zte.
— Lionitir luÄ Joch va
pottzgi Liivocla— Mtz-
di^ invZkiöVse^ t^ravi — ^livelr^L
I'^ö r^anz upas'ö?vise6 iÜL elg.. —
?v<M ceo.
— I ^ pr-iovsSn^ N^rya xr^-
e^mis — l'of^ xomoe^ ^clvn
seu poKoiiÄ — v8t^.pi^ vwgi i?ol8tea
nie !?ßiiiic! — ?v0jsj öde,
^olu«^e ^viLes. — OdrM V8p6teüu-
eis nack irioszie^ez^lip^in kneten — ()
U-rtlco, NatKo! V8tueK^ toe clxivci
— ^8l:i^L^ NÄM 0^^2!IItz saliimlivl-
vie>I< ancien — l'vH'H ete.
^irktoni —?c»v8wniL nah^A 0^Li?7?RA
Icoelr^na — v^wigni« 8iß silng. ü
me^eößs'e 8voieK torri — I dßMcz
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Herzen Liebe, Hoffnung, Glaube
ir entblößen die Brust für die
der Säbel — Möge uns das
das Vaterland erkaufen. — Um
e.
Du unsre heilige Herrin hast in
ochau Dein Volk gegen die Macht
chweden geschützt — Heute, wo
die Tyrannen von Moskau quä¬
Möge dein Arm Polen nicht fal¬
ssen. Um dein ?c.
In Gott ist unsre Hoffnung und
Schutz — Und in dir unser
d, vielmögende Maria — Mit
Hülfe überwältigt Einer Hundert
e Feinde weichen und Polen ist
verloren. — Um dein ze.
In andern Nationen, in denen
reiheit leuchtet — Erwecke Mit¬
mit deinem unglücklichen Volke
utter, Mutter, erhöre deine Kin¬
Weck auf unser Vaterland durch
ein Wunder. — Um dein !c.
Wenn der Herr der Heerschaaren
mit seinem Schilde deckt — Wird
geliebtes Vaterland auferstehn,
rd es sich mächtig aufrichten aus
efe seines Unglücks — Und dem
n des Herrn wird aufs Neue
sein. — Um dein :c.
Dann werden in den heiligen
n, aus denen Trauergesänge ^-
hränen heute zu dir emporsteigen
öhliche Hymnen des Dankes er¬
— Und unsre Heiligen wer¬
e im Himmel wiederholen. —
ein ?c.
Ehre, Ruhm sei Gott, dem drei-
n — Dem Vater, dem Sohne,
eiligen Geiste — Ruhm der Ma-
pus^i nam >vur^ ^ ^>v»D^ ete. der barmherzige Gott uns die Schuld.
— Um dein Erbarmen u. s. s.
Die preußische Negierung hat diesen Liedern die Ehre erwiesen, ihren
Gesang in den Schulen zu untersagen. Es wäre klüger gewesen, den Kindern
ihr Spielzeug zu lassen. Natürlich hat das Verbot einen besondern Eifer er¬
regt. In Plescben, und nicht dort allein, sang man am 18. October 1861
nach der Krönungsfeier das Lo-is. Der Probst von Opatow im Schildberg-
schcn schrieb der Regierung, er habe das Lied nicht gekannt; da es aber die
Behörde für gefährlich halte, sich vor ihm fürchte, wie Herodes vor dem
Jesuskinde, so werde er es sich verschaffen, es von Kleinen und Großen
singen lassen u. s. w. „weil ich ein Pole bin". Der Probst W. un
wongrowiecer Kreise ward um seiner Bemühungen für die verbotenen Lieder
willen seines Schulinspectorates entbunden. Er forderte nun die Gemeinde
von der Kanzel herab auf, gegen die Maßregel zu remonstriren. eventuell aber
die Kinder nicht mehr in die Schule zu schicken, da ja die Behörde dieselbe
leicht evangelisch machen könne.
Wer Wind säet, wird Sturm ernten. Der Geistliche Wojtaschewski in
Goscieszvn war mit dem Lehrer und Organisten Lagowsti daselbst, einem
Familienvater einig geworden, dem Befehl der Obrigkeit Folge zu leisten. Als >
nun am 28. Juli er. einige Personen aus dem Orgelchor erschienen, sich ihr
geliebtes IZvM bestellten, wies der Organist ihr Ansinnen zurück, indem er
ihnen zu seiner Entschuldigung die Verfügung der posener Negierung zeigte.
„Das überzeugte die Unverständigen nicht, denen die Störung der kirchlichen
Ordnung mehr galt, als der Gottesdienst, und als der Organist unter Be¬
gleitung der Orgel und des Volkes das Lied an die heilige Jungfrau anstimmte,
sing eine Anzahl von Männern zum Aergerniß der ganzen Schaar der Gläu¬
bigen trotz des kräftigen Orgelspiels das Lied Loos 006 ?o1ZKtz zu schreien
«n. Es entstand ein solcher Tumult in der Kirche, eine solche Bestürzung über
die EntHeiligung des Gotteshauses, über die Mißachtung des heiligen Opfers
der Messe, eine solche Aufregung der wahrhaft frommen Menge, daß der
Pnester nicht vor dem Altar bleiben konnte und abtrat, um erst die Ruhe
Wiederkehren zu lassen. Die Orgel verstummte nach der Unterbrechung des
Gottesdienstes, die Unverschämter beendeten ihr Lied, und erst dann nahm die
Messe ihren Anfang."
So erzählen die vierzehn Geistlichen des grätzer Decanates, unter ihnen
Prusinvwsti, in längerer Erklärung vom 10. August 1861 den Vorfall der
Redaction des Nadwislanin, N. 77, 1861.
Trotz dieser Erfahrung gibt der polnische Klerus sein widerlich frivoles
seiner Heiligthümer nicht auf. Jene Vermischung der Religion mit weltlichen
Dingen, die voriges Jahr ihr häßlich arhcistisches Gepräge bloßlegte, als
Bischof Vialvbrzeski die Kirchen von Warschau geschlossen hielt, arbeitet auch hier
daran, die einzig sichre Wurzel gesunden Volkslebens auf immer zu untergraben.
Die Trauergottesdienste und die Processionen sind es hier, die trotz Fahnen
und Heiligenbildern der Religiosität des Volkes den Todesstoß geben. Sie
haben oben eine kurze Beschreibung der Trauermesse aus Nadwisianin erhalten.
Sie sind sich überall gleich. Der ärgste Exceß war im vorigen September die
Aufforderung zu einer Feier für Ryll, Jaroszynsti und Nzonca. die warschauer
Meuchelmörder, welche von Dr. Pr., einem Literaten in Pleschen, ausging.
Das Lügensystem, durch welches sich bei solchen Anlässen die Geistlichen decken,
ist ebenso bezeichnend, als die Gewandtheit, mit der sie, sobald eine derartige
Demonstration untersagt ist, sofort einen Heiligen unterzuschieben versteh», der
dann in aller Unschuld mit und UMcc) düiii^stusa, gefeiert wird. Auch
den Schritt ein Ludlims an liclieulö wissen sie zu thun. Sie erinnern sich
des berliner Studcntenwiizes von 1830: „Wegen Krankheit einiger Schuster¬
jungen kann die aus heute Abend angesägte Revolution nicht Statt finden."
Nun vergleichen Sie freundlichst die posener Zeitung: Ur. 83. 1861, den
Dziennik Poznaüstt Ur. 82: „Wegen eines rituellen Hindernisses kann der
Trauergottesdienst für unsere 1848 gefallenen Brüder bei uns am 10. o. M.
nicht abgehalten werden. Es wird daher später ein anderer Tag für die Trauer¬
feier bestimmt werden. Die Aeltesten der Schuhmacherinnung in Trzemeszno."
Und dann Ur. 95 der posener Zeitung: Der Gottesdienst war wirklich angesagt,
mußte auch „aus rituellen Gründen" unterbleiben, aber die löblichen Schuh¬
machermeister der Stadt Trzemeszno waren ohne ihr Zuthun, ohne ihr Wissen
ins Vortreffcn gestellt worden.
Bei den Processionen handelt es sich darum, Massen zusammenzuführen,
einander bekannt zu machen und sie in aufregender Rede zu haranguiren, in
der man ihnen etwa die Judith oder die Makkabäer zum Muster vorstellt.
Schön ist es, wenn Processionen sich begegnen; dann gibt es große Festei
erhaben aber wird das glorreiche Volk, wenn es sich den Juden verbrüdert,
die es 1848 würgte. Nicht blos in Heidelberg ziehn die Polen in die Syna¬
goge; auch in Miclziu (vrgl. unsern zweiten Brief). Dort, hatten die
jüdischen Einwohner bei Gelegenheit der Begegnung zwei großer Processionen
an ihrem Wohnort mit illuminirt. Das rührte die polnischen Herzen. Es
Erlösers errichtet worden, das die Inschrift traut: für Unsere ermordeten Brüder , mit
Bezeichnungen Warschau und Wilna und dem Datum der stattgehabten Hinrichtungen.
versicherten ihn ihrer Geneigtheit, mit den Juden in Frieden zu leben, und
forderten ihn aus. die Synagoge zu öffnen, indem sie auch dort ein Gebet
Matten wollten. In der Synagoge ließen sie auf ein stilles Gebet ein lautes
Lvi5L folgen.
Die Theilnehmer dieser Processton trugen ein roth und weißes Zeichen an
der Confederatka (viereckige Mütze), welches sie großmüthig theilten und weiter¬
gaben. Es war das Geschenk eines Geistlichen „aus dem Königreich", welcher
die Procession bis an die Grenze begleitet, dort gerufen hatte: Meinen Segen
gebe ich euch mit, sonst kann ich euch nichts weiter mitgeben. Er hatte sich dann
aber noch besonnen und prophetisch das weiße Chorhemd sowie den rothen
Ministrantenanzug in Fetzen zerrissen, aus ihnen weiß-rothe Cocarden gebildet
und die Gläubigen damit geziert.
Zu diesen großen politischen Acten kommen nun noch einige Praktiken,
die sich bald gegen die Deutschen überhaupt, bald gegen Einzelne unter ihnen
richten. In Sabrina ward ein Gerichtsdircctor. dessen Entscheidung in der
Sprachenfrage nicht behagte, kurzweg gefordert. In Pinscher ein unbequemer
Bürgermeister — doch das ist die letzte längere Geschichte, zu der ich einen
besondern Anlauf brauche. Zu unsern katholischen Feiertagen kommen noch
die mit einem großen Ablaß verbundenen Spccialfeste der Localheiligen. Bei
diesen „Ablässen" wird durch das Zusammenströmen der Massen aus mehren
Parochien eine erhöhte geistliche Thätigkeit nöthig. Der Ortspfarrer findet sich
dann bei seinen Herrn Brüdern durch ein glänzendes Diner ab. zu dem Sie
auch eine Einladung haben sollen, wenn Sie uns einmal besuchen; denn es
werden deutsche Gäste in großer Zahl geladen. Widerstrebend nahm der Bür¬
germeister Hautzinger seine Aufforderung an. und als die Köpfe warm, die
Füße schwer wurden, versuchte er, wie wir minder Trunkscrtigen hier gern thun,
»polnischen Abschied" zu nehmen, d. h. sich still zu entfernen. Man kam ihm
nach und trug ihn auf den Schultern wieder herauf. Der geschmeichelte Consul
sprach nun auch dem Ungarweine zu und begann sich etwas aufzuknöpfen.
»I. Brüderchen, was wird die Regierung sagen, daß du hier mit uns trinkst".
^ „Ach was," sagt der in seinem Wasserpolnisch, „ich freß die Regierung",
uicht wissend, welch' schweren, unästhetischen Sinn die Worte frau im rs-
!^ne)-H hochpolnisch haben. Anderen Tags ward Hautzinger von seinen polni¬
schen Tischgenossen — dem Staatsanwalt denuncirt.
In Trzemeszno wußten sie sich mit dem Beamten, der in der Processions-
angelegenhcit ein ungünstiges Zeugniß abgelegt, durch Steine, die sie gegen
>Ku und dann durch seine Fenster warfen, abzufinden. In Xions wurden acht
Bürger, die eine Polizeistrafe im Kreisgericht zu Sabrina abgebüßt hatten, in
feierlichem Zuge, an welchem der Geistliche und die Schule — aber, wie sie
Illumination und sogar in der Kirche gefeiert. So geschehen: 14. Den, 1862.
Herrn v. Bonin wird die Einladung zum Diner abgeschlagen, „um ihn
nicht durch den Anblick der Ezamarken verletzen zu müssen". Der Oberprä-
sident hatte auf dem Landtage zu Berlin einige treffende Worte über die Spie¬
lerei mit dem Nativnalcostüm fallen lassen. — Wie sie die Trauer um Frie¬
drich Wilhelm den Vierten gehalten, wie des badcner Attentates im Dziennik
nur unter den gewöhnlichen berliner Neuigkeiten gedacht war, ist bekannt,
minder vielleicht, daß sie in Birnbaum (nur dort?> nach den Wahlen beim
Hoch auf den König ihre Mützen aufbehielten.
Von deutschen Handwerkern, die sie nicht bezahlen tonnen oder mögen',
verlangen sie polnische Quittungen. Um die Juden dagegen wird gebuhlt.
Da brennt ohnweit Kvzmin ein Dorf ab; unter den Beschädigtem ist ein jüdi¬
scher Schänker. Den Polen gegenüber thut der Probst seine Schuldigkeit; dem
Juden gibt er — ? nein, er schreibt an Herrn Dr. Abraham Geiger in Breslau
und bittet ihn, für den abgebrannten Juden zu sammeln. Geiger ist natürlich
bewegt, entzückt, sammelt und rühmt diesen seltenen Fall hoher Toleranz in
der Zeitung. Das war der Zweck.
Doch fehlt es auch nicht an gesunden Unternehmungen: eins ist die Actien-
gesellschaft Tellus oder wie sie seit dem 15. December 1862 heißt: Commandit-
gesellschaft von Plater Chtapowsti, Bninski und Comp. Sie hat bis jetzt ein
Capital von 480.000 THIr. aus allen Gebieten des alten Polens in Actien
gezeichnet, welches zur Unterstützung polnischer Grundbesitzer durch Darlehn
bestimmt, den Zweck haben soll, die großpolnische Erde den polnischen Besitzern
zu erhalten.
Das ist wieder bezeichnend, daß der das ganze Polen umfassende Verein
Posen ausmahlt, um sich da zu domiciliren. Die Thätigkeit der auf § 173
des deutschen Handelsgesetzbuchs constituirten Gesellschaft geht auf Banquier-
und Wechselgeschäfte, § 272; Uebernahme von Versicherungen, § 271; Com-
missionögcschäste, § 271 und 360; die Acticnzcichnung ist notariell legalisirt
und die erste Rate eingezahlt worden. Der Aufsichtsrath besteht aus zehn Per¬
sonen, welche Galizien, Russisch-Polen, Westpreußen und Posen angehören.
Der galizische Fürst Leo Sapieha eröffnet die Reihe.
Auch was für Gesellenvereine, für Krankenhäuser u. tgi. geschieht, hätte
ich gern gerühmt und wäre denen warm entgegengetreten, die vorgeben, es
sei dabei polnische Prahlerei und Agitationslust start im Spiele, wenn mir
nur nicht die Frau Landschaftsräthin v. Bronikowska auf Marszalli bei Rasz-
tow. Kreis Schildberg, wieder einmal das wahre Gesicht polnischer Barmher¬
zigkeit gezeigt hätte. Sie hat ihren Mann am Typhus verloren und hat nicht
Lust schon wieder eine Leiche zu sehen, wie sie sagt, darum hat sie ihren Haus-
während des heftigsten Fiebers in leichten Betten nach dem zwei bis drei
Meilen entfernten Krankenhause schaffen lassen. Erstarrt, sprachlos u. f. w.
im Hospitale angelangt, ist Mikus dort am zweiten Tage. 9. December 1862.
gestorben.
Da haben Sie ein Bild dessen, was sich hier begibt. Line irs. et swcliv
habe ich es gezeichnet, wo ich es nur irgend durfte, die Schwächen der Deutschen
und die Vorzüge der Polen hervorhebend; dennoch erschien uns die Bewegung,
hervorgerufen von wenigen, unter sich uneinigen Männern, welche auf die
Führer der Nation und auf diese selbst einen schweren Druck üben, un¬
gerecht in ihren Ansprüchen, unwahr in ihren Klagen, bald unreif, bald un¬
lauter in ihren Mitteln und über ihre letzten Ziele völlig unklar. Mit schnei¬
dendem Witze beschreibt Kattner, wie sich unter der erstrebten Nationalität
jeder etwas Anderes denke:
„Polnische Frauen: die katholische Religion mit Wachskerzen und Weih¬
rauch; die Junker: Woiwodschaften, Starosteien, schuldenfreie Güter und Zeit¬
vertreib mit Juden und Deutschen; die Pfaffen: Oberaufsicht über König und
Staat, geistliche Gerichte und Ketzerhetzcn; die Schulbuben: viereckige Mützen.
Abschaffung der Mathematik, ununterbrochenen Masurek; Dr. Metzig: das Mi¬
nisterium für polnische Medicinalangelegenheiten und den Se. Stcuiislausorden
erster Classe; Graf Montalembert: ein Bollwerk gegen den Protestantismus
und die Kirchenspaltung; Lord Russell: ein Bollwerk gegen das indiengicrige
Nußland."
Desto einiger sind sie über ihr nächstes Ziel. Wenn dem ganzen Vaterland
unter Mittheilung aller Actenstücke die Frage vorgelegt würde, ob wir es
Landesverrats nennen dürfen, so weiß ich, wie die einstimmige Antwort
lauten würde. Wir theilen noch einen freilich etwas alten Beleg mit. Zu
einem Festmahl, welches die Nation am 20. November 18S9 dem Kolko gab,
war der Abgeordnete für Sabrina, Schroda und Kosten, G. v. Potworowski
auf Gola, eines der ehrcnwerthesten seiner Mitglieder, von demselben mit der
Hauptrede beauftragt. Sein plötzlicher Tod hinderte seine Theilnahme, aber
der Dziennik brachte bald darauf den Wortlaut der schon ausgesetzten Rede.
Dieses Testament eines durchaus ruhigen und besonnenen Polen schließt:
„Die Stellung Ihrer Deputaten, meine Herrn, auf dem preußischen Landtage
'N Berlin war und ist sehr schwierig und zu Zeiten sehr trübe, weil sie auf
dem Landtage eigentlich keineStellc haben. Allein unsere Solidarität
S'de uns heutzutage eine größere Bedeutung als früher, nicht blos gegen¬
über den beiden Kammern, sondern, ich darf es kühn aussprechen, gegenüber
v°n ganz Europa. Europa sieht, daß auf dem Landtage von Berlin sich
Polen finden, welche keinen andern Gedanken haben, kein andres Streben.
'
ist diese Einsicht von um so größerer Bedeutung und stärkerem Gewichte, als
der große Grundsatz der Nationalität seinen Ausdruck gefunden hat. Ihre
Pflicht, meine Herrn, ist es, dahin zu trachten und zu arbeiten, daß alle
Coterien und Parteiungen im Lande aufhören, damit die Losung der Nationa¬
lität nicht verdächtigt, oder irgend jemand gegenüber schwankend gemacht
werde und damit diese heilige Losung niemals durch andre Tendenzen verhüllt
werde. Wir aber, meine Herren, schwören als polnische Abgeordnete,
daß wir keine anderen Rücksichten . keine anderen Ziele haben, als die Vertheidi¬
gung unserer Nation. Wir arbeiten in der Hoffnung, daß wir einst auf
unserm eigenen Boden über das Wohl unseres Landes rathen
werden, und in dieser Hoffnung, zur Ehre dieses Glaubens unseres Volkes
bringe ich den Toast aus: Es lebe unsere Hoffnung, und ich bitte Gott,
daß er uns diese Zeit erleben lasse."
Einig sind die Polen serner in ihrem glühenden Hasse gegen Deutschland,
insonderheit gegen Preußen; eine Stimmung, deren Ungerechtigkeit in die
Augen fällt. Die Gründe, welche Montalembert dafür aufsucht, sind nichtig,
weil sie auf dem Boden lügenhafter Angaben ruhen.
Es kommt bei diesem Hasse vielleicht die Geschichte der zweiten Theilung
Polens in Rechnung, bei der Preußen den Polen bitter weh gethan hat.
Gewiß ist der wunderliche Zug des unglücklichen Menschen nicht ohne Einfluß,
welcher ihn gegen einen Wohlthäter, der nicht allen Wünschen gerecht wird,
bittrer stimmt als gegen jemand, der ihm gar nichts gewährt, ein Zug, der
sich besonders mächtig bei einem Volke zeigt, welches die Freiheit niemals ver¬
tragen hat. Sodann fällt der Religivnsuntcrschied um so schwerer ins Gewicht,
als sich der katholische Pole des Abfalls von dem jetzt siegreich gewordenen
Protestantismus anzuklagen hat.
Entscheidend aber ist der Gegensatz des germanischen und des slavischen
Volksgeistes. Der Pole fühlt von ersterem eine ihm unerkannte, aber des¬
wegen doppelt starke Gewalt ausgehen, der er nicht zu widerstehen, ja neben
der er sich nicht zu behaupten vermag. Diesem Geiste gegenüber gibt es für
ihn keine andere Wahl, als aus sich herauszutreten, mit seinen alten Fehlern
zu brechen oder zurückzuweichen. Der schwere russische Druck hat den Polen
gelassen, wie er war. Es ist möglich, daß ein Aufstand, ein Friedenstractat,
ja ein kaiserlicher Ukas das russische Polen von seinem Joche befreit, und es
steht mit seiner alten Kraft, aber auch mit seinen alten Schwächen und Sünden
wieder auf. Wenn aber Großpolen „frei" würde, so würde der Geist des
nunmehr unterworfenen Deutschthums noch seine Überlegenheit geltend machen,
noch neue Siege gewinnen, noch immer weiter nach Osten dringen. Weil vor
ihm sein Thron wankt, darum zürnt das Slaventhum den Germanen.
blos Preußen wird darüber wachen, daß ein Land, dessen größere Hälfte deut¬
schen Besitzern eignet, daß die Frucht einer sechshundertjährigen deutschen Ar¬
beit, daß 700.000 Deutsche nicht einer hohlen Theorie zu Liebe einem Volks-
stamm geopfert werden, welcher nicht einmal die Voraussetzung politischer Lebens¬
fähigkeit für sich hat, und bei dem die furchtbarste Unduldsamkeit mit dem
Mangel, jedes lebendigen Rcchtsgefühles Hand in Hand geht.
Ich glaube, das ganze Vaterland wird sich zu Noahs Wo-re bekennen:
»Großpolcn ist für sie verloren, wenigstens so lange noch ein
Tropfen Blut in preußischen Adern fließt."
Washington wie es war und Washington wie es ist sind traurige Gegen¬
sätze. Seine Bewohnerschaft allerdings hat sich durch den Krieg fast verdoppelt,
der Grund und Boden ist vierhundert Procent mehr werth als früher, die
Miethe von Wohnungen und Läden hat sich fabelhaft gesteigert. Aber die
neuen Einwohner sind eben nicbt von der Sorte, die einer Stadt Ehre und
Nutzen schafft; es sind Zug- und Raubvögel, Beispiele für den BibcM'und:
»Wo ein Aas ist, da sammeln sich die Adler". Individuen, die von dem all¬
gemeinen Ruin leben und, nachdem sie sich den Bauch zur Genüge gefüllt ha¬
ben, in ihre alten Nester und Höhlen zurückkehren.
Ebensowenig ist die Stadt noch das Centrum von dem, was Amerika
feine Sitte und anmuthigen Genuß nennt, und was früher namentlich in der
Zeit der Congreßsitzungen hier .sich zusammenfand und geltend machte. Die
Mitglieder von Senat, Abgeordnetenhaus und Regierung, die früher aus dem
Süden hierher kamen, waren in gewisser Beschränkung Leute von vornehmen
Manieren, und sie gaben ohne Zweifel mehr Geld für Vergnügungen aus, als ihre
Kollegen'aus dem Norden. Die Nachkommen der altenglischen Kavaliere sind
heiterer, prunkliebcnder, genußsüchtiger, minder trocken und um vieles auf¬
geknöpfter und gastlicher als die Nachkommen der altenglischen Rundköpfe, und
die Folge, daß diese jetzt hier beinahe allein schalten, ist eine sehr merkliche
Umwandelung des Charakters der Stadt aus heiterer Lebhaftigkeit in melan¬
cholische Geschäftsmäßigkeit, neben der wilde Lustigkeit und Galgenhumor sich
breit machen.
So lange der Süden ein Interesse am Kapitol lenkte, bewirkten seine dun¬
keln Schönheiten und seine feurigen Gentlemen, daß die Scsfivnszeitcn auf die
prächtigste Weise verflossen. Senatoren und Volksvertreter suchten sich durch
den Glanz ihrer Abendgesellschaften zu überbieten. Die Empfangstage des
Präsidenten würden einem fürstlichen Hofe, wenigstens was die Eleganz der
Toiletten betrifft, Ehre gemacht haben, modische Equipagen belebten in langem
Corso des Nachmittags die Hauptstraßen, und Hunderte königlicher Frauen¬
gestalten wandelten in den Anlagen vor dem Capitol, wenn die Musikchöre der
Marine ihre Concerte gaben.
In der Zwischenzeit zwischen den Sessionen versank die Stadt in Schlum-
mer. Ihre Riesenhotels waren verlassen, wenn es nicht einmal eine Hochzeit
darin gab. Die kleine Armee von Regierungsbeamten ging großenteils aus
Urlaub, und die Negerkutscher saßen ernst und schweigsam, nur selten durch
mien Fahrgast zu dem gewöhnlichen dienstfertigen Grinsen veranlaßt, auf den
Böcken ihrer überzähligen Droschken. Der Aufseher an der Longbridge verließ
seinen Posten ungestraft. Die Ställe des Weißen Hauses waren verschlossen,
und die hübschen flinken Jungen, welche die Herren Senatoren und Abgeord¬
neten im Capitol so geschäftig bedient hatten, wenn sie während der Sitzung
ein Glas Wasser oder einen Brief besorgt haben wollten, schlenderten hinaus
nach dem Flusse, um sich mit Fischen die Zeit zu vertreiben. Die Stadt war
in der Saison ein Modell amerikanischer Vornehmheit, außer der Saison der
langweiligste und einfachste Ort der Welt. Keine einzige Kanone vertheidigte
die Stadt gegen einen Angriff von der Landseite, und die Herren Gesetzgeber
brummten, wenn man ihnen Ausbesserungskostcn abverlangte für Fort Washing¬
ton, einen kleinen alten Kasten, zwanzig Meilen stromabwärts. Epochemachendes
kam in jener guten alten Zeit zu Washington niemals vor, auch in der Saison
nicht. Man müßte denn dahin rechnen, daß gelegentlich ein Senator Knüttel
einen Repräsentanten spitzig „durchwammsie", oder daß Herr Langfinger vom
Schatzamt. Sohn des Ex-Vicepräsidenten, beim „Abstrahiren" entdeckt wurde,
oder daß Schnicpel ^jun., der hübsche Stenograph auf der Galerie des Ab¬
geordnetenhauses mit der Tochter des würdigen Mr. Elieser Thalermann im
Parterre davonlief — Ereignisse, welche der Stadt Krämpfe verursachten und
die Zeitungen und Klatschgcvattcrn im ganzen Lande glücklich machten.
Es gab in der Saison eine gute Anzahl von politischen Jndustrieritteni
aller Arten hier, besonders in den letzten zehn Jahren vor dem Kriege. Aber
es gab auch eine gute Anzahl rechtschaffner Leute. Namentlich enthielten die
Regierungskanzleien gewisse räthselhafte Geschöpfe, die stillen Gemüthern Wa¬
shington sehr angenehm machten. Damit meinen wir jene alle» Secreläre,
Registraturen und Assessoren, welche durch gewissenhafte Erfüllung ganz be¬
sonderer Pflichten sich unabsetzbar, weil unersetzbar gemacht hatten und so, un¬
berührt von der großen „Beamtenausfegung" bei jedem Wechsel der Executive,
von Präsident zu Präsident forterbten. Sie mischten sich nicht in den Streit
der Parteien. Sie hatten nichts mit politischen Intriguen zu schaffen. Sie
sollen sogar bisweilen ihr Wahlvoium nicht abgegeben haben. Gleich den we¬
nigen Gerechten in Sodom wandelten sie von Hause nach ihrer Kanzlei und von
ihrer Kanzlei nach Hause, bis der Perpendikel still stand und sie so still ver¬
schwanden wie sie gelebt hatten. Sie sind die einzigen Glieder, welche die
Gegenwart mit den Anfangszeiten der Republik verbanden, als ein Amt noch
une Ehre war und reine Charaktere das Ruder führten. Ihre Pfiffigen Zeit¬
genossen in bey Kanzleien der Executive nennen sie „antcdiluvianische Geschöpfe",
aber das galt auch von den beiden Adams, Die Race stirbt jetzt aus, und
die wenigen, die übrig sind, machen, verloren unter Rudeln habgieriger Liefe¬
ranten und lärmender Demagogen, verblüfftere Gesichter als Rip Ban Winkle,
wie er aus seinem «jahrelangen Traum erwachte.
Die Stadt war also früher nicht allzu verderbt, und es gab wirklich mehr
anständig denkende und ehrliche Leute da, als die Zeitungen zugestehen woll¬
en. Aber mit dem Kriege kamen ungeheure Ausgaben für Kleider, Proviant,
Geschütze. Gewehre, Pferde, Schiffe und Beförderung der Truppen, und jetzt
knellen jedem dritte» Mann in Amerika die Finger nach einem Antheil an der
^ente. Die Habgierigen, die Meineidigen, die Unverschämter eilten sofort
herbei und das Knegs- und Marinedepartcment befanden sich von diesem Augen¬
blick an thatsächlich im Zustand belagerter Festungen. Schildwachen versperrten
Zugang zu den öffentlichen Behörden, persönliche Gesuche bei denselben
anzubringen wurde verboten, und zu den Haupterfordernissen eines Bureau-
chefs gehörten Blindheit, Taubheit und Fühllosigkeit. Jeder Staat der Union
War durch Gauner vertreten. Das Heer von Schurken, welches sich hier nach
PrvsitclM drängte, war so stark fast als das hier versammelte Soldatenhecr.
Durch keine Drohung eingeschüchtert, durch keinerlei Entlarvung verblüfft, stäh¬
ln diese grundsatzloser Patrioten und machten sich lustig über das Unglück des
Staates. Abenteurer aller Grade spannen Ränke, um einen Lieferungscontract
zu erHaschen, von den Fleischern, die um Häute, Talg und Lagerabsall feilsch¬
ten, bis hinauf zu den Kaufmannsfürsten, welche über Kanonenboote, Feld¬
batterien und Riesengeschütze verhandelten Einbalsamirer verlangten mit Ge¬
räusch die Leiber der Gefallenen. Erfinder bedeckten den Boden des Zeughauses
mit allerlei Modellen zu Zelten, Tornistern, Gewehren und Geschossen. Schiffs-
bauer hofften bei der Gelegenheit ihre verfaulten Fahrzeuge, Pferdever leider
ihre mit spät behafteten Mähren loszuwerden. Ein Spitzbube von Newyork
schwindelte in Dampfern, ein Spitzbube von Boston in Schuhen. Pennsyl-
vanicr beschmutzten ihren Namen durch Speculationen mit schlechten Kleider¬
stoffen , und Fabrikanten von Connecticut verhandelten der Regierung verdorbene
Musketen. Viehhändler von Ohio wurden fett von magerem Schlachtvieh,
Mehlhändler von Illinois gediehen von schimmelndem Commißbrot. Juden der
schäbigsten Classe bevölkerten die Läden von Pennsylvania-Avenue, und Mar¬
ketender, die eigentlich im Zuchthaus hätten sein sollen, beraubten die Truppen
um ihren Papiersoid. Makler, die Soldatenpensionen zu vermitteln vor¬
gaben, errichteten im Schatten des Schatzamts ihre „0edle<zö", um Wittwen und
Waisen zu betrügen. Eisenbahnpräsidenten steckten die Köpfe zusammen, UM
durch gemeinsame Erhöhung der Fahrpreise der Negierung von ihrem Gelde zu
helfen. Aerzte, von der allgemeinen Krankheit angesteckt, betrogen mit Ar¬
zeneien, und hohe Staatsbeamte bereicherten sich ans Kosten des Vaterlandes.
In den großen Hotels der Stadt wimmelte es von Agenten, welche Auf¬
träge und Contracte vom Miiitärdepartement vermittelten, von gespreizten
Freiwilligenoffizieren mit langen Sporen, rasselnden Schleppsäbeln und kolos¬
salen Bärten, von Neuangekommenen militärischen Gästen aus Europa, ^Lands¬
knechten der Freiheit mit Ordcnsbändchen im Knopfloch. Die Schenktische
waren gedrängt voll von Trinkern, und der Tabaksrauch stieg in erstickenden^
Wolken zur Decke hinauf.
Das Postgebäude wurde zum Theil in ein Mehlmagazin, das Patentamt zur
Hälfte in ein Lazareth für kranke und verwundete Soldaten verwandelt, deren zu Zei¬
ten an zwanzigtausend in Washington lagen. Ein großes Privathaus, welches
seiner Inschrift nach „den Künsten" gewidmet sein sollte, enthielt jetzt nur
Schöpfungen der Kunst, welche sich der Bekleidung des Militärs weiht. Selbst
das Capitol war eine Zeit lang eine große Kaserne, und Feuer-Zuaven hielte»
Session in den Hallen des Congresses. In den Kellerräumen des Gebäudes
but man Commiszbrod, und Tonnen mit Schwcinsvöckelfleisch versperrten die
Portikvs und Colonnade». Prcisboxer der verschiedenen Regimenter bearbeite¬
ten sich mit den Fäusten vor den Fenstern des Präsidenten, betruntne Soldaten
wurden nach der Wache geschleift, brüllende „War-Meetings" zertraten die An¬
lagen vor dem Capitol. Der Balkon von Williards Hotel flammte fast alle
Wochen einmal zurückkehrenden Gefangenen sein Willkommen entgegen. Die
Straßen von Washington waren Tag und Nacht voll Pulver- und Proviant¬
wagen, in der ganzen Stadt sah man Militärhütten und Zelte mitten im
Schmutz, weite Plätze waren mit Fuhrwerk, Pferden und Maulthieren bedeckt.
Ueberall Trommeln und Signalhörner, an allen Ecken berittene Schildwachen
Mit gezogenem Pallasch und über und über mit Koth bespritzt.
So gings fort bis hinaus in die Vorstädte. In den Hauptstraßen waren
Eisenbahnen angelegt, und die morschen Pfeiler der Longbridge zitterten unter
dem Gewicht der mit Kriegsvorräten darübcrhinbrausenden Züge. Die grünen
Hügel von Arlington sind jetzt in große gelbe Lehmhaufen verwandelt, auf
denen ein paar Dutzend Schanzen in der Sonne backen. Militärstraßen sind
durch die Felsen beim Aquäduct und bei Chainbridge gehauen. Die schönen
"Colleges" in Georgetown sind zu Zeughäusern und Spitälern umgestaltet,
und der Potomac trägt fast nur Schiffe, die für die Armee befrachtet sind.
Und eben diese Geschäftigkeit des Feldlagers bringt auch die rohen Vergnü¬
gungen eines solchen. Die schönsten Häuser der Stadt wurden von Spielgaunern
gemiethet. Schnapsschenken, vom Volkswitz „Kum-miUs" genannt, schössen an
leder Ecke auf. Allenthalben brannten Lichter zu ungewohnten Stunden, um
Ku zeigen, wo das Laster fidel war. Massen liederlicher Weibsbilder trieben sich
»ach Dunkelwerden aus den Gassen umher. Mac Clellans Provost-Marschall
versuchte umsonst die vorzüglichsten Unordnungen zu bewältigen. Die Fässer
betrügerischer Wirthe wurden auf die Straße ausgeleert, herumstrolchende Sol¬
daten ins Lager oder ins Gefängniß gebracht, eine geheime Polizei eingerichtet
zu Ueberwachung von Verräthern, Spionen und Schwindlern, auch stellte man
da. wo die Straßen sich kreuzten, Dragoner auf, die Befehl hatten, jeden
Offizier oder Soldaten zusammenzuhauen, welcher gegen ihre Abmahnung im
Galopp ritte.
Schlimmer als dieses Treiben in den niedern Regionen Washingtons ist,
daß auch die höheren und höchsten Sparen von dem Kriege verwandelt worden
sind, und nicht zu ihrem Vortheil.
Der, biedere Hinterwäldler-Advocat, der zufällig an die Spitze der Geschäfte
gestellt worden ist. hat durchaus reine Hände. Aber es fehlt ihm das Auge,
d'e Ränke seiner nächsten Untergebnen zu sehen, und der Wille, sie zu strafen.
Kein Regierender mit so gutem Willen hatte je so wenig Glück als Prä¬
sident Lincoln.
Ehe wir ihn und sein Cabinet vom moralischen Gesichtspunkt schildern,
folgen wir Russell zunächst zu einem Besuch im Weißen Hause.
Als Russell nach Washington kam, verloren der Präsident und der Staats-
sekretär keine Zeit, ihn zu Tisch zu bitten. Jener bemerkte bei der ersten Audienz,
b>e der Gesandte von Printing House Square bei ihm hatte: „Mr. Russell,
ich freue mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen und Sie in unserm Lande
zu sehen. Die londoner Times ist eine der größten Mächte der Welt, ja ich
weiß in der Tink nicht, was viel mehr Macht hat, ausgenommen vielleicht
der Mississippi. Ich freue mich, daß Sie Gesandter dieser Großmacht sind."
Und ein paar Tage später that die „erste Dame der Union" dem Spccial-
corrcspondmten in Williards Hotel die Ehre an, ihm ein prächtiges Bouquet
und eine Karte mit Mrs. Lincolns Empfehlungen sowie eine zweite Karte
zu senden, welche die Anzeige enthielt, daß Mrs. Lincoln um drei Uhr
empfange.
Als Russell dieser Einladung Folge leistete, traf er die Frau Präsidentin
bereits in Positur, ihre Gäste zu empfangen. „Sie ist eine Vierzigerin und
von Mittelgroße sowie von einer Drallhcit, die schon in die ihren Jahren
natürliche Wohlbeleibtheit übergeht. Ihre Züge sind gewöhnlich, ihre Nase
wie ihr Mund von ordinärem Schnitt und ihre Manier und Haltung unbehol¬
fen, doch gesteift durch das Bewußtsein, daß ihre Stellung von ihr verlangt,
etwas mehr zu sein als die einfache Mrs. Lincoln, die Frau des Advvcaicn
aus Illinois. Allzuhänsig und fast in jedem Satze gebraucht sie das Wort
„Lir", welches jetzt fast zum Amerikanismus geworden ist und auch edler nur
auf gewisse Classen sich beschränkt, während es früher in England ebenso ge¬
wöhnlich war. Ihr Anzug war sehr prunkvoll und von prahlenden Farben.
Sie hanthicrtc sehr energisch mit einem Fächer, wobei sie einen runden wohl¬
geformten Arm .zeigte, und war mit einigen einfachen Juwelen geschmückt.
Mrs. Lincoln überraschte mich durch den augenscheinlichen Wunsch, angenehm
zu erscheinen, und ich gestehe, ich war angenehm enttäuscht dadurch, da die
secessionisüschen Damen Washingtons sich an Anekdoten ergötzt hatten, welche
hiernach kaum aus Thatsachen begründet sein konnten.
Bald nachher trat mit schlotterigen, wackeligem, unregelmäßigem, fast
unsicherem Gange ein laugaufgeschvsscuer, hagerer, dürrer Mann herein, be¬
trächtlich mehr als sechs Fuß hoch, mit vom übergebcugtcn Schultern und
langen baumelnden Armen, die in Hände von außerordentlichem Dimensionen
endigten, welche indeß an Größe von seinen Füßen noch bei weitem übertroffen
wurden. Er war mit einem schlecht passenden, faltenwerfcnden schwarzen Ball¬
anzug bekleidet, welcher mich an die Uniform eines Leichcnbitters erinnerte.
Um seinen Hals war ein Strick von schwarzer Seide in eine gewaltige Schleife
geknüpft, deren fliegende Enden sich bis über den Frackkragen hinausstreckten.
Sein niedergeschlagner Hemdkragen ließ einen sehnigen, muskulösen, gelbe»
Hals sehen, und darüber erhob sich, in eine große Masse dichten und draht¬
artig steifen schwarzen Barthaares geschmiegt, mit einem Dache wirren repu¬
blikanischen Kopfhaares bedeckt, das seltsame, wunderliche Gesicht des Präsiden¬
ten Lincoln. Der Eindruck, welchen die Größe seiner Gliedmaßen und seine
großen und weit abstehenden Ohren machen, kann durch den Zug von Güte,
Klugheit und grotesker Gutmüthigkeit zurückgedrängt werden, den sein Antlitz
zeigt. Der Mund ist unbedingt ungeheuer, die Lippen, die sich schier von ein^r
Linie schwarzen Bartes bis zur andern erstrecken, werden nur von zwei riefen
Falten, die von den Nasenflügeln dio zum Kinn herablaufen, von weiteren
Ausschreitungen abgehalten. Die Nase, ein Organ von beträchtlicher Größe,
tritt aus dem Gesicht mit einer gewissen fragenden Aengstlichkeit hervor, als ob sie
»ach irgend etwas Gutem in den Wind hincinschnüsseln wollte. Die Augen, dun¬
kel, voll und tiefliegend, sind durchdringend, aber von einem Ausdruck, der
fast wie Zärtlichkeit aussieht, und über ihnen treten borstige Augenbrauen
hervor, welche in einen kleinen harten Stirnraum endigen, dessen Entwickelung
sich kaum genau bemessen läßt, da unregelmäßige Locken dichten Haares sorglos
darüber gekämmt sind."
Bei der Gelegenheit lernte Russell auch Seward und verschiedene andere
Minister Lincolns kennen, deren Porträts man in dem Buche selbst aufsuchen
möge. Hiev nnr noch eine Probe der Art, auf welche sich Lincoln der Anek¬
doten bedient, deretwegen er berühmt ist.
Russell sagt: „Wo Veute. erzogen an Höfen, gewöhnt an die Welt oder
"'fahren in der Diplomatie irgend eine Ausflucht gebrauchen, eine artige Rede
halten oder mit den Achseln zucken würden, um sich aus einer Verlegenheit zu
Ziehen, läßt Mr. Lincoln die Leute über irgend eine kecke Anekdote aus dem
Westen lachen und macht sich dann in der Wolke von Heiterkeit, die sein Spaß
erzeugt hat, aus dem Staube. So fuhr, als Mr. Bates (der Justizminister)
lebhaft gegen die Ernennung eines unbedeutenden Advocaten zu einem wich¬
tigen Nichtcrpvsten Einspruch erhob, der Präsident mit den Worten dazwischen:
»Ach lassen Sie das. Bates, er ist nicht halb so schlimm, als Sie meinen.
Dann aber muß ich Ihnen sagen, daß er mir vor langen Jahren einmal einen
großen Dienst erzeigt hat. Als ich mich aufs Advocatwcrden legte, ging ich eines
Morgens zu Gericht. Ich lenkte so was wie zehn oder zwölf Meilen schlechten
Weges vor mir und kein Pferd. Der Indge holte mich mit seinem Wagen el».
Holla, Lincoln! Gehen Sie nicht nach dem Gerichtshause'!! Steigen Sie ein,
Sie sollen einen Platz haben. So stieg ich denn ein. und der Iudge fuhr
W't. seine Papiere zu lesen. Plötzlich stößt der Wagen an einen Baumstumpf
auf der einen Seite der Straße, daß er auf die andere hiuübcrfliegt. Ich gucke
hinaus und sehe wie der Kutscher auf seinem Bock hinüber- und herübcrbaumelt.
Sag' ich: Iudge. ich dächte, Ihr Kutscher hätte diesen Morgen ein Bischen
Zu tief ins Glas geguckt. — Na wahrhaftig. Lincoln, sagt er. ich sollte mich
nicht wundern, wenn Sie recht hätte»; denn er hat mich seit dem Wegfahren
wohl ein halb Dutzend Mal beinahe umgeschmissen. — So steckt er seinen Kops
aus dem Schlag und schreit: El du verdammter Racker, du bist ja besoffen!
Darauf hält der Kutscher die Pferde an und sagt, indem er sich mit großer
Würde umdreht: Bei Gott, das ist das erste gerechte Urtheil, welches Sie seit
zwölf Monaten abgegeben haben. -— Während die Gesellschaft lachte, bewerk¬
stelligte der Präsident gelassen seinen Rückzug aus der Nachbarschaft des Attor-
nev-General." —
Aehnliche triviale Anekdoten und Redewendungen des Präsidenten laufen zu
Dutzenden in Washington um. So antwortete er auf das Andringen seiner Freunde,
den Kriegsminister Cameron zu entlassen: „Es ist doch gewiß nicht die rechte
Zeit für den Reiter, sein Pferd zu wechseln, wenn er gerade durch einen Strom
reitet." Und so wird erzählt, daß er auf die Frage, wie ihm der Ausfall der
letzten (für feine Partei unglücklichen) Wahlen gefalle, entgegnet habe: „Na
sehen Sie, es geht mir wie jenem Bursche», der, wie er 'mal bei Nacht seinen
Schatz besuche» wollte, sich an einen Stein stieß. Da sagte er: Ich kann eben
nicht darüber lachen, bin aber doch schon zu groß, um darüber zu weinen/'
Seine öffentlichen Ansprachen sind meist auffallend naiv. Die Zeitungscontro-
verse, in die er sich mit Horace Greelev, dem bekannten Redacteur der demo¬
kratischen Newyvrker Tribune einließ, war äußerst taktlos. schürten, welche
seinen Anekdoten lauschte», stahlen ihm ans den Tasche», während sie lachten.
Er versuchte die Radicalen und die Konservativen zu versöhnen und wurde der
Spielball beider. Er mißtraute seinem Oberbefehlshaber, scheute sich aber, die
zu erzürnen, die seine Stützen waren. Er proclamirte die Sklavenemancipa¬
tion und zu gleicher Zeit seine Zweifel an der Gesetzlichkeit der Maßregel.
Kurz, es fehlte ihm an allen Haupteigenschaften eines Trägers der vollziehenden
Gewalt in schwierigen Zeiten, an Entschlossenheit, Würde und Willensstärke.
Dagegen genießt Lincoln den unter amerikanischen Advocaten und Poli¬
tikern seltenen Ruf der Rechtschaffenheit, mit Recht nennt ihn das Volk den
„alten ehrlichen Ave", und immer wird man sich bei dem, was das Gute und
Erfreuliche an der Revolution ist, an die wunderliche Gestalt des Präsidenten
erinnert finden. Ueberall wohin er kommt, verbreitet er Heiterkeit. Kein Mensch
in der Union haßt oder beargwohnt ihn, die bloße Nennung seines Namens
brachte in schlimmer Stunde Zuversicht in die Augen der Soldaten. „Ich ritt," so
erzählt der Verfasser des Aufsatzes im „Cornhill Magazine, „eines Tages
bei Sonnenaufgang in der Gegend des Washingtons-Monuments spazieren. Da
zog mich ein Knallen, was von Rottenfeuer herzurühren schien, nach dem Flu߬
ufer hin. Hier stand hart am Rande des Wassers ein kleines Zelt, aus welchem
der lange Lauf einer Repetirvüchse hervorguckte. Der Präsident war so zeitig
aus seinein Bett gekommen, um dem Feuern zuzusehen, und ich fand ihn auf
den Knieen, indem er die Kurbel drehte, sein Gesicht glühte vor Vergnügen,
und er schrie laut auf wie ein Kind über die großen Resultate, die erreicht
worden waren. Sein Hut lag an der Erde, seine Uhr baumelte ihm aus der
Tasche heraus, und als er fertig war. stieß er ein schallendes Freudengeschrei
<ins. sprang über einen breiten Graben und marschirte mit fürchterlich langen
Schritten nach der Stadt zurück."
Weniger günstig lautet das Urtheil über die Mehrzahl der Münster.
Leward. der begabteste von ihnen, hat sich als Politiker nicht bewährt und sich
durch sein Verhalten in der Trent-Angelegenheit. seine prophetischen Ausspruche
über das baldige Ende der Revolution und noch mehr durch sein wuhtigthuen-
sches Wesen vielfach lächerlich gemacht. Der Marineminister Wells ,se kein
Mann von Fach und würde in Europa nach dem Rufe der Eorruptiou. in dem er
steht, und nach den vielen Mißgriffen, die er gethan hat. längst seine Entlassung
erhalten haben. Der frühere Kriegsminister Cameron mußte abgesetzt werden,
da er erwiesenermaßen bei Gaunereien geholfen, durch welche der Staat um
Millionen beschwindelt worden war. Sein Nachfolger Staunton gilt für ehr¬
lich und ist ein energischer Charakter, vermag aber doch den kolossalen Betrü¬
gereien nicht zu steuern, welche in seinem Departement an der Tagesordnung
sind. Ebenfalls kein Fachmann, hat er in General Halleck. der ein in West¬
point gebildeter Offizier ist. aber vor Ausbruch der Revolution eine Advocatur
'n Californien betrieb, einen militärischen Rathgeber. welcher allgemein für
wenig befähigt gilt.
Wir schließen dieses Eapitel mit einigen Beispielen jener kolossalen Be¬
trügereien, welche unter den Augen des früheren Kriegsministers und des jetzigen
Marineministers gegen den Staatsschatz verübt und später vor dem Congreß
bloßgelegt wurden.
Ein gewisser Capitän Combstock war vom Marineministerium als Agent
bezeichnet worden, der beim Miethen und Kaufen von Schiffen Vertrauen
verdiene, und wie rechtfertigte er das Vertrauen des Herrn Wells? Er ließ
die Negierung das Dampfschiff „Catiline" auf drei Monate monatlich für
14.000 Dollars miethen, worauf er die Sache befreundeten Gasthofsbesitzern
und Advocaten mittheilte, welche das Fahrzeug für nur 28.000 Dollars
kauften.
Ein Mr. Starbuck kaufte als Regierungsagent zwei Schiffe für 9.000 Dol¬
lars, die er dann dem Staate für 20.000 verkaufte. Die Schiffe selbst fand
Man. als sie abgeliefert wurden, für den Dienst, zu dem sie bestimmt waren,
wollig untauglich.
Ein dritter Fall ist der des Kaufmanns Georg Morgan, den seine Ver-
schwägerung mit dem Marineminister plötzlich zum Regierungsagenten beim
Ankauf von Schiffen werden ließ, obwohl er von diesem Geschäft nichts ver¬
stand, und der in jener Eigenschaft binnen fünf Monaten die schöne Summe
von 130.000 Dollars verdiente. Alle Welt nimmt an. daß ein Theil dieser
Beute, und nicht der kleinste, in die Tasche des Herrn Schwagers mit dem
Portefeuille geflossen sei, und selbst der mit Untersuchung der Sache betraute
Ausschuß des Kongresses deutete dies an. Und noch mehr. Ein Schiff, ge¬
nannt „Stars and Stnpes", wurde von Morgan für 70,000 Dollar? getauft,
obwohl es nur 45,000 Dollars zu bauen gekostet. Das Fahrzeug gehörte
einer Gesellschaft, deren Präsident das Geschäft abschloß, eine MttKt. für die
er den siebenten Theil der Kaufsumme zurückbehielt, Als die Gesellschaft dar¬
über murrte, erklärte jener kaltblütig, solche Verträge konnten in Washington
nicht ohne Kosten durchgesetzt werden, da die Beihülfe von Mitgliedern des
Congresses zu honoriren sei. Herr Wells ist trotz alledem noch Minister, ob¬
wohl die Erklärung, mit welcher er sein Verfahren rechtfertigte, alle die er¬
wähnten Thatsachen zugestand.
Ein vierter Fall. Im April 1861 brauchic die Armee allerlei Vorräthe,
und der Kriegsminister Eameron übertrug die Beschaffung derselben einem
Herrn Cummings, welcher ihm nahe befreundet und bis dahin Herausgeber
einer Zeitung in Philadelphia gewesen war. Der Mann verstand nicht das
Mindeste von der Aufgabe, die ihm sein Freund Cameron zugewiesen, aber er
verstand z'u verdienen, und bei den zwei Millionen Dollars, die ihm zur Ver»
fügung gestellt wurden, war in der That etwas zu verdienen. Er taufte für
23.000 Dollars leinene Beinkleider und Strohhüte — nicht weil die Armee
dergleichen verlangte, sondern „weil er dachte, sie würden ihr bei der Hitze
gut sein," Er taufte ferner 280 Dutzend Pinien Ale. eine Partie Stockfisch,
Heringe, londoner Porter, 23 Fässer mit Eingemachtem, 200 Kisten Käse, eine
ziemliche Menge Butter u. s. w., nicht weil er sie gerade für nothwendig hielt,
sondern weil Freunde ihn daraus aufmerksam machten, welche diese Artikel
auf Lager hatten, und zu verkaufen wünschten, Er kaufte sodann von einem
Herrn Davidson, der ihm durch einen Zeiiungsredacteur seiner Partei empfohlen
worden, Materialwaaren. „Er wußte nicht recht, womit Davidson handelte,
wie er nicht recht wußte, was er eigentlich taufen sollte, aber Davidson erbot
sich, ihm etwas zu verlaufen, was er, Cummings, für eine Art Lebensmittel
hielt, und so wurde es getauft. In ähnlicher Weise erwarb er der Regierung
ein paar Schiffe. Dann taufte er 75,000 Paar Schuhe, die er einem Herrn
Hall mit etwa zehn Silbergroschen über den eigentlichen Preis bezahlte — „nicht
weil jener ihm für das Geschäft etwas gegeben hätte, sondern als Dank für
Gefälligkeiten, Darlehen von 500 oder 1000 Dollars u. d.. mit welchen jener
ihn früher verpflichtet," Zu Ende der Untersuchung, welche über diese Ver¬
schleuderung von Staatsgeldern angestellt wurde, stellte sich heraus, daß Herr
Eummings von den zwei Millionen noch 180,000 Dollars in Kasse haben
müsse. Er hatte vergessen, dieser Kleinigkeit in der Berechnung zu erwähnen,
„die Summa scheint von ihm bei der Aussage übersehen worden zu sein", s"g^
der Bericht. Das war der Freund des Kriegsministers, dem zwei Millionen
anvertraut wurde», und der sie in der geschilderten Weise verwendete und —
ȟbt verwendete, Eamcron ist seitdem allerdings al^s dein Eabmet entfernt
werden, aber nicht, wie man erwarten sollte, mit Schimpf und Schande. Er
>se vielmehr jetzt Gesandter in Petersburg.
Wunderbar ist dann die Geschichte mil den Hall-Gewehren. „Es waren
"n Ganzen 5000 Stück, welche die Regierung im Juni 18L1 als unbrauchbar
an einen Herrn Eastman zu vierthalb Dollars das Stück verkaufte, im
August darauf aber zu fünfuudzw anzig Tollars das Stück wiederkaufte,
nachdem an jedes etwa anderthalb Dollars Ausbcsscrungskosten gewendet wor¬
den waren. Von diesen berühmten Musketen hatte man schon vor dem Geschäft
mit Eastman 790 Stück als völlig unnütz zu einem nomineller Preise weg¬
gegeben. Trotzdem nahm sie jener Eummings wieder und rechnete sie der Ne¬
uerung mit zwanzig Dollars das Stück an. Man mußte sie wieder als un¬
brauchbar um vierthalb Dollars, das Stück verkaufen. und sofort wurden sie
Von einem Agenten zum zweiten Mal für die Regierung erworben, und zwar
zu achtundzwanzig Dollars das Stück. Zu Kriegszwecken waren die Ge¬
wehre untauglich, als Handelsartikel leisteten sie aber, wie man sieht, Dienste
^'n fast unglaublicher Bortresflichkeit.
Und nicht besser wie im Osten wirthschafteten die Vertrauensmänner der
Regierung im Westen. Namentlich, der von den deutschen Zeitungen viel ge¬
priesene General Fremont in Missouri beschmutzte sich dre Hände auf das
schmachvollste. Fremont war kaum in Se. Louis eingetroffen, als er zehn Forts
zum Schutze der Stadt zu erbauen begann. Dieselben erwiesen sich als völlig
unnütz, und die Art. wie sie erbaut wurden, war eine Kette von Betrügereien.
Die fünf größten derselben wurden unter Leitung des Majors Kappner für
80.000 Dollars hergestellt. Kappner war aber ein ehrlicher Mann, und des¬
halb unfähig in Fremonts Augen. Er mußte daher die Fortsetzung des Baues
der von ihm schon begonnenen fünf kleinern Forts an einen kalifornischen
Freund Fremonts, Herrn Bearb abgeben. Dieser erhielt für etwa den vierten
Theil so viel Arbeit, als Kappner geliefert. gerade das Doppelte an Geld aus¬
gezahlt wie jener, nämlrch 160,000 Dollars, und jeder Dollar dieser Summe
wurde auf Fremonts Befehl von Geldern genommen, die zu ganz andern
Zwecken bestimmt waren. „Die Summen," so lesen wir in dem Bericht der
Untersuchungscommission, „welche der Eongrcß zum Unterhalt, zum Transport
und zur Bekleidung der Armee angewiesen hatte, wurden gegen alles Gesetz
und gegen die Armeebestimmungen, sonne höherer Weisung zum Trotz, ihren
eigentlichen Zwecken entfremdet und dem Raubvogel Bearb zugeführt."
Darauf weist der Bericht auf die Verbindung Mac Jnstrys. des
Quartiermeistcrs Fremonts, mit allerlei Betrügern hin. Unter letzteren glänzt
ganz besonders ein gewisser Ilm Reil. „Kein Pferdehändler konnte zu Mac
Jnstry gelangen, außer durch Ilm Neit. Der Quartiermeister schloß die Ver¬
träge mit Reil, und Reil wieder mit den Pferdebesitzern. Er kaufte Pferde
für 150 bis 1K0 Dollars und gab sie für Artilleriepferde zu 200 Dollars aus.
Einmal erhielt ein gewisser Elleard einen Contract von Mac Jnstry, bei dem
ein Gewinn von S0.000 Dollars gemacht wurde, und bei dem auch ein Herr
Brady eine Rolle spielte. Letzterer war ein Freund Mac Jnstrys und scheint
die Gabe besessen zu haben, Aas aus weiter Ferne zu riechen. Er kam des¬
halb aus Detroit in Michigan nach Se. Louis. In dem erwähnten Falle er¬
hielt Elleard geradezu vom Quartiermeister Mac Jnstry die Weisung, den Ge¬
winn mit Brady zu theilen, und dieser bekam so von jenem 23,000 Dollars,
obgleich er bei dem Geschäft weder etwas gethan noch Geld dabei angelegt
hatte. Er nahm jenen Gewinnantheil einfach als Freund des Quartiermeisters
und jedenfalls auch für diesen in Empfang."
General Fremont selbst wünschte, daß ein Contract über Lieferung von
tausend kanadischen Pferden mit einem gewissen August Sacchi abgeschlossen
werde. Es zeigte sich, daß dieser Sacchi gar nicht existirte oder ein Strohmann
in Newyork war, der nur vorgeschoben wurde, um ein gutes Geschäft zu machen.
„Man wird kaum glauben," sagt der Bericht, „daß der Name dieses Menschen
in den Zeitungen erscheint, als stehe er als Capitän im Stäbe des Generals
Fremont in Springsield."
Wir erfahren aus dem Bericht ferner, daß alle Lagerutensilien, wie Feld¬
kessel, wollene Decken. Schuhe u. f. w. durch eine einzige Firma, ohne Con¬
tract, zu einem ungeheuren Preise und in einer Beschaffenheit geliefert wurden,
in der sie fast ganz nutzlos waren. Und weshalb? Lediglich, weil die Theilhaber
sich dem Quartiermeister durch Artigkeiten verpflichtet hatten. Wir lesen, daß
einer dieser Theilhaber dem Quartiermeister ein Service für 2000 Dollars
und der Madame Fremont einen Wagen für 300 Dollars verehrte. Wir finden
sodann, daß, als ein gewisser Zahlmeister pflichtgemäß sich weigerte, Rechnungen
für Dinge zu berichtigen, die ihn nichts angingen, General Fremont sofort
Soldaten beorderte, ihn zu verhaften, wenn er nicht — gegen seinen Auftrag
— bezahle. Im October 1861 wurden 6.S00 Dollars für Eis ausgegeben,
und dieses ganze Eis wurde verwüstet. Regimenter wurden hierhin und dort¬
hin gesandt, ohne irgend welchen militärischen Zweck, blos weil gewisse Ossi'
ziere, die sich Generale nannten, Brigaden für sich zu bilden wünschten. Kurzum,
jede Art von Betrug wurde ausgeführt, und zwar keineswegs infolge von
Nachlässigkeiten des Oberbefehlshabers Fremont, sondern mit Vorwissen des¬
selben und nicht selten sogar auf dessen ausdrücklichen Befehl.
Die Untersuchung brachte alles dieses ans helle Licht. Strafe aber, infame
Cassirung der Hauptschuldigen etwa erfolgte nicht. General Fremont erhielt
zwar seine Entlassung, aber nicht, weil er mit Staatsgeldern unredlich um-
gegangen, sondern weil die Demokraten in Washington eine Zeit lang Ober¬
wasser hatten, und Fremont sich zu den Republikanern hält. Und diese Ent¬
fernung von seinem Posten währte nur kurze Wochen. Eine Partei schmähte
'du, weil er für Abschaffung der Sklaverei gesprochen; dafür, daß er in die
Kasse gegriffen, den Staat betrogen, tadelte ihn Niemand, als höchstens ein
Paar „verdammte schwarze Dutchmcn". Bald mußte der Präsident ihm ein
anderes Commando geben, und zu Ende vorigen Jahres stand er in gleichem
Range mit Burnside und Halleck. Die schweren Beschuldigungen, die der Aus¬
schuß des Repräsentantenhauses gegen ihn ausgesprochen hatte, standen ihm
durchaus nicht im Wege, und er hat bei der nächsten Präsidentenwahl genau
so viel Aussicht, als Kandidat für das Weiße Haus durchzudringen, als irgend
um anderer von seiner Partei.
Trollope schließt sein Capitel über diese Schandflecken der Verwaltung
während des Kriegs mit den Worten: „Ich bin weit davon entfernt zu behaupten,
die Demokratie habe sich in Amerika nicht bewährt. Die Demokratie hat da Großes
gethan für ein zahlreiches Volk und wird, wie ich hoffe und wünsche, anch in
Zukunft sich bewähren, aber die Lehre von der Nothwendigkeit der Pfiffigkeit muß
beseitigt werden, ehe ein Urtheil zu Gunsten der amerikanischen Demokratie ge¬
fallt werden kann. Der Mensch muß hier zu Lande pfiffig sein, d. h. seinen
Vortheil überall wahrzunehmen verstehen —in diesen Worten liegt der Fluch,
unter welchem die Regierung der Staaten in den letzten dreißig Jahren schwer
gelitten hat. Wir wollen hoffen, daß das Volk ein Mittel finden wird, sich
von diesem Fluche frei zu machen. Ich meinestheils bin überzeugt, daß dieses
Mittel gefunden werden wird."
Bei den Schriften, welche uns der Buchhändler zusendet, pflegen wir ohne
Weiteres anzunehmen, daß dieselben wirklich von den Personen verfaßt sind, deren
Namen der Titel zeigt. Wenn wir indeß erkennen, daß der Inhalt mit der uns
bekannten Persönlichkeit des Verfassers nicht übereinstimmt, oder wenn der genannte
Verfasser seiner angeblichen Autorschaft widerspricht, so erwarten wir, daß man uns
die Thatsachen vorlege, welche die bestrittene Autorschaft beweisen. Es ist die Pflicht
des Herausgebers einer solchen Schrift, darzuthun, daß er den fremden Namen
"ut Recht auf den Titel gesetzt hat, es ist dies um so mehr seine Pflicht, wenn die
Schrift den angeblichen Verfasser in einem ungünstigen Lichte erscheinen läßt.
Es wird von Interesse sein. sich dieses Verhältniß bei der viel besprochenen
Schrift klar zu machen, welche vor Kurzem bei Williams und Norgate in Lon-
bon unter dem Titel: „I.es eng-tinses roz^les on r^gner: 0puseuls
iueclit 6e Ir6cZ6i'i<: II, an 1ö KririlÄ, roi als ?i risse" erschienen ist.
Der Name Friedlich des Großen und die Angabe, daß diese Schrift bisher nicht
gedruckt sei, haben derselben überall und namentlich in Deutschland Verbreitung
verschafft, so daß schon nach wenigen Wochen eine andere Ausgabe derselben mit
beigefügter deutscher Uebersetzung, sowie eine deutsche Bearbeitung erschienen sind.
Darüber, daß diese Schrift bisher nicht ungedruckt war, kann eine Reihe
von Drucken und Übersetzungen, welche mit 1766 beginnt und mit 1860
schließt, genügenden Ausschluß geben. Dagegen, daß sie aus der Feder Frie¬
drich des Großen geflossen ist, würden schon bei flüchtigem Durchblättern erheb¬
liche Zweifel entstehe».
Ihr Inhalt ist, daß der König seinen Neffen belehrt, sowohl in der Politik
als im Privatleben die Gesetze der Bioral mit Füßen zu treten. „Willst Du
für einen Helden gelten? greife kühn zum Verbrechen. Für einen Weisen?
verstelle Dich geschickt", ruft der König aus. Und daneben gibt es von der auf
die Täuschung der Menschen berechneten Kleidung und von der vorsichtigen und
sinnreichen Gewohnheit, sich neben seinem Leite zu betrinken, bis zu wider¬
natürlichen Lastern und dem Giftmorde wenige Schlechtigkeiten und Verbrechen,
deren sich der König in dieser Schrift nicht schuldig bekennte.
Zu diesen Ungeheuerlichkeiten des Inhaltes tritt dann noch die That¬
sache, daß Friedrich der Große, als die Nirtinsss 1766 zuerst im Druck er¬
schienen, dieselben in den Hamburger und altonaer Zeitungen für unecht er¬
klären ließ, und daß weder von Seiten des unbekannten Verlegers, noch von
Seiten des ebenso unbekannten ersten Herausgebers eine Gegenerklärung erschien,
oder der Versuch gemacht wurde, die Autorschaft des Königs zu beweisen.
Da überdies bei der ungeordneten Prcßgesctzgebung in der Mitte des
vorigen Jahrhunderts sehr gewöhnlich war, daß unechte Schriften unter dem
Namen hervorragender Männer erschienen, und da die Kritik diese N-rtmöes
stets als eine Friedlich dem Großen fälschlich untergeschobene Schrift bezeichnet
hat, so dürfen wir von dem neuesten englischen Herausgeber um so mehr einen
strengen Beweis erwarten, als er schon durch den Titel die Pietät gegen einen
König gekränkt hat, den wir Deutsche zu unsern größten Männern zählen.
Sir I. Acton, — dies ist nach Nanckes unwidersprochener Angabe in der
Times der Name des englischen Herausgebers, —- hat in der That etwas von
einer solchen Verpflichtung gefühlt. Wenn auch nicht in der von ihm heraus¬
gegebenen Schrift, wohin der Beweis ihrer Echtheit gehörte, so hat Herr
Acton doch in einer englischen Zeitschrift, der llcims 6t eure-ign revien die
Thatsachen angeführt, welche nach seiner Ansicht die Autorschaft Friedrich
des Großen beweisen.
Es wird von Interesse sein, diesen Beweis einer eingehenden Prüfung
zu unterziehen und eine Frage zur Erledigung zubringen, welche, wie leicht¬
sinnig sie auch in Anregung gebracht sein mag, doch unzweifelhaft jetzt vor.
liegt und eine bestimmte Antwort verlangt.
Der Natur der Sache nach läßt sich der Beweis der Autorschaft Friedrich
des Großen nur durch bestimmte Thatsachen führen, und wirklich beruft sich
Herr Acton darauf, daß zwei von dem Konig eigenhändig geschriebene Manu,
scripte der N-rein6kS entweder vorhanden waren, oder noch vorhanden sind.
Leider vermag Herr Acton uns diese Handschriften nicht vorzuweisen, oder
uns zu sagen, wo sie sich befinden. Wir würden dann wenigstens im Stande
sein, eine Schriflverglcichung vorzunehmen. Wenn auch die Schristvergleichung
bei der Aehnlichkeit mancher Hände und der Möglichkeit geschickter Nachahmung
immer etwas Mißliches bat, so würde dieselbe doch wahrscheinlich die Grundlage
zu einer weiteren Prüfung gewähren.
Wir erfahren nur. daß sich zwei Abschriften jener Originalmanuscripte er¬
halten haben. Sonderbar allerdings, daß. da jede von Friedrich dem Großen
selbst geschriebene Zeile theuer bezahlt wird, da schon bei Lebzeiten des Königs
sür Handschriften desselben von Engländern und Franzosen hohe Preise geboten
wurden — sonderbar, sagen wir. daß diese Handschriften, welche als wichtige
historische Urkunden im Autvgraphenhandel wohl mit beträchtlichen Summen be¬
zahlt worden wären, verloren gegangen sind, und sich nur Kopien erhalten haben.
Bei diesem bedauerlichen Verluste bleibt also nur der Nachweis übrig, daß
wenigstens die Originalhandschrittcn existirt haben und die vorhandenen beiden
Kopien von denselben genommen sind, oder daß der König selbst die Autor¬
schaft zugestanden habe. In der That glaubt Herr Acton diesen Beweis in
der Weise geführt zu haben, „daß jedes Glied in der Kette der äußern Be-
Weisführung vollständig sei".
Er beruft sich auf zwei Thatsachen. erstens : daß Friedrich der Große selbst
die eine Handschrift an Buffon als sein Werk geschenkt und zweitens: daß
Meneval. Secretär Napoleon des Ersten, die andere Handschrift selbst gesehen,
als von der Hand des Königs geschrieben erkannt und abgeschrieben habe. Er
unterstützt diesen Beweis durch die Ausführung, daß die Verschiedenheiten. die
sich zwischen jenen beiden Handschriften finden, in eigenthümlicher Weise auf
Friedrich den Großen als Urheber hinzeigen.
Wenden wir uns zuerst zu der buffonschen Handschrift, auf welche Herr
Acton. offenbar mit Recht, ein größeres Gewicht, als auf die menevalsche legt.
Der Sohn des Naturforschers Buffon, ein junger französischer Offizier,
kam auf seinen Reisen im Jahre 1782 auch nach Berlin und wurde, wie damals
die meisten Fremden von Auszeichnung, auf seinen Wunsch dem Könige vor¬
gestellt. Die Vorstellung geschah am 18. Mal 1782; sie war öffentlich, und
aus einem Brief Friedrichs an Alembert. der an diesem Tage geschrieben ist,
geht hervor, daß wahrscheinlich gleichzeitig auch der Abb6 Raynal dem König
vorgestellt wurde.
Ueber die Audienz des jungen Offiziers liegen ausführliche Nachrichten Vor.
Der Naturforscher Buffon schreibt über dieselbe am 12. Juli 1782 an
Frau Necker in der Nachschrift seines Briefes:
Noch eine kleine Nachricht, da ich Platz habe. Mein Sohn ist vom
König von Preußen gut empfangen worden.
„Ich kenne Ihren Vater seinem Rufe nach sehr gut. Er ist der
Mann, der die große Berühmtheit, die er so gerechter Weise erworben,
am meisten verdient hat."
„„Nichts wird ihn mehr freuen, als die gute Meinung zu erfahren, die
Ew. Majestät von ihm hegen.""
„Ja, wenn Sie ihm schreiben, so empfehlen Sie mich ihm, aber
sagen Sie ihm auch, daß ich doch nicht mit allen seinen Systemen durch¬
aus einverstanden bin."
„„Majestät, es sind nur Vorschläge.""
Diese Unterhaltung war öffentlich und schloß mit einer noch gnädigeren
Aeußerung:
„Sehr erfreut Sie gesehen zu haben" u. s. w.
In dieser Unterredung ist nun freilich von dem Manuscript nicht die Rede,
und doch soll es damals übergeben sein. Friedrich der Große sendet dem
Naturforscher Empfehlungen, nicht aber eine Handschrift. Buffon erspart frei¬
lich seiner Freundin weder die Tautologie in den ersten Worten des Königs,
noch die banale Schlußphrase, von dem Manuscript kein Wort.
Indeß Herr Acton weiß sich zu helfen. Buffon, so meint Herr Acton,
habe vielleicht auf dem Papier keinen Platz mehr gefunden, schließt er doch mit
einem „u. s. w.", oder er habe das Manuscript vergessen, oder sein Sohn habe
ihm von dem Manuscript noch nicht geschrieben gehabt, oder er habe es für
überflüssig und verkehrt gehalten, Frau Necker von dem Manuscript zu schrei¬
ben; jedenfalls habe er dessen Inhalt noch nicht gekannt.
Gewiß! diese Möglichkeiten sind möglich, und wenn es einmal feststeht'
daß' der König damals dem jungen Manne das gefährliche Manuscript über¬
geben hat, so muß irgend ein Grund vorhanden gewesen sein, weshalb
Buffon, der übrigens später seinen Schatz Freunden zeigte, an Frau Necker
alles Unwichtige schreibt und von dem Wichtigen schweigt.
Woher wissen wir denn aber von dem Manuscript?
Man Wird vielleicht glauben aus dem erwähnten Briefe des Königs an
Alembert. Leider nein, In diesem Briefe erzählt der König viel von seiner
Unterhaltung mit Raynal, von dem jungen Offizier, dem er das Geheimniß
seines Lebens anvertraute, kein Wort. Vielleicht ging indeß beim Schreiben
dem Könige, wie dem Naturforscher, gerade das Papier aus. oder er hatte die
Sache schon am selben Tage vergessen, oder er wollte seinem Freunde Alembert
das Geständnis; nickt ablegen, welches er dem unbekannten Fremden in der
öffentlichen Audienz gemacht hatte.
Wir haben indeß noch eine andere Nachricht über diese Audienz. Ein
Freund Buffons schreibt dem Sohn am 26. Juli 1782") offenbar in Beant¬
wortung eines Briefs desselben:
„Ich war von dem schmeichelhaften Empfange, den Sie. mein theurer
Freund, beim Könige von Preußen gehabt haben und von der Art. wie Sie
sich dabei benommen, schon unterrichtet. Aus den wenigen Worten, die
dieser große Fürst, ein Kenner des Verdienstes, an Sie richtete, haben Sie ge¬
sehen, wie hoch er Ihren berühmten Vater achtet."
Also auch dieser Freund hatte aus dem Briefe des Sohnes nur von wenigen
Worten, die der König gesprochen, erfahren. Vielleicht war indeß auch dem
Sohne bei seinem Briefe das Papier ausgegangen. Jedenfalls erfahren wir
wieder von dem Manuscript nichts.
Aber woher wissen wir denn überhaupt, daß dieses Manuscript existirte?
Leider nur aus einer etwas späten Quelle, von dem Großneffen Buffons.
Herrn Nadault de Buffon, der im Jahre 1860 die Korrespondenz des Letzteren
herausgegeben hat. Er sagt:
„Ich gebe hier einen Beweis der hohen Achtung, welche das unvergleich¬
liche Talent Buffons dem König von Preußen einflößte.
„Bei der Rückkehr aus Deutschland übergab Graf Buffon seinem Vater
ein Manuscript, weiches ihm der große Friedrich anvertraut hatte,
und das den Titel führte: „1.6s eng.t.in6of et« ?ieä<zrie II. ^ »on neveu
^!'6<kli'le-(ZuiI1anno, jzon suceösseui' d, 1a couioirne."
„Dieses Manuscript, welches Buffon seinen Freunden sehen ließ und dessen
d>e Memoiren von Bachaumont erwähnen, ist niemals veröffentlicht. Herr Hum-
bert-Bazile, sein Secretär. mußte für ihn mehre Abschriften davon machen. Eine
blieb ihm. Seine Tochter. Frau Beaudesson. hat mir dieselbe mitgetheilt."
Worauf stützt sich nun diese Erzählung von dem Geschenk des Manuscripts?
Herr Nadault de Buffon ist aufrichtig genug gewesen, uns darüber nicht in
Zweifel zu lassen. Denn er fügt hinzu, daß eine Stelle der ungedruckten Memoi-
"n Humbert-Bazile's die Authenticität des merkwürdigen Fragments entscheide.
Wir wollen, um den Leser nicht zu ermüden, nur das Wesentliche aus der
langen Geschichte mittheilen:
„Buffon ist eines Tags in Se. Ouen; sein Sohn fordert den Secretär
auf, mit ihm einen Maler zu besuchen. Bei der Rückkehr sagt der Portier dem
Secretär, daß Buffon schon wieder zu Hause und über das Ausgehen seines
Secretairs sehr ungehalten gewesen sei. Dieser stürzt auf sein Zimmer. Buffon
empfängt ihn kalt, und nun geben wir den Wortlaut des gewichtigen Zeugnisses
des Secretairs wieder:
„Hr. Necker." sagte Buffon. „ist mit mir nach Paris gekommen, um die Ge¬
schenke der Kaiserin von Nußland zu sehen und ihre Briefe, sowie das Manu¬
script des Königs von Preußen zu lesen, das ich Ihnen zum Abschreiben ge¬
geben habe. Was haben Sie damit gemacht?" Ick, antwortete ehrerbietig: „„Ich
habe die Briefe der Kaiserin und das Manuscript des Königs von Preußen
in dem Schranke, wo ick diejenigen Ihrer Werte, die Sie wiedersehen wollen,
hinstelle, sorgfältig verschlossen. Hier ist der Schlüssel.""
Der unglückliche Secretär crzähli dann noch, was er weiter zur Entschuldigung
seines Aufgehens angeführt und daß Buffon ihm schließlich verziehen habe.
Dies ist Alles, was Hr. Nadault de Buffon für seine Erzählung, daß
Friedrich der Große das Manuscript der Natinvös dem Sohne Buffons für seinen
Bater übergeben habe, anzuführen weiß. Alles beruht darauf, daß Buffons Secre¬
tär. dessen Geist und Urtheil aus jener Geschichte genügend erhellt, eine Aeußerung
Buffons erzählt, in der von einem Manuscripte des Königs von Preußen, wel¬
ches abzuschreiben war, die Rede ist.
Kein Wort darüber, wer denn die Handschrift des Königs kannte, in wel¬
cher Weise Buffon sie erhielt, weleben Inhalt sie halte?
Dem Herausgeber scheint nicht einmal eingefallen zu sein, sich zu fragen, ob
denn die Worte „Is in-musei-it ein roi et«z ?ruWe" in jener gelegentlichen Aeuße¬
rung Buffons das eigenhändig vom König geschriebene Werk bedeuten müsse, ob
es nickt vielmehr das vom König von Preußen verfaßte Werk bedeuten
sollte? Im täglichen Leben überwiegt letztere Bedeutung unzweifelhaft. „Eine
Handschrift des Homer" ist weder nach französischem noch deutschem Sprach¬
gebrauch eine Schrift, welche von Homer selbst geschrieben, sondern nur die
von ihm verfaßt und von Andern abgeschrieben wurde.
Herr Nadoult de Buffon hatte die Abschrift „dieses merkwürdigen, dieses
kostbaren Fragments" vor sich, er wußte, daß Buffon eine Handschrift desselben
besaß und daß dessen Sohn eine Audienz bei Friedrich dem Großen hatte und
in dem Entzücken, an dem Reliquieninhaber oft leiden, macht er aus diesen
Thatsachen mit Hülfe jener willkürlichen Wvrtdcutung und seiner Unkenntniß
darüber, daß die Schrift schon längst und vielfach gedruckt worden ist, eine
Geschichte zurecht, welche wir, wenn sie selbst durch des großen Buffons Er¬
zählung beglaubigt wäre, für eine Windbeutelei seines Sohnes halten würden.
Denn welche Menge von Unwabrscheinlichkeiten oder vielmehr psychologischen
Unmöglichkeiten muß man überspringen, um diese Geschichte zu glauben-
Der König Nest eines Tags auf. der Liste der zur öffentlichen Audienz
Angemeldeten den Namen eines Grafen Buffon. oktieier nich garäes kran?Alse».
Es wnd ein Sohn des Naturforschers Buffon sein, den der König nur aus
seinen Schriften kennt, und mit dem er bis jetzt noch nicht in literarische Ver-
bindung getreten ist. Dem König kommt der Gedanke, dem Naturforscher ein
Zeichen seiner Hochachtung zu geben.
Vielleicht wird der König ihm ein seltenes Thier schenken? Doch das wäre zu
gewöhnlich. Vor fast zwanzig Jahren hat der König eine politische S.hilft
verfaßt, in welcher er sich vieler Gemeinheiten und Lächerlichkeiten und selbst
infamirendcr Verbrechen schuldig bekannt hat; eine Abschrift derselben wurde
ihm gestohlen und gedruckt. Er hat damals aller Welt gegenüber die Urheber¬
schaft derselben abläugnen lassen. Aber er hat noch die Originalhandschrift.
Wie. wenn er dieselbe dem Naturforscher als ein Bekenntniß seiner Sünden
übersendete ? — Indessen diese Handschrift enthält einige unangenehme Stellen ge¬
gen Katholiken und Literaten. durch welche sich Buffon verletzt fühlen würde.
Der König setzt sich daher hin und schreibt sie noch einmal mit Auslassung je¬
ner Stellen ab. Nachdem der siebzigjährige Greis einen halben oder ganzen
Tag lang abgeschrieben, ohne zu bedenken, daß er ja nur einen der in
seiner Bibliothek oder beim Buchhändler vorräthigen Drucke, mit einem
Inä<zi-lau8 keen versehen, übersenden könnte, sagt er zu sich selbst: „Ich
will dem Naturforscher ein Zeichen meines Vertrauens geben! Er wird das
Geheimniß bewahren. selbst wenn, ich ihn nicht darum bitte. Ehren wir ihn!
Er wird freilich in dem Manuscript lesen, daß ich die Literaten nur gut be¬
handle, um von ihnen gelobt zu werden. Er wird aber den Wink verstehen
und mich in seiner nächsten naturhistorischen Schrift loben. Sein Lob ist es
schon werth, daß er von allen Menschen allein um meine Verbrechen und mein
Geheimniß wisse." Der König steckt die zweite Abschrift in die Tasche und
geht zur öffentlichen Cour, sagt dem jungen Offizier einige verbindliche Worte,
zieht aber dann die Handschrift vor allen Leuten hervor, gibt sie ihm. indem
^ ihm leise ins Ohr flüstert. Buffon Vater und Sohn erzählen die paar ba¬
nalen Phrasen des großen Königs ihren Freunden, schweigen aber von der
Hauptsache, — aus Vergeßlichkeit, wie es scheint, nicht aus Discretion; denn
der große Buffon ist niederträchtig genug, sofort für seine Freunde Abschriften
des kostbaren Werkes anfertigen zu lassen. Auch vergißt er. dem König ein
paar Worte des Dankes für die merkwürdige Sendung zu schreiben.
So ungefähr müssen sich die Herren Acton und Nadault de Buffon den
Hergang denken, und wir werden später noch Gelegenheit baben. die Gründe
anzuführen, weshalb nach des Ersteren Ansicht der König eine neue Abschrift
speciell für Buffon fertigen mußte.
Die Wahrheit ist ohne Zweifel, daß wenn Buffon die Abschrift der Na-
tinöes überhaupt von seinem Sohn erhielt, dieser wie viele Andere sich auf
seiner Reise eine Abschrift der längst und vielfach gedruckten und auch hand¬
schriftlich vielfach verbreiteten Schrift aufhängen ließ, und daß Bater und Sohn
lange in dem angenehmen Gefühle lebten, eine große Merkwürdigkeit zu besitzen.
Doch genug von der buffonschen Handschrift. In Betreff der des Herrn
Acton können wir uns kürzer fassen.
Hier beruht Alles auf der dürftigen Angabe, welche uns Herr Acton selbst
über die Entstehung derselben bietet:
„Als Napoleon," sagt er, „im Jahre 1806 in Berlin war, fand sein Privat-
secrctär, Baron Mencval, das Manuscript der Natirivos in Sanssouci. Er
war der Ansicht, daß es von der Hand des Königs sei, mit der er bekannt
sein mußte, und nahm eine Abschrift, welche die Grundlage dieser Ausgabe ist."
Das ist Alles. Wir erfahren nicht, woher Herr Acton weiß, daß Mene-
val überhaupt ein Manuscript fand, ob aus einer Aussage desselben, ob aus
einer Tradition, ob aus Schlußfolgerungen, deren Werth wir eben gesehen haben.
Wir erfahren nichts davon, an welcher Stelle und wie er das merkwürdige Ma¬
nuscript fand, und woran er die Echtheit der Handschrift erkannte? Herr Acton
erzählt uns nicht, ob die Handschrift die fast von jedem schriftstellerischen Manus¬
cript unzertrennlichen Correcturen, ob sie die eigenthümliche unorthographische
Schreibweise des großen Königs hatte? Er klärt nicht auf, wo das Original blieb,
weshalb er nicht Napoleon den merkwürdigen Fund zeigte und dieser denselben
nicht nach Paris schaffen ließ, eine Handschrist, die den unumstößlichen Beweis
der tiefen Verderbtheit des Siegers von Roßbach kundgab? Und die Franzosen
waren damals in Berlin in Betreff des Eigenthumspunktes gar nicht übermäßig
gewissenhaft. Wer das Münzcabinet ausplündern ließ und den Degen Frie¬
drich des Großen mit andern Reliquien desselben nach Paris anführte, sollte
die merkwürdige Selbstanklage des Königs liegen gelassen haben?
Ueber alle diese Punkte hören wir von Herrn Acton kein Wort. Derselbe
möge uns aber die Bemerkung verzeihen, daß wir uns zu der Forderung einer
klaren Mittheilung über die Geschichte der von ihm herausgegebenen Handschrift
sehr berechtigt halren. Denn wir können seiner bloßen Behauptung durchaus
keinen Werth beilegen, nachdem wir gesehen haben, daß er die tollen Conjec-
turen über die buffonsche Handschrift für baare Münze ausgibt. Oder wäre
Herr Acton nicht im Stande, irgend eine jener Fragen genügend zu beant¬
worten, und wäre jene Behauptung nichts als eine in dem Gewand einer
Thatsache einhergehende Hypothese?
Und so ist es in der That. Denn nachdem Herr Acton an einer andern
Stelle seines Aufsatzes davon gesprochen hat. daß der bekannte Grimm dem
Könige zwei Abschriften der in Paris circulirenden Ng,t,in6«8 eingesandt habe, fügt
er hinzu, er könne nicht glauben, daß Meneval sich die Mühe genommen
haben würde, die von Grimm ans Paris eingesandten Abschriften abzuschreiben,
oder daß er, der Zutritt zu den Papieren Friedrichs hatte, dessen Hand nicht
gekannt haben sollte.
Also Herr Acton hat keine Beweise dasür, daß Menevat wirklich die
Originalhandschrift Friedrichs vor sich hatte, ja nicht einmal dafür, daß er
glaubte sie vor sich zu haben! Herrn Antons bestimmte Behauptung ist
nichts weiter als Hypothese und lose Vermuthung.
Auch ist Herrn Acton das Widerwärtige begegnet, daß seinem Meneval ein
Concurrent in der Person Savary's entstanden ist. Ein pseudonymer „Veritas" be¬
hauptet in der Times, Savary habe, als er mit^Napoleon 1806 die Zimmer des
großen Königs besah, auf dem Tische die Originalhandschrift der Uf-til^es liegen
gefunden und, so meinen wir, sie mitgenommen. Veritas erbietet sich, sie zu
zeigen, — nämlich die Abschrift, nicht das Original, welches auch hier wieder
unglücklicherweise verloren gegangen.
Endlich finden wir auch noch in einer Veröffentlichung des Herrn Preuß
die Notiz, daß in den letzten fünfzehn Jahren aus Paris abschriftliche NMrrves
in Berlin angeboten worden sind und zwar gewöhnlich mit der Angabe, daß
sie 1806 zu Sanssouci von dem Original abgenommen worden seien.
Am Ende wird sich schließlich herausstellen, daß Generalstab und Cabinet
Napoleons sich 1806 hinsetzten, um ein altes Druckwerk abzuschreiben. Jeder
glückliche Besitzer einer Abschrift wird den Ursprung derselben natürlich an einen
hohen Namen knüpfen; Alle mit gleicher Beglaubigung, wie die menevalsche
Abschrift des Herrn Acton.
Wir kommen zu dem letzten Beweise des Herrn Acton, der dem eigenthüm¬
lichen Verhältnisse der menevalschen und der buffonschen Handschrist entnommen ist.
Die menevalsche Handschrift ist nämlich vollständiger, als die buffonsche. Sehr
scharfsinnig erklärt Herr Acton die Auslassungen der buffonschen aus einer tief¬
liegenden Absicht des Königs. Was in der buffonschen Abschrift fehlt, stellt
nämlich den König nicht gerade viel schlechter dar, aber würde ihm bei vielen
Menschen noch mehr Haß erwecken, als ohnehin die'Schrift erzeugen müßte.
Abgesehen von Unbedeutenderem fehlt bei Buffon Folgendes: ein heftiger Ausfall
gegen die Katholiken;, der Satz, daß ein König Gerechtigkeit nur dann üben
müsse, wenn es nicht gegen seine Autorität ist; ein Lob des Despotismus,
welches sich aber auch in andrer Weise an andern Stellen findet, und einige
vellere Bemerkungen über Literaten.
Herr Acton meint nun. die menevalsche Handschrift sei diejenige, welche
Mednchs geheime Ideen vollständig wiedergebe; die Handschrift, welche Frie-
nch an Buffon gegeben, habe er sorgfältig gereinigt, um sie den Ohren des
l anzöftschen Philosophen gerecht zu machen, fast jede Veränderung habe die
"öftest, in vortheilhafteren Lichte zu erscheinen.
Es ist nicht nöthig, sich auf eine Erörterung der Mängel in dieser Schlu߬
folgerung einzulassen, Friedrich will nach Herrn Acton in vortheilhafteren
Lichte erscheinen, und hätte die Stelle, worin er widernatürliche Laster ein¬
gesteht, stehen lassen?
Herr Acton würde uns vielleicht antworten, Friedrich der Große sei ein wunder¬
licher Mann gewesen. Jedenfalls schreibt er wörtlich - „Jede der beiden Abschriften
gibt das weiteste und ausreichendste Zeugniß zu Gunsten der Echtheit der anderen."
Zum Glück sind wir hier in der Lage, Herrn Acton einen recht handgreif¬
lichen Beweis zu geben, daß es mitunter wohlgethan ist. vorsichtiger und ^-
logischer zu verfahren, als von ihm geschehen, und daß es namentlich gut ist,
leichtfertige Vermuthungen nicht für Thatsachen auszugeben. '
Auch wir haben eine Abschrift und selbst zwei Abschriften der N-rtinees
und zwar Abschriften vor uns, welche, — wir sagen nicht von dem Originale,
aber welche von den beiden ältesten überhaupt sicher bekannten Hand¬
schriften genommen sind.
Beide Abschriften wurden fast ein Jahr früher, als der erste Druck erschien,
Von dem bekannten Grimm, — die eine mit den fünf gewöhnlich abgedruckten
Kg.tin6<Z8 am 25. April 1765, die zweite sogar mit sieben Natinöös einige
Monate später — aus Paris an die Herzogin Louise Dorothea von Gotha ein¬
geschickt. Grimm sagt in dem ersten Briefe, daß diese Schrift seit einiger Zeit
handschriftlich in Paris circulire.
Nun wohl, diese beiden Abschriften, deren Alter feststellt, haben dieselben
Auslassungen, wie der buffvnsche Abdruck.
Wie steht es nun mit jenem Beweise, daß die buffonsche Abschrift die Echtheit
der menevalschen, die menevalsche die Echtheit der buffvnschen Handschrift verbürge?
Die buffonsche Handschrift stammt aus dem Jahre 1782. Wenn nun die
aus dem Jahre 1765 stammenden grimmschen Handschriften in den fraglichen
Auslassungen der buffvnschen gleich sind, so folgt daraus doch wohl, daß
Friedrich der Große nicht im Jahre 1782, um vor Buffon ein wenig
besser zu erscheinen, nöthig hatte, diese Lesarten zu constituiren.
Was schon 1765 fehlte, kann nicht zuerst 1782 weggelassen sein.
Sollte Herr Acton hiernach nicht den wirklichen Zusammenhang ahnen?
Was indem buffvnschen Abdruck nach den fraglichen Beziehungen fehlt, ist nicht
Auslassung, aber was sich in seinem Texr mehr findet, ist Zusatz, der ent¬
weder von dem ursprünglichen Fälscher, oder von Anderen gemacht wurde, UM
den Haß der Katholiken, der Freisinnigen, der Literaten und der gewöhnlichen
Fürsten seiner Zeit noch ganz besonders gegen den König wach zu rufen. Auf
einigen Stellen tritt in diesen Zusätzen übrigens auch die Absicht hervor, die
Autorschaft des Königs dadurch etwas wahrscheinlicher zu machen, daß derselbe
ausncibmsweise bessere Grundsätze ausspricht.
Möge hier noch eine Bemerkung über die verschiedenen Lesarten der Ab¬
schriften und Drucke der Ng.tin6es Platz finden.
Abgesehen von jenen beiden Classen von Zusätzen, welche in den 1765
zu Paris circulirenden Abschriften noch nicht existirten. bieten die uns vorliegenden
Abschriften und Drucke auch sonst eine außerordenliche Mannigfaltigkeit von Les¬
arten. Dieselben rühren zum Theil aus offenbaren Fehlen der Abschreiber her,
zum Theil aber scheinen sie aus verschiedenen Gründen absichtlich in die älteren
Texte hineingetragen zu sein.
Wenn Herr Acton die ihm vorliegende Handschrift für die beste hält,
so irrt er auch hierin. Sie ist voll einer Menge unrichtiger Lesarten, vielleicht
kann man nur sagen, daß sie als die jüngste bekannte, die meisten Abwei¬
chungen von den vierzig Jahr älteren Handschriften ausweist. Es würde ermü-
dend sein, hier auf das Einzelne einzugehen.
Es charakterisirt aber die Kenntniß des Herrn Acton über die Art Friedrich
des Großen, wenn er die Andeutung macht, daß die zahlreichen grammatischen
und orthographischen Fehler seines Abdrucks zum Theil aus Friedrichs Feder ge¬
flossen seien. Um von Friedrich herzustammen, müßten der orthographischen
Fehler nicht nur zehnfach mehr, sondern sie müßten auch viel befremd¬
licher sein.
Wir glauben getreulich Alles angeführt zu haben, was zum Beweise der
Autorschaft Friedrich des Großen vorgebracht worden ist. Oder ist eS unsere
Pflicht noch hervorzuheben, daß Herr Nadault de Buffon die Nadir^s deshalb
dem Könige zuschreibt, weil dieser auch den Antimacchiave! geschrieben habe?
Offenbar weiß Herr Nadault de Buffon nicht, daß der Antimacchiavel die Wider¬
legung des Macchiavellismus ist. „dieser verabscheuungswürdigen und falschen
Weisheit", wie Friedrich der Große denselben bezeichnete. Oder ist es noch
nöthig, der ingeniösen Idee des Herrn Acton zu erwähnen daß von den drei
im berliner Archive befindlichen Handschriften eine das Originalmanuscript des
Königs sei? Herr Preuß erwähnt nämlich in einer Notiz, daß zwei dieser
Abschriften als von Grimm für den König aus Paris eingesandt bezeichnet
sind, und beschreibt die dritte nicht näher. Statt anzunehmen, daß diese Hand¬
schrift, wie in der That der Fall sein soll, nichts Merkwürdiges bietet, sucht
Herr Acton jene Vermuthung wahrscheinlich zu machen und baut darauf wieder
die weitere Vermuthung, daß Meneval gerade diese Handschrift abschrieb.
So steht es mit der Beweisführung für die Autorschaft Friedrich des
Großen. Dieselbe bietet nicht eine einzige Thatsache, aus der auch nur die
entfernteste Vermuthung hergenommen werden könnte, der König habe diese
Schrift verfaßt. Es liegt nur ein Anzeichen vor. welchem diese Richtung ge¬
geben werden könnte, die allerdings unläugbare Thatsache, daß Buffon, so¬
wie sein Secretär, daß der Herausgeber seiner Korrespondenz, daß Herr Acton
nebst Veritas und endlich die mythischen Entdecker Meneval und Savary geglaubt
haben, diese Schrift sei ein Werk Friedrich des Großen.
Das Gewicht dieser Thatsache aber wird ein wenig verringert, wenn wir sehen,
wie diese Personen, vielleicht mit einziger Ausnahme von Hr. Acton, zu ihrer Ansicht
gekommen sind. Sie glauben sämmtlich, daß das ihnen vorliegende Manu-
script, wenn nicht Unicum, jedenfalls ungedruckt sei. Sie lesen mit Erstaunen,
was der Held des achtzehnten Jahrhunderts hier von sich erzählt, was er
für die wahre Regierungsweisheit erklärt. Sie fühlen, daß hier ein poli¬
tischer, jedenfalls ein historischer Schatz vorliegt, sie nehmen zum Theil Ab¬
schriften; was sie in ihrer Entdeckerwonne als vage Vermuthung über die Her¬
kunft der gefundenen Handschrift aussprechen, erbt sich mit den Abschriften in
dem Gewand thatsächlicher Behauptungen fort, oder sie sind kühn genug, diese
Umkleidung selbst vorzunehmen.
Die Hauptsache ist, daß sie keine Ahnung davon hatten, daß ein von jeher
von der Kritik verworfenes, längstund vielfach gedrucktes Werk vor ihnen lag.
Nur in letzterer Beziehung macht das Verfahren des Hrn. Acton entschieden
eine Ausnahme» Herr Acton mag vielleicht ursprünglich in ähnlicher Weise zu
seiner Ansicht gekommen sein, aber er hat sich dann doch über den Gegenstand,
wenn auch nur im Allgemeinen, unterrichtet.
Und obwohl er weiß, daß diese Schrift vielfach gedruckt ist, gibt er sie
mit der Bezeichnung „vxuseule irMit" auf dem Titel heraus. Wie würde
Herr Acton über einen Mann urtheilen, der hundertundsechzig Jahre nach
Bentley die Briefe des Phalaris, von denen er eine neue Handschrift gefunden
hätte, mit dem Beisatze „Oxuseulum inväitum" veröffentlichte?
Wir können indeß nicht daran zweifeln: unsere Kinder, wenn nicht wir
selbst, werden bald wieder eine neue Ausgabe der NirtiinZss als „Opuseuw
in6An" erhalten. Haben uns doch zuletzt in kurzen Zwischenräumen die Jahre
1844, 1860 und 1863 mit solchen Abdrücken beschenkt.
Die Persönlichkeit Friedrichs ist dazu interessant genug, und da es an
Handschriften nicht fehlt, so werden auch Entdcckerfreude. Leichtfertigkeit oder
Fanatismus wieder dieselben Wirkungen hervorbringen.
Wer weiß, wenn Buffon, Meneval und Savary von der Bühne verschwunden
sind, ob nicht noch eine von Napoleon dem Ersten selbst gemachte Abschrift auf¬
taucht. Jedenfalls wird es daher einiges Interesse haben die Frage zu erörtern,
ob es überhaupt möglich ist, daß die Nadir^W von Friedrich dem Großen ver¬
saßt seien? Wir werden versuchen, dieselbe im nächsten Heft dieser Blätter zu
beantworten und daran eine Erörterung über den wahrscheinlichen Ursprung
Ueber die Einberufung unsres Landtags verlautet noch immer nichts
Zuverlässiges, und die Commissionen haben in Folge hiervon vollauf Zeit,
das deutsche Handelsgesetzbuch, das Einquartierungsgesetz, das Complexlasten-
gesetz. das Judenemancipationsgesetz, das Volljährigkeitsgesetz, das Studen-
tencreditgesetz u. s. w. — denn eine ganze Leiter solcher Gesetzentwürfe wird
außer dem Budget den nächsten Landtag beschäftigen — mit aller Muße und
Gründlichkeit durchzusiudiren. Hierbei ist der Handelsvertrag und die deutsche
Frage, für welche aus der Mitte der Kammer mehre Anträge eingebracht sind,
noch gar nicht gerechnet. Bedenkt man die Dringlichkeit wenigstens eines
Theils dieser Vorlagen, so ist allerdings das Zögern in den Entschließungen
der Regierung, das andrerseits wieder der Gemächlichkeit der Commissions¬
arbeiten zu Statten kommt, schwer zu begreifen. Man glaubt deutlich die
Abwesenheit des Königs zu spüren. So lange dieser in Nizza weilt, fehlt
der rechte Impuls. Es ist eine gewisse Stockung in den Geschäften eingetreten,
man treibt mechanisch fort in dem gewohnten Geleise, und es wird hierin wohl
ein Beweis erblickt werden müssen, wie fest der alte Herr noch in seinen jetzigen
Tagen die Zügel in den Händen hält. Bekanntlich wacht er mit fast eifer¬
süchtiger Sorge für die Aufrechthaltung seiner königlichen Autorität, und das
Maß der während seiner Abwesenheit dem Kronprinzen zugemessenen Befugnisse
'se wie immer so auch diesmal sehr bescheiden, so bescheiden, daß es darüber
fast zu ärgerlichen Vorgängen gekommen wäre.
Die Gesundheit des greisen Monarchen hat, obwohl im Allgemeinen die
Folgen des Alters sich fühlbar machen, doch gerade in letzter Zeit sich wieder
erheblich gebessert. Die geistige Regsamkeit des Fürsten ist auch an den Ufern
des Mittelmeers lebhaft den vaterländischen Angelegenheiten zugewandt; beson¬
ders scheint er sich für Bauten, städtische Anlagen u. tgi. zu interessiren. fort¬
während beschäftigen ihn neue Entwürfe, und da sein Interesse für die Kunst
rin Grund erst in seinen späteren Jahren erwacht ist, wünscht er nun mit jugend¬
licher Ungeduld noch möglichst Vieles in dieser Beziehung vollendet zu sehen.
Herrscht in den oberen Regionen augenblicklich tiefe Ruhe, so ist auch im
Volke anscheinend dasselbe der Fall. Die agitatorische Stimmung, welche zu
Ende des vorigen und zu Anfang des gegenwärtigen Jahres aus Anlaß der
eßlinger und der Stuttgarter Versammlung bemerklich war. ist längst wieder vcr-
braust. Ohne viel Aufsehen hat das Comite der Fortschrittspartei, das auf
der eßlinger Versammlung niedergesetzt worden war, seine definitive Organi¬
sation vorgenommen und endlich am 28. Febr. einen Aufruf an die Partei¬
genossen des Landes erlassen, den es eigentlich sofort nach der Versammlung
dem Lande schuldig war. Diese Verzögerung weist nicht gerade auf ein großes
Interesse hin, das die dortige Entscheidung den eigenen Urhebern eingeflößt
hätte; auch ist zwar selbstverständlich der Beschluß vom 16. Den. als maßgebend
für die politische Haltung der Fortschrittspartei hingestellt und die Aufforderung
zum Eintritt in den Nationalverein wiederholt, aber dabei ist die Ansprache
zugleich sehr versöhnlich gehalten, der Bruch mit sanften Händen berührt, und
als Hauptzweck erscheint die Bildung eines Fonds für politische Zwecke, was
bei der Versammlung selbst sehr in den Hintergrund getreten war.
Allein aufrichtig gesagt, man kann hierin weder etwas Auffallendes noch
etwas Tadelnswerthcs finden. Nachdem einmal die Entscheidung principiell in
erfreulichem Sinn erfolgt ist, warum sollte die Fortschrittspartei, die noch ge¬
nug gemeinschaftliche Arbeit vor sich sieht, wegen solcher Verschiedenheiten, die
augenblicklich nicht praktisch sind, unter einander hadern und ihre Kräfte zer¬
splittern? Warum — nachdem einmal, wie es nothwendig war, die Gegensätze
klar herausgestellt sind — fort und fort sich über eine Frage erhitzen, die
gegenwärtig von keiner Seite Aussicht hat auf die Tagesordnung gesetzt zu
werden. Die Hauptsache ist nur, daß, wenn einmal die Frage in ein prak-
tisches Stadium tritt oder wenn sonst wieder die schwäbische Fortschrittspartei
zu einem Votum veranlaßt ist, unverrückbar der Standpunkt der eßlinger Ver¬
sammlung festgehalten und nicht etwa aus Rücksichten auf die einheimischen
Parteiverhältnisse der Zusammenhang mit der deutschen Fortschrittspartei ge¬
fährdet wird. Die Namen der Vorsitzenden jenes Comite, A. Seeger und
Hölder, bürgen dafür, daß dieser Gesichtspunkt nicht aus den Augen ver¬
loren wird.
Ebenso ist auch die Handelsvcrtragsagitation nunmehr völlig bei Seite ge¬
legt worden, und die beiden Parteien, die „Verträglichen" und die „Unverträg¬
lichen", könnten über die Erfolge, welche ihnen die zahlreichen Lvcalversaunn-
lungen gebracht, streiten, wenn es nicht an und für sich ein Erfolg der „Ver¬
träglichen" wäre, daß die ganze Frage aus dem Stadium blinden Glaubens
und blinden Geschreis in das der Gründe und der Discussion hinübergerettet
worden ist. Durch die Tagespresse und die „Kleinen Beiträge", welche im Auf¬
trag des Comites der Stuttgarter Versammlung vom 3. Jan. periodisch erscheinen,
wird übrigens fort und fort für die Sache des Handelsvertrags gewirkt. Das
zweite Heft dieser Beiträge, das kürzlich ausgegeben wurde, ist speciell den
Wirkungen des Vertrags auf die würtenbergische Industrie gewidmet und gibt,
gestützt auf den bekannten Bericht der (Zentralstelle für Handel und Gewerbe,
eine eingehende Uebersicht über die fraglichen Bestimmungen, welche die Vor¬
theile des Vertrags schlagend ins Licht setzt.
Die Gegenpartei hat bis jetzt dieses Beispiel, durch eine populäre Literatur
zu wirken, noch nicht nachgeahmt. Auch ihr schlagfertiger Vorkämpfer Moritz
Mohl unterbricht die gründlichen Studien, die ihm als Referenten über den
Vertrag in der Kammer obliegen, nur noch selten durch kleine polemische Aus¬
fälle. Er concentrirt, wie es scheint, das ganze Arsenal seiner voll'swirth-
schastlichen Gelehrsamkeit auf jene Hauptarbeit, in der er nun seit neun Mona¬
ten vergraben ist. Da Mohl überhaupt, auch bei geringeren Anlässen, sich
einer ungemeinen Gründlichkeit befleißigt, so ist es kein Wunder, daß bereits
die Volkssage sich des Referats bemächtigt hat, das aus so langwierigen Stu¬
dien zu erwarten steht, und ihm im Voraus wahrhaft lexikalischen Umfang
andichtet — zum Schreck für die Abgeordneten, für welche die moralische Pflicht
^wächst, das enorme Elaborat der modischen Feder seiner Zeit wenigstens ge-
linde durchzublättern.
Inzwischen hat die Kammer Aussicht, durch eine Kraft bereichert zu werden,
welche ihr in mehr als einer Beziehung wohl ansteht. Staatsrath Goppelt,
der Chef des Finanzdepartements im Märzministerium, hat sich auf das An¬
drängen seiner Freunde entschlossen, wieder eine Wahl in die Kammer anzu¬
nehmen, aus welcher er sich schon längere Zeit zurückgezogen hatte. Die alt-
iberale Fraction erhält durch ihn eine neue kräftige Stützes welche um so werth¬
voller für sie ist. als bei dem Altern ihrer Koryphäen ihr völliger Mangel an
jüngeren Kräften sich doppelt fühlbar macht. In Anbetracht der Handelsver¬
tragsfrage aber gewinnt diese Wahl noch besondere Bedeutung. Goppelt trat
zum ersten Mal wieder öffentlich auf in der Stuttgarter Versammlung vom
3- Jan., und nahm auch die Wahl in das zur Wirksamkeit für den Vertrag
niedergesetzte Comite an. Die Stadt Heilbronn, die erste Handelsstadt des
Landes, gibt also durch seine Wahl zugleich ein Votum für den Handelsvertrag
ab, und Goppelt selbst ließ in der Erklärung, mit welcher er die Candidatur
annahm, durchblicken, daß ihn hierzu hauptsächlich die eventuelle Debatte über
jene Frage bestimmt. Mit ihm tritt den volkswirihschaftlichen Gegnern des
Vertrags in der Kammer eine ebenbürtige Autorität gegenüber, und man darf
hoffen, daß seine Ansicht nicht ohne Einfluß zunächst aus seine näheren Freunde
sein wird. Gerade die Altliberalcn haben bis jetzt, so viel bekannt, noch keine
feste Stellung in dieser Frage eingenommen. Von Duvernov z. B. verlautet
nur, daß er zwar die extremen Ansichten Mohls nicht theilt, aber aus allge-
meiner Abneigung gegen das napoleonische Frankreich auch gegen diesen Ver¬
trag mißtrauisch ist. Bis derselbe zur Debatte kommt, wird wohl noch man¬
cher Zwischenfall denjenigen Abgeordneten, deren abwägende Natur bis jetzt
noch nicht im Stande war, sich ein Urtheil zu bilden, zur Klärung ihrer An¬
sicht verhelfen; bis dahin wird wohl auch noch manche Hitze und Leidenschaft sich
abkühlen, und wir hoffen zuversichtlich, daß die Drohung eines etwas hei߬
blütigen demokratischen Abgeordneten, er schieße sich todt, im Fall der Handels¬
vertrag angenommen werde, ohne blutige Folgen bleiben werde. Vermuthlich
war der Selbstmord auch nur im figürlichen Sinn gemein:!
Zum Schlüsse sei noch eine Bemerkung verstattet, die einen scheinbar un¬
erheblichen Umstand betrifft, der aber doch als Symptom einiger Beachtung
werth ist. Schwaben laborirt gegenwärtig an einer Anzahl von Denkmälern
für große Todte, die es mit Stolz die Seinen nennt, so für Friedrich List in
Reutlingen, für Joh. Kepler in Weil der Stadt, für L. Uhland in Tübingen.
Aus keinem andern Lande flössen und fließen die Beiträge für diese Denkmäler
reichlicher als aus Deutschöstreich. War schon bei Kepler und List die Theil¬
nahme aus Oestreich überraschend, so hat sie für das Uhlanddcnkmal fast gro߬
artig zu nennende Dimensionen angenommen, und zwar ist sie eine wirklich
populäre, welche vom Kaiserhof bis zur Schuljugend herab alle Stände ergriffen
zu haben scheint. Nun besteht allerdings ein gewisser Zusammenhang, der die
Sache wenigstens theilweise erklärt. Der Schutzzvllagitator, das großdeutsche
Parlamentsmitglied, am Ende auch der „kaiserliche Mathematicus" boten jeder
eine in Oestreich sympathisch berührende Seite dar. Allein bei der nationalen
Bedeutung, die zugleich diesen Männern zukommt und die doch der Grund ist'
warum ihr Andenken in Erz festgehalten wird, springt der Unterschied zwischen den
z. B. aus Norddeutschland fließenden Summen und den Beiträgen aus Oest¬
reich doch stark in die Augen. Im Interesse der Sache sind natürlich diese
reichen Spenden höchst erwünscht, und es wäre undankbar, in ihnen etwas Anderes
zu sehen als den erfreulichen Beweis, daß Deutschöstreich wenigstens auf dem
Boden der Cultur seine Zusammengehörigkeit mit Deutschland thatkräftig zu
erweisen bestrebt ist. Allein es liegt aus der Hand, daß sie zugleich geeignet
sind, einen über ihre nächste Bedeutung hinausreichenden Einfluß zu äußern,
der mehr oder weniger bewußt auch der Absicht der Geber zum Theil nicht
fremd sein wird. Freilich ist dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Him¬
mel wachsen, und daß die östreichischen Sympathien nicht über eine gewisse
Grenze, an welcher bekanntlich die Gemüthlichkeit aufhört, hinausgehen-
Seit einiger Zeit erschallen aus der Mitte unserer Handelskammern und Han¬
delsvereine Klagen über das eigenthümliche Verfahren der östreichischen Behörden,
Rollen von östreichischen Sechsern, welche zu Rimessen nach Oestreich verwandt
werden, an der Grenze anzuhalten und zu cvnsisciren, wofür sie sich auf irgen
eine östreichische Verordnung vom Jahre 1853 berufen. Gestützt auf die klaren
Bestimmungen einmal des Zollvcrtrags von 1853, dann des Münzvcrtrags
vom 24. Jan. 1857, endlich des kaiserlichen Patents vom 27. Apr. 1858
verlangen die Petenten, welche sich an das Finanzministerium um dessen Ver¬
mittlung gewandt haben, Abhülfe gegen ein so vertragswidriges Verfahren, und
die Eingabe der reutlinger Handelskammer fügte in ihrer Eingabe die bezeich¬
nenden Worte hinzu: „Würde sich Oestreich weigern, die diesfalls bestehenden
Hindernisse zu beseitigen, so müssen wir gestehen, daß wir unsrerseits dann
nicht einzusehen vermochten, warum wir uns länger für Modification des Pa¬
Wenn wir uns jetzt mit dem Verfasser des Aufsatzes im „Cornhill
Magazine" nach Richmond wenden und hier einen höhern Patriotismus
und größere Ehrlichkeit als in Washington zu finden hoffen, so werden unsere
Erwartungen sich kaum verwirklichen.
Wie eifrig und aufopfernd auch einzelne von den Führern hier für ihre
Sache gewirkt haben mögen, die Mittel und Wege, durch welche die Secession
gefordert wurde, waren nicht der Art. daß eine unparteiische Geschichtschrei¬
bung sie — von dem Recht oder Unrecht der Sonderbundsstaatcn ganz ab¬
gesehen - durchweg billigen könnte. Die Wurzel des Abfalls war Kabale,
im Finstern schleichender Verrath. Beamte und Offiziere wurden meineidig,
als sie sich der Sache des Südens anschlössen. Ein Minister der Union wirkte
für die werdende Consöderation durch Handlungen, die das Brandmal des
Diebstahls an sich trugen. Der Kampf ist ein Streit um Interessen, gegrün¬
det auf rivalisirenden Ehrgeiz. Jede Partei ist durch und durch erglüht, jede
fest überzeugt, das Recht auf ihrer Seite zu haben, jede hat große Opfer ge¬
bracht, und jede ruft für sich die höchsten Mächte, Gott, Freiheit und Huma¬
nität an. Aber weder in dem Feldgeschrei „Union" aus der einen Seite, noch
in dem Wahlspruch „die Staatensouveränetät" auf der andern ist viel, was
bei andern Nationen Theilnahme und wohlwollende Wünsche erweckt.
Präsident Lincoln und Präsident Davis sind beide wohldcnkende und so¬
gar liebenswürdige Männer. Beide sind, unsres Wissens, Glieder rechtgläu¬
biger Kirchen, und von allen Kanzeln diesseits und jenseits der Vorpostenkette»
beider Parteien steigen jeden Sonntag Gebete für den Sieg der einen und
den Untergang der andern Partei gen Himmel. Aber Richmond hat seine
Spielhöllen, seine betrügerischen Lieferanten, seine Stellenjäger so gut wie
Washington. Seine Zeitungen sind voll von Klagen und schweren Beschul¬
digungen gegen hohe Offiziere, das Cabinet und den Congreß. „Der Fluch
dieses Kriegs ist Habgier," sagt eines dieser Blätter vom Mai 1862, „sein Be¬
ginn war das Signal zu Ränken und Kniffen von Monopolisten und Blut¬
saugern, und dieselben haben in seinem Verlauf ungeheuren Gewinn eingestrichen.
Keine Classe der bürgerlichen Gesellschaft hat sich ihren herzlosen und schranken¬
losen Erpressungen entziehen können. Ihre eigne Regierung gilt ihnen als
Hauptopfer für ihre gaunerischen Operationen." Der Fluch der Korruption
der Behörden lastet gleich schwer auf dem Norden wie auf dem Süden, und
wenn die Dieberei im letztem geringer scheint, so ist der Grund davon nur
darin zu suchen, daß es hier weniger zu stehlen gibt.
Richmond liegt sehr schön an einer Biegung des James River, welcher
ein wenig oberhalb der Stadt über ein Bett zackiger Granitfelsen und zwischen
niedlichen Eilanden hinrauscht. Ein kleiner Bach, welcher sich in den James
River ergießt, theilt die Stadt in zwei Hälften. Ein Theil der Häuser zieht sich
unten am Flusse hin und enthält die Speicher und Fabriken der Stadt, ein
anderer, welcher die bessern Wohnungen sowie die öffentlichen Gebäude umfaßt,
bedeckt die Hügel über dem Flußthal. Zwei Fünftel der Bevölkerung, die
früher etwa 40,000 Menschen betrug, jetzt aber auf wenigstens 60,000 gestiegen
ist, sind Neger, und eine große Anzahl der letzteren sind frei. Dieselben sind
meist Faulenzer und liederliches Volk, und ihre Wohnungen in den Vorstädten
siechen sehr unvorteilhaft von denen der herrschenden Race ab. Der Congreß
versammelt sich im Staatscapitol, einem Gebäude, welches griechisch sein will.
Das Kriegsministerium und die meisten andern Kanzleien befinden sich aus der
Broadstrcet und der Franklinstreet. Die Arbeiter in denselben sind großentheils
Flüchtlinge aus Maryland, und die Polizei besteht fast durchaus aus Mit¬
gliedern der aufgelösten Polizeibrigade Baltimores.
Richmond ist die letzten fünfzig Jahre hindurch eine glänzende und zugleich
eine böse Stadt gewesen. Während dieser Zeit war es der politische Mittel¬
punkt des Südens, der Wohnsitz von dessen berühmtesten Rechtsgelehrten,
Staatsmännern und Rednern, und das Centrum der südlichen Presse. Das
Interesse an politischen Dingen war nirgends so intensiv. Fast bei allen
Wahlen kam es zu lärmenden Ausbrüchen und Mordthaten, und häufig sielen
selbst unter seinen vornehmsten Einwohnern Duelle vor. Unter die Haupt¬
erfordernisse seiner Kongreßmitglieder gehörten ein scharfes Auge und eine feste
Hand. und mehr als einer seiner Zeitungsschreiber hat schon ein halbes Dutzend
Zweikämpfe hinter sich.
Wir schalten hier ein. was Russell über den Ton der südlichen Gesell¬
schaft sagt. Nachdem er von dem unbändigen Trinken und Fluchen, sowie von
dem abgeschmackten Prahlen dieser „südlichen Gentlemen" gesprochen, mit
welchem sie auf alte Stammbäume und ähnlichen aristokratischen Plunder hin¬
weisen, vergleicht er jenen Ton mit dem. der vor etwa sechzig Jahren unter
den alten irischen Tones herrschte, und findet eine auffallende Aehnlichkeit.
Dann fährt er fort: „Ich erfuhr mancherlei schätzbare Thatsachen über die
Regeln des Duellirens. So warnte man mich zum Beispiel, mich nicht zu
sehr auf Pistolen von kleinem Kaliber oder Taschcnrevolver zu verlassen, wenn
es zum Handgemenge käme; denn sehen Sie, so fuhr mein Gönner fort, gesetzt
den Fall auch. Sie treffen Ihren Mann tödtlich, so kann er immer noch auf
Sie losspringen und Ihnen einen Treffer mit dem Bowiemesser zwischen die
Rippen geben, wogegen er. wenn Sie ihm eine gute schwere Kugel in den
Leib jagen oder mit einer Derringerkugcl ein Loch in ihn machen, duselig
wird und auf der Stelle hinplumpt. Wenn ein Gentleman, mit dem Sie
Streit haben, in seine Hosentasche oder unter seine Rockschöße greift, so müssen
Sie ihn ohne Weiteres zu Loden schlagen oder über den Haufen schießen; denn
entweder ist er dann im Begriff, seinen Revolver zu ziehen, oder nach seinem
Bowiemesser zu greifen, oder Sie aus der Hosentasche zu erschießen — eine
Methode, die nicht für recht nobel gilt, aber nicht selten unter uns ist."
Ueber England sprach man mit ebensoviel Unwissenheit als Gering¬
schätzung. Die Engländer seien, so hieß es, Feiglinge; denn sie hätten das
Duell abgeschafft. Sie fürchteten sich vor Frankreich zu Tode und ließen sich
von ihm Alles gefallen. Großbritannien sei eigentlich nichts als eine Art
Apanagengut ihres „King Cotton", und was dergleichen sublimer Wahnwitz
mehr war.
Richmond ist der Mittelpunkt der virginischen Tabaksfabrikation und der
große Markt für den Export der Sklaven, die der Staat für den tieferen Süden
nzeugt. Man ist hier sehr artig gegen Fremde und gastfreier als im Norden,
aber diese Artigkeit und Gastlichkeit schließt durchaus keine Duldung in Betreff
abvlitionistischer Ansichten ein. Die Gesetze schreiben in dieser Beziehung nicht
blos vor, was man nicht thun, sondern auch, was man nicht sagen darf, ohne
sich des Hochverrats schuldig zu machen.
Die Stadt hat jetzt so ziemlich alle die schrecklichen Veränderungen erlebt,
Welche ein Bürgerkrieg im Gefolge hat. Bei geschlossenen Thüren trat die
Convention zusammen, welche den Beschluß der Trennung von der Union
faßte. Dann zog man die alte Flagge ein und hißte die neue auf. Die Gvls-
truppen, welche bei Fort Sumpter den Kampf eröffnet hatten, marschirten in
in die Stadt mit dem Palmetto, dem Pelikan und der Fichte in ihren Fahnen.
Die Miliz, die zur Unterdrückung von John Browns Pulses zusammengetreten
war, rückte von Neuem aus und verstärkte sich durch Rekruten. Eine schweig¬
same, von Zweifeln erfüllte Volksmasse lauschte der förmlichen Amtsantritts¬
rede Jefferson Davis und des Vicepräsidenten Alexander Stephens. Lange
Colonnen von Soldaten zogen durch die Straßen, um sich nach Winchester und
Manassas Gay zu begeben. Die ersten Acte des Dramas der Secession hatten
ein ziemlich frisches und heiteres Wesen. Aber bald wälzte sich der Krieg bis
vor die Mauern Nichmonds, und in den Gassen der „schattigen Stadt" war
das Blut von Tausenden verwundeter Menschen zu sehen.
Der Erste unter den großen Persönlichkeiten Nichmonds ist der Präsident
mit seiner schlanken Gestalt und seinem ernsten Gesicht. Er ist ein wenig
grau geworden, ein wenig von Sorgen gebeugt und abgemagert, aber noch
ganz so den Verpflichtungen seines Postens gewachsen, wie vor sechzehn Jahren,
wo er mit einigen hundert Leuten von Mississippi den Angriff von tausend
mexikanischen Lanzenreitern aushielt. Sein Wesen ist mit dem von Washington
verglichen worden, und wie sichs damit auch verhalten mag, seine Lage wenig¬
stens hat einige Aehnlichkeit mit der jenes größten Amerikaners. Wie dieser
ist er daheim boshaft angegriffen, im Auslande carrikirt worden. Die Zeitungen
von Richmond haben ihn unfähig, lau und heuchlerisch genannt, aber Niemand
von seinen Gegnern war bescheidener, klüger oder aufrichtiger der Sache des
Südens ergeben.
Der Vicepräsident geht langsam zwischen seinem Hause und dem Capitol
hin und her, gebeugt, gefurcht, mit hohlen Augen und Wangen, ein tieftrau-
rigcr Anblick, den man nicht leicht vergißt. Seine Stellung in der Negierung
ist eine negative, und er bleibt viel allein zu Hause, offenbar müde des Kriegs
und der ganzen Welt. Gouverneur Letcher, der Träger der vollziehenden Ge¬
walt in Virginien, ist allen Parteien verhaßt und wird einmal ein gutes
Sujet für einen zukünftigen Aristophanes der südlichen Conföderation abgeben.
Sein Vorgänger, General Henry Wvse, ist einer der merkwürdigsten Männer
der Stadt. Einst ein berüchtigter Raufbold, ist er jetzt berühmt wegen seiner
Stegreifreden. Seine Leistungen im Felde waren ohne Ausnahme nichts werth,
dafür aber trägt er bei jeder Parade seinen Soldaten pomphafte politische
Reden vor. Er hat übrigens doppelte Ursache, den Unionisten zu grollen, da
diese ihm bei Rocmoke einen seiner Söhne erschossen.
Eine besonders interessante Erscheinung ist dann General Winter, der
Provvstmarschall, ein höchst schlauer und wachsamer Beamter. Während
Washington von Mißvergnügten und für den Süden spionirenden Verräthern
Wimmelt, hat Richmond Ohren für das leiseste Geflüster, und es kann kein
Fremder hierher kommen, dessen Schritte nicht sorgsam bewacht und dessen
Absichten nicht sofort begriffen werden- In die Kanzlei General Winters muß
jeder Schenk- und Gastwirth alle Tage Conduitenlisten seiner Gäste bringen.
Die Verleiher von Reitpferden haben in gleicher Weise Rechenschaft von den
Namen und Zielen derer abzulegen, welche mit ihren Pferden oder Geschirren
die Grenzen des Stadtgebiets überschreiten. Vierzig geheime Polizisten kommen
und gehen Tag und Nacht wie Schatten zu ihrem Chef. Die Stadt ist mit
einer doppelten Linie von Polizeischildwachen umstellt, und wehe dem, der
nach dem Zapfenstreich sich noch auswärts blicken läßt. Missethäter werden
einzeln vor den Profoß gebracht, der sie mit einem ernsten, gebieterischen,
durch nichts zu störenden Rhadamanthusgesicht empfängt. Er hat kleine, sich
tief in den Angeschuldigten hineinfragende Augen, eine Habichtsnase und starr
emporstehendes weißes Haar, welches an das unnahbare Stachelschwein denken
läßt. Kriegsgefangene pflegt er barsch anzufahren, indem sich mit seiner Ge°
rechtigkeitslicbe vielleicht ein wenig Nachsucht mischt; denn ein Bruder von ihm
wurde von den Föderalisten lange Zeit in Fort Warren gefangen gehalten.
Die Gefängnisse in Richmond stehen unter Aufsicht des Provostmarschalls
und seiner Beigeordneten. Letztverflossenen August gab es deren neun, sieben
fürs Militär, zwei für Personen des Civilstandes. Gefangne befanden sich
damals über 7000 in Richmond. während Civilpersonen nur 200 in Haft
waren.
Castle Godwie ist die Vastille von Richmond. Es ist ein ehemaliger
Negermarkt und liegt in der Tiefe des Flußthales unter der Broadstrcet, von
welcher eine Treppe dahin führt. Eingeborne und Fremde, von letzteren
namentlich Deutsche, haben hier lange in Hast gesessen, und einige wurden
von hier, auf ihren Särgen sitzend, nach den hübschen Anlagen nördlich von
der Stadt gebracht, wo immer hin Galgen bereit steht. Der Strick wird ihnen
um den Hals gelegt, der Karren fortgetrieben, und der arme Sünder hängt
zwischen Himmel und Erde.
Die Militärgefängnisse, von denen die Libby das bekannteste ist. sind
'"eist verlassene Tabaksspeichcr, von Ziegeln erbaut und größtentheils geräumig,
luftig und abgesperrt von andern Häusern. Die blutige sechstägige Schlacht,
welche Richmond und den Süden rettete, füllte sie mit verwundeten, verstüm¬
melten und halbwahnsinnigcn Gefangnen, für welche wenig Vorbereitung zu
passender Verpflegung möglich gewesen war. Die Wunden der Leidenden
blieben die ganze Nacht unverbunden, und einige Leute, die nur leicht ver¬
wundet waren, lagen so lange vernachlässigt da. bis sie sich verblutet hatten.
Fieberkranke warfen sich mit brennenden Lippen und wehmüthigen Phantasien
von der Heimath stundenlang herum, und einige, welche starben, blieben tage¬
lang unbeerdigt, in schrecklicher Genossenschaft mit den Lebenden. Alle litten
Hunger. Es stellten sich ansteckende Krankheiten ein. Unter den rohen und
verzweifelten Menschen kam es zu Lastern und Verbrechen aller Art. Einige ver¬
trieben sich die Zeit mit Karten und Würfeln, andere bestasten die Kameraden,
die Hülflos dalagen, um Dinge, die sie selbst nicht wahren konnten. Als die
feindlichen Regierungen sich über eine Auswechselung der Gefangnen verstän¬
digt hatten, ließ man die Uebriggebliebnen in Abtheilungen nach dem Flusse
Hinabmarschiren und schiffte sie dort ein. Zerlumpt, halb erfroren, von Un¬
geziefer gepeinigt, lagerten sie sich auf das Ufer und schauten sehnsüchtig nach
dem erwarteten Transportschiffe aus. Und wenn der schwarze Rumpf des Er¬
sehnten in Sicht kam, erkennbar an der weißen Flagge an der Gaffel, da
warf der Krüppel seine Krücke weg, und die Kranken wurden auf ein Weilchen
gesund.
Der Zustand der zurückgekehrten Kriegsgefangenen erregte im Norden große
Entrüstung und man gab den richmonder Behörden absichtliche Grausamkeit
schuld. Unser Berichterstatter im „Cornhill Magazine" dagegen meint, diese
Behörden hätten nur nicht gethan, was sie nicht zu thun im Stande gewesen.
Ihre eignen Verwundeten füllten die Stadt und nahmen alle Aufmerksamkeit
in Anspruch, und Tausende ihrer Todten bedeckten die Schlachtfelder bei der
Stadt. Die Zahl der Aerzte war nicht groß, und man hatte fast gar keine
Arzneien. Die Gefangnen waren gewöhnlich zügellos in ihren Kundgebungen
und verhöhnten in und außer dem Gefängniß den Präsidenten Jefferson Davis
und seine Flagge. Dafür mag ihnen gelegentlich ein Hieb oder Schuß geworden
sein, aber der am besten bezeugte von diesen Fällen ist der, wo ein föderali¬
stischer Soldat, der zu den Conföderirten übergegangen und deshalb von
einem der Kriegsgefangnen ein Schurke gescholten worden war, letzteren
niederschoß.
Die Stadt ist schlecht befestigt und läßt sich in dieser Hinsicht mit Washington
nicht vergleichen. Kleine Erdschanzen krönen den Spring-, den Richmond-, den
Fuss-, den Church- und den Libbyhügel, und eine Linie von Brustwehren,
Gräben und Sümpfen umgibt die Vorstädte im Norden und Osten. Aber die
einzigen beträchtlichen Festungswerke sind so nahe bei der Stadt erbaut, daß
die weittragenden Geschütze der Föderalisten die Einwohnerschaft leicht aus
ihren Häusern hinausbvinbardiren könnten. Nach den Schlachten bei Williams-
burg und Westpoint herrschte panischer Schrecken in der Stadt. Die gesetz¬
gebenden Körperschaften vertagten sich in aller Eile, und die Bürger Nichmonds
schafften ihre Sklaven und ihre Möbel weg. Dämonie, eine Eisenbahnstation an
der Grenze von Nordcarolina, wurde zum Sitz der- Regierung erwählt, und
einige bei der Sache nicht interessirte Patrioten verkündeten schon mit prahlenden
Worten, daß man die Stadt niederbrennen müsse. Aber Fort Darling schlug
die föderalistische Flotte zurück, und Mac Clellcm übergab sein Kommando dem
Sumpf und der Seuche.
Allgemein bekannt ist, daß Nahrung und Kleidung jetzt im Süden hoch
im Preise stehen. Aber in Richmond kann man die ungeheure Theuerung aller
Artikel ebensosehr auf die Speculationen von betrügerischen Kaufleuten, als
auf den Mangel an Vorräthen zurückführen. Die Entwerthung des Papier¬
geldes hat ebenfalls ihre üble Wirkung gehabt, aber die Regierung der Con-
föderation nöthigt das Volk, ihre Noten zu Pari anzunehmen. Die Angabe,
daß föderalistische Noten oder, wie der Volksmund sie nennt „Grecnbacks" zu
Richmond mit Agio angenommen werden, ist häusig für falsch erklärt worden.
Die Sache hat aber ihre Nichtigkeit; denn nach dem Übereinkommen müssen
dieselben' unter allen Umständen eingelöst werden, während die Noten der
neuen Konföderation nur in dem Fall eingelöst werden, daß die Revolution siegt.
Unter solchen Umständen darf man sich nicht wundern, wenn im Anfange
des vorigen Jahres schon ein paar Stiefel hier nach preußischem Gelde zwanzig
bis fünfundzwanzig Thaler kosteten, das Pfund Kaffee mit circa zwei, das
Pfund schwarzer Thee mit zehn Thalern, das Yard gröbsten Baumwollenstoffs
mit zwanzig Silbergroschen bezahlt wurde, wenn Wein kaum noch zu erschwingen
war, spirituösen zwölfmal so theuer als sonst waren, und selbst Rindfleisch
und Eier außerordentlich hohe Preise erreichten.
Häufig geschieht es, daß Kaufleute, welche übertriebne Preise fordern, von
General Winters Polizei ins Gefängniß abgeführt werden. Aber die Har-
Phcn fahren fort, sich von der allgemeinen Noth zu mästen und gehen sehr
oft den Agenten der Negierung voraus auf das Land, um sie bei den Farmern,
bei Getreide- und Viehkäufern zu überbieten. Die Stadt wimmelt von armen,
ihres ganzen Eigenthums beraubten Leuten, von denen viele freiwillige Ver¬
bannte aus Maryland und Nordvirginien sind. Die Bewohner von Hampton,
welche ihre schöne Stadt lieber verbrennen, als sie zum Garnisonsort der
nördlichen Armeen werden ließen, liegen sowohl der Negierung als den Bür¬
gern Nichmonds zur Last, Es gibt ein Gesetz, welches die Beschäftigung
Fremder, die der Conföderation nicht den Eid der Treue geleistet haben, ver¬
bietet, und Fremde ohne Mittel haben keine andere Wahl, als sich für die
Armee anwerben zu lassen.
Niemals waren in Richmond selbst mehr als fünf Regimenter Soldaten
zu gleicher Zeit in Garnison. Aber jeder Staat hat ein Rendezvous, wohin
alle Briefschaften und sonstige Sendungen abgehen und wo Nachzügler und
Versprengte sich zusammenfinden. Trotz aller Vorsichtsmaßregeln kommen nicht
selten Diebstähle, Beraubungen und Schlägereien vor, und die Zahl der Pro-
stituirten hat eine Höhe erreicht, die schmerzliche Gedanken anregt.
Ueberall sieht man die Folgen des Kriegs in den mannigfaltigsten Erschei¬
nungen vertreten. In den Hotels lungern mit breiten Bandelieren und riesigen
Sporen Herren von der Familie Bramarbas herum. Viele Läden sind ge¬
schlossen, ebenso die meisten Fabriken. Die Schulen haben fortwährende Ferien.
Auf den schattigen Promenaden stecken alte Leute die Köpfe zusammen, um
sich über die gute alte und die böse neue Zeit zu unterhalten und die Achseln
zu zucken. Die Negerweiber kreischen entzückt über vorübermarschircnde Musik
und versuchen zugleich bei Gelegenheit, trotz der Schildwachen nach dem Norden,
der terrg. ilreogriita, ihrer Träume, zu entwischen, was gar oft gelingt. Dann
wieder bemerkt man die ernstere Seite des Kriegs. Tausende von Arbeitern
bauen seltsam construirte schwimmende Batterien für den Fluß oder gießen in
den Trcdegarworks große Kanonen und Mörser. Buntscheckige Züge -von
Transportfuhrwerken, Pulver- und Proviantwagen poltern über die Brücken und
bewegen sich in unabsehbaren Linien auf den Landstraßen hin. Haufen von
Schwarzen werden, von Wachen mit geladenem Gewehr begleitet, nach der
und jener Stelle geführt, um Verschanzungen aufzuwerfen oder andere Arbeiten
für die Negierung zu fördern. Regimenter auf Regimenter, alle in „nomespull
ÄNÄ buttsrnut,"*) gekleidet, schleppen sich in Staubwolken gehüllt, müde und
oft ohne Schuh werk durch die Stadt nach entfernten Feldlagern.
Der Krieg sieht uns ferner aus den Fenstern von Kirchen an, die in La-
zarethe verwandelt sind. Er zeigt uns seine Noth in den zahlreichen Krüppeln,
welche an den Straßen betteln, in den vielen Trauerflören, die uns begegnen,
in den von Fieber glühenden Augen der auf Wagen herbeigeschafften Soldaten.
Er ruft uns in dem Geschrei der Zeitungsjungen Kunde von neuem Blutver¬
gießen, neuem Brudermord zu.
Richmond ist durch den Krieg nicht weniger verwandelt worden wie
Washington. Aber es unterscheidet sich von diesem zu seinem Vortheil wenig¬
stens in einer wichtigen Beziehung. Es steht unter festerer, energischerer Hand,
und seine dürftigen Hülfsquellen werden besser benutzt. Washington ist von
Spitzbuben, Kundschaftern und Demagogen von Profession überlaufen. Rich¬
mond wird streng unter dem Kriegsgesetz regiert, und alle Verhältnisse durch¬
dringt ein oberster Wille, der nicht mit sich scherzen läßt.
Wenn endlich, wozu jetzt entschiedene Aussicht vorhanden ist, friedliche
Gedanken die Oberhand in der Union gewinnen, und der Potomac die Grenz¬
linie zwischen den uneins gewordenen ehemaligen Vereinigten Staaten bildet,
so wird Richmond vielleicht die erste Binnenstadt des Südens werden. Aber
Washington wird schwerlich als Sitz des föderalistischen Gouvernements bei¬
behalten werden. Keine von beiden Städten kann durch Handel wachsen, aber
beide werden berühmt sein, als Operationsbasen für die größten Heere, welche
sich jemals im Bürgerkriege maßen.
Dieser Krieg wird, wie angedeutet, in kurzer Zeit und sehr wahrscheinlich
noch vor Ablauf dieses Jahres ein Ende nehmen. Schon äußerten sich Politiker,
die Seward und dem Präsidenten nahe stehen, wie der große „Drahtzieher" Thur-
lvw Weed und der bekannte Horace Greeley in diesem Sinn. Das Ende aber
wird sein, was wir vor einem Jahre schon voraussagten: die Trennung
des Südens von dem Norden.
Man ist, — so lesen wir in einem sehr verständigen Artikel des „Econo-
mist" — augenscheinlich schon jetzt im Norden in Verlegenheit über den Weg,
auf welchem man die Armee wieder vervollständigen soll, wenn nächsten Juni die
Dienstzeit für, mehr als zweimalhunderttausend Mann derselben abläuft. Das
Congreßmitglied, welches die bekannte Bill wegen Einstellung von 180,000
Negern in das Heer anregte, gab zu, dazu theilweise durch die Ueberzeugung
bewogen worden zu sein, daß nicht ein Drittel dieser Zahl von Weißen durch
Rekrutirung erlangt werden könne, und daß der nächste Feldzug, wenn über¬
haupt, mit Hülfe von Schwarzen zu siegreichem Ende geführt werden müsse.
Was für Truppen die Conscnption geliefert hat, wissen wir nicht genau;
doch läßt die Thatsache, daß in einem der letzten Treffen ein pennsylva-
nisches Regiment sich auf den Boden legte und sich zu kämpfen weigerte,
nicht viel Gutes ahnen Die Bildung von Negerregimcntern könnte über¬
dies leicht eher schaden als nützen; denn eine große Zahl der föderalistischen
Offiziere sympathisiren in diesem Punkt weit mehr mit Südcarolina als mit
Massachusetts und könnten daher die Aufforderung, mit schwarzen Soldaten zu
operiren, mit einem Entlassungsgcsuch zu beantworten geneigt sein. Die Ver¬
tretungen der Grenzstaaten serner bedrohen jeden, der sich innerhalb ihrer Gren¬
zen über der Anwerbung von solchen Truppen betreffen läßt, mit dem Tode.
Jefferson Davis endlich erklärt, daß er jeden weißen Offizier schwarzer Sol¬
daten hängen will, und Abraham Lincoln andrerseits bekennt, daß er schwarze
Offiziere nicht anstellen und daß er Neger nur bis zum Corporal aufrücken
lassen kann. Mit einem Wort, die Bildung dieser Regimenter mag insofern
ihr Gutes haben, als sie jene emancipirten Sklaven und jene freien Farbigen,
welche die Negierung jetzt so sehr in Verlegenheit setzen, bei Seite schafft, als
eine furchtbare militärische Maßregel aber kann sie bis auf Weiteres nicht be¬
trachtet werden.
Und wie es mit der Aufbringung der zur Fortführung des Krieges un¬
bedingt nöthigen Mannschaften aussieht, so auch mit der Beschaffung Vernicht
Minder nöthigen Gelder. Die Geschäftswelt beginnt Angst zu empfinden Vor
dem allwöchentlich steigenden Goldagio und vor der Aussicht, in einer Sünd-
fluth uneinlösbaren und unconvertirbaren Papiergeldes unterzugehen. Alle fest
Angestellten, nicht blos die Beamten, leiden Noth, indem ihre Gehalte, in
diesem Papiergeld ausgezahlt, sich gegen früher wie 6 zu 10 verhalten. Der
Finanzminister soll sich weiterer Ausgabe von derartigen Noten abgeneigt er¬
klärt haben, der Präsident hat sich so erklärt. Das Haus der Repräsentanten
allerdings hat durch sein Oommitte« ot 'Wg.zsg xmä Noans den Willen kund¬
gegeben, jede beliebige Zahl Millionen von „(Zreeirbs-eins" zu Votiren. Aber
von dem umsichtigeren und maßvolleren Senat ist solcher Leichtsinn kaum zu
erwarten. Inzwischen ist man mit dem Sold der Truppen im Rückstand, und
von der großen Tax-Bill, welche der Beginn besserer Tage und die Begrün¬
dung eines gesünderen Systems sein sollte, hören wir absolut nichts mehr.
Nun wird kein Verständiger vor der Lection, welche beide Theile der Kämpfen¬
den uns gegeben haben, d. h. vor den wunderbaren Möglichkeiten eines
Papiergeldes unter gewissen Umständen und für eine gewisse Frist, die
Augen verschließen wollen. Aber ebensowenig wird der kühle Beobachter ver¬
gessen, daß der Erfolg und die Duldung jedes solchen Systems ganz und gar
von der Fortdauer des Vertrauens auf den endlichen Sieg und die endliche
Einlösung seiner Papiere mit Baargeld abhängt."
Noch eins. Mit jeder neuen Nachricht aus Washington werden wir mehr
inne, daß die Pläne und Hoffnungen der Führer des Nordens deutlicher, schär¬
fer umgrenzt und greifbarer werden. Obwohl sie's noch nicht offen sagen, be¬
merkt man, daß sie für eine gute Grenze und nicht für eine Wiedervereinigung
kämpfen. Sie haben begonnen, sich zu gestehen, daß die Unterwerfung des
Südens wo nicht unmöglich, doch ohne Gewinn sein würde. Aber sie glauben
offenbar, daß sie im Stande sein werden, die Herrschaft über den Mississippi
zu gewinnen und so die neue Republik in enge Grenzen zu bannen. Sie Hof'
fen derselben Texas, Arkansas, Missouri und die Gebiete des fernen Westens
zu entreißen und sie auf ein Gebiet zu beschränken, welches etwa zwischen dem
Mississippi, dem Kamm der Alleghanies (in Tennessee, Georgia, Nordcarolina
und Virginien), dem Potomac und dem Meer gelegen wäre. Sie fechten mit
Einem Wort wohl nicht mehr für die Union, sondern für das Recht und die
Macht, die Bedingungen der Separation zu bestimmen.
Nun ist das gewiß ein weit verständigeres Ziel, als das frühere, aber
kein so begeisterndes und aufregendes. Die Union war eine Idee, die Grenze
ist ein Interesse. Ein großer Gedanke erweckt den heißesten nationalen
Eifer. Vortheilhafte Bedingungen können nie mehr als eine Verhältniß'
mäßig laue Theilnahme für sich beanspruchen. Die Erhaltung jener ungetheilten
und riesenhaften Republik für eine Zukunft voll nie dagewesener Größe und
Herrlichkeit, einer Republik, deren Gedeihen sie in wenigen Jahrzehnten in den
Stand gesetzt hätte, der Welt ihren Willen zu dictiren, die Sicherung einer
Macht, welche keinen Nebenbuhler, keinen mächtigen Nachbar und in Ermange¬
lung'dieser die Fähigkeit gehabt hätte, sich über den ganzen Continent aus¬
zudehnen, die Erhaltung eines Staatswesens, welches keine Armee, keine Ma¬
rine, keine Steuern von Bedeutung gekannt und doch das Privilegium besessen
hätte, allen Nationen Trotz zu bieten, war ein Ziel sehr wohl geeignet, alle
Gemüther zu entflammen und sie freudig Wohlstand, Leben und selbst die
Freiheit für lange Zeit opfern zu lassen. Für die Union kämpfen, hieß für
das Recht kämpfen, künftig die Welt mit zu beherrschen. Nachdem dieser Traum
aber vorüber ist. werden Hunderttausende, welche dafür gestorben wären, nur
wenig Lust haben zu sterben oder auch nur zu zahlen, um eine Entscheidung
der Frage herbeizuführen, ob die Linie der Trennung ein paar hundert Mei¬
len englischen Maßes weiter südlich oder westlich gezogen werden soll.
Politiker freilich werden die große Wichtigkeit der Frage sehen, aber das
Volk im Großen und Ganzen wird dafür nicht außer sich gerathen, nicht sich
zu edlerer Stimmung erheben, nicht sich opfern. So wird, sobald der wahre
Stand der Dinge allgemein begriffen sein wird, die Zahl der eifrigen und
thatkräftigen Fürsprecher für den Krieg sich auf zwei Classen: die Wahn¬
sinnigen und die Schurken, beschränken, auf die. welche noch immer an Wieder¬
herstellung der Union glauben, weil sie nichts lernten und nichts vergaßen, und
auf die. welche den Krieg lieben, weil er ihnen vorteilhafte Contracte und
Gelegenheit zum Betrug bringt, auf die, welche von dem Kampfe Verwirklichung
ihrer Träume, und auf die, welche von ihm Füllung ihrer Tasche erwarten.
Natürlich ist es möglich, daß irgend ein Nebenerfolg der föderalistischen
Streitkräfte vor Vicksvurg oder Charleston die sinkende Zuversicht des Nordens
wieder aus eine Weile belebt. Solche Ereignisse würden den Männern, die
jetzt am Staatsruder zu Washington stehen, ihr Verbleiben an dieser Stelle
noch für eine kurze Frist verbürgen, und den Streit aus ebensolange fortzusetzen
Schatten. Es ist nicht wahrscheinlich, daß Lincoln und seine Minister leicht
bewogen werden können, eine Politik auszugeben, in die sie sich so tief ein¬
gelassen haben. Allein mit einem Volke, welches wo nicht verzweifelt, doch
lau auf die Dinge blickt, mit einer Volks- und Staatenvertretung, die über
die Grundsätze und Maßregeln, mit denen jene Politik durchzuführen, unter
sich in unversöhnlichem Zwiespalt ist, und mit einer turbulenter, mittelmäßig
geschulten und zusehends dahinschwindenden Armee wird der Krieg kaum ener¬
gisch und erfolgreich fortgesetzt werden können. Ein matter, langsam sich hin¬
schleppender Krieg aber, der keine entscheidenden Siege ausweist und darum
von keiner Aenderung in der relativen Stellung oder Stärke der kämpfenden
Theile begleitet ist, kann, sollte man meinen, schwerlich noch lange sich hin-
. ziehen.
Die Natmöes sind ein Buch, in welchem die Hingebung an das Laster als
Lebensweisheit, die Täuschung der Menschen in der Politik und im Privat¬
leben als das große Regierungsmittel, und schließlich, wo die Täuschung nicht
ausreicht, die Anwendung von Dietrich und Gift gepredigt wird. Daneben
Verachtung der Literatur, Begünstigung der Liederlichkeit in der weiblichen Ju¬
gend, außerdem das Meiste, was man sonst in einer Blumenlese von Lastern
und Gemeinheiten austreiben mag.
Friedrich der Große hat von der Jugendzeit an. in welcher er „mein Volk
ist mein Gott!" ausrief, bis zu jenem Ausspruche seines vereinsamten Alters,
„daß er müde sei über Sklaven zu herrschen", vielfach seine Ansichten über
Menschen und Dinge gewechselt, er hat in seinem Streben nach Erkenntniß
niemals einen Werth aus sogenannte Consequenz gelegt, — zu welchem Zeit¬
punkte aber hätte er jemals in seinen zahlreichen Schriften oder Briefen jene
in den NÄtiu6es enthaltenen Grundsätze ausgesprochen? — Er schrieb gern,
er schrieb viel. Seine Werke gestatten ein Urtheil über die Textur seines Gei¬
stes, die Entwickelung und Umbildung seines Wesens von der Jugend bis in
das höchste Greisenalter, wenige Seelen liegen einer spätern Zeit so offen.
Sir I. Acton, der neue Herausgeber der Nutinoes, hat darauf eine Antwort
bereit: Alles was Friedrich der Große sonst geschrieben habe, sei für die Oeffent-
lichkeit bestimmt gewesen. Hier haben wir aber seine wirklichen und geheimsten
Gedanken. „Er wollte nicht," sagt Herr Acton, „daß sein Nachfolger wie die
übrige Welt in Unwissenheit bleiben sollte. Er glaubte, daß nichts als
treue Befolgung seines Beispiels den Staat, den er ausgerichtet
hatte, erhalten könne."
Also alles Andere in Friedrich ist Heuchelei, hier ist Wahrheit.
Carlyle sagt von Friedrich: „Er ist immer er selbst, wirklich und ganz!
er meint immer, was er sagt, er begründet seine Handlungen auf das, was
er für Wahrheit erkannt hat." Herr Acton sagt uns dagegen: „Sein ganzes
Leben war bis auf die kleinsten Details studirt mit der Absicht die Welt zu
täuschen und zu blenden."
Der König ist schon während seines Lebens in entgegengesetzten Richtungen
beurtheilt worden. Seine Schlachten, seine Verse, seine religiösen und Po"
Mischen Grundsätze erweckten ihm an einigen Stellen Europas den bittersten
Haß, ein anderen eine lodernde Begeisterung. Religiöse und politische Meinungs¬
verschiedenheiten mögen auch noch heute seinem Bilde ein verschiedenes Colorit
geben. Unter dem Eindrucke seines Alters sehen freilich die Meisten wie in seinen
Porträts, so auch in seiner Person nur die Gestalt des „alten Fritz" mit der
vorn über gebeugten Haltung und mit den steinernen Gesichtszügen. Die Mehrzahl
der Lebenden weiß nichts davon, daß dieser Greis in seiner Jugend und noch in
seinem Mannesalter wie ein auf die Erde herabgestiegener Gott zugleich des
Kriegs und der heitern Lebenstunstc erschien, sie ahnt nichts von der leiden¬
schaftlichen Erregtheit und Gluth seiner Empfindungen, welche bald zu aus¬
gelassener Freude emporgehoben, bald zu Thränen herabgestimmt werden, und
ebensowenig läßt jenes Nestorbild des Königs die scharfe und stolze Mannhaftig-
keit dieser seinen und zart gebildeten Natur erkennen.
Dieser König, der sich, anders als Maria Theresia, nicht dazu verstehen
kann, eine freundliche Empfehlung der allmächtigen Pompadour anders als
mit einem: „ich kenne die Person nicht" zu beantworten, und der durch die von
seiner Leidenschaft dictirten Verse, Witzreden und Flugschriften auf dem Felde
der Politik fast mehr verdirbt, als seine Siege auf dem Schlachtfelde gut
machen können, soll der berechnende Heuchler sein, der in einem vierundsiebzig-
jährigen Leben und durch achtundzwanzig Bände die Welt zu belügen sucht,
um in fünf Morgenstunden, dem Oxuseulo irMit des Herrn Acton, seinem
Neffen die Wahrheit zu sagen. Sollte Herr Acton sich nicht vielleicht gefragt
haben, ob Friedrich der Große die Meinung der Welt hoch genug hielt, um
sich die unerhörte Last einer solchen Verstellung aufzulegen?
Denn diese Lüge betrifft nicht etwa blos einige allgemeine Principien der
Praktischen Politik, sondern jede Einzelheit seines Lebens.
Wenn der König öffentlich ißt, so muß ihm nach diesen Natmves sein
deutscher Koch das Essen bereiten, er trinkt Bier und zwei oder drei Gläser
Wein. Ißt er in seinen eigenen Zimmern, so bereitet der französische Koch
das Essen, und er kann, weil er nahe bei seinem Bette ißt, sich dann mit
voller Sicherheit betrinken.
Wenn der König aus seinen Reisen irgendwo ankommt, so gibt er sich
»immer" das Ansehn, als ob er sehr ermüdet sei. Er läßt sich von den
Leuten wegen seines abgetragenen OberrockS bedauern, und lacht sie nachher
aus, weil er darunter einen guten Rock anhat.
Aber wohl, nehmen wir an. daß Friedrich des Großen Leben nur eine
große Lüge war. und überlassen wir die Sorge, sich deshalb mit Psychologie
und Geschichte abzufinden, dem Hrn. Acton.
Eines hat bei Feinden und Freunden, als der König noch lebte und nach
seinem Tode, für ausgemacht gegolten, daß er ein König von großer und un¬
gewöhnlicher Einsicht war. Dies ist der einzige Punkt, in welchem Herr Acton in
der Beurtheilung des Königs mit uns übereinstimmt, von hier aus wird es
daher vielleicht möglich sein', zu einer schließlichen Uebereinstimmung zu kommen.
Die U^tiness mögen immerhin von einem gescheidten Manne geschrieben
sein, wenn derselbe die Absicht hatte, den König herabzuwürdigen. Wenn wir
sie uns aber als vom König geschrieben denken, so erscheinen sie als ein
Werk von unbegreiflicher Einfältigkeit. Denn die allgemeinen Betrachtungen
derselben über Politik sind durchaus banaler Natur, und man wird sie in fran¬
zösischen Schriften jener Zeit häusig wiederfinden. Eine Ausnahme machen
vielleicht nur zwei oder drei Stellen; sie finden sich in dem Abschnitte über
Justiz ganz am Schluß, wo es heißt, daß Alles daraus ankomme, bei seinen
Nachbarn die Ueberzeugung zu erwecken, daß man lieber zwei Königreiche, als
den Nachruhm verlieren wolle. Und selbst diese letzte Stelle ist wieder da¬
durch entstellt, daß sie nicht als wirkliche Meinung deS Verfassers, wie es aller¬
dings die Friedrichs war, sondern als Heuchelei erscheint.
„Politik," sagen die Natiuees, »ist fast gleichbedeutend mit Spitzbüberei,"
und führen das in das Detail hinein durch.
Uns dünkt, das sei mehr die Auffassung der Bedientenstube, als eines
Thrones.
Der König der Matinees geht von der Ansicht aus, eS komme darauf
an, in Müßiggang und Freuden zu genießen, dabei aber den Schein anzunehmen,
als ob ihm das Wohl seines Landes am Herzen liege und er nicht ohne Fähig¬
keiten sei. Er ist daher der Meinung, daß es, um glücklich im Kriege zu sein,
nicht nothwendig sei, ein waffengeübtes Heer zu besitzen, sondern nur den
Truppen einen Anstrich von Ueberlegenheit, ein ,,^ir ac suxerivi ne " zu
geben.
Er hält es daher auch nicht für nöthig, sich um das Detail des Dienstes
und namentlich um die persönlichen Fähigkeiten seiner Militärs selbst zu be¬
kümmern. Aber allerdings glaubt er, daß es sür ihn von wesentlichem Nutzen
sei, sich den Schein zu geben, als habe er Interesse sür die Armee und
als habe er ein gutes Gedächtniß. Deshalb nimmt er sich vor, folgendes
Kunststück zu machen, welches wir uns von dem Friedrich der Ng.tin6es wört¬
lich erzählen lassen müssen:
„Ehe ich ein Regiment die Revue Passiren lasse, brauche ich die Vorsorge,
die Namen aller Offiziere und aller Sergeanten zu lesen, und ich behalte dann
drei oder vier davon mit den Namen der Compagnien, wo sie sich befinden.
Ich lasse mich sehr genau von all den kleinen Mißbräuchen unterrichten, die
von meinen Hauptleuten begangen werden und erlaube jedem Soldaten sich ^
beklagen. Die Stunde der Musterung kommt. Ich breche auf und bald um¬
zingelt mich ein Volkshaufe. Ich gebe nicht zu, daß man denselben abhält;
ich spreche mit dem Nächsten und der mir am besten antwortet.
Wenn ich beim Regiment anlange, lasse ich es Bewegungen ausführen;
ich gehe langsam alle Reihen hinunter und spreche mit allen Hauptleuten.
Wenn ich vor denen stehe, deren Namen ich behalten habe, so nenne ich sie.
ebenso die Lieutnants und Sergeanten'). Das gibt mir einen eigenthümlichen
Anstrich von Gedächtniß und Nachdenken."
Sollte nun freilich ein solcher königlicher Schauspieler bei der Ausführung
dieses Kunststücks zu seiner Überraschung die fatale Entdeckung machen, daß,
wenn man blos den Namen und nicht auch Aeußerlichkeiten einer Person
kennt, man nicht im Stande ist, sie ohne Weiteres in der Truppe zu erkennen
und mit Namen anzureden, so würden wir ihm rathen, sich an Herrn Acton
deshalb zu wenden, der auch noch weiß, daß später Napoleon diesen Kniff
nachgeahmt habe.
Je gleichgiltiger der schlauköpsige Fürst der NgMees gegen alle Religion ist,
desto klarer wird es ihm, daß er den Religionsparteien der Lutheraner Refor-
mirten und Katholiken gegenüber den Plan fassen muß, eine neue positive Re¬
ligion, einen neuen Cultus zu stiften. Er wird sich daher Jemand aussuchen, der
sich bereit finden läßt, eine neue Religion zu predigen, und es demselben überlassen,
sich sein Religionssystem selbst auszudenken. Die Hauptsache ist, daß er das¬
selbe predigt. Unser König stellt sich nun, als wenn er den neuen Messias
verfolgen will, nach und nach thut er aber, als wenn er von der Wahrheit der
neuen Lehre überzeugt sei, wird der eifrigste Bekenner derselben und begünstigt
nun den neuen Messias auf alle Weise. Er entschließt sich daher auch ein
Concil zu berufen, bestehend aus Einem Geistlichen jeder Religionspartci. und
zwei Rittergutsbesitzern und zwei Abgeordneten vom dritten Stande aus jeder
Provinz, und damit das Problem des Verhältnisses von Kirche und Staat zur
Lösung komme, übernimmt er selbst den Vorsitz in diesem Concil.
In der innern Verwaltung muß ein solcher Mann die Bevölkerungs-
pvlitik für das Wesentlichste halten und daher suchen, weniger die Ehen, als die
Liederlichkeit der jungen Mädchen zu befördern. Um diesen landesväterlichen
Zweck zu erreichen, gibt er den unehelichen Kindern in seiner Armee den Vor¬
zug vor den ehelichen.
Sieht sich der Held der Natinves dann den Schwierigkeiten der auswärtigen
Politik gegenüber, so nimmt er an, es sei das Beste, solche Leute zu Ge-
sandten zu ernennen, die bereit seien, einem fremden Könige bei passender
Gelegenheit das Stück Papier, worauf ein politischer Plan steht, aus der
Tasche zu stehlen, und er macht sich klar, daß man, wenn Alles nichts hilft,
politische Aerzte und Schlosser verwenden müssen.
Und dieses Buch soll vom König überdies noch ausschließlich zum Unter¬
richt seines Neffen und Thronfolgers bestimmt gewesen sein!
Friedrich hat es mit der Erziehung desselben ernst genommen. Er ließ den
jungen Prinzen schon in seinem sechzehnten Lebensjahre zu sich ins Lager kom¬
men, und behielt ihn, so lästig die Begleitung des Knaben sein mochte, während
des Feldzugs von 1762 an seiner Seite, er hat ihn nachher durch ernste Män¬
ner in der Staatswirthschaft und andern Wissenschaften unterrichten lassen
Zu Anfang des Jahres 176S, wo die NMn6<ZL spätestens geschrieben
wurden, war der Prinz neunzehn Jahre alt. Jetzt, so stellt sich der neueste
Herausgeber die Sache vor, soll er in die geheimsten politischen Gedanken
des Königs eingeweiht werden, die arcana imperü empfangen.
Was erfährt er? ein Wenig über Politik, außerdem, was den jungen
Mann mehr interessirt haben wird, daß er seine Perücke nicht zu kämmen
braucht, daß sein Oheim sich einem infamirenden Laster hingibt, und Zoten, von
denen eine so widerlich ist, daß der englische Herausgeber, der kein Bedenken
hat, all diesen Schmutz ohne Beweis und gegen alle Vernunft auf Friedrich
den Großen zu werfen, zu prüde ist, sie dem Papier zu übergeben.
Es gibt vielleicht noch einen andern Gesichtspunkt, von dem aus wir mit
den Gegnern Friedrichs über die Autorschaft der NÄtin^es sprechen können.
Wenn Alles, was der König außer den NatinöLS geschrieben hat, er¬
heuchelt ist, so wird er doch den Grundsätzen der NiMnöös gemäß gehan¬
delt haben. Wenn die Uf-tinsös von Friedrich und zugleich seine wahr¬
haftigen Selbstbekenntnisse sind, so werden wir seine Persönlichkeit in ihnen rich¬
tig wiedergegeben finden, wir werden ferner annehmen dürfen, daß der König
die ihm bekannten Thatsachen seines Lebens hier richtig erzählt, und daß er
seinem Neffen gegenüber als König von Preußen, nicht aber, als wenn er
König von Frankreich wäre, sprechen wird.
Wie erscheint denn in diesem Buche Friedrichs Persönlichkeit?
Die NktiuüW wollen den König als einen Mann erscheinen lassen, d"
ohne literarisches Interesse nur die Absicht hat, sich von den Literaten loben zu
lassen und indem er Gott dankt, daß man ihn für einen Schriftsteller hält,
die Literatur als ein Handwerk betrachtet, das ihn von Beschäftigungen, die des
Thrones würdig seien, entfremde. „Ich schreibe daher nur, wenn ich nichts
Besseres zu thun weiß."¬
Die 28 Bände, in denen des Königs schriftstellerischen Arbeiten jetzt vor
liegen, geben darüber Ausschluß. Die geistige Production war ihm ein Lebens'
Bedürfniß, er setzte sie im Feldlager selbst wahrend jenes furchtbaren Krieges
fort, der bei der Schwäche seiner Streitfräste an sein Genie und seine persön¬
liche Thätigkeit die höchsten Anforderungen stellte. Er wollte ihr die Pflichten
des Königs und Feldherrn nicht opfern, aber die Vermuthung liegt nahe, daß
die literarischen Studien und Arbeiten nicht selten seinen Geist von dem unmit¬
telbar Nothwendigen abgezogen haben. Jedenfalls haben andere Feldherrn nach
großen Niederlagen sich nicht hingesetzt und Predigten geschrieben. Am Abend
des Unglücks von Hochkirch findet ihn Caet. sein Vorleser, in Bourdalvues Pre¬
digten lesend und zu einer Unterhaltung ungeneigt, und als Caet am andern
Morgen wieder kommt, gibt der König ihm eine Predigt, die er während der
Nacht über seine traurige Lage geschrieben hat. „Jedenfalls," fügt er hinzu,
„trage ich bei mir, was diesem Jammer ein Ende machen kann."
Gerechtigkeit will der König der Natiiiees nicht geübt wissen, wenn sie
seine Autorität verletzt.
Wer ist denn der König, der sich vom Müller von Sanssouci jene Abwei¬
sung geben läßt und der in einer Marginalresolution seinem Minister erklärt:
„es muß in dergleichen Fällen gerade durch gegangen und derjenige, welcher
Infamien begeht, und wenn er von königlichem Geblüte wäre, bestraft
werden?" Und als der König in einem Proceß zwischen seiner Domäne und
einer Rittergutsbesitzerin befiehlt, den Fahrzeugen der Letzteren die königlichen
Schleusen nicht zu öffnen, duldet der König nicht nur, daß das berliner Kam¬
mergericht seinen Befehl aufhebt, sondern daß es ein gerichtliches Erkenntniß
gegen die widersetzlichen königlichen Beamten militärisch vollstrecken läßt.
Die Justizrefvrm soll der König nach den Natinves ins Werk gesetzt
haben, um die Unabhängigkeit.des Nichterstandes zu brechen. Der Codex
Fridericianus stellte aber gerade erst die Unabhängigkeit der Gerichte gegenüber
dem Könige fest. Es heißt darin: „Sie sollen auch aus keine Rescripte, wenn
sie schon aus Unserem Cabinet herrühren, die geringste Reflexion
machen, wenn darin etwas wider die offenbaren Rechte Sulz- et oweM worden,
oder der strenge Lauf Rechtens dadurch gehindert und unterbrochen wird , son¬
dern sie müssen nach Pflicht und Gewissen weiter Verfahren, jedoch von der
Sache Bewandtniß sofort berichten." Und wurden denn die preußischen Ge¬
richte abhängig? Noch am Ende seines Lebens vermochte der König im arnoldschen
Falle nicht, den Gerichten den von ihm gewünschten Spruch abzugewinnen.
Ebenso kläglich steht es mit demjenigen, was der Verfasser der Uf-tmöW
als Lebensgewohnheiten des Königs bezeichnet, z. B. folgende Stelle:
„Ich gebe aller Welt Audienz, nur nicht Priestern, Geistlichen und Mön¬
chen. Diese Herren sind gewohnt in die Ferne zu sprechen. Ich höre sie daher
aus meinem Fenster an, ein Page empfängt sie. und ich mache meine Verbeu¬
gung an der Thür."
Daß der König auch Geistlichen aller Confessionen Audienz gab, versteht
sich von selbst. Er zog selbst katholische Geistliche in seinen nähern Umgang.
Für die übrigen Abgeschmacktheiten, die hier dem König angedichtet werden,
erwarten wir von Herrn Acton um so mehr einen Commentar, als derselbe über¬
zeugt ist, daß Friedrich glaubte, nur die getreue Befolgung seines Beispiels
könne den preußischen Staat erhalten.
Ebenso ist es mit verschiedenen Ereignissen, welche in den Ug,t,lo6og er-
wähnt werden — Thatsachen, deren Wahrheit oder Unwahrheit Friedrich ganz
genau wissen mußte und die zu entstellen er kein Interesse hatte, die aber der
Literat, der die Ng,till6tzs schrieb, theils nicht kannte, theils, um Friedrich
lächerlich zu machen, erfand. Wir wollen einige Beispiele anführen.
Zur ersten Art gehört die Stelle der NatinöW, in der gesagt wird,
Friedrich Wilhelm der Erste habe durch den Präsidenten Lom einen kleinen
Tractat über die Religion schreiben lassen. Dieses Buch ist nicht von Friedrich
Wilhelm dem Ersten veranlaßt. Es erschien 1751 und wurde Friedrich dem
Großen selbst gewidmet.
Noch ärger ist die Darstellung, welche über den Regierungsansang Friedrichs
gegeben wird, eine Stelle, auf welche schon Ranke aufmerksam gemacht hat. Die¬
selbe lautet: „Bei meiner Thronbesteigung untersuchte ich die Koffer meines Vaters.
Seine große Sparsamkeit setzte mich zu großen Entwürfen in Stand. Bald
darauf musterte ich meine Truppen und fand sie vortrefflich. Nach dieser
Musterung ging ich wieder zu meinen Koffern und fand genug, um meine
Armee zu verdoppeln. Nachdem ich meine Macht verdoppelt hatte, be¬
schränkte ich mich natürlich nicht darauf, blos zu bewahren, was ich besaß. So
war ich denn bald entschlossen die erste Gelegenheit, die sich darbieten würde,
zu benutzen. Bis dahin übte ich meine Truppen gut ein und that Alles,
um die Augen Europas auf meine Manöver gerichtet zu halten.
Ich erneuerte die Manöver jedes Jahr, damit man mich für klüger
(als Andere) hielte, und schließlich erreichte ich meinen Zweck. Ich verdrehte
allen Mächten den Kopf. Jedermann glaubte, er sei verloren, wenn er nicht
Arme, Füße, Kopf nach preußischer Art bewegen könne. Alle meine Soldaten
schätzten, seitdem sie sich überall nachgeahmt sahen, ihren Werth aufs Doppelte.
Nachdem nun aus diese Weise meine Truppen einen Vorzug vor
allen andern erhalten hatten, beschäftigte ich mich nur noch mit der Prü¬
fung der Ansprüche, die ich auf verschiedene Provinzen erheben könnte. Vier
Hauptpunkte boten sich meinem Blick dar: Schlesien, Polnisch-Preußen. Hollän-
disch-Geldern und schwedisch-Pommern. Ich wählte Schlesien, weil es mehr
als alles Andere meine Aufmerksamkeit verdiente und weil die Umstände mir
günstiger waren." Hier ist alles Einzelne erfunden oder entstellt oder durch¬
einandergeworfen.
Was in den Matinees von Verdoppeln der Armee, von den jährlich wieder¬
kehrenden Uebungen, von den Anstrengungen, um Europas Aufmerksamkeit auf
diese Manöver zu lenken, von der schon damals in Europa eingetretenen Nach¬
ahmung des preußischen Exercitiums, von dem Herumtappen nach einem Gegen¬
stande der Eroberung gesagt wird, gehört Alles der Flüchtigkeit und Unwissen¬
heit des Fälschers an. der sich nicht die Mühe nahm, das erste beste Compen-
dium der Geschichte anzusehen. Schon ein Blick auf die Chronologie zeigt die
Unrichtigkeit der Erzählung: Am 31. Mai 1740 bestieg Friedrich den Thron,
am 20. October 1740 starb Karl der Sechste und schon am 16. December
desselben Jahres standen Friedrichs Truppen auf schlesischen Boden.
Und dann das Project eines von Voltaire, Alembert. Maupertuis und
Rousseau unter Leitung des Königs bearbeiteten Buchs gegen die Religion
und eines von Argens und Former)*) vorbereiteten Concils, wovon die Nati-
nees auf zwei vollen Seiten erzählen!!
Das Leben und der Briefwechel Friedrichs und der anderen Betheiligten
liegen doch so offen vor uns, daß es für Herrn Acton möglich sein müßte,
uns das Nähere über diese Projecte mitzutheilen. Zunächst wird es genügen
anzuführen, daß der König mit Voltaire zur Zeit der Abfassung der Matinees
seit vier Jahren außer Verbindung, mit Rousseau gar nicht in Verbindung
gewesen war.
Schließlich noch die Vergiftungen politischer Gegner, welche nach den
Matinees von Friedrich dem Großen bewirkt worden sein sollen!
In dieser Schrift läßt man Friedrich sagen, „er kenne aus Erfah¬
rung alle Vortheile, die man daraus ziehen könne, wenn man politische
Aerzte und Schlosser besitze."
Dem englischen Herausgeber wolle es gefallen, die Person zu nennen,
welche der König hat Vergiften lassen. Er wolle, wenn auch nicht die Beweise,
so doch gefälligst nur seine Vermuthungen vorbringen, oder wenn nicht Ver¬
muthungen, irgendwelche Menevals, welche Vermuthungen gehegt haben. Hier
Würde es sich um ein wirkliches Oxnseule menue handeln.
Ebenso wie mit den Thatsachen ist es mit den Urtheilen in dieser Schrift.
Kann Friedrich der Große geschrieben haben, daß seine Vorfahren, um
den Kaisern zu gefallen, im neunten Jahrhundert zum Christenthum über¬
getreten seien? Es liegt dabei die fabelhafte Abstammung des Hauses Hohen-
zollern von Wittekind zum Grunde. In seinen Memoires xvui- servir a l'nistoire
^e Lranäendonrg' macht er diese wie andere Genealogien lächerlich und nennt
sie „ebenso frivole als unnütze Untersuchungen". Die Matinees sollen ja aber
Friedrichs wirkliche Meinungen im Gegensatz zu seinen bekannten Schriften
enthalten. Wer würde ihm zutrauen an diese von ihm stigmatisirten Fabeln
geglaubt zu haben?
Schärfer noch tritt das Urtheil über Voltaire mit der dem König nur zu genau
bekannten Wirklichkeit in Widerspruch. Der Verfasser der Radin^es läßt den
König sagen! „Er höre gern sein Lob. Wenn Alembert neben mir sitzt, so
öffnet er nur den Mund, um mir Verbindliches zu sagen. Voltaire war nicht
von der Art, eben darum habe ich ihn weggejagt." — Der brave Voltaire!
— Wir glauben nicht hyperbolisch zu sprechen, wenn wir behaupten, daß schwer¬
lich je einen Fürsten mit gleicher Würdelosigteit und Unverschämtheit geschmeichelt
worden ist, als Friedrich dem Großen von Voltaire. Wir brauchen nur einen Blick
auf die ersten Briefe Voltaires an Friedrich den Kronprinzen, den er noch
nicht einmal gesehen hatte, zu werfen. Voltaire setzt sogleich mit „dem göttlichen
Charakter" ein, dann „großer Prinz", „großes Genie". „Alexander", Sokrates",
„Gott Friedrich", bis es denn dem Kronprinzen zu arg wird und er Voltaire
die Ode „sur la lig.tteii«" zur Correctur übersendet. Dennoch macht Voltaire
Friedrich, als er den Thron bestiegen hat, zum „Bruder der Sonne" und in
ähnlicher Weife geht es fort bis zum Bruch. Die Ursachen dieses Bruchs aber,
welche heute offen vorliegen, waren die schmrchigen Geldspcculationen Voltaires
in sächsischen Steucrschcinen, sein Proceß mit einem Juden darüber, ob Voltaire
ihm falsche Steine für echte verkauft habe, und schließlich seine Kabalen gegen
die andern Franzosen in der Umgebung des Königs. Friedrichs Brief vom
24. Februar 1732 ist in dieser Hinsicht sehr ausführlich, und die Geschichte hat
nie andere Gründe des Bruchs zu Tage gebracht.
Wie die Ng.diri6es voll sind von Urtheilen, die Friedrich der Große am
wenigsten dann, wenn er sich ohne Rückhalt äußerte, hat aussprechen können,
so zeigen schon die Aeußerlichkeiten des Ausdrucks, daß die Schrift nicht von
dem König herrühren kann. Mit Recht hat Preuß auf den Unterschied zwi¬
schen dem kurzen und mannhaften Stil des Königs und dem liederlichen Stil
der Natiirses hingewiesen.
Von Interesse sind einige Besonderheiten, die in einer Arbeit des preu¬
ßischen Königs und namentlich in einer doch nicht für Franzosen, sondern
für den preußischen Thronfolger bestimmten Arbeit nicht vorkommen konnten.
Was soll es heißen, daß die Nirtwvss sagen, „wenn der König nicht seine
Staaten bereise, so würden sich seine Gouverneure an seine Stelle setzen
und sich nach und nach von den Grundsätzen des Gehorsams losmachen, um
die der Unabhängigkeit anzunehmen?"
Man kann von der für die damaligen Verhältnisse der preußischen Monarchie
außerordentlichen Abgeschmacktheit des Gedankens absehen, — wer sind aber
diese: „nos gouverrwurs?" In Frankreich war Begriff und Stellung der
Provinzialgouverneure bekannt, in Preußen findet sich nichts Ähnliches, außer
für Neuenburg, — das einzige Land, welches der König nicht bereist hat.
An einer andern Stelle heißt es in den Natmöes: „Es gibt Provinzen,
wo die Katholiken in dem Maße überwiegen, daß der Konig nur ein oder
zwei protestantische Commissarien hinschicken kann." Die Handschriften von 1765
lesen: „qu'rin c>u clvux evmmisLS.it es xroteLwrts "; spätere auch wohl dafür
"<j6mM8", ohne indeß damit etwas im Sinne zu andern.
Welches politische oder administrative Verhältniß ist überhaupt als zum
Grunde liegend gedacht, wenn von einem Hinschielen von königlichen Com-
missaren und einem bestimmten Glaubensbekenntniß derselben die Rede ist?
Auf deutsche und speciell preußische Verhältnisse angewandt, ist uns der Sinn
durchaus unverständlich, und wir müssen von Herrn Acton die Lösung des
Mthsels erwarten. — Und welcher katholische Landestheil hätte das Recht des
Königs, Beamte jeder Konfession anzustellen, beschränkt?
Was Schlesien, diejenige Provinz, in der die meisten Katholiken lebten,
betrifft, so hatte Friedrich der Große aus politischen Gründen 1741 angeordnet,
daß selbst in den Städten die obersten Gemeindestellen mit Protestanten besetzt
werden sollten.
Ebenso bezeichnend ist es, wenn der Verfasser der Na,t,iri6öL den großen
Kurfürsten „Suillg-uns 1ö Kranä« nennt, oder wenn er den König sagen läßt,
daß die Proceßgebühren und Stempelabgaben um „500,000 Livres" gefallen
seien. So lesen die Handschriften von 1765 und auch selbst der actonsche Ab¬
druck ; dem Urheber der buffonschen Abschrift scheint diese Rechnung nach fran¬
zösischem Gelde aufgefallen zu sein und er schrieb „Florins", wohl in der Mei¬
nung, daß man in Preußen, wie in den an Frankreich angrenzenden deutschen
Ländern, nach Gulden rechne.
Sonderbar, daß der König von Preußen, der, wenn er an Voltaire schreibt,
nach Thalern rechnet, seinem jungen Neffen gegenüber sich in Livres aus-
drückt!
Wir dürfen hier wohl die Erörterung darüber, ob Friedrich der Große der
Verfasser dieses Machwerks ist, schließen. Aber wir wollen uns nicht ver¬
sagen den falschen Nirtin^s eine andere Lehrstunde dieses Königs gegenüber¬
zustellen, welche er am Abend seines Lebens seinem Großneffen, dem spätern
König Friedrich Wilhelm dem Dritten gab, deren Inhalt dieser in späteren
Jahren erzählt hat.
König Friedrich begegnete dem fünfzehnjährigen Knaben im Garten
von Sanssouci und ließ sich freundlich mit ihm in ein Gespräch ein; richtete
an ihn verschiedene Fragen über wissenschaftliche Gegenstände und forderte ihn
schließlich auf, eine Fabel von Lafontaine, die er ihm aufschlug, zu übersetzen.
Als der junge Prinz geläufig übersetzt hatte, lobte er ihn. Der Knabe aber
bemerkte, daß er diese Fabel erst vor Kurzem bei seinem Lehrer eingeübt habe
Das ernste Gesicht des Königs erheiterte sich, er streichelte dem Knaben die Wan¬
gen und sagte: „So ist's recht, lieber Fritz; nur immer ehrlich und aufrichtig:
Wolle nie scheinen, was Du nicht bist; sei stets mehr als Du
schein se!"
Der König ermahnte den Prinzen, als er ihn entlassen wollte, etwas
Tüchtiges zu werden. Auf nahe bevorstehende Umwälzungen hindeutend, sagt
er ihm: „Ich fürchte, Du wirst einmal einen schweren Stand haben. Ha-
bilitire, rüste Dich, sei sira. Denke an mich! Wache über unsere Ehre und
unsern Ruhm. Begehe keine Ungerechtigkeit, dulde aber auch keine."
Sie waren zu dem Obelisken gekommen, der am Ausgange des Gartens
steht: „Sieh ihn an!" sprach der König. „Schlank, aufstrebend und hoch und doch
fest im Sturm und Ungewitter. Die Pyramide spricht zu Dir: Na lvros est.
eng, edi'oiwrk. Der Kulminationspunkt, die höchste Spitze überschaut und krönt
das Ganze, aber trägt nicht, sondern wird getragen von Allem, was unter ihr
liegt, vorzüglich vom nicht sehbaren, tief untergebauten Fundament. Das tra¬
gende Fundament ist das Volk in seiner Einheit. Halte es stets mit ihm. daß
es Dich liebe und Dir vertraue; darin nur allein kannst Du stark und glück¬
lich sein. Vergiß diese Stunde nicht." — Es war das letzte Mal. daß der
junge Prinz den großen König sah.
Die Nirtiri^c-g wurden zu Anfang des Jahres 1765 in Paris und zwar
handschriftlich verbreitet. Ihr Titel war: „I,o8 Mrtw6L8 cku livi cle ?i'u»Kei
ÄÜi'ti^ess a Lor növsu". ?
Die älteste Nachricht über ihre Existenz gibt ein französischer Brief Grimms
aus Paris vom 15. April 176S"). in welchem er der Herzogin Luise Dorothea
von Sachsen-Gotha schreibt:
„Ich habe die Ehre Ew. Durchlaucht hierbei ein sonderbares Stück Pa¬
pier zu übersenden, welches seit einiger Zeit handschriftlich in Paris umläuft.
Als es zu meiner Kenntniß kam, schwankte ich einige Zeit, was ich thun
sollte; ich entschloß mich endlich Hrn. Caet davon zu benachrichtigen. Derselbe
bat mich schleunigst, das Unmögliche möglich zu machen, um ihm eine Abschrift
zu schicken. Das habe ich gethan. Ich lege auch diesem Packet eine bei, aber
ohne auf das Verdienst Anspruch zu machen, bei der Verbreitung dieses Stücks
von Beredtsamkeit geholfen zu haben. Ew. Durchlaucht werden besser als ich
zu beurtheilen wissen, von welcher Hand diese Schrift ausgeht und was ihr
Zweck sein kann."
Da in den Natinües der siebenjährige Krieg als beendigt erscheint, und
auf der andern Seite Grimm bei seiner bevorzugten Stellung in Paris
bald in den Besitz einer Abschrift gekommen sein wird, so darf man wohl im
Allgemeinen das Jahr 1764 als das der Abfassung der Natinees, wie sie in
den von Grimm nach Berlin und Gotha geschickten Handschriften vorliegen,
betrachten. Möglicherweise find sie erst zu Anfang 1763 entstanden.
Schon einige Monate nach jenem Briefe Grimms war eine Fortsetzung,
welche zu den fünf bis dahin bekannten Nadir^s noch zwei fernere hinzufügte,
verbreitet.
Am 7. Juni 1765 schreibt Grimm an die Herzogin Luise Dorothea:
„Ich werde die Ehre haben, Ihnen sehr bald die Fortsetzung der NawistZ«
zu schicken, welche seltener, aber im selben Tone gehalten ist, wie, das was Sie
gesehen haben."
Der Grund, daß die sechste und siebente Ug,t.in«5e seltener waren, ist
Wohl in ihrem Inhalte zu suchen. Die sechste handelt vom Militär, die
siebente von dem Finanzwesen. Wenn sie auch in der Oberflächlichkeit des
Urtheils und in der Unkenntnis; der Geschichte und Verhältnisse die fünf
ersten übertreffen, so gehen sie doch in das Detail der Militärverhältnisse
und der Finanzen ein, die letzte in dem Maße, daß sie fast nur aus
einer, jedenfalls in der Form unechten, Denkschrift besteht, die an Frie¬
drich Wilhelm den Ersten bei seinem Regierungsantritt über das preußische
Steuerwesen gerichtet worden sein soll. Offenbar fanden diese beiden mehr
sachlichen und weniger pikanten NatmöLS, von denen man nicht als sicher an¬
nehmen kann, daß sie vom Verfasser der ersten fünf herrühren, in den Kreisen
der pariser vornehmen Welt nicht gleichen Anklang, und die Abschriften blieben
selten.
Erst ein Jahr nach der handschriftlichen Verbreitung scheinen die Mrtmves
in den Druck übergegangen zu sein. Der älteste bekannte Druck trägt die
Jahreszahl 1766, ist aber ohne Druckort; unmöglich wäre es indeß nicht, daß
eine in Kupfer gestochene Ausgabe ohne Jahr und Ort diesem Drucke noch voran
ginge. Seitdem sind theils unter richtiger, theils unter falscher Angabe des Druck
orth eine Reihe von Ausgaben erschienen, sämmtlich und bis auf die neueste
Zeit leichtfertige Abdrücke' von Handschriften und Drucken, ohne kritische Be¬
mühungen zur Herstellung des ursprünglichen Textes, zum Theil mit absicht¬
lichen Auslassungen oder Zusätzen, wie es dem Geschmack und mitunter der
Bosheit des jedesmaligen Herausgebers zusagte. Im Ganzen wissen wir bis zum
Jahre 1863 von mindestens zehn Drucken, sowie einer deutschen und einer spanischen
Uebersetzung des Buchs. Man sieht, daß der Herausgeber des yMsculs irMit.
»ut einigem Recht sagen konnte: „Die NÄtii^es sind bis zum heutigen Tage
nicht gänzlich unbekannt geblieben."
Wir haben aus dem Briefe Grimms vom Is. April 1765 gesehen, daß
derselbe, noch ehe er ein Exemplar an die Herzogin von Gotha sandte, dem
Vorleser Friedrich des Großen die erste Nachricht von der Existenz der NatMöciiZ
gab, und daß dieser sofort eine Abschrift verlangte und erhielt. Als im Jahre
1766 der erste Druck erschien, befahl der König dem Oberstlieutenant Quintus
Icilius in den altonaer und Hamburger Zeitungen gegen die Echtheit der Schrift
zu protestiren. Der Brief, mit dem derselbe den für die Journale bestimmten
Artikel an den preußischen Residenten in Hamburg übersandte, ist vom 4. März
1766; die Na,titi6<zö heißen darin „cer, exverMs öerir".
Ueber den Ursprung solcher Schriften läßt sich der Natur der Sache nach
gewöhnlich nur Weniges mit vollkommner Sicherheit feststellen, die Bezeichnung
der bestimmten Person des Fälschers pflegt Vermuthung zu bleiben. Es
pflegt schon viel erreicht zu sein, wenn sich mit einiger Wahrscheinlichkeit der
Personenkreis und der Zweck, aus dem sie hervorgingen, bezeichnen läßt. Solche
Schriften ehren den Charakter ihrer Verfasser nicht und dieselben suchen
natürlich die Spuren ihrer That zu verwischen.
Es gibt eine Erzählung über den Verfasser der Natirl^s, welche Thi6-
baute, ein Franzose aus der Umgebung des Königs, in seinen Souvenirs mit¬
theilt. Sie lautet dahin, daß als der Marschall Moritz von Sachsen nach
Berlin gekommen, er von^ einem jungen französischen Offizier als Adjutanten
begleitet gewesen sei. Dieser Offizier habe sich an den Abschreiber des Königs
gemacht und von ihm gegen die RSverieL, eine militärische Schrift des Mar¬
schalls, die Na,tin6e8 auf nur vierundzwanzig Stunden entliehen. Gegen ihr
feierliches Versprechen hätten dann Beide, der Eine von den ÜLvLries, der
Andere von den Natinöks Abschrift genommen. Thi6baute fügt aber hinzu,
diese Erzählung könne nur so weit wahr sein, daß Friedrich der Große Ein¬
zelnes von dem, was die Ug.to6eL enthalten, gesagt und sein Secretär einzelne
wahre oder unwahre Aeußerungen aufgeschrieben und der französische Offizier
dieselben dann in die Natiriöks verarbeitet haben möge. TWbault führt für
diese seine Hypothese als Thatsache an, daß der Offizier wirklich in Holland
die falschen NatimZes habe drucken lassen, später wieder nach Preußen gekommen,
seine Dienste angeboten, aber nach Spandau geschickt worden und daselbst ge-
siorben sei.
Die Mittheilung Thi6baults zerfällt also in eine von ihm als unsicher
und in eine andere von ihm als sicher vorgetragene Erzählung. Was die
erstere betrifft, so ist sie nicht blos unsicher, sondern reine Erfindung. Der
Marschall von Sachsen war, wie Herr Acton richtig bemerkt hat, 1749 in
Berlin und starb 1760. Der Thronfolger, an den die Na,tin6e8 gerichtet sind,
war 1744 geboren, dieselben sind nach dein siebenjährigen Kriege geschrieben.
Auch den zweiten Theil, die eigene Erzählung Thivbaults über den Druck
der NatinSes durch einen früheren Adjutanten Moritz von Sachsens ist ohne
Zweifel unrichtig. Denn der gut unterrichtete Nicolai, der das Gerücht kennt,
daß jener, von ihm Vonneville genannte Offizier die Natinöes geschrieben habe,
erwähnt/daß nach der Erzählung einer angesehenen Militävpcrson jener Bonne-
ville dem Könige Papiere aus der Verlassenschaft des Marschalls von Sachsen
verkauft, ihn dabei betrogen habe und deshalb ins Gefängniß gekommen sei.
daß aber seine Autorschaft der N^ZnvöL und die ihm gleichfalls Schuld gegebene
Entwertung der ?vo8ich äiverses von Einigen bezweifelt werde. Nicolai ver¬
muthet, daß dieses derselbe Vonneville sei. der 1792 in der französischen Na¬
tionalversammlung saß. Als er nach Spandau kam, war er schon preußischer
Offizier ^ ig, fünf.
Der letzte Umstand, die Thatsache der Existenz von Zweifeln gegenüber
einem leicht'erklärbaren Gerüchte und die nunmehr offen vorliegende Richtigkeit
dieser Zweifel in Betreff der Entwertung der Poesien des Königs läßt die
ganze Verbindung des Namens Vonneville mit den NativLes als Erfindung
erscheinen.
Auch andere Versasser derselben sind genannt worden, von Denina der
Picmvntese Patono. von Jvuyneau des Loges selbst Voltaire. Was Deninas
Ansicht betrifft, so ist uns kein Umstand bekannt, der dieselbe unterstützte. Pa-
tonos uns bekannte Schriften geben für diese Autorschaft keinen Anhalt. An¬
ders ist es allerdings mit Voltaire.
Wenn man in den Na,t,w<.'hö liest, daß der König ihn von sich entfernt
habe, weil er nicht habe schmeicheln können, so ist man sehr versucht, Vol¬
taire für den Verfasser der Schrift zu halten. Voltaires Haß gegen Friedrich
stand im Jahre 1764 in voller Blüthe, die Korrespondenz zwischen ihnen war
seit Jahren unterbrochen, und Voltaire hat gegen den König viel Schlimmeres
gethan, als die Abfassung der Na,t!n6es sein würde.
Indessen geben die UMn6es als einen ferneren Grund für den Bruch
Voltaires mit Friedrich an. daß Letzterer nicht sicher gewesen sei, „ob er Vol¬
tauen immer dasselbe Gute zu erweisen im Stande sein werde; und er sei voll¬
kommen sicher gewesen, daß Ein Thaler weniger ihm zwei Krallen¬
hiebe zugezogen haben würde."
Diese treffende Bemerkung über Voltaires schmutzige Geldgier kann nicht
aus Voltaires eigener Feder geflossen sein. Seine Eitelkeit war so groß, daß
er hierzu selbst dann nicht im Stande war, wenn er seine Autorschaft durch
diese Stelle zu verdecken hoffen durfte.
Wir sahen von TlMault die Hypothese aufgestellt, daß der Verfasser der
Uatmöes einzelne mündliche Aeußerungen des Königs benutzt habe. Auch
Grimm hat Aehnliches nicht für unmöglich gehalten. Er fährt nach jener oben
mitgetheilten Stelle über die sechste und siebente Nlttin6e in seinem Briefe vom
7. Juni 176L fort:
„Das ist ein seltsames Stück Papier. Ich denke wie Ew. Durchlaucht
darüber*), aber andrerseits ist es gewiß, daß der Verfasser nie in Frankreich
war und daß es diesem Menschen an Geist nicht fehlte. Ich würde versucht sein
zu glauben, daß es eine Schrift ist, die man dem großen Friedrich, bevor er
sie noch ausbessern konnte, gestohlen und nachher gefälscht hat, indem man ihn
mit einer über alle Wahrscheinlichkeit hinausgehenden Aufrichtigkeit sprechen
läßt. Denn die erste aller Eigenschaften eines Fürsten, der diese Grundsätze
hätte, wäre, sie mit der tiefsten Verstellung zu verbergen. Von dem Augen¬
blick an, da man ihn für den Verfasser dieser Nu-tiiwes hielte, müßte man
ihn als verrückt betrachten. Man muß aber auch zugestehen, daß, wenn es
ein Streich ist, den man ihm spielen wollte, man das Ziel durchaus verfehlt
hat. Denn aus diesen Nirtin^W ergibt sich, daß ein solcher Fürst, wie man
dort sprechen läßt, doch noch ein großer Fürst wäre."
Grimm hielt es, nachdem er auch die sechste und siebente, mehr sachliche
Nktiiws gelesen hatte, für möglich, daß vielleicht eigenhändige Aufzeichnungen
des Königs für die Ng-tinvös benutzt und durch die Hand des Fälschers in
jenes Carricaturbild verwandelt sein möchten.
Man muß zugestehen, daß die Annahme TlMbaults und Grimms an sich
nichts Unwahrscheinliches hat. Wenn man mit Ersterem die von Personen
seiner Umgebung herrührende Aufzeichnung mündlicher und gelegentlicher Aeuße¬
rungen des Königs unterstellt, so kann man sogar sehr weit gehen; denn der
König liebte bei seiner Disputirlust, namentlich seinen Tischgenossen gegenüber,
scherzweise die gewagtesten Behauptungen aufzustellen.
Indessen liegt auch andrerseits für diese Annahme kein Grund vor. Wenn
Grimm versucht war, sie aufzustellen, weil die Schrift voll unfranzösischer
Sprachwendungen sei, so bedachte er nicht, daß die modernen Fälscher antiker
Münzen nicht blos das Original nachahmen, sondern ihrer Arbeit auch die
Beschädigungen künstlich zufügen, welche bei der echten Münze durch Umlauf
und Alter auf natürlichem Wege zu entstehen Pflegen. Im Uebrigen, basn't
jene Hypothese nur auf dem Satze des täglichen Lebens, „daß doch etwas
daran sein werde" — ein Satz, den die Erfahrung ebenso oft widerlegt, als
bestätigt.
Gegen diese Hypothese sprechen aber Gründe, die Grimm bei dem ersten
Hervortreten der Natiii6<zg noch nicht kannte. Wenn irgendwelche Aufzeich¬
nungen des Königs in die NatinttLS verwebt waren, so hatte der König
allen Grund, bei jener Zurückweisung seiner Autorschaft in den öffentlichen
Blättern den Sachverhalt einfach angeben zu lassen.
Andrerseits aber kennen wir heute die schriftstellerischen Arbeiten des
Königs in einem Umfange, daß eine Spur solcher Aufzeichnungen ohne Zweifel
aus uns gekommen sein würde.
Versuchen wir gegenüber den erwähnten unbegründeten Erzählungen und
ohne Basis aufgestellten Vermuthungen aus dem Inhalte der Raten^s aus
ihren Ursprung zu schließen, so ist zunächst als sicher anzunehmen, daß dieselben
von einem Franzosen verfaßt sind, und zwar schwerlich von einem Franzosen,
der sich längere Zeit in Preußen ausgehalten hatte.
Wir dürfen uns in dieser Hinsicht auf die Erörterungen über die Autor¬
schaft Friedrichs des Großen beziehen, in denen wir gezeigt haben, wie
an mehren Stellen der N^noch specifisch französische
^ Anschauungen und
Ausdrücke hervortreten. So jene Stellen, wo an der «spitze der preußischen
Provinzialvcrwaltung statt großer Regierungscollegien Gouverneure gedacht
werden und wo man den König in Livres rechnen läßt. Auch der Vorstellung
von in die Provinzen geschickten königlichen Commissarien liegt vermuthlich ein
französisches Verhältniß zum Grunde. Daß der Fälscher leicht im Stande
war. Sprachfehler und selbst eigentliche Germanismen, wenn solche vorkommen
sollten, in seine Arbeit einzufügen, versteht sich von selbst, es war dies leichter
als den Stil des Königs nachzuahmen, und Letzteres scheint auch nicht ver¬
sucht zu sein. Würde aber der französische Verfasser in Preußen gelebt
haben, so würde er sich schwerlich jene außerordentliche Unkenntniß preußischer
Verhältnisse und kleiner Aeußerlichkeiten der Person des Königs haben zu
Schulden kommen lassen.
Will man der Person des Verfassers näher treten, so wird man vor
Allem auf jene von Grimm in seinem Briefe vom 25. April 1766 gemachte
Andeutung einzugehen haben- .,Ew. Durchlaucht werden besser als ich zu
beurtheilen wissen, von welcher Hand diese Schrift ausgeht und was ihr
Zweck ist." Grimm stand damals durch seine Stellung und durch seine lite¬
rarischen Beschäftigungen inmitten des politischen wie des literarischen Treibens
von Paris. Er konnte die Mittel der Verbreitung jener Schrift beobachten
und sogleich die über die Autorschaft hervortretenden Ansichten prüfen. Das
Eigenthümliche aber der in jener Stelle enthaltenen Hindeutung ist, daß
Grimm seine Ansicht über die Quelle der NatiuöeL dem Papier nicht anver¬
trauen will, indessen voraussetzt, daß die Herzogin von selbst dieselbe Ansicht
gewinnen werde.
Wen hatte Grimm bei der Absendung jenes Briefes zu fürchten? Welches
Verhältniß der Feindschaft gegen Friedrich war so offenkundig, daß es sofort
auf die Autorschaft der Ng.t,in6es schließen ließ? Man könnte im ersten Augen¬
blick versucht sein, an Voltaire zu denken, dessen spitze Feder Grimm in seiner
literarischen. Stellung fürchten durfte und dessen fortdauernder Haß gegen
Friedrich ihm vielleicht bekannt war.
Indessen die Briefe Grimms an die Herzogin von Gotha, seine Be¬
schützerin und Freundin, konnten nicht von der Befürchtung einer Indiscretion
begleitet sein. Ueberdies enthalten andere Briefe ungünstige Aeußerungen über
Voltaire. Auch war die fortdauernde Feindschaft Voltaires gegen Friedrich
schwerlich damals schon so allgemein bekannt, daß diese Kenntniß schlechthin
vorausgesetzt werden konnte.
Es gab aber ein offenkundiges Verhältniß der Feindschaft gegen Friedrich.
Es gab andere Personen, deren Namen Grimm in seinen officiellen Bezie¬
hungen einem durch die französische Post beförderten Briefe nicht anzuvertrauen
alle Ursache hatte.
Grimm wollte in jenem Briefe ohne Zweifel als die Quelle der Nadir^s
die französischen Regierungskreise, vielleicht speciell den Herzog v. Choiseul,
bezeichnen. Und in der That dürfte ihr Ursprung dort zu suchen sein.
Wir müssen hier einen Blick auf die Verhältnisse werfen, wie sie sich in
eigenthümlicher Weise schon seit lange zwischen Friedrich dem Großen und
Frankreich ausgebildet hatten. Friedrich hätte den siebenjährigen Krieg ver¬
meiden tonnen, wenn er das ablaufende französische Bündniß erneuert hätte.
Nicht achtend des einstimmigen Rathes seiner kriegserprobtcn Generals, welche
vor dieser übermenschlichen Ausgabe zurückschreckten, wählte und begann der
König den Krieg, weil sein Preußen auf dem Wege dieses Bündnisses eine
Macht zweiten Ranges bleiben mußte und er es zu der Stellung einer Gro߬
macht erheben wollte.
Die Zurückweisung des Bündnisses war nur eme politische Verschmähung
Frankreichs. Aber Friedrichs nach Paris berichtete Aeußerungen über den
französischen Hof gaben den Feindseligkeiten einen persönlichen Stachel. Die
Schlacht bei Roßbach nahm den französischen Waffen ihren Glanz, bedrohte
aber dadurch zugleich die persönliche Stellung der Pompadour und ihrer Feld'
Herrn und Staatsmänner in Paris. Die Fäulniß dieser Maitressenwirthschaft,
welche die Armeen einer kriegerischen Nation zum Spott Europas machte,
lag vor Aller Augen aufgedeckt. Die Pariser singen an sich über die Siege
des Königs zu freuen. Und dieser steigerte die Gefühle des Hasses, welche
man in Versailles gegen ihn hegte, nicht blos durch seine Siege.
Nach vollbrachtem militärischem Tagewerk setzt sich der König hin und
schreibt Flugblätter gegen seine Feinde, oder Verse, die bald ihren Weg an
die französischen Machthaber finden. Unter den ersteren heben wir nur den
„Brief der Marquise v. Pompadour an die Königin von Ungarn" hervor.
Mit der verzweifelten Lage des Königs wächst seine leidenschaftliche Bitter¬
keit. In einem zur Mittheilung nach Versailles bestimmten Briefe an Voltaire
vom 12. Mai 1760 schreibt er: „Ich werde den Krieg künftig mit allen Waffen
führen. In die Bastille können sie mich nicht schicken. Nach allem dem, was
sie mir haben Uebles thun wollen, ist. es eine kleine Rache sie zu Perst.
stiren."
Friedrich schont neben Ludwig dem Fünfzehnten und der Pompadour auch
den Herzog von' Choiseul nicht, den Minister, welcher dieser versailler Wirth¬
schaft den Glanz seines staatsmännischen Talents und seiner Kenntnisse lieh.
Nais certain <Zuo, s'illllLtr-me K ^wais
Lauverg, kr^neais
Laus oavitaine, sans Knalles,
Sans ^.weriyus, s»us xruäsnoe,
Verse wie:
fanden durch Voltaire ihren Weg nach Versailles. Der französische Minister
erwiederte diesen Haß.
..Der Herzog von Choiseul wird über Luc in der einen oder andern Weise
triumphiren und dann — welche Freude!" schreibt Voltaire an Argental am
Is. Februar 1760. Voltaire hatte Alles gethan, um den politischen Verhältnissen
diese persönliche Schärfe zu geben. Er schreibt am 25. Oct. 1761 an den
Cardinal Berneis. indem er Choiseul zum Jäger des gehetzten Königs
macht:
„Eines tröstet mich, ehe ich sterbe, daß ich — ein so elendes Wesen als
ich bin - nicht wenig dazu beigetragen habe. — einen gewissen Eber und
Ihren Jäger zu unversöhnlichen Feinden gemacht zu haben. .Ich lache mir
darüber ins Fäustchen." Die Jagd gegen diesen Eber hatte einen sonderbaren
Charakter angenommen. Friedrich konnte von sich schreiben: ..Wenn ich unter¬
gehe, so werde ich unter einem Hausen ihrer Libelle und unter gebrochenen Waf¬
fen auf einem Schlachtfelde untergehen."
Was speciell Choiseul betrifft, so war er bereit, den König auch persönlich
auf dem literarischen Felde zu bekämpfen. Es ist bekannt, daß Friedrich schon
im Jahre 1759 ein die Erbärmlichkeit der pariser Machthaber brandmarkendes
Gedicht an Voltaire schickte, welches dieser dann, was auch ohne Zweifel die
Absicht des Königs war, sofort an Choiseul mittheilte.
In seinen Memoiren sagt Voltaire darüber: „Ich nahm an. daß der
Herzog v. Choiseul — sich daraus beschränken werde, den König von Frank¬
reich zu überreden, daß der König von Preußen ein unversöhnlicher Feind sei.
den man vernichten müsse, wenn man könne. Der Herzog v. Choiseul be¬
schränkte sich aber nicht darauf; derselbe ist ein sehr geistreicher Mann. er macht
Gedichte, er hat Freunde, die welche machen; er zahlte dem Könige von Preußen
mit gleicher Münze und schickte mir eine Ode an Friedrich, ebenso beißend,
ebenso schrecklich wie die Friedrichs gegen uns."
Der versailler Friede, welcher Frankreich nach einem ruhmlosen Kriege
den Verlust bedeutender transatlantischer Besitzungen brachte, schied die franzö¬
sische Regierung von der Nation; er erschütterte auch ChoiseulS Stellung; es
bildete sich selbst am Hofe eine Partei gegen ihn und im April 1764 verlor
er in der Pompadour eine starke Stütze.
Der Haß gegen Friedrich den Großen konnte nach diesem Frieden nicht
geringer werden. Es ist nicht einmal zu einem Friedensschluß zwischen Frank¬
reich und Preußen gekommen. Auch nach dem Frieden hielten noch französische
Truppen das preußische Cleve besetzt. Friedrich ließ ein kleines Corps auf¬
brechen, um sie zu vertreiben. Sie räumten Cleve auf gute Manier.
Die diplomatischen Beziehungen wurden zwischen Frankreich und Preußen
nicht wiederhergestellt, noch in der Mitte 1765 war kein französischer Gesandter
für Berlin, kein preußischer für Paris ernannt. Es ist vielleicht nicht ohne
Beziehung, daß Grimm in jenem zweiten Briefe über die Rätin^Sö vom
7. Juni 1765 auch über diese andauernde Entfremdung der beiden Höfe klagt
und den Plan entwirft, die Wiederherstellung wenigstens der gewöhnlichen
Beziehungen zu vermitteln. Er sagt, er wisse längst, daß Friedrich den Herzog
v. Prasum achte, und habe seitdem erfahren, daß er den Herzog v. Choiseul
werthschätze. Grimm äußert sich aber nicht über die Gesinnung des Herzogs
v. Choiseul oder der andern französischen Machthaber gegen den König. Die
Politik war Von den persönlichen Verhältnissen beherrscht, es ist nicht Preußen,
sondern der König von Preußen, den man in Versailles haßt.
Auf diesem politischen Hintergrunde erscheinen plötzlich zu Anfang des
Jahres 1765 zu Paris die handschriftlichen Rat-necs,
Fragt man, wem die Natw^of am meisten nützen konnten, so war es
ohne Zweifel die am versailler Hofe herrschende Partei. Denn diese Schrift
zeigte, daß man es mit einem an sich unbedeutenden, aber in teuflischer Weise
denkenden und handelnden, kein Mittel verschmähenden Feinde zu thun gehabt
habe; die Niederlage, welche Frankreich erlitten hatte, war die, welche die
Tugend von dem Laster erleidet. Der vom pariser Publicum bewunderte Frie¬
drich war verabscheuungswürdig, er war zugleich lächerlich und verächtlich
gemacht.
Interessant ist es zu sehen, wie in den Radii^of nichts gegen die fran¬
zösische Regierung und Frankreich vorkommt. Eine Stelle am Schluß des Ab'
Schritts über Kleidung, wo von den in Vergnügungen, Bällen und Ausschwei¬
fungen lebenden Fürsten die Rede ist, welche sich ausschließlich mit den Frauen
beschäftigen, läßt sich allerdings auf Ludwig den Fünfzehnten beziehen, fehlt
aber in den Handschriften von 1765.
Ebenso ist es auffallend, wie in den Natmvös für die Tüchtigkeit der
Armee Friedrichs sich nirgend ein Wort, dagegen stets die Hindeutung findet,
daß es ihm nur gelungen sei, seinen Truppen einen Anstrich von Ueberlegen-
heit zu geben. In der sechsten Ng,den6ö ist dieses noch viel auffallender, dem
preußischen Offizier wird hier ein Leben voll Schande zugeschrieben, mit den
ärgsten Uebertreibungen wird die Erschöpfung, in der Preußen aus dem Kriege
hervorgegangen sei, geschildert. Es treten die Gesichtspunkte eines besiegten
Feindes hervor, der höher zu stehen glaubt, wenn er den Sieger verkleinert.
Indem wir den Ursprung der Nadir^s den pariser politischen Kreisen
zuweisen, in denen sie auch zuerst verbreitet erscheinen, sind wir uns darüber
klar, daß sich nach hundert Jahren in dieser Hinsicht ein sicherer Beweis nicht
führen läßt. Die Wahrscheinlichkeit ist in solchen Fällen berechtigt den Beweis
zu vertreten.
Auch darin, daß die Uf.den6es ihren Zweck verfehlten, kann man der An-
sicht Grimms zustimmen. Der Haß gegen Friedrich den Großen überwog in
ihnen alle Rücksichten, welche die Wahrscheinlichkeit bei einer solchen Fälschung
verlangte. Wir wissen nicht, daß damals irgend Jemand, oder daß später
namhafte Personen an die Autorschaft Friedrichs geglaubt hätten.
Erst als die Schrift dem Druck übergeben wurde, kam dieselbe in Kreise,
deren Sache Kritik und Urtheil nicht zu sein pflegte. Der Erfolg, den sie nach
einem Jahrhundert gefeiert hat, gleicht einem Pasquill auf die ernsten historischen
Studien unserer Zeit.
Friedrich der Große scheint, nachdem er die Autorschaft zurückgewiesen hatte,
die Matinees nicht beachtet zu haben. Er war gegen derartige Schriften von
jeher gleichgiltig. Schon 1752 schreibt er an einen seiner Vertrauten, der eine
ähnliche gegen den König erschienene Schmähschrift zu widerlegen wünschte:
Die Verlärundungen dieses Werkchens verdienen nicht, daß Sie Sich die
Mühe nehmen sie zu zerstören. An mir ist es, meine Pflicht zu thun und
dann die Schlechtigkeit sagen zu lassen was ihr beliebt."
Führt die deutsche Geschichte von der Auflösung des preußischen Heere« nach
der Schlacht bei Jena bis zur Vernichtung der „großen Armee" im russischen Feld.
zug fort. Indem wir uns einen ausführlichen Bericht über diese Umgestaltung des
trefflichen Werkes für die Zeit, wo es vollendet sein wird, vorbehalten und uns für
jetzt mit warmer Empfehlung desselben begnügen, bemerken wir nur noch, daß jeder ein¬
zelne von den vier Hauptabschnitten dieses Theils und namentlich der zweite, der die
Reform in Preußen überschrieben ist und den Neubau dieses Staates durch Stein,
Scharnhorst und Gneisenau, den ersurter Kongreß und die Zustände und Ereignisse
in den Nhcinbundstaciten in mustergiltiger Weise darstellt, sowohl sachlich, durch
Benutzung neueröffneter Quellen, als in der Form wesentlich gewonnen hat, und
daß das Werk so theilweise als völlig neue Arbeit anzusehen ist.
Sehr elegant ausgestattet und fast von allen Größen des heutigen k. k. Par¬
nasses mit Spenden bedacht, bietet dieser Musenalmanach doch nur wenig Gedichte,
die sich über die Gewöhnlichkeit erheben. Anastnsius Grün hat breitspurige Prinz
Eugenius-Fragmente beigetragen, die den Namen des Prinzen uncrklärlichcrweisc als
Trochäus aussprechen, Halm eine ziemlich hübsche erzählende Dichtung „Charfreitag",
Hebbel ein Gedicht zur Confirmation seiner Tochter und ein anderes „Herr und
Knecht", welches wir ein Räthsel in Balladenform nennen möchten. Dann sind
hervorzuheben: Bruchstücke aus einem Gedichte „Jadwiga" von Karl Beck, „Das
Zauberschwert" von Hieronymus Lorm, kürzere Poesien von Bernhard Scholz und
die Fragmente aus dem grillparzerschcn Drama „Esther", die einzelne große Schön¬
heiten enthalten, aber im Ganzen an Weitschweifigkeit leiden.
Gedichte von den Amerikanern Lowell, Poe, Bryant, Longfellow, Shiras,
Lord, Stoddard und Whittier, den Amerikanerinnen Anne Bradstrect, Elisabeth He-
witt, Emma Emburh, Caroline Sawyer, Graec Grccnwood, Elisabeth Oates Smith
und Frances Sargent Osgood. Dann in zweiter Abtheilung Poesien von englischen
Dichtern und Dichterinnen, von Anne Barnard, Sara Norton, Mrs. Blackwood,
Byron, Shelley, Tennyson, Mackay, Thackeray und Barry Cornwall. Am reichsten
ist die Auswahl aus Stoddard, auf den Heinrich Heine stark eingewirkt hat, aus
Poe, Osgood und Mackay. Von Bryant hätte Besseres gegeben werden können
als sein „Grab der Ucberwinderin". Die Uebersetzungen sind an Werth ungleich,
einige so gut als es der Unterschied zwischen der englischen und der deutschen Sprache
erlaubt, andere (so namentlich Poch „Rabe", der freilich selbst Sprachkünstlern wie
Rückert große. Schwierigkeiten in den Weg legen würde) nur theilweise gelungen.
Die Lcbensskizzen sind kürzer als billig.
Ein hübsches frisches Talent, das sich in der Weise Uhlands an Natur und
Menschenleben freut, ernsten und heitern Empfindungen wohltönenden Ausdruck zu
geben weiß und auch den Ton der Ballade bisweilen recht gut trifft.
Eine Elegie, die in Nibelungenstrophcn die böse Zeit beklagt, welche statt steh
für die Ideale des Herzens zu begeistern, zu träumen und zu schwärmen, prosai¬
schen Zielen nachtrachtet. Der Kummer über diese nüchterne Welt der Gegenwart
steigert sich bei dem Dichter zur Vision einer Zukunft, wo die Erde, alles Lichtes
und aller Schönheit baar „des Gerichts gewärtig, vor Schauder stumm, am Rand
des Nichts hängt". Dann wird es wieder hell, und der Prophet beginnt zu hoffen,
daß seine Ermahnung an Deutschland, nicht um schnöden materiellen Gewinns und
des Schcinbildcs äußerer Macht willen die idealen Heiligthümer aufzugeben. Erfolg
haben wird:
Es rühren vielleicht doch Manchen, trotz dem rauhen Tag,
Deine zarten Rhythmen, der strebende Flügelschlag.
Schönheittrunknen Sehnens, der da Zeugniß giebt
Von einer weichen Seele, die viel gestrebt, gehofft, geliebt.
Jene Beschreibung des Erduntergangcs hat schöne Stellen. Weniger angenehm be¬
rühren östreichische Reime wie Dom auf fromm, thronst auf umsonst, legt auf weckt
u. a. d. Was von den „weichen Seelen", die solche Klagelieder über die Gegen¬
wart aufseufzen, was von den Gefahren zu halten ist, die hier der erwachenden
Nation prophezeit werden, brauchen wir den Lesern d. Bl. nicht erst auseinander¬
zusetzen. Die Welt wird sicher nicht davon Schaden leiden, wenn jetzt der Geist
unsres Volkes das ihm gebührende Theil der an Andre wcggegcbncn .Erde beansprucht,
wenn er sich anschickt, das Träumen mit dem Handeln zu vertauschen, und wenn
dabei etliche Poeten zweiten Ranges unbeachtet bleiben. Wcrthvollcs wird auch jetzt
noch anerkannt, und die endlich erkämpfte Neugestaltung der Nation wird uns auch
neue große Dichter schaffen.
Bearbeitung der Loreleysage mit erbaulicher Tendenz. Der Verfasser scheint
Geistlicher zu sein und sich nach O. v. Redwitz gebildet zu haben. Einige seiner
Naturschilderungen zeigen einiges Talent, die psychologische Entwickelung dagegen
ist unklarste Romantik. Zuletzt wird die böse Zauberin durch das Gebet eines
Mönchs bekehrt, und gleich daraus stürzt sie sich unter dreimaligem Anrufen des Herrn
Jcsi's in den Rhein. Dann Begräbniß und ein Leichenstein mit der Inschrift:
„Die Loreley,
Die singende Fay,
Ruht allhier unverdorben,
Im Namen Jesu gestorben.
Halleluja."
Die mecklenburger Bauernhochzeit ist ein hübsches Bild aus dem niederdeutschen
Leben, die folgenden kleineren Gedichte dagegen überschreiten die nach unserm Ge¬
fühl dem plattdeutschen Idiom gezogenen Grenzen. Das Plattdeutsche kann nur
naiv, nicht empfindsam sein. Es ist zum Ausdruck des Humoristischen wie geschaffen,
pathetisch sein dagegen steht ihm trotz Klaus Groth übel zu Gesicht, Manche dieser
Rosmarin und Ringelblumen aber zwingen sogar Erinnerungen an heincsche Gedanken
in diesen Dialekt. — „Frische Kannten ut Krischavn Schulter sin Mus'list," (Derselbe
Verlag.) Eine ähnliche Sammlung von gereimten Anekdoten, Schnurren und
Scherzen wie Reuters „Läuschen un Niemals", die zwar ohne die humoristische Ader
dieses Dichters ist, aber immerhin manches gut und wirksam erzählte Geschichtchen
enthält.
Neben manchem Trivialen und vielen Gedichten, die bloße Reminiscenzen an
Heine, Freiligrath und Andere sind, auch einzelne tiefempfundene Lieder. Zu tadeln
ist, daß die Stoffe großentheils aus dem alltäglichen Leben genommen sind, und
daß ein beträchtlicher Theil der Sammlung in Verse gebrachtes Mitleid mit ver¬
krüppelten Kindern, Blinden, Schwindsüchtigen und andern Unglücklichen ist. Auch
die Form läßt zu wünschen übrig. Bisweilen kommt sogar die Grammatik übel weg,
und noch häufiger der Wohlklang. So gleich im Schlüsse des ersten Gedichts:
So ist zuletzt wohl gar der Haß
Noch dazu auserkoren,
Gewcihet und gewürdigt, daß
Aus ihm werd' Lieb' geboren.
Ein bescheidenes Talent, 'das sich in meist gutklingendcn Versen über die
Lerchen und Veilchen des Frühlings freut, seinem Behagen an einer stillgemüth-
lichcn Häuslichkeit Ausdruck gibt, sinnend im Walde wandelt und sich nur bisweilen,
wie im „Negerschiff", in „Nonzcval", in „Johannes Huß" an mächtigere Stoffe
wagt, deren Bearbeitung dann ziemlich matt ausfällt.
Originalpocsicn und Uebersetzungen, welche die kleinen Leiden und Freuden der
Kinderwelt besingen, manches recht Anmuthige und Sinnreiche darunter. Vgl. die
Gedichte „Entsagung", „Leichenbegängnis;", „Frische Veilchen" u. a. in.
Wo der Verfasser einen ernsten Ton anschlägt, reine platte Prosa, wo er zu
scherzen versucht, schalste Spaßmacherci, das Ganze nur insofern erwähnenswerth,
als es zeigt, was für wunderbare Begriffe von Poesie noch hin und wieder
vorkommen.
Wohl gefügte Verse, reine Reime, stark liberale Gesinnung, in der zweiten
Hälfte ein paar hübsche erotische Gedichte, im Ganzen aber mehr Rhetorik als echte
poetische Empfindung, mehr Anklänge als eigenes starkes Tönen. Die Mehrzahl der
längeren Gedichte in der ersten Hälfte des Bandes besteht aus Poesien mit politischer
Tendenz im Tone Herweghs (vgl. „Deutsches Heimweh") und Freiligraths, aber
ohne die Kraft des Ausdrucks dieser Dichter, bisweilen, wie in „Giuseppe Garivaldi"
strvphcnlang pure Prosa, bisweilen, wie in „Kam", nahezu sinnlos,
Wir begrüßen in dein vorliegenden Werke, dessen baldige Fortsetzung und Voll¬
endung wir um der Sache selbst willen wünschen, einen mit Fleiß und Liebe ge¬
schriebenen Beitrag zur deutschen Culturgeschichte, keineswegs blos zur Geschichte des
Judenthums. Unter dem Namen der „jüdischen Reformation" nämlich versteht der
Verf. nicht nur die Reformbewegung innerhalb des Cultus der jüdischen Gemeinde,
sondern das gesammte nach den mannigfachsten Seiten hin gewendete Ringen des
jüdischen Geistes, die Fesseln zu sprengen, in die tausendjähriger Druck ihn geschla¬
gen hat. Gutzkow hat im Uriel Acosta der Sehnsucht des Juden, in das All¬
gemeine zu tauchen und in dem großen Strome der Bildung zu schwimmen,
einen Ausdruck gegeben. Was zu den Zeiten eines Spinoza verzehrendes Ver¬
langen Einzelner war. ein Verlangen, dessen mögliche Erfüllung selbst von den
Besten nur in dem Uebertritt zum Christenthum gesehen wurde, das ward seit dem
Ende des vorigen Jahrhunderts zur kämpfenden, zuletzt zur siegenden Kraft. Es
galt eine doppelte Arbeit, wie zu Nchcmias' Zeiten, mit Schwert und Kelle, und
auch das Schwert noch mußte sowohl nach innen wie nach außen gerichtet wer¬
den. Mit der einfachen Bitte um Ausnahme in ihre Kreise klopften zunächst die
Führer der Juden an die geschlossenen Pforten der christlichen Staaten, und nicht
an diese allein; auch die wissenschaftlichen Kreise sonderten sich spröde ab: ein
Herder, Vermehr als die Arbeit eines halben Lebens an die Erforschung des Alten
Bundes setzte, hatte für die literarischen Arbeiten seiner jüdischen Zeitgenossen keine
Theilnahme. Sie waren sür ihn so wenig vorhanden, wie sie es heute für die
Mehrzahl der christlichen Theologen sind. Wie dem aber sei. es muß anerkannt
werden, daß die Theologie und die Philosophie im achtzehnten Jahrhundert den
jüdischen Reformatoren gewaltig vorgearbeitet hatten, daß es gelungen ist. die Juden
aus ihrer traurigen Lage, an die wir Christen uns nur ungern erinnern lassen, in
eine unvergleichlich günstigere zu versetzen und daß sie in die Geistesarbeiten der
christlichen Welt eingeführt worden sind. Es kann nicht geläugnet werden, daß eben
jene Männer bei den Christen mehr ausgerichtet haben, als bei ihren Glaubens¬
genossen. Es ist das ganz natürlich. Hier war eine starre Masse in Fluß zu brin¬
gen, ihr Empfänglichkeit für die Ströme der deutschen Bildung zu geben, und diese
Masse war in dreifach Erz von Haß und Mißtrauen gegen das Fremde, von Liebe
M dem Ererbten gehüllt. Ein Angriff gegen die bisherige Sitte, der Versuch deut¬
scher Lehre, gar deutscher Predigt, ja auch uur deutscher Uebersetzung heiliger Schrif¬
ten war ein Attentat gegen die alten Heiligthümer der Religion und des Volkes,
«ne Preisgebung derselben an die alten Feinde, Verrath an Gott und den Menschen.
Und dennoch ist die Masse in eine Bewegung gekommen, die sicher fortschreitet.
Während die französische Revolution, die Freiheitskriege und alle daraus hervor¬
gehenden Ereignisse die Augen der Welt auf sich zogen, hat sich denselben verborgen
jene Gcistesrevolution ins Werk gesetzt. Viel bleibt noch zu thun, aber das Größte
'se geschehen.
Herr Ritter ist nicht der Erste, welcher eine Geschichte der jüdischen Reformation
versucht. Jost ist ihm im dritten Theil seiner Geschichte des Judenthums, Stern
in der des Judenthums von Mendelssohn bis auf die Gegenwart, Kalisch in der
Schrift Berlins jüdische Reformatoren und Holdhcim in der Geschichte seiner Ge¬
meinde vorangegangen, aber alle diese Schriften haben den engern Kreis der Glau¬
bensgenossen vor Augen, während die Rittersche Geschichte, obwohl das Quellen¬
studium noch mehr hervorleuchtet, aus das Verständniß der gebildeten Welt überhaupt
berechnet ist. Von den beiden Theilen derselben ist uns der zweite der liebere. Min¬
der literarisch gehalten gibt er uns. worauf es vor Allem ankommt, S. 74—93 ein
Bild von dem Drucke, unter welchem die Juden bis 1812 standen, S. 14—20 und
wieder S. 36—52 eine Zeichnung von dem Bildungsgange der Juden zur Zeit
Mendelssohns, macht uns mit dessen vortrefflichsten Schülern wie Euchel und Wessely,
die an Geisteskraft noch über David Friedländer zu stehen scheinen, bekannt, schildert
die Mühsale und Kämpfe, mit denen Friedländers Hauptwerk, die Errichtung der
jüdischen Freischule, verbunden war. Es lohnt sich, solche Bilder an der Seele
vorüberziehen zu lassen. — Weitaus das Wichtigste ist aber die Geschichte des Send¬
schreibens an Teller und der an dieses sich schließenden Verhandlungen, in denen
die wahrsten und bedeutendste» Worte von S est el e r nacher gesprochen worden
sind. Friedländer hatte nämlich dem Probst Teller Bedingungen gestellt, unter de¬
nen er mit seinen Freunden in den Schutz des Protestantismus treten wolle. Das
Sendschreiben wäre allerdings heute nach Form und Inhalt unmöglich, und es
würde kaum eines Schleiermachers bedürfen, um den Beweis zu führen, daß es
dem Fragenden gar nicht Ernst gewesen sein könne. Die Frage selbst aber ist eine
solche, deren wissenschaftlich ernster Erörterung sich das heutige Resormjudenthum
nicht wird entziehen können, die Frage um seine Bedeutung, das Recht seiner
Existenz, nachdem es das Ccremonialgesctz und die Erwartung eines persönlichen
Messias ausgegeben. Sicherlich wird der Verfasser mit der Beantwortung dieser
Frage sein Werk beschließen, da dem Gebäude ohne eine solche das Dach fehlen
würde. Vom christlichen Standpunkte aus finden wir den Weg zur Antwort vor¬
nehmlich in dem scharfen Gegensatze des jüdischen und christlichen resp, deutschen
Geistes, wie z. B. die Abneigung eines Friedländer- und Börne vor Goethe
gewiß nicht zufällig ist. Auch vorliegendes Werk gibt den Beweis i der Verfasser
ist mit der deutschen Literatur, mit der christlichen Philosophie vertraut, dennoch
brauchen wir nur drei Seiten zu lesen, um ein Urtheil zu haben, das dem schnur¬
stracks zuwiderläuft, welches Rabbi de silva über Uriel Acosta fällte. Von diesem
sagte jener, als er seine Schrift beurtheilte- der Verfasser ist kein Jude. Unser
Autor ist es mit jeder Faser seines Denkens und Fühlens.
Mit Ur. R4 beginnt diese Zeitschrift ein neuesQuarta,
welches durch alle Buchhandlungen und Postämter zu be¬
ziehen ist.
Leipzig, im März 1863.Die Verlagshandlung.____