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]]> Wenn man sich darüber wundert, wie es möglich war, daß bei einem
Volke, welches den Werth der persönlichen Freiheit so tief erkannte und so hoch
schätzte, wie das hellenische, beinahe der ganzen dienenden und arbeitenden
Klasse das Recht auf gleichen Anspruch mit den Vollbürgern des Staats ent¬
zogen war; wenn man sich deshalb vom christlichen und philanthropischen
Standpunkte aus berufen fühlt, das classische Alterthum dieses Fleckens wegen
überhaupt herabzusetzen: so muß man erstens bedenken, daß die Anerkennung
der allgemeinen Menschenwürde, welche erst in der neueren Zeit angefangen
hat, die Aufhebung der Sklaverei zu veranlassen, der griechischen Nation noch
sehr fern lag und daß die griechischen Sklaven fast ausschließlich überwundene
oder gekaufte Angehörige fremder Völker waren, die der Heitere ebenso als von
Natur sich untergeordnete und zur Knechtschaft bestimmte Geschöpfe betrachtete,
wie der heutige Sklavenhalter im Lande der Freiheit die schwarzen Parias
äthiopischen Stammes. Jede spätere Generation wuchs in der vorgefundenen
Annahme einer wirklichen Rassenverschiedenheit auf. und da der freie Bürger
gerade der damit beschäftigten Sklaven willen jede Handarbeit haßte und seine
ganze Zeit darauf verwandte, den öffentlichen Versammlungen beizuwohnen,
die Redner anzuhören, sich in den Gymnasien zu üben und Feste mit zu feiern,
so wäre es ihm wohl noch viel schwerer gefallen, seine Sklaven frei zu geben,
als dem amerikanischen Plantagenbcsitzer; denn wo hätten in Hellas die freien
Arbeiter und Diener herkommen sollen? — Selbst die bedeutendsten Philosophen
vermochten die Frage über die Rechtmäßigkeit des Sklavenstandes nicht Vor¬
urtheilslos zu erörtern. Denn zwar hatten Einige, wie Aristoteles berichtet,
schon richtig behauptet, daß es nur dem Gesetze nach Sklaven geben könne,
keineswegs aber der Natur nach, die keinen Unterschied zwischen Freien und Un¬
freien mache, und in einem Fragmente des Komikers Philemon heißt es: „Auch
wenn Jemand Sklave ist, besitzt er dasselbe Fleisch und Blut; denn auf der
Natur Geheiß wird Keiner je ein Sklave, sondern Fortuna würdigt seinen Leib
dazu herab;" allein Platon, der in seiner Republik freilich nur die letzten
Konsequenzen zieht, die sich aus der griechischen Staatsidee ergeben, und
von seinem aristotelischen Standpunkt aus den ganzen dritten Stand vom
eigentlichen Staatsleben ausschließt, setzt das Sklavenelement ohne Bedenken
als nothwendig voraus und findet es recht, daß für Freie und Sklaven ver¬
schiedene Gesetze existiren. Daß Aristoteles dasselbe thut, ist ebensowenig zu
verwundern, da sich seine ganze Philosophie an das Vorhandene, Empirische,
durchgängig anschmiegt. Indem er eine besondere Sklaventugend annahm, die
ebenso wie die des Weibes und des Kindes von der des Mannes verschieden
wäre und überhaupt die moralische Tugend von der natürlichen Bestimmung,
über Andere zu herrschen, abhängig machte, gelangte er von falscher Voraussetzung
zu falschem Schlüsse und behauptete endlich ebenfalls der allgemeinen Ansicht
seiner Landsleute gemäß, daß die Hellenen, vermöge ihrer größern geistigen
Regsamkeit zum Herrschen bestimmt, nie rechtmäßig zu Sklaven werden könnten,
wohl aber die Barbaren, die nur unter sich freigeboren wären, den Griechen
gegenüber sich ins Joch beugen müßten. Daher nennt er auch den Sklaven
ein „beseeltes Werkzeug", jedes Werkzeug einen „unbeseelten Sklaven", und
sagt, daß sich letzterer hinsichtlich des Gebrauches wenig vom Hausthier unter¬
scheide. Freilich — jund das muß man ferner zur Entschuldigung des Alter¬
thums in Anschlag bringen — war auch das Staatsleben, wie es in Hellas
war und wie es nach Platonischen und Aristotelischen Ideen sein sollte, nur
unter Voraussetzung der Sklaverei möglich, und ohne dieselbe wäre vielleicht
die volle Harmonie des griechischen Wesens in der Geschichte gar nicht zur Er¬
scheinung gekommen. Es war, wie schon angedeutet, nothwendig, daß der
Bürgerstand den Handwerksarbeiten und damit zugleich der den Geist nieder¬
drückenden, den Körper ermattenden Mühe um des Lebens Nothdurft entnom¬
men war, damit der zur Theilnahme an der öffentlichen Gewalt berechtigte
freie Bürger in voller Unabhängigkeit sich um die Angelegenheiten des Staates
kümmern konnte. Dadurch ist natürlich die Sklaverei keineswegs gerechtfertigt;
denn auch bei uns gibt es überall eine auf die niedern Arbeiten des Lebens
angewiesene Klasse, die vor dem Gesetze dennoch mit den Andern auf gleicher
Stufe der Berechtigung steht (wenn sich auch sonst ihr Loos in Wirklichkeit
wenig von dem der Sklaven unterscheidet!»; aber man kann einmal nicht dem
Nativnalstolze der Hellenen etwas zumuthen wollen, das bei den christlichen
Völkern so viele Jahrhunderte gebraucht hat, um zur vollen Anerkennung zu
gelangen, während es doch klar im Principe der Religion gelegen hat. Außer¬
dem ist ja der Zustand der aus der Leibeigenschaft Entlassener noch heute in
manchen Ländern, z. B. in den deutschen Ostseeprovinzen Rußlands, beinahe
noch erbärmlicher als früher, wo sie wenigstens lvor dem Hungertode ge¬
schützt waren.
Es herrschte unter den Griechen selbst die Annahme, daß es einst eine Zeit
gegeben habe, wo die Sklaverei noch nicht eingeführt war. Herodot erwähnt
ausdrücklich, das; vor der Zeit der Vertreibung der Pelasger die Athenerinnen
sich noch selbst zum Wasserholen bequemt hätten, weil ihnen die Sklaven fehl¬
ten, und Pherekrates, ein Vorgänger des Aristophanes, bezeugt es ebenfalls,
daß in der frühesten Zeit die Weiber das Getreide auf der Handmühle mahlen
und alle häuslichen Arbeiten selbst verrichten mußten. Ja der freilich schon
von seinen Recensenten im Alterthume der Kritiklosigkeit bezüchtigte Sicilier
Timäus erzählt, die Lokrer und Photer hätten bis auf die macedonische Zeit
keine Sklaven gehabt und die Frau des als Anführer im sogenannten heiligen
Kriege berühmt gewordenen Philomclos habe sich zuerst auf ihren Ausgängen
von zwei Sklavinnen begleiten lassen., Aber von diesen angeblichen Ausnah¬
men abgesehen muß man die Entstehung der Sklaverei in Griechenland sehr
weil zurück, vielleicht in die Periode der Rohheit und Unsicherheit setzen, die
zwischen dem patriarchalischen Pelasgcrthume und dem heroischen Zeitalter in
der Mitte lag. Denn in dem letzteren, wie es von Homer geschildert wird,
war das Sklavenwesen schon allgemein verbreitet. Der Dichter rechnet eine
große Anzahl Sklaven zu den Kennzeichen eines reichen Mannes und theilt
dem Hause des Odysseus 50 Sklavinnen zu, von denen zwölf täglich in der
Mühle beschäftigt sind und zwanzig aus einmal Wasser holen. Die Mehrzahl
dieser unfreien Dienerschaft waren allerdings Kriegsgefangene, und dieses
Schicksal traf gewöhnlich Weiber und Kinder, da die Männer, die nicht im
Kampfe sielen, meist erschlagen wurden; aber es wurde auch bereits Handel
und Tausch mit Menschen getrieben. Handel und Schiffahrt der damaligen
Phönicier und Griechen war noch größtentheils Freibeuterei, und die aus fernen
Ländern geraubten Thiere und Menschen wurden nach andern gebracht und
vertauscht. Dieses Loos hatte die Wärterin des Odysseus Eurykleia gehabt,
für welche Laertes zwanzig Rinder zahlte, und der treue Eumäos, ursprünglich
ein Königssohn. Auch im Lager von Troja tauschten die Griechen schon
Sklaven gegen Wein und andere Bedürfnisse. Die Behandlung, die nach
Homer den Sklaven zu Theil ward, ist mild und human und bildet einen grellen
Contrast zu der geringschätzigen und drückenden von Seiten der spätern, be¬
sonders der römischen Herren. Der Abstand zwischen den Freien und Sklaven
war trotz der Rechtlosigkeit der letzteren doch keine große Kluft. Es herrschte
ein freundliches und ziemlich vertrautes Verhältniß zwischen Herrn und Die¬
nern, und oft nähert sich die Stellung des Sklaven dem eines Familienglieds.
Die Frau des Hauses sitzt mitten unter ihren Sklavinnen, die sie durch ihre
Unterhaltung aufheitern, läßt sich von den älteren ganz herzlich „mein Kind"
anreden und nennt sie dagegen „Freundinnen" und „Mütterchen". Die Prin¬
zessin Nausikaa wäscht mit ihren Sklavinnen zusammen Kleider, nimmt in ihrer
Gesellschaft ihr Mahl ein und spielt mit ihnen Ball. Odysseus und Telemach
lassen sich bei der Begrüßung von den Dienern und Dienerinnen freundschaft¬
lich auf Haupt und Schultern küssen. Der Sauhirt Eumäos, wie der Rinder-
hirt Philoitivs, wird in Anerkennung seiner persönlichen Tüchtigkeit „der gött¬
liche" genannt und beide erhalten von Odysseus das Versprechen: „Ich will
euch ein Weib und Güter zum Eigenthum geben und euch in meiner Nähe
Häuser bauen und ihr sollt mir Freunde und Brüder meinem Telemach sein."
Die Treue und Pflichterfüllung der Sklaven ist überall rühmlich und von
Strafen werden nur zwei Fälle erwähnt, wo der an dem Herrn verübte Ver¬
rath mit dem Tode bestraft wird. Neben den eigentlichen Sklaven noch Leib¬
eigene bei Homer nachzuweisen, wie sie in späterer Zeit als Unterthanen der
herrschenden Bevölkerung sich in verschiedenen Ländern vorfinden, ist nicht
möglich, und es fällt nicht unwahrscheinlich deren Entstehung erst in die Zeit
nach dem trojanischen Kriege, besonders in die Zeit der dorischen Wanderungen
und Eroberungszüge. Denn man findet sie besonders da, wo dorische Stämme
sich eingedrängt haben. Am bekanntesten in dieser Beziehung ist der leibeigene
Bauernstand Lakoniens, die Heloten. Sie werden von einigen alten Schrift¬
stellern als Staatssklaven bezeichnet und insofern nicht mit Unrecht, als sie
vom Staate den Einzelnen zum Gebrauch überlassen wurden, ohne daß die
Besitzer das Recht hatten, sie zu verkaufen, freizulassen oder vom Gute zu
trennen. Der Staat benutzte sie auch in Kriegszeiten als Schildknappen, Tro߬
knechte und Leichtbewaffnete. Von dem Ertrage der Aecker hatten sie den
Herren eine Abgabe von ungefähr 82 preußischen Scheffeln Gerste für jedes
Ackerlvvs und eine verhältnißmäßige Quantität Oel und Wein abzuliefern.
Wieviel ihnen selbst dann geblieben, läßt sich nicht ermitteln, da man weder
die Größe der unter sich gleichen Güter, noch die Zahl der sie bearbeitenden
Leibeigenen kennt. Aber es war mit einem Fluche belegt, mehr von ihnen zu
verlangen, und daß sie etwas erübrigen konnten, sieht man daraus, daß der
König Kleomenes der Dritte 760,000 Thlr. zusammenbrachte, als er im Kriege
gegen Antigonus allen Heloten die Freiheit gab, die 125 Thlr. erlegen konnten.
Nichtsdestoweniger war die Lage der Heloten im Allgemeinen eine sehr gedrückte
und ihr Verhältniß zu den scharf von ihnen geschiedenen Spartiaten ein fort¬
während gespanntes, ja feindseliges. Plutarch sagt, in Sparta sei der Freie
am meisten frei und der Sklave am meisten Sklave gewesen. Die Staatsge¬
walt wachte ängstlich darüber, daß die Leibeigenen in Sitte und Verhalten
innerhalb der peinlich vorgeschriebenen Grenzen blieben, und scheute kein Mittel,
ihre Herrschaft über die den Spartanern zwanzigfach überlegene Mehrzahl zu
behaupten. So ließ man die jungen Leute vor ihrem Eintritt in den Kriegs¬
dienst unter den Waffen das Land durchstreifen, von versteckten Schlupfwinkeln
aus das Thun und Treiben der Heloten beobachten und Gesetzwidrigkeiten
augenblicklich ahnden. Noch schlimmer ist, was Thukydides aus der Zeit des
peloponnesischen Kriegs erzählt, wo die Heloten und Messcnier sich mehrmals
empört hatten. „Die Lakcdämonier", sagt er, „die immer mit einer Menge
Sicherheitsmaßregeln gegen die Heloten beschäftigt waren, hatten nun sogar
aus Furcht vor der rüstigen Jugend und der Ueberzahl derselben zu folgendem
Mittel ihre Zuflucht genommen. Sie ließen bekannt machen, daß sie diejeni¬
gen, die sich anheischig machten, am tapfersten wider den Feind zu kämpfen,
aussondern wollten, um ihnen die Freiheit zu geben. Dies geschah aber, um
sie zu versuchen, indem die Lakedämvnier überzeugt waren, daß jeder, der sich
der Freiheit vorzüglich werth achtete, auch den meisten Muth haben würde,
Hand an seineu Herrn zu legen. Sie wählten also zweitausend, die, mit
Kränzen geschmückt, nach verschiedenen Tempeln zogen, als ob man ihnen die
Freiheit geschenkt hätte. Nicht lange nachher aber wurden sie alle heimlicher'
Weise aus dem Wege geräumt, und Niemand erfuhr, was aus ihnen geworden
war," Gleich den Heloten waren auch die alten Landeseinwohner auf Kreta
von den dorischen Siegern geknechtet worden. Die Alten theilen dieselben in
zwei Klassen, die Klaroten oder Aphamioten, welche, wie die Heloten, die den
Privaten zuertheilten Ländereien bebaute», und die Mnoiten, welche auf den
beträchtlichen Staatsdomänen arbeiteten und wie die früheren russischen Do¬
mänen- oder Kronbauern ein erträglicheres Loos hatten. Nach Strabo hatten
auch die megarisch-dorischen Erbauer des Pontischen Hcraklea die dort hausenden
Mariandyncr zu einem hörigen Verhältniß gezwungen und verkauften sie auch
unter sich, jedoch nicht aus dem Lande. Verhältnißmäßig am besten aber
scheinen sich die Penesten gestanden zu haben, äolische Einwohner Thessaliens,
die sich den unter heraklidischen Fürsten eindringenden thesprotischen Thes¬
saliern unter der Bedingung ergeben hatten, daß sie von den Siegern nicht
außer Landes geschafft und nicht getödtet werden sollten; dagegen entrichteten
sie eine bestimmte Abgabe von dem Lande, das sie bebauten. Wie der Ge¬
schichtschreiber Archemachus aus Euböa behauptet, waren viele Penesten reicher
als ihre Herrn. Außerdem gab es noch in Sikyon, Argos und Byzanz leib¬
eigene an die Scholle gebundene Sklaven. In Attika und im übrigen Griechen¬
land fehlt diese Klasse ganz, und die Sklaven waren dort immer freies Besitz-
thum, das von einer Hand in die andere überging. Während aber in den
nachhomerischen Zeiten das Bedürfniß nach Sklaven stieg, nahm die Zahl der
Befehdungen und damit die der Kriegsgefangenen ab. In den Kriegen der
Griechen untereinander wurde es ferner bald stehende Sitte, die Gefangenen
gegen Lösegeld frei zu geben, weil sich das Nationalgefühl sträubte, Angehörige
desselben Stammes zur Dienstbarkeit zu erniedrigen. Diese Rücksicht wurde nur
in Fällen besonderer Erbitterung aus den Augen gesetzt, wie während des
peloponnesischen Krieges zwischen Athen und der Insel Samos. wo die Athener
den kriegsgefangenen Saltnern ihr Stadtwappen, die Eule, auf die Stirn brann-
den, die Samier dagegen den Athenern ein! Schiff, In einigen, durch das Staats¬
oder Privatrecht bedingten Fällen konnte freilich in Athen selbst der Freigeborenc
leibeigen werden, z> B. der aus der Kriegsgefangenschaft Losgekaufte, wenn er seinem
Befreier das Lösegeld nicht zurückzahlte, der Fremde, der sich ins Bürgerrecht
eingeschlichen hatte, der Schutzgenosse, wenn er die Abgaben nicht zahlte, der
Freigelassene, wenn er die seinem Patrone schuldigen PietätSpflicbten verletzte.
Die Knechtung und der Verkauf des armen und verschuldeten Volkes von Sei¬
ten der reichen, vornehmen Gläubiger war durch die solonische Gesetzgebung
gründlich beseitigt worden. Außer den genannten Fällen wurden in der histo¬
rischen Zeit alle Sklaven, die außer den im Lande geborenen nöthig waren, um
das Bedürfniß zu decken, aus barbarischen Ländern importirt. Die Insel Chios
'hatte im Alterthume den zweifelhaften Nuhm, am frühesten regelmäßigen Skla¬
venhandel getrieben zu haben. Dort wurden auch die Güter von gekauften
Barbaren bestellt, und die üppigen und reichen Insulaner hatten ihren Ueberfluß
an solcher Bevölkerung später schwer zu bereuen. Schon während des pelopon-
nesischen Krieges gingen die chiischcn Sklaven zahlreich zu den Athenern über
und thaten ihren Herrn besonders wegen ihrer Ortskenntnis) großen Schaden.
Auch später brauchte der ätherische Söldnerführer Jphitratcö nur im benachbar¬
ten Mitylene zu äußern: er müsse eine Menge Schilde anfertigen lassen, um
sie den Sklaven der Chier zu senden, als die Insulaner in Furcht geriethen,
ihm Geld schickten und ein Bündniß schlössen. Die von den Chicrn aber längst
gefürchtete Gefahr einer allgemeinen Empörung erschien endlich nach der Zeit
Alexanders des Großen. Damals stellte sich ein gewisser Drimatos an die
Spitze der entlaufener Sklaven und spielte die Rolle eines Toussaint-Lvuver-
ture mit vielem Glücke. Die Chier wurden in allen Gefechten geschlagen und
mußten sich endlich vertragsweise gefallen lassen, daß der Stlavenhauptmann
aus den Magazinen so viel, als er brauchte, entnahm, wogegen er versprach, alle
Sklaven, die ohne triftigen Grund entlaufen würden, ihren Herren zurückzusen¬
den. Unter seinen Leuten hielt er die strengste Zucht. Als er aber alt wurde,
ließ er sich von einem Günstling das Haupt abschlagen, um ihm den auf dasselbe
gesetzten Preis zuzuwenden. Nach seinem romantischen Ende litten die Chier
wieder schweren Schaden von den Sklaven und verehrten schließlich den verkann¬
ten Drimakvs als einen gegen Sklavenhinterlist schützenden Halbgott. Nach
Nikolaus aus Damaskus und Posidonius wurden die Chier endlich von Mithri-
dat dem Großen alle zu Sklaven gemacht und gebunden ihren eigenen Sklaven
überliefert, um nach Kaukasien (Kolchis) transportirt zu werden. Athenäus sieht
darin nur eine göttliche Vergeltung für die abscheuliche Erfindung des Sklaven¬
handels. In der Zeit des gesunkenen Hellas erhob sich außerdem das heilige
Eiland Delos zu einem Hauptstapelplatze des Sklavenhandels. Strabo erzählt,
daß durch die Sorglosigkeit der klinischen und syrischen Könige in jenen Ge-
gerben sich die Seeräuberei gemehrt habe, daß der große Gewinn, den sie aus
dem Menschenhandel zogen, außerordentlich verlockend für die Flibustier gewesen
sei, daß die Könige von Aegypten, Cypern und die Rhodier, zum Theil aus
Feindschaft gegen die Syrer diesem Handwerke durch die Finger gesehen und
da,ß die Römer sich wenig um das gekümmert hätten, was jenseit des Taurus
vorging. Auf diese Weise wären oft an einem einzigen Tage Myriaden gekauft
und verkauft worden und der Adhad hätte so leicht stattgefunden, daß es zum
Sprichwort ward: „Auf Delos landen, abladen und verlaufen ist Eins." In
Kleinasien waren es vorzüglich die Provinzen Lydien, Phrygien, Mysien, Pa-
pblagonicn, Kappadokier, welche die Sklaven lieferten; außerdem Thrakien und
die nördlichen skythischer Länder. Natürlich war auch der Sklavenmarkt in Athen
ein vielbesuchter. Die Orte selbst hießen, wie überhaupt die einzelnen Abthei¬
lungen des athenischen Marktes: „Ringe", und wir bekommen eine Vorstellung
von ihnen aus einem Fragmente Menandcrs, wo es heißt: „bei den Göttern,
fast kommt es mir vor, als sehe ich mich schon in den Ringen ausgekleidet,
im Kreise herumlaufen und verhandelt werden." Wie in Rom machte auch
hier das Gesetz den Händler für bedeutende Fehler und Gebrechen verantwort¬
lich. Der Streit wurde nach Platon von Aerzten verhandelt, die die Parteien
mit gegenseitiger Uebereinstimmung wählten, und wenn der Beklagte des absicht¬
lichen Betrugs überführt wurde, so mußte er das Doppelte des Kaufpreises,
sonst nur die erhaltene Summe bezahlen. Der Markt war in Athen aber kein
stehender, sondern wurde, wie unsere Jahrmärkte in längeren Zwischenräumen
und zwar, wie es scheint, jedesmal am letzten Monatstage gehalten, an welchen
Terminen überhaupt ein größerer Geschäftsverkehr herrschte, da die Landbewohner
sich an denselben in großer Zahl einstellten. In den „Rittern" des Aristophanes heißt
es an einer Stelle: „Dieser kaufte am vergangene» Neumonde einen Sklaven,
einen paphlagonischen Gerber, und in Alkiphrons Briefen erzählt Jemand, daß
er des Kauftags wegen einen Sklaven „Neumond" getauft habe. Ein vielbe¬
suchter Stlavcnmarkt scheint auch in den am südlichen Lorgebirge Attika's lie¬
genden Städtchen Sunium abgehalten worden zu sein. Wenigstens sagt der
Parasit Phvrmio bei Terenz zur Ausrede, er wolle nach Suuium auf die
Messe gehen, um eine Sklavin zu kaufen. Wer zur Strafe in die Sklaverei
verkauft wurde, den versteigerte wahrscheinlich ein Herold, und wie es dabei zu¬
ging, läßt sich vielleicht aus der scherzhaften Philosophenvcrstcigerung Lutians
erkennen. Die Preise waren je nach dem Werthe des Artikels sehr verschieden.
Xenophon sagt in den Denkwürdigkeiten des Sokrates: „Unter den Sklaven ist
mancher zwei Minen (50 Thlr.) werth, mancher nicht einmal die Hälfte, man¬
cher fünf Minen (125 Thlr.), mancher auch zehn; Niklas soll für einen Auf¬
seher in den Silberbergwerken gar ein Talent (1500 Thlr.) gezahlt haben."
Ebenso heißt es bei Platon: „Einen Handwerkssklaven kauft man für fünf
oder höchstens sechs Minen, einen Baumeister wohl kaum für tausend Drachmen
(— 100 Minen oder 2500 Thlr.)." Demosthenes veranschlagt die Stahl¬
klingenarbeiter seines Vaters aus je drei bis fünf Minen, die Bettgestellmacher
aber nur auf durchschnittlich zwei. Hetären und Citherspielerinnen werden bei
Piautus und Terenz mit 500^700 Thalern bezahlt, und auch die durch Demo-
sthenes berüchtigt gewordene Abenteuerin Neära wurde von der Kupplerin für
750 Thlr. verkauft. Neben den gekauften Barbaren, die Platon „unbestreit¬
bare Sklaven" nennt, gab es natürlich noch viele von Sklavinnen geborene
Sklaven. Die meisten derselben mögen wohl aus dem Umgange der Sklavin¬
nen mit Freien entstanden sein; doch waren auch Sklavenehen erlaubt, wenn
die Herren nichts dagegen einzuwenden hatten. Der Zahl nach besaß Attika
nicht die meisten Sklaven, sondern nächst den Chiotcn kamen nach Aristoteles
die Aegineten mit 470.000, dann Korinth mit 460,000 Sklaven. Ueber Athen
berichtet Athenäus nach dem Annalisten Ktesikles, daß eine von Demetrius
Phalereus 309 v. Chr. angestellte Volkszählung: 21000 Bürger, 10000
Schutzgenossen und 400,000 Sklaven ergeben habe. So fällt es denn gar
nicht auf, daß im pelcponnesischen Kriege auf einmal 20000 Sklaven nach dem
von den Spartanern besetzten Dekeleia entliefen. Zur Bedienung und zu den
Verrichtungen, die heutzutage gemiethetes Hausgesinde übernimmt, haben die
Griechen im Ganzen nicht so viele Individuen verwendet, als die Römer. Wie
viele der Anstand ungefähr erforderte, ist aus einzelnen Stellen ersichtlich. Der
Verräther Aeschines z. B. will seine Unbestechlichkeit dcuthun, indem er in
einem Briefe schreibt: „Nachdem ich soviele Talente als Miethling Philipps und
dann Alexanders und als Verräther der Phokcr und der griechischen Freiheit
hatte einnehmen müssen, sitze ich hier mit sieben Sklaven." Beim Ausgehen
ließen sich die Männer gewöhnlich von einem Diener begleiten, den ängstliche
Herren sich voraus gehen ließen! Eine größere Anzahl war auffallend und
Demosthenes wirft es deshalb seinem Feinde Midias vor, daß er mit einem
Gespanne weißer Sikyonischer Rosse fahre und mit drei oder vier Bedienten
über den Markt fege. Die Frauen begnügten sich dagegen gar nicht lange
mit der ihnen auf ihren seltenen Ausgängen gestatteten einen Dienerin. Plu-
tarch erzählt, daß Phokions Frau sich nur von einer Sklavin begleiten ließ und
daß deshalb einst ein Athener, der die Ausstattung des dramatischen Chors zu
besorgen hatte, im Streite mit einem Schauspieler, welcher für seine Weiber¬
rolle eine große Zahl von Begleiterinnen verlangte, laut im Theater ausrief:
„Siehst du nicht, daß Phokions Frau immer nur mit einer Sklavin ausgeht?
Du verdirbst nur die Weiber und machst sie üppig!". Das Publicum nahm
diese Improvisation mit großem Applause aus. Hundert Jahr später hatte
man sich längst über derartige Einfachheit hinweggesetzt. In einem Stücke des
ungefähr 270 v. Chr. lebenden Dichters Machon heißt es von einer ziemlich
lockeren Dame: „Während des Festes begab sie sich in den PirSus hinab zu
einem fremden Kaufmanne, in ärmlichem Aufzug, auf einem Maulesel mit drei
Eselchen, drei Dienerinnen und einer jungen Amme." In den kleinasiatischen
Städten und während der Römerherrschaft auch in Griechenland war die Zahl
der begleitenden Zofen und Eunuchen eine noch viel bedeutendere. Für be¬
sondere Geschäfte in größeren Häusern waren ferner als Diener angestellt: erstens
der Haushofmeister, zuweilen auch eine Schaffnerin. Sie hatten den ganzen Haus¬
halt unter sich, gaben das Nöthige aus den Vorratskammern her und hielten
die Thüren derselben nach griechischer Sitte unter Siegel. Dann gab es noch
besondere Einkäufer für den Markt, da es sich für die Hausfrau keineswegs
ziemte, zum Krämer oder Victualienhändler zu geben. Doch fand sich das
Amt des Einkäufers nur in wenigen Häusern von Sklaven besehe: im Allge¬
meinen galt es als Negel, daß der Mann selbst einkaufte, und ein gewisser
Lynkeus von Scunos hatte sogar eine Anleitung für Herren geschrieben, wie man
sich beim Einkäufe vorSchaden schützen könnte! Endlich bediente man sich natürlich der
Sklaven als Mundschenke, Pädagogen, Wasserträger, Thürhüter, auch Weber,
Sticker u. s. w. Zu der männlichen Dienerschaft kam ein ansehnliches Per¬
sonal von Sklavinnen hinzu, das zum Reinhalten des Hauses, zur Wartung der
Kinder, zur Fertigung vieler häuslichen Bedürfnisse, die wir fertig zu taufen
Pflegen, zum Mahlen und endlich zur speciellen Bedienung der Hausfrau nöthig
war. An der Spitze der Zofen stand die eigentliche Kammerjungfer, gewöhnlich
eine im Hause geborene und auferzvgene jüngere Sklavin. Eigentliche Luxns-
stlavcn, Musiker, Tänzer und Schauspieler singen die Griechen erst an sich zu
halten, als römische Sitte bei ihnen Eingang gefunden hatte. Wohl aber
kauften sich reichere Leute zum Staate Neger und Eunuchen. Theophrast rech¬
net es zu den charakteristischen Merkmalen eines in kleinlichen Dingen ehrsüch¬
tigen Menschen, wenn Jemand Sorge dafür trage, baß ihn ein Schwarzer aus
der Straße begleite, und im Eunuchen des Terenz sagt der Liebhaber zu der
Buhlerin: „Hast Du je bemerkt, daß meine Freigebigkeit Grenzen habe? Habe
ich Dir nicht sofort auf Deinen Wunsch ein Mädchen aus Aethiopien geschafft?
Dann wolltest Du einen Eunuchen haben, weil blos große Herrschaften solche
halten: ich habe einen gefunden und gestern für beide 20 Minen gezahlt." —
Eine große Anzahl der attischen Sclaven bearbeitete nun wohl auch unter
Aufsehern, die ebenfalls Sklaven waren, die Landgrundstücke ihrer Herren.
Aber dennoch würden alle die genannten Verrichtungen nicht hinreichen, die
große Sklaveusumme im Ganzen zu erklären, wenn nicht der größere Theil als
Handwerker und Taglöhner beschäftigt gewesen wäre. Die Griechen waren eben
als Sklavenhalter mehr auf den Nutzen bedacht und auf die Zinsen, die der
Kaufschilling tragen mußte, als die Römer, für welche die Sklaven größtentheils
der Eitelkeit und Bequemlichkeit wegen da waren. Deutlich spricht dies Athc-
naus aus, wenn er sagt: „Sehr viele Römer besitzen 10000 und 20000 und
noch mehr Sklaven, nicht der Einkünfte halber, sondern meistens, um sich damit
öffentlich zu zeigen." Selbst der arme Bürger zu Athen suchte sich einen Skla¬
ven zu erschwingen, der ihn in seinem Handwerke als Geselle unterstützte und
vertrat. Ja jener arme Krüppel, für den der Redner Lysias eine launige Ver¬
theidigungsrede fertigte und der vom Staat täglich einen Obolos (15 Pf.) Un¬
terstützung erhielt, klagt darüber, daß er sich noch keinen Sklaven habe kaufen
können, der das Handwerk für ihn selbst treibe! Viele Griechen legten nun aber
auch für solche Gewerbe, die ein größeres Capital zur Anschaffung des Mate¬
rials erforderten, Fabriken an und ließen, oft ohne etwas vom Geschäfte zu
verstehen, ihre Sklaven unter Aufsehern für ihre Rechnung arbeiten. So war
es bei dem älteren Demosthenes der Fall, auch Lysias und sein Bruder Pole-
march beschäftigten 120 Sklaven in einer Schildfabrik. Wie schon erwähnt
hatten die 32 Stahlarbeiter des Demosthenes durchschnittlich 4 Minen — 100
Thlr., also im Ganzen 3200 Thlr. im Ankaufe gekostet. Der Redner rechnet
nun in der ersten Rede gegen seinen ungetreuen Vormund Aphobos aus, daß
diese Fabrik jährlich 30 Minen ----- 750 Thlr. Nettogewinn abwarf, also über
23 Procent. Die 20 Sklaven der Bettgcstellfabrik hatten einen Preis von 40
Minen ----- 1000 Thlr. gehabt und ergaben 12 Minen Gewinn ----- 30 Procent.
Auf diese Weise gelangten Viele zu Reichthum, wie auch z. B. der Vater des
Jsokrates durch eine Flörenfabrik so viel Vermögen erwarb, daß er die Kosten
der Staatslcistungen tragen und seinen Söhnen eine anständige Erziehung
geben konnte. Am meisten rentirte der Grubenbetrieb durch Sklaven. So be¬
schäftigten der reiche Niklas 1000, ein gewisser Hipponitus 600, Philemonides
300 theils in den Silbergruben Lauriums, theils am Pangäus in Thrakien, und
Xenophon meint, daß überhaupt viele Myriaden Sklaven auch von Seiten des
Staats vortheilhaft in den Bergwerken beschäftigt werden könnten. Man blieb
aber bei der eigenen Ausnutzung der Menschenkräfte nicht stehen, sondern wu¬
cherte mit dem Capitale und zwar aus bequemere und sichrere Weise noch wei¬
ter, indem man die Sklaven gegen einen höheren oder geringeren Zins je nach
dem Grade ihrer Brauchbarkeit vermiethete, wobei der Pachter natürlich die Zahl
stets voll erhalten mußte. So verdingte der genannte Niklas seine 1000 Berg¬
leute an den Thrakier Sofias gegen einen täglichen Zins von einem Obolos
für den Kopf. Es beträgt dies jährlich gegen 15200 Thlr. und ergibt also,
den Bergwerkssklaven 40 Thlr. werth gerechnet, gegen 38 Procent! Der Obo¬
los scheint überhaupt die gewöhnliche tägliche Abgabe von den Bergwerkssklaven
gewesen zu sein; denn wenn Hipponitus für 600 Mann täglich eine ganze Mine
und Philemonides für 300 eine halbe einnahm, so bleibt das Verhältniß ganz
dasselbe. Aber auch andere Sklavenbesitzer ließen sehr oft ihre Sklaven aus
eigene Faust sich nähren und sich, nach Art des früheren russischen Obroks, eine
bestimmte Abgabe zahlen. Timarchus, der Gegner des Aeschines, besaß 9—10
Schuhmachersklavcn, von denen ihm jeder täglich 2 Obolen und der Vorsteher
3 entrichtete. Auf -ähnliche Art nahmen solche Sklaven Ernten und Weinleser
in Pacht, vcrmietheten sich als Kutscher, Bediente und Handarbeiter jeder Art,
und auch die Tagelöhner, die nach Art unserer Eckensteher am Markte auf Ar¬
beit warteten, waren wohl größtentheils Sklaven. In derselben Weise lieh man
ferner dem Staat seine Sklaven zum Ruder- und Matrosendienst auf die Flotte.
Außerdem wurden in Schenken und Garküchen, selbst bei Krämern, Geldwechs¬
lern und Großhändlern die Geschäfte durch Sklaven besorgt und manche solche
Commis genossen großes Vertrauen und machten weite Reisen für ihre Herren.
Der Verdienst der auf eigene Rechnung arbeitenden Sclaven muß nach der Ar¬
beit verschieden gewesen sein und läßt sich nicht einmal annähernd bestimmen.
Die Philosophen Menedemus und Asklepiades sollen nach Athenäus als arme
Jünglinge vor den Areopag citirt und gefragt worden sein, wovon sie lebten,
ohne Vermögen zu besitzen. Da sei es den» an den Tag gekommen, daß sie
des Nachts sich bei einem Müller vermiethcten und für jedes Mal 12 Obolen
oder 2 Drachmen (>5 Sgr.) erhielten. Die Arbeit an der Hand- oder Stampf¬
mühle, der Schrecken auch der römischen Sklaven, war wohl beschwerlich und
wird selten freiwillig gesucht worden sein, aber im Allgemeinen ist doch anzu¬
nehmen, daß der Arbeitslohn eines fleißigen Sklaven die 4 Obolen des Kriegs-
soldcs überstiegen habe. Bei dieser Einträglichkeit des Sklavenbesitzcs war die
vom athenischen Staate erhobene Sklavenpcrsvnalsteuer von 3 Obolen für
den Kopf sehr mäßig. — Eine eximirte Stellung unter den Sklaven nahmen
die öffentlichen ein. Sie bewegten sich freier, eben weil kein Einzelner ihr Herr
war, hatten ihren besonderen Hausstand und wurden als Diener der öffentlichen
Beamten benutzt, als Herolde, Schreiber. Büttel, Henker, Gefangenwärter, Münz¬
arbeiter u. s. w. Zu ihnen gehörten auch die als Polizeiwache fungirenden
skythischer Bogenschützen, die Anfangs 300, dann l!00 und selbst 1200 Mann
stark waren. Nach Aristoteles machte sogar einst ein gewisser Diophantus den
Vorschlag, daß der Staat zur Beschaffung aller'Handwerksarbeiten für öffentliche
Zwecke Sklaven verwenden sollte, was aber nicht zur Ausführung kam.
Wenn ein neu gekaufter Sklave in das ätherische Haus trat, wurde
er zum Herde getragen, dort niedergesetzt und dann mit Datteln, Backwerk,
Mandeln, Feigen und Nüssen überschüttet. Da dieselbe Sitte beim Empfange
eines neuen Brautpaars herrschte, so könnte man leicht dies Symbol auf eine
angenehme und glückliche Zukunft des armen Burschen zu deuten geneigt sein.
Es galt jedoch die gute Vorbedeutung, die man erzielte, nicht dem Sklaven,
sondern dem Hause, auf das der über ihn ausgeschüttete Reichthum gleichsam
herabträufeln sollte. Das Schicksal, welches ihn selbst erwartete, richtete sich
natürlich nach dem Vermögen, dem Bildungsgrade, der Gemüthsart des Herrn..
Im Allgemeinen aber zeichnete sich die Behandlung der Sklaven in Griechen¬
land vor der römischen vorteilhaft aus. und namentlich genossen die Athener,
wie in anderen Dingen, so auch dem Sklaven gegenüber des Rufs einer grö¬
ßeren Humanität, Aristoteles sieht in der Ungebundenheit der attischen Sklaven
eine Rückwirkung der freien Verfassung; viel zum vertraulicheren Verkehre
zwischen Herren und Sklaven, von dem die Komiker auf jeder Seite Belege
liefern, trug aber auch jedenfalls die größere Elasticität und Geschmeidigkeit
des ionischen Stammcharakters bei und nebenher die Furcht vor Empörung
hei starkem Drucke. Die Geschwätzigkeit der griechischen Sklaven bildet einen
grellen Gegensatz zum stummen Gehorsam der römischen. Demosthenes sagt
zu seinen Mitbürgern: „Ihr glaubt ja auch sonst, daß die Freimüthigkeit im
Reden allen Einwohnern des Staats gemeinsam sein müsse und laßt daher so¬
wohl die Fremden als auch die Sklaven an derselben Theil nehmen, und man
kann wohl bei euch viele Sklaven finden, die mehr Freiheit haben, zu reden
was sie wollen, als bei einigen andern Staaten die Bürger selbst". Wie ganz
anders klingt, was Seneca in einem Briefe schreibt: „Die unglücklichen Skla¬
ven dürfen nicht einmal zum Sprechen die Lippen rühren! durch die Ruthe
wird jedes Murmeln im Zaume gehalten, und nicht einmal zufällige Dinge
sind von Schlägen ausgenommen; wie Husten, Niesen, Schluchzen; hart wird
jeder die Stille unterbrechende Laut gebüßt, und so stehen sie nüchtern und
stumm die ganze Nacht hindurch." Die Namen der griechischen Sklaven be¬
zeichneten entweder ihre Herkunft und Nation oder es waren wirklich griechische.
Nur gewisse Namen, denen Religion oder Geschichte eine höhere Bedeutung ver¬
liehen hatte, scheute man sich den Sklaven beizulegen, z. B. die der Freiheitshelden
Harmodios und Aristogeiton. Auch in ihrer äußeren Erscheinung unterschieden
sie sich nicht von dem freien Handwerker. Wie die ganze arbeitende Klasse
trugen sie einen Chiton oder Leibrock, der nur ein Armloch für den linken Arm
hatte, während der rechte und die Hälfte der Brust vollkommen unbedeckt blieb;
dazu kam eine eiförmige Leder- oder Filztappc und im Winter Schuhe. Nur
am kurz geschorenen Haupthaar erkannte man den Sklaven, während der attische
Bürger je nach seinem Geschmacke und der Mode das Haar bald länger, bald
kürzer geschnitten oder gelockt trug. Es war ferner keinem Freien erlaubt,
einen fremden Sklaven zu schlagen, und ans die von dem Herrn deshalb an¬
gestellte Criminaltlage konnte der Schuldige in schwere Geldstrafe verurtheilt
werden. Auch insofern war die Gesetzgebung mild gegen die Sklaven, als
sie im Gegensatze zu der römischen dem Herrn nicht erlaubte, seine Sklaven
zu tödten. „Selbst diejenigen, welche ihre Herrn ermordet haben", sagt
der Redner Antiphon, „sogar wenn sie auf frischer That ertappt werden,
können nicht von den Angehörigen getödtet werden, sondern werden nach un¬
seren Gesetzen der Obrigkeit übergeben." Dennoch genügte, wie aus einer
anderen Stelle desselben Schriftstellers erhellt, für den, welcher seinen Sklaven
getödtet hatte, die gewöhnliche Blutsühnnng durch Gehet und Opfer, Dann
kam den mißhandelten Sklaven auch das Asylrecht der Tempel zu Gute. In
Athen diente ihnen besonders der Tempel des Theseus als Zufluchtsstätte, und
sie konnten von dort aus darauf antragen, an einen andern Herrn verkauft
zu werden, Waren ihre Klagen freilich ungegründet, so wurden sie genöthigt
in das Haus zurückzukehren. Als die Spartaner im dritten messenischen Kriege
die in den Tempel Poseidons auf dem Vorgebirge Tänaron geflüchteten Heloten
herausgerissen und hingerichtet hatten, betrachtete man das bald nachher erfol¬
gende Erdbeben als eine Strafe für jene Versündigung, Endlich gab es in
manchen Staaten, wie in Thessalien, Trözen und Kreta, Sklavenfcste nach Art
der römischen Saturnalien, während welcher die Sklaven auch einmal die Rolle
der Herren spielen durften. Auch das seltene Vorkommen von Sklavenaufstän-
dcn im eigentlichen Griechenland spricht für ein erträglicheres Loos. Nur
einmal in der attischen Geschichte wird eine Empörung der lauriotischen
Grubensklaven erwähnt, die ihre Wächter niedermachten, das Fort von
Sunium eroberten und lange Zeit Mika brandschatzten. Aber trotz aller
dieser Einrichtungen zur Erleichterung des Sklavenjochs blickte dennoch auch
in Athen allenthalben die Geringschätzung der Person und die Mißachtung
der natürlichen Rechte deutlich durch. Selbst das Verbot, einen fremden
Sklaven zu schlagen, erklärt Xenophon nur durch die Rücksicht auf eine mög¬
liche Verwechselung der Freien mit Sklaven. Obgleich sie dem öffent¬
lichen Gottesdienste beiwohnen durften, so war ihnen doch durch ein Sv-
lonisches Gesetz der Besuch der Gymnasien und Ringsclmlcn verboten und
ebenso der Volksversammlungen. Hinsichtlich des Eigcnthumsrechtes war die
Willkür des Herrn ohne Schranken; er konnte den Sklaven verkaufen, ver¬
schenken, sogar verpfänden. Wenn ihm auch das Recht über Lehen und Tod
nicht zustand, so konnte er ihn doch züchtigen, wie er wollte. Und hinsichtlich
der Strafen machte selbst Platon grundsätzlich einen Unterschied zwischen Freien
und Leibeigenen. Zurechtweisung, sagt er, und Warnungen gehörten nur für
Freie, bei den Sklaven müßten strengere Mittel angewendet werden; noch deut¬
licher äußert sich Demosthenes in folgenden Worten: „Wenn ihr bei euch selbst
erwägen wollt, welcher Unterschied zwischen einem Sklaven und einem Freige¬
borenen sei, so werdet Ihr denselben hauptsächlich darin finden, daß bei den
Sklaven der Körper für alle Vergehungen büßt, bei Freien aber dieses Züch-
tigungsmittel nur im äußersten Falle zur Anwendung kommt." Schläge wur¬
den wohl am häufigsten ertheilt; auch Fußfesseln wurden oft angelegt, um das
Entlaufen zu hindern, und in den attischen Bergwerken sollen alle Sklaven ge¬
fesselt gearbeitet haben. Auch Halseisen und Handschellen wendete man der
Sicherheit wegen an. Eine Strafe dagegen war es, mit den Füßen in den
Block gelegt zu werden, und von noch schlimmerer Art war ein Holz, das fünf
Löcher für Hals, Hände und Füße hatte. Den Dieben und Läuflingen wurde
ein Zeichen auf die Stirn gebrannt, was natürlich die Inhaber später auf jede
Weise zu verbergen trachteten. Daher heißt es bei Diophilus von einem be-
trüglichen Fischhändler- „Er ließ sein Haar wachsen, als wäre es einer Gott¬
heit geweiht; dies war aber nicht der wahre Grund, sondern als Gebrannt-
markter trug er dasselbe als Vorhang der Stirn." Wenn ferner auch bei Mi߬
handlungen, die sie von Fremden erfuhren, der Herr das Recht der Klage hatte,
so war es für sie doch schmachvoll, daß ihnen alle Gegenwehr und Selbsthilfe
verboten war. Platon sagt im Gorgias: „Es kommt dem Manne nicht zu,
Beleidigungen zu erdulden, sondern nur dem Sklaven, für welchen der Tod
Wünschenswerther ist, als das Leben, weil er weder sich gegen Mißhandlungen
und Beleidigungen wehren kann, noch irgend einen Anderen dagegen schützen."
Noch weiter und am schimpflichsten wird ihre Rechtsunfähigkcit bezeugt durch
die Ungiltigkeit aller ihrer Aussagen vor Gericht, die nicht durch die Folter er¬
zwungen waren. Ja man legte diesen durch körperliche Qualen erpreßten
Sklavenaussagen eine größere processualische Beweiskraft bei, als den Zeug¬
nissen und Eiden freier Leute. Geradezu spricht dies der Redner Jsäus in den
Worten aus: „Wenn Sklaven und Freie vor Gericht stehen und es soll etwas
bei der Untersuchung herauskommen, so bedient Ihr euch nicht der Zeugnisse
der Freien, sondern foltert die Sklaven und sucht so den wirklichen Thatbestand
zu ergründen." Behauptet doch sogar Demosthenes irgendwo, daß gefolterte
Sklaven noch niemals einer unwahren Aussage überführt worden wären! Daß
für die Freien etwas sehr Herabwürdigendes in dieser Ansicht lag, scheint man
sonach gar nicht gefühlt zu haben. Die Verschiedenheit der Behandlung wirkte
natürlich auf die Sinnesart der Sklaven zurück, und daß erstere sehr verschie¬
den war. sieht man z. B. aus Platons Beschreibung: „Einige schenken dem
Sklavengeschlechte gar kein Vertrauen und bemühen sich, die Seelen der Leib¬
eignen durch Peitschen und Kunden der Natur der Thiere gemäß zu sklavischen
umzubilden. Andere thun von diesem Allen das Gegentheil." Die Folgen der
Behandlung schildert auch Xenophon, wenn er schreibt: Wenn ich dir nun zeige,
daß hier die Sklaven alle gefesselt sind und dennoch häufig entlaufen, dort aber
alle ledig und freiwillig arbeiten und bleiben: scheint dir dies nicht hinsichtlich
der Verwaltung des Hauswesens beachtungswerth zu sein? Aber wenn wir auch
annehmen müssen, daß Onkel Thoas Hütte bereits unter dem sonnigen Him¬
mel von Hellas gestanden hat, so gilt doch das von Seneca erwähnte Sprich¬
wort: „Soviel Sklaven, soviel Feinde", weniger von den Griechen, und selbst
Aristoteles mußte eingestehen, daß sich die Natur oft vergreife und den Skla¬
ven die edlere Natur der Freien schenke.
Freilassungen kamen in Griechenland nicht selten vor, am häusigsten durch
testamentarische Verfügung. Auch gelang es den Sklaven oft. so viel zu er¬
sparen, um die vom Herrn geforderte Summe erlegen zu können. Dann pflegte
eine öffentliche Bekanntmachung im Theater, in der Volksversammlung oder vor
Gerichts erfolgen, und die Freigelassenen traten in das Verhältniß der Meester
oder Schutzgenossen über, blieben aber in einem gewissen Abhängigkeitszustande
ihren Patronen gegenüber, dessen Verletzung sie in die Sklaverei zurückführen
konnte. Oft blieben sie auch im Dienste ihrer früheren Besitzer; oft mag aber
freilich eingetreten sein, was Demosthenes erwähnt: „Schlechte und undankbare
Sklaven Pflegen, wenn sie zur Freiheit gelangt sind, ihren früheren Herren
keinen Dank für ihre Freilassung zu zollen, sondern dieselben vielmehr vor allen
anderen Menschen zu hassen, als diejenigen, die darum wissen, daß sie im
Das Land der Bogos und seine Hafenstadt Massua hat unser Interesse
in den letzten Jahren zu wiederholten Malen auf sich gelenkt. Zunächst durch
die Berichte Werner Munzingers, der sich aus wissenschaftlichem Interesse
unter dem eigenthümlichen Volt niedergelassen hat. Dann als Operationsbasis
für die jetzt leider gestörte Expedition v. Heuglins nach Wadai. Endlich in
jüngster Zeit durch den Zug zur Jagd auf Elephanten und Nashörner, für
welchen cur deutscher Fürst, in dem orr zugleich einen deutschen Patrioten ver¬
ehrten, in Tagen, die sich anschicken wollten bedeutsam zu werden, Manchen
vielleicht unerwartet, Muße und Neigung empfand.
Die Reise zu den Bogos kann, wenn es eilt, und die nöthigen Mulet
zur Verfügung stehen, in etwa drei Wochen gemacht werden: bis Trieft führt
die Eisenbahn, von dort fahren die Lloyddampser in fünf Tagen nach Alexan-
drien, zwischen Alexandrien und Sues läuft wieder die Locomotive. und von yier
wird unsere Jagdgesellschaft ein von der englischen Negierung gestellter Steamer
über das Rothe Meer nach der Stadt MaMa bringen. Mit einem Ritt zu
Kameel oder zu Pferde, der sechs Tage in Anspruch nimmt, erreicht man von
da das Dorf Keren, den Hauptort des Bogoslandes.
Massua liegt in einer Bucht des Rothen Meeres, auf welche aus einer
Entfernung von ungefähr zwanzig Meilen der 7000 Fuß hohe Kamm der öst¬
lichen Gebirge von Habesch herabblickt, auf einer Insel, die den Türken gehört,
während die dahinter auf dem Festland gelegne Stadt Artito und die südlich
von hier wohnende Völkerschaft der Schvhv sowie die nördlich von da ange¬
siedelten Stämme der Beduan einem eingebornen Raid gehorchen, der jetzt fast
ganz unabhängig von der Pforte ist. Bewohner hat Massna etwa 5000, doch
wird diese Zahl durch fortwährend sich ablösende Karawanen aus Habesch
und dessen Nebeniändcrn im Sommer beinahe verdoppelt. Der Abstammung
nach ein Gemisch der Nachbarstämme der Schohv und Bednan mit zahlreichen
Ansiedlern aus seinen, Aegypten, Marokko, Habesch und Indien, sind sie mit
wenigen Ausnahmen Moslemin. Die Farbe dieses Volkes ist dunkel, die Phy¬
siognomie aber ganz kaukasisch. Wenig energisch, oft weichlich, sind die Leute
von maaßvvilcm, ruhigem Temperament, weder im Guten noch im Lösen zu
Excessen geneigt, von einem vorsichtigen, höflichen Egoismus, der, wo er auf
das Uebcrvortheilen ausgeht, seine Falschheit durch Schmeichelei verhüllt. Dem¬
zufolge tritt auch der Islam hier sanfter und liebenswürdiger auf als ander¬
wärts. Der arabische Fanatismus ist unbekannt. Schimpfen und lautes Ge¬
zänk verbietet der über alle Klassen der Gesellschaft ausgebreitete gute Ton,
von dem allein die hier garnisonirendc» türkischen Soldaten — 200 Reguläre —
nichts wissen. Blos diese lieben geistige Getränke, die übrige Bevölkerung
lebt nur von Fleisch, Fischen, Reis und Durra, Milch und Kaffee. Die Klei¬
dung besteht in einem gefärbten Fulda um die Lenden, einer seidenen Weste
und einem langen weißen Hemde. Den rothen Tarbusch tragen nur die Tür¬
ken, die Uebngcn bedecken den Kopf mit der Tatkieh, einem gesteppten wei¬
ßen Läppchen, das mit einem darum gewundenen Musselintuch zum Turban
vervollständigt wird. Die Füße schützt man mit einer Art Sandalen, die von
den Schustern der Stadt recht hübsch und dauerhaft gemacht werden. Man fin¬
det hier überhaupt geschickte Handwerker,- die den Europäern mit Leichtigkeit
ihre Kunst ablernen, Scholle solide Barten bauen, nette Gefäße aus Büffelhorn und
Elfenbein drechseln, sich als tüchtige 'Maurer und Zimmerleute auszeichnen,
aber nie auf eigne Erfindungen denken, sondern sich ein's Hergebrachte halten.
Hauptbeschäftigung der Stadt ist der Handel, besonders nut den Karawanen,
für welche die hier ansässigen Kaufleute als Commissionäre dienen. Früher
soll hier viel Reichthum gewesen sein, aber Habsucht der Paschas und eigne
Verschwendung hat denselben sehr vermindert, und der Familienstolz der Vor¬
nehmern, der auch in der jetzigen Armuth rege geblieben, hindert, daß man
sich wieder emporarbeitet. Das Geld ist fort, aber noch immer werden theure
Scidcngewändcr getragen, und noch immer wird die Hausfrau als eine Prin¬
zessin betrachtet, für die eine Sklavin arbeiten muß.
Die Stadt hat eine Anzahl steinerner Waarenspeichcr, die indeß meist klein
sind und mit wenigen Ausnahmen aus blos einem Stockwerk bestehen. Als
Wohnhäuser dienen fast nur Strohhütten, die von denen der benachbarten Ve-
duan kaum verschieden sind. Um ein solches Haus zu errichten, verbindet man
vier im Quadrat aufgerichtete Eckbalken mit verticalen Stangen und flicht
zwischen diese Gras und Rohr ein. Das Dach wird mit einer wasserdichten
Schicht Meergras belegt. Fenster gibt es nicht. Das druck Mattenwände in
zwei Hälften, eine für den Mann, die andere für die Frau, geschiedene Innere
erhält sein Licht lediglich durch die Thür. Daß bei dieser Bauart häufig
Feuersbrünste vorkommen, begreift sich. Erst 1856 wurde die halbe Stadt von
einer solchen binnen einer Stunde in Asche gelegt.
Das Klima Massua's ist nicht ungesund. Die Hitze des Sommers schwächt
blos und raubt den Appetit, und die Fieber der Regenzeit sind ungefährlich.
Dagegen wird die Insel und ihre Nachbarschaft im Frühling bisweilen von
Erdbeben heimgesucht. Der Sommer dauert vom März bis zum October,
wird aber fast jedes Jahr durch einen starken Augustregen unterbrochen. Im
Sommer beobachtete Munzinger im Schatten bis -s- 40° R., und -i- 35° sind
ganz gewöhnlich, in der Nacht wie am Tage. Die Regenzeit beginnt, während
sie bei den Bogos die Monate vom Juni bis zum September umfaßt, bei
Massua erst im September oder October und dauert bis zum Januar. Alles
eilt dann ins Freie, um die erste Kühle nach den heißen Sommerwochen zu
genießen und sich der frischen Luft zu erfreuen. Das Festland, im Sommer
dürr und wüst, bedeckt sich plötzlich mit reichem Grün, und bietet nach wenigen
Tagen den zu Tausenden vom Gebirg herabkommenden Heerden von Kcnncclen,
Kühen und Ziegen ein treffliches Weideland dar.
Massua gegenüber liegen die von Städtern und Beduan bewohnten Dör¬
fer Otumlu und Saga. In dem zwischen beiden sich hinziehenden Mokullu-
Thal haben sich Europäer, meist Franzosen, angesiedelt. Die Häuser derselben sind
nicht viel besser als die in den Dörfern der Umgebung, die Gärten zwar voll Lorbccr-
rosen, Senna und Baumwollenpflanzen, aber eine eigentliche Cultur ist nicht sicht¬
bar, und es fehlt an Bäumen, welche vor der Sonnengluth schirmen könnten.
Ein Blick auf die Karte schon zeigt, daß Massua im Handel des südlichen
Rothen Meeres eine wichtige Stelle einnimmt. Es ist der natürliche Nord¬
hafen Abyssiniens, und es liegt dem Kaffeelande Uemen gegenüber. Die Ebene
zwischen der See und dem Hochplateau von Habesch liefert Gummi, Senna,
Butter und Häute in den Handel, endlich besteht eine sichere Handelsstraße
von Sennaar nach Massua, auf welcher der Stadt die Producte dieses Land¬
strichs, Elfenbein, Flußpferdzähne, Tamarinden u. a. zufließen, während von den
abyssinischen Karawanen meist Erzeugnisse der Gallasländer, Kaffee, Gold und
weißes Wachs zugeführt werden. Auf Tauschhandel lassen sich Kaufleute aus
dem Innern nicht ein, man muß daher mit guten Marie-Theresicn-Tha-
lern versehen-sein, wenn man mit ihnen Geschäfte machen will. Die Einfuhr
kommt der Ausfuhr nicht entfernt gleich. Das Geschäft mit europäischen Waa¬
ren ist nur ein Detailhandel. Am lebhaftesten ist der Verkehr in den Sommer¬
monaten, und die Stadt ist dann namentlich voll von Abyssiniern, die sich
wesentlich von dem Volk Massua's unterscheiden.
Die Tracht des a-byssinischen Karawanenkaufmanns und seiner Leute be¬
steht in kurzen engen Beinkleidern und einer um die Hüften gewundenen wei¬
ßen Schärpe. Darüber trägt er eine ungenähte Toga, Guari genannt, von der
er ein Ende über die Schulter wirst. Der Unsicherheit der Straßen halber er¬
scheint er stets bewaffnet, immer mit dem krummen Schwert, der langspitziger
Lanze und dem runden Büffclhautschild, häufig auch mit Feuergewehr. Oft
muß die Karawane förmliche Schlachten liefern, um sich den Durchgang durch
eine Gegend zu bahnen, und jeder Bewohner von Habesch ist Krieger, eine na¬
türliche Folge der Zustände dieser Länder, die unsern mittelalterlichen in allen
Stücken gleichen, ausgenommen in der Stellung der Stände. Allerdings gibt
es in Habesch einen Adel, aber derselbe ist vom Kaufmann nicht durch
eine so breite Kluft getrennt, wie anderwärts, und der Uebergang von einer
socialen Klasse zur andern ist sehr leicht. Bauer, Kaufmann, Soldat, Grund¬
besitzer, alle sind gleich wohlgeachtet, und selbst den Geringsten kann Glück oder
Talent zu hohem Ansehen bringen. D'r verarmte Herr wird Diener, ohne daß
es ihn schändete, der reichgewordene Diener tritt als Herr auf. Geburtsstolz
findet man deshalb selten.unter diesem Volk, häusig dagegen Geldstolz, und da
das Geld hier etwa zehnmal so viel Werth hat als in Europa, so sieht man
Leute mit ein paar hundert Thalern mit einem Dünkel und einer Grandezza
einherschreiten, wie sie einer unsrer Millionäre kaum entwickeln wird. Begegnet
man einem abyssinischen N6ggad6 (Kaufmann) in Massua, der seine Guari bis
zu den Augen emporzieht, was andeuten soll, daß er alle Umstehenden als nie¬
deren Pöbel betrachtet, so kann man sicher sein, daß er ein Capitalist von min¬
destens dreihundert Edri (Marie-Theresien-Thalern) ist.
Unsre fürstliche Jagdgesellschaft hat es dem Vernehmen nach vorzüglich auf
die Elephanten der Landstriche westlich von Massua abgesehen, und in Bezug
hierauf sei bemerkt, daß dieser vierfüßige Elfenbeinlieferant hier in allen Ge¬
birgsgegenden zu treffen ist. die waldig, nicht zu kalt und nicht zu stark bevölkert
sind. Schon vier Tagereisen von Massua wird aus Elephanten gejagt, und
unter den Belau von Arkiko sind mehre geschickte Jäger. Bei gehöriger Vor¬
sicht ist diese Jagd nicht sehr gefährlich, doch sind, wie Munzinger bemerkt, noch
wenige von denen, die sich in Massua dieser Beschäftigung widmeten, eines
natürlichen Todes gestorben.
Die weitere Reise von Massua zu den Bogos bietet keine großen Beschwer¬
lichkeiten. Bon der kleinen europäischen Ansiedelung im MokullUfThal durchzieht
die Karawane am ersten Tage die Thäler von Weddubo, Desset und Umba
und schlägt dann ihr Nachtlager in May Aualid (Quelle der Jungfrauen) auf.
Sobald man hierauf die letzten Ausläufer des Gebirgs nach der Küste hin in
nordwestlicher Richtung hinter sich gelassen, betritt man die große von Straußen
bevölkerte Ebene Schach und gelangt, immer dem Fuße des Hochgebirgs folgend,
nach zwölfstündigem Marsch durch eine schatten- und wasserlose Sandwüste nach
Ayn, wo eine reiche Quelle ein grünes anmuthiges Thal bewässert. Am dritten
Tag steigt man, von Ayn in derselben Richtung fortziehend, auf einer für
Kameele gangbaren Straße ein enges, von Kuhheerde» belebtes Thal hinaus,
das zum Gebiet des mohammedanischen Stammes der Habab Ali Mariam gehört.
Von hier wendet sich der Reisende am vierten Tage westwärts und betritt eine
schöne quellenreiche Tiefebene, in welcher die Jagd crgibig ist und schon Elephanten,
aber auch Löwen anzutreffen sind, und die mit einem hohen Bergsattel endigt,
der die Ali-Mariam von den Bogos, die Moslemin von den Christen trennt.
Hat die Kara ane diesen Berg überschritten, so wendet sich der Weg immer
entschiedener nach Westen, und man kommt am Abend des fünften Tages zu
der ersten Ortschaft des Bogoslandes, dem Dorfe Wasentet, von wo man am
nächsten Morgen durch das Thal Anscba in die große Ebene geht!, in welcher
Keren, der Wohnort Munzingers und das wahrscheinliche Hauptquartier der
coburger Elephanten- und Nashornjäger liegt.
Das Land der Bogos ist, wie schon das Gesagte zeigt, ein Gebirgsland,
und zwar gehört es dem System des Hochlandes von Habesch an, dessen Nvrd-
zug hier endigt. Einzelne Partien, z. B. der Gebirgsstock Debre Sir«, erinnern
an die Alpen. Doch liegen die Dörfer nur im Tiefland, zwischen 1000 und
6000 Fuß über dem Meeresspiegel. An Quellen und Bächen fehlt es an den
meisten Stellen, doch entspringen hier mehre große Flüsse, wie der Ainsaba, der
Barka und der March, der in der Niederung den Namen Gases führt und sich,
in der Regenzeit als gewaltiger Strom, nicht, wie bis auf Munzinger an¬
genommen war, in den Atbara und mit diesem in den Nil, sondern, nicht fern
von Suakin, in' das Rothe Meer ergießt. Von Keren gelangt man in etwa
vierzehn Tagen nach Chartum, und so ist jener Ort Durchgangspunkt und Halt-
platz des ziemlich lebhaften Verkehrs zwischen Massua und der Hauptstadt des
ägyptischen Sudan, dem Rothen Meer und dem obern Nilthal. Ueber die Art
des Bogoslandes äußert sich Munzinger außerordentlich günstig. „Alle die¬
jenigen, welche dieses Volk besucht und seine schönen Thäler durchwandert haben,
bringen denselben Eindruck eines gelobten Landes in den Sand Massua's zurück.
Das Klima ist das Italiens, der Boden ausgezeichnet, und man könnte alle
Reichthümer der Kolonien dahin verpflanzen."
Trotzdem ist das Land, von steten Verwüstungszügen der Nachbarn heim¬
gesucht, wenig besser als eine Einöde, der Ackerbau vernachlässigt, das Leben
der Menschen das von Barbaren.'
Die Hauptfrucht des Landes ist das Durra. Weizen und Gerste sind wenig
verbreitet, und von Gemüsen kennt man nur Bohnen und Kohl. Der Mangel
an fließendem Wasser hindert den Garten- wie den Feldbau vielfach. Nach Mi߬
ernten werden wilde Früchte eingesammelt, deren es mancherlei Arten gibt. Die
Tamariske, die Sycomore und der wilde Feigenbaum sind allgemein anzutreffen,
auch die Dumpalme und verschiedene andere tropische Bäume kommen vor, eigent¬
licher Wald aber existirt in diesem wie in den benachbarten Ländern nicht. Das
Klima ist nicht ungesund, und man kann es gemäßigt nennen, da die Hitze 26° N.
selten übersteigt. Der Jahreszeiten sind drei: Keren, die Regenzeit, von Juni
bis September, Galen, die kühle Zeit (die zugleich die schönste ist), October,
November, December und Januar umfassend, endlich Hägai, die Zeit der
trockenen Hitze, welche die Monate Februar bis Mai einschließt. Von wilden
Thieren kommen hier außer den genannten eine Panthcrart, Wölfe, Hyänen
und Schakale vor.
Die Bogos sind ein vor etwa dreihundert Jahren aus Habesch ausgewan¬
derter semitischer, der Mehrzahl nach christlicher Stamm von Hirten, der einem
benachbarten Nebenfürsten einen Tribut von Kühen zahlt, im Uebrigen aber so
gut wie unabhängig ist und von einer Art Familienaristokratie .nach alther¬
gebrachten Gebrauch und Gesetz regiert wird. Früher zahlreich, wohlhabend und
nicht ohne eure gewisse Cultur, sind sie durch die Kriege der letzten Jahrzehnte'
sowie durch die verderbliche Sitte der Blutrache auf etwa 8400 Köpfe zusammen¬
geschmolzen, verarmt und verwildert. In drei Hauptstämme zerfallend, die sich
wieder in acht Nebenzweige theilen, wohnen sie in vierzehn Dörfern, von denen
Keren, Haschala, Abin Mendel und Ora, jedes mit 250, Terhen mit 180, Dagi
und Gabel alabu mit je 150 Häusern die größten sind. Das Vermögen wird
nach Heerden berechnet, deren das ganze Volk 220 besitzt, und von denen eine
durchschnittlich 50 Kühe zählt.
Von großem Interesse ist das Recht der Bogos, von dem Munzinger uns
eine sehr ins Einzelne gehende Darstellung geliefert hat*), welcher wir die
folgenden Auszüge entnehmen. Die Staatsordnung, wenn man diesen Aus¬
druck auf Halbwilde anwenden darf, ist eine patriarchalische Adelsherrschaft.
Das Recht, selbstverständlich ungeschrieben, hat zur Basis den Familicnzusammen-
hang, und Gesetz und Sitte vermischen sich in demselben, wie dies unter ähn¬
lichen Verhältnissen überall der Fall ist. Recht und Moral'haben hier keinen
Zusammenhang. Da die Idee Gottes als Rechtsprincip unbekannt ist, gelten
nur solche Handlungen als Verbrechen, mit welchen den Interessen des Nach¬
bars zu nahe getreten wird. Bürgschaften des Rechts sind die Familienliebe,
die allen Hirtenvölkern eigenthümliche Anhänglichkeit an das Herkömmliche und
die Furcht vor der Einmischung von Fremden. Die Familie ist Staat, Sou¬
verän und Gesetzgeber, letzteres für den Fall, daß die Rechtsüberliefcrungen nicht
ausreichen.
Die Verwandtschaft des einzelnen Bogos besteht aus drei Kreisen, deren
weitester das ganze echte Bogosvolk, die sogenannten Schmagilli umfaßt. Der
zweite engere besteht aus dem Geschlecht, dem er angehört, den Nachkommen
eines Vaters bis zum siebenten Grade, die zu gewissen wechselseitigen Leistungen
verpflichtet sind. Der dritte und engste .endlich ist die kleinere Familie: Vater,
Söhne und Brüder. Neben diesen eigentlichen Bogos, die etwa ein Drittel der
Nation ausmachen, lebten von alter Zeit her Fremde im Lande, die aber, weil
sie sonst als Feinde betrachtet worden wären tllmspos — Irostis), genöthigt
waren, sich, jeder einzeln, in den Schutz eines Schmagilli zu begeben, dessen
Dienstmann (Tigr6) zu werden und so bis zu einem gewissen Grade mit dem
Volke zu verschmelzen, dessen Rechts theilhaft zu werden. Jeder andere Fremde
gilt noch jetzt als rechtlos.
Haupt der engern Familie ist der Vater oder der Erstgeborne. Als Vor¬
stand des Geschlechts oder der weiteren Familie wird die gerade Linie vom Erst¬
gebornen zum Erstgebornen betrachtet. Dieser Erstgeborne eines ganzen Ge¬
schlechts heißt Sun und gilt als geheiligt und unverletzlich. Macht aber hat
er nicht, und das Schicksal bringt es bisweilen sogar mit sich, daß er der Aermste
seines ganzen Kreises ist. Ein durck, die Geburt bestimmtes Oberhaupt des
weitesten Verwandtschafrskreises, sämmtlicher Schmagilli oder Adelsfamilien, also
des ganzen eigentlichen Bogosvolkes, gibt es nicht. Der staatliche oder viel¬
mehr der sociale Organismus der Nation ist also ein in der Entwickelung stecken
gebliebenes Königthum. Die Eifersucht des Hirtenadcls ließ auch nicht den
Schein einer Monarchie aufkommen.
Für die engere Familie ist der Vater oder der Aelteste der natürliche Richter.
Eine höhere Instanz bildet der Dorfrath, die höchste die ganze Stammesver¬
wandtschaft. Der Dorfrath hält sein Gericht öffentlich, und es gibt dabei ver¬
schiedene Arten von Bürgschaften sowie verschiedene Mittel des Beweises. Unter
letzteren spielt der Eid eine bedeutende Rolle. Die schwächste Schwurart, nur
für unbedeutende Fälle angewendet, besteht darin, daß der Angeklagte mit seiner
Rechten in die rechte Handfläche eines nahen Verwandten schlägt. Stärker ist
die Form, bei welcher der Betreffende unter Betheuerung seiner Aussage mit
dem rechten Fuß über ein' auf dem Boden liegendes Schwert schreitet, noch
stärker die, bei welcher der Schwörende über das Grab eines Verwandten gehen
muß. Die stärkste Art endlich ist der Kirchcnschwur. Die Gegenpartei, die dem
Angeklagten den Eid abnimmt, füllt einen Topf mit Asche, schwärzt einen
jungen Ziegenbock mit Kohle und zieht dann mit dem zu Vereidigenden vor die
Kirche. Hier angelangt, streut man die Asche in den Wind und fragt- „Sollen
Deine Kinder zersteubcn wie diese Asche, falls Du lügst?" Der Schwörende
ruft „Amen!" Die Gegenpqrtei zerwirft alsdann den Topf und sagt: „Willst
Du zerbrochen sein wie dieser Topf, falls Du lügst?" worauf der Angeredete
wieder mit „Amen!" zu antworten hat. Hierauf wird der Bock an der Kirchen-
thiir geschlachtet und das Fleisch in die Wildniß hinausgeworfen, und die Ver¬
eidign fragen: „Willst Du so den Hyänen zum Fraß werden, falls Du lügst?"
und jener läßt wieder sein „Amen!" vernehmen. Endlich führen sie ihn auf
einen Stein im Dorfe Mogarech, wo sie die schrecklichsten Flüche über ihn aus-
sprechen, falls er die Unwahrheit sage, und der so Bedrohte wieder auf jeden
Fluch sein Amen zu sprechen hat.
Das Verhältniß zwischen Schmagilli und Tigr6 ist weder Sklaverei noch
Leibeigenschaft, sondern Clientel, erbliche Pflicht rechtlichen Schutzes auf der
einen und einer gewissen Botmäßigkeit auf der andern Seite. Die Kinder
eines Tigr6 werden Unterthanen und Schutzbesohlne des Herrn oder Patrons
ihres Vaters und erben sich nach dem Tode jenes auf dessen Erstgebornen fort.
Der Schmagilli ist verpflichtet, seinem Tigrü in allen Händeln beizustehen, sein
Beschützer, sein Sachwalter und Richter zu sein. Der Tigre schuldet dafür dem
Schmagilli Ehrerbietung und einen kleinen Iahrestribut, der entweder in einem Topf
Bier zu Ostern oder Weihnachten oder in der Zunge jeder Kuh besteht, die
er schlachtet. Kommt ferner der Tigr6 von einem Raubzug zurück, so nimmt
sich sein Patron von der Beute eine Kuh; hat er einen Proceß gewonnen, so
fällt jenem von dein Gegenstand des Gewinnes die Hälfte zu; stirbt der Tigrv
ohne Verwandtschaft, so erbt sein Herr seine Habe und seine Frau. Der Ti-
gr6 ist nicht an einen bestimmten Wohnort gebunden, er besitzt eignes, unan¬
tastbares Vermögen, und er kann mit dem „Segen", d. h. mit der Erlaubniß
seines Schmagilli aus seiner Botmäßigkeit heraustreten; indeß muß er in sol¬
chem Fall ohne Verzug sich einen andern Patron suchen, weil er sonst eben
fremd, Feind, vogelfrei werden würde und vom ersten ihm Begegnenden in die
Sklaverei verkauft werden konnte. Es gilt endlich für keine Erniedrigung, wenn
ein Schmagilli oder die Tochter eines solchen in die Familie eines Tigrö hei¬
rat het.
Wir geben zunächst noch einige Proben von dem, was der Verfasser von
den Eigenthumsbcgriffcu der Bogos mittheilt.
Wer einen fremden Acker zu bebauen wünscht, verspricht dem Besitzer ein
kleines Geschenk von der Ernte. Wer ein fremdes Grundstück einmal bebaut
hat, kann vom Eigenthümer nicht gehindert werden, dasselbe noch einmal zu be¬
nutzen. Das dritte Jahr hat der Bodcnhcrr die Pflicht, dem Besteller des Lan¬
des das Benutzungsrecht zu kündigen, und tritt er damit wieder in sein altes
Recht ein. Der Grundeigentümer, der seinen Acker ohne seine Einwilligung
bebaut findet, erstattet dem Bearbeiter desselben das Saatkorn und gewinnt da¬
mit das Recht auf die Ernte, doch darf jenes nicht schon aufgegangen sein.
Der Besitz eines Grundstücks lo der Ebne schließt die Nutznießung von dessen
Verlängerung in gerader Linie gegen die anliegende Bergseite für deren Was¬
ser, GraA Holz, deren Fruchtbäume und wilde Bienenstöcke ein. Gras ist
Eigenthum des Landbesitzers, und kann er fremdem Vieh das Abweiden weh¬
ren. Regen- und Flußwasser gehört Allen gemeinschaftlich, dagegen ist der,
welcher einen Brunnen angelegt hat, auf ewige Zeiten dessen Eigenthümer.
Wer einem Honigsammler in der Wildniß begegnet, hat das Recht, sich von
dessen Fund ohne Entschädigung satt zu essen; weigert sich jener dessen, so darf
er ihm sein Gefäß zerstören.
Der Tigrv, welcher zahlungsunfähig wird, fällt dem Gläubiger als Leib-
eigner zu; stirbt er vor Einlösung der Schuld, so werden zu deren Deckung
seine Kinder in die Sklaverei verkauft. Ausgeliehene Capitalien werden mit
hundert Procent verzinst, doch geschieht es oft, daß der Dorfrath bei Mißernten
oder Kriegsunfällen die Verpflichtung Zinsen zu zahlen annullirt und dann nur
das Capital zurückzuerstatten ist. Das Vermögen geht durch Erbschaft vom
Vater auf die engere Familie über, und zwar mit Bevorzugung des erstgebor-
nen Sohnes der erstverlobten Frau und mit vollständigem Ausschluß der weib¬
lichen Kinder. Jener erbt alle weißen Kühe, alle Stiere und Kälber, alle im
Hause befindlichen Waffen und Geräthe, alles Getreide und Geld, das Land
mit seinen Rechten, die Leibeignen und die Tigrv, endlich aber auch die Ver¬
antwortlichkeit für die schulde» des Vaters. Der Rest des Vermögens wird
zu gleichen Theilen unter die übrigen männlichen Kinder vertheilt. Das leere
Haus verbleibt dem jüngsten Sohne. Jeder freie Mann darf zu seinen Leb¬
zeiten durch Geschenke über seinen Besitz verfügen, Niemandem dagegen steht die
Befugniß zu, durch ein Testament die herkömmliche Verkeilung seiner Berlasscn-
schaft abzuändern.
Als Verlctzer des Eigenthums wird Jeder angesehen, der bei der Verletzung
mitwirkt, ebenso Jeder, der die Frucht derselben mit genießt. Der Dieb, der
seine That gesteht, ist nur zu einfachem, der dagegen, welcher erst durch Eid oder
sonstwie überwiesen werden muß. zu fünffachen Ersatz des Entwendeten ver¬
pflichtet. Sind der Thäter oder Mitgenießer mehre, so hat jeder den ganzen
Werth des Gestohlenen zu erstatten. Wird Jemand überwiesen, ein Stück Vieh
von dem Dorfe, wo er wohnt, geraubt und in dem eignen Hause geschlachtet
zu haben, so gilt nicht nur jedes Glied seines Hauses, sondern auch der Koch-
topf, jedes der andern Kvchwerkzeuge, die Schüssel u. s. w. als Mitgenießer
des Diebstahls, und der unredliche Nachbar wird gezwungen, seinen Raub so
viel Mal zu ersetzen, und beliefe sich die Zahl dieser willkürlichen und unwill¬
kürlichen Theilnehmer am Genuß der Beute auch auf zwanzig, so ist gleichwohl
der gestohlne Werth zwanzigfach zurückzuerstatten.
Die Nachkommen eines Vaters bis auf sieben Grade bilden die Bluts¬
verwandtschaft, deren Glieder sich wechselseitig, ihre Person garantiron und
blutsvcrantwortlich sind. Dieser Familienkreis hat mit andern Worten
verletzt die gemeinschaftliche Pflicht der Rache, verletzend die Verantwort
lichkeit für jeden seiner Angehörigen. Das Blutrecht unterscheidet ganzes
und halbes Blut. Zum ganzen gehören die Fälle, wo Jemand eine Per¬
son tödtet, gleichviel ob durch Zufall, durch Fahrlässigkeit, oder mit Ab¬
sicht und Ueberlegung, ferner wo Jemand eine Jungfrau, Wittwe oder ge¬
schiedene Frau schwängert oder seine an einen bestimmten Mann verlobte Toch¬
ter einem andern gibt oder durch böse Künste (Zauber) einen Stammgenossen
umbringt oder eine im Lande geborene Person raubt und ins Ausland ver¬
kauft. Halbes Blut dagegen vergießt: wer Jemand mit einem eisernen Instru¬
ment so verwundet, daß Blut fließt, wer einer Person Zahn oder Auge aus¬
schlägt, wer seine Frau oder Verlobte tödtet, ferner die Person, mit deren
Waffe von einem Zweiten ein Dritter ums Leben gebracht wird, endlich die
Begleiter und Gehilfen eines Mörders.
Wird bei einem Mord der Thäter auf der That ergriffen, so überläßt man
ihn der Familie seines Opfers, die ihn in der Regel erschlägt oder aufhängt.
Ist er nicht zu erlangen, so hängt man seinen Bater, Sohn oder Bruder.
Kann sich der Schuldige mit seiner engern Familie zu seiner weitern
flüchten und fürchtet diese die Rache der Angehörigen des Erschlagenen,
so läßt sie bei dessen Begräbnis; eine Kuh opfern und ruft die Stamm¬
genossenschaft zur Vermittelung auf. Die Familie des Todten kann nun
entweder Blut für Blut nehmen, d. h. ein Glied der Blutsverwandtschaft
des Mörders tödten, oder den gesetzlichen Blutpreis sich entrichten lassen, der
für einen Schmagilli 120, für einen Tigr« 93 Kühe beträgt, und mit dessen
Zahlung das Blut ausgelöscht, die That gesühnt ist. Die Blutsverwandtschaft
des Mörders, die auf solche Weise den Frieden erkauft, theilt die Last zu glei¬
chen Theilen unter ihre großjährigen Glieder. Der Mörder selbst wird nicht
mehr als die Uebrigen in Anspruch genommen, doch hat er die Verpflichtung,
eine seiner Töchter oder Svhnestöchtcr dem Sohn des Erschlagnen zur Ehe zu
geben. Wer das Unglück hat, seinen eignen Vater oder Bruder zu tödten,
wird, auf der That ergriffen, ohne Verzug hingerichtet; hat er aber Zeit zur
Flucht, so wird er, wofern der Umgebrachte kinderlos ist, ohne Blutpreis mit
der Verwandtschaft ausgesöhnt und erbt sogar des getödteten Bruders Gut und
Frau.
Die Bogos gehörten früher zur abyssinischen Kirche, aber ist schon diese
tief herabgekommen, so ist hier die Verwilderung und Verdunkelung der Ge¬
müther noch weit größer. Man trifft im Lande noch einige Gebäude, die Kir¬
chen heißen, aber von den Gebräuchen und Dogmen des Christenthums ist so
gut wie nichts, von der christlichen Moral absolut nichts übrig geblieben. Die
Leute nennen sich „Kosten", d. h. Christen, und zum Beweis essen sie kein von
Moslemin geschlachtetes Thier, kein Elephanten-, Straußen-, und Hasenfleisch.
Der Sonntag heißt großer Sabbath, doch wird am Sonnabend geruht, wie bei
den Juden. Man hat Priester im Lande, die jedoch gar keine religiöse Kennt¬
niß besitzen und wahrscheinlich nicht einmal getauft sind. Ihr Amt besteht nur
darin, daß sie an den Hauptfesten zwei an der Kirche hängende Schiefersteine
an einanderschlagcn, was die Glocke vorstellen soll. Häusig hörte Munzinger
die Ausdrücke Gott. Jesus. Dreieinigkeit, aber Niemand hatte eine Ahnung
von ihrer Bedeutung. Die heilige Jungfrau wird oft angerufen, aber daß sie
die Mutter Jesu gewesen, ist vollkommen unbekannt, wie denn überhaupt nir¬
gends Kenntniß der biblischen Geschichte anzutreffen ist. Von der Unsterblich¬
keit der Seele hat man nur unklare Vorstellungen, ebenso von Gott, für dessen
Bezeichnung und die des Himmels im Belen, der Sprache der Bogos, ein und
dasselbe Wort gebraucht wird. Die Begriffe von Gut und Böse verschwimmen
vielfältig in einander und haben kaum eine Bedeutung als die von Nützlich
und Unnütz. Ein Tugendhafter wird genannt: der Unerschrockne, der die Ge¬
fahr nicht flieht, der Bluträcher, der seinen Bruder nie genug gerächt glaubt,
der Schmagilli, welcher seinen Tigr6 wacker vertritt, der Verschwiegne, welcher
seinen Haß oder Eigennutz bis zum günstigsten Augenblick in sich verschließt, fer¬
ner der Artige, der für Freund und Feind gleich gute Worte hat, der Stolze,
der nie seiner Würde vergißt und nie gemeine Arbeit (z. B. das Melken der
Kühe) verrichtet, der Prunkliebcnde, der sich mit schönen Kleidern und Waffen
zeigt, der Reiche, der viele Kühe und Kinder besitzt, der kluge Rathgeber, der
seine Meinung klar vorzutragen versteht. Güte, Barmherzigkeit und Auf¬
opferung werden wenig geübt. Negierende Züge der Volksseele sind Neid,
Habgier und Undankbarkeit, Alles Aeußerungen eines rohen kurzsichtigen
Egoismus.
So wenig Religion die Bogos haben, so viel Aberglauben findet man
unter ihnen. Man fürchtet Hexerei, bösen Blick, Kometen, glaubt an gute
und böse Tage, an vorbedcutende Träume, an Wahrsagung und Vvgelflug.
Alle Hyänen, deren es im Lande unzählige gibt, gelten für eine Art von
Wehrwölfen. Manche von den abergläubischen Gebräuchen werden gewissen¬
hafter beobachtet als die Gesetze, ebenso manche andere Regeln, die gewisse
gleichgiltig scheinende Dinge ohne erklärbaren Grund gebieten oder untersagen,
weil sie gegen das „Sere", Herkommen sind. So gilt es für eine Schande,
frische Butter zu essen. So würde es als unglückbringendes Verbrechen an¬
gesehen werden, wenn ein Schmagilli oder eine Frau melken oder Getreide
schneiden wollte, oder wenn diese jemals den Namen ihres Gatten oder ihres
Schwiegervaters ausspräche, oder wenn ein Mann es wagte, sich das Gesicht
seiner Schwiegermutter anzusehen. Dagegen scheint es hier zu, Lande nichts
Unnatürliches, daß Jemand nach dem Ableben seines Vaters die Stiefmutter hei-
rathet, ja es ist vorgekommen, daß einer die Frau seines verstorbenen Sohnes zu
Ehe nahm. Die Frau des verstorbenen Bruders zu heirathen ist hier wie unter allen
Nachbarvölkern Sitte. Vielweiberei ist ziemkcb selten und ein Luxus der Vornehmen
und Reichen. Im ganzen Land der Bogos befinden sich Saum 50 Personen
in doppelter Ehe und kaum 5 mit mehr als zwei Frauen. Das materielle
Interesse, sich große Verwandtschaft zu erwerben, ist eine Hauptursache der Po¬
lygamie, und überdies fügt oft. wie bemerkt, der Tod eines Bruders dessen
Wittwe der ersten Frau hinzu. Der Volksmund hält jedenfalls die Vielweiberei
für ein Unglück; denn einer der stärksten Flüche der Vogos ist: „Bal leur
gaba!" d. i. halte zwei Frauen.
Das Gesetz und Herkommen stellt die Frau sehr niedrig. Ob ledig oder
verheirathet, ist sie rechtsunfähig,'was durch den ungalanter Satz ausgedrückt
wird: „Ogheina woga gen," das Weib ist eine Hyäne. Sie kann nicht erben, noch
bürgen, noch Zeugniß ablegen, noch zum Eid angehalten werden. Sie hat keine
Rcchtsverantwvrtlichkeit. Eine Frau, des Mordes angeklagt, kann niemals da¬
für vor Gericht gezogen werden. Der Mann kann sich von ihr scheiden, sobald
er will. Dagegen gilt es für unrecht, seine Frau mir Arbeit anzustrengen, da
es ein Hauptvorurtheil dieses Volkes ist, der wahre Zustand der Frau sei der
Müßiggang und nur die Noth verpflichte anch sie zur Arbeit. So holen nur
die Frauen ganz dürftiger Leute Holz und Wasser, bereiten sich ihre Nahrung
u. s. w.; wer irgend kann, läßt alles dies durch eine Magd besorge», und
Frauen Von Stand beschäftigen sich außer dem Flechten von Matten und Körb-
chen nur mit ihrer Toilette. Die Damenwelt hält auch unter diesen Halb¬
wilden viel auf Putz und Schmuck. Massive Silberringe um die Arm- und
Fußknöchel, goldne Ringe im rechten Nasenflügel oder in den Ohrläppchen,
silberne Kettchen in den Haarflechten, Glasperlen als Halsbänder bilden die
Hauptwünsche einer Bogosdame. Ein kleiner Nürnberger Spiegel darf nicht
fehlen. Lange Nägel sind von gutem Ton. Als Schminke dient frische But¬
ter, Fett oder Oel vermischt mit Spczcreic».
Das Haus bei den Bogos hat die Gestalt eines umgestürzte» Kessels, ist
aus dünnen Stangen zusammengeflochten und von unten auf mit Stroh bedeckt,
so daß das Ganze ein Dach bildet, ohne Fenster und nur mit einer Thür.
Die häusigen Zerstörungen der Dörfer durch kriegerische Nachbarn haben den
Leuten die Neigung benommen, wie früher in Stein zu bauen. Das Haus
wird durch einen durchsichtigen Mattenvvrhang in zwei Hälften geschieden, von
welchen die der Thür zunächst gelegne für die Besucher ist. In der andern
steht ein Mattenzelt, das sogenannte „Beitbcitora", Haus im Haus, das über
dem großen Ehebett ausgespannt ist. Als Matratze dient eine Matte, die von
dünnen zusammengereihten Palmcnstäbchen gemacht ist, als Decke eine große
rothgegerbte Kuhhaut. Nicht fern vom Bett ist der Feuerherd, drei im Dreieck
gestellte Steine, und ein Gerüst, welches die Kleider, Gefäße und Geräthe der
Familie trägt. Das Bett ist der gewöhnliche Aufenthalt der Hausfrau, die,
selten ausgehend, hier Besuche empfängt und sich mit Flechten von Matten be¬
schäftigt, während die Mägde Wasser holen, und auf dem Mahlstein an der
Thür das für jeden Tag nöthige Mehl mahlen und das hauptsächlich aus Mehl¬
brei bestehende Essen bereiten.
Die Heerden befinden sich nur kurze Zeit im Jahr in den Dörfern, und
ein Drittel der Bevölkerung zieht fast fortwährend nomadisch mit dem Vieh
umher. Der Stolz der Bogos ist, viele Kühe zu haben, und Milch die belieb¬
teste Nahrung. Die Kühe, unter denen man die weißen vorzieht' gleichen an
Gestalt denen der Alpen, sind aber kleiner. Jede bat ihren Namen. Ihr
Werth ist gering, indem eine Fleischkuh nur 2 bis 3, eine Milchkuh und ein
Pflugsticr 4 östreichische Thaler gilt. Ziegen kauft man für einen Thaler Z bis 5.
Pferde und Maulthiere halten sich nur die ersten Häuptlinge.
Der Stamm der Bogos hat regelmäßigere Züge als seine Nachbarn im
Süden und durchaus nichts Afrikanisches. Die Gesichtsfarbe schwankt zwischen
Gelb und schwärzlichem Braun. Die Nase ist lang und fast von griechischer
Form, das Auge braun oder schwarz und sehr lebendig, der Haarwuchs reich
und nicht wolkenartig, doch etwas grob, die Lippe voll, aber nicht wulstig wie die
des Negers. AIs Schönheiten gelten, nach den erotischen Gedichten des Volkes
zu urtheilen, große Augen, langes Haar, lange Finger und dunkelrothes Zahn¬
fleisch. Als Beispiel dafür diene ein Vers, den ein Minnesänger in Keren nach
Munzingcrs Mittheilung, von seiner Geliebten aufgefordert, ihre Reize vom
Hals nach oben hin zu rühmen, aus dem Siegreif vortrug. Das Lied ist im
Original gereimt und lautet wie folgt:
„Dieser Hals ist des Straußen Hals mit seinen Federn - dieser ihr
Hals mit den schöngeformten Bogen — ihre Augen sind der Morgenstern im
Aufgehen — ihr Zahnfleisch ist die schwarzrothe Frucht des Ebermet — ihre
Zähne gleichen den in Reihe sitzenden wilden Tauben — ihre Zähne gleichen
der Kameelmilch der festgcronnenen — im Namen Gottes koste davon!"
Wir schließen mit der Bemerkung Munzingers. daß die Bogos ohne die
Bemühungen des hier angesiedelten Lazaristenmissionärs Stella schon längst
sämmtlich den Islam angenommen haben würden, daß aber bei ihren guten
geistigen Fähigkeiten jetzt alle Hoffnung vorhanden ist, sie nicht nur dem Chri¬
stenthum erhalten, sondern auch im Allgemeinen bessern Zuständen zugeführt zu
sehen, als bisher hier herrschten.
Nach der Auflösung des Ministeriums vom 11. October 1832 war in
Frankreich die. wie wir in früheren Aufsätzen über Guizots Memoiren gesehen
haben, schon lange vorbereitete Zersetzung der Parteien eingetreten, welche, indem
sie dem persönlichen Ehrgeize die weiteste Bahn eröffnete, eine feste und kräftige
Regierung unmöglich machte. Man gerieth in einen Zustand, in dem man
nicht entfernt auf die längere Dauer eines Ministeriums rechnen konnte, weil
jeder Regierung täglich die parlamentarische Stütze zu versagen drohte. Die
Zersplitterung der Kammer in Fraktionen, die z. Th. nur durch den unbefrie¬
digten Ehrgeiz und die ministeriellen Gelüste der Führer von einander geschie¬
den waren, ließ eine starke Parteibildung nicht aufkommen. Die in bedrohli¬
cher Weise hervortretende Unfähigkeit des Bürgerthums, sich selbst zu regieren,
mußte einerseits den König zu einem von der Einwirkung der Kammern
möglichst unabhängigen persönlichen Regimente ermuthigen, andererseits mußte
sie den Hoffnungen der in den Straßen von Paris und Lyon besiegten revo¬
lutionären Partei neue Nahrung geben. Gelang es den Republikanern eine,
wenn auch numerisch nur schwache Fraction in den Kammern zu bilden, so
konnten sie mit Sicherheit darauf rechnen, mit der Zeit selbst unter den Mit¬
gliedern der dynastischen Oppositionen Bundesgenossen zu finden, die sich leicht¬
sinnig und unbedenklich über die Tragweite einer solchen Verbindung hinweg¬
setzen würden. Die seit dem Falle des Cabinets vom 11. October rasch sich
vollziehende Zerrüttung des parlamentarischen Elementes' bereitete die später
zwischen den dynastischen Oppositionsparteien und den Republikanern geschlos¬
sene Verbindung Vor, an der im Jahre 1848 die Monarchie und die verfassungs¬
mäßige Freiheit zerschellen sollte.
Nachdem das Ministerium Thiers (vom 22. Februar 1836) bereits am
26. August desselben Jahres 'wegen Meinungsverschiedenheiten mit dem Könige
über die spanische Angelegenheit sich zurückgezogen hatte, ergriff Mol6, mit den
Doktrinären vereint, die Zügel der Negierung. Schon am 5. April 1837
reichte das Ministerium in Folge der Verwerfung wichtiger Gesetzvorlagen seine
Entlassung ein. und Molü unternahm es, auf eigne Hand ein Cabinet zu bil¬
den. Mol6 war theils bemüht, durch liberale Maaßregeln, wie den Erlaß einer
Amnestie, die fortgeschrittenen' Parteien für sich zu gewinnen, theils den König
von der Kammer unabhängig zu stellen. Dies hieß aber nichts Anderes, als
die Parteien völlig desorganisiren. Auch zeigte sich bald, daß der Versuch schei-
dem mußte. Die Fractionen der Linken und des linken Centrums waren durch
die Concessionen nicht zu gewinnen, und diejenigen Mitglieder der gouvernemen-
talen Partei, die. Guizot an der Spitze, eine selbständige Politik verfolgten,
waren, von allen persönlichen Verstimmungen abgesehn, den beiden Tendenzen
des Cabinets feindlich; sie wollten den energischsten Widerstand gegen Alles,
was ihnen als demokratisch und anarchistisch erschien; sie wachten aber zugleich
eifersüchtig über die Machtstellung der Kammer und waren nicht gemeint, den
Schwerpunkt der Regierung aus derselben herauslegen zu lassen. So konnte
Molo nur auf diejenigen allerdings zahlreichen Abgeordneten rechnen, die bereit
waren, 'jedes Ministerium, welches nicht eine extreme Richtung einschlug, zu
unterstützen. Aber die Stellung, die Guizot genommen hatte, brachte auch unter
diesen eine bedenkliche (Nahrung hervor. Trotz wiederholten Kammerauflösungen
ergaben sich daher für das Ministerium nur unbedeutende, schwankende, unzu¬
verlässige Majoritäten, während die Fractionen der Opposition, soweit sie
auch in ihren positiven Ansichten auseinander gingen, unter ihren Füh¬
rern Odilon Barrot, Thiers, Guizot. dem Cabinete in einer festgeschlos-
senen Koalition gegenüber standen. Ihren vereinigten Angriffen konnte
Molo auf die Dauer nicht widerstehen, und als daher die Wahlen im Früh¬
jahr 1839 gegen ihn ausgefallen waren, zog er sich 'zurück, den Gegnern als
Erbschaft die schwierige Aufgabe hinterlassend, aus ihren Gegensätzen eine ein¬
heitliche Regierung zusammenzuschmieden. Es trat indessen ein, was sich vor¬
aussehen ließ- die Koalition war unfähig ein Cabinet zu bilden, Guizot und
Odilon Barrot konnten sich nicht in einem Ministerrathe vereinigen, und auch
Thiers, wohl in der Meinung, die Situation auch ohne unwillkommene und
herrische Bundesgenossen zu beherrschen, weigerte sich, mit Guizot vereint sich
an der Regierung zu betheiligen. Die Folge dieser Verhältnisse war eine
zweimonatliche vom König mit kluger Geduld abgewartete Ministerkrise. Man
kam sogar, um wenigstens die Kammer in Thätigkeit zu setzen und ihr Gele¬
genheit zu geben, ihre allgemeine Richtung zu manifestiren, auf das seltsame
Auskunftsmittel, ein proviforisches Ministerium zu ernennen. Auch dieses Mit¬
tel führte der Lösung um seinen Schritt näher. Ein republikanischer Aufstand
bewirkte endlich, was alle Verhandlungen und Intriguen nicht vermocht hatten:
am 12. Mai constituirte sich, unter Soults Präsidentschaft, das neue Mini¬
sterium, das außer einigen farblosen Persönlichkeiten, aus gewählten, aber kei¬
neswegs den leitenden Mitgliedern der beiden Centren bestand. Daß ein so
zusammengesetztes Cabinet, aus dem zur geheimen Freude des Königs die Füh¬
rer der Koalition ausgeschlossen waren, eine starke parlamentarische Stellung
weder haben, noch gewinnen konnte, daß es in seiner Abhängigkeit, bald von
den persönlichen Anschauungen des Königs, bald von den schwankenden, unsi¬
cheren, und doch anspruchsvollen Wünschen der Kammer, vollends der Lösung
einer schwierigen politischen Aufgabe in keiner Weise gewachsen war, ist ein¬
leuchtend. Und schon hatten sich die Wolken eines schweren Conflictes, der
einige Jahre lang Europa in Athem halten sollte, im Osten aufgethürmt.
Die orientalische Frage, diesmal in viel drohenderer Gestalt, als 1833, da sie
sich nicht vertagen ließ, sondern gebieterisch eine definitive Losung heischte, trat
von Neuem auf die Tagesordnung der europäischen Politik.
IM Mai 1839 hatte eine türkische Armee den Euphrat überschritten und
Ibrahim Pascha angegriffen. Dieser Bruch des Friedens von Kutaieh ver¬
fehlte nicht/ in allen Cabineten große Aufregung hervorzurufen. Auch Lord
Pinne-rsion konnte nicht umhin, officiell den Schritt des Sultans zu mißbilligen,
wenngleich Zweifel an der Aufrichtigkeit des Tadels sehr gerechtfertigt sind.
Wenigstens blieb Ponsonby, der die Pforte in ihrem Vorgehen indirect dadmch
ermuthigt hatte, daß er sich, als die Pläne des Sultans klar hervortraten, den
Vorstellungen der Gesandten an die ottvmcmische Regierung Nicht angeschlossen
hatte, auf seinem Posten. Wenn der französische Gesandte in London behaup¬
tet, daß nur Parteirücksichten Palmerston abgehalten hätten, Lord Ponsonby
abzurufen, so beweist dies nur, daß die französische Politik von Beginn des
Conflictes an sich den größten Illusionen hingab. L0rd Ponsonby blieb des¬
halb auf seinem Posten, weil er der energischste Vertreter der Ansichten und
Pläne Lord Palmerstons war. Uebrigens trat die Rechtsfrage, wer für den
Friedensbruch verantwortlich sei, sehr schnell in den Hintergrund gegen die po¬
litischen Erwägungen, zu Venen das Ereigniß alle Cabinete aufforderte.
Zunächst, ehe die Frage über die den Streitenden aufzuerlegenden Be¬
dingungen verhandelt wurde, herrschte zwischen Frankreich und England ein
Einverständnis^, welches die französische Negierung in ihren Hoffnungen, den
Conflict zu Gunsten Mohamet Ali's auszubeuten, bestärkte. In dem einen
Bestreben, Rußland zu hindern, die Konsequenzen des Traetaics von Unkiar
Stelessi zu ziehen, waren alle Mächte einig. Daher erklärt sich denn auch
Palmerston ganz einverstanden mit dem Vorschlage Soults. sofort e'me fran¬
zösische und englische Flotte, mit der ein östreichisches Geschwader sich zu ver¬
einigen haben würde, in die Gewässer der Levante zu schicken, in der aus¬
gesprochenen Absicht, dem Sultan, für den Fall des Erscheinens russischer Streit-
kräfte, ihre Hilfe anzubieten oder aufzuzwingen.
Indessen dauerte die Einigkeit, die das französische Cabinet (Soult, ob¬
gleich er den Namen hergab, war als Politiker zu wenig bedeutend, um für
den Urheber der von ihm vertretenen Politik zu gelten, was wir hier ein für
allemal bemerken wollen; wenn wir daber von Soults Politik sprechen, so meinen
wir dies durchaus nicht in dem Sinne, wie Man voll einet Politik Metiernichs
oder Palmerstons spricht) durch die Energie seiner Sprache Und Rüstungen M
sichtlich , wie es scheint, zur Schau stellen wollte, genau so lange, als es sich
um die gegen Nußland gerichtete Seite der Frage handelte. Soult befand sich
in der vollständigsten Selbsttäuschung, wenn er glaubte, Lord Palmerston dadurch,
daß er ihn in seine geräuschvollen Vorbereitungen zu einem russischen Kriege hin¬
einzog, auch für die französische Auffassung der türkisch-ägyptischen Angelegenheit
zu engagiren: der englische Minister verlor nicht einen Augenblick die doppelte
Seite der Frage aus'dem Auge. Wenn Louis Blanc der'Regierung den Lor¬
wurf macht, sie habe thörichter Weise die beiden Venen der Frage vermischt,
statt sie streng auseinander zu halten, so trifft er allerdings die schwache Seite
der französischen Politik. Er vergißt dabei nur, daß Frankreich gar nicht in
der Lage war, aus der einen Frage zwei Fragen zu machen und jede derselben
besonders zu verfolgen, weil England eine getrennte Behandlung der Fragen
im Sinne Louis Blancs eben so wenig geduldet haben würde, wie es 'die
gemeinsame Behandlung derselben in dem Sinne des französischen Cabinetes
geduldet hat. Louis Blanc verfällt, wenn auch auf anderem Wege, in denselben
Fehler, in den die Regierung verfiel, und den Mctlcnuch sehr gut in den Worten
charakterisirt: I^g, ?rs.vev, en MMut g. ä'uutrus, oft doz> souvent äisxosüo
» SS erojre Ltzule; «mana on v^soejv Oil ost plusivui's; — dessen ungeachtet
enthält die Kritik Louis Blaues manches Wahre.
Daß Voult nicht vom ersten Tage des Conflictes an das unvermeidliche
Zusammenstoßen mit England vorausgesehn hat. läßt sich schwer begreifen. Die
Verwickelungen von 1833 mußte» auch den sanguinischsten Politiker über die
wahre Stellung der andern Cabinetc aufklären; die verdächtigen Machinationen
Pvnsvnby's waren ebenfalls nicht geeignet, die Pvraussetzung zu rechtfertigen,
daß Palmerston über dem Bestreben, eine einseitige russische Intervention fern
zu halten, sich der wohlbekannten französischen Auffassung im Interesse der An¬
sprüche des Vicekönigs anschließen werde. Schon am U5. Juni hatte Palmer¬
ston Bvurqucney gegenüber die Erblichkeit Aegyptens in Mohamet Ali's Faimlie
und die Räumung 'Syriens von Seiten der'Aegypter für geeignete Basen zu
einem Abkommen zwischen den beide» Rivalen erklärt, und dadurch Soult genöthigt,
auch mit seinen Ansichten klar hervorzutreten. Die inzwischen im Oriente ein¬
getretenen wichtigen Begebenheiten trugen nur dazu bei, das französische Eabinet
in seinen dem Pascha günstigen Dispositionen zu bestärken. Am 21. Juni hatte
Ibrahim die Truppen des Sultans bei Nisib besiegt; am 3V. Juni war Sultan
Mahmud durch den Tod dem Schauplajzc seiner kolossalen Entwürfe und seinen
wilden, seine wie des Reiches Kräfte verzehrenden Leidenschaften entrissen wor¬
den. Durch diese dem Pascha so günstigen Ereignisse ermuthigt, läßt Soult
dem Lord Palmerston erklären, es wäre Affectation^ wenn man sich den Anschein
gebe, zu glauben, daß nach dem Erfolge, welchen der thörichte Angriff der
Pforte Mohamet Ali bereitet habe, er weiter Nichts zu erwarten habe, als was
er schon vorher mit Recht hätte fordern können. Dies hieße die Herrschaft der
Thatsachen und die Nothwendigkeit der Situation verkennen. Wenn der Bice-
könig von der Billigkeit der Mächte Nichts zu hoffen hätte, so würde er sich
gegen ihre Rathschläge empören; was zu schrecklichen Consequenzen führen
müsset)
Aber Lord Palmerston war wegen dieser Consequenzen unbesorgt, da er
voraussah, daß sie, selbst für den Fall hartnäckigen bewaffneten Widerstandes
Von Seiten Mohamet Ali's, nicht eintreten würden.' Es stellte sich nämlich mehr
und mehr die Geneigtheit Rußlands heraus, seine abgesonderte Stellung aufzu¬
geben und sich den Anschauungen Englands, Preußens und Oestreichs anzu¬
schließen. In dem Maße, als Rußland aus seiner Jsolirung heraustrat,
mußte Franlrctch derselben verfallen. Die bis dahin nach zwei Seiten gerichtete
Politik der türtcnfreunblichen Machte konnte sich ganz gegen Frankreich und
seinen Schützling wenden. Daß in diesem Falle Mohamet Ali aus einen be¬
waffneten Beistand Frankreichs nicht würde rechnen können, war unzweifelhaft;
und ebenso augenscheinlich war es, daß er dem gemeinsamen Willen der vier
Mächte keinen Widerstand würde entgegensetzen können, der durch seine Hart¬
näckigkeit und Ausdauer den europäischen Frieden bedrohende Zwischenfälle
helvclsührcn könnte. Palmerston befand sich daher in der behaglichen Lage
sich und dem französischen Gesandten in weitläufige theoretische Erörterungen
einlassen zu können über die Vortheile, die es bieten würde, wenn Mohamet
Ali wie durch ein Wunder von allen Unterthanen der Pforte anerkannt und
als wahrer Herrscher der Gläubigen geachtet auf den Thron des ottomanischen
Reiches erhoben werden könnte. Auch erkannte er Frankreichs Interesse an
Aegypten vollkommen an und wies den französischen Gesandten nicht ohne
Ironie daraus hin, daß grade dieses Interesses wegen Frankreich den Vicekönig
nicht so stark dürfe werden lassen. Diese gemüthlichen Unterhaltungen waren
natürlich weder ernst gemeint, noch darauf berechnet, auf den Bevollmächtigten
einen besonderen Eindruck zu machen. Palmerston wußte, daß Frankreichs
Stellung sest gewählt sei, und war nur darauf bedacht, ihm in dieser Stellung
die alierempsindtichste Niederlage durch völlige Demüthigung seines Schützlings
beizubringen.
Wie schon angedeutet, kam Alles darauf an, welche Stellung Rußland zu
der Frage einnehmen würde. Bestand es darauf, die Konsequenzen des Trac-
tates von Unklar Stelessi zu ziehen, so lag der Conflict wie bei der ersten
Phase der Frage; und daraus hatte Frankreich gerechnet.
Daß Rußland indessen gar keine Lust hatte, sich des Tractates wegen in of¬
fene Feindschaft mit fast dem ganzen Europa zu setzen, zeigte sich sehr bald. Die
russische Diplomatie, um mit Bequemlichkeit eine zuwartende, nach keiner Seite
hin comprvmittirende Stellung behaupten zu können, stellte systematisch die Authenti¬
cität der Nachrichten aus dem Oriente in Abrede, zu einer Zeit, wo kein Zweifel
mehr darüber bestehen konnte. Man stand aber offenbar vor einer Entscheidung,
zu der man sich ungern gedrängt sah. die man daher so lange als möglich hin¬
auszuschieben suchtet Nach dem Tractate handeln, hieß ganz Europa heraus¬
fordern; sich Mit den übrigen Mächten vereinigen, hieß eine glänzende Stellung
aufgeben, in dem Augenblicke, wo man berufen schien, sie zur Geltung zu bringen.
Ließ sich nun ein Preis finden, der groß und augenfällig genug war, um als
Aequivalent zu gelten für die Vortheile, die man durch das'Aufgeben des Ver¬
trages würde aufgeopfert haben? Der Tractat hatte für Rußland eine doppelte
Bedeutung. In den Augen der Orientalen, der Türken sowohl wie der
Ehristen, umgab er den Kaiser mit dem Nimbus des Protectors und versetzte
rhn in eine Stellung, die nicht sehr fern war von der eines Schiedsrichters
zwischen dem Sultan und seinen Unterthatcn. Den Mächten gegenüber bot er
eine diplomatische Handhabe in der orientalischen Frage, deren Anwendbarkeit
jedoch lediglich davon abhängig war, ob die Mächte die für Nußland aus dem
Vertrage entspringenden Rechte anerkannten. Erkannten sie dieselben nicht an, so
wurde in der That für Rußland ein jeder Versuch, sie zur Geltung zu bringen, zum
eirsuK bellt. Wichtig war der Vertrag für Rusland besonders deshalb, weil er die
Thatsache des russischen Einflusses förmlich constcuirte. Da nun Rußland nicht in der
Lage war, einen Kampf mit dem ganzen Europa zu erregen, um den Einfluß zur
Macht und Herrschaft werden zu lassen, da ferner ein Bündniß mit dem einzigen
Staate, mit dein man sich über die zu erreichenden Ziele hätte verständigen ton¬
nen, mit Frankreich, aus denselben Gründen wie 1833, unmöglich war, so
lag es zunächst in Rußlands Interesse, überhaupt jeden Conflict im Orient
zu verHuten. Da dies nicht mehr möglich war. so blieb dem Kaiser Nikolaus
Nichts übrig, als auf seine großen und weitaussehenden Entwürfe wenigstens
vorläufig zu verzichten und womöglich alt den übrigen Mächten gemeinschaft¬
lich zu handeln. Stand dieser Entschluß, der nach der Lage der Hinge unver¬
meidlich war. einmal fest, so konnte es sich nur noch um einen ehrenvollen
Weg des Einlenkens handeln. Den öffnete aber Frankreichs doppelseitige Stel¬
lung in dem Conflicte. Statt gegen Europa die eigenen Particularinteressen
zu verfechten, beschloß man. im"Verein mit Europas den Particularinteressen
Frankreichs entgegenzutreten. Die Bekämpfung eines gemeinschaftlichen Geg¬
ners mußte den eigenen Rückzug decken. Dies scheint die einfachste und natür¬
lichste Erklärung für die Haltung Rußlands. Sehen wir, wie )van diese «Auf¬
fassung von England durch die von Guizot mitgetheilten Thatsachen begründet wird.
Noch im Laufe des Juni berichtet der französische Gesandte, daß die Sprache
der russischen Diplomaten in London, so wie der vielen dort ab und zu gehen¬
den vornehmen Russen erkennen lasse, daß Nußland extreme Schritte zu ver¬
meiden wünsche. Diese Ansicht wird durch dje InAructioncn, die der russische
Gesandte in London vom Grafen Nesselrode erlsält. bestätigt. Und am 8. Juli
theilet Lord Clanricarde Palmerston aus Se. Petersburg 'mit, daß Nesselrode
bei jeder Gelegenheit versichere, der erste Wunsch des russischen Cabinets sei.
die Möglichkeit eines e^u? t'oeäsri? in Folge des Tractates von UnLiar Ske-
lessi zu vermeiden. So schloß sich Rußland auch ohne Zaudern dem von Met-
ternich an das kaiserliche Cabinet gerichteten Vorschlage gemeinsamer Berathun¬
gen ,h.er fünf Großmächte an. Charakteristisch für die Situation ist das schon
damals bei .all,e,N Mächten hervortretende Mißtrauen gegen die Absichten Frank¬
reichs. MeUernich bittet das englische Cabinet. Frankreich auch zum Beitritte
zu der Vereinigung der.übrigen Mächte zu überreden. So erscheint Frankreich
.schon halb isolirt 'in einem Augenblicke, wo es noch vollständig an d.i,e unver¬
meidliche Jsolirung Rußlands glaubt und in derselben den wirksamen Hebel
.für seine Molitik zu finden hofft.'
In Rußlands Haltung tritt indessen ein Widerspruch ein. den Guizot nicht
genug beachtet, und ?den er unerklärt gelassen hat. Wir wollen wenigstens den
Versuch einer Lösung nicht scheuen.
Unter dem Drange der Umstände zeigte die Pforte sich bereit, ausfolgen¬
den Grundlagen mit Mohamet Ali direct' zu unterhandeln. 1) Mohamet Ali
erhält Aegypten erblich; 2) Ibrahim erhält Syrien; 3) nach Mohamet Ali's
Tode succedirt Ibrahim in Aegypten, Syrien fällt an die Pforte zurück. Soult
(26. Indi) .erklärt sich mit den friedlichen Dispositionen der Pforte einver¬
standen, hebt aber hervor, daß Alles darauf ankomme, Rußland im Zaume zu
halten; man müsse daher die Pforte anhalten, nur durch Vermittelung der
Mächte mit dem Pascha zu unterhandeln. Das französische Cabinet ist also
entschlossn, die Frage des russischen Protectorates ein für allemal zur Entschei¬
dung zu bringen und Nußland völlig zu demüthigen. .Wie man.den Plan, «die
Angelegenheit'durch die europäischen Cabinete regeln zulassen, mit dem Wunsche,
Mohamet Ali zu unterstüticn. vereinigen wollte, ist allerdings, da man die «dem
Pascha ungünstige Stimmunq der Mächte kannte, «schwer zu begreifen; und in
Bezug auf diesen Punkt ist Louis Blancs Kritik «treffend. Man hoffte indessen
«(Und diese Hoffnung zieht sich trotz «wiederholter Täuschungen durch alle Ver¬
handlungen hindurch), daß der vorausgesetzt.estarre Widerstand Rußlands Eng-
land geschmeidig und gegen die Wünsche Frankreichs und Mohameds nachgibig
machen würde. Nußland natürlich ist mit dieser Wendung in Constantinopel.
welche die Regelung der Frage dem Schiedssprüche der Mächte zu entziehen
drohte, sehr zufrieden; am 27. Juli erklärt Kisseleff in London, das russische
Cabinet ziehe sich von den Verhandlungen zurück; man müsse die Negociatio-
nen in Constantinopel ihren Gang gehen lassen; sonst gebe es keine unabhän¬
gige Türkei mehr. An demselben Tage aber, wo der russische Gesandte in Lon¬
don diese Sprache führte, hatte Butenieff, der russische Gesandte in Constan-
tinopel, bereits den entscheidenden Schritt in entgegengesetzter Richtung gethan.
Am 27. Jul-i hatten die Bevollmächtigten der fünf Höfe in Constantinopel eine
Note übergeben, in der sie der Pforte mittheilen, daß die Uebereinstimmung der
Großmächte über die orientalische Frage gesichert sei, und sie auffordern, jede
definitive Entscheidung ohne Mitwirkung der Biächte zu suspendiren. Von die¬
sem Augenblick an ist Palmerston über Rußlands ^ Mitwirkung nicht mehr im
Zweifel und spricht sich auch dem französischen Gesandten gegenüber in dem
Sinne aus. Gerade von diesem Tag an tritt aber auch der Gegensatz zwi¬
schen England und Frankreich in seiner ganzen Schärfe hervor. Natürlich!
Frankreich wünschte Rußlands Jsolirung, um die ganze Action der Mächte von
Syrien ab und gegen Rußland";» lenken; England wünschte die Theilnahme
Rußlands, um mit'gedeckten Rücken den französischen Ansprüchen entgegentreten
zu können. Wie aber ist der Widerspruch zwischen der Sprache Rußlands in
London und seinem Handeln in Constantinopel zu erklären? Der Schritt der
fünf Bevollmächtigten war auf Metternichs Anweisung von dem östreichischen
Jnternuntius Baron von Stürmer veranlaßt worden; und Metternich hatte
sich auch für die Zustimmung des Kaisers Nikolaus verbürgt. Dennoch, trotz
dieser Bürgschaft, läßt sich kaum annehmen, daß Butenieff ohne die bestimmte¬
sten Jnstructionen seinen Hos in einer Weise engagirt haben sollte, die in den
Augen aller Cabinetc sofort als endgiltig und bindend angesehen wurde. Zwar
verleugnete Rußland die Note vom 27. Juli; der Kaiser'spricht sich sehr un¬
gehalten über Metternichs Bürgschaft aus; Nesselrode hebt in einer Note an
Butenieff hervor, daß die Pforte in einer Sache, die ein so großes Interesse für
sie habe, selbständig entscheiden müsse. Sollte aber diese Sprache wirklich ernst
gemeint gewesen sein? Wir glauben nicht. Es scheint vielmehr, daß Rußland,
als es in London durch Kisseleff seinen Rücktritt von den Verhandlungen er¬
klären ließ, bereits entschlossen war, dessenungeachtet an denselben Theil zu
nehmen; der Schritt in Constantinopel beweist dies. Aber es wollte Frank¬
reich von den Verhandlungen ausschließen. Das sicherste Mittel dazu war aber,
das französische Cabinet möglichst lange in dem Glauben an eine Jsolirung
Rußlands zu erhalten, und es auf die Art zu einem unbeweglichen Beharren in
einer Stellung zu verleiten, in der es mit England in unheilbaren Conflict ge¬
rathen und für den Fall des Conflictes sich selbst der Möglichkeit entschlossenen
Handelns berauben mußte. Erst nachdem der Gegensatz zwischen den Anschau¬
ungen Frankreichs und Englands sich bestimmt ausgesprochen hatte, wollte Ru߬
land offen und unwiderruflich die längst beabsichtigte Wendung vollziehen. Daß
das ganze Verfahren ein zwischen Palmerston und Nesselrode verabredetes Spiel
gewesen sei, ist durchaus nicht anzunehmen; eine vollständige Einigung Ru߬
lands und Englands wurde erst im weiteren Verlause der Verhandlungen er¬
reicht. Wohl aber ist man zu der Ansicht berechtigt, daß Palmerston sehr bald
die Absichten des russischen Cabinetes durchschaut, und da sie ihm zu Gute ka¬
men, in ihrer Entwickelung nicht gestört, sich auch nicht berufen gefunden hat,
Frankreich, gegen welches er bereits in der spanischen Angelegenheit Mi߬
trauen und Mißwollen zur Genüge dargelegt hatte, zu warnen, was ohne-
hin bei der Verblendung der Minister ein vergebliches Bemühen gewesen
wäre.
Lord Palmerston beherrschte fortan die Situation, da er die eine der ver¬
dächtigen Mächte durch die andere in Schach halten konnte. Am 18. August
berichtet Bvurqueney, Lord Palmerston sei jetzt in Folge der unerwarteten' (?)
Beistimmung Rußlands der Meinung, daß man in der' mißtrauischen Haltung
gegen das russische Cabinet ein wenig nachlassen müsse. Soult ist darüber sehr
verdrießlich; er beklagt sich darüber, daß Clanricarde in Se. Petersburg einen
isolirten Schritt gethan habe, worüber er indessen, wie Guizot selbst zugesteht,
keinen Grund zu klagen hatte, da das ganze Vergehen Lord Palmersto'us da¬
rin bestand, daß er genau dieselben Vorschläge, die er in Paris gemacht, auch
dem Petersburger Cabinet hatte zukommen lassen. Im September kehrte Gene¬
ral Sebastiani, der bis dahin von Bourqucney vertreten gewesen war, auf sei¬
nen Posten in London zurück; gleichzeitig mit ihm kommt, von Rußland gesandt,
ein gefährlicher Rival, Baron von Brünnow, in London an. Sebastiani sieht
sehr bald (was Ludwig Philipp, dessen persönliche Anschauungen Sebastiani
vertrat, wahrscheinlich schon längst eingesehen hatte), daß bei einem beiderseiti¬
gen Festhalten der Standpunkte' eine Vereinigung nicht möglich sei. Dessen¬
ungeachtet bemüht er sich, bei Palmerston die' Nachgibigkeit Ruhlands zu ver¬
dächtigen, und ein Zusammengehen Rußlands und Englands als unmöglich
darzustellen. Palmerston erwiedert mit Recht, er könne doch Rußland nicht zu¬
rückstoßen in dem Augenblicke, wo es die englischen Anschauungen zu den sei¬
nigen mache; während Frankreich, indem es jede Theilnahme an Coercitiv-
maßregeln gegen den Pascha von vornherein verweigere, sich in eine Stellung
begebe, in der es sich vollständig von dem europäischen Konsensus trenne.
Kaum schien so der Ausschluß Frankreichs gesichert, so singen die An¬
sprüche Rußlands wieder an, sich zu steigern. Brünnow erklärt zwar, daß
Rußland sich dem europäischen Concert anschließe, aber doch fordere, daß seine
Streitkräfte im Nothfalle allein ins Marmorameer einrückten, um den Sultan
im Namen Europa's zu beschützen. Sofort thut Palmerston Frankreich einen
Schritt entgegen und gesteht Sebastiani für Mohamet Ali außer der erblichen
Investitur mit Aegypten noch das Paschalik von Akkon zu. Soult weist das Aner¬
bieten zurück. Die Minister sind vollständig von der fixen Idee beherrscht, daß ein
EinVerständniß zwischen England und Nußland unmöglich sei. Damit hatte Frank¬
reich die Brücke hinter sich abgebrochen, ohne doch zum Kampfe entschlossen zu sein.
Palmerston war mit der Zurückweisung seiner letzten Anerbietungen sehr
zufrieden, da er jetzt der vollständigen Nachgibigkeit Rußlands gewiß war.
Noch vor Jahresschluß konnte er Sebastiani in Kenntniß setzen, daß Brünnow
die Vollmacht habe, eine Convention abzuschließen, in der die gemeinschaftliche
Zulassung der Verbündeten Flaggen in den Gewässern von Constantinopel oder
ihre allgemeine Ausschließung förmlich anerkannt werde. Dieser Thatsache
gegenüber ist Soult doch betroffen und erklärt sich bereit, die Frage von Neuem
zu' prüfen, wenige Tage später aber kommt er wieder auf sein altes Thema zurück
und warnt Palmerston vor der Freundschaft Rußlands, das nur darauf specu-
lire. England von Frankreich zu trennen. Kurz, während die wichtigsten Ver¬
änderungen im europäischen Alliancesystem sich zu entwickeln beginnen, thut die
französische Diplomatie weder einen Schritt vorwärts noch rückwärts.
Die Staatsmänner in Paris, die von der für den Pascha begeisterten
öffentlichen Meinung scharf bedrängt wurden, singen indessen doch an, über dle
Unbeweglichst der Situation besorgt zu werden. Man war und großen Er¬
wartungen in die Krisis hineingegangen; selbst Männer von Guizots Beson¬
nenheit hatten sich den allgemeinen Illusionen hingegeben. Jouffroy in einem
Comiteberichte wegen Bewilligung eines Credits von 10 Millionen zu Flotten-
Rüstungen hatte das Ministerium feierlich für eine feste Politik verantwortlich
gemacht und ihm prophezeit, daß, wenn es die Angelegenheit in einer Frank¬
reichs würdigen Weise zum Ziele führe, es das ruhmvollste Cabinet sein werde
von allen, welche seit 1830-die Geschicke der Nation gelenkt haben. Und nun
sah man sich in eine Stellung gedrängt, in der man nicht verbleib»» konnte,
ohne entweder auf jeden Einfluß zu verzichten, oder sich in einen verzweifelten
und hoffnungslosen Krieg mit Europa zu stürzen. An letzteren Ausweg dachte
wohl ernsthaft kein Staatsmann; wohl aber wurde er zum'unerschöpflichen Text
für die außerparlamentarische Debatte. Und je mehr die Leidenschaften sich er¬
hitzten, desto schwieriger wurde der Rückzug aus der Stellung, in die man sich
verirrt hatte. Zuerst kam man auf das bequeme Auskunftsmittel, dem General
Sebastian! die Schuld für daß Stocken der Verhandlungen mit England bei¬
zumessen, indem er bei seinen türkenfreundlichen Antecedentien Pallnerstons
Anschauungen zu nahe stände, um die entgegengesetzten Ansichten mit Erfolg
zu vertreten! Daß man mit der Abberufung Sebastiani's den König persön¬
lich traf, trug nur dazu bei, die Maßregel in der Kammer und im Publicum
populär zu machen. In der That war'auch die Abweichung der Politik Lud¬
wig Philipps von der seines Cabinets Palmerston nicht entgangen und von ihm
gelegentlich ausgebeutet worden. Indem man aber das Uebel heilen wollte,
verkannte man den wahren Sitz desselben. Auf Concessionen hatte man, seit
man das durch Sebastiani vermittelte Anerbieten abgelehnt hatte, nicht mehr
zu hoffen. Die Unterhandlungen konnte man nnr in dem Falle mit Aussicht
auf Erfolg fortsetze», wenn man zrir äußersten Nacbgibigleit, zum völligen
Verzicht auf die eigenen Pläne entschlossen war. Statt'dessen beabsichtigte
das Ministerium, seinen Standpunkt noch schroffer hervortreten zu lassen. Es
beharrte auf eiuer Politik, die sich nur mit den Waffen durchführen ließ, und
war doch entschlossen, es nicht zum Kriege kommen zu lassen. Aber man
glaubte so fest an das Dogma von der Unmöglichkeit eines Zusammengehens
Rußlands und Englands, daß man vor den klarsten Thatsachen das Auge ver¬
schloß, und als mein dies nicht mehr vermochte, seine Rechnung auf das'Unbe¬
rechenbare, auf möglicher Weise eintretende Zwischenfälle, stellte.'
Für den Gesandtschaftsposten in London schien nun nach Sebastianis Ab¬
berufung Guizot die geeignete Persönlichkeit zu sein. Er hatte in einer Rede
in, der Kammer die Theorie von der Vereinbarkeit der Integrität der Türkei
mit der Bildung eines syro-ägyptischen Reiches entwickelt er hatte bewiesen,
daß es für England eine Nothwendigkeit sei, mit Frankreich Hand in Hand zu
gehen; er hatte zu verstehen gegeben, daß Palmerftons Politik nicht Als der
Ausdruck der öffentlichen Meinung in England anzusehen sei. Kurz er theilte,
wie er selbst mit Offenkeit bekennt, alle Illusionen, die in Frankreich über die
Lage der Dinge herrschten. Auch seine Beziehungen zu den Torys (denn
auch die Möglichkeit eines Ministerwechsels in England wurde bei den Berech¬
nungen der französischen Politik in Anschlag gebracht) mochten ihn empfehlen.
Dabei war er allen kriegerischen Tendenzen 'abgeneigt. Kurz er war der Mann
der Situation. Außerdem sah ihn das Ministerium lieber in London, als in
Paris, wo er, obgleich er die Regierung bis jetzt in loyaler Weise unterstützt
hatte, doch in der Kammer hätte ünbegtiem werden können. So wurde, trotz
des Sträubens Ludwig Philipps, Guizot an Sebastiani's Stelle als Gesandter
nach London geschickt.
Hier bricht der vierte Theil der Memoiren Guizots ab. Daß seine Mis¬
sion in London erfolglos bleiben mußte, lag in der Natur der Dinge. Seine
Aufgabe war eben unlösbar, weil es der französischen Regierung' ein jedem
Mittel zum diplomatischen Handeln fehlte. Am 15. Juli 1840 Wurde durch
einen wider Wissen Frankreichs abgeschlossenen Tractat endgiltig über die
orientalische Frage entschieden. Man kam überein, sofort und ohne erst die
Ratifikationen abzuwarten, Zwangsmaßregeln gegen den Pascha anzuwenden,
wenn er sich der an ihn gerichteten Forderung/Syrien zu räumen, nicht fügen
würde. Der Widerstand des Pascha war schwächer, als man erwartet hatte,
und schon am 27. November unterwarf er sich durch eine zu Alexandria mit
dem Commodore Napier abgeschlossene Convention den gestellten Bedingungen.
In Frankreich brachte begreiflicher Weise der Tractat große Aufregung
hervor. Thiers, seit dem 1. März 1840 Präsident des Conseils und Minister
des Auswärtigen, beklagt sich bitter, daß man vor dem Abschluß nicht Frank¬
reich um 'einen Beitritt befragt habe. Die Vernachlässigung war allerdings
empfindlich, aber doch nur eine natürliche Folge der von Frankreich eingenom¬
menen Stellung, da die französische Negierung allen Aufforderungen zur Mit¬
wirkung gegenüber, wie Thiers selbst zugibt,'wiederholt sowohl in der Terri-
torialfragc ihren Standpunkt festgehalten," als auch unzweideutig erklärt hatte,
daß sie sich unter keinen Umständen an einer Maßregel beteiligen werde, die
zur Anwendung von Waffengewalt wider den Vicekönig führen könnte. Jeder
erneute, voraussichtlich völlig vergebliche Versuch, Frankreich zu gewinnen,
würde zu Weiterungen geführt baden, die Palmerston um jeden Preis zu ver¬
meiden wünschte. Gewiß waren Lord Palmeiston und der Kaiser Nikolaus
sehr erfreut darüber, Frankreich verletzend behandeln und demüthigen zu kön¬
nen. Aber die Klagen Thiers über eine rücksichtslose Behandlung' waren ob¬
jectiv dennoch unbegründet.
Den jetzt unvermeidlichen Rückzug suchte Thiers durch eine Möglichst
kriegerische und drohende Haltung zu verdecken. Während er in Frankreich
den kriegerischen Leidenschaften alle Zügel schießen ließ, während er den Rhein
zu bedrohen schien und ganz Europa mit dem Lärm seiner Rüstungen füllte,
und so die Blicke des Publicums von der Frage, um die es sich' eigentlich
handelte, ablenkte, gab er in einer Note vom 8. Oct. Syrien auf, fügte in¬
dessen, um doch scheinbar einen positiven Standpunkt festzuhalten, eine nichts¬
sagende Drohung hinzu, indem er erklärte, daß er in keinem Falle einen An¬
griff auf Acgypten dulden werde. Man hat Thiers wegen seines Verhaltens
in dir damaligen Krisis vielfach jede staatsmännische Befähigung abgesprochen:
wie uns scheint Mit Unrecht. An einen propagandistischen Krieg hat er gar nicht
gedacht. Wohl aber nöthigte ihn die aufgeregte Stimmung der Gemüther, den
Anschein kriegerischer Tendenzen anzunehmen, um den Staat aus einer Lage
zu ziehen, in die er ihn nicht gebracht hatte. Natürlich machte der innere
Widerspruch seiner Politik, die z. Th. nur auf den Schein berechnet war, seine
Stellung als Minister unhaltbar: die Kriegslustigen suchten ihn in Bahnen zu
drängen, die zu betreten erfgar nicht beabsichtigte-, die friedliebende Bourgeoisie
betrachtete ihn wegen des von ihm hervorgerufenett Kriegslärms Mit äußerstem
Mißtrauen. So zog er sich zurück, und überließ es Guizot an der Spike dös
Ministeriums vom 29. Oct. 1840. die von ihm durch die Noten vom 8. Oct.
angebahnte diplomatische Rehabilitirung Frankreichs weiter zU Verfolger und
zum Ziele zu führen. Die unheilvollen Folgen, welche diese diplomatische Ka¬
tastrophe auf die äußeren und mittelbar auch aUf die inneren Verhältnisse der
Julimonarchie ausgeübt hat. beabsichtigen wir später in einem anderen Zu¬
Der Ministcrwechsel kam Niemandem unerwartet; wer mit einiger Aufmerksam¬
keit den Gang der Dinge verfolgte, mußte sehen, daß, wie nachgibig auch die
liberalen Minister sein mochten, sie doch am Ende an eine Grenze gedrängt werden
würden, die sie nicht überschreiten konnten. Sobald die Alternative vor ih.nen lag,
entweder die großen politischen Grundsätze zu opfern, denen sie bis dahin ihre besten
Kräfte gewidmet hatten, oder aus dem Rath der Krone zu treten, konnte es nicht
mehr zweifelhaft sein, wie ihre Wahl ausfallen würde. Sie haben eine Stellung
verlassen, welche unmöglich geworden war, und haben sich damit für eine bessere
Zukunft möglich erhalten.
Aber nicht allein um der ausgeschiedenen Minister willen halten wir den ein¬
getretenen Wechsel sür ein Ereigniß, das nicht entfernt zu beklagen ist. Auch für
die ganze Entwickelung unseres politischen Lebens ist es weit besser, daß wir aus
der schwülen Atmosphäre eines Krankenzimmers wieder auf eine Zeitlang in einen
frischen Nordostwind gerathen. Und vorzugsweise können grade die mittleren Par¬
teien mit der eingetretenen Wendung zufrieden sein. Denn die Fortdauer des bis¬
herigen Zustandes drohte die constitutionelle Partei in sich selbst zu demoralisiren
und im Lande zu discrcditiren. Wie konnte es anders sein? Im Ministerium saßen
die ehemaligen Führer der Constitutionellen. Aber nur in seltenen Fällen waren
sie im Stande, ihre Ueberzeugungen durchzusetzen. In einer leicht erklärlichen ge¬
müthlichen Täuschung befangen, hatten sie ihre Aemter übernommen, ohne sich vor-,
der die nöthigen Garantien geben zu lassen. Dadurch geriethen sie in eine Stel¬
lung, die immer unhaltbarer wurde, je mehr in der nächsten Umgebung des Thrones
die Strömung sich gegen sie wandte und je matr in natürlicher Folge davon die
Ungeduld im Volke wuchs. Dadurch gerieth auch die ganze constitutionelle Partei
in eine unnatürliche und für sie selbst verderbliche Lage. Sie möcht.' eine
Regierung, in der ihre' eigenen Freunde saßen, nicht angreifen, und doch
konnte sie diese Regierung, welche nicht im Stande war, für die Verwirklichung
ihrer Grundsätze etwas Ernsthaftes zu thun, nicht lebhaft und nachdrücklich unter¬
stützen. So wurde die ganze Partei gelähmt und nur von der Rücksicht beherrscht,
den Stoß zu Pariren, der das bis dahin noch geduldete System zum Falle bringen
mußte. Keine ungünstigere Lage läßt sich für eine parlamentarische Partei denken.
Was das Schlimmste ist. sie löst sich dadurch allmälig von den Wurzeln ihrer Kraft.
Im Volke hat man kein Verständniß für eine solche diplomatisilen.de Haltung und
die öffentliche Meinung wendet sich daher mehr und mehr den rücksichtsloseren Ex¬
tremen zu. Dies war während der letzten Session das unglückliche Verhältniß,
unter welchem die Fraction Grabow litt. Alte Freunde bröckelten von ihr los,
und die öffentliche Meinung erwartete nichts mehr von einer Partei, welche, wie es
schien, nur noch die Fähigkeit besaß, den Principien die Spitzen abzubrechen.
Dies wird jetzt anders. Die constitutionelle Partei tritt unter der Fahne der
Opposition auf den Kampfplatz. Sie hat keine anderen Rücksichten zu nehmen, als
die auf ihre eigenen Grundsätze. Also gibt grade der Ministerwechsel unseren Freun¬
den Gelegenheit, nach unten das verlorene Terrain wieder zu gewinnen. Nach oben
standen die liberalen Minister nur noch auf einer hoffnungslosen Defensive. Wenn
sie als Führer ihrer Partei zur Macht zurückkehren, werden sie eine viel stärkere
Position einnehmen als früher. Es kommt jetzt nur darauf an, den praktischen
Beweis zu führen, daß es auf die Dauer in Preußen unmöglich ist, gegen die
öffentliche Meinung des Landes zu regieren.
Dieser Beweis wird um so leichter gelingen, je weniger jetzt die Organe der
gemäßigteren und der fortgeschritteneren liberalen Partei sich in unnützem retrospek¬
tiven Gezänk gegen einander erhitzen. Die Constitutionellen und die Fortschritts-
Partei werden als zwei gesonderte Parteien bei den nächsten Wahlen auftreten; das
ist nach dem Verlauf der letzten Monate nicht anders möglich. Aber es ist nicht
einzusehen, warum sie nicht als verbündete Parteien sollten auftreten können. Der
vornehmste Feind, weichen beide gemeinschaftlich zu bekämpfen haben, ist die Reaction,
und diese hat keine andere Chance bei den bevorstehenden Wahlen, als den Hader
zwischen den verschiedenen Fractionen der liberalen Partei. Was kann es der Sache
des Fortschritts nützen, wenn jetzt die Presse der Fortschrittspartei den abgetretenen
Ministern ihre Unterlassungssünden nochmals vorhält? Wissen wir doch alle,
daß durch größere Entschiedenheit die Minister wohl früher ihre Entlassung, aber
nicht die Durchführung ihrer Grundsätze Hütten erlangen können. Eben so wenig
aber ist zu begreifen, welcher Vortheil dem gemäßigten Liberalismus daraus er¬
wachsen soll, wenn die Presse desselben die Demokratie zurückstößt und nicht
daran glauben will, daß auch diese sich auf den Boden der Verfassung stellen
und an dem Ausbau derselben ernsthaft mit arbeiten könne. Der günstige Erfolg
der nächsten Wahlen wird zum Theil davon abhängen, ob diese unfruchtbaren
Zänkereien vor der größeren und ernsteren gemeinschaftlichen Aufgabe zurücktreten.
Das neue Ministerium hat bis dahin noch nicht viel von sich hören lassen.
Der Allerhöchste Erlaß vom 19. d. M. wird als das Programm der jetzigen Regie¬
rung betrachtet werden sollen. Im Ganzen hat derselbe eine beruhigende Wirkung
gehabt. Von der Reaction waren zahlreiche Gerüchte in Umlauf gesetzt, nach denen
Octroyirungcn und Staatsstreiche bevorstehen sollten; solche beunruhigende Be¬
fürchtungen sind durch den Allerhöchsten Erlaß vorläufig niedergeschlagen. Der
König will an den Formen der Verfassung festhalten, wenn er auch mit dem Geist
derselben sich nicht befreunden kann. Im Uebrigen beschränkt der Erlaß sich im
Grunde darauf, aus dem Programm vom 8. Novbr. 1858 den Satz, daß bei den
Reformen im Innern doch nicht mit der Vergangenheit gebrochen werden soll, noch¬
mals besonders einzuschärfen und vor den irrthümlichen Auslegungen zu warnen,
bei welchen dieser Satz keine Berücksichtigung gefunden habe. Wenn außerdem er¬
klärt wird, daß auch in Bezug auf die deutsche Politik der bisherige Standpunkt
unverändert festgehalten werden soll, so scheint dabei eine kaum begreifliche Täuschung
obzuwalten. Denn das Programm von 1858 sprach von „moralischen Eroberungen,
die Preußen in Deutschland machen solle. Herrn von der Heydt aber hätten wir für
zu klug gehalten, als daß er sich selbst die Fähigkeit zutrauen sollte, moralische Er¬
oberungen zu machen. Im Uebrigen scheint der Erlaß ein Festhalten an der ver¬
fassungsmäßigen Freiheit der Wahlen eher zu bestätigen als in Frage zu stellen.
Dieses Programm würde also der neuen Negierung noch nicht ein so übles
Prognostikon stellen, wenn nicht zu gleicher Zeit in der Stcrnzeitung ein Commen-
tar erschienen wäre, welcher die allgemeinste Entrüstung hervorruft. Die neueste
Aera scheint einen Polizeiwachtmeister mit der Leitung der officiösen Presse beauftragt
zu haben; wenigstens muß man dies aus dem Ton und der Sachkenntniß schließen,
womit das Organ der Regierung das jetzige Programm entwickelt. Zuerst wird die
Majorität der aufgelösten Kammer auf die Anklagebank gesetzt; aber dabei passirt
der hnlbvfficiellen Zeitung das Unglück, daß sie der Fortschrittspartei als Hauptvcr-
brechcn die Absicht vorwirft, für ihre Zustimmung zur Armeeorganisation andere Conces¬
sionen von allgemein politischer Bedeutung sich erkaufen zu wollen. Aber es ist doch noto¬
risch, daß diese Abkaufstheorie von der ganzen Fortschrittspartei unablässig bekämpft, dage¬
gen gerade von dem bedeutendsten Organ der gouvernementalen Partei vertheidigt ist.
Uebrigens müssen wir uns erinnern, daß unsere jetzigen Minister noch großen-
theils Neulinge auf dem Gebiet des constitutionellen Staatslebens sind. Nur so
läßt es sich entschuldigen und einigermaßen erträglich finden, daß jetzt wieder in
officiellen und halbofficicllen Auslassungen der Regierung von „wohldenkenden" oder
von „übelgesinnten" Klassen der Bevölkerung die Rede ist. Noch nie hat es einer
Regierung Vortheil gebracht, die Gesinnung ihrer Gegner zu verdächtigen. Für dje
Regierung muß jede politische Partei, die auf dem Boden der Verfassung steht, wechl-
denkcnd sein; übelgesinnt kann nur derjenige heißen, der außerhalb der Verfassung
steht, der also entweder die Republik oder den Absolutismus will.
Der schlimmste Mißgriff aber, welcher dem halbofficiellcn Blatte begegnen
konnte, ist pie Erklärung, daß es sich bei den nächsten Wahlen um die Frage han¬
deln werde, ,,ob die Macht der Regierung bei der Krone bleiben, oder ob sie dem
Abgeordnetenhaus zufallen soll." Schon vorher hatte die Kreuzzeitung dieselbe Pa¬
role ausgegeben. Es läßt sich begreifen, daß das Parteiorgan der extremen Reac¬
tion auf einen solchen verzweifelten Einfall kommt, daß es auf die noch ungcschwüchte
königliche Gesinnung der großen Mehrzahl der Bevölkerung speculirt und versucht,
die Anhänger der Verfassung als Feinde des Königthums zu verleumden. Mer für
das Organ per Regierung ist ein solches Mittel eben so unwürdig wie unklug. Nie¬
mandem ist es eingefallen, den Prärogativen der Krone zu nahe zu trete»; — nur
das verfassungsmäßige Recht, nach bestem Ermessen innerhalb der Grenzen ihrer
Competenz Ja oder Nein zu sagen, will die Volksvertretung sich auch dann nicht
verkümmern lassen, wenn ein Lieblingsplan des Königs dadurch sollte gekreuzt wer¬
den. Dies ist ein einfacher constitutioneller Conflict, dessen Lösung nicht schwer
sein kann, so lange jeder Theil der Schranken seiner Gewalt sich bewußt bleibt.
Er wird eine schwere Krisis für den ganzen Staat, sobald man den Conflict zu
einem Gegensatz von königlicher und parlamentarischer Regierung steigert, oder sogar
diesen Gegensatz offen als die demnächstige Wahlfragc proclamirt. Die Ertreme be¬
rühre» sich, und daher mag es der Kreuzzeitung gestattet sei» , eine Theorie zu ver¬
künden, welche nach Bonaparte'sehen Muster die Souveränetät der Krone gewisser¬
maßen auf das Luikrag« umyersvl stellt. Aber was will die Sternzeitung sagen,
weiln wir sie nach den Wahlen beim Worte nehmen? Kein guter Preuße zweifelt
daran, daß die nächsten Wahlen gegen die jetzige Regierung ausfalle» werden. Will
die Sternzeitung dann behaupten, daß die Wahley gegen die Krone ausgefallen seien ?
Dem wahren Nutzen der Krone würde sie damit nicht dienen. Wenn wir gegen das
jetzige Ministerium stumme», so glauben wir eben so treue Unterthanen des Königs
zu sein, wie die Anhänger des Ministeriums, und wir denken Sr. Majestät getreue
Opposition zu bleiben, bis unsere Freunde wieder im Rathe der Krone sitzen.
Für den Augenblick ist das, was jetzt geschieht, ein empfindlicher Rückschlag,
sowohl in inneren als auch in deutschen Angelegenheiten. Schon macht sich dies in
den Verhandlungen des gothaischen Landtags über die Mililärconvention bemerkbar. Für
die deutsche Frage wird es das Günstigste sein, wenn in der nächste» Zeit von ihr gar nicht
die Rede ist. Aber darum darf man nicht an der Gesundheit des preußischen Staats verz>pei-
scln, nochanscinerFähigkeit, die Führung der deulschenDingezu übernehmen. Das preu¬
ßische Volt wird jetzt zu zeigen haben, daß es mit Ruhe und Festigkeit die gesetzliche» Mittel
zu gebrauchen versteht, welche die Versass»»g ihm an die Hand gibt. Es mag sein,
daß der Kampf etwas länger währt und erbitterter geführt wird, als diejenigen
glauben, welche den, jetzigen Ministerium nur eine Lebensdauer von wenigen Mo-
naten versprechen. Aber das Resultat wird sein, daß aus einigen Gewitterstürmen
der preußische Staat erfrischt und gestärkt hervorgeht. So lange man von allen
Seiten sich innerhalb der Schranke» hält, welche die Verfassung zieht, kan» der end¬
liche Sieg einer verfassungsmäßigen Regierung nicht zweifelhaft sein. Dies hoffen
und erwarten wir in einem so ruhigen, gesetzlichen, leicht zu regierenden Lande,
wie Preußen ist. Sollten aber dennoch die Schranken der Verfassung von irgend
einer Seite Überschritten werden, so würde ein solches Unrecht nur demjenigen, der
es begeht, zum Verderben gereichen. _ _'
Es kann kaum überraschen, zu erfahren, daß das stolze non possumus der
römischen Curie, welches sie noch kürzlich dem Andrängen des Marquis von
Lavalette entgegensetzte, keineswegs mehr der unverletzten Jungfräulichkeit sich erfreut,
welche bei den Bewunderern der römischen Hartnäckigkeit so tiefe Verehrung ge¬
nießt. Zu allen Zeiten hat es Rom verstanden, sich nicht blos mit den Kin¬
dern dieser Welt, sondern auch mit den Ideen dieser Welt zu vertragen, sobald
diese Fügsamkeit mehr Vortheil für die eigenen Interessen versprach als zäher
Widerstand. Und wenn auch der Vertrag von Tolentino, in welchem Pius
der Sechste genöthigt war, auf den Besitz von Avignon und Venaissin, auf
Bologna, Ferrara und die Romagna zu verzichten, nicht gerade als ein Beispiel
freiwilliger Verzichtleistung angeführt werden kann, so hat doch der gegenwär¬
tige Papst selbst in den ersten Jahren seiner Regierung sich zu solchen Conces¬
sionen an die Ideen der Zeit und an die Forderungen des italienischen Volkes
verstanden, welche in der That das Aufgeben wesentlicher, durch die Tradition
überkommener Souverainetätsrechte bedeuteten. Principiell hatte der Papst schon
damals ganz den Weg beschütten, der ihm jetzt zugemuthet wird, schon damals
war die römische Frage in ein Stadium eingetreten, in welchem sie nicht vom
Standpunkt eines religiösen Dogmas, sondern vom Standpunkt der Politik
aufgefaßt und behandelt wurde. Auch für die Zukunft wird sich zuverlässig
annehmen lassen, daß trotz des emphatischen iron xossumus, trotz der wieder¬
holten Versicherung, „keine Transaction mit Räubern" einzugehen, die Curie
keineswegs Bedenken tragen wird, sich gutwillig mit dem Königreich Italien
abzufinden, sobald sie davon mit Sicherheit eine Förderung ihrer Interessen er¬
warten, oder wenigstens ein schlimmeres Schicksal damit abzuwenden hoffen kann.
Daß dann Sr. Eminenz dem Cardinal-Staatssecretär Antonelli die Betretung
dieses Wegs nicht mehr ganz neu sein wird, dasür liegen heute die Beweise vor
in den Documenten, welche kürzlich zu Turin über Verhandlungen, die zwischen
Cavour und Antonelli im Anfang des Jahres 1861 geführt wurden, veröffent¬
licht worden sind.
Daß in jener Zeit vielfach über die römische Frage verhandelt wurde, war
schon damals in die Oeffentlichkeit gedrungen, wenn auch nur in Form unbe¬
stimmter Gerüchte und Vermuthungen. .Aber die ganze damalige politische Situa¬
tion diente dazu, diesen Gerüchten einen festen Hintergrund zu geben, eine Reihe
unzweifelhafter Thatsachen schien zu bestätigen, daß eine Lösung der Frage be¬
absichtigt und im Werte sei. Vergegenwärtigen wir uns in Kürze die dama¬
lige Lage.
Graf Cavour stand auf dem Gipfel seiner Erfolge. Die Annexion der
mittelitalienischen Provinzen war vollzogen, die bourbonische Dynastie aus Nea¬
pel vertrieben, auch der Einnahme von Gaeta, dem letzten Zufluchtsort Königs
Franz, konnte man mit jedem Tag entgegensehen. Bereits waren die Wahlen
zum ersten italienischen Nationalparlament erfolgt, sie waren ganz zu Gunsten
des Ministeriums Cavour ausgefallen, und man wußte, daß der erste Act des
Parlaments, dessen Eröffnung bevorstand, die Proclamirung des Königreichs
Italien sein werde. Das Einigungswerk war vollendet — bis aus Rom und
Venedig. Konnte die Bewegung, die im besten Flusse war, plötzlich stille stehen?
oder konnte ihr Kaiser Napoleon plötzlich Halt gebieten, nachdem er trotz des
Züricher Friedens die Annexionen geschehen lassen und soeben dem König
Franz auch den Schutz der französischen Flotte entzogen? In der That schie¬
nen auch die Dispositionen Frankreichs nur günstig zu sein. Am 4. Febr.
hatte der Kaiser die Sitzungen seiner Staatskörper mit einer Thronrede eröff¬
net, welche, so unbestimmt und farblos sie auch gehalten war, doch jedenfalls
die Anhänger der päpstlichen Sache nicht ermuthigen konnte. Am folgenden
Tag hatte Präsident Mvrny dem gesetzgebenden Körper ein Reihe von diplo¬
matischen Ackerstücken vorgelegt, von welchen die aus die italienischen Angele¬
genheiten bezüglichen bei Weitem die wichtigsten waren. Man fand, daß in
dem Expose der Regierung, welches diese Vorlage begleitete, der Widerstand der
römischen Kurie in den schärfsten Ausdrücken betont war, daß die ganze Zu¬
sammenstellung der bezüglichen Thatsachen den Eindruck machte, als ob es auf
den demnächstigen Bruch mit der päpstlichen Negierung abgesehen sei. Zu gleicher
Zeit wurde mit großem Eclat angekündigt, daß eine neue Broschüre von La-
guerronniöre im Anzug sei, und als diese endlich nach langen Vorbereitungen
und Redactionsverhandlungen erschien (am 15. Febr.), fehlte zwar darin der
angekündigte Passus, worin die eigentliche Lösung ausgesprochen sein sollte,
die Lösung, welche den Papst auf den Vatican beschränkte, und dem
König Victor Emcuruel unter dem Titel eines Vicariats die weltliche Re¬
gierung des Kirchenstaats zusprach. Aber indem die Broschüre eifrigst
die Nothwendigkeit einer Versöhnung zwischen dem Papst und der italie¬
nischen Negierung verfocht, worin allein die Lösung bestehen könne, schien
die kaiserliche Regierung um so mehr geneigt zu sein, einem directen Abkommen
zwischen Rom und Turin, falls ein solches sich erzielen ließ, nichts in den Weg
zu legen. Unter diesen Umständen folgte man mit gespanntem Interesse den
Reisen mehrerer Persönlichkeiten, die offenbar mit solchen Unterhandlungen in
Verbindung standen. Man wußte, daß der Abbate Passaglia in der ersten Hälfte
des Februars in Turin angekommen war und sei es mit oder ohne Wissen des
Papstes mit Cavour verhandelte. Man wußte, daß dieser Jesuit, der noch bor
wenigen Jahren als der eigentliche Urheber des letzten Triumphs der Hierarchie,
der Prvclamirung des Dogmas von der unbefleckten Empfängniß galt, einer
Verständigung zwischen dem Papstthum und der Sache Italiens das Wort
redete, und sie selbst auf Kosten der weltlichen Herrschaft des Papstthums zu
betreiben bereit war. Man sprach außerdem von einer Reise des Marquis v.
Cadore, des französischen Gesandtschaftsraths in Rom, nach Paris und London,
von einer Mission des Monsignor Saccvni nach Paris — kurz die Luft war ange¬
füllt mit Gerüchten, die sich aus die römische Frage bezogen, und es war die
allgemeine Erwartung, bald von entscheidenden Schritten in dieser Richtung
zu hören.
Ganz in diese selbe Zeit nun fallen auch die geheimen Verhandlungen
zwischen Cavour und Antonelli, auf welche sich die oben erwähnten Enthüllungen
eines gewissen Don Jsaia, früheren Secretärs des Kardinals Andrea, beziehen.
Aber es ist eine ganz neue Seite der Versuche die römische Frage zu lösen,
welche in ihnen zum Vorschein kommt. Während nämlich Graf Cavour einer¬
seits unausgesetzt die diplomatische Intervention Frankreichs anrief, während er
andrerseits durch Passaglia ein Einverständnis; mit der italienisch gesinnten
Fraction im Cardinalscollegium anstrebte, versuchte er gleichzeitig noch einen
dritten Weg, um zum Ziel zu gelangen. Am meisten Erfolg versprach sich näm¬
lich der feine Diplomat, wenn es ihm gelänge den Cardinal Antonelli, der als
die Seele des reactionären Widerstands galt und schon um seines Einflusses
auf den Papst willen bei Weitem die wichtigste Stimme war, persönlich ins Interesse
zu ziehen. Neben jenen officiellen und halbvertraulichen Schritten unternahm
er es deshalb, durch Unterhändler zweiten und dritten Rangs geheime Bezie¬
hungen, von denen namentlich Frankreich nichts wissen durste, mit dem Cardi-
nalstaatssccrctär anzuknüpfen und diesen — nicht ohne ihm persönliche Vor¬
theile in Aussicht zu stellen — für seine Projecte zu gewinnen.
Der genauere Hergang dieser geheimen Verhandlungen ist nach den Ent¬
hüllungen Don Jsaia's. der selbst dabei die Rolle eines Zwischenhändlers spielte,
folgender.
Graf Cavour bediente sich zunächst eines Bekannten aus Vercelli, den er
als einen zuverlässigen geschickten Mann kannte, Namens Omero Bozino, der
im Begriff stand, wie es scheint, in Familienangelegenheiten, sich nach Rom zu
begeben. Diesen beauftragte er das Terrain zu sondiren und die Gesinnungen
Antonelli's in Bezug aus ein gütliches Abkommen zwischen der italienischen Re¬
gierung und dem römischen Hof auszukundschaften. Bozino knüpfte, in Rom
angekommen, Bekanntschaft mit Don Jsaia an, und dieser, der mit den Wegen
der römischen Curie wohl vertraut war, warf seine Augen auf den Advocaten
Salvator Aguglia, der früher Secretär des Paters Ventura gewesen war und
jetzt sich des besondern Vertrauens des Staatssecretärs erfreute. Aguglia wurde
eingeweiht und hatte kurz darauf Gelegenheit in einer Unterredung mit dem
Cardinal bei diesem anzuklopfen.
Antonelii merkte bald, daß hinter den Worten Aguglia's ein vertraulicher
Auftrag Cavours stecke, und als er sich dessen vergewissert hatte, gab er zu ver¬
stehen, daß er der Anknüpfung von Verhandlungen nicht abgeneigt wäre. Agu¬
glia hinterbrachte dieses erste Ergebniß an Jsaia, dieser theilte es dem Bvzino
mit, der wiederum an den Grafen Cavour berichtete.
Obwohl Antonelii sich mit größter Zurückhaltung geäußert hatte, war hier
doch der Weg für Verhandlungen eröffnet, und Cavour rief nun zunächst
Bozino zurück, um ihn bei der Hand zu haben und durch ihn nach Rom cor-
respondiren zu lassen, da die Angelegenheit mit zu viel Vorsicht behandelt wer¬
den mußte, als daß ein schriftlicher Verkehr mit Rom von seiner Seite räthlich
war. Sobald Bozino zurückgekehrt war, beeilte sich Cavour einige Grundzüge
als Basis der ferneren Verhandlungen aufzusetzen, die er durch die Vermittlung
derselben Personen in die Hände Antonelli's gelangen ließ. Diese Grundzüge,
welche Aguglia dem Cardinal vorlegte, waren folgende:
Art. 1. Victor Emanuel wird als König von Italien von der römischen
Curie anerkannt und geweiht.
Art. 2. Der Papst behält die oberste Souverainetät über das Patrimo-
nium Petri, dessen weltliche Regierung jedoch auf Victor Emanuel und seine
Nachfolger als Statthalter des römischen Pontifex übergeht.
Art. 3. Jedem der italienischen Cardinäle wird ein jährliches Einkommen
von 10,000 Scudi zugesichert.
Art. 4. Die italienischen Cardinäle erhalten Sitz und Stimme im Senat.
Art. 5. Dem Papst ist aus den Einkünften des Patrimvniums Petri eine
anständige, ausreichende Civilliste auszusetzen.
Art. 6. Die schuldige" und ewige Erfüllung aller dieser Bedingungen durch
die italienische Regierung soll durch Gesetz und Specialvertrag und andere
wirksame Garantien gewährleistet werden.
Cardinal Antonelli zeigte sich im Allgemeinen geneigt auf diese Vorschläge
einzugehen; nur äußerte er die Besorgniß, ob die Negierung auch in der Lage
wäre, für die Zukunft diese Bedingungen aufrecht zu halten und pünktlich aus'
zuführen. Indessen der erste Schritt war gethan, und Jsaia schrieb am 9. Febr.
an Bozino ganz vergnügt über den guten Anfang. Der Brief, in welchem sich
eine bemerkenswerthe Stelle über Venedig findet und zugleich die Mission Pas-
saglia's erwähnt ist, lautet-.
„Herr Bvzino! Dinge von der größter Wichtigkeit in der bewußten An¬
gelegenheit sind mir gestern von unserem Advocaten mitgetheilt worden. Ich
bin sehr erfreut über.den guten Beginn: ein guter Anfang ist die Hälfte der
Arbeit. Ich unterlasse nicht Sie zu benachrichtigen, daß unser Professor Pas-
saglia. ein Freund der italienischen Einheit, obwohl er sich vielleicht nicht offen
als solcher bekennen wird, sich nach Turin begeben hat; es scheint, daß er
vom Grafen Cavour berufen ist und vom heiligen Vater die Ermächtigung
zu unterhandeln erhalten hat. Ich glaube, es wird für die Zukunft gut sein,
sich des Zwischenhändlers des Consuls zu bedienen. Sagen Sie dem Grafen,
daß er Rom betreffend keine Opfer scheuen soll, da sie ihm durch die friedliche
Erwerbung Venetiens reichlich aufgewogen werden ze. Rom den 9. Febr. Don
Jscna."
Nachdem Graf Cavour von der Geneigtheit Antonelli's in Verhandlungen
einzutreten in Kenntniß gesetzt war, wobei er bereits nicht undeutlich erfahren
hatte, daß es hauptsächlich gewisser „Opfer" bedürfe, um den Cardinal gün¬
stig zu stimmen, richtete er am 12. Febr. folgendes Schreiben an Bvzino:
„Turin den 12. Febr. 1861. Ich bitte Sie an Ihren römischen Corre-
spondenten einen Brief folgenden Inhalts zu richten:
„„Nachdem ich mit Graf Cavour gesprochen, habe ich mich überzeugt,
daß derselbe geneigt ist. in ernstliche Unterhandlungen mit dem römischen
Hof einzugehen, zu dem Zweck, auf ausgedehnten und sicheren Grundlage»
ein dauerndes Uebereinkommen zwischen der Kirche und dem Staat zu
treffen. Der Herr Graf hält ungemein viel auf die Gewandtheit und
den Verstand Seiner Eminenz, und ich glaube daher, daß derselbe leicht
zu bewegen ist, Alles, was möglich ist, zu Gunsten des Cardinals selbst
wie seiner Familie zu thun, um ihn für das projectirte Friedenswerk
günstig zu stimmen. Ich hoffe, daß Sie in Folge dieser meiner Mittheilung
mir bestimmtere Berichte über die Entschließungen der Personen geben
können, von welchen der Ausgang der Verhandlungen abhängt. Wenn
Sie mir zu diesem Zweck schreiben, bitte ich Sie, Ihren Brief dem Pater
Molinari zu übergeben, welcher Ihnen auch diesen Brief einhändigen
wird.""
Dieser Brief sollte dann am nächsten Montag an mich unter meiner Adresse
gerichtet werden mit der Aufschrift „Vertraulich." Molinari reist am Dienstag
nach Rom ab. Indem ich meinen Dank für Ihre Mitwirkung bei dieser hoch¬
wichtigen Angelegenheit wiederhole, bin ich hochachtungsvoll
Inzwischen war Gaeta gefallen (am 13. Febr.). eine gewaltsame Ent-
Scheidung schien immer näher zu rücken, und der römischen Curie sank der
Muth zusehends. Cardinal Antonelli, der jetzt Gefahr im Verzug sah, bat
Aguglia dem Grafen Cavour seine vollständige Einwilligung in die gemachten
Vorschläge und seinen Wunsch, die Verhandlungen zu beschleunigen, mitzu¬
theilen. Aguglia benachrichtigte schnell den Don Isaia, und dieser richtete an
Bozino folgendes Telegramm:
„Rom den 17. Febr. Eröffner Sie die Unterhandlungen; man geht auf
die Vorschläge ein, indem man Bürgschaften für die Ausführung derselben
verlangt."
Zu gleicher Zeit schrieb Isaia an Bozino einen langen Brief, der das
interessanteste Stück dieser Sammlung ist, und in welchem er umständlich über
,die Unterredung berichtet, welche Aguglia mit dem Cardinal hatte. Dieser
Brief lautet:
„Rom den 17. Febr. Ich kann Ihnen offen sagen, daß die Verhandlungen
in der bewußten Angelegenheit alle Wahrscheinlichkeit eines schnellen und ehren¬
vollen Erfolgs haben. Ohne mich bei den einleitenden Reden aufzuhalten und
ohne Ihnen von allen Gründen umständlich zu berichten, welche unser aus¬
gezeichneter und vortrefflicher Anwalt bei Cardinal Antonelli vorbrachte, wie
ich auch von dem tiefen Eindruck schweige, den dieselben auf das Gemüth des
Letzteren hervorgebracht, beschränke ich mich auf das positive Uebereinkommen,
das in dieser Conferenz erzielt wurde. Es besteht in Folgendem:
Der Papst behält die oberste Souverainetät über das Patrimonium Petri
und überträgt dagegen für ewige Zeiten dem König und seinen Nachfolgern
die Statthalterschaft und die weltliche Regierung des Staats, unter der Be¬
dingung, daß der Papst aus den Einkünften dieser Besitzungen eine ausreichende
Civilliste erhält. Die Nuntien an den auswärtigen Höfen für die geistlichen
Beziehungen und die Angelegenheiten der geistlichen Gerichtsbarkeit bleiben
beibehalten. Die italienischen Cardinäle erhalten jeder einen Jahrgehalt von
10,000 Scudi. Die geistlichen Congregationcn und Tribunale für rein geist¬
liche Angelegenheiten bleiben bestehen, so wie sie ausgestattet und bis auf diesen
Tag unterhalten worden sind. Die Prälaten, welche hier oder in den Pro¬
vinzen auf Civilposten angestellt waren, erhalten lebenslängliche Pensionen.
Ueberdies soll dem heiligen Vater Alles zukommen, was ihm als Oberhaupt
der katholischen Kirche gebührt. Auch sind dem Papst um seiner obersten
Souverainetät willen die höchsten Ehren und die höchsten ihm zustehenden Prä¬
rogative vom König zu gewähren. Alle Gebräuche (cmrveiüönöö) desselben
sind unverletzt zu erhalten, und in solcher Weise die Dinge versöhnlich zu ord¬
nen, daß in Rom, wo das höchste geistliche Oberhaupt der Kirche an der Seite
der bürgerlichen Gewalt seinen Sitz hat, dasselbe niemals weder untergeben,
noch in zweiter Stelle, sondern stets- in erster Stelle und unabhängig in seiner
geistlichen Gewalt sei; ferner sollen die italienischen Cardinäle von Rechtswegen
Mitglieder des Senats sein, und endlich der italienische Episkopat vollständige
Freiheit in kirchlichen Angelegenheiten haben. — Dies ist das Ganze.
Allein ausdrücklich fügte der Cardinal hinzu, die Erfahrung habe leider
gezeigt, daß unter solchen Statthalterschaften, welche früher vom heiligen Stuhl
zugestanden worden, der jährlich ausbedungene Tribut mit den Jahren immer
spärlicher geworden sei, in der That sei es so nach einander in der Lombardei,
in Parma, in Piacenza, in Modena, in Neapel mit der bekannten „Guinee",
in Piemont selbst mit dem jährlichen Tnbut von 3V00 Scudi gegangen. Der
höchst vorsichtige Cardinal sprach deshalb das Bedenken aus, keine hinreichenden
Sicherheiten zu besitzen, um dem heiligen Stuhl für jetzt und alle Zeit die oben ge¬
dachten Penstonen zu verbürgen. Im Falle man deshalb einen förmlichen Entwurf
zu einem Vertrag dem heiligen Collegium zur Annahme vorlegen wolle, müsse
man sich vorsehen, daß derselbe nicht wegen mangelnder Sicherheit zurückgewiesen
werde. Um nun hier in geeigneter Weise Lorsorge zu treffen, verlangte der Cardi¬
nal (nachdem unser Anwalt die strengste Geheimhaltung alles Obenerwähnten,
selbst über die Eröffnung von Unterhandlungen zugesagt hatte), daß eben durch
Aguglia ein förmlich redigirter Entwurf über obige Grundlagen zugestellt werde,
worin zugleich unumgängliche und unübersteigliche Garantien für Alles enthal¬
ten wären, vorzüglich was die ewige Sicherheit der jährlichen dem si. Stuhl
zugesprochenen Penstonen betreffe, wobei in einer besonderen Klausel die facti¬
sche Wiederherstellung der weltlichen Herrschaft des Kirchenstaates ausgesprochen
sein sollte, im Fall die Bedingungen in irgend einer zukünftigen Zeit, was auch
immer der Grund oder die Ursache sein möge, nicht erfüllt würden. Und wenn
dann der Cardinal Antvnelli das ProM so finden sollte, wie es in Wahrheit
sein müsse, dann erst solle eine förmliche Unterhandlung mit unserem Anwälte
zugestanden werden und auch dann nur unter Beobachtung strengster Geheim¬
haltung, selbst gegenüber den Mitgliedern der königlichen Regierung, bis zur
endlichen Beschlußfassung. Der Cardinal betheuerte deshalb, wenn ja der Ent¬
wurf vor dem vollständigen Abschluß ans Tageslicht trete, würde es ihm wegen
der Klagen, der Streitigkeiten und der Intriguen der klerikalen Partei absolut
unmöglich sein, ihn im heiligen Collegium vorzubringen.
Obwohl ich der Kürze halber die Einzelheiten dieser Conferenz zwischen un¬
serm Anwalt und dem Cardinal Antonelli übergehen wollte, so kann ich gleich¬
wohl nicht umhin Ihnen anzuzeigen, daß auch Seine Eminenz guten Glaubens
und von der Nützlichkeit und der Nothwendigkeit eines solchen Uebereinkommens
dollständig überzeugt zu sein scheint, da Niemand besser als er (dies sind seine
eigenen Worte) den gegenwärtigen Zustand Europa's und die Unmöglichkeit für
den heiligen Stuhl etwas von fremden Bajonneten zu hoffen erkennt; selbst wenn
die Zeiten wieder sich zum Besseren wendeten, sei es doch unleugbar, daß der-
selbe stets erniedrigt, verachtet, abhängig, ruinirt in den Finanzen, gehemmt in
der Ausübung der geistlichen Gewalt und gehaßt von den eigenen Unterthanen
bleiben werde; während dagegen, wenn das große Wert der italienischen Na¬
tionalität zur Wahrheit werde, die Kirche sich in ihrem alten Glänze wieder er¬
heben werbe, das Papstthum aus dem Koth (t'g,nAo), in dem es sich befinde,
wieder auferstehen, und ein geeinigtes Italien, das Rom als Hauptstadt und
den Papst bei sich und für sich habe, jetzt und immerdar zu der Zahl der
Großmächte gerechnet und als solche geachtet sei und ihm diejenige Autorität
wieder zufallen werde, die ihm auf Congressen und in den Entscheidungen über
europäische Angelegenheiten gebühre. Der Cardinal fügte weiter hinzu, daß,
wofern obiger Vertrag zu Stande käme, Oestreich eingeschüchtert freiwillig auf
Venetien Verzicht leisten müsse, und Italien aus diese Weise das Blut so vie¬
ler seiner Bürger ersparen werde, wie andrerseits auch Frankreich genöthigt sein
würde, immer auf dein Weg der Gesetzlichkeit zu bleiben, wofern es nicht zuerst
die Wirkungen der italienischen Tapferkeit an sich erproben wolle.
Indem ich nun alles dies zu Ihrer Kenntniß bringen soll, bat mich der
Cardinal, sobald als möglich von Ihnen einen solchen Entwurf zu verlangen,
formulirt auf diesen Grundlagen, zu denen nichts hinzuzufügen und von denen
nichts hinwegzustreichen ist, indem er Ihnen zugleich fortwährende Geheimhaltung
empfiehlt, da im anderen Falle alle Mühe verschwendet wäre, und was noch
mehr ist, unübersehbare traurige Folgen daraus entspringen konnten."
Nachdem Graf Cavour von dem obigen Telegramm, welches Bozino aus
Rom erhalten, benachrichtigt worden war, schrieb er an ihn unterm 20. Febr.,
zur selben Zeit, da auch Passaglia wieder nach Rom zurückkehrte.
„Ich habe in Mailand den Brief erhalten, den Sie auf meine Einladung
nach Rom schrieben. Er wird morgen auf sicherem Weg dahin abgehen. —
Auf die telegraphische Depesche, welche Sie mir milgetbeUt, werden Sie Fol¬
gendes erwiedern:
„„Sie werden in dieser Woche einen Brief von mir erhalten; wenn etwas
aus der Sache wird, werden die weitesten Garantien zugestanden werden.""
Wenn Sie in Ihrem Wunsche zum Wohle unsers Baterlandes mitzuwirken
nicht verhindert sind, eine neue Reise nach Rom zu machen, so können Sie mit
der Post folgendes Ihrem Correspondenten schreiben:
„„Im Anschluß an meinen letzten Brief und an meine telegraphische De¬
pesche benachrichtige ich Sie, daß ich bereit bin mich nach Rom zu begeben, um
direct mit Ihnen die Interessen unsrer beiden Clienten zu verhandeln.""
Es würde genügen, wenn dieser Brief in den ersten Tagen der angehen¬
den Woche abgeschickt würde. Graf Cavour."
Bozino reiste wieder nach Rom, und die Verhandlungen begannen. Der
Cardinal Antonelli bestand vornehmlich auf den dem heiligen Stuhl zu leisten-
den Garantien-für die genaue Erfüllung der von der königlichen Regierung vor¬
geschlagenen Bedingungen, wie es denn überhaupt in jener Zeit die Hauptsorge
des Cardinals war, gegenüber den unsicheren -Eventualitäten, welchen der heilige
Stuhl entgegenging, bei Zeiten wenigstens auf eine sichere pecuniäre Stellung
bedacht zu sein. Aus dem französischen Blaubuch wissen wir z. B., daß An-
tonelli kurz zuvor angelegentlich eine Entschädigung für die ehemaligen Anna'
ten und Benefizien betrieben hatte, die der römische Stuhl in den christlichen
Staaten besaß, und die längst dnrch die Civilgesetzgebung beseitigt waren.
Graf Cavour ließ durch seine Unterhändler dem Cardinal auf sein An¬
drängen wissen, daß die italienische Regierung geneigt sei, den heiligen Stuhl inner¬
halb wie außerhalb des Staates mit festen Gütern auszustatten, und zwar in
der feierlichsten Form, besiegelt durch das Votum des Rat.ionalparlaments.
Dem Cardinal-Staatssecretär schien ein glücklicher Erfolg fortwährend sehr
am Herzen zu liegen, er ermahnte wiederholt zu strengster Geheimhaltung und
erklärte sich sogar bereit-dafür zu sorgen, daß die 7 Cardinäle, welche in der
Regel die Kongregation bilden, durch andere ersetzt oder ergänzt würden, die
seinen Absichten -günstiger wären; und um jedes Hinderniß aus dem Weg zu
räumen, drang er in den Minister, er möge entweder mittelst seines Verbün¬
deten s,der durch irgend ein anderes Mittel für die Entfernung des Königs Franz
aus Rom sorgen; in jedem Fall möge man die Sache so betreiben, daß dieser
von den Perhandlungen nicht das Mindeste erfahre.
Zu diesem Stadium befanden sich dieUnterhandlungen, ,als sie plötzlich ab-
-gebrochen «wurden. Das Geheimniß war ruchbm g>co,voter, mau hatte in Pa¬
ris die Sache erfahren, und der Herzog .on Mramont .wurde beauftragt, «dem
Staatssecretär Vorwürfe zu machen, daß er hinter dem Rücken Frankreichs di¬
rekte Fäden mit Turin angesponnen. Dein .Cardinal, d<r keinen ,offi-
ciellen Schiritt gethan hatte, war es ein Leichtes-, die ganze Sache abzuleugnen:
er brach sofort die Verhandlungen ab.und suchte jede Spur tap« zu verwischen.
Damit hatte diese Episode der römischen .Frage ein Ende., die jetzt, wie es
heißt, auf Veranlassung Natazzi's ans Tageslicht gezogen -wo.rden ist. —
Man wird den Werth dieser Enthüllungen des Don Jsaia. an deren Au¬
thenticität-nicht wohl zu zweifeln ist, gleichwohl nicht überschätzen dürfen. Denn
offenbar handelt es sich hier nur um ein vereinzeltes Mittel, welches Cavour
versuchte, »um zum Ziel zu gelangen, und das sich erst dann vollständig beur¬
theilen ließe, wenn der ganze Zusammenhang der diplomatischen Mittel, welche
Cavour aufbot, sich genauer übersehen ließe. Auch wenn Antonelli -persönlich
gewonnen war, so waren damit sicher noch nicht alle.Schwierigkeiten über¬
wunden. Es liegt der Gedanke nahe, 5aß Antonelli vielleicht selbst froh war,
daß eine ör-ende Dazwischenkunft die bereits so weit gediehenen Verhandlungen
abschnitt, daß er vielleicht felbst, zu spät inne werdend, wie weit er gegangen,
dieser Dazwischenkunft nicht fremd war. Allein wenn auch Antonelli's Nach¬
giebigkeit Cavour gegenüber ernstlich gemeint war, so stand doch das letzte Wort
der Entscheidung bei Frankreich, dem in der That nichts unerwünschter sein
konnte, als ein friedliches Abkommen zwischen der päpstlichen und der italieni¬
schen Regierung: seine ganze Position in Rom, deren Stärke eben der fort¬
dauernde Zwiespalt zwischen dem Papst und Italien ist, wäre dadurch gefähr¬
det, ja unmöglich geworden, und bei dem stehenden Systeme Napoleons, jede
Entscheidung möglichst lange zu verschieben, so lange als möglich zwischen den
entgegenstehenden Principien zu laviren, um dadurch beide zu beherrschen, mußte
er bis auf diesen Tag Alles daran setzen, ein Arrangement zu hintertreiben,
das die Fortdauer der römischen Occupation zur Unmöglichkeit machen würde.
Es ist offenbar weniger die Rücksicht auf bestimmte gegenwärtige oder zukünf¬
tige Vortheile, als vielmehr ein instinctmäßiges Sichsträuben, die Entscheidung
aus der Hand zu geben, was Napoleon verhindert, seine Truppen aus Rom
zurückzuziehen und die Situation zu klären, womit er eben auf ihre Beherr¬
schung verzichten würde.
Allein was auch immer die Ursache des Abbruchs der Verhandlungen ge¬
wesen sein mag, und wie resultatlos sie immer waren, so ist doch die bloße
Thatsache derselben vom höchsten Interesse, sie sind namentlich geeignet, auf
die Charaktere der handelnden Personen ein Helles Licht zu werfen. Vor Allem
auf die Persönlichkeit Antonelli's. Dieser erscheint — vornehmlich in dem
Briefe Jsaia's vom 17. Febr., mag sich auch durch die Berichterstattung aus
zweiter Hand hier mancher ungenaue und übertriebene Ausdruck eingeschlichen
haben, — als Italiener mit Leib und Seele, mit all der heimlichen Verschlagen¬
heit, welche die Diplomatie dieses Landes und nicht zum wenigsten dieses
Staates kennzeichnet, vorsichtig weniger auf freigebige Versprechungen als auf
sichere Garantien bedacht, dabei das eigene Interesse nicht vergessend, aber doch
zugleich nicht unempfänglich für das nationale Pathos, das selbst in die ge¬
heimen Gemächer des Vatikans, selbst in die Brust eines Antonelli einzudringen
vermochte und hier im Stande war, nicht blos hinter dem Rücken des gro߬
müthigen Beschützers Zettelungen anzuspinnen, sondern selbst so treue An¬
hänger, wie den armen Exkönig Franz, erbarmungslos aufzuopfern.
Höchst interessant ist sodann der Gegensatz, in welchem die Charaktere Ca-
vours und Ricasoli's erscheinen, wenn wir uns erinnern, in welcher Weise der
Letztere seinen Ausgleichungsvorschlag mit der Curie in Scene setzte. Cavour
trug kein Bedenken, während er von der Rednerbühne stets von der Noth¬
wendigkeit des Einverständnisses mit Frankreich sprach, mit dessen Umgehung
eine directe Verständigung mit der Curie anzubahnen, er verschmähte es nicht,
die Familie Antonelli bei ihrer verwundbarsten Seite zu fassen, er verschmähte
nicht die heimlichsten Wege, die unbedeutendsten, vielleicht zweideutigsten Werk-
zeuge. Ricasoli, die Loyalität selber, übergibt, da ihm der Weg der offenen
Unterhandlung mit Rom versperrt ist. der französischen Diplomatie seinen Ver¬
gleichsentwurf zur Uebermittlung nach Rom. und da er von Frankreich zurück¬
gewiesen wird, wendet er sich sofort an die Oeffentlichkeit, um sich vor der
öffentlichen Meinung zu rechtfertigen. Er steht an Reinheit des Charakters
ebenso hoch über Cavour. als dieser ihm an diplomatischem Geschick und Un-
erschöpflichkeit der Auskunftsmittel überlegen war.
Eine andere Frage ist, ob ein glücklicher Ausgang jener Verhandlungen
wirklich ein Glück für Italien gewesen wäre. Man wird bemerkt haben, daß
zu den Vorschlägen Cavours Cardinal Antonelli mehrere Bedingungen von
nicht geringer Tragweite hinzugefügt hatte, wie z. B. die Beibehaltung der
Nuntien und die vollständige Freiheit des italienischen Episkopats in geist¬
lichen Angelegenheiten. In den Vorschlägen Ricasoli's waren die Concessionen
noch mehr gesteigert und dem Papst ist das freie Ernennungsrecht der Bischöfe
zugestanden. Es wären dies schwerlich die richtigen Grundlagen gewesen, um
in Italien einen dauernden Frieden zwischen Kirche und Staat herbeizuführen,
und im Interesse einer späteren, reineren Lösung der ganzen Frage ist es sicher
als ein Gewinn anzuschlagen, daß die römische Curie, als wäre nichts geschehen,
zu ihrem System des non xossumus zurückgekehrt ist, was von ihrer Seite we¬
nig Witz erfordert, dem Staat aber die Möglichkeit offen läßt, künftig auf ent¬
sprechenderen, allgemein recipirten Grundlagen das Verhältniß beider Gewalten
zu ordnen. Inzwischen ist es immerhin ein moralischer Triumph der Sache
Italiens, daß^der h. Stuhl, nachdem er wiederholt mit höchstem Nachdruck jeden
Gedanken an eine Transaction von sich gewiesen hat, sich jetzt auf diesen
Schleichwegen ertappen läßt. Dem römischen Hof ist damit eine seiner stärksten
Waffen, sein wirksamstes Prestige entrissen, und man wird die Aufrechthaltung der
weltlichen Herrschaft des Papstthums nicht'mehr für eine Forderung der Reli¬
gion erklären können, nachdem Cardinal Antonelli selbst sie als eine Frage der
Die Ansichten der Römer über die Rechtmäßigreit der Sklaverei« waren
nur insoweit von denen der Griechen abweichend, als man bei ihnen die Natur-
Widrigkeit des Verhältnisses eigentlich nicht leugnete. So lautet die in die
Digesten aufgenommene Definition, welche von dem zur Zeit des Kaisers Alexan¬
der Severus lebenden Rechtsgelehrten Florentinus herrührt: „Sklaverei ist eine
völkerrechtliche Bestimmung, durch welche Jemand gegen die Natur einer frem¬
den Gewalt unterworfen wird." Der Jurist Theophilos setzte hinzu: „Die
Natur hat Alle frei geschaffen, und die Sklaverei ist eine Erfindung des Kriegs."
Auch über die Aristotelische Annahme einer zweifachen Bestimmung des mensch¬
lichen Geschlechts dachte man freier, und der Philosoph Seneca sagt dagegen,
„Wenn man glaubt, daß die Sklaverei den ganzen Menschen umfasse, so irrt
man; der bessere Theil desselben ist ausgenommen. Die Leiber find den Herren
unterthänig und verschrieben; der Geist ist frei und ungebunden, daß er nicht
einmal von dem ihn umschließenden Gefängniß zurückgehalten werden kann
Ungeheures zu vollführen und sich zum Begleiter der Himmlischen emporzu¬
schwingen." Dessenungeachtet ist auch der freisinnige Seneca weit davon
entfernt an der Nothwendigkeit der Sklaverei zu zweifeln. Das Festhalten des
Römers am abstracten Rechte ließ ihn überhaupt zu keinem Scrupel hierüber
kommen, und der harte und rauhe Guß seiner eigenwilligen Natur brachte den
Unterworfenen eine gemessenere und mürrischere Behandlung als in Hellas.
, Was den Ursprung der Sklaverei bei den Römern betrifft, so haben die¬
selben sie gewiß mit Recht von der Kriegsgefangenschaft hergeleitet, durch die
der Feind selbst, wie jede andere erbeutete Sache in den Besitz des Siegers
kam. Gewöhnlich wurden nun aber die Gefangenen von der übrigen Beute,
die dem Heere anheim fiel, gesondert und für Rechnung des Staatsschatzes ver¬
kauft. Es wird dies sehr oft erwähnt (von Livius bereits aus dem Jahre
500 v. Chr.)> und bei der Versteigerung im Lager trugen die Gefangenen einen
Kranz auf dem Haupte, zum Zeichen, daß der Staat für ihre etwaigen Fehler
nicht hafte. Nur zuweilen geschah es, daß den Soldaten ein Theil der Kriegs¬
gefangenen als Belohnung zuertheilt wurde, z. B. im Jahre 423, wo nach
Eroberung der Stadt Fidcnä jeder Reiter einen Sklaven, die Tapfersten aber
je zwei sich erlvvsten. Wie in Griechenland gab es auch in Rom gewisse Fälle,
in denen der freigeborne Römer in die Sklaverei gerieth. Wer sich der all¬
gemeinen Schätzung entzog, um der Besteuerung und dem Kriegsdienst zu ent¬
gehen, wer sich bei der Recrutirung nicht stellte oder im Felde die Fahne ver¬
ließ, wer sich in betrügerischer Absicht als Sklave verkaufen ließ, um Antheil
am Gewinne zu haben, wurde vom Staate in die Sklaverei verkauft. Später
setzte auch der Kaiser Claudius fest „daß jede Freie, die mit einem fremden
Sklaven wider Willen seines Herrn lebte, mit ihrem ganzen Vermögen dem¬
selben Herrn angehören sollte. Dagegen erfolgte in zwei andern Fällen wohl
der Verlust der Freiheit, adel! nicht eigentliche Sklaverei, dn der Betroffene
nicht alle Rechtsfähigkeit verlor. Der Vater konnte vermöge seiner hauSherr-
lichcn Gewalt den eigenen Sohn verkaufen, und noch die Zwölfte>felgesetze be-
stimmten, daß erst nach dreimaliger Wiederholung dieser Barbarei der Sohn
von der väterlichen Herrschaft frei sein sollte! Aber auch der Schuldner gerieth
nach fruchtlosem Verlaufe aller ihm gestellten Fristen in die Knechtschaft des
Gläubigers, und diese Sitte dauerte der Hochhaltung des einmal gegebenen
Wortes gemäß und bei der vorherrschenden Richtung der Römer auf Erwerb
bis in die spätesten Zeiten fort. Auch die Religion konnte eine Ursache zum
Verluste der Freiheit abgeben, sowie z. B. unter Diocletian die Christen nied¬
rigen Standes den Genuß ihrer Freiheit verloren. Natürlich hatten auch Alle,
die von einer Sklavin geboren waren, das Schicksal ihrer Mutter, und es war
in Rom einerlei, ob das Kind aus einer Sklavcnche herrührte, die überhaupt
als ein rechtloses Verhältniß galt, oder wer sonst der Vater war. Die im
Hause geborenen Sklaven kannten alle Verhältnisse desselben und eigneten sich
deshalb am besten zur nächsten Bedienung der Herrschaft; sie genossen aber
auch eine größere Freiheit, nahmen sich viel heraus, und man sah ihnen ihre
sprichwörtlich gewordene Dreistigkeit und ihre muthwilligen Späße nach, da
man mit ihnen aufgewachsen war. In der älteren Zeit reichten in Rom die
im Kriege mit benachbarten Völkern gemachten Gefangenen wohl vollkommen
aus. Zur nächsten Bedienung wurde vielleicht ein einziger Sklave gebraucht;
wenigstens scheint darauf die alte Benennung der Sklaven nach dem Namen
des Herrn, z. B. Bursche des Marcus, des Lucius u. s. w. hinzudeuten.
M. Curius, der Besieger des Pyrrhus. hatte nur zwei Reitknechte im Lager;
M. Porcius Cato, der Wächter altrömischer Sitte, nahm als Consul nicht
mehr als drei Sklaven mit nach Spanien. Juvenal sagt in der Be¬
schreibung eines Mittagsmahls nach altem Stile: „Geringe Becher, für
wenige Dreier gekauft, wird dir ein ungeschniegelter, aber vor der Kälte
gesicherter Bursche darreichen. Es sind keine Sklaven aus Phrygien da,
keine aus Lycien, Niemand vom Sklavenhändler um hohem Preis gefeilscht.
Hast Du etwas zu fordern, so fordere es lateinisch. Alle Sklaven sind
gleich gekleidet, die Haare geschoren und schlicht und nur heute des Gast¬
mahls wegen gekämmt." Obgleich ferner die Herren dieselbe rechtliche Macht,
wie die späteren Generationen in den Händen hatten, scheint doch in alter
Zeit eine größere Milde in der Behandlung und ein vertraulicheres Verhält¬
niß zwischen Knechten und Gebietern bestanden zu haben. Die Sklaven aßen
ur Gesellschaft der Herren, jedoch auf besondern Bänkchen zu den Füßen der
Speiscsvphas. mit welchem Platze sich überhaupt Leute niedrigen Standes
und die Kinder begnügen mußten. Der Censor strafte sogar den Bürger, der
seine Sklaven schlecht behandelte, mit einem Verweise. Vom älteren Cato er¬
zählt Plutarch. daß er zu Hause mit seinen Knechten das Feld bearbeitet,
nach der Arbeit mit ihnen zusammen gespeist und mit ihnen einerlei Wein und
Brot genossen habe, im Felde aber nie auf seinen Sklaven, der ihm die Nah-
rungsmittel nachtrug und kochte, zornig oder unwillig geworden sei, sondern
demselben, wenn es seine Zeit erlaubte, bei der Zubereitung der Speisen ge¬
holfen habe.
- Daher sagt auch derselbe Schriftsteller in der Lebensbeschreibung Coriolans:
„Man behandelte damals die Sklaven mit vieler Mäßigung, indem man da¬
durch, daß man selbst mit arbeitete und gemeinschaftlich mit ihnen aß, sie mehr
an sich heranzog und gewöhnte." Wenn aber Cato selbst in seiner Schrift
über den Ackerbau den Rath gibt, ebenso wie fehlerhaftes Vieh, alte Wägen,
altes Eisen, alte Ochsen, auch alte und kränkliche Sklaven zu verkaufen, so
war diese Inhumanität weniger eine Durchführung altrömischer Anschauungs¬
weise, als ein Beweis für seinen Geiz und seine Gewinnsucht, und Plutarch
hat vollkommen Recht, deshalb an dem Edelmuthe seines Charakters zu zwei¬
feln. Dabei stellt Letzterer sich selbst ein besseres Zeugniß aus, indem er hin¬
zufügt: „Ich für meine Person würde nicht einmal einen Ochsen, den ich zur
Bestellung meines Feldes gebraucht hätte, wegen seines Alters wegschaffen oder
verlausen, viel weniger einen alten Knecht aus meinem Hause, als aus seiner
Heimath, und aus meiner Kost und meinen Diensten, deren er gewohnt gewesen
ist, verjagen und um eines geringen Gewinns willen verkaufen, zumal er dem
Käufer eben so unnütz als dem Verkäufer sein würde." Auf einen humaneren
Umgang mit den Sklaven weist endlich auch Seneca hin, indem er schreibt:
„Jene Sklaven, die nicht nur in Gegenwart ihrer Herrn sprachen-, sondern auch
sich mit denselben selbst unterhielten, deren Mund nicht zugenäht wurde, waren
auch bereit, für den Herrn ihre Brust darzubieten, die drohende Gefahr
auf ihr Haupt zu lenken. Bei den Gastmählern redeten sie; aber auf
der Folter verstanden sie zu schweigen." Mit der Vergrößerung des römischen
Gebietes und dem Steigen des Luxus wuchs das Bedürfniß nach Sklaven, und
es wurden bisweilen Unmassen von Kriegsgefangenen nach Italien geschleppt.
So brachte Regulus eine Anzahl Sklaven aus Afrika mit, die dem fünften
Theile der damaligen Bürgerschaft gleichgekommen sein soll, und im Lager des
Lucullus verkaufte man die Gefangenen zu vier Drachmen. Großgriechenland,
Gallien, Spanien. Jllyrien, Afrika und Vorderasien lieferten ihre Kontingente,
und da das Geschäft für Wuchrer äußerst verlockend war, so entwickelte sich bald
ein Sklavenhandel, der den griechischen an Ausdehnung weit übertraf. Außer
Delos traten nun Tanais und Byzanz unter den Bezugsquellen des Menschen¬
handels in erste Reihe. Jenes, eine Pflanzstadt von Milet, lag am Ausflusse
des Don und tauschte gegen Wein und Kleiderstoffe von den Nomaden des
Innern, besonders von den am kaspischen Meere wohnenden Dahern Sklaven
und Pelzwerk ein; Byzanz, die lüderlichste Stadt des Alterthums, deren Ein¬
wohner die Häuser sammt den Frauen an Fremde vermiethctcn und ihre
Wohnung in den Kneipen nahmen, und deren Milizen einst in Kriegsgefahr
nur dann zum Nachtdienst gebracht werden konnten, als man Garküchen und
Schenken auf der Stadtmauer etablirte, war der Hauptstapelplatz aller Ponti¬
schen Sklaven, die schon damals für die schönsten galten. Die von Strabo
erwähnte Menschcnräuberei der wilden Ziechen und Heniochen in der Nähe des
Kaukasus wurde von manchen Städten des schwarzen Meers unterstützt, die
ihnen ihre Häfen öffneten und den Raub abkauften. Wie in Griechenland
waren auch in Rom die Neger besonders geschätzt. Sie blieben aber immer nur
eine Art Rarität, und Martial stellt sie mit Meerkatzen, sprechenden Elstern,
Schooßhündchen und andern Liebhabereien auf eine Linie. — Die Sklaven¬
händler standen wegen ihrer Betrüglichkeit im schlechtesten Rufe. Sie stellten
ihre Waare mit weiß gefärbten Füßen aus einem Gerüste oder einer steinernen
Erhöhung aus und ließen sie durch den Herold versteigern. Am Halse trugen
die Feilgebotenen eine Tafel mit Angabe ihrer Porzüge und etwaigen körper¬
lichen Fehler. Wollte der Verkäufer Garantie für letztere gewähren, so trug
der Sklave einen Hut; im entgegengesetzten Falle aber schützte ein specielles
Edict der curulischen Antiken den Käufer vor Betrug und Arglist. Auch die
moralischen Fehler und Übeln Angewohnheiten kamen dabei in Betracht, und
wenn der Sklavenhändler einen Dieb, einen Läufling, einen Spieler für einen
unbescholtenen Menschen, oder einen verschmitzten, in allen Stlavenkniffcn be¬
wanderten Burschen (veiwratol-) für einen Neuling ausgegeben hatte, so mußte
er ihn wieder nehmen. Die Käufer hüteten sich daher wohl, ließen die Sklaven
entblößen und besahen und betasteten sie von allen Seiten. „Die Sklaven¬
händler", sagt Seneca, „verstecken durch irgend einen Aufputz alles Mißfällige.
Daher ist den Käufern jeder Schmuck verdächtig. Mag man daher einen
Schenkel oder einen Arm umwickelt sehen, man läßt ihn entblößen und sich
den Körper selbst zeigen. Siehst Du jenen Prinzen aus Skythien oder Sar-
matien, mit einem Kopfschmucke geziert? Wenn Du ihn taxiren willst und ge¬
nau wissen, was er werth ist, so löse ihm die Fürstenblute! Viel Uebles ist
unter ihr verborgen." Der Dichter Claudian schreibt in Hinblick auf die früheren
Schicksale des oströmischen Ministers Eutropius: „Wenn Du die Fluthen des
Meeres, die Sandkörner Libyens kennst, so zählst Du Herren des Eutropius.
Wie oft hat er den Besitzer, wie oft das Aushängeschild, wie oft seinen Namen
vertauscht! Wie oft stand er nackt da, während der Käufer den Arzt zu Rathe
zog, damit ihm nicht durch verborgenes Uebel ein Verlust drohte! Aber alle
rente der Handel und immer wieder wurde er losgeschlagen". Einen drolli¬
gen Vorgang auf dem Sklavenmartte schildert Martial. Ein Herold bot einst
ein Mädchen zum Verkaufe aus, das eben nicht in gutem Rufe stand. Als er
nun trotz des geringen Preises lange keinen Käufer gefunden hatte, verfiel er
auf die List, das Mädchen zu küssen, um den Anwesenden dessen Sittsamkeit
durch das Sträuben darzuthun, womit es diese Zudringlichkeit aufnahm. Allein
der Käufer, der eben noch 600 Sesterzien (33 Thlr.) geben wollte, zog sein
Gebot sofort zurück! Ueberhaupt wurden die bessern und schöneren Exemplare
nicht auf dem Markte versteigert, sondern privatim in den Buden der Sklaven¬
händler verkauft. „Diese bewahrt." sagt Martial, „das Getäfel des geheimen
Schaugerüsts, und weder das Volk, noch das Gelichter meines Schlages bekommt
sie zu sehen." Natürlich wurde für diese Sklave» auch der theuerste Preis ge¬
zahlt. Im Allgemeinen scheint übrigens die Taxe der Sklaven in Rom etwas
höher gestanden zu haben als in Athen. Wenn der ältere Cato nie einen
Sklaven taufen wollte, der mehr als 1500 Drachmen (330 Thlr.) kostete, so
übersteigt sein Maximum für einen Ackersklaven, der sonst keine Kunst perstauid,
die in Griechenland gewöhnlichen Preise.
Horaz läßt einen Sklavenhändler sür einen gewandten, fehlerlosen Sklaven, der
ein wenig Griechisch verstand und keine üble Stimme hatte. 3000 Sesterzien
(440 Thlr.) verlangen. Für schöne oder gelehrte Sklaven zahlte man enorme
Summen und 100.000 Sesterzien (5500 Thlr.). ja das Doppelte kommt nicht
selten vor. Der reiche Calvisius Sabinuo, ein Zeitgenosse Seneca's, hatte ein
schwaches Gedächtniß und verwechselte immer die bekanntesten Namen der Vor¬
zeit. Da er aber den Schein der Gelehrsamkeit verbreiten wollte, so kaufte er
sich einen Sklaven, der den Homer, einen zweiten, der den Hesiod, neun an¬
dere, welche die lyrischen Dichter auswendig wußten. Da diese lebendigen Bü¬
cher nicht aufzutreiben waren, so bestellte er sich dieselben und zahlte für jeden
100,000 Sesterzien, blos um seine Gäste durch diese Souffleure in Verlegen¬
heit zu setzen. Der habsüchtige Crassus ließ ebenfalls seine Sklaven sorgfältig
unterrichten, um sie dann mit großem Vortheile zu verlaufen. — Die Zahl
der Sklaven war schon gegen das Ende der Republik unglaublich gestiegen,
und wie in Athen erforderte der Anstand für jeden größeren Haushalt eine be¬
stimmte Anzahl. Während noch der jüngere Scipio Africanus nur fünf Skla¬
ven auf seine Feldzüge mitnahm, wird es dem Prätor Tillius von Horaz vor¬
geworfen, daß ihm auf der großen Tour Kor Rom nach Tivoli nur dieselbe
Zahl von Dienern folgte. Derselbe Dichter erzählt von dem wunderlichen und
unbeständigen Virtuosen Tigellius, daß er zuweilen 200, zuweilen nur 10 Skla¬
ven gehabt habe und scheint damit ein Minimum für seine Zeit zubezerchn en.
In der folgenden Zeit stieg aber der Luxus so, daß man von Heerden, Heeren,
Nationen und Legionen von Sklaven reden konnte. Dcmetnus, ein Freige¬
lassener des Pompejus, zählte nach Seneca täglich die Menge seiner Sklaven
wie Pompejus seine Soldaten. Ein gewisser Claudius Isidorus, der unter
Augustus starb, hinterließ 411L Sklaven, wiewohl er in den Bürgerkriegen viel
eingebüßt hatte. Der Usurpator Proculus konnte 2000 Sklaven aus seinem
Hause bewaffnen. Noch größere Zahlen kommen in Justinians Periode or.
Zu Petrons satirischen Romane wird diese Maßlosigkeit am reichen Empor-
kömmling Trimalchio persistirt. Da antwortet ein Sklave auf Befragen, daß
er zur vierzigsten Dccurie gehöre; ein anderer behauptet, daß nicht der zehnte
Theil der Sklaven Trimalchio's ihren Herrn kennten, und in einem statistischen
Tagesbericht, den sich Trimalchio von seinem Buchhalter vorlesen läßt, heißt es
gar: „Am 27. Juni sind auf dem Landgute bei Cumci 30 Knaben und 40
Mädchen geboren worden." Die Einteilung in Decurien wurde durch die
große Menge nöthig, und Columella empfiehlt sie beim Ackerbau besonders der
leichteren Beaufsichtigung wegen. Es waren aber auch in größeren Häusern
besondere Stillegebieter (silvirti^ii) angestellt und Namenncnner (lwmcznclÄtoi'of)
deren Gedächtniß alle Sklavennamen festhalten mußte. Trotz der ungeheuren
Menge war aber doch das Verhältniß der Freien zu den Unfreien in der Haupt¬
stadt selbst ein viel günstigeres als in Athen. Es herrschte in Rom unter der
niederen städtischen Bevölkerung eine viel größere Armuth als in Athen, und
man kann getrost behaupten, daß 700.000 Freie gar nicht an Sklavenhalter
denken konnten. Nun überwog aber allerdings die Zahl die Sklaven, so daß
man vielleicht aus ungefähr 2 Millionen Einwohner 1,100,000 Sklaven rech¬
nen kann. Man wird sich deshalb nicht wundern, daß der schon vor Seneca's
Zeit im Senate gemachte Vorschlag, die Sklaven durch eine besondere Kleidung
zu kennzeichnen, nicht durchging. „Man sah ein," sagt der Philosoph, „welche
Gefahr drohte, wenn unsere Sklaven ansingen, uns zu zählen." Alexander Se-
verus, der überhaupt für das Uniformirungswesen schwärmte, kam auf den Ge¬
danken zurück, ließ sich aber durch die Vorstellungen der Rechtsgelehrten Ulpian
und Paulus, die mehr auf die wahrscheinliche Vermehrung der Zänkereien und
thätlichen Beleidigungen hinwiesen, davon abbringen. Die römischen Sklaven
trugen wie die griechischen nicht das die Arme am Arbeiten hindernde Ober¬
gewand, sondern einen groben, kurzen, ärmellosen Leibrock. Was die Namen
der Sklaven betrifft, so entlehnten die Römer dieselben ebenfalls zum Theil
von der Heimath oder mit grausamer Ironie von alten Königen und Helden.
Lieblingssklaven benannte man zarter nach Edelsteinen und Blumen, z. B. Sma¬
ragd, Beryll, Hyazinth, Narciß. Mit römischen Namen, die überhaupt nicht
wie in Hellas etwas Zufälliges, Wechselndes, sondern Zeichen des feinen Man¬
nes waren, blieb man sehr zurückhaltend, und am häufigsten erscheint darunter
der Name „Statius". Domitian ließ einst einen vornehmen Mann deshalb
hinrichten, weil er zweien seiner Sklaven die Namen Mago und Hannibal ge¬
geben hatte! Es scheint also damals eine Art von Namencensur bestanden zu
haben. — Nachdem die Dienerschaft vom Tische der Herren verstoßen worden-
war. erhielt sie monatlich, in manchen Häusern auch täglich, ein Deputat an
Weizen, Oliven, Oel, Essig, Wein, Fischlake und Salz. Man rechnete jährlich
ungefähr 9 preußische Scheffel Weizen auf die Person, was einen Werth von
etwa 13 Thalern ausmacht. Der Wein, dessen Portionen Cato genau nach den
Verschiedenen Jahreszeiten vorschreibt, war natürlich nur Trcstcr. Die Oel-
lieferung betrug monatlich ein halbes Quart, die des Salzes jährlich 2 Metzen.
Rechnet man die Kleider (eine Tunica und einen Mantel), die blos alle zwei
Jahre gegeben wurden, hinzu, so werden die Unterhaltungskosten eines Skla¬
ven nicht viel über 24 Thlr, jährlich betragen, wogegen ein freier Tagelöhner
zu Ciceros Zeit sich täglich 4'/- Sgr„ also jährlich mit Abrechnung der Feier¬
tage vielleicht SO Thlr. verdienen konnte. — Die größere Hälfte der Sklaven
wurde zur Bewirthschaftung der Ländereien und großen Güter (ig,tit'unam)
verwendet, und da wir die agrarischen Verhältnisse Italiens genauer kennen als
die Attika's, so ist es interessant, zu sehen, wie die Sklaverei verbunden mit
den großen Gütercomplexen in nationalökonomischer Hinsicht hier dem Lande
ebensoviel geschadet hat. wie den Sklavenstaaten des heutigen Amerika. In
Folge der unaufhörlichen Eroberungskriege Roms konnte es gar nicht anders
kommen, als daß die freie Bevölkerung Italiens nicht nur abnehmen, sondern
auch dem friedlichen Ackerbau entfremdet werden mußte. Schon zur Zeit der
Gracchen waren viele italienischen Gefilde verödet, und das unselige System
der Militärlvlonien vollendete die Ausrottung des freien Bauernstandes. Sul¬
la's und Cäsars Legionen und die verwilderten Veteranen der letzten Triumvirn
vertrieben die Eigenthümer gerade der schönsten und fruchtbarsten Gegenden.
Selten aber wird aus einem alten Soldaten ein fleißiger Landmann. Jene
Krieger waren überhaupt ein lockeres, ausschweifendes Leben gewöhnt und blie¬
ben deshalb selten im langen Besitze des erworbenen Ruheplatzes. Zwar hatte
Cäsar den Kolonisten verboten, ihre Ländereien in den ersten zwanzig Jahren
zu veräußern, aber schon Cassius brachte dies Hinderniß in Wegfall; reiche Spe-
culanten legten ihr Geld in den zusammengekauften Gütchen an, um die Hände
ihrer sich immer mehrenden Sklaven vortheilhaft zu beschäftigen, und verdräng¬
ten sogar oft ihre ärmeren Nachbarn mit Gewalt, wenn ihnen deren Beb¬
ungen recht gelegen waren. So verschwand allmälig der kleine Grundbesitz.
Aber auch der Boden erfuhr nun eine andere Benutzung, die den Bedürfnissen
der Bevölkerung nicht entsprach. Der reiche Mann entzog auf seinem Besitz-
thum, dessen Grenzen oft ganze Landschaften umschlossen, den Acker dem Ge¬
treidebau, indem er oft den fruchtbarsten Raum für seine Landhäuser, Gärten,
Haine und Fischteiche brauchte. Auch der Sveculant vernachlässigte die Ge-
treideproduction, die zu Columella's Zeit kaum 4 Procent Gewinn abwarf und
legte sich auf Viehzucht, Wein- und Oelbau. So findet man denn gegen das
Ende der Republik die ungeheueren Sklavenmassen der römischen Schwelger in
den Oel- und Weinpflanzungcn abtheilungsweise unter ihren Aufsehern, zudem
noch großentheils gefesselt, arbeiten. Anstatt der zahlreichen Weiler und Ge¬
höfte glückliche Bürger, die früher die Landschaft belebt hatten, erblickte
man jetzt in abgemessenen Entfernungen die verrufenen Herbergen (si'MstUliy
der Leibeigenen. Die Bevölkerung derselben sollten eigentlich die des Ent-
laufens verdächtigen und die wegen irgend welcher Vergehung aus der Stadt
hierher verwiesenen Sklaven bilden. Allein wiewohl Columella die große Küche
der«Villa den Sklaven als gewöhnlichen Aufenthaltsort anweist und die gün¬
stigste Lage für ihre Zellen bestimmt, so -kann man doch annehmen, daß in der
That wegen Mangel an Platz und aus Furcht die Mehrzahl der Sklaven in
jenen halb unter der Erde liegenden, mit recht hohen Fensterchen ver¬
sehenen Bagno's eingepfercht wurden und dort alle in Fesseln lagen. Des¬
halb heißt bei Plautus die t'tmülür rusti^r ein „eisernes Geschlecht" (ähn¬
lich unserem Ausdrucke: „Geschlossene Gesellschaft"). Deshalb sagt Martial:
„Du glaubst vielleicht, daß ich mir aus dem Grunde Reichthum wünsche, wes¬
halb der große Haufe und der ungebildete Schwarm ihn erstrebt: damit die
Setinische Scholle meine Hacken abnutze und mein Tuscifcher Acker von un¬
zähligen Fesseln klirre." An der Spitze der Verwaltung des Gutes stand ein
Inspektor (villieus), ebenfalls ein Sklave, welcher Kenner des Landbaues war;
ihm zur Seite auf größeren Gütern ein besonderer Rechnungsführer. Die
Pflichten des Jnspectors hat der ältere Cato genau beschrieben; auch wie dessen
Frau, die ihm vom Herrn octrvyirt wurde, beschaffen sein soll, über ihre Ge¬
schäfte und ihr Verhalten gegen die Nachbarweiber findet man bei ihm die
überraschendsten Einzelheiten. — Während diese Bewirthschaftung des Landes
sich über Mittel- und Unteritalien bis nach Sicilien erstreckte, blieben die galli¬
schen Bewohner der Pogegenden weniger davon berührt, weil die Besitzer der
dortigen Güter wie auch der jüngere Plinius, nur Kleinpächter und freie Ar¬
beiter hielten. Die schlimmen Folgen der großen Gütercomplexe und der
Sklaverei entgingen schon den Alten keineswegs. Sie sahen, daß die Kraft
des Landes verschwand, während nur die wenigen Sklavenhalter sich bereicherten
und daß auch das Zurückgehen der Agricultur mit der ungenügenden Arbeits¬
kraft und Arbeitslust der Sklaven zusammenhänge. Der ältere Plinius spricht
es an verschiedenen Stellen unumwunden aus. „Die Latifundien," heißt es
irgendwo, „haben Italien zu Grunde gerichtet und beinahe auch schon die Pro¬
vinzen." — „Wir wundern uns, daß jetzt die Kraftanstrengungen der Zücht-
linge geringer sind, als die der ehemaligen Feldherrn. Es taugt gar nichts,
daß die Fluren von den Sklaven bearbeitet werden und eben so wenig taugt
Alles, was durch solche verzweifelte Menschen geschieht." Selbst die Landstraßen
wurden zuweilen durch die Sklavenhalter unsicher gemacht, indem die habsüch¬
tigsten unter ihnen harmlose Wanderer., einerlei, ob Sklaven oder Freie, auf¬
greifen und unter ihre Sklaven stecken ließen. Der Kaiser Augustus nahm des¬
halb eine Revision der Arbeitshäuser vor, und Tiberius sah sich zur Wieder¬
holung dieser Maßregel gezwungen, weil abermals nicht blos Reisende, sondern
auch solche mit Gewalt zurückgehalten wurden, die aus Furcht vor der Recru-
tirung sich in die Sklavenherbergen geflüchtet hatten. Hadrian hob endlich die
Bqgno's ganz aus. Dennoch gelang es nie vollständig, diese schändlichen An¬
stalten zu unterdrücken, und die Negierung ließ selbst die Arbeitshäuser der
Staatssklaven noch fortbestehen. — Außer diesen Ackersklaven erscheint nun aber
auch in den Rechtsquellen der konstantinischen Zeit ein leibeigener Bauernstand,
der die den Herren gehörigen Felder gegen eine Abgabe vom Ertrage bewirth¬
schaftet, aber an die Scholle gefesselt ist. Die Herren durften nie baare Münze
von ihnen verlangen, sie auch nicht ohne das dazu gehörige Land verkaufen.
Die Entlaufenen wurden streng bestraft und wieder zurückgebracht. Die Kolo¬
nisten waren vom Kriegsdienste frei und zahlten Kopfsteuer, die, wie früher in
Nußland, vom Gutsherrn im Ganzen ausgelegt und dann von den Einzelnen
wieder eingetrieben wurde. Doch lassen sich unter diesen Leibeigenen wieder
zwei Klassen deutlich erkennen; die eine besteht aus wirklichen Sklaven, auf
deren Eigenthum der Herr Ansprüche machen kann; die andere aus ursprünglich
freien Kolonisten, die nach Ablauf von 30 Jahren dem leibeigenen Stande ver¬
fielen, ohne ihre persönliche Freiheit und ihr Dispositionsrecht zu verlieren.
Die Entstehung dieser merkwürdigen Verhältnisse ist nicht klar. Es wird Wohl
zuweilen vorgekommen sein, daß Gutsbesitzer einzelne Parzellen den eigenen
Sklaven in Naturalpacht gegeben haben, und daraus könnte jene erste Klasse
entstanden sein. Die in freieren Verhältnissen lebenden Kolonisten sind aber
wahrscheinlich Barbaren, besonders Germanen gewesen, die zu verschiedenen
Zeiten und schon von Augustus an, in die Provinzen übergesiedelt worden sind,
um dem Landbau aufzuhelfen. Uebrigens sei es zur Ehre des menschlichen
Gefühls erwähnt, daß sowohl bei Verkäufen als auch bei Gütertheilungen die
nächsten Verwandten unter den Ackersklaven nicht von einander gerissen wur¬
den. „Wer sollte es mit ansehen können," sagt der Kaiser Konstantin in
einem Edikte, „daß Kinder von ihren Eltern, Schwestern von ihren Brüdern,
Weiber von den Männern getrennt werden?" Man hat diese Milderung dem
Einflüsse des Christenthums zuschreiben wollen; daß aber schon früher auf die
Verwandtschaft Rücksicht genommen wurde, ergiebt sich aus folgendem Zusätze
Ulpians zum ädilischen Edict: „Gewöhnlich werden vom Käufer wegen der mit
Krankheit behafteten Sklaven auch die gesunden dem Händler zurückgegeben,
wenn sie nicht getrennt werden können, ohne großen Verlust oder nur mit Ver¬
letzung der Pietätsrücksichte». Denn sollte man wohl mit Zurückhaltung des
Sohnes dessen Eltern dem Händler wiedergeben wollen? Dasselbe muß auch
bei Brüdern und bei verheirateten Personen beobachtet werden."
Wenn man nun ferner die verschiedenen Beschäftigungen der städtischen
Sklaven ins Auge faßt, so kann hier Manches übergangen werden, was theils
mit griechischer Sitte übereinstimmt, theils in andere, nicht hierher gehörige
Gebiete einschlägt. Unter denjenigen Sklaven, welche das Vertrauen ihres Herrn
besaßen und in Folge dessen die Oberaufsicht über einzelne Theile des Haus¬
wesens führten, auch allein das Recht hatten, sich einen Vicarius oder stellver¬
tretenden Sklaven zu kaufen, war der Prokurator als der eigentliche Vcrmö-
gensverwawr der vornehmste. Unter ihm standen der Cassirer und der Pro¬
viantmeister. Eine angesehenere Stelle nahm ferner der Haushofmeister (^trivnsis)
ein, unter dessen Aufsicht das ganze Inventar des Palastes stand. Es folgten
dann die eigentlichen Kammerdiener, die auch die Besucher anzumelden hatten,
wobei der Portier nicht zu vergessen ist, der, bereits, mit dem Rohrstock bewaff¬
net, die Zudringlichen abwehrte, aber auch in vielen Häusern wie ein Hund an
der Kette lag. Bei Ausgängen nahm man gewöhnlich ein Gefolge von vielen
Sklaven mit. Einige gingen hinterdrein und trugen allerhand Bedürfnisse, da
es zum guten Tone gehörte?, sich auch der leichtesten Mühe zu überheben, wes¬
halb selbst den Kindern die Schulutensilien von einem Sklaven in der Kapsel
nachgetragen wurden. Andere Sklaven bildeten mit den Clienten und Parasi¬
ten des Hauses den Vortrab und suchten durch Geschrei und Rippenstöße den
Weg frei zu halten. Ammianus Marcellinus erzählt von seiner Zeit, daß die
Reichen mit fünfzig Begleitern die Bäder zu besuchen pflegten! Um die
Mitte des ersten Iahrbunvcrts hatte man auch bereits Läufer und numidische
Vorreiter auf der Reise vor dem Wagen. In der Stadt vertrat die Stelle des
Wagens die Sänfte (Isetwa-i, welche, Anfangs nur Kranken und Frauen neben
der kaiserlichen Familie vorbehalten, seit der Negicumg des Kaisers Claudius
allgemein in Gebrauch kam. Auf das mit Baldachin und Vorhängen versehene
Ruhebett hingegossen schwebten nun die Herren der Welt von 6--8 stämmigen
Sklaven in rother Livree getragen über den Häuptern der ärmeren Sterblichen
dahin. „Ihr", sagt Luk'lau zu den Römern, „die ihr die Menschen wie Zug¬
thiere gebraucht, laßt sie auf ihrem Nacken die Sänfte wie Wagen schleppen.
Ihr selbst aber liegt üppig darauf und lenkt von da aus die Menschen, als
wären es Maulesel." Als die Sänfte allgemein Mode geworden war..behielten
sich Kaiser und Consuln den Gebrauch des Tragsesscls vor, der unserer Sänfte
mehr entsprach als die Jo(-t,i(N. Nur noch erwähnt seien ferner im häuslichen
Dienste die mancherlei Handwerker, die alle nöthigen Arbeiten besorgten und
dem freien Handwerkerstande Erwerb und Achtung raubten, die musikalische
Hauskapelle. Gaukler, Tänzerinnen, Gladiatoren u. s. w„ ferner die Gelehrten.
Aerzte, Vorleser, Bücherabschreiber und Pädagogen und vorzüglich der zum Ta¬
felluxus gehörende Schwarm von Köchen und Aufwärtern aller Art. „Sieh
unsere Küchen an", schreibt Seneca, „und die zwischen so vielen Feuern umher¬
laufenden Köche; sollte man glauben, daß es ein einziger Magen sei. sür den mit
solchem Tumulte Speise bereitet wird? Wenn sich endlich jene verwöhnten Zärt¬
linge-zur Tafel gelagert haben, so steht ein großer Haufen Sklaven umher;
auf ein Zeichen springen sie, um auszutragen, aus einander; einer zerlegt kost-
bares Geflügel; ein anderer reicht, wie ein Weib herausgeputzt, den Wein; ein
Dritter sammelt niedergebückt die Ueberbleibsel der Trunkenen. Gute Götter!
wieviel Leute setzt der eine Magen in Bewegung!" Die Zahl der Sklavinnen
welche des Wirth der Gebieterin gewärtig waren, überstieg die bei den Athe¬
nern gewöhnliche ebenfalls bedeutend. Von den Launen der Herrin hatte die
ganze Dienerschaft oft mehr zu leiden, als von der Strenge des Hausherrn.
Martial und Ovid enthalten Schilderungen weiblicher Grausamkeit. Am besten
aber charakterisier eine ungnädige Tyrannin Juvenal: „Wenn sich die Herrin
geärgert bat, ist die Spinnmeisterin verloren, die Garderobiers bringen nie die
rechten Kleider, der Sänftenträger kommt zu spät; auf dem einen zerbrechen
die Ruthen, den andern röther die Peitsche, den dritten die Knute; manche
Frauen zahlen den Folterknechten ein besonderes Jahrgeld. Sie läßt zuschlagen
und schminkt sich dabei das Antlitz; sie gibt ihren Freundinnen Audienz oder
betrachtet die breite Goldstickerei ihres Gewandes, und dabei regnet es Schläge;
sie überliefe die langen Zeilen des langen Ausgebejournäls: die Schläge fallen
fort und fort, bis endlich die schlagenden ermüden und ein donnerndes: Hinaus
erschallt." Dann schildert Juvenal die Leiden des unglücklichen Geschöpfes,
das die schwere Aufgabe hatte, das Haar der Gebieterin nach der Mode zu
frisiren, und mit bloßen Schultern und zerrauftem Haar vor ihr steht: „Warum
ist diese Locke höher als die ändere? ruft die Dame unwillig, und sofort straft
der Ochsenziemer das 'Zerbrechen. Bezeichnend genug ist auch das Zwiegespräch
zwischen Frau und Mann bei demselben Dichter: „Laß für den Sklaven ein
Kreuz, errichten!" — „Durch welches Verbrechen hat er die Todesstrafe verdient?
Wer ist Zeuge davon? wer hat ihn angezeigt? Merk wohl! Kein Zaudern über
eines Menschen Tod ist zu lange!" — „O Thor! Also ist wohl der Sklave
ein Mensch? Er mag nichts gethan habe»; .gut! Aber ich will es; ich befehle
es, und mein Wille ist Grund genug!" — leider liegt in den letzten Worten
mehr als ein Beweis für die tyrannische Willkür mancher Herren; sie enthal¬
ten zugleich, die römische, vom Gase-ez bestätigte Ansicht über das unbeschränkte
Recht des Herrn gegen Leib und Leben des Leibeigenen. Während in Athen
die eigenmächtige Tödtung der Sklaven verboten war, konnte in Rom der Herr
seinen Sklaven strafen, martern und quälen; er konnte ihn nach Belieben töd-
ten, ohne Rechenschaft zu geben. Dieses strenge Recht scheint nur in älterer
Zeit weniger zur Ausübung gekommen zu sein, als in späterer, und wurde
überhaupt in verschiedenen Familien verschieden geübt; es gab aber doch zu
jeder Zeit grausamen Charakteren Gelegenheit, ihre böse Lust zu stillen. Noch
zu Cicero's Zeit ließen Privatleute ihre Sklaven nicht unmenschlich foltern,
sondern auch hinrichten. Mehrere Schriftsteller erzählen von der Grausamkeit
eines Vedius Pollio, der zu Augusts Zeit lebte. Als der Kaiser einst bei ihm
speiste,' zerbrach ein Sklave ein kostbares Krystallgefäß. Vedius befahl densel-
den sofort den Muränen seines Fischteichs vorzuwerfen. Der Schuldige warf
sich dem Kaiser zu Füßen und bat nur um eine andere Todesart. Augustus
befreite ihn, ließ alles Krystallgeschirr des Hauses zerbrechen und befahl den
Fischteich zuzuschütten. Auch das Petronische Gesetz, das dem Herrn das Recht
nahm, seinen Sklaven ohne Entscheidung der Obrigkeit zum Kampfe mit den
wilden Thieren hinzugeben, scheint unter seiner Regierung erlassen worden zu
sein. Schon die Flucht zur Bildsäule des Kaisers, ja sogar das Emporhalten
einer Münze mit dem kaiserlichen Bildniß gewährte den Sklaven vorläufige
Rettung, und über zu grausame Behandlung, unkeusche Zumuthungen und zu
spärliche Kost konnten jetzt die Sklaven ihre Klagen bei dem Stadtpräfecten an¬
bringen. Dagegen kam es auch vor, daß der Kaiser verbrecherische Subjecte
nach zuvor angestellter Untersuchung ihren Herren zur Vollziehung der Toocs-
strafe auslieferte. Unter Claudius trieben Viele ihre Härte gegen die Sklaven
so weit, daß sie Kranke oder Gebrechliche ohne Weiteres aus dem Hause stießen
oder aus der Tibennscl, wo das Tempelhospital Aesculaps stand, aussetzten.
Der Kaiser verfügte deshalb, daß die Ausgesetzten, wenn sie gesund würden,
nicht wieder in die Gewalt ihrer Herren zurückfallen, sondern frei sein
sollten. Als Mörder sollte aber behandelt werden, wer seinen Sklaven lieber
todten als aussetzen würde. Hadrian fand es für nöthig, das Petronische Ge¬
setz wieder in Erinnerung zu bringen und stellte auch ein Strasexempel auf,
indem er eine vornehme Frau, die ihre Mägde wegen geringer Vergehungen
arg mißhandelt hatte, auf fünf Jahre in die Verbannung schickte. Antoninus
endlich verordnete abermals, daß gegen Jemanden, der seinen Sklaven tödtete,
nicht anders verfahren werden sollte, als gegen den Mörder eines fremden
Sklaven, und befahl, daß die Sklaven, welche sich wegen schlechter Nahrung und
unerträglicher Behandlung in ein Heiligthum flüchten würden, nicht mit Gewalt
zurückgebracht, sondern, wenn sich ihre Klagen gegründet erwiesen, von den
Herren verkauft werden sollten. Schon diese sich wiederholenden Einschärsungen
erregen ein gerechtes Mißtrauen gegen den Schutz, welchen die kaiserlichen Be¬
stimmungen überhaupt gewährt haben. Juvenals Schilderungen lassen kaum
eine Beschränkung der herrschaftlichen Willkür ahnen, und Ammianus berichtet
über die Römer des vierten Jahrhunderts nichts Besseres. Freilich muß man
bei allem Abscheu vor dieser Herabwürdigung der menschlichen Natur bedenken,
daß die zahllosen und demoralisirten Sklavenschwärme nur durch die größte
Strenge im Zaume gehalten werden konnten. „Unsere Vorfahren", spricht bei
Tacitus ein Senator, „mißtrauten den Charakteren der Sklaven, auch wenn
dieselben auf ihren Gutem oder in denselben Häusern geboren waren und so¬
gleich die Zuneigung des Herrn erlangt hatten. Nachdem wir aber Nationen
in unserem Gesinde haben, die verschiedene Gebräuche, ausländische Religionen
oder gar keine haben, kann man dieses Chaos nur durch Furcht bändigen."
Es wäre widerlich die verschiedenen Arten der Peitschen und anderer Marter¬
werkzeuge zu zergliedern, die außer den bereits berührten in Anwendung kamen
Da nach römischem Gesetze Jedermann einem fremden Sklaven ungestraft Faust-
schläge geben konnte, so nimmt es nicht Wunder, wenn in den Lustspielen die
Sklaven über gewöhnliche Schläge ihren Scherz treiben und dieselben als etwas
Alltägliches eben nicht sehr zu fürchten scheinen. Der Herr schärft darum oft
die Prügelstrafe, indem er den Sklaven an den Händen aufhängen und die Füße
mit Gewichten beschweren läßt. Die Brandmarkung war für Diebe und Flücht¬
linge gewöhnlich und auch in Rom suchte man später die Stelle durch Schön-
pflästerchen zu verbergen. Ja es gab zu Martrals Zeit zwei Aerzte, welche die
Brandmäler zu vertilgen verstanden. Um das Entlaufen zu verhindern, trugen
auch viele Sklaven Halsbänder mit Inschriften, wie z. B. „Halte mich fest, weil
ich fliehe und bringe mich zurück zu N. N." Durch Maucranschläge, durch be¬
sondere Sklavenhäscher, die aus der Aufspürung und Ergreifung der Flüchtlinge
ein eigenes Gewerbe machten, und durch das strengste Verbot der Stlavcnhehle-
rei wurde der Herr unterstützt. Noch sei 'hier als eines eigenthümlichen Züch-
tigungsmittcls der eure-; gedacht, eines gabelförmigen Holzblockes, aus zwei
Schenkeln bestehend, welche den Verbrechern auf die Schultern gelegt und an
welchen die Arme festgebunden wurden. In der älteren Zeit war dies mehr
eine beschämende Strafe; später fügte man aber noch Schläge hinzu.
Bei so harter Behandlung bildeten die wenigen Tage der im December
gefeierten Saturnalien den einzigen Zeitpunkt im Jahre, wo die Sklaven sich
als Menschen fühlen konnten. Alle ihre Arbeiten ruhten dann; sie trugen die
Toga und den Hut, das Symbol der Freiheit. Sie saßen mit ihren Herren,
wie in alter besserer Zeit zu Tische und ließen sich von ihnen bedienen: es
herrschte, wie ein griechischer Schriftsteller sich bezeichnend genug ausdrückt,
ein Waffenstillstand im ewigen Kriege zwischen Gebieter und Sklaven! Auch die
Redefreiheit, die ihnen dann zustand, wurde gegen harte Herren oft redlich be¬
nutzt. Sonst hatte es freilich bei dieser geringfügigen Sache nicht immer sein
Bewenden. Ein Blick auf die römische Geschichte zeigt, daß es zuweilen nur
eines geringen Anstoßes und eines energischen Charakters bedürfte, um Tausende
der Unglücklichen zum Verzweiflungskampfe gegen ihre Unterdrücker aufzustacheln.
Zweimal wurde das blühende Sicilien durch Sklavenaufstände heimgesucht, die
durch ihre Furchtbarkeit an die Negerempörung auf Domingo (1791) erinnern.
Der syrische Sklave Eunus, der zuerst die Kerker der Ackersklaven sprengte und
durch Gaukelei und Wahrsagern seinen abergläubischen Genossen so imponirte,
daß sie ihn zum König wählten, unterlag erst nach dreijährigem Widerstand und
vielen Siegen im Jahre 131 v. Ch. den römischen Legionen. 20000 Kreuzi¬
gungen sollten damals Schrecken und Gehorsam verbreiten. Aber kaum 30
Jahre später erregten die Vorspiegelungen, welche den Sklaven ein geldsüchtigcr
Statthalter machte, um sich die Herren zu reicherem Tribute zu verpflichten,
einen zweiten schrecklichen Krieg, der erst nach fünfjährigem Kampfe im Blut
erstickt werden konnte. Endlich brachen auch im Jahre 72 v. Ch. die italischen
Sklaven ihre Ketten, nachdem 64 Fechtersklaven, aus einer Kaserne in Capua
entwischt, die Fahne der Empörung ausgepflanzt hatten. Der kühne Thraker
Spartacus stellte sich an ihre Spitze, schlug alle Heere der Römer, die sich ihm
entgegenstellten, und faßte endlich, wie es scheint, die kühne Hoffnung, durch Er¬
oberung und Zerstörung der Hauptstadt Rache zu nehmen an den Eroberern
des Erdbodens. Die stolze Noma zitterte, als -er vom Wege nach Gallien, wo
er sich Anfangs niederlassen wollte, umkehrend mit 120,000 Sklaven ihre Mauern
bedrohte, als Brand, Mord und Verwüstung die ganze Halbinsel verödete. Nur
Mangel an Eintracht und Zucht führte die endliche Besiegung und Vernichtung
der Aufrührer herbei. Spartacus selbst und seine besten Leute starben in der
mörderischen Schlacht am Silarus den Tod freier Männer und ehrlicher Sol¬
daten; die unglücklichen Gefangenen aber wurden unter ausgesuchten Martern
getödtet und allein 6000 auf der appischen Straße zwischen Rom und Capua
gekreuzigt. — Zuweilen kam es aber auch vor, daß das Sklavengesinde des
Hauses gewaltsam seiner Erbitterung gegen ungerechte Herren Lust machte, und
dann hatten diese das Aeußerste zu fürchten. Ein schreckliches Beispiel solcher
Rache erzählt der jüngere Plinius aus seiner Zeit. Largius Mazedo, ein stolzer
und gestrenger Herr (obwohl sein Vater selbst Sklave gewesen war), befand sich
eben auf seiner Villa im Bade, als die Sklaven über ihn herfielen und ihm
durch Würgen, Stoßen und Schlagen die Besinnung raubten. Dann warfen
sie ihn auf den heißen Estrich der Dampfbadstube, um zu versuchen, ob er
wirklich todt wäre. Aber der Gemißhandelte erholte sich wieder und lebte noch
so lange, um wenigstens, wie Plinius sagt, „den Trost der Rache" zu genießen.
Das volle Maaß dieser Rache war schon von alter Zeit her vom Gesetze bestimmt
und bestand in der barbarischen Maßregel, daß alle Sklaven, welche sich zur
Zeit des Mordes mit dem Herrn unter einem Dache befunden hatten, ohne
Ausnahme getödtet wurden. Man nahm eben an, daß es Pflicht der anwe¬
senden Sklaven gewesen sei, den Mord zu verhindern, und wollte zugleich alle
Sklaven durch die Furcht vor dem eigenen Schicksale veranlassen, Alles aufzu¬
bieten, um eine solche That zu verhindern. So blieb denn die Ansicht Ulpians,
daß kein Haus anders sicher sein könne, als wenn die Sklaven mit ihrem
Kopfe für die Sicherheit des Herrn bürgten, bis in die spätesten Zeiten in
Geltung. Auch Plinius fügt ängstlich seiner grausigen Erzählung zum Schlüsse
die Worte bei: „Du siehst, wie vielen Gefahren, Mißhandlungen, Verhöhnungen
Wir ausgesetzt sind. Und es kann sich Niemand deshalb für sicher dünken,
weil er Milde und Nachsicht übt. Denn die Herren fallen nicht einem Urtheils¬
spruche, sondern dem Verbrechen zum Opfer." Augustus erneuerte die frühern
gesetzlichen Bestimmungen, strafte aber beim Morde des abscheulichen Ho-
skins Quadra die schuldigen Sklaven nicht. Unter Nerv aber erlebte
Rom eine unmenschliche Anwendung des kurz vorher auch auf die testamenta¬
risch freigelassenen Diener ausgedehnten Gesetzes. Der Stadtpräfect Pedanius
Secundus war von einem seiner Sklaven ermordet worden. Der Senat ver-
urtheilte die 400 Sklaven desselben alle zum Tode, und als das Mitleid mit
so vielen anerkannt Unschuldigen den drohenden Unwillen der Volksmassen er¬
regte, ließ der Kaiser die zur Richtstätte führenden Straßen militärisch besetzen,
und dem Esquilinischen Felde,.wo die Gebeine der Verbrecher und Sklaven
bleichten, entging keines der vielen Opfer.
Auf der andern Seite fehlt es nicht an Beispielen der treuesten Anhäng¬
lichkeit und hochherzigsten Aufopferung von Seiten solcher Sklaven, die eine-
bessere Behandlung erfuhren. Seneca in seiner Schrift über die Wohlthaten
und Valerius Maximus in seiner Anekdotensammlung indem viele Fälle dieser
Art gesammelt, und auch aus Grabinschriften läßt sich erkennen, daß in manchen
Familien Herren und Sklaven ein enges Pietätsvcrhältniß verknüpfte. Doch
mögen immer die humanen Grundsätze eines Seneca und Plinius selten genug
gewesen sein. Der erste schreibt an Lucilius: „Mit Vergnügen habe ich ver¬
nommen, daß du auf einem vertraulichen Fuße mit deinen Sklaven stehst. So
geziemt es sich für deine Klugheit, deine Bildung. . . . Ich lache über Alle,
die es für eine Schande ansehen, mit ihren Sklaven zusammen zu speisen.
Freilich werde ich nicht alle Sklaven zu Tische ziehen, sondern nur die würdig¬
sten, aber nicht ihrer Verrichtung, sondern ihren Sitten nach. — Laß dich lieber
von deinen Sklaven lieben und verehren, als fürchten" u. s. w. Auch Plinius
sagt in einem Briefe: „Die Krankheiten meiner Leute, deren einige der Tod in
der Blüthe ihres Alters hingerafft, haben mich aufs Tiefste gerührt. Zwei
Trostgründe habe ich, die zwar für einen so großen Schmerz zu schwach, aber
doch Trostgründe sind. Der eine ist die Bereitwilligkeit, womit ich ihnen die
Freiheit geschenkt, denn es dunkel mich, daß ich diejenigen nicht zu bald ver¬
loren, die ich frei verloren habe. Der andere ist die Erlaubniß, die ich meinen
Sklaven gebe, eine Art von Testament zu machen, die ich gesetzmäßig aufrecht
erhalte. Sie verordnen und bitten mich um das, was ihnen gefällt, und ich
vollziehe ihre Anordnungen wie Befehle. Sie vertheilen, schenken, hinterlassen,
wenn es nur nicht außer dem Hause geschieht. Denn den Sklaven ist das
Haus gleichsam'Republik und Stadt."
Wie in Attika gab es auch im römischen Staate öffentliche Sklaven.
Dieser Sklavenstand entsprang einestheils aus Kriegsgefangenen, die der Staat
seinem Dienste reservirte. So wurden im Jahre 210 v. Chr. nach der Er¬
oberung Neukarthagvs 2000 Handwerker zu Staatssklaven gemacht, und da zu
derselben Zeit die Einwohner Ccüabriens zu Hannibal gehalten hatten, so er-
klärte man sie ebenfalls später zu Sklaven des römischen Volks, und sie mußten
die Diensie der Büttel und Boten bei den Provinzialmagistraten verrichten.
Andererseits kaufte sich auch der Staat zuweilen Sklaven oder es gingen Privat¬
sklaven durch Erbschaft an den Staat über. August schenkte z. B. die von
Agrippa geerbten Sklaven den Wasserleitungen des Staates. Die niederen
Diener der Magistrate standen sich besser als die Sklaven der Privatleute; sie
konnten sich Vermögen erwerben, erhielten ein Deputat zu ihrem Unterhalte,
hatten freie Wohnung'und konnten seit Hadrian über die Hälfte ihres Besitzes
testamentarische Verfügung treffen. Viel übler war dagegen die Lage derjenigen
Staatssklaven, die bei Bergwerken, Wegebauten. Steinbrüchen, Kloaken, Bädern,
angestellt waren, Arbeiten, die der Kaiser Trajan in einem Briefe an Plinius
„nicht weit von Strafe entfernte" nennt. — Da die Römer den engherzigen
Glauben an natürliche Stlavcnklassen und an deren Prädestination zur Skla¬
verei nicht theilten, so wurde auch durch die gesetzmäßige, feierliche Freilassung
vor dem Richter, vor dem Censor oder durch Testament der Sklave sofort zum
Range eines freien Bürgers erhoben, wenn auch erst seine Kinder in den vollen
Genuß der Rechte eintraten. Der neue Freigelassene, der nun den Fcnnilien-
und Vornamen seines Freilasscrs dem seinigen vorsetzte, ließ sich das Haupt
scheeren und trug einen Hut oder eine weiße wollene Binde, um die Verän¬
derung seines Standes kund zu thun. Wie in Hellas blieb er aber zur Ehr¬
erbietung und zu mancherlei Verpflichtungen gegen seine frühere Herrschaft ver¬
bunden, und da in 5er Kaiserzeit dieses Pietätsverhältniß sich bedeutend lockerte
und bittere Klagen Der das Benehmen der Freigelassenen einliefen, so wurden
verschiedene Verordnungen erlassen, in Folge deren Verbannung, körperliche
Züchtigung und selbst Wiedereintritt in die Sklaverei als Strafen der Rück¬
sichtslosigkeit eintraten. Die Freilassungen selbst wurden in der Kaiserzeit aus
verschiedenen Ursachen immer zahlreicher. Oft erwarb sich durch Schandthaten
der Sklave den Preis der Freiheit, oft wurde er auch zur Belohnung für seine
Verschwiegenheit vom verbrecherischen Herrn freigelassen. Sogar die Habsucht
kam zuweilen mit in's Spiel, indem der Freigelassene sich verpflichten mußte,
seinen Antheil an den, armen Bürgern zufallenden Getreidcspendungen und an¬
deren Spendungen seinem Herrn abzutreten. Die meisten Freilassungen hatten
aber ihren Grund in der Eitelkeit der Vornehmen, die nicht selten in ihrem
Testamente allen Sklaven die Freiheit schenkten, um das Gepränge ihres Leichen¬
zugs durch möglichst viele Zeugen ihrer Großmuth zu vermehren. So geschah
es. daß Augustus schon sich gezwungen sah. gegen diese Vermehrung der Bür¬
ger durch schlechte Subjecte aller Art einzuschreiten. Ein Gesetz bestimmte da¬
her, daß alle Sklaven, die entehrende Strafen erlitten hätten, des Bürgerrechts
unfähig wären, ein anderes, daß nur ein gewisser Theil der Sklaven vom Te-
stator freigelassen werden könnte und überhaupt nie mehr als hundert. Der
Kaiser erachtete diese- Verfügungen für so wichtig, daß er ihre Aufrechthaltung
Die letzten Wochen haben in Amerika Ereignisse gebracht, die, einzeln
schon von großer Bedeutung, in ihrer Gesammtheit einen mächtigen Umschwung
aller Verhältnisse bilden, noch Wichtigeres in Aussicht stellen und sanguinischen
Gemüthern bereits als der Anfang vom Ende des Sklavenhalteraufstandes er¬
scheinen mögen.
Die Streitmacht des Nordens, bis vor Kurzem wenig thätig und wo sie
thätig war, vorwiegend im Nachtheil, ist in allgemeiner concentrischer Bewegung
und hat in rascher Aufeinanderfolge auf verschiedenen Punkten ihrer weitge¬
dehnten Operationslinie Erfolge errungen, welche die in den ersten Monaten
des Kriegs erlittenen Schlappen mehr als wett machen. Die letzten Posten
meldeten von Kämpfen fast auf allen Seiten des Kriegsschauplatzes, und mit
einer einzigen Ausnahme, dem Seetreffen auf der Hamptoner Rhede, bei wel¬
chem das secessionistische Panzerschiff „Mcrrimac" zwei Bundessrcgatten zerstörte
und einer dritten beinahe dasselbe Schicksal bereitet hätte, waren diese Nach¬
richten durchweg günstig für die Sache d?r Union. Auf die Kunde vom Fall der
Forts Henry und Donelson folgten Botschaften.von weiteren Fortschritten der Nord-
armee des Bundes in Tennessee, von der Besetzung Nashville's und der gänz¬
lichen Verdrängung der Conföderirten aus jenem Staat. Im nördlichen Ar-
kansas schlug General Curtis mit der Westarmee der Föderalisten die vereinigten
Heerhaufen der Jnsurgentenführer Price, Macintosh und Macculloch in einer
großen Schlacht so nachdrücklich, daß dieser Theil der südlichen Streitkräfte für
geraume Zeit unschädlich gemacht sein wird. In Missouri hat man durch baldige
Einnahme des im südöstlichen Winkel des - Staats gelegenen New-Madrid den
letzteren von den letzten Resten der Aufständischen gesäubert. In Georgia hat die
Bundcsflotte sich des trefflichen Hafens Brunswick bemächtigt, in Florida hat sie
das starkbefestigte Fernandina genommen. Von Port Royal aus bedroht ein
Unionistencorps Charleston, vom Albemarle-Sund in Virginien operirt ein anderes
unter General Burnside mit Glück über Newbern auf Norfolk und Suffolk. End¬
lich haben die Conföderirten sich genöthigt gesehen, sich auch vor der Ostarmee ihrer
Gegner zurückzuziehen. Nicht nur die Schanzen, mit denen sie den untern
Potomac beherrschten, sind geräumt, selbst die starke Stellung bei Manassas
Junction ist aufgegeben, das Bundesheer ist in die verlassenen Positionen ein¬
gerückt, und da weder der Rappahannock noch der Yorkriver sich zur Ver¬
theidigungslinie eignet, so ist nicht unmöglich, daß die Insurgenten erst am
James Stand halten, wo dann Richmond, ihre Hauptstadt, in demselben Grade
bedroht sein würde, wie in den ersten Monaten des Kriegs Washington, die
Hauptstadt der Gegenpartei.
Nicht minder wichtig als diese militärischen Fortschritte der Unionisten sind
die politischen. Der Kongreß hat ein Gesetz angenommen, welches den Bundes¬
truppen die Auslieferung flüchtiger Sklaven untersagt. Ferner ist ein Bundes-
steuergesetzcntwurf eingebracht worden, der, wenn er gutgeheißen wird, den
Credit der Union beträchtlich zu heben geeignet sein dürfte. Endlich — und
das ist das bedeutendste Ereigniß seit dem Ausbruch der Revolution — hat
Präsident Lincoln dem Congreß eine Botschaft zugehen lassen, die auf den ersten
Blick wie ein Vorschlag aussieht, den Krieg durch Auflauf der Sklaven in den
Staaten der Secession zu beendigen.
Indem wir uns eine ausführliche Betrachtung der veränderten militärischen
Position der beiden dampfenden Parteien für eine andere Gelegenheit vorbe¬
halten, untersuchen wir für heule jenen Plan des Präsidenten etwas genauer,
und zwar fragen wir zunächst, was die eigentliche Meinung des etwas dunkel
gehaltenen Actenstücks ist, dann, welche Ausnahme das Project wahrscheinlich
im Congreß. sowie in den Legislaturen der Einzelstaaten finden wird, endlich
welches Ergebniß die Maßregel vermuthlich haben würde, falls sie die Billigung
der Gesetzgebung erlangte.
Die leitenden Gedanken der Botschaft sind folgende: Die Baumwollen-
staaten verharren bei ihrer Rebellion auf Grund der Hoffnung, daß die soge¬
nannten Grenzstaaten sich ihnen im Kampfe anschließen und nach Beendigung
des Kriegs ihrer Konföderation beitreten werden. Wäre diese Hoffnung in einer
Weise zu nichte zu machen, daß jeder Verständige sie sofort als eine eitle erkennte,
so würden die Baumwollenstaaten entweder an der Möglichkeit fernern Wider¬
standes verzweifeln, oder, wenn sie tollkühn genug wären, den Krieg fortzusetzen,
ohne viel Mühe geschlagen werden. Hören die Grenzstaaten auf. Sklavenstaaten
zu sein, so verschwindet damit Alles, was die Gemeinschaft der Interessen und
Gewohnheiten zwischen ihnen und den Süd- oder Golfstaaten ausmacht, und
sie werden auf natürlichem Wege für immer ein Theil des nördlichen Bundes.
Sichern wir uns daher ihre Loyalität, gewinnen wir sie für das Zusammen¬
gehen mit uns, indem wir ihnen den Vorschlag machen, die Aufhebung der
Sklaverei zu verkünden und eine pecuniäre Entschädigung dafür anzunehmen.
Mit andern Worten: möge der Congreß sich erbieten, die Freiheit der Neger
von Kentucky. Missouri, Tennessee, Virginien und Maryland zu erkaufen, und
diese Staaten werden, dann zu freiem Boden geworden, ipso laco sich bundes¬
treu Verhalten und im Sinn des Nordens handeln. Die Kosten werden die
laufenden Ausgaben für den Krieg nicht übersteigen, und die Annahme des
Plans wird dem Kriege ein Ziel setzen. Wir machen den Vorschlag einer all-
mäligen und erkauften Emancipation allen Staaten, aber natürlich erwarten
wir nur von den Grenzstaaten, daß sie daraus eingehen. Wenn sie nur Ja
sagen, so ist unser Zweck erreicht, das Spiel gewonnen.
Dies die Grundgedanken der Lincolnschen Botschaft. Der Ton derselben
ist der eines Mannes, der allen Ernstes das Mittel gefunden zu haben glaubt,
einen beklagenswerthen Streit zum Austrag zu bringen, und der seine Lands¬
leute nun feierlich auffordert, seine Darlegung redlichen Sinnes zu prüfen.
Fragen wir, wie dieser Aufforderung vermuthlich entsprochen werden wird,
so müssen wir uns zuvörderst erinnern, daß ein derartiger Vorschlag eines
amerikanischen Präsidenten an den Congreß keine Bill, wie sie ein englisches
Cabinet dem Unterhaus, und kein Gesetzentwurf, wie ihn etwa ein preußisches
Ministerium dem Landtag vorlegt, sondern einfach eine Meinungsäußerung, ein
Rathschlag oder eine Anregung ist, aus welche der Kongreß nach Belieben hö¬
ren oder nicht hören kann, und welche er wahrscheinlich zunächst einem Comitü
überweisen und später ganz in derselben Weise und mit demselben Grad von
Beachtung discutiren wird, als wenn sie von dem Mitglied für Ohio oder
Connecticut oder irgend einem andern Abgeordneten ausgegangen wäre. Sehr
wahrscheinlich wird es geraume Zeit dauern, bevor die Maßregel auch nur
ernstlich vom Congreß in Betracht gezogen werden wird. (Das ' Repräsen¬
tantenhaus hat sich bereits günstig darüber geäußert. D. N.) Sie scheint das
amerikanische Publicum mehr in Erstaunen versetzt als erfreut zu haben. Die
Presse ist verschiedener Meinung über den Werth derselben. Die Abolitionisten
werden sich stark dagegen auflehnen, da sie schon die bloße Idee einer Ent¬
schädigung der Sklavenhalter als sündhafte Verschwendung bezeichnen, und nicht
weniger unwillkommen wird sie dem großen Haufen der gedankenlosen Schwär¬
mer sein, welche die Grenzstaaten schon fest und für immer zu haben glauben
und den Borschlag, mit Geld zu kaufen, was man mit den Waffen gewonnen,
für eine Abgeschmacktheit erklären. Nehmen wir an, daß der Widerstand dieser
Parteien sich überwinden läßt, so erhebt sich dahinter die andere weit wichtigere
Frage: Wie ist der Kauf zu bewerkstelligen? wieviel Geld ist zu der Entschädi¬
gung erforderlich und wie ist es zu beschaffen? Die Zahl der Sklaven in den
Grenzstaaten ist nach dem letzten Census (von 1860) .folgende.
Etwas mehr als zwölfmalhunderttausend Sklaven also wären zu kaufen und
freizugeben. Der Durchschnittswerth eines Negers, Mann, Frau oder Kind, wird
von den Sklavenhaltern gewöhnlich aus 400 Dollars angegeben, und man kann
sicher sein, daß, wenn das Land der Käufer wäre,-die Eigenthümer den Preis
nicht gerade herabsetzen würden. Der Gesammtwerth jener Schwarzen würde
daher gewiß nicht unter fünfhundert Millionen Dollars oder siebenhundert
Millionen preußische Thaler betragen. Nun verschlingt ein einziges Jahr des
Krieges, wie er bis jetzt geführt wurde, ohne Zweifel eine gleich große Summe,
aber wie man schwerlich das Geld für noch zwölf Monate Krieg herbeischaffen
würde, so würde man auch schwerlich die Summe aufbringen, welche die sofortige
Emancipation der Sklaven in den Grenzstaaten erforderte. Man wird uns
einwerfen, daß der Präsident an eine sofortige allgemeine Emancipation in
diesen Staaten nicht denkt, daß er nur etwa die Freilassung aller Kinder, die ein
gewisses Alter noch nicht erreicht haben oder nach einem gewissen Tage geboren
werden und eine feste Summe für jeden erwachsenen Neger vorschlagen würde,
welchen sein Herr freizugeben geneigt Ware. Dies würde allerdings die erfor¬
derliche Summe beträchtlich ermäßigen, indeß würde der Betrag noch-immer
von den Bereinigten Staaten in ihrer jetzigen Lage nur mit Schwierigkeiten
aufgebracht werden können, und kaum zu erwarten wäre, daß die nordwestlichen
und die Neuengland-Staaten bereit sein würden, sich zu dem Zwecke die schweren
Steuern auflegen zu lassen, die mau jetzt für den Krieg erhebt und die dann
wenigstens zum großen Theil forterhoben werden müßten.
Gesetzt aber den Fall, daß der Kongreß sich überreden läßt, den Präsidenten
zu bevollmächtigen, daß er mit den verschiedenen Grenzstaaten wegen der Frei¬
lassung ihrer Sklaven in Unterhandlung tritt, so ist es doch sehr zweifelhaft,
ob diese Unterhandlung den erwarteten Erfolg haben wird, und zwar aus nahe¬
liegenden Gründen. Der Vorschlag der Centralregierung würde den Legis¬
laturen jener Staaten zur Erörterung und Beschlußfassung vorzulegen sein. Wer
aber sind jetzt diese Legislaturen? Seccssionistisch oder unionistisch gesinnt?
Von den meisten schwer zu sagen. In einigen Staaten giebt es Gegenlcgis-
laturcn, wie einst Gcgenpäpste und Gegewkaiser. In andern sind die Wahlen,
aus denen die Vertreter hervorgingen, unter dem Zwang der Gewalt zu Stande
gekommen. Sind diese Vertreter Secessionisten, so werden sie natürlich einen
Vorschlag zurückweisen, dessen Tendenz eingestandnermaßen dahin geht, die be¬
treffenden Staaten der „guten Sache" abwendig zu machen. Sind sie Unio-
nisten, so werden sie vermuthlich auf die Maßregel eingehen, aber die illoyale
Partei des Staates wird ihren Beschluß für ungültig erklären.
Wir geben zu, daß auch diese Schwierigkeiten sich überwinden lassen. Dann
aber zeigen sich sofort andere Bedenken. Zunächst fragt sich, ob nicht in der
wnenfalls kurzen Zeit, bevor der Vorschlag des Präsidenten zum Beschluß des
Kongresses erhoben, und in der jedenfalls längeren Zeit, bevor die Ver¬
träge mit den Legislaturen der einzelnen Grenzstaaten ratisicirt werden können,
der ganze Kampf schon durch die Erschöpfung der pecuniären Mittel des Nordens
beendigt sein wird. Es wird nicht Viele geben, welche glauben, daß man einen
Angriffs-Krieg noch drei Monate fuhren sann, einen Krieg, der täglich fast
zwei Millionen Dollars verschlingt, der mit jedem weitern Schritt in Feindes¬
land hinein seine Kosten steigert/ und dessen Ausgaben mit Steuern, die noch
nicht bewilligt sind, und mit Papiergeld, welches bereits im Werth zu sinken
beginnt, bestritten werden müssen — und es wird unzweifelhaft mehr als drei
Monate bedürfen, ehe der Plan des Präsidenten praktische Bedeutung erhält.'
Gesetzt aber den Fall, derselbe kommt zu praktischer Durchführung, so ise immer¬
hin noch nicht gewiß, ob die Bevölkerung der betreffenden' Staaten ihn
willkommen heißen oder zurückweisen wird. Einerseits ist allerdings keine Frage,
daß, ob nun die Grenzstaaten sich dem Norden oder dem Süden anschließen
mögen, ihre Sklaven jedenfalls ein sehr unsicheres Stück ihres Besitzes sein
werden. Gehen sie mit dem Norden, so wird sich bald herausstellen/daß die
Sklaverei als gesetzlich geschützte Einrichtung bei ihnen dem Untergang verfallen
ist. Sie werden dieselbe und sich selbst, wofern sie sie aufrecht erhalten, durchaus
nicht im Einklang mit den Empfindungen und Meinungen finden, die in der
neuen -vorwiegend aus freien Staaten zusammengesetzten Gesammtrepublik
herrschen. Die Sklavenbesitzer werden von den Abolitiomsten unaufhörlich geplagt
und gehütete, von den Freesoilers gedrängt und von der freien Arbeit vielfach
überflügelt werden und endlich die Entdeckung machen, daß sie eine voll¬
kommen unhaltbar gewordene Position einnehmen. Schlösser dagegen die Grenz¬
staaten sich dem Süden an, so würde die Nachbarschaft der freien Nordstaaten,
in welchen kein „Gesetz über flüchtige Sklaven" mehr geduldet werden würde,
ihren Negern doppelt bequeme Gelegenheit zum Entlaufen geben. Selbst wenn
sich die sehr entfernte und durch die neuesten Ereignisse nur wenig wahrschein¬
licher gewordene Möglichkeit einer Wiederherstellung der Union verwirklichen
sollte, würden die stillen Eroberungen freier Arbeit auf den Gebieten der Grenz¬
staaten unbestreitbar fortdauern. Auf jeden Fall und unter allen Umständen
werden Sklaven in diesen Staaten von jetzt an ein Besitz'von zweifelhaftem
und fortwährend sinkendem Werth sein, ein Besitz also, in Betreff dessen es
klüger ist, ihn zu verkaufen als es auf seinen Verlust ankommen zu lassen.
Alles dies sollte die Bevölkerung dieser Gegenden geneigt machen, Einleitungen
zur Emancipation der Sklaven zu treffen und die angebotne Entschädigung an¬
zunehmen. Auf der andern Seite aber ist ein beträchtlicher Theil der Bewohner
der Grenzstaaten mit der Sklaverei förmlich verwachsen. Sie glauben nicht an
freie Arbeit, hassen sie und verachten sie. Sie haben keine Vorstellung davon,
daß freigelassene Neger um Lohn arbeiten werden, und empfinden kein Verlangen,
hohe Preise für die Dienstleistungen weißer Arbeiter zu zahlen. Die Virginier
werden nicht Lust haben, auf die großen Vortheile zu verzichten, die ihnen aus
der Züchtung von Sklaven für die Märkte der Baumwollenstaaten zuflössen.
In keinem der Grenzstaaten wird das Volk ferner mit besonderer Seelenruhe
und Befriedigung auf die zwölfmalhundcrttausend Menschen andrer Race in
ihrer unmittelbaren Nähe blicken, die, sehr wahrscheinlich arbeitsscheu, möglicher¬
weise zu Unehrlichkeitcn und Unordnungen hinneigend, einst ihre Hausthiere,
jetzt ihre Mitbürger sind. Endlich aber, wenn sie den Vorschlag der Ablösung
annehmen, diese Bewohner der Grenzstaaten, wo ist die Sicherheit, daß sie ihr
Geld wirklich und voll erhalten? Die Ablösungssumme kann nicht baar erlegt
werden, oder doch nur in Papier, in Schatznoten, das heißt in Zahlungsvc'r-
sprechen einer Regierung, deren Form wandelbar ist. deren Grenzen nicht fest¬
gestellt, deren Vollmachten nicht genau umschrieben sind, und deren Ruf im
Punkt des Worthaltens kaum ganz flcckenrein genannt werden darf. Schwer¬
lich würde man.sich vollständig sicher fühlen können, daß nicht eine hauptsächlich
von den Nordstaaten gewählte Gesetzgebung, unter schwerer Finanznoth leidend,
eines schönen Tages ein unbequemes Abkommen ohne Weiteres für null und
nichtig erklärte oder doch erheblich modificirte. und könnten die Se'lavenbesitzer
in den Grenzstaaten im Hinblick hierauf nicht meinen, daß die angebotne Ab¬
lösung nicht weniger unsicher als das Eigenthum an Sklaven sei?
Wir kommen zum Schluß, indem orr fragen: Gesetzt den Fall, daß Prä¬
sident Lincolns Vorschlag vom Eongreß adoptirt und trotz seiner oben besprochnen
Bedenken von den Grenzstaaten gutgeheißen und angenommen wird, muß der¬
selbe dann nothwendig den von seinem Urheber erwarteten Erfolg haben, das
heißt, werden dadurch die wecessionisten sofort genöthigt sein, sich zu unter¬
werfen?
Unsere Antwort lautet: Keineswegs. Es ist kein Grund vorhanden zu
solcher Vermuthung.
Wir haben stets die Ansicht gehegt, daß über kurz oder lang wenigstens
vier von den Grenzstaaten entweder zum Theil oder in ihrer Ganzheit sich dem
Norden anschließen müßten. Die Scheidelinie zwischen den beiden Hälften der
Union würde, wenn es nicht so wäre, eine sehr wenig den Verhältnissen an¬
gemessene sein. Natürlich aber hat man es aus leiten der Consödenrten für
eine Sache von höchster Wichtigkeit angesehen, sich wo möglich dieser Staaten
zu versichern, da deren moralische und materielle Kraft unschätzoar erschien. Daher
die außerordentlichen Anstrengungen der Secessionisten, sich in deren Besitz zu
behaupten und sie bei der Bundesgenossenschaft festzuhalten. Kein Zweifel,
daß ihr jetzt nahegerückter, zum Theil schon erfolgter Rückfall an die Union ein
schwerer Schlag für die ehrgeizigen Hoffnungen der Führer des Südens ist.
Aber man muß sich erinnern, daß der Austritt dieser Staaten aus dem Bunde,
der in Washington sein Centrum hat, von Anfang an als eine sehr zweifel¬
hafte Angelegenheit galt, daß die Partei der Loyalen in einigen fast so zahl¬
reich als die gegnerische, in andern sogar stärker als diese und nur weniger
laut und energisch war, und daß die Abstimmung über Verbleiben in der Union
oder Ausscheiden in mehreren nur .mit knapper Noth und vieler Kunst in einem
sür die Trennungslustigen günstigen Sinn entschieden wurde, während die Baum-
wollenstaaten, wie früher bemerkt wurde, sich mit ungeheuerer Majorität für die
Secession aussprachen. Ja in Missouri und Kentuckh hat eine förmliche und
regelrechte Abstimmung für dieselbe unseres Mösers nicht einmal stattgefunden.
Keiner dieser Staaten ist nothwendig, d. h. in gewissem Grad durch seine
Natur gezwungen, ein sklavenhaltcnder geworden. Nur Tennessee baut eine
nicht ganz unbeträchtliche Masse von Baumwolle. Virgiiucn hat im Westen
auf weite Strecken hin fast ganz aufgehört, Wirthschaft mit Sklaven zu betrei¬
ben. Wir fürchten deshalb, daß der Rückfall dieser beiden Staaten und ebenso
der von Missouri, wo die Verhältnisse ähnlich sind, nur mäßigen Einfluß nach
der Richiung hin haben wird, woher die Beendigung des Krieges kommen kann.
Die Grenzstaaten wieder erobern heißt die Rebellion concentriren, nicht sie er¬
drücken. Die Staaten, welche die Bewegung begannen, und welche bei derselben
den größten Eifer zeigen, die Staaten, die durch Interesse und Sitte vollkommen
'geeinigt sind, die beiden Carolinas, Georgia, Florida, Alabama, Mississippi,
Arcansas, Louisiana und Texas zeigen ihren Gegnern noch immer eine unge-
brochne oder doch nur leicht verletzte Fronte. Ihr Bund ist durch die letzten
Ereignisse an Dimension bedeutend kleiner geworden, er hat starke und kriegerische
Bundesgenossen eingebüßt, er verlor einige wichtige militärische Positionen. Aber
auf der andern Seite hat sich ihre Lage gebessert, insofern sie eine weit weniger
ausgedehnte Grenze zu vertheidigen und ihre Gegner ein weit weniger zugäng¬
liches Land anzugreifen haben.
Nach dem Gesagten wird Präsident Lincolns Lorschlag wahrscheinlich kein
unmittelbares praktisches Ergebniß haben. Als erster Vorschlag dieser Art aber,
der von einer Behörde ausgeht, als Ausdruck der Gedanken des höchsten Beamten
der Vereinigten Staaten, ist er ein Ereigniß, ein Zeichen der Zeit von großer
Wichtigkeit und, wie wir hoffen wollen/ein glückliches Omen.
Unser neuer Minister des Innern hat sich beeilt, dafür zu sorgen, daß die¬
jenigen Recht behalten, welche von Anfang an unser jetziges Ministerium für
wenig besser als eine neue Auflage des Manteuffel schen Systems gehalten ha¬
ben. Der Wahlerlaß vom 22. d. M. ist nichts als eine Uebersetzung der Kreuz¬
zeitung in die amtliche Sprache. Nur in der Form ist der Minister des In¬
nern etwas vorsichtiger, als seine Pießorganc. von denen die Kreuzzeitung ihm
mit der Fackel vorleuchtet und die Sternzcitung ihm die Schleppe trägt. „Es
liegt der königlichen Staatsregierung fern, die gesetzliche Wahlfreiheit irgendwie
beschränken zu wollen." So'singen regelmäßig auch die Wahlerlasse des Mi¬
nisters von Westphalen an. und ein solcher Eingang erweckt deshalb geringes
Vertrauen. Der Minister erklärt ferner, er wolle „durch seine Organe nur da¬
rauf hinwirken, daß den Wächtern die leitenden Grundsätze und die Absichten
der Negierung überall zum klaren Verständniß gebracht werden, und daß na¬
mentlich, allen Mißdeutungen und Entstellungen entgegengetreten werde, welche
das unbefangene Urtheil irre zu leiten geeignet sind." Ohne Zweifel ist dies
eine Absicht, welche ganz der verfassungsmäßigen Pflicht des Ministeriums ent¬
spricht. Man sollte erwarten, daß der Minister sogleich in diesem Erlaß seinen
Organen die nöthige Anleitung zur Durchführung dieser Absicht werde gegeben
haben.
Aber lesen wir weiter, so finden wir von der verheißenen Aufklärung über
die Grundsätze und Absichten der Negierung so gut wie gar nichts. Der Con¬
flict, welcher'zur Auflösung des Abgeordnetenhauses und zur Veränderung des
Ministeriums geführt hat. wird nicht mit einer Silbe erwähnt. Wir erfahren
also auch nicht, wie sich das jetzige Ministerium zu dieser Streitfrage stellen
will. Nur im Allgemeinen hören wir. daß die Regierung „auf dem Boden der
Verfassung steht, daß sie den Rechten der Landesvertretung ihre volle Geltung
widerfahren läßt, und bei der weiteren Ausführung der Verfassung in Gesetz¬
gebung und Verwaltung von freisinnigen Grundsätzen auszugehen entschlossen
ist." Diese Zusicherung würde trotz ihrer unbestimmten Allgemeinheit einen gu¬
ten Eindruck machen, wenn nicht aus dem weiteren Verlauf des Wahlerlasses
sich zu ergeben schiene, daß bei den „Rechten der Landesvertretung" allein oder
doch vorzugsweise an denjenigen Theil der Landesvertretung gedacht ist, welcher
sich in der Majorität des Herrenhauses darstellt. Wenn ferner die Regierung
„die Rechte der Krone mit Entschiedenheit wahren" will, so kann sie dabei der
lebhaftesten Zustimmung des ganzen Landes sicher sein; denn über wenige
Dinge herrscht in ganz Preuyen eine so vollständige Uebereinstimmung, als
darüber, daß die verfassungsmäßigen Rechte der Krone im Interesse des Landes
selbst heilig und unverletzbar erhalten werden müssen.
Der positive Inhalt des Wahlerlasses besteht .also aus einigen wenig be
Denkenden Allgemeinheiten. Bedeutend wird die Ansprache erst, wo der Minister
von den' politischen Bestrebungen zu reden beginnt, mit denen die Regierung
sich im Widerstreit befindet. Namentlich wird hier mit besonderem Nachdruck
hervorgehoben, daß die Regierung sich „in den schärfsten Gegensatz- zur Demo¬
kratie gesetzt habe, deren Bestrebungen zur Zeit unverkennbar darauf gerichtet
sind, den Schwerpunkt der staatlichen Gewalt, welcher nach Geschichte und Ver¬
fassung Preußens bei der Krone beruht, von dieser in die Volksvertretung zu
verlegen." Hier sind wir unvermuthet bei dem Feldgeschrei angelangt, welches
zuerst die .Kreuzzeitung als Parole für die bevorstehenden Wahlen ausgegeben
bat. Königliches oder parlamentarisches Regiment, — das sollte nach der
Kreuzzeitung der Gegensatz sein, um welchen sich diesmal die Parteien grup-
piren müssen. Der Minister des Innern acceptirt in seinem Wahlerlaß die
Taktik des feudalen Blattes, und erklärt zugleich, daß unter „Demot'raiie"
die „sogenannte Fortschrittspartei" zu verstehen sei.
Vergeblich fragen wir, wo denn die Fortschrittspartei die Rechte der Krone
gefährdet habe, oder wie die Behörden es anfangen sollen, die Wähler über
die „eigentlichen Tendenzen" jener Partei zu belehren, welche, wie es scheint,
nach der Ansicht des Ministers verschieden sind von den öffentlich bekannten
Tendenzen, die sich aus den Programmen, Anträgen und Beschlüssen der Par¬
tei ergeben. Aber eine andere Quelle, die Bestrebungen der Fortschrittspartei
zu erkennen, liegt nicht vor, und Herr von >agow würde es schwerlich verbor¬
gen gehalten haben, wenn er der Fortschrittspartei andere Bestrebungen, als
die öffentlich bekannten, nachzuweisen im Stande wäre.
Wir kommen also wieder auf den Hagen'schen Antrag zurück, welcher den
Anstoß zum Ausbruch der Krisis gegeben hat. Sind durch diesen Antrag die
Rechte der Krone in Gefahr gebracht? Man mag über die Opportunist des
Antrags streiten; man mag, wie wir, der Ansicht sein, daß es klüger gewesen
wäre, nicht gleich für das Jahr I»<>2 die Specialisirung des Etats zu ver¬
langen — aber dies sind gegenwärtig ganz untergeordnete Fragen. Dem Wahl¬
erlaß deS Ministers des Innern gegenüber müssen wir uns die Frage klar ma¬
chen, ob durch den Hagen'schen Antrag die Prärogative der Krone bedroht wor¬
den sind. Kein verständiger Mann wird diese Frage bejahen wollen. Auch
hat vor der Auflösung der Kammer Niemand daran gedacht, dem Hagen'schen
Antrag eine so gefährliche Absicht beizulegen. Ueber die eigentliche Tendenz
desselben, die Specialisirung des Etats, war das ganze Haus mit Einschluß der
gouvernementalen Partei einverstanden, und der' Finanzminister versprach die
Ausführung zum nächsten Jahre. Der Streit zwischen der Fortschrittspartei
und der Regierung drehte sich nur um die Ausführbarkeit des Antrags für die¬
ses Jahr. Selbst diese gab Herr v. Patow wenigstens bedingungsweise zu
und erklärte ausdrücklich, daß er in der Annahme des Antrags nicht ein Mi߬
trauensvotum erblicken werde.
Erst nach dem der Antrag angenommen war, äußerte die Regierung, daß
sie im Hause nicht das nöthige Vertrauen gefunden habe, und motivirte damit
die Auflösung der Kammer; und jetzt, nachdem auch das Ministerium aufgelöst
und reconstruirt ist, findet plöklicb der neue Minister des Innern, daß der bis
dahin ganz unverfängliche Inhalt des Antrags ein gefährlicher Angriff auf die
Prärogative der Krone sei;"jett wird ein specieller Conflict über die Art der
Controlle der Staatsfinanzen verallgemeinert zu einem Streit über die Grund¬
bedingungen unseres gesammten Staatsleben.
Die schlimmste Stelle des Wahlerlasses aber ist diejenige, wo die Erwar¬
tung ausgesprochen wird, daß die Beamten der Regierung ihre eifrige Unter¬
stützung gewähren werden, und wo man sie mit Berufung auf ihren dem
Könige geleisteten Eid der Treue warnt, sich nicht an Wahlagitationen gegen
die Regierung zu beteiligen. Wer gibt Herrn v. Jagow das Recht. die Treue
gegen "den König für gleichbedeutend zu erklären mit der Unterstützung des
jedesmaligen Systems der wechselnden Ministerien? Wer nach gewissenhafter
Erwägung davon überzeugt ist, daß das System des Ministeriums der Krone
und dem'Lande nachtheilig ist, der muß im Interesse der Krone und des Lan¬
des gegen das Ministerium stimmen. Will man diesen Satz nicht mehr aner¬
kennen^ so leugnet man die Grundbedingung des constitutionellen Wesens. Der
Beamte, welcher bei den Wahlen seine Stimme abgibt, ist nicht weiter be¬
schränkt, als jeder andere Staatsbürger. Die Regierung kann verlangen, daß
die Beamten ihren amtlichen Einfluß nicht gegen sie geltend machen; aber bei
der Abgabe seiner Stimme kann der Beamte sich nur durch seine gewissenhafte
Ueberzeugung leiten lassen, und kein Minister hat das Recht, ihm den Eid,
der dem Könige geleistet ist. zu interpretiren.
Unter dem vorigen Ministerium haben manche reaktionäre Beamte sich
Agitationen gegen die Regierung erlaubt, welche weit über die Grenze des
Zulässigen hinausgingen. Jetzt da sie am Ruder sind, verlangen sie, daß die
liberalen Beamten gegen ihr eigenes Gewissen stimmen sollen, und denjenigen,
welche ihre Ueberzeugung nicht verleugnen mögen, werfen sie Mangel an Treue
gegen den König vor. In einem Staate, wo das Verfassungsleben bereits
befestigt ist, würden die Beamten, die höchsten Behörden an ihrer Spitze,
gegen eine solche Theorie Protest erheben. Bei uns werden die UrWähler aus
dem Rundschreiben des Ministers die Nutzanwendung ziehen, daß sie soweit
als möglich keinen Staatsbeamten zum Wahlmann wählen.
Inzwischen hat der Wahlerlaß bereits den einen guten Erfolg gehabt, den
liberalen Parteien die Nothwendigkeit einer Annäherung anschaulicher zu machen.
So wie die Regierung die Wahlfrage gestellt hat, steht jeder Liberale bis zur
gemäßigtsten Nüance in der Opposition. Aber eben so sehr muß sich der ent¬
schiedenste Anhänger der Fortschrittspartei sagen, daß es nie mehr als jetzt ge¬
boten war, Festigkeit mit Mäßigung zu verbinden. Denn die Frage, ob köni¬
gliches oder parlamentarisches Regiment, ist nicht ohne kluge Berechnung gestellt.
Diese Alternative selbst ist gegen die Verfassung. Denn' die Verfassung kennt
weder eine königliche, noch eine parlamentarische Regierung schlechthin, sondern
nur eine königliche Regierung, welche in bestimmten Gebieten an die Mitwir¬
kung und Zustimmung der Volksvertretung gebunden ist. In der Krisis, in
der wir jetzt stehen, soll es sich entscheiden, 'ob die Mitwirkung der Volksver¬
tretung eine reale Bedeutung bat, oder ob sie nur ein Spielzeug ist, das beim
ersten ernsthaften Gebrauch zerbricht. Die Stellung des Abgeordnetenhauses
wird um so fester sein, je weniger es sich über die Schranken seiner Kompetenz
fortreißen läßt. Denn sonst könnte jene Alternative zwischen königlicher und
parlamentarischer Regierung eine Bedeutung gewinnen, welche sie jetzt nicht
hat. Für jetzt ist kein Zweifel, daß im nächsten Abgeordnetenhaus eine impo¬
sante liberale Majorität gegen das Ministerium zusammenstehen wird.
Inzwischen haben wir an der ersten Finanzmaßregcl des Herrn von der
Heydt bereits eine Probe, wie bei uns jetzt die constitutionelle Praxis etwas
anders aufgefaßt wird, als sonst in konstitutionellen Ländern der Fall zu sein
pflegt. Gleich in den ersten Tagen des neuen Ministeriums ließ Herr von
der Heydt aussprengen, daß er im Stande sein werde, das nöthige Geld für
die Armeeorganisation zu schaffen, ohne daß nach dem I. Juli d. I. der bis¬
herige LSpr'occntige Steuerzuschlag forterhoben zu werden brauche. Später
ist es von dem Wegfall des Zuschlags wieder stiller geworden. Wir müssen
dahin gestellt sein lassen, ob der erfindungsreiche Geist unseres jetzigen Finanz¬
ministers wirklich im Stande sein wird, dies Problem zu lösen, oder ob das
erwähnte Gerücht nur als Wahlmittel dienen soll. Wir haben hier nur die
erste Maßregel zu betrachten, mit welcher Herr von der Heydt die Finanzwelt
überrascht bat. nämlich die Eonvertirung der 4V-procentigen Anleihen von
1850 und 1852 in 4procentige.
Dabei stellt sich denn freilich heraus, daß der Herr Minister noch ganz
andere Geldquellen flüssig machen muß, wenn er den 25procentigen Zuschlag,
welcher etwa drei Millionen Thaler einbringt, entbehren will. Denn die Summe,
welche durch die Eonvertirung an Zinsen erspart wird, ist überhaupt sehr un¬
erheblich/und sür das laufende Jahr entsteht durch diese Maßregel sogar eine
Mehrausgabe. Erspart wird ein bald Procent von zwei Anleihen, welche zu¬
sammen 34 Millionen betragen, also 170,000 Thlr. jährlich. Für das laufende
Jahr beginnt die Zinsersparung erst vom 13. October, beträgt also 42,500
Thlr. Dagegen haben die Staatsfinanzen an Conversionsprämien ein halb
Procent des gegenwärtigen Betrags der beiden Anleihen, d. h. etwa 147,000
Thlr. zu zahlen. Also'ergibt sich aus dieser Eonvertirung für das laufende
Jahr eine Mehrausgabe von etwas über 100.000 Thlr. Hieraus folgt, daß
wenigstens für 1862 Herr von Roon keine Aussicht hat, vermittelst solcher
Finanzoperationen sein Budget besser ausgestattet zu sehen.
Alles dies aber gilt nur für den Fall, daß die Eonvertirung gelingt, d. h.
daß die Besitzer der Schuldverschreibungen sich die Zinsberabsetziing gefallen
lassen und es nicht vorziehen, die Kündigung zum 'l. October'anzunehmen.
Ob dies geschieht, hängt von Eventualitäten'ab. die sich mit Sicherheit nicht'
vorherberechnen lassen. Wenn die Gläubiger die Kündigung annehmen, so muß
der Staat bis zum 1. October etwa 30 Millionen Haares Geld schaffen, was
muthmaßlich nur vermittelst einer neuen Anleihe möglich sein würde. Jede
Eonvertirung einer Anleihe belastet also den Staat mit einer sehr erheblichen,
wenn auch nur bedingten Zahlungspflicht, Deshalb ist es in konstitutionellen
Staaten eine feststehende Praxis, daß nicht nur die Aufnahme von Anleihen,
sondern auch die Eonvertirung derselben der Zustimmung der Kammern bedarf.
Formell mag richtig sein, daß kein bestimmter Paragraph der Verfassung durch
die in Rede stehende Maßregel verletzt wird. Im Artikel 103 der Verfassung heißt es
blos, daß die „Aufnahme von Anleihen" und die „Uebernahme von Garan¬
tien zu Kosten des Staats" nur auf Grund eines Gesetzes stattfinden soll.
Also besteht die Eonvertirung zu Recht, wenn dem Staat daraus keine Kosten
erwachsen. Aber gegen den Geist der Verfassung verstößt es durchaus, daß eine
solche Maßregel einseitig von der Regierung beschlossen wird. Als die Incl6-
pcnätmee Re;lM, ein Blatt, welches sich doch Wohl auf die konstitutionelle Praxis
versteht, die telegraphische Nachricht von der Eonvertirung bekam, hielt sie das
Telegramm sür irrthümlich und wollte nicht glauben, daß es sich um eine bereits
beschlossene Maßregel der Regierung handele: vielmehr, meinte sie. werde wohl nur
eine bezügliche Vorlage an'die Kammern beabsichtigt sein. Ein merkwürdiges
Zusammentreffen hat gewollt, daß an demselben Tage, an welchem die preußische
Regierung die Eonvertirung einer Anleihe octroyirte, in Karlsruhe eine ganz
gleiche Maßregel dem Landtag zur verfassungsmäßigen Zustimmung vorgelegt
wurde. An diesem einen Beispiel zeigt sich der Unterschied der constitutionellen
-Praxis, jenachdem man die Verfassung in liberalem oder illiberalen Sinne aus¬
legt. Herr von der Heydt aber hat 'uns gleich durch seine erste Maßregel den
Beweis liefern wollen, daß wir jetzt wieder in ein System eintreten, dessen
höchste Aufgabe darin besteht, mit "Beachtung der constitutionellen Formen
geg
Reisen in Griechenland nebst einen, Ausflug nach Kreta van Bayard Taylor. Aus dem
Ennlischen van Marie Hansen-Taylor, Antorisirte Ausgabe. 1862, Leipzig, Voigt und Günther.
Ein liebenswürdiger, gebildeter und freisinnig denkender Tourist erzählt und
schildert hier seine Erlebnisse und Beobachtungen während eines viermonatlicher
Aufenthalts unter den heutigen Hellenen, während dessen er Theile von Attika, die
interessantesten Striche des Peloponnes, Euböa und verschiedene Gegenden der Nord-
districte bis an die thessalische Grenze sowie ein Stuck von Kreta besuchte, gute
Blicke in Sitte und Lebensweise des modernen Hellas zu thun Gelegenheit fand und
auch bei Hofe eingeführt wurde. Die Reise wurde im Jahre 1857 unternommen,
doch wird das Meiste, was über Land und Volk gesagt ist, noch jetzt zutreffen.
Wir haben vor vierthalb Jahren eine Reihe von Bildern aus Griechenland ge¬
bracht, und beschränken uns daher hier auf einige Auszüge aus den letzten Kapiteln
des Buchs, die das dort über Regierung und Verwaltung Gesagte durch sehr ver¬
ständige Bemerkungen ergänzen und als theilweise Erklärung der Unzufriedenheit
dienen mögen, welche in diesen Tagen zur Revolution führte.
„Thatsache ist, daß einige wenige Beispiele glänzenden Heldenmuthes einen trüge¬
rischen Glorienschein über die dunklen Züge des griechischen Unabhängigkeitskriegs
gebreitet haben, und daß die meisten derjenigen, die sich mit Ehrfurcht vor dem Na¬
men eines Marko Bozzaris beugen, nicht wissen, daß sein Oheim Nothi die Kriegs¬
vorräthe seiner eigenen Truppen stahl, um sie an die Türken zu verkaufen — daß,
während Kanaris und Miaulis brav und unbestechlich waren, Kolokotroni sich die
Taschen füllte und aus seinen Leuten feige Memmen machte — daß, während Ka-
raiskakis ehrenhaft handelte, andere die heiligsten Religionseide brachen und die Ge¬
fangnen mordeten, die sie zu schonen versprochen hatten," — „Es ist der verderbte
Sauerteig des byzantinischen Kaisertums, welcher noch in dem Blute dieses gemisch¬
ten Volkes gährt," — „Einige der alten Volkscharakterzüge find noch heutigen
Tages unter ihnen vorhanden: Eitelkeit, Liebe zum Disputiren, Geschwätzigkeit und
Freude an Pomp und Gepränge, Die Würdigung der Kunst, ist jedoch (man ver¬
gleiche unsern neulichen Artikel über Museen und Alterthümer in Griechenland) unter
ihnen gänzlich zu Grunde gegangen. Viele derselben werfen sich zu Bekennern de¬
mokratischer Grundsätze auf und freuen sich zur selbigen Zeit wie die Kinder über
da« bunte Gepränge, welches den Thron umgibt, S-e lieben den Gewinn leidenschaft¬
lich und haben doch eine große Abneigung gegen Handarbeit. Einer ihrer besten
Züge ist ihre Lernbegierde; leider aber hört diese auf, sobald sie im Stande sind,
eines der Staatsämter zu erlangen, Bestechlichkeit ist unter den Staatsbeamten in
Griechenland ebenso allgemein wie — wie in den Vereinigten Staaten, nur daß
man in jenem Lande ihr nicht dieselben Mittel entgegensetzen kann. Der ehrliche
Theil der Gesellschaft ist nicht beträchtlich genug, um einen vornehmen Taschendieb
zu brandmarken, und indem eine Horde von Blutsaugern in der Militär-, Marinc-
und Civilverwaltung sich auf Unkosten des Volkes bereichert, ist die Hauptmasse der
Bevölkerung nicht besser daran, als die Unterthanen des Sultans, Die Ehrlichkeit
unter den griechischen Landbewohnern kommt derjenigen gi.ich, die man gewöhnlich
unter Leuten ihres Standes findet, und wenn man sieht, wie ihnen von oben herab
die allerabseheulichsten Bctrugskünste gelehrt werden, so weiß ich nicht, ob man es
ihnen nicht vielmehr zur Ehre anrechnen muß, daß sie nicht schlimmer find, als es
wirklich der Fall ist.
Die Besteuerung der Landwirthe zum Beispiel geschieht nicht durch eine Ab¬
schätzung ihres Besitzthums, sondern durch die Abgabe eines Zehnten der Landespro-
ducte. Es herrscht das abscheuliche türkische System, die Zehnten des ganzen Landes
an eine Horde von Speculanten zu verpachten, welche der Negierung eine bestimmte
Summe zahlen und dann das Geschäft sich so gut zu Nutze machen als sie können.
Das Gesetz verlangt, daß das Getreide beim Messen leicht in das Maß geschüttet
und dann oberhalb eben abgestrichen werden soll; die Pächter aber haben die Ge¬
wohnheit, es wiederholt zu schütteln und zu rütteln und dann das Maß voll ^n
häufen. Dies ist nur ein Beispiel von ihren vielen Kunstgriffen und der Zehnte
nur eine der Formen, in denen das Volt besteuert wird. Häufig kommt es auch vor,
daß besondere Steuern für besondre Zwecke erhoben werden. Das Geld wird stets
eingetrieben, und das ist Alles, was die Leute davon wissen. Selbst die Summe,
welche die Regierung für die bei dem Erdbeben in Korinth zu Schaden Gekomme¬
nen aussetzte, schmolz, indem sie durch verschiedene Hände ging, bis auf die Hälfte
zusammen, ehe sie den Ort ihrer Bestimmung erreichte.
Die Griechen sind gute Patrioten in der Theorie, aber in der That könnte kein
Feind ihnen größern Schaden zufügen, als sie selbst thun. Es gibt Niemanden
unter ihnen, der nicht die Mißstände sähe, unter denen das Land seufzt, und doch
habe ich den Mann noch zu finden, der diesen Mißbräuchen mit der That entgegen¬
träte. Man hört nur Klage», wie folgt: „Was können wir »ut so kargen Mitteln
klar? Wir sind für unsre Lage nicht verantwortlich. Die Großmächte nahmen uns
Kreta, Chios, Epiros und Thessalien, welche uns mit Recht gehörten und weiche die
Basis eines starken und gedeihlichen Königreiches gebildet haben würden. Wir sind
hülflos schwach und es stand nicht mehr von uns zu erwarten." Wenn ich darauf
aber entgegnete! „So lange JI,r nicht mit den Euch "gegebenen Hülfsmitteln Alles
thut, was in eurer Macht steht, werdet Ihr nie dahin kommen, über größere Hülfs¬
mittel zu gebieten. Ihr redet von Armuth und gebt doch Eurem Hofe Verhältniß-
mäßig mehr als jedes andere Land in Enropa. Eure Landcseinkünfle sind bedeu¬
tend genug, um unter geeigneter Verwaltung nicht allein alle wirklich nöthigen
Ausgaben zu bestreiten, sondern auch um der Industrie des Landes die Verkehrs¬
mittel zu verschaffen, nach denen sie seufzt" — so erfolgte mehr als einmal nichts
als schwache Ausflüchte." —
„Der königliche Palast in Athen kostet zwei Millionen Dollars. Für diese
Summe haben die Griechen einen ungeheuren und häßlichen Steinhause» pentclisäicn
Marmors, so groß wie der Buckinghcuu-Palast in London oder das Residenzschloß in
Berlin — während ein Viertheil des Geldes hinreichend gewesen wäre, einen schönen,
dem Lande und seinen Mitteln angemessenen Bau aufzuführen. Der König hat eine
jährliche Eivilliste von einer Million Drachmen (166,»66 Ducaten), welche er, zu
seiner Ehre sei es gesagt, in und um Athen aufbraucht. Der Hof verschlingt allein
ein Zwölfthcil der gesummten Staatseinkünfte. Dann gibt es eine Reihe besoldeter
und pensionirter Militär- und Civilbeamten, wie sie in demselben Verhältniß kein
anderes Land Europa's aufzuweisen hat. In der Flotte gibt es für je dritthalb ge¬
meine Soldaten ungefähr einen Offizier, undir derArmec, welche 9000Mannzählt, finden
sich nicht weniger als siebzig Generale! Die Staatseinkünfte belaufen sich jährlich
auf mehr als 3,000,000 Ducaten was für eine Bevölkerung von 1,000,000 eine
hinreichende Summe ist, nicht allein um die Staatsmaschine in Gang zu erhalten,
sondern auch um die gegenwärtig vernachlässigten Hülfsquellen zu entwickeln. Aber
freilich ist es leicht einzusehen, wie das Ganze zwischen nutzlosen Ausgaben und amt¬
licher Feilheit aufgezehrt wird. Norwegen erhält mit geringeren Einkünften und
einer größeren Bevölkerung seine Straßen, Schulen. Universitäten. Dampfschiffe. Armee,
6'olle und Polizei und bleibt dabei frei von Schulden" —
„Einige Reisende weisen auf die Constitution Griechenlands hin und führen,
indem sie el» paar wohlklingende Redensarten, wie Wahlrecht, freie Rede, freie Presse,
^cllgwnsfrecheit. Volkserziehung u. s. w. aufzählen, zu der Vermuthung, daß die
Legierung vorwiegend demokratisch in ihrer Wesenheit sei. In Wahrheit aber ver¬
steht der König nicht, was eine Repräscntativregierung ist — ja begreift nicht ein¬
mal die ersten Principien einer solchen, und seitdem er sich unter dem Dictat der
Kanonen genöthigt gesehen, mit seiner Unterschrift einen Theil seiner Gewalt weg¬
zugeben, ist sein einziges Trachten dahin gegangen, sich das Verlorene wieder zu ver¬
schaffen. Dank deu guten Gelegenheiten, die ihm die Constitution selbst an die Hand
gibt, ist ihm dieses Streben auch gelungen. Der König ernennt nicht allein den
Senat, sondern auch die Nomarchen und hat das Recht, von den drei Candidaten,
welche die meisten Stimmen für sich haben, einen zum Demarchen auszuwählen.
Einer dieser drei ist sicherlich im Interesse des Hofes und auf diese Weise fällt die
ganze Landesgewalt in seine Hände zurück. En> hochstehender Bürger Athens sagte
mir einstmals- „Es ist eine eitle Hoffnung, unter dem jetzigem Regierungssystem
irgend etwas zu erwarten, was einer gerechten u»d geziemender Verwaltung ähnlich
sähe. Es gelang uns einmal nach großen Anstrengungen und nicht ohne einige
Intriguen hier in Athen drei Wahlcandidate» aufzubringen, von denen zwei recht¬
liche und aufgeklärte Männer unsrer eigenen Partei waren. Der dritte war ein
Dummkopf, den zu wählen wir die Hofparlci vermochten, indem wir es für eine
moralische Unmöglichkeit hielten, daß er das Amt erhalten würde. Es war aber
Alles umsonst; der König bestallte den Esel." Während meines Aufenthaltes in
Athen wurde einem Günstling des Hofes der höchste Rang in der Flotte ertheilt und
derselbe über den ehrwürdige» Kanaris gesetzt, dessen Name so lange genannt wer¬
den wird, als die Welt glänzende Heldenthaten ehrt. Der edle alte Manu legte
sein Amt alsbald nieder un» sandte dem König jeden Orden und alle Ehrenzeichen
zurück, die er aus den Händen der Negierung empfangen hatte." —
„Die Lernbegierde der Griechen ist oft und mit Recht als nner ihrer hoffnungs¬
vollsten Charakterzüge erwähnt worden. Sie durchdringt im Allgemeinen alle Klas¬
sen, und die einzige Einschränkung, die man in dieser Beziehung machen könnte,
wäre, daß sie in sehr vielen Fällen aus dem Wunsche entsteht der Handarbeit zu
entgehen und sich das Ansehen zu verschaffen, welches eine Regierungsstelle mit sich
bringt. Aus diesem Grunde ist Griechenland reich an Halbgebildeten, die ihre Stu¬
dien selbstgenügsam liegen lassen, nachdem sie einen gewissen Punkt erreicht haben.
Seit der Befreiung des Landes sind keine Gelehrten mehr, wie Koran und Acsopivs
(der noch lebt) auferstanden. Die Lieder der Klcphthen sind noch immer die besten
neugriechischen Dichtungen. Auf dem Gebiete der Geschichte und des Rechtes ist etwas
Weniges geschehen; im Zache der Kunst aber gar nichts. Nichtsdestoweniger ist
dieser Durst nach Wissen viel versprechend, und zur Ehre der Griechen sei es gesagt,
daß sie nach der Erlangung ihrer Freiheit vor allem Andern zuerst Vorkehrungen
zur Errichtung von schule» trafen. Gegenwärtig beläuft sich die Gesanlmtzahi der
Schüler in ganz Griechenland auf beinahe 45,000. was eine» unter 24 Seelen
ausmacht. Die Universität in Athen erfrent sich eines blühende» Zustandes, das
Arsakeion (unter der Obhut der Madame Mano. Schwester von Alexander Mavro-
kordato) zählt 300 Schülerinnen und die wohlbekannte Schule von Mr. und Mrs.
Hill beinahe 500. Außerdem gibt es vortreffliche Seminare in Sura, Patras, Nau-
plia u»d anderen Orten." —
„Da die Ehe des Königs eine kinderlose ist. so ist das Volk über seinen zukünf¬
tigen Herrscher in großer Ungewißheit. Der Eonstitution zufolge muß der nächst¬
folgende Monarch der Landeskirche angehören. Prinz Luitpold von Baiern, Otto's
Bruder, hat ans diesem Grunde auf sein Thronfolgerecht verzichtet. Adalbert, der
jüngste Bruder, ist zum Religionswechsel^ bereit, nachdem er den Thron bestiegen
haben wird — aber nicht eher. Der Sohn Luitpold's aber hat das erste Unrecht,
und dazu kommt noch, daß die Königl» Alles i» Bewegung setz-, um Propaganda
für ihren Bruder, den protestantischen Prinzen von Oldenburg zu machen. 2» alle»
diesen kleinen Pläne» und Jntrigue^^se Griechenland das Letzte, woran gedacht wird."
Es scheint ein eigenthümliches verhängnißvolles Geschick der Monarchen
zu sein, welche sich in Widerspruch mit Ansprüchen des Volkes und seiner Ver¬
treter befinden, daß durch ungeschickte Vertheidiger ihrer Ansichten Streitpunkte
erhoben und formulirt werden, die gerade von dieser Seite lieber vermieden
werden sollten, und daß so von Seite des Königthums eine theoretische Abklä¬
rung der thatsächlichen Zerwürfnisse angebahnt wird, welche nur zum Nach¬
theile der provocirenden Seite ausschlagen kann. So waren es die Schutz¬
schriften für Karl den Ersten von England von Hobbes und Salmasius über
die unbedingte Gehorsamspflicht der Unterthanen und weiter das Werk von
Filmer unter Jacob dem Zweiten, welche beidemale den theoretischen Streit
eröffnete» und dadurch die berühmten Gegenschriften zu Gunsten des ver¬
fassungsmäßigen Gehorsams hervorriefen. So wird auch in Preußen, dessen
Zustände überhaupt in vielen Beziehungen an jene Stadien der englischen Ge¬
schichte erinnern, grade von der Partei, welche die Ansprüche des Königthums
und des göttlichen Rechtes vertheidigt, die ganze Frage in eine Formel zu¬
gespitzt, die allerdings zur Klärung und schließlichen Lösung der jetzigen Ver¬
wirrung wesentlich beitragen muß, aber schwerlich zu Gunsten der Ansprüche
der Krone. Als im November 1858 die große Wendung in Preußen eintrat,
liberale Minister das Band des Vertrauens zwischen Krone und Volk knüpften
und ein aufrichtiger und wahrer Constitutionalismus dem Volke zugesichert
wurde, da hielt man es gerade von liberaler Seite für gerathen, ja nöthig,
den Unterschied zwischen Constitutionalismus und Parlamentarismus nachdrücklich
zu betonen und sich mit aller Bestimmtheit zu verwahren, daß der erstere den
letzteren im Gefolge haben werde. Man berief sich dafür auf die bekannten,
angeblich in Preußen obwaltenden Gründe, die Bedeutung des Königthums für
die ganze Entstehung und Entwicklung des Staates und die Nothwendigkeit
einer starken, allezeit schlagfertigen Executive.
Schreiber dieser Zeilen erlaubte sich bereits damals, einem der liberalen
Blatter, welches lebhaft mit Leitartikeln solchen Inhalts zu Felde zog. seine
bescheidenen Bedenken auszusprechen, aber ohne Erfolg. Und doch ist, was
seitdem in Preußen von oben und von unten gefehlt worden ist, eine mit
innerster Nothwendigkeit sich ergebende Konsequenz jener Unklarheit gewesen,
in welcher man sich über das Wesen des Parlamentarismus befand und mit
übergroßer Schonung von Vorurtheilen oder blinder Vertrauensseligkeit erhielt,
und es ist mit Zuversicht zu behaupten, daß Regierung wie Volk noch
manchen schweren Fehler begehen, manches schmerzliche Lehrgeld zahlen werden,
bis man auf beiden Seiten sich entschließt, solche Gespensterfurcht einer klaren
und nüchternen Prüfung weichen zu lassen..
Es kann nicht die Aufgabe dieser Blätter sein, aus die Lehre vom Parlamen¬
tarismus ausführlicher einzugehen; in aller Kürze sei nur an Folgendes erinnert.
. Das Repräsentativsystem erzeugt un Staate einen Dualismus der Gewal¬
ten, der das einträchtige Zusammengehen beider voraussetzt, wenn die Staats¬
maschine in Thätigkeit verbleiben soll, und der dadurch die Gefahr erzeugt, daß
durch die Reibung beider Gewalten die Thätigkeit des Staates gehemmt, die
Erreichung der Staatszwecke in Frage gestellt wird. Diese Gefahr ist um so
dringender, als bei dem Mangel einer Vermittelung dieses Dualismus beide
Gewalten die natürliche Tendenz haben auszuarten. Die Negierung wird,
wenn sie überhaupt an der Verfassung festhalten will, unwiderstehlich zu mi߬
liebiger Beeinflussung der Wahlen getrieben, die Vertretung aber, welche nie
die Aussicht hat, die Durchführung ihrer Wünsche selbst in die Hand nehmen
zu tonnen und zu sollen, mißt ihre Wünsche nicht nach dem Maß des Erreich¬
baren, stellt ihre Principforderungen ohne Rücksicht auf die zeitweilige Oppor¬
tunist derselben, übt das Recht, welches ihr am unbestreitbarsten zukommt
und ihr die größte Macht verleiht, das Steuerbewilligungsrecht mit Kleinlichkeit
aus und wird sich schwer dazu verstehen, der Negierung zu großen, w^taus-
holendcn Plänen die Mittel in die Hand zu geben. Namentlich zeigen sich
diese Uebelstände in der Bildung der Parteien. Diese gruppiren sich nicht um
die concrete staatliche Lage, sondern um das Mehr oder Minder freiheitlicher
Forderungen. Bei dem Mangel an Einfluß auf d>e Regierung schwindet ihnen
leicht die Disciplin, und vorzüglich die Mittelparteien sind, da sie das Minder
ihres Freiheitskatcchismus nicht durch ein Mehr an Macht ersetzen tonnen,
einer unaufhörlichen Zerreibung ausgesetzt. Das einzige Rettungsmittel aus
diesem Dualismus ist das parlamentarische Shstem, welches die Krone ihre
Rathe aus der jeweiligen Mehrheit der Vertretung nehmen läßt und somit sich
die Uebereinstimmung mit der Vertretung des Volkes sichert.*)
Nun wohl, in diesen kurzen Andeutungen ist die ganze Geschichte des
preußischen Verfassungslebcns, insbesondere seit 1858, enthalten. Es sollen
keine Vorwürfe erhoben werden, am allerwenigsten gegen die Männer, welche
unter unendlichen Schwierigkeiten und mit großer Aufopferung drei Jahre hin¬
durch bemüht waren, den preußischen , Staat in die Bahn gesunder freiheitlicher
Entwicklung zu bringen. Es soll ebensowenig die Anforderung gestellt werden,
daß sie bei ihrer Berufung zu Leitern des Staates frei und offen die Grund¬
sätze des Parlamentarismus hätten bekennen sollen. Aber soll aus der Prü¬
fung der Vergangenheit ein Gewinn für die Zukunft gezogen werden, so müs¬
sen auch die begangenen Fehler freimüthig genannt werden, und dann ist als
oberster Fehler hervorzuheben, daß die liberalen Minister nicht jede Thätigkeit
ihrerseits davon abhängen ließen, daß wenigstens factisch die Voraussetzungen
eines parlamentarischen Systems hergestellt wurden, d. h. daß nur liberale Minister
das Cabinet bildeten. Sicher kann manches zu ihrer Entschuldigung gesagt wer¬
den. Einmal besaß zur Zeit ihrer Berufung ihre Partei gar nicht die Majorität,
sondern sie wurden lediglich durch die liberalen Sympathieen der Krone berufen.
Sodann mochten sie meinen, mit der Zeit die Gleichartigkeit des Cabinets er¬
zreichen zu tonnen und vorläufig der guten Sache mit Annahme der Abschlags¬
zahlung dienen zu müssen. Der Verlauf der Dinge hat leider diese Meinung
nicht als richtig erwiesen, und man darf wohl sagen, daß die Minister ihrer
Partei schweren Schaden zugefügt haben, der noch schwerer sein würde, wenn
die anderen Parteien nicht auch gesündigt hätten. Indem die abgetrctnen
Näthe der Krone sich mit nichthomogenen Elementen zu enger Solidarität ver¬
banden, zwangen sie ihre eigene Partei factisch in diese Solidarität hinein und
übertrugen auf diese einen guten Theil der Jmpopularität, in welcher die nicht¬
liberalen Minister zum Theil aus nur zu gerechten Gründen sich befanden.
Diese Lage war um so gefahrvoller, als in dem Herrenhause ein weiterer Fac-
tor der Staatsgewalten gegeben war, welcher sich gegen die liberalen Tendenzen
der neuen Minister in offeneren Widerspruch setzte, und so wäre schon um
dieses Widerstandes willen geboten gewesen, einen starken Bund zwischen einem
in sich einigen Ministerium und der wahren Vertretung des Volkes zu schließen.
Das künstlich geschaffene Zerrbild würde dann sehr bald zu seiner wirklichen Nichtigkeit
zurückgeführt worden sein. So kam es denn, daß selbst die Durchführung
wirklich großer Maßregeln, wie die Regulirung der Grundsteuer, dem Volke
nicht das Vertrauen zu der Macht der liberalen Minister zu steigern vermochte,
und daß die Politik, welche der italienischen Verwickelung gegenüber eingeschlagen
wurde, trotz aller materiellen Billigung derselben doch den Eindruck der Schwäche
zurückließ. So geschah es ferner, daß nach Verlauf einer Wahlperiode die Par¬
tei auf das Heftigste angegriffen und der Schwäche beschuldigt wurde, welche,
die Schwierigkeiten der Verhältnisse würdigend, das Ministerium mit Schonung
und Rücksicht behandelt hatte. So erklärt sichs dann, daß eine Partei entstehen
konnte, welche ohne irgend welche neue politische Ideen, ohne staatsmännische
Leiter ihren einzigen wirklichen Kernpunkt in der Rücksichtslosigkeit fand, mit
der sie in der Presse und in den Wahlreden dem Ministerium gegcnübcrtrat,
daß die liberale Partei je nach dem individuellen Wärmegrad der Rücksichten
ihrer Mitglieder in Fractionen zerfuhr, welche die Disciplin der Partei vernich¬
teten, und daß, als Spott und Hohn an den preußischen Staat herantraten,
sich einflußreiche Stimmen zu Cynismen verirren konnten, wie: „kein Gut, kein
Blut", — Cynismen, die ein bleibender Schandfleck in dem Ehrenbuche einer Na¬
tion sind. So endlich kam es, daß jene drängende Partei ihre Todtschlagslaune
schließlich gerade gegen den liberalen Theil des Ministerium ausließ, und das
bei einer Gelegenheit, bei welcher sie recht schlagend beweisen sollte, daß sie
ebensowenig sachliche Bedenken gelten ließ, als persönliche. Das Abgeordne¬
tenhaus wurde aufgelöst, die liberalen Minister folgten ihm nach, und das
preußische Volk steht vor neuen Wahlen, in denen es nicht allein Unabhängig¬
keit und Energie, sondern auch Staatsklugheit und Einsicht beweisen soll.
In diesem Augenblicke nun stellt das neue Ministerium dem preußischen
Volke die Frage: königliches oder parlamentarisches Regiment? wirft es, dein
Ausspruche Richard des Zweiten bei Shakespeare vertrauend:
^ „Des Königs Nam' ist vierzigtausend Namen",
die Autorität der Krone in den Kampf der Parteien hinein, und erklärt jeden Gegner
des jetzigen Ministeriums für einen Feind des Königs. Man hat das Ministerium
wegen dieser Taktik, welche den Monarchen in Kampf mit seinem Land setzt, ange¬
klagt, allein bei genauerem Zusehen wird man bekennen, daß, wenn es auch geschick¬
ter gewesen wäre, die Schroffheiten der Situation nicht so zu betonen, doch
factisch der Kampf kein anderer ist, als ein Kampf des Monarchen mit seinem
Volke. Der König hat seine Minister aus eigenster, freiester Entschließung ge¬
wählt, sie stützen sich auf keine Partei, sie finden ihren alleinigen Titel in dem
Willen des Königs, ihre Wahl sollte geflissentlich den Gegensatz zum Parlamen¬
tarismus ausdrücken, und so ist es denn auch — mag sie ausgesprochen wer¬
den oder nicht — die nothwendige Folge, daß das Volk in seinen Wahlen zu
beweisen hat, Wie weit das königliche: „sie volo, sie .jubeo" noch Einfluß auf
dasselbe hat, und es tan» nicht fehlen, daß die Würde und das Ansehen des
Königthums in Preußen in diesem ungleichen Kampf schwere Schädigung
erleidet, wie sie der Parlamentarismus der Krone nie zufügen läßt. Daß
nun aber die Frage, wie sie das Ministerium stellt: königliches oder par¬
lamentarisches Regiment? wenn sie von Versicherungen des Festhaltens an der
Verfassung begleitet wird, nicht correct sein kann, braucht kaum bewiesen zu
werden. Denn diese Formulirung ignorirt den Dualismus der beiden Gewal¬
ten, oder setzt die Nothwendigkeit der absoluten Unterordnung der einen unter
die andere voraus, fordert also, indem es für königliches Regiment plaidirt,
factisch die Rehavilitirung deS Absolutismus.
Soll überhaupt von Festhalten an der Verfassung noch die Rede sein, soll
diese die Basis des Kampfes bilden, so kann die Frage nur so gestellt werden:
„unvermittelte Spaltung der Gewalten, oder Parlamentarismus?" Steht aber-
die Perfassung überhaupt in Zweifel, dann wird es sich in Preußen um eine
andere Frage handeln, um die des „unbedingten oder verfassungsmäßigen Ge¬
horsams", und vor den Trübsalen eines solchen Kampfes verschließt sich gern-
das Auge jedes wahren Vaterlandsfreundes.
In Preußen scheint auch jetzt noch auf liberaler und fortgeschrittener Seite
eine große Abneigung zu bestehen, auf eine ernsthafte Erörterung über den
Parlamentarismus einzugehen, und es mögen daher wohl nach der Beschaffen¬
heit, der preußischen Volksstimmung erhebliche Schwierigkeiten im Wege stehen.
Allein es ist trotzdem Pflicht, der Sache ernst ins Gesicht zu sehen und ihre
Bedeutung für Preußen überhaupt, wie sür den gegenwärtigen Moment zu
prüfen.
Noch jetzt ist wieder von liberaler Seite daran erinnert worden, daß das
preußische Königthum nach seiner ganzen Geschichte sich mit dem Parlamenta¬
rismus nicht befreunden könne, und daß der preußische Staat ein starkes König¬
thum brauche. Was das Erste anbelangt, so kann es billig der Zeit anheim
gestellt werden, ob die preußischen Herrscher ihren Vortheil mehr darin erblicken
werden, das Ansehen der Krone und die Kraft des Staates in Kämpfen mit
dem Volle zu verbrauchen, oder in richtiger Einsicht der Lebensaufgaben, die
dem preußischen Staate durch die Verträge von 1815 gestellt sind, sich an die
Spitze eines freien Volkes zu stellen. Was aber das Zweite betrifft, so leugnen
wir schlechtweg, daß der preußische Staat mit dem unvermittelter Dualismus
einer Verfassung stärker sei als mit einer parlamentarischen Regierung. Ver¬
trägt der preußische Staat die letztere nicht, so verträgt er überhaupt keine Ver¬
fassung. Wenn nun aber eine solche gerade eine Lebensbedingung des preußischen
Staates ist, so muß er auch nothwendig zum Parlamentarismus sich entschließen,
dafern ihm Einheit des Willens und der Action gewahrt bleiben soll. Tue
Seligkeit des Vertrauens, daß mit einer freien Verfassung König und Volk in
gleichem Schritte und Tritte gehen werde, ist durch die letzten drei Jahre und
die neueste Wendung sür immer zerstört. Und — wohlverstanden, wir meinen
keinen geistlosen Parlamentarismus, welcher den König im glücklichen Genusse
seiner Eivilliste läßt und die Leitung des Staates nach dem Rechenexempel je¬
weiliger Majoritäten ordnet; gerade in Deutschland wird bei der unfertigen,
durch vielfache politische Jrrgänge verfehlten Partcigestaltung die Heranbildung
regierungsfähiger Parteien, die Nutzbarmachung derselben für die Leitung des
Staates ein Riesenwerk sein, bei welchem einem genialen Monarchen die beste
Aufgabe zur Entfaltung ächter Staatsweisheit gegeben wäre.
Wir sind natürlich weit entfernt von dem Glauben, daß jetzt oder in naher
Zeit das preußische Herrenhaus sich zum parlamentarischen Systeme bekennen
werde, und da das letztere eine Verständigung zwischen den beiden Gewalten
voraussetzt, so könnte es scheinen, als ob jede Erörterung der Frage jetzt
eine mißliche wäre. Wir sind dieser Meinung nicht. Einmal hat das klare
Erkennen eines Zieles, wenn es auch ein fernes ist, an sich schon großen Vor¬
theil. Sodann aber, meinen wir, hat die erkannte Wahrheit schon ihre un¬
mittelbare praktische Bedeutung für die bevorstehenden Wahlen. Das preußische
Volt ist kaum noch einer so ernsten Prüfung seiner Einsicht und Tüchtigkeit
unterzogen worden. Es bedarf, um diese Prüfung zu bestehen, eines deutlichen
Bewußtseins ebensowohl über die letzten Ziele ale> über^die rechten Mittel und
Wege zu diesen Zielen.
Die jetzige Verwirrung scheint von dem Volke zu einer Frage zugespitzt
zu werden, die ihre großen Gefahren in sich birgt, zu der Frage nämlich: „wer
hatte Recht?" Die Parteien verfeinden sich unter einander; in der Wahlver¬
sammlung wird immer und immer wieder die für jeden Einsichtigen längst ent¬
schiedene Frage ventilirt: „wer hatte Recht, die Gegner oder die Freunde des
Hagen'schen Antrags?" und von Seiten der Fortschrittspartei scheint die ganze
Wahl zur Berathung und Beschlußfassung eines Vertrauensvotums für das
aufgelöste Abgeordnetenhaus gestempelt werden zu sollen. Wäre Aussicht vor¬
handen, daß dem Theile, welchem das Volk durch seine Wahlen Recht gibt,
auch die Krone Recht geben würde, so läge allerdings die Frage in solcher
Einfachheit. Da dies nicht der Fall ist, so muß auch die Frage dem Volte an¬
ders gestellt werden, wenn nicht große Gefahren demselben erwachsen sollen.
Wir sind nun der Ansicht, daß das preußische Volt seine Maßnahmen so
zu treffen hat, als stände es bereits aus dem Boden des Parlamentarismus,
und namentlich danach trachten muß, die günstigen Rückwirkungen desselben auf
die Parteienbildung und den Eharalter der Vertretung sich bereits möglichst zu
eigen zu machen. Und dies führt zu einer R e v i s i o n d e r j e dz i g e n P a r t e i e n.
Eine Partei, die dem Anscheine nach eine hervorragende Stelle bei den Wah¬
len spielen zu sollen scheint, die Fortschrittspartei, hat streng genommen ihren
eigentlichen Kernpunkt: größere Rücksichtslosigkeit gegen das nichthomogene Mi¬
nisterium, verloren. Die liberale Partei andrerseits ist aus der ungesunden Lage,
in die sie durch die liberalen Minister gebracht war, erlöst. Der Zeitpunkt ist
also für eine Revision höchst günstig. Und nach welchem Gesichtspunkte soll diese
Revision erfolgen? Wir meinen, es ist vor Allem darauf hinzuwirken, daß sich eine
möglichst starke regierungsfähige Partei bildet, und die Regierungsfähigteit
bestimmt sich sowohl nach der Capacität der Parteiführer, als nach den Parteizwecken.
Es ist also danach zu trachten, daß Leute gewählt werden, denen die Negierung an¬
vertraut werden kann, und daß die Parteien, welche keine passenden Candidaten
für ein neues Ministerium zu besitzen glauben, sich zu einer aufrichtigen Unter-
Stützung wirklicher Kandidaten entschließen: und sodann, daß die Parteizwecke
genau nach dem Maße bemessen werden, nach welchem eine starke Regierung
in Preußen möglich ist. Und gerade in dieser Beziehung halten wir eine auf¬
richtige Verständigung der liberalen Parteien in Preußen für eben so nöthig
als möglich. Dieselben haben sich während des Landtags über wichtige Fragen
verständigt, wir halten deshalb eine Verständigung auch über die Wahlen für
möglich. Die Wahlprogramme sind entstanden unter dem frischesten Eindrucke
der Vergangenheit, wir wünschen ein neues, gemeinsames, aus umsichtigster Er¬
wägung der Zukunft. Namentlich halten wir es weder für klug noch billig,
eine große mächtige Partei in einen alten Parteiunterschied zurückzwingen zu
wollen, der seinen Schwerpunkt gar nicht in der gegenwärtigen Verfassung hat.
Die Entdeckung, daß die Fortschrittspartei die alten Demokraten in sich schließt,
hat der liberalen Partei schwerlich großen Nutzen gebracht; die jetzigen Partei¬
unterschiede sind lediglich auf der Grundlage der Verfassung festzustellen, und
auf dieser Grundlage hat jede Partei ihre Zwecke zu entwickeln. An der libe¬
ralen oder sogenannten constitutionellen Partei dürfte es sein, zu einer Ver¬
ständigung mit der Fortschrittspartei die Initiative zu ergreifen. Sie frage die¬
selbe auf das Gewissen, mit welchem Programm sie sich getrauen würde, die
Regierung sofort in die Hand zu nehmen, und wenn die Partei sich nicht dazu
versteht, namentlich auch in der Militärfrage nicht, eine praktische Politik zu
befolgen, welche eine unmittelbare Uebernahme der Regierungsgeschäfte möglich
machen würde, so wird der Versuch einer Verständigung wahrhaftig nicbt zum
Nachtheile der constitutionellen Partei gewesen sein. Wir wünschen aber von
ganzem Herzen, daß die Verständigung zur Bildung einer starken regierungs¬
fähigen Partei gelingen möge, und halten die Möglichkeit des Gelingens gege¬
ben. Tritt diese Partei dem Lande und dem Monarchen gegenüber, dann ist
vielleicht die jetzige Krisis ein wohlthätiges Stadium in dem preußischen Ver¬
fassungsleben; gelingt die Verständigung nicht, dann wird vielleicht dem jetzi¬
gen Kampf ein noch schwererer folgen, der um den bedingten oder verfassungs¬
mäßigen Gehorsam, ein Kampf, der für das preußische Volk dann um so
Es kaum in unserer Zeit nicht befremden, daß die bildende Kunst selber
fein Mittel unversucht läßt, sich als ein geschlossenes Ganze, das in frischer
Entwicklung begriffen ist, dem Publicum immer wieder .vorzuführen, daß sie
„Historische Kunstausstellungen" veranstaltet. Sie will zeigen, daß sie, gleich
den anderen Formen des Lebens, hinter dem raschen Gange des Jahrhunderts
nicht zurückbleibt und daß sie dessen Inhalt und Anschauungen in ihrer Weise
zum Ausdruck bringt. Sie will sehen, welches Verhältniß die verschiedenen
Schulen und Meister zu einander einnehmen, sie will des geschichtlichen Zu¬
sammenhangs und ihrer Fortschritte gewiß werden; vielleicht auch aus dem
Allem sich fruchtbare Schlüsse für die Zukunft ziehen. Sie gewinnt sich also
aus den großen Ausstellungen einen doppelten Vortheil: sie belebt und bildet
das Kunstinteresse des Publicums, sie wird sich über ihre eigene Production
klar und findet wohl, indem sie ihr Schaffen beleuchtet, den Weg, den sie zu
gehen hat, leichter und sicherer.
Freilich, in den großen Kunstepochen bedürfte der Künstler der Fühlung
dessen nicht, was im Wesen der Zeit läge und ihm selber frommte: ebensowenig
als das Publicum einer besonderen Anregung zum ästhetischen Genuß bedürfte.
Der Bildner, Maler, Dichter trug das künstlerische Gesetz des Jahrhunderts
in seiner eigenen Brust, und er vollzog es, ohne sich dessen bewußt zu sein.
Nicht, daß er blind in den Tag hineingearbeitet hätte; mit der Naivetät des
Schaffens war die Selbstbesinnung bei der Ausführung verbunden, schon ein
Lasos schrieb über die Theorie der Musik, ein Sophokles über den tragischen
Chor, die alten Maler über ihre Kunst. Aber ein Anderes ist es, innerhalb
der künstlerischen Thätigkeit sich besonnen über die Mittel und Weise der Dar¬
stellung Rechenschaft geben, ein Anderes, den zeitgemäßen Inhalt und die
Form des Schaffens mit dem Bewufiscin finden wollen. Indessen ganz so weit
sind glücklicherweise unsere Künstler noch nicht, wenn auch Einzelne vor der
Leinwand sich überlegen, was wohl Neues zu machen wäre, das zugleich den
Charakter der Zeit träfe, und wie durch eine frappante Erscheinungsweise ein
neuer Reiz zu erreichen sei; wenn auch der Antwerpener Kongreß sich mit
Fragen beschäftigte, die in das Bereich des Künstlers ein für allemal nicht
gehören. In der That, es ist in der Kunstgeschichte neu, daß die Bildner und
Maler sich berathen, wie die monumentale Kunst die Elemente eines neuen,
dem Zeitalter eigenthümlichen Styls finden, wie sie in ihren Erzeugnissen ein
Symbol der jeweiligen Denkweise geben könne; das heißt ungefähr ebensoviel,
als das Kind, das noch nicht da ist, über die Taufe halten, oder vielmehr die
Rolle eines Wagner übernehmen, der mittelst Kolben -und Retorten einen
Homunculus zur Welt bringen will. Man überlasse doch der Kritik das trau¬
rige Geschäft der kunstarmcn Zeit durch allerlei Borschläge unter die Arme zu
greifen, wenn nun wirklich der Fluß des Schaffens versiegt ist und der Künst¬
ler rathlos steht. Dieser wenigstens quäle sich nicht ab, für die entleerte Phan¬
tasie einen neuen Inhalt zu finden, für die dürftige Welt der Erscheinung ein
neues Gewand zusammenzusuchen. Es konnte nicht fehlen, daß jene Berathungen
unschuldige Versuche blieben, und es ist gut, daß sie es blieben.
Aber allerdings, günstig ist das Jahrhundert dem Künstler nicht. Es
bringt ihm den Inhalt seiner Vorstellungen nicht in einer Form entgegen,
die leicht in die Phantasie einginge und der bildenden Hand sich fügte.
Schreiber dieses hat bei Gelegenheit >der französischen Kunst (Ur. 36 des Jahr¬
ganges 1361 der Grenzboten) das Verhältniß des Zeitalters zur bildenden
Kunst erörtert, was diese Gutes von jenem, was sie Schlimmes erfährt, und
kommt hier nicht darauf zurück. Alles, das ganze weite Bereich des vergangenen
und gegenwärtigen Daseins ist zum Stoff für den Künstler geworden, aber
nur um so seltener ist der eigentliche Stoff für die Kunst; die ganze Welt ist
zum Gegenstand des Bewußtseins aufgeklärt, aber ebendeshalb hat die Phan¬
tasie nirgends mehr ein ihr eigenthümliches Feld, sie empfängt die Dinge fast
nur noch aus zweiter Hand, nachdem sie das Gebiet des Verstandes passirt
haben. Man kann es daher der Kunst nicht verargen, wenn sie ebenfalls über
sich klar zu werden sucht, wenn sie nun gleichsam die Phantasie in die Zucht
des Verstandes nimmt. Die Ausstellungen sind das Product einer in der Kunst
heruntergekommenen Zeit, — in regelmäßiger Wiederkehr sind sie zuerst in Frank¬
reich unter Ludwig dem Fünfzehnten gebräuchlich geworden; der Wetteifer,
den sie hervorrufen und die Einsicht, welche sie verschaffen, bieten eine Art
v.on Ersatz für den Mangel des schöpferischen Dranges, der unbewußt das
Rechte findet. Und es ist den Deutschen zum Guten anzurechnen, daß sie es
nicht sowohl auf den Wettkampf der bloßen Fertigkeit und neuer Reizmittel
abgesehen haben, als auf die ruhige Prüfung des Geleisteten und die allmälige
Vermittlung der verschiedenen Richtungen.
Nur versprach die Kölner Ausstellung mehr als sie hielt und als sie hat-
ten konnte, indem sie sich „für eine allgemeine deutsche und historische" aus-
gab. Es ist immer ein bedenkliches Ding, wenn die gegenwärtige Kunst sich
selber in den geschichtlichen Zusammenhang einzureihen und durch die Zu-
sammenstellung ihrer Werke den Gang ihrer Entwickelung anzugeben sucht. Ab¬
gesehen davon, daß im heißen Gewühl des Tages manches Bedeutende über¬
sehen, manches Geringe überschätzt wird, setzen sich allerlei äußere Hindernisse
jener Vereinigung des Materials entgegen, welche zu einer auch nur halbwegs
vollständigen Uebersicht erforderlich wäre. Dazu kommt in diesem Falle, daß
die Kölner Ausstellung, was die Kunst der vergangenen Jahrzehnte anlangt,
nur als Ergänzung der Münchener vomJahre 1858 anzusehen ist, und so von
dem Gange der früheren deutschen Kunst ein nur unklares und lückenhaftes
Bild gibt.
Schon dieser Umstand bringt es mit sich, daß wir tuer auf die geschicht¬
liche Entwicklung der deutschen Kunst nicht näher eingehen. Wir halten uns
an die Werke der jüngsten Zeit; wir wollen sehen, was die gegenwärtige Kunst
aus den verschiedenen Wegen, die sie eingeschlagen, erreicht hat, was wir von
ihr zu hoffen haben; und nur um gründlicher in die moderne einzudringen,
wird bisweilen ein Rückblick auf die vergangene Periode nöthig sein. Denn
wenn auch die deutsche Kunst des neunzehnten Jahrhunderts nicht, wie die
französische, eine fest in einander gefügte und in eng zusammenhängenden
Kreisen verlaufende Entwicklung durchgemacht hat: so ist sie doch von dem
Boden der allgemeinen Bildung nicht losgelöst, und bei aller Willkür und Ver¬
wirrung ist die Beziehung der späteren zur früheren Zeit durch allerlei Fäden
vermittelt.
Und zwar ist es vorzugsweise die Malerei, mit der wir uns hier beschäf¬
tigen. Architektur und Plastik sind nun einmal die Formen nicht, in denen
das 19. Jahrhundert sich selbständig bethätigen, sein Wesen in eigenthümlicher
Weise ausdrücken kann. Ein neuer Baustyl läßt sich nicht aus dem Boden
stampfen, und mit einer bunten, kaleidoskopischen Zusammenstellung von belie¬
bigen Elementen früherer Style ist es nicht gethan. Die Zeit verlangt von
der Baukunst für ihre Ideale keine heilige Stätte mehr, sie will von ihr nur
die zweckdienliche Form für ihre praktischen Interessen. Das ästhetische Bedürf¬
niß ist dabei ein rein äußerliches, daher der Trieb für eine eigenthümliche
architektonische Schönheit in Wirklichkeit nicht vorhanden, und so ist die Auf¬
gabe, sich nachbildend an d i e vergangene Periode zu halten, deren Kunstform
unsere Anschauungsweise am leichtesten sich anpaßt, unseren Zwecken am ehesten
sich fügt. Es ist in diesen Blättern schon bei Gelegenheit der Pariser Bauten
näher die Rede von der Ratlosigkeit gewesen, mit der die deutsche Architektur
Versuch auf Versuche häuft.
Auch die Sculptur hat von unserer Zeit eine wesentliche Fortbildung nicht
zu erwarten. Wir wiederholen nicht, wie vollendet unplastisch die Gegenwart
ist. Die vertieftere Einkehr der Bildung nach innen, die Breite einer im
Handel und Verkehr unablässig sich drängenden und kreuzenden Welt, die
Gleichgiltigkeit gegen die menschliche Form, welche nicht einmal schöne Individuen,
sondern nur schöne Exemplare in der Seiltänzcrbude und unter dem Balletcorps
sucht: woher soll da eine eigenthümliche plastische Anschauung kommen, die
ein auch in der Leidenschaft noch klar und einfach bewegtes Seelenleben ganz
und bruchloS in den reinen schwungvollen Fluß der Form zu bringen hat!
Auch der Bildner ist auf die Reproduction angewiesen, und er kann sich glück¬
lich preisen, wenn die unschöne Decke unserer Culturformen nicht auch seinen
Sinn für die wahre plastische Form verschüttet hat. So lange es sich um die
Darstellung ganz einfacher idealer Motive handelt, kommt Alles auf das richtige
Verständniß der Form an. Soll das innere Leben im Guß der Linie und in
der feinen Wellenbewegung des Körpers zur schönen Bildung ganz herausge¬
wachsen erscheinen, so ist die Anmuth der Stellung und die anatomische Rich¬
tigkeit das Geringste. Die Hauptsache ist, daß der Künstler die Form in
breiten großen Flächen sehe, die in unmerklichen Uebergängen und harmonischem
Fluß sich verbinden, nach allen Seiten inMaren Verhältnissen sich aneinander
fügen, in denen der materielle Bau des Körpers wie verschwindet, und doch
wieder leise fühlbar sich ausprägt, in denen endlich dieser als der ganz ideale
und doch durch und durch lebendige Träger der in ihn ergossenen Seele er¬
scheint. Nur in der so dargestellten Form bleibt nichts von der Schwere und
Dürftigkeit der stofflichen Erscheinung zurück, und nur in ihr spricht sich die
Bewegung mit dem unendlichen Zauber der vom Geiste ganz durchflutheten
Gestalt aus. Es ist mit einem Worte die Anschauungsweise des größten
Künstlers der Form, den die Welt je hervorgebracht, es ist die des Phidias,
nach der die moderne Plastik sich zu bilden hat. wenn sie für ihre Werke ein
tieferes Interesse erregen, wenn sie für die Fremdheit der Motive, die im Gan¬
zen doch jenseits des heutigen Bewußtseins liegen, durch die Darstellung ent¬
schädigen will. In unserm Jahrhundert hat zuerst Thorwaldsen diese Art die
Form zu sehen wieder entdeckt, indem ihm das Verständniß für Phidias auf¬
ging. Sein Jason war die erste Frucht des neu gewonnenen plastischen Sinnes.
Und auf diesem Wege hat die ideale Sculptur fortzugehen, wenn ihr daran
liegt, c>n die Stelle der todten Nachahmung eine seelenvolle Nachbildung zu
setzen. Der Bildner hat durch die plastische Vollendung der Form künstlerisch
die Fülle des Lebens zu erreichen, welche der Wirklichkeit zu entnehmen ihm
versagt ist. Allein nichts der Art war auf der cölner Ausstellung. Wann endlich
wird die heutige Plastik zur Einsicht kommen, daß die Erfindung einer halb¬
wegs gefälligen Stellung, die schwülstige oder gedrechselte Rundung der Glie¬
der, die Ausbildung des Muskelsystems, mit der ein Turner sich brüsten könnte,
noch lange den Bildner nicht machen? Unser Jahrhundert hat es wie keines
verstanden, in die Vergangenheit einzudringen, und mit feinem Sinn auch der
entlegensten Zeit ihr Geheimniß abzulauschen; warum löst es an der Hand der
griechischen Meister den Bann nicht, der noch immer wie mit sieben Siegeln
den Zauber der Form geschlossen hält? Da Ihr den frommen Sinn, den inni¬
gen Ausdruck des Mittelalters nicht habt, nicht haben könnt, da Ihr die Ge¬
stalt mit der heitern Fülle der Phantasie nicht beleben kommt, die das wieder-
erwachende Italien üppig nach allen Seiten hin ausstreute, da Ihr endlich den
Inhalt Eurer Zeit in Marmor nicht zu fassen vermögen so lernet einmal das
Leben in der Form entdecken, im Aeußeren das unbemittelbare Dasein des Geistes
erblicken, in der Form die Seele selber, nicht das bloße Werkzeug eines, ich
weiß nicht welches Innern! Würde Euch die Form erst aufgehen, so würde
auch aus den Zügen Euerer Gestalten ein inneres Leben hervorsehen. Ließe
sich das der Künstler von der Geschichte zurufen, so würde er es nicht versuchen,
wie das nun in Köln zu sehen war. jungen gährenden Wein in krystallene
Schcialen zu gießen; denn das ist es, wenn man König Lear und Lady Mac¬
beth plastisch darzustellen unternimmt.
Indessen hat die Sculptur der Gegenwart noch ein anderes Feld als das
der idealen Darstellungen, und auf ihm, wenn es auch ein engbegrenztes ist.
vermag sie der Eigenthümlichkeit des modernen Geistes in gewissen Grenzen
einen plastischen Ausdruck zu geben. Die Geschichte saßt sich auch jetzt noch
in einzelnen großen Individuen zusammen, welche den allgemeinen Inhalt der
Zeit mit ihrer eigenen Natur zu einem Ganzen verschmelzen. In ihnen kann
durch den Kampf und Zufall des in heiße Gegensätze verwickelten Lebens die
körperliche Form bis zu einem gewissen Grade gebrochen sein, ohne deshalb
plastisch unbildsam zu werden; der Adel und Sieg des Geistes gibt der Gestalt
das Gepräge der von innen herausgebildeter Erscheinung, aus den individu¬
ellen Zügen blickt, in der vom Kampf wohl mitgenommenen, aber strammen,
straffen Persönlichkeit ruht eine ganze Welt. Die einfache von der Noth der
Wirklichkeit unberührte Idealität der Form ist verloren, aber die Gestalt ist in
der Bedingtheit ihres natürlichen Daseins zum idealen Ausdruck des Geistes
erhoben. Daß diese von der Arbeit der Geschichte gehobene und geläuterte In¬
dividualität zur plastischen Darstellung gar wohl sich eignet, das haben Rauch
und Rietschel begriffen, nachdem Dannecker mit seiner Büste Schiller's voran¬
gegangen war. Und eben deshalb, weil der historische Mensch, der nun in die
Kunst an die Stelle des friedlichen, kampflosen Ideals eintritt, an sich zeigen
soll, daß der innere Gehalt sein äußeres Dasein ohne Rast durchdrungen habe,
daß die spröde Wirklichkeit vom Hauche des Geistes ganz durchströmt sei: des¬
halb hat ihn die Plastik genau in der Bestimmtheit seiner gegenwärtigen Er¬
scheinung zu bilden, in seinem Costüm, in der Eigenthümlichkeit seiner Haltung
und Züge. Es' muß sich zeigen, daß die Vermittlung mit den Mächten seines
Zeitalters eine gewordene, daß auch das Aendere, Zufällige, Besondere in den
Kampf mit hineingezogen ist und nun auch am Siege Theil nimmt. Daher
Versuche man es nicht, der historischen Statue einen beliebigen Feder antiken
Gewandes anzuhängen, der ihr doch immer läßt, wie ein im letzten Augenblicke
erworbenes Putzstück aus der Trödelbude. Auch das ist vom Uebel, wenn in
einer besonderen Geberde die Bedeutung des Mannes schlagend sich aussprechen
soll; als ob sich ein Charakter in die Spitze eines theatralischen Momentes zu-
sammendrängen ließe! Es war ein Mißgriff, daß man im Goethe- und
Schiller-Denkmal zu Weimar die Freundschaft der Dichter und ihre gleiche Be¬
rechtigung zur Unsterblichkeit darstellen wollte. Was man durch die Beachtung
der bestimmten individuellen Erscheinung gutgemacht, das hat man durch den
unklaren Ausdruck eines so unplastischen Pathos wieder verdorben. Es ist zu
bedauern, daß Rietschel einer solchen Auffassung sich unterziehen mußte. Zu
der Knappheit der modernen Culturformen paßt überhaupt ein aufgeregtes,
schwungvoll heraussprudelndes Wesen nicht. Der Künstler hat den Hauch des
Geistes über die ganze Gestalt auszubreiten, diese muß fest in sich ruhend, als
die lebendige Stätte desselben erscheinen, gleichsam als seine unerschütterliche
WirMchtcit. Wohl steht hier nicht selten die gar zu ungünstige Kleidung dem
Bildner entgegen; nur um so mehr muß er, damit das Geringfügige und Zu¬
fällige zurücktrete, in einer ganz einfachen Haltung und Bewegung den Aus¬
druck der in ruhiger Gediegenheit in sich zusammengefaßten Persönlichkeit ge¬
ben und vornehmlich hat in deren Gesichtszügen ihr großes Thun und Leiden
sichtbar unsichtbar zu erscheinen. Aber auch dieses kleine Feld der Plastik, auf
dem die Gegenwart etwas Tüchtiges leisten könnte, scheint, nachdem Rauch und
Rietschel uns verlassen haben, auf eine weitere Ausbildung vorerst noch warten
zu müssen. Was sich Derartiges außer den Büsten und Skizzen jener Meister
auf der Ausstellung fand, war von geringer Bedeutung.
Aber ein anderes Verhältniß als die Sculptur nimmt die Malerei zum
Zeitalter ein. Für sie ist nicht umsonst der ganze weite Kreis der Natur und
Geschichte erschlossen, durch die Einkehr in die Tiefe der Dinge das Geheimniß
ihres Wesens aufgedeckt. Sie mag nun in der Weite der freigegebenen Welt
ungehindert schweifen, denn jede Erscheinung lebt und athmet im seelenvollen
Glanz des Lichtes und strahlt selber eine glühende Fülle des Lebens aus, seit
der menschliche Geist das blasse stille Jenseits verlassen und in der Wirklichkeit
als seinem wahren Reich sich eingebürgert hat. Vor der Fülle von Beziehun¬
gen und Verwickelungen, die nun erst recht sich aufthun, schrickt die Malerei
nicht zurück, denn sie sieht das Einzelne immer in dem Ganzen einer umgeben¬
den Welt, die ihr Leben voll und üppig selbst in den letzten Grashalm aus¬
streut. Und da im Ausdruck und im farbigen tiefleuchtenden Schein die Seele,
die innerliche Bewegung an das Tageslicht hinausschlägt, die geheime Tiefe
sichtbar widerzittert, so mag der Maler bisweilen auch in den verborgenen
Schacht hinabsteigen, das Gold hervorholen und in der Erscheinung als ähnungs-
vollen Grund des Lebens durchblicken lassen. Also Alles steht ihm offen, wo¬
hin er nur sein Auge richten mag. Die Natur, als die Heimath des Men¬
schen, in der er den Widerhall des eigenen Gemüths findet, die kleine, enge,
aber heimliche Welt des Hauses und alltäglichen Daseins, in der er nun erst
recht das stille Walten und Weben der im beschränkten Kreise ganz eingewöhnten
Seele sieht, vor Allem aber das weite Bereich der Vergangenheit und Geschichte,
die ihm nun ewig frisch, neu und lebendig ist, da er in ihr die Gegenwart des
Geistes entdeckt hat.
Dies die Hoffnungen, welche das Zeitalter der Malerei gibt: bei der Kehr¬
seite, den Schatten wollen wir, wie gesagt, uns diesesmal nicht aufhalten.
Auch die Kritik will hin und wieder des Lebens froh werden. Sie wird es
ohnedem auch bei dem besten Willen nur auf kurze Zeit; denn sie ist jetzt oben¬
auf und trabt neben der lcichtgeflügelten Kunst „ein widriger Geselle" plump,
schwerfällig, aber unermüdlich nebenher. Und es ist ihr eigenthümliches Ber-
hängniß, daß sie eben da, wo sie genügende Lebensluft und Nahrung findet, des
Lebens nicht froh werden kann. Das eben ist schon ein ziemlich dunkler Schat¬
ten, der auf die gegenwärtige Kunst fällt, daß sie vom Bewußtsein wie um¬
geben, bewacht, auf Schritt und Tritt begleitet ist. Und so will sich auch hier
von vornherein eine Befürchtung nicht unterdrücken lassen. Die übersinnliche
Welt ist gefallen, die wirkliche als das Reich des Geistes doppelt gewonnen.
Der Kunst liegt der Abweg nahe, nun überall die tiefere geistige Beziehung zu
suchen; denn auch sie will des Erwerbs gewiß sein, und die Welt als das
Eigenthum des Menschen näher als des Gedankens vor sich sehen. Es fehlt
ihr nur zu oft die einfache Freude an der Erscheinung, die Harmlosigkeit der
Auffassung, die im Gegenstände nichts sieht, als den ästhetischen Ausdruck sei¬
nes eignen Wesens, die ihre Stoffe nicht sucht, sondern findet, weil sie unmit¬
telbar mit der Phantasie den Inhalt entdeckt, den sie festgewachsen in sich ha¬
ben, nicht erst ihn herausnimmt, um ihn dann wieder zugespitzt hineinzutragen.
Die Malerei will gegenwärtig nur zu oft mehr geben, als ihres Amtes ist, und
eben deshalb gibt sie andererseits der Anschauung weniger, als sie sollte. Der
Rückschlag gegen diese Einseitigkeit bleibt nicht aus, und so geräth eine ganze
Richtung auf den entgegengesetzten Abweg; dieser wird die ganz äußerliche, zu¬
fällige Erscheinung unendlich werthvoll, sie hält die natürliche Wirklichkeit in
ihrem saftigen, farbigen Scheinen für ebenso berechtigt, als den Ausdruck eines
geistig gesteigerten Lebens. Sie will wohl Geschichte, menschliches Thun und
Leiden darstellen, aber die Malerei soll den Inhalt in die Umgebung der Außen¬
welt und in die Realität des particulären Daseins ganz hinausführen, in diese
wo möglich noch tiefer versenken, als er ursprünglich darin gefangen war.
Doch ehe wir zur historischen Kunst uns wenden, auf deren Gebiete diese
verschiedenen Richtungen vorzugsweise spielen, ist Einiges über die neueste re-
ligiöse Malerei zu sagen. Das christliche Mythenbild steht nun einmal vermöge
seiner geschichtlichen Vergangenheit oben an. und daß es in unserem Jahrhun¬
dert diese Stelle von Neuem beansprucht hat, haben wir den Nazarenern zu
verdanken. Indessen ist auch diese Zeit vorübergegangen, der Neubelebungs-
proceß hat sich als ein künstlicher erwiesen. Es Hai sich gezeigt, daß die ent¬
leerte Phantasie des Zeitalters sich irrte, als sie einen belebenden Inhalt in
dem kirchlichen Dogma, eine neue Anregung in der wieder hervorgesuchten ka¬
tholischen Empfindung zu finden meinte. Die Kunst hat es gebüßt, daß sie
mit den Doctrinären gemeinschaftliche Sache gemacht. Da sie sich von diesen den
Weg zeigen ließ, —'„laß Malerei," so läßt sich A. W. Schlegel einmal ver¬
nehmen, „statt unter den Gedichten der Sinnenwelt sich spielend zu ergehen, die
schönsten Wunder geistlicher Geschichten von Neuem unter deiner Hand gesche¬
hen" — konnte es freilich nicht ausbleiben, daß sie eurerseits bei der Heuchelei
des Gefühls, andrerseits bei der frostigen Leere des Symbols anlangte. Glück¬
licherweise hat eine spätere Periode der ästhetischen Kritik, was die frühere ver¬
schuldete, wieder gut gemacht; sie hat, wie auch hier und da noch ein stiller
Verehrer dagegen eifern mag. mit dem Nazarenerthume gründlich aufgeräumt.
Ein Beweis, daß sie so unprvductiv nicht ist, als sie gewöhnlich gilt; denn
auch das ist ein positives Ergebniß, wenn die Kunst und das Zeitalter über
eine verkehrte Richtung aufgeklärt und dadurch in eine andere gelenkt werden.
Daß es doch auch die Gegenwart deshalb an religiösen Bildern nicht feh¬
len laßt, versteht sich von selbst. Der bildnerische Schmuck ist nun einmal
kirchliches Bedürfniß, und es gibt noch immer Künstler genug, welche die Ar¬
beit ihres Lebens in derartigen Bestellungen finden. Aber wir sehen in ihnen
längst nicht mehr den Gipfel der Kunst, noch können sie sich selber für die
Anführer derselben ausgeben. Ihre Madonnen, Christus und Heiligen sind
nichts als ausgehöhlte Schemen, an denen der Beschauer kalt und theilnahm¬
los vorübergeht. Denn auch über den Rest von Empfindung, den die Naza-
rener noch wie eine künstliche Hitze in sich zu erzeugen vermochten, ist der
breite Strom des modernen Bewußtseins nun verwischend weggegangen. Die
Begeisterung des Künstlers, die Lebensfähigkeit der religiösen Kunst besteht eben,
wie Schleiermacher es ganz richtig bezeichnet, „in der unwillkürlichen Einwir¬
kung des Gescnnmtlcbens auf sie," diese fehlt nun einmal und läßt sich durch
die weichherzige Frömmigkeit des einen oder andern Individuums am wenigsten
ersetzen. Und da sich der Maler im Gegensatze zu einer weltlichen Zeit weiß,
will er seinem christlichen Stoffe erst recht den Ausdruck unendlicher Innerlich,
keit geben. Nur um'so mehr sciant aus dem anspruchsvollen Bilde die innere
Armuth und Lüge. Wohl ist die deutsche Kunst nicht, wie die französische, auf
den Abweg gerathen, die heiligen Stoffe durch die realistische Treue des Eostüms
und Locals der modernen Anschauungsweise näher zu rücken und so gleichsam
in das geschichtliche Diesseits einzureihen, aber sie versteht es ebenso wenig, die
religiösen Vorgängers allgemein menschliche Motive zu behandeln. Da sie
nun merkt, daß ihrer Empfindung das Gemüth des Beschauers nicht entgegen¬
kommt, sucht sie ihn einerseits durch eine seine, zierliche Ausführung zu gewin¬
nen, durch eine Glätte und Eleganz der Behandlung, die als ein Abschein des
überschwänglichen Gefühles die Wärme und Kraft des wirklichen Lebens ängst¬
lich vermeidet. So sind die heilige Familie von C. Müller (Düsseldorf), die
Madonna von E. Steinbrück (Berlin) saubere, glänzende Porzellanmalereien.
Andererseits sucht Wohl der Künstler, indem er sich an italienische Vorbilder
anlehnt, seinen Gestalten Ansehen und Würde, eine tüchtige Erscheinung zu ge¬
ben, so F. Itterbach «Düsseldorf) in seinem Aitarlnlde; aber da es ihm darauf
ankommt, die vermeinte Tiefe einer religiösen Empfindung in ihnen wiederklin-
gen zu lassen, so hängt die kräftigere Bildung der Figuren wie ein fremdes
Gewand um diese hohle Sentimentalität. Oder endlich der Maler gibt, wie
in seinen neuesten Bildern F. Schubert (Berlin), den Ausdruck so ziemlich dran
und sucht seinen Stoff durch eine farbenwärmere Darstellung von guten Act¬
figuren interessant zu machen. Die bequemste Art sich aus der Kollision des
Gefühls mit der modernen Weiblichkeit zu ziehen, aber auch die sicherste, die
Eharatterlosigkeit der heutigen religiösen Kunst an den Tag zu legen.
Unzweifelhaft hat auf dem Gebiete der Heiligengeschichte und des alten
Testaments der Künstler leichteres Spiel. Hier braucht er sich nicht in die
Anschauung zurückzuversetzen, welche den idealen Gehalt des wirklichen Lebens
in den Gestalten einer jenseitigen Welt fand; wenigstens so lange nicht, als der
Heilige in dies übersinnliche Reich noch nicht entrückt ist, der biblische Stoff
nicht mit demselben durch die Transcendenz des Wunders in directe Berührung
kommt. Der Maler hat Menschen und Dinge darzustellen, die schon mit festem
Fuß auf den Boden der Wirklichkeit und Geschichte treten; und wenn sie auch
mit dem andern noch in der Mythe stehen, so ist das für die freie Bewegung
der bildenden Phantasie nur um so günstiger. Allein unsere Künstler halten
es für unerläßlich, aus ihren Heiligen die unendliche Bedeutung eines gottseliger
Lebens leuchten zu lassen, den frommen Mann von der verderblichen Fülle und
Bewegtheit der sinnlichen Welt möglichst fern zu halten und aus einer religiö¬
sen Verzückung in die andere zu versenken. Auch mit dem Ausdruck der
Frömmigkeit als Gemüthszustandes einer bestimmten Person hat es sein Mi߬
liches, denn derartige Zustände haben sich vor der Tageshelle des Jahrhunderts
in dunkle Winkel geflüchtet und lassen 'sich selten mehr blicken. Der Maler
muß also die Empfindung seines eigenen Herzens zum Vorbild nehmen, und
so kommt auch in das Heiligenbild das geschraubte Gefühl, das dem christlichen
eigen ist. Und mit ihm die charakterlose Glätte, die form- und farblose Ele¬
ganz, in welcher sich die Ausläufer des Nazarenerthums nun hervorthun. In
dieser Weise hat H. Mücke (Düsseldorf) das Leben des heil. Meinrad von Zol¬
lern in einem Cyklus von Gemälden dargestellt; es war ihm hier um so mehr
Gelegenheit gegeben, kräftige, individuelle, lebensfrische Menschen zu bilden,
als er größtentheils wirkliche Vorgänge zu schildern und in seinen Figuren
Portraits lebender Personen anzubringen hatte. Der süße und mattherzige
Ausdruck, den alle Köpfe haben, die gezierte Bewegung der Körper, die manie-
rirte Behandlung: das Alles zeigt, w>e durch die Tradition der neuen christ¬
lichen Kunst die Anschauungsweise und die Hand des Malers auch sür solche
Stoffe verdorben sind. Bei einem „Martyrium des heil. Stephanus" von
I. Hübner (Dresden) merkt man wohl, daß es vornehmlich auf eine edle Kom¬
position und Bildung der Körper im Sinne der großen italienischen Meister
abgesehen ist; aber hier fehlt es wieder zu sehr an dem tieferen Verständniß
der Form und der gründlichen künstlerischen Uebung, als daß uns die Behand¬
lung für den abgestandenen Stoff entschädigen könnte.
Das alteTestament bietet auch jetzt noch dem Künstler dankbare Stosse; einNück-
blick zeigt, daß es nicht die schlechtesten Werte send, die unser Jahrhundert aus diesem
Gebiete hervorgebracht hat. Die Einkleidung der wirklichen Geschichte in ein
sagenhaftes, phantasievolles Gewand, die große und doch durchweg bildliche
Borstellungsweise des alten jüdischen Stammes, endlich das vertraute Verhält¬
niß des Beschauers zum Gegenstände: das Alles kommt der malerischen Dar¬
stellung zu Gute. Also deshalb ist diese Welt dem Künstler günstig, nicht, weil
sie der ahnungsvolle Schoos des Christenthums ist und auf dieses hinübcrweist.
Daher find uns die Abraham's/ die Propheten, die Judith, die Samson und
Delila noch immer willkommen, wenn nur der Maler diese Gestalten mit tüch¬
tigem Formen- und Farbensinn zum Leben herauszubilden versteht. Und zwar
wird hier der Beschauer weniger Anspruch auf derb-realistische Wahrheit machen,
als auf einen gewissen idealen Zug und Schwung, der ihn in das reine Be¬
reich der Kunst erhebt, dem aber freilich die Wärme und Kraft des bestimmten
individuellen Daseins nicht fehlen dürfen. Indessen hat die neueste Zeit wenig
Derartiges entstehen sehen. In Köln war die Gattung überhaupt schwach ver¬
treten. Cin Bild von C. Naht (Wien), das Samson und Delila in lebendiger
Anordnung und nicht unedler Bewegung mit der glühenden Tiefe der Colorits,
die dem Meister eigen ist, darstellt, datirt aus früheren Jahren. Eine Judith,
die dem Bolle das Haupt des Holofernes zeigt, von Heckel (München) war zu
mittelmäßig, um beachtet zu werden. Cin Hiob von Muhr zog den Gegenstand,
dem eine allgemein-menschliche Größe nicht fehlt, durch eine anspruchsvoll
bunte Behandlung und eine gesuchte Charakteristik in's Gewöhnliche herab.
I. Niessen (jetzt in Weimar) hat sich in der jüngsten Zeit durch verschiedene
alttestamentarische Gemälde einen Namen gemacht; doch war sein Bild in Köln
zu sichtbar auf schlagende Wirkung angelegt, der Borgang durch den kolossalen
Maßstab der Engel und die eigenthümliche Beleuchtung zu sehr in's Abenteuer¬
liche gezogen, als daß man an der künstlerischen Behandlung hätte seine Freude
haben können. Man rühmt sonst dem Meister nach, daß er in der Farbe eine
gewisse Verwandtschaft mit den Venetianern zeige; aber auch dies konnte hier
nicht zur Geltung kommen, wo es lediglich auf einen geheimnißvollen poetischen
Eindruck abgesehen schien.
Man sieht, daß auf dem ganzen Gebiete der religiösen Malerei die jüngste
Zeit ein Kunstwerk im wahren Sinne des Wortes nicht aufzuweisen hat. Aller¬
dings liegen gerade für diesen Zweig der Kunst die Verhältnisse am ungün¬
stigsten; aber auch hier hätte sich etwas Tüchtiges leisten lassen, wenn der Ma¬
ier statt auf den gesteigerten Ausdruck religiöser Empfindung auszugehen, vor
Allem die künstlerische Vollendung im Auge gehabt hätte, wenn ihm der christ¬
liche Stoff nichts weiter gewesen wäre, als ein zur idealen Darstellung vorzugs¬
weise geeignetes Motiv. Könnte er sich dazu entschließen, die doch gemachte
Innigkeit daran zu geben, dagegen bei den vollendeten Italienern eine gründ¬
liche Schule durchzumachen, um seine Anschauung an der ihrigen groß zu ziehen,
so würde er eben so gut, wie dies in der französischen Malerei Ingres und
Flandrin vermocht haben, ein Wert liefern, dem der künstlerische Neiz und
Werth und eben deshalb auch eine gewisse Lebensfülle nicht fehlten. Christus
und die Madonnen sind nun einmal für den Maler nur noch Gegenstande der
künstlerischen Vorstellung; was natürlicher, als daß er sich an die Vorbilder hält,
welche dieser einen ewig gültigen, allgemein menschlichen Ausdruck gegeben
haben? Aber das war es eben, was die Nazarener ängstlich vermieden: sie
wollten nicht die künstlerisch freie Darstellung eines idealen Phantasiebildes,
sondern die gebundene, schließlich doch unzulängliche Versinnlichung eines un¬
klaren Gemüthszustandes. Ihr Wahlspruch war: selig sind die Ungebildeten,
und daher der Anschluß an die vorraphaelische Periode, das bewußte Zurück¬
gehen auf eine naive, noch im Gährungsprvceß des Werdens befangene Kunst-
epoche. Unter dieser trüben Voraussetzung hat die jetzige religiöse Kunst schwer
zu leiden: die künstlich erzeugte Begeisterung ist längst verflogen, und es ist
nichts geblieben als ein unklares mühevolles Ringen, eine im Grunde unwahre
Empfindung zu verbildlichen, da es doch an Vermögen sowohl als an den
Mittel» der Gestaltung fehlt.
Hier zeigt sich schon die Achillesferse der gesammten modernen deutschen
Kunst: der Mangel einer tüchtigen Schule, einer gründlichen Kunstbildung.
Verfolgt man den Gang der deutschen Malerei seit dem Ende des vorigen
Jahrhunderts, so findet man wohl einzelne Mittelpunkte der künstlerischen Thä¬
tigkeit, wie München, Düsseldorf. Berlin, die auch eine Zeitlang nach bestimm¬
ten Richtungen eigenthümlich sich ausprägten, aber eigentliche Schulen — das
sind auch die Akademien nicht, an denen freilich kein Mangel ist — nicht heißen
sonnen. Es fehlte dazu vor Allem an Einem: an den schulebildenden Meistern,
die in allen äußeren Mitteln der Darstellung eine tüchtige Lehrzeit durchge¬
macht und sieh die immer giltigen Ergebnisse vergangener Kunstperioden, soweit
dies durch Studium und Arbeit möglich ist, angeeignet haben. Schon die Be¬
gründer des neuen Zeitalters, Karstens, Wächter, Schick, begnügten sich mit
einem allgemeinen Anschluß an die Antike; auch der Letztere, der wohl in Da¬
vids Atelier gebildet war, aber grundsätzlich Von dessen Anschauungsweise sich
zu befreien strebte. Schon sie blieben ohne Schüler, ohne Nachfolger. Dann
erhoben sich gegen den Zwang und die leere Regel der Akademischen die jungen
Talente, die Man mit dem Namen der Nazarener bezeichnet, und zu denen von
Beginne seiner Laufbahn auch Cornelius zählt. Es kam diesen, wie wir ge¬
sehen, darauf ein, die Kunst neu zu beseelen, indem sie eine tiefere Empfindung,
einen geistigen Gehalt in sie zu bringen suchten. Nicht die Form also, nicht
die Erscheinung war die Hauptsache, sondern der Ausdruck des innern Lebens;
es schien ihnen, wie wenn die künstlerisch freie Darstellung und Vollendung
dieses nicht zu seinein Recht kommen lasse. Die Lehre war bequem und fand
um so raschere Verbreitung, als der deutsche Geist mit einem unendlichen Reich-
thume von neuen Gedanken und Empfindungen sich geschwängert fühlte, den er
in einer thatenloser und von dem Gipfel einer großen poetischen Epoche wieder
herabsteigenden Zeit nirgends besser niederzulegen wußte, als in der bildenden
Kunst. Man lernte von den NazarenerN sich äußerlich an eine bestimmte ge¬
schäftliche Kunstform anschließen, die zur Darstellung eines gewissen Ideenkreises
vornehmlich geeignet schien, man hielt es für überflüssig, sich in den äußern
Bedingungen streng nach den größten Vorbildern zu Schulen und glaubte nur
UM so mehr die Selbständigkeit der deutschen Malerei zu wahren und zu för¬
dern. Wie wenn nicht dies das Gesetz aller Bildung und Entwickelung wäre^
daß der Spätere die Arbeit des Vorgängers als Mittel seines Schaffens sich
aneigne, wie wenn nicht Phidias und Raphael die Früchte der vorangegange¬
nen Zeit als Keime in sich ausgenommen hätten! Dagegen ist der culturgeschicht¬
liche Unterschied der Perioden kein Einwand, denn gerade die reife Spitze der
umgelaufenen Epoche muß der neubcginnenden in den Schooß fallen, wenn
neues kräftiges Leben entstehen soll.
Wie nun die Kunstbildung der Meister lückenhaft abgerissen, von der Ver¬
gangenheit nur eben angestreift war, so war auch die Entstehung der Kunst¬
stätten von München, Düsseldorf und Berlin rein zufällig, ihre Entwickelung
ohne innern Zusammenhang, von keiner festen gemeinsamen Kunstweise getragen.
Es ist'hier nicht der Ort näher auszuführen, wie man in München versuchte,
den Reichthum der in ihrem ganzen Umfange ausgeschlossenen Welt in monu¬
mentalen Sinne zu gestalten, wie dies die wirklich groß und schöpferisch bil¬
dende Phantasie von Cornelius zum Theil ausführte, wie Düsseldorf mit Vor-
liebe gewisse Gemüthsstimmungen und poetische Motive in ein mehr malerisches
Gewand zu kleiden strebte, wie endlich in Berlin Schinkel auf eine freie Nach¬
bildung der Antike, Rauch auf eine künstlerische Durchdringung des wirklichen
Lebens ausging und das jüngere Geschlecht, von beiden Richtungen angeregt,
zwischen beiden schwankend, von allen Seiten fremde Elemente in sich aufnahm
und diese zu verarbeiten suchte, Nirgends aber bildete sich, auch so lange die
Bestrebungen verwandt waren, eine eigentliche Schule. Natürlich, es fehlt ja
an dem, was allein der Meister den Jüngern überliefern kann: die so oder so
bestimmte Anschauung der Erscheinung und die darnach festgesetzte Handhabung
der künstlerischen Mittel. Was die Münchener Maler zu ihrer Blüthezeit, Cor¬
nelius an der Spitze, auszeichnete, war eine reiche und lebendige Phantasie,
die wohl fähig war, die Norstellungskreise der alten und neuen Welt zu ver-
sinnlichen,; aber eine Phantasie''läßt sich nicht überliefern. Daß die sogenannten
Schüler sich dennoch diese anzueignen suchten, während sie in den Mitteln ebenso
unzulänglich blieben, hat die Kunst bitter empfinden müssen. In Düsseldorf
trieben die verwandten Meister ihr Wesen ruhig und gemüthlich nebeneinander;
gewisse Stimmungen lagen in der Luft und prägten sich in jedem wieder auf
etwas verschiedene Weise aus, ohne daß auch hier in der Darstellung nach einem
festen System der Eine vom Andern gelernt hätte. Auch als Lessing zur ge¬
schichtlichen Malerei sich wandte, wurde die Sache nicht anders; denn in ihm
wurde ja die Abkehr von der alten Kunst geradezu zum Grundsatz und damit
erklärte er Allem voran, — daß der Künstler nur auf eigene Faust Künstler
werden und sein müsse. In Berlin war schon deshalb, weil man allen mög¬
lichen Einflüssen die Thür öffnete, an eine bestimmte Schule nicht zu denken.
Und wie an den einzelnen Kunststätten von einem stetigen Fortgang, einer
geschlossenen Entwickelung der Malerei nicht die Rede sein konnte: so fehlte es
auch zwischen den verschiedenen Gruppen an einer eingreifenden Wechselwirkung,
die allenfalls dem Mangel der Schule bis zu einem gewissen Grade hätte ab¬
helfen können, durch gegenseitiges Ergänzen die Kunst in gerader Linie vor¬
wärts getrieben hätte. Damit fehlt der feste geschichtliche Fortschritt, und die
Malerei hat sicherlich durch die nationale Eigenthümlichkeit, die Individualität
abgetrennt von Ganzen auszubilden, mehr verloren als gewonnen. Ein Blick
auf die Kunstentfaltung des centralisirten Frankreichs liefert dazu unzweifelhafte
Belege. In einem von Schöpfungskraft überquellenden Zeitalter mag durch
eine Entwickelung in abgesonderten Gruppen die Fülle und Mannigfaltigkeit
des Geistes leichter zum selbständigen Ausdruck gelangen; aber eine Zeit mit
nur mittelmäßigem productiven Bermögen muß ihre Kräfte zusammenhalten, auf
einen Punkt werfen und zusammen vorrücken lassen, wenn sie nicht Gefahr
laufen will, in der Zersplitterung auch dies Wenige zu verlieren.
Neuerdings hat man neben den größern Kunstschulen kleinere in Dresden,
dann in Karlsruhe und Weimar nicht ohne Mühe gebildet, auch Wien sucht sich
in selbständiger Thätigkeit hervorzuthun. Ob die Neueren zum Vortheile der
Kunst von einander lernen können, so lange die zu Lehrern berufenen Meister
nicht selber bei den großen Vorbildern eine gründliche Schule durchgemacht
haben, steht dahin. ^ Einzelne, die wohl fühlen, wo es der deutschen Kunst fehlt,
haben in französischen Schulen sich zu erwerben gesucht, was die deutschen
ihnen nicht geben konnten; aber nur zu oft haben sie dort nichts gewonnen,
als eine gewisse Fertigkeit der BeHandlungsweise, welche durch die glänzende
frappante Wahrheit der äußeren Erscheinung das Auge bestechen will.
Nur halb vorbereitet, halb geübt, halb gebildet ging die deutsche Kunst an
die größten und schwersten Aufgaben. Alle Stoffe der verflossenen Zeitalter
macht sie zu den ihrigen, alle früheren Anschauungsweisen will sie als die
höhere Einheit in sich vereinigen, endlich noch hat sie es übernommen, den
schweren Inhalt des Jahrhunderts, der die ganze vergangene Bildung in sich
hereingezogen hat, zu verkörpern. So großer Zwecke voll, hat sie ein wehend'
liebes Element oft zu gering geachtet: die Kunst als vollendete Erscheinung,
als sichtbare Darstellung des Lebens. So kommt es, daß sie einerseits auf
ihren Reichthum und ihre Selbständigkeit pochend, mit unzulänglichen Formen
und Gestalten harmlos sich begnügt, daß sie andrerseits in unzufriedenen Drang
an fremde Kunstweisen sich anschließt und diese aus deutschen Boden zu ver¬
pflanzen sucht. Der Jünger aber steht rathlos und weiß nicht, wohin er sich
wenden soll. —
Im Jahre 1656 kam eine fromme Nonne des strengen Ordens vom Berge
Kennet aus Gratz in das Kloster der Karmeliterinnen bei Se. Joseph in Prag,
sie nannte sich Maria Electa a Jesu. Ihr eigentlicher Name war Katharina
de Tramozzvli. ihr Geburtsort Temi. das Geburtsjahr 1605. Sie stammte
von angesehenen Eltern und hatte eine sorgfältige Erziehung genossen. Maria
Electa ward Oberin im Prager Josephskloster, wo sie am 11. Januar 1663 im
Geruch der Heiligkeit starbe Die Nonnen begruben sie in der Klosterkirche.
Nach drei Jahren ließ die Oberin Eäcilia Theresia die Gruft ihrer Vorgänge¬
rin öffnen nild fand deren Leiche unverwest. Maria Electa's Leichnam wurde
nun, Nach den eigenen protocollarischen Aussagen der Nonnen, verschiedentlich
gewaschen und getrocknet, bis der Karmeiiterordensgeneral P. Philipp von der
si, Dreifaltigkeit (noch im Jahre 1666) nach Prag kam. Diesem gegenüber
prabltcn die Nonnen mit ihrer getrockneten Oberin und das „Wunder" wurde
dem Volke verkündigt. Die Kunde davon bewog Kaiser Leopold den Ersten
eine Untersuchung anzuordnen, diese nahmen der alte Erzbischof von Prag,
Cardinal Ernst von Harrach und der frvmmgläubige Oberstburggraf Bernhard
Graf MartiNic vor und ließen die Leiche durch eine ärztliche Commission be¬
sichtigen, welche nicht ermangelte. Alles höchst wunderbar zu finden.*)
Die Nonnen wollten den unversehrten Leichnam ihrer Oberin mit einiger
Ostentation zur Schau ausstellen. Was sich dabei ereignet haben soll, erzählt
ein vom 7. September 1696 datirter Bericht der ehemaligen Oberin Cäcilia
Theresia- „Nachdem wir sie (die Leiche der Maria Electa) aus der Truhe mit
Gewalt gezogen, haben wir sie auf ein Brett gelegt zum Waschen; weil es aber
gar ungelegen, wurde beschlossen, sie in einen Sessel zu setzen. Indessen gab
man das Zeichen zum Essen, da mußte die Mutter Priorin und ich in's Refec-
torium gehen, ließen aber dabei die Schwester Josepha Mari^und die Schwester
Theresia Maria. Diese brachten einen Sessel und wollten versuchen, ob sie es
könnten sitzend machen, war aber keine Möglichkeit, indem alle Glieder also er¬
starrt, daß sie glaubten, eher die Beine zu brechen als die Knie zu biegen. Es
kam also die Schwester Theresia Maria in's Refectorium und sagte der Mutter
Priorin (war die Mutter Euphrasia), daß keine Möglichkeit wäre, ihr ein
Glied zu bewegen, weniger sie sitzen zu machen. Die Priorin gab ihr zur
Antwort: „Euer Lieb' gehen hin und melden der gottseliger Mutter, ich laß
ihr sagen, sie sei im Leben allezeit gehorsam gewesen, sie solle auch
nach dem Tod gehorsamen und sich niedersetzen." Die Schwester geht hin
(die anderen zwei stellten den Leib vor den Sessel), kniet vor der zott¬
eligem Mutter nieder, und sobald sie diese Post ausgerichtet, biegt die Todte
ihre Knie, setzt sich nieder, und von der Zeit an blieben die Glieder ganz be¬
weglich. Bei dem Sitzen war erst recht auszunehmen, wie unförmlich es stund,
daß der Kopf wegen abgebrochenen Genicks auf die Brust geneigt nach der Seite
hängend bliebe, so ist die Schwester Theresia Maria wiederum in's Refectorium
kommen und hat der Mutter Priorin erzählet, daß die gottselige Mutter sich
zwar gesetzt, aber gar übel aussehe wegen dem hängenden Kopf und wie, daß
--mis,->i^ ,^>.ü , 'kjc-i-.'.''!^ ) -."''4 ..-n."^ et'jSttu^M '-^!i>' l-I'^M. -.^
sie zwar allen Fleiß angewendet hätten, aber den Kopf unmöglich können be¬
wegen, obschon nunmehr Hände und Füße ganz beweglich waren.' Die Prio¬
rin gab abermals zur Antwort: „Euer Lieb' gehen hin und sagen der gottseliger
Mutter: weil sie aus Gehorsam sich gesetzet. so wolle sie auch zu unserem Trost
das Haupt aufheben. Die Schwester lehret eilends zurück, leget der gottsesi-gen
Mutter die Hand unter das Haupt und rjchtet kittend die Post der Mutter
Priorin aus. und alsbald wurde das Haupt also beweglich, daß .es gleichsam
von selbst sich aufgerichtet, und also ist es blos an Haut und Fleisch, weil die
Beine M abgebrochenen Genicks wegen rückwärts hinausstehen, aufrecht geblie¬
ben. --Nach vollendetem Refectorium .s-ein wir gleich hingegangen und ha¬
ben Alles so befunden, wie es die Mutter Priorin und mir .die drei Schwestern
Mit Freuden und Verwunderung erzählet.^)
Das vorstehende Zeugniß ist in der „Kurzen Lebensbeschreibung der gott¬
seliger Mutter Maria Eleclä." welche 1749 in der erzbischöflichen Buchdruckerei
in Prag erschien und seither wieder aufgelegt worden ist.. .allen Ernstes gedruckt
zu lesen. In der Vorrede verwahrt sich der Verfasser im Sinne Päpstlicher
Vcrvrd>in>rgcn, daß er keineswegs der Meinung sei. die selige Electa zu einer
wunderthätigen Heiligen zu stempeln. Diese „kurze Lebensbeschreibung" mit
.allen Wundergeschichten und jenem merkwürdigen Schreiben der Oberin Ecicilia
Theresia wird heute noch verkauft. Sie enthält eine lange Reihe .angeblicher
Heilungen durch Electa's Beistand und allerlei Wunderkram, mit welchem .wir
die Leser nicht langweilen wollen. Die „selige Electa" hat sich jedoch auch nut
Kleinigkeiten abgegeben, so lesen wir z. B. in jener Lebensbeschreibung von
Wort zu Wort: „Eine Laienschwester, Magdalena vom Kreuz genannt,-hatte
vergessen, die Erbsen zum Feuer zu sehen, b>s die letzte Viertelstunde vor dem
Essen; rief auch die gottselige Mittler um Hilf an, setzte mit großem Verdauen
die Erbsen zum Feuer und sie sind in dieser so kurzen Zelt nach Wunsch ge¬
kocht worden!" — Welch ein Gewicht ^die Nonnen auf dieses Wunder im prak¬
tischen Eebicte der Kochkunst legten, zeigt der Nachsatz: „Ist auch viel Ursach
gewesen zur Bestätigung der Heiligkeit unserer gottseliger Mutter und unseres
gefaßten Gedankens, sie auszugraben und unverwest zu finden."
Als eine besondere Merkwürdigkeit rühmen es die Klosterschriften, daß die
braune Mutter Electa eigenthümlich und sehr angenehm rieche, und zwar: „Zu¬
weilen ist es ein Geruch wie von Lilien, zuweilen wie von Nosen. zuweilen
und zu gleicher Zeit empfindet Einer diesen und einen andern Blumengeruch,
zuweilen aber einen unterschiedlichen Geruch, wo bemerkt ist worden, daß dieser
Geruch sich verliere, wenn man ihn will deutlich aufnehmen und unterscheiden."
— Im vorigen Jahrhundert hielt man abgerissene Stücke von der Kleidung
und die sogenannten „Oelflecklein der seligen Electa" sür heilkräftig, sie waren
ein gangbarer Artikel und wurden stark nach Wien und Gratz versendet. Die
„Oelflecklein" sind kleine Wolllappen, getränkt mit einer schmulug gelben, fettigen
Flüssigkeit, welche die Mutter Electa „ausschwitzen" soll.
Die Freigeisrerei Kaiser Josephs des Zweiten respectirte die selige Electa
sammt ihren Oelflecklein sehr wenig. Der Kaiser bestimmte das Kloster Se. Jo¬
seph zur Aufhebung, die Karmeliterinnen mußten dasselbe dem Orden der englischen
Fräulein, die sich durch Jugenderziehung nützlich machten, ohne Säumen ein¬
räumen und konnten sich noch glücklich schätzen, daß man ihnen erlaubte, bis
auf weitere Befehle das soeben aufgehobene Kloster der Barnabitermönche bei
Se. Benedict auf dem Hradschin zu beziehen. Bei ihrer Uebersiedelung ward
ihnen nicht verwehrt, ihre mumificirte Exoberin Electa mitzunehmen. Sie stellten
dieselbe an ihrem neuen Bestimmungsort rechts vom Hochaltar der Benedicts-
lirche in einem düsteren Gewölbe aus. Anfangs war beschlossen, die Karmeli-
icrinnen dürfen keine neuen Novizen mehr aufnehmen und sollen bis zu ihrem
Aussterben der Se. Benedict bleiben. - Unter Kaiser Franz dem Ersten wurde
denselben jedoch wieder erlaubt, sich von Zeit zu Zeit neu zu recrutiren, und so
hat sich denn dieser nur Andachtsübungen und Selbstkasteiungen gewidmete Orden
in Prag ins auf unsere Tage erhalten. Die Nonnen desselben tragen grobe
braune Kulten und schwarze Schleier und sollen barfuß gehen. Das Boll
kennt sie nur unter dem unrichtigen Namen „Barnabiterinnen" und weiß merk¬
würdige Dinge von der Strenge ihrer Klosterregel zu erzählen. Die Nonnen
bei Se. Benedict essen niemals Fleisch, sie leben nur von Fischen, Gemüsen
und Mehlspeisen, ihr Fastengebot ist so streng, daß sie sich statt der Eier und
der Miller des Oels bedienen müssen. Die Elausur ist eng. die Karmeliterin
darf nicht einmal ihre Ellern empfangen. Bei aller Strenge des Ordens soll
es vor mehreren Jahren denn doch einer Bewohnerin dieses Klosters gelungen
se>n, zu'entfliehen, indem sie sich nicht ohne Lebensgefahr von ihrem Geliebten
in der Maste eines Schornsteinfegers durch den Schornstein entführen ließ.
Man erzählt die Geschichte mit verschiedenen romantischen Details, die wir je¬
doch nicht verbürgen wollen. Die Entführte war angeblich die Tochter eines
rü Oestreich überaus mächtigen Kavaliers und wurde heimlich in das Kloster
Se. Benedict gebracht, weil sie einen Lieveshcmdel mit einem bürgerlichen Lieut¬
enant hatte und nicht von ihm lassen wollte. Der Offizier entwarf rasch seinen
Plan, lernte unter fremdem Namen eiligst das Schornsteinfegerhandwert und
vollbrachte mit fast übermenschlicher Anstrengung den kühnen Entführungsplan.
Von den Entflohenen will man wissen, sie seien glücklich nach Amerika entkom¬
men und habsn von dort des stolzen Cavaliers Verzeihung sammt klingender Mit¬
gift erwirkt, aber nur unter der Bedingung einer ewigen Verborgenheit und
Verschwiegenheit, damit Niemand von dem bürgerlichen Reis auf dem hohen
Stammbaum erfahre.
Seit die selige Electa bei Se. Benedict auf dem Hradschin filzt, vermin¬
derte sich die einst große Zahl ihrer Besucher gar sehr. Der weite Weg auf
dem Hradschin ist manchem Andächtigen und manchem Neugierigen zu weit.
Wenn man die Mumie Electa's sehen will, trete man an ein vergittertes, mit grü¬
nen Vorhängen verhängtes Fenster, rechts vom Hochaltar der Benedictskirche,
und ziehe an der hier befindlichen Klingel. Ein Schlurren von Sandalen be¬
lehrt uns, daß sich die „Wärterin der seligen Electa" nahe. Wärterin ist der
althergebrachte Kunstausdruck für jede Nonne, deren Amt es ist, bei der seligen
Electa den Dienst zu thun. Auf die leise Frage, was man wünsche? und die
Antwort „die selige Electa zu sehen", rauscht der grüne Vorhang auf und man
erblickt die dürre, braune Mumie einer Greisin in einem Lehnstuhl sitzen, sie ist
mit der Kutte einer Karmeliterin bekleidet und trägt auf dem Haupt einen
Blumenkranz. Das Halbdunkel, welches im Gemach herrscht, läßt uns eben
noch zur Noth die scharfen Züge der Mumie erkennen. Die dienstthuende
Nonne, dicht verschleiert, recitirt monoton und mit leiser, flüsternder Stimme
einige Daten über die „gottselige Mutter Electa", von welchen wir lange nicht
die Hälfte verstehen. Zum Schlüsse ihrer Erzählung spricht die Nonne etwas
lauter: „Die gottselige Mutter wird einen Segen ertheilen!" und huscht hin¬
ter die Mumie, welche nun die dürre Rechte segnend erhebt. Der Vorhang
rauscht zu, und aus dem Gemach Electa's hört man entweder das Fortschlurren
von Sandalen oder ein leises, eintöniges Gebet. Ob die selige Electa noch
jetzt in diesen ungläubigen Zeiten heilkräftig Oel schwitze, vermochten wir nicht
zu erfahren, ja wir hatten nicht einmal den Muth, uns bei der Kirchenwäsche¬
rin, die in derlei Dingen unstreitig Bescheid weiß, zu erkundigen, ob das Klo¬
ster vielleicht noch einigen alten Vorrath von Oelflecklcin auf dem Lager habe.
Die Stunden, in welchen die „Mutter Electa" bei Se. Benedict gezeigt
wird, finden sich in keinem Fremdenführer, doch erfuhren wir aus eigener Ueber¬
zeugung, daß dieselbe Vormittags in der Regel leichter sichtbar sei als nach
Tische.
Kein Fremder sollte Prag verlassen, ohne den treuen Paladin der hundert-
thürmigen Moldaustadt besucht zu haben, den'grauen Wysehrad. Einst „des Lan¬
des Sonne", der vielbesungene „goldene Sitz" der fürstlichen Seherin Libussa, dann
geschmückt mit einem glanzvollen Königsschlosse und dreizehn .»schönen, köstlichen"
Kirchen, spiegelt er jetzt traurig sein beinahe kahles Haupt in den Silberfluthen der
Moldau, die zu seinen Füßen rauscht. Von all der alten gepriesenen Herrlichkeit ist
nichts mehr übrig als die Erinnerung und eine unvergleichliche Aussicht auf Prag
und die umliegende Landschaft; der Wysehrad ist eine ^Citadelle geworden, de¬
ren Besatzung aus einigen Artilleristen und weniger Infanterie besteht. Neben
dem Säbel hat sich auch der Krummstab oben behauptet, es gibt da ein eige¬
nes Domcapitel mit einem reich dotirter Probst, einem Dechant und einigen
Domherrn, welche sämmtlich Bischofsmützen zu tragen berechtigt sind und sich
früher großer Vorrechte erfreuten, Ihre .Capitelkirche Se. Peter und Paul,
mitten in der Citadelle, datirt vom Jahre 1070, ist aber in ihrer jetzigen
Gestalt aus Ruinen entstanden, nur ein Schatten dessen, was sie ehedem war.
Becker breiten sich nächst dieser Kirche aus und machen noch immer die Anwen¬
dung des „Saatfelder sind, wo einst Troja stand" durch Zacharias Theobald
wahr.
Wenn wir nun einmal in der Geschichte des Hussitenkrieges blättern,
welche Mag. Zacharias Theobald im Jahre IK21 zu Nürnberg herausgab, hal¬
ten wir bei folgender Stelle verwundert inne: Auf dem Kirchhof (des Wyse>
brät) liegt eine große Säule, die der Teufel soll von Rom, wie man vorgibt,
geholet haben. Aber was verständige Leute sein und was von den Sachen
wissen, die sagen, es sei noch eine Säule in der alten Kirche Petri und Pauli,
so zerstört worden." Trojzdcm, daß es schon im Jahre 1621 so „verständige
Leute" gab, avancirte diese Säule bald darauf in das Innere der Peter- und
Paulkirche, bis K. Joseph der Zweite sie wieder aus der Kirche wälzen ließ.
Sie liegt nun links vom Haupteingang zu Se. Peter und Paul im Grase des
weiten Kirchhofes in drei langen Stücken. Wenn wir kaum einen Moment
bei derselben stehen bleiben, um deren Material — es ist Syenit — und die
Nundung an den Bruchstellen zu untersuchen, klirrt hinter uns ein Schlüssel¬
bund, und dessen Trägerin, eine alte Kirchenwaschfrau oder dergleichen, fragt, ob
es uns nicht gefällig, die „uralte" Kirche zu sehen, und erzählt uns im gebro¬
chenem Deutsch die Geschichte von der Teufclssäule, welche in ihrer Grundform
bereits in Redelns „schcnswürdigem Prag" (1710) also gedruckt zu lesen
„Es hatte ein Priester der Kirche Se. Petri und Pauli auf dem Wysehrad
durch Verführung des Teufels ein Bündnis; mit demselben gemacht, mit der
Bedingung, wenn er in der Zeit, da er die Messe lese, eine Säule aus der
Marienkirche über der Tiber zu Rom bringen könnte, wollte er sich ihm ergeben.
Der Teufel hörte diesen Antrag gern, machte sich gleich in aller Eil nach Rom
und brachte die Säule von dannen, kam aber zu spät, indem die Messe schon
aus war, worüber er entrüstet die Säule durch das Dach und das Gewölbe
in die Kirche warf, daß solche in drei Stücke sprang, welche drei Stücke noch
heute zu Tage in den Kapellen Francisco und Pauli Bekehrung zur linken Seite
bei dem Eingang in die Kirche Se. Petri und Pauli gezeigt werden." Welt¬
liche Geschichtskenner wollen allerdings behaupten, die Entstehung dieser Legende
sei ganz einfach: ein Büchsenmeister der Hussiten habe Cert (d. i. Teufel) ge¬
heißen und jene drei Syenitsäulenstücke bei der Belagerung des Wysehrad mit
seinen Wurfmaschinen in die Kirche geschleudert. Gläubige Seelen haben die
Teufelslegende nicht nur beibehalten, sondern sogar noch ausgeschmückt, z. B.
durch eine persönliche Intervention des Apostels' Petrus, ja ganz rechtgläubige
Nasen wollen sogar jetzt noch an den Säulenstücken einen Schwefelgeruch spüren!
Der Kurfürst von Sachsen, der auf Wysehrad war, als seine Truppen im Jahre
1632 Prag occupirt hatten, gehörte, als ein Ketzer, zu den Ungläubigen, er
sprach bei der Besichtigung jener Säule: „Es mag wahr sein, mag auch nicht
wahr sein!" Dies sind urkundlich seine Worte, der Wyschrader Domherr Florian
Hainincrschinid bewahrte uns dieselben treulich auf. Hammerschimd glaubte
übrigens allen Ernstes an den Transport der Säule durch den leibhaften Gott¬
seibeiuns, er citirt sogar ein Document des Eapitelarchivs, das eine Aussage
des betheiligten Teufels enthält. Ein Priester aus Glatz schrieb dessen Depo-
sit-lon am 21. Februar 16L3 zu Rom nieder, wo er sich mit Teufelsbcmnerei
beschäftigte. Bei einer solchen Beschwörung erwies sich einer der Teufel als so
hartnäckig, daß der Pater zu einem heroischen Mittel greifen mußte, zu einem
Kästchen mit Reliquien des Ignaz von Lojola. Durch diese wurde der Teufel
weich gemacht, er bellte und brüllte, und gestand, daß er Zardan heiße, zube¬
nannt „der höllische Kuchelhund" und daß er derselbe Teufel sei, der die Säule
aus Rom nach Prag getragen. Der Beschwörer fragte den Teufel Zardan, ehe
er ihn ganz von bannen trieb, genauer über jenen Säulentraneport aus und
schickte darüber durch den Präger Consistorialsccretär Johann Mandera einen
ausführlichen Bericht an das Wyschrader Domcapitel.
Bor zehn Jahren noch sah man in der Kirche des Wysehrad ein Wand¬
gemälde, den Bösen vorstellend, wie er mit der Säule geflogen kommt und die¬
selbe zornig herabschleudert, weil sein Partner unten die Messe schon vollendet
und die gefährliche Wette gewonnen hat; es war ganz das nordische Phantom,
mit Hörnern, Schweif und Klauen. Jetzt ist diese Darstellung überstrichen und
an deren Stelle eine Abbildung des Wysehrad im Jahre 1420 gemalt; allein
ganz konnte man sich von dem gehörnten Säulenträger doch nicht trennen, der
Teufel ist verschwunden, ein Teufelchen erschienen, ein kleines, zottiges Teufel¬
chen, das sich in ein Wolkengewand hüllt, es ist grade im Spitzbogen angebracht.
Die alte Führerin vergißt nicht/ uns darauf redlich aufmerksam zu machen. Sie
Zeigt uns auch 'ein Marienbild, das der Evangelist Lucas gemalt haben soll und
unter einem Altar den „wunderlichen Sarg des heiligen Longinus." der strom¬
aufwärts schwamm, als ihn im Jahre 1420 die Hussiten in die Moldau warfen!
Es ist ein schwerer Steinsarg aus den Katakomben. Longinus soll bekanntlich
jener römische Hauptmann geheißen haben, der den Leib des Herrn aus Golgatha
mit seinem Speer in die Seite stieß und das Ehristenthum annahm. —
Unfern vom Sarge des Longinus. welchen, nebenbei gesagt, eine in Prag
lebende Adelsfamilie für ihren Ahnherrn hält, hängt ein großes Oelgemälde, aus
welchem der Apostel Petrus abgebildet ist. wie er auf einer Wolke stehend einen
vor ihm halbnackt liegenden Mann geißelt. Der arme Gezüchtigte hat neben
sich am Bette eine Herzogskrone und einen Purpurmantel liegen. Petrus ruft
ihm die Worte zu: Keääs, czuoä 8umpsistil (Gib heraus, was du genommen!)
und erhält zur Antwort: „KeiZelam et amplitieado!" (Ich werde wiedergeben
und vermehren!) Nach den alten Aufzeichnungen des Capitels soll dieses Bild
folgende Geschichte verewigen: Friedrich Herzog von Böhmen entzog dem Dom¬
capitel im Jahre 1187 das Dorf Swrcowic und beleknte damit seinen Günst¬
ling Habrowec. Noch in derselben Nacht hatte der Herzog eine Vision, Se.
Petrus erschien ihm und hielt demselben eine Strafpredigt. Da diese nichts
nützte, kam der Apostel in der folgenden Nacht wieder, weckte den Herzog und
sprach „Steh auf, Unbußfertiger!" Friedrich richtete sich gehorsam auf und fühlte
von einer Geißel, die Se. Petrus schwang, die empfindlichsten Schläge auf seinen
entblößten Rücken fallen. Die Geißelung hielt an, bis der Herzog gelobte, das
entfremdete Dorf dem Capitel wiederzugeben. Die Striemen sollen noch am
anderen Tage an Friedrichs Körper zu sehen gewesen sein. Der Herzog beschrieb
übrigens den Apostel Petrus als einen ältlichen Mann mit einer Glcche und
gutmüthiger Miene, bekleidet mit einem rothen Mantel.
Der Piaristenordenspriester Schalter erwähnt dieser Vision des Herzogs
Friedrich in seiner böhmischen Topographie im Jahre 1785 und fügt die Bemer¬
kung hinzu: „Ob aber diese Geißelung durch einen verkappten oder durch den
wirklichen heiligen Peter verrichtet worden sei, das überlasse ich der Entscheidung
unserer Herrn Kritiker." — Das Capitclarchiv läßt uns auch hier nicht im Stich:
es enthält eine Urkunde — angeblich von 1187 — in welcher Herzog Friedrich
in lateinischer Sprache dem Apostel Petrus die erhaltenen Hiebe quittirt: „Ich
Herzog Friedrich danke Dir, heiliger Peter, daß Du mich gewürdiget hast, mich
im Schlafe zu besuchen und auch empfindlich zu ernähren, daß ich mich in der
Beförderung der Ehre dieser Kirche wachsamer bezeuge" u. s. w. — Das Dom¬
stift Wysehrad that sich auf diese Geschichte so viel zu gut, daß es die Vision
und Geißelung des Herzogs sogar in eines seiner Sigille aufnahm!--
Die wirklichen Machtmittel der Staatsgewalt in Preußen, so weit sie nicht
in der Kirche und dem Zeughause liegen, sind gegenwärtig in der Hand des
Herrn v. d. Heydt vereinigt. Er gebietet über drei Ministerien. Die Finanzen
hat er selbst übernommen, und hat ihnen als köstliche Mvrgengabe aus dem
Handelsministerium die Preußische Bank zugebracht. Mit der Bank und der
Seehandlung lassen sich große Dinge ausführen. Indem Herr v. d. Heydt die
Finanzen in die Hand nahm, hat er den Handel — nebst Posten, Eisenbahnen,
Telegraphen und Bergwerken — nicht aus der Hand gelassen. Für dieses Por¬
tefeuille wird ein Träger gesucht, der seinem Meister folgt, und bis derselbe
gefunden sein wird, arbeiten die Räthe unter der gewohnten Leitung. Dem
Ministerium des Innern steht Herr v, Jagow vor und gibt Herrn v. d. Heydt
die Zuversicht, daß seine Pläne und Anordnungen nicht auf Hindernisse von
Seiten der inneren Verwaltung stoßen werden. So hat denn Preußen die
nächsten Aeußerungen seines Staaslebens von den Entschließungen des mächtigen
Mannes zu erwarten, der nicht allein den großen Apparat an Organen und
Mitteln zu Beförderung des Wohlstandes und unzähliger Interessen beherrsch!,
sondern auch seine Collegen an Ideen, Thatkraft und Entschlossenheit übertrifft.
Und man kann nicht behaupten, daß eine besondere Neigung der Krone für
Talente in Geld- und Handelsgeschäften den bewährten Handelsminister mit so
viel Macht ausgestattet, noch daß der alte und befestigte Grundbesitz dem Kauf¬
mann aus Elberfeld als ebenbürtigem Führer mit Hingebung sich unterordne, noch
weniger, daß die Mehrheit der Volksvertretung den Collegen des Herrn v. Man-
teuffel auf dem Schilde emporgehoben habe. Nein, Herr v. d. Heydt steht am
Steuer des Preußischen Staates, weil man ihm zutraut, vielleicht auch weil er
verheißen hat, zu gleicher Zeit die Krone, die Herren und die Gemeinen^zufneoen zu
stellen und den ausgebrochenen Conflict in allgemeines Wohlgefallen aufzulösen.
Man könnte fragen, warum der Handelsminister seine Gedanken über eine
richtige Leitung der Staatsgeschäfte nicht schon längst seinen früheren Collegen
mitgetheilt, und den Versuch gemacht habe, sie für die Durchführung zu gewinnen.
Vorab der Wunsch, die Früchte seiner Ideen allein zu genießen, bann auch Zweifel
an dem Gelingen des Versuchs, mindestens das Vorgefühl schwerer Kämpfe gegen
allerhand Scrupel und Bedenken von Seiten der Herren v. Patow und Schwerin,
mögen ihn zu dem Entschlüsse geführt haben, sich zuerst die unbequemen Collegen
Vom Halse zu schaffen. Unbequem waren sie in mehr als einer Beziehung.
Ihr bloßes Dasein verstimmte das Herrenhaus. Einem von liberalen Elementen
gereinigten Ministerium war eine freundlichere Begegnung und mehr Geneigt¬
heit zu Transactionen in Aussicht gestellt. Schon geraume Zeit vor den Wahlen
des 6. December vernahm man in den Kreisen der hohen Civil- und Militär,
bureautratie Aeußerungen der Zuversicht, daß Alles gut gehen werde, wenn nur
die „liberalen Schwätzer" beseitigt seien. Nicht das Haus der Abgeordneten
hat mit seiner Mehrheit für den Hagen'schen Antrag den Ministerwechscl bewirkt.
Dieser war längst schon beschlossen. Herr v. d. Heydt ist es, welcher den stillen
Wunsch einer vornehmen Gesellschaft verwirklichte, und wenn er dabei gegen
seine jüngeren Eollegen nicht durch zu große Offenheit glänzte, vielmehr ihre
Arglosigkeit noch zu dem letzten Dienste der Auflösung des Hauses der Abge¬
ordneten ausnutzte, so werden seine ältern Eollegen von 1848 bis 1858 darüber'
sich nicht gewundert haben.
Der 18. März sah Herrn v. d. Heydt als Sieger, thatsächlich, wenn auch
nicht dem Namen nach, an der Spitze eines neuen Ministeriums. Er hat die
Arme frei, und kann nun zeigen, was er vermag. Während der letzten drei
Jahre war sein Verbleiben in dem Ministerium das sichtbare Zeichen, daß mit
der Vergangenheit nicht gebrochen werden solle. Jetzt gilt es. zu beweisen, daß
Preußens Wehrkraft verstärkt, die Steuerlast erleichtert, mancher begründeten
Beschwerde abgeholfen, der Wohlstand gehoben, kurz daß jeder billigen An¬
forderung genügt werden kann, mit dem Herrenhause, ohne liberale Minister,
nut ober ohne liberale Mehrheit im Hause der Gemeinen.
So ungefähr wird Herr v. d Heydt sich die Aufgabe vorstellen, welche er
mit der Zuversicht, dle seine bisherige Laufbahn ihm wohl gewähren kann, zu
löjen unternommen hat. Mögen andere Minister ihr Alles auf die Eine Karte
der neuen Wahlen setzen, und wenn das nächste Ergebniß nicht entspricht, zu
einer zweiten Auflösung entschlossen sein, — Herr v. d. Heydt hat noch, andere
Waffen in Bereitschaft. Nicht als ob er es verschmähte, seine Untergebenen
daran zu erinnern, baß sie nach Vorschrift ihre Stimme abzugeben haben. Im
Gegentheile, sein Wahlcircular ist das bündigste von Allen. Wie Aeolus seinen
pausbäckigen Bläsern, so donnert Herr v. d. Heste seinen munteren Postillionen
und Schaffnern sein lzuoL o^o zu. Sie wissen, was dies bedeutet, und es
genügt vollkommen. Wenn Herr v. d. Heydt seinen Untergebenen sagt, ich
du-ide nicht, daß ihr euch an regierungsfeindlichen Wahl-Agitationen betheiligt,
so ist es rein überflüssig, von der Arage^ ob königliches oder parlamentarisches
Regiment, von dem Kampfe zwischen Königthum und Demokratie und von der¬
gleichen schwer verständlichen Verhältnissen zu reden. Für die Wahlen also hat
Herr v. d. Heydt das Seinige gethan, aber, wie gesagt, nur für servile, nicht
für feudale. Dies ist jedoch das Wenigste, was er zu thun gedenkt. — Für
diese Ansicht sprechen: die angeordnete Ermäßigung des Zinsfußes der beiden
Staatsanleihen von 1850 und 1852 von 4'/2 auf 4"/°! ein Aufsatz in dem Or¬
gane des Handelsministeriums, dem .Preußischen Handelsarchive" und der, ohne
vorgängige Genehmigung des Ministeriums veröffentlichte Brief des Herrn v. d.
Heydt an den Kriegsminister, Herr v. Roon, vom 21 März.
Die Convertirung der beiden Anleihen war durch Herrn v. Patow vorbereitet.
Sie war angezeigt durch das Sinken des allgemeinen Zinsfußes, welches den
Preis der Schuldverschreibungen seit geraumer Zeit über ihren Nennwerth ge¬
hoben hatte. Keine Verpflichtung gegen die Inhaber' stand der Ausführung
entgegen. Die Art der Ausführung gehört dagegen Herrn v. d. Heydt. Sein
Vorgänger hatte, Ivie wir vernehmen, mit einer größern Anzahl Berliner Bank¬
häuser einleitende Besprechungen gepflogen. Sie würden bei ihrer ausgebreiteten
Kundschaft die Operation befürwortet und in ihrem eigenen Interesse dafür
gesorgt haben, daß möglichst viele Inhaber sich die Minderung ihres Einkommens
gefallen ließen, möglichst wenige sich zur Annahme der Kündigung entschlossen.
Nicht so Herr v. d. Heydt. Ihm lag es näher, die Operation mit den kolossalen
Mitteln der Bank und der Seehandlung durchzuführen. Kein Zweifel, daß
diese Mittel ausreichen. Aber die Stimmung wendete sich gegen die Maßregel.
Den unschlüssiger Inhabern wird begreiflich gemacht, daß sie sich besser dabei
stehen, wenn sie die Papiere verkaufen oder die Kündigung annehmen und den
Erlös zum Ankauf gut fundirter und rentirender Actien oder Obligationen ver¬
wenden. Dasselbe beschließen die Magistrate von Berlin und anderen Städten in
Beziehung auf die in städtischem Besitze befindlichen Papiere. Voraussichtlich
wird sonach der weitaus größte Theil der an die Stelle der 4V- procentigen
tretenden 4 procentigen Papiere in die Schränke der Bank und der Seehand-
lung wandern und nur mit Opfern für die Institute, mittelbar für den Staat,
veräußert werden können. — Ist dieses Verfahren des Ministers von der finan¬
ziellen Seite nicht zu loben, so verdient es von der constitutionellen Seite
entschiedenen Tadel. Angenommen, es sei die Mitwirkung der Stände zu der
Maßregel nicht nothwendig, so ist doch die Frage zweifelhaft, und selbst wenn
kein Zweifel bestünde, so war die Vorlage an die Landesvertretung durch den
Geist der Verfassung und durch die Rücksicht für den Erfolg geboten. Jetzt,
wo das Mißlingen der Operation in so fern, als nicht die bisherigen Inhaber,
sondern die Bank und die Seehandlung die neuen 4 procentigen Papiere über¬
nehmen werden, wahrscheinlich ist, und wo die nachträglichen Verhandlungen
mit Bankhäusern fruchtlos geblieben sind, mag Herr v. d, Heydt einsehen, daß
er in dem Gefühle des Sieges, in dem Drange, sich zu zeigen und in dem Zuge,
eigenmächtig vorzugehen, sich übereilt hat. Es ist dieses erste Probestück alni-
. serieller Machtfülle kein gutes Vorzeichen für ihre weitere Entfaltung und ihr
endliches Ziel.
Dn Artikel in der neuesten Nummer des Preußischen Handels-Archivs er-
wähnt, daß in dem aufgelösten Hause der Abgeordneten nur 21 Mitglieder
dem Handels- und Gcwerbestande angehört haben und macht auf die wichtigen
Vorlagen an den nächsten Landtag aufmerksam, welche die Interessen der Pro-
duction, des Handels und der Schifffahrt tief und angenehm berühren, und eine
stärkere Vertretung dieser Interessen in dem neuen Hause wünschenswert!) machen.
Da ist der preußisch-französische Handelsvertrag, welcher der vereinsländischen
Industrie einen bisher verschlossenen Markt von 36 Millionen Menschen eröff¬
net, eine systematische Revision des Vcreinstarifs erfordert, den Schiffen des
Vereins lohnende Frachten nach und von französischen Häfen in Aussicht stellt,
den Waarenaustausch durch eine leichtere Zollabfertigung an den Grenzstationen
der Eisenbahnen befördert, das Eigenthum an den Erzeugnissen der Literatur und
Kunst sichert und den Tausch derselben von Zöllen befreit. — Da sind ferner
die reichen Früchte der ostasiatischen Expedition, die Verträge mit Japan, China
und Siam. welche dem Absätze heimischer und dem Bezüge dortiger Producte
einen bedeutenden Aufschwung versprechen, und der deutschen Handelsflotte in
der langen directen Fahrt wie in der bereits vorhandenen Betheiligung an der
Küstenfahrt eine gewinnbringende Beschäftigung sichern. Da sind endlich die
Verträge mit Chili und der Türkei, welcher letztere die Zölle bei der Ausfuhr
in Schiffen des Zollvereins auf die nämlichen Sätze ermäßigt, welche Frank¬
reich und England zugestanden worden sind. Abgesehen von den Verträgen
erfordert die Ausführung der in dem Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbucbe
ausgesprochenen Grundsätze noch eine Reihe von Svecialgesetzen, insbesondere
eine Seemannsordnung. Noch nie ist einer jfrühern Legislatur ein so reiches
Feld der Thätigkeit in handelspolitischer Beziehung eröffnet worden, es handelt
sich um tief eingreifende Reformen auf allen Gebieten des Verkehrslebens, um
die Lösung der wichtigsten volkswirtschaftlichen Fragen der Gegenwart!
Es sind allerdings große und wichtige Erfolge der Thätigkeit des durch
Hr. v- d. Heydt gesprengten Ministeriums, welche das aufgelöste Haus dankbar
entgegen genommen haben würde, die aber einem neu zu wählenden Hause
vorbehalten wurden, in welches der Handelsstand möglichst viele Freunde des
Hr. v. d. Heydt zu senden, im Interesse der Erweiterung seiner Geschäfte auf¬
gefordert wird.
Aber, um seine Stellung an der Spitze der Staatsverwaltung mit Hilfe
einer ergebenen Mehrheit zu befestigen, begnügt sich Herr von der Heydt nicht
damit, seine Untergebenen einzuschüchtern und die Kaufleute zu locken mittelst
der Vorlagen, die er gemeinschaftlich mit seinen früheren College» zur Reife
gebracht. Er geht weiter, er unternimmt nun auch die Verbesserungen im
Staatshaushalte durchzuführen, welche er der aus dem Ministerium verdrängten
und mit der Kammer aufgelösten liberalen Majorität versagt hatte — Ermä¬
ßigung des Militäraufwandes, Wegfall der Kriegssteuer in Friedenszeit. bessere
Pflege der vernachlässigten öffentlichen Interessen, endlich, Vorlagen des Staats-
Haushaits-Etats in einer Specialisirung, wie das Haus der Abgeordneten sie
begehrt hatte. Daß an der Specialisirung im Finanzministerium eifrig gear¬
beitet wird, haben Berliner-Blätter berichtet, und es ist nicht widersprochen worden.
Daß aber Hr. v. d. Heydt die Wähler mit der Ankündigung von Ersparnissen zu
überraschen gedachte, dies ist aus seinem Briefe an den Kriegsminister vom 21. März
^ wenige Tage nach der Ernennung des neuen Ministeriums — bekannt geworden.
Dieser Brief ist durch die Vossische Zeitung, welcher Niemand eine so boshafte
Handlung zugetraut hätte, veröffentlicht, und seine Echtheit ist durch die, zur
Ermittelung des strafbaren Einsenders eingeleitete strenge Untersuchung bestä¬
tigt worden.
Dem Kriegsminister, Hrn. v. Roon, ist sehr viel daran gelegen, eine Ma¬
jorität für seine Anforderungen an die Staatskasse zu erlangen. Wenn man
überhaupt mit Abgeordneten verhandeln muß, so ist diese sür den Kriegsmini¬
ster besonders traurige Nothwendigkeit durch energisches Einwirken für „gute"
Wahlen möglichst erträglich zu machen. Es scheint, daß Hrn. v. Roon die Wahl-
circulare und die von den Landräthen entwickelte Thätigkeit noch viel zu wün¬
schen übrig ließen, und daß ihm jedes nach seiner Auffassung zulässige Mittel
zur Verstärkung jener Thätigkeit angenehm erscheine. Von dieser Seite nähert
sich Hr. v. d. Heydt seinem Collegen mit der Darlegung des Satzes: daß kein
Mittel helfen werde, wenn nicht der Militäraufwand um 2V- Millionen Tha¬
ler ermäßigt und der Steuerzuschlag von 25 Procent aufgehoben werde. Mit
der Sachkenntniß eines Grabowiten, und mit dem scharfen Tone eines Fort¬
schrittsmannes sucht Hr. v. d. Heydt seinen Collegen zu überzeugen und er schlägt
die Saite des engsten Vertrauens an, indem er ihn daran erinnert: „daß in allen
übrigen Verwaltungszweigen schon seit Jahren die größtmöglichste Beschränkung
der Ausgaben stattgefunden hat, um nur einige Mittel zur Verminderung des
durch die Mehrbedürfnisse der Militärverwaltung entstandenen Deficits im Staats¬
haushalte zu gewinnen, und wenigstens den Schein zu retten, daß die Re¬
gierung bestrebt sei die desfalls wiederholt gemachten Zusagen zu erfüllen. Die
Folge davon ist gewesen, daß die wegen Mangel an Deckungsmitteln zurückge¬
stellten Bedürfnisse von Jahr zu Jahr stiegen, und je länger je mehr fühlbar
geworden sind, so daß es ohne Nachtheil für die Wohlfahrt des Landes nicht
länger thunlich sein wird, dieselben noch weiterhin unberücksichtigt
6" lassen, und die vielfachen Anträge, welche bei Gelegenheit der Budget¬
berathung im Landtage auf Erhöhung der Ausgabefvnds gestellt werden, durch
Hinweisung auf den Mangel an Deckungsmitteln zu beseitigen." Zum Schlüsse
wird dann für den so eindringlich begründeten Vorschlag, die Anforderungen
für das Heer um 2'/- Millionen Thaler zu ermäßigen, nochmals der „Ausfall der
bevorstehenden Wahlen" angeführt, und dem Kriegsminister überlassen, die Ge-
nehmigung S. M. des Königs entweder allein oder in Gemeinschaft mit dem
Finanzminister einzuholen.
So sehen wir Herrn v. d, Heydt an der Arbeit seine Machtfülle zu ge¬
brauchen, um ohne die „liberalen Schwätzer" das zu thun, was sie gewollt,
aber nicht gekonnt hatten, und nur sehen ihn zu diesem Zwecke im Begriffe,-
der feudalen und Militär-Aristokratie die Spitze zu bieten. Sie hatte ihm ge¬
holfen, die liberalen Minister und die Kammern los zu werden, um seinem Ge¬
nius freien Spielraum zu verschaffen, und jetzt benutzt er die als Bedürfnisse
des Landes erkannten Begehren der Liberalen, um sich die neuen Collegen, so
weit sie es nicht schon sind, dienstbar zu machen, und als der Staatsmann,
welcher allein es versteht, die Krone mit dem Volke auszusöhnen und allen An¬
forderungen gerecht zu inertem, schließlich zur alleinigen Geltung zu kommen.
Schon sein Auftreten bei den Wahlen unterscheidet sich wesentlich Von der Pa¬
role des Herrn v. Jagvw. Er herrscht in gewohntem Tone seinen Untergebe¬
nen zu, daß er keine feindseligen Wahlagitationen dulden werde, aber er spricht
nicht von Feinden des Königs, nicht von der Frage, ob königliches oder parla¬
mentarisches Regiment; er will Kaufleute in die Kammer haben, keine Junker.
Er bringt die von Herrn v. Patow vorbereitete Convertirung der Anleihen von
1850 und 1852 sofort zur Ausführung; allerdings in der Hitze des Ge¬
fechts mit der gewohnten Mißachtung des Geistes der constitutionellen Ver¬
fassung, nicht mit der gewohnten Umsicht und Geschicklichkeit. Er läßt die
Etats specialisiren, wie es das Haus der Abgeordneten sowohl durch den An¬
trag des Herrn Kühne wie durch deu Antrag des Herrn Hagen verlangt hatte.
Er setzt dem Kriegsminister ganz vertraulich die Pistole auf die Brust, um ihn
zu zwingen, an dem Militäraufwand so viel nachzulassen als nöthig ist, um
die .Kriegssteuer im Frieden zu entbehren, wie es die große liberale Mehrheit
der Kaminer verlangt hatte. Er schlägt nach links und nach rechts, um das
Geschäft des Staates als alleiniger Principal zu dirigiren. Wird es ihm ge¬
lingen? Wen» die Feudalpartei sich Herrn v. d. Heydt hat gefallen lassen, da¬
mit er ihr die Liberalen vom Halse schaffe und dann ihnen nachgesendet werde,
so läßt das Auftreten des Herrn v. d. Heydt dieser Intrigue nicht größere
Chance als dem anderen Falle, daß die Schneide der Intrigue sich gegen ihre
Urheber wende. Während wir diese Zeilen schreiben, kommt uns die Nummer
der halbamtlichen Sternzeitung vom 7. April zu Gesicht. Sie hat die für die
Wahlen ausgegebene Parole des Herrn v. Jagow: königliches oder parlamen¬
tarisches Regiment — fallen lassen müssen und kündigte als Vorlagen an die
nächste Landesvertretung eben die Gegenstände an, welche Herr v. d. Heydt
aus der Erbschaft der abgetretenen Minister und der Commissionen des Hauses
der Abgeordneten übernommen hat. Die Frage wegen Minderung des Militär¬
aufwands wird von einer Commission von Generalen geprüft, und wir wollen
hoffen, daß sie sich nicht sowohl über das Ob als über das Wie zu äußern
haben werde.
Der Etat für 1802 sott in größerer Specialisirung vorgelegt werden und
gleichzeitig der Etat für 1863, damit endlich einmal das Budget erledigt wer¬
den kann, bevor das Jahr, für welches es gilt, mehr als zur Hälfte abge¬
laufen ist. Man ist mit Erwägung von Ersparungen beschäftigt, um den Zu¬
schlag von 25 Procent zur Einkommensteuer u. s. w. vom i. Juli wegfallen
zu lassen. Es folgt dann die Aufzählung der Vorlagen, die wir oben nach
der Mittheilung des preußischen Handels-Archivs angeführt haben. Weiter ist
die Rede von Aufhebung der Getreidezölle, und Ermäßigung der Eingangs¬
steuern von Reis. Schlachtvieh und Fleisch, um den Preis der nothwendig¬
sten Lebensmittel zu erleichtern; desgleichen von stufenweiser Ermäßigung
der Bergwerlsteuer. Auf Arbeit durch Eisenbahnbauten, auf Ermäßigung des
Briefporto für den innern Verkehr, so daß nur zwei Sätze von l und 2 Sgr.
bestehen bleiben, wird Aussicht eröffnet.
Wie soll sich, im Hinblick auf diese angenehmen Aussichten, der Urwäh-
ler bei den bevorstehenden Wahlen Verhalten? Unseres Erachtens sollte sein Be¬
streben nach wie vor, ja mehr als zuvor, darauf gerichtet sein, eine möglichst
starke Majorität von liberalen, sachkundigen und besonnenen Männern in das
Haus der Abgeordneten zu entsenden. Denn der UrWähler weiß jetzt, was ihm
entgeht, wenn neben dem Herrenhause noch eine Mehrheit von eben so gesinn¬
ten Abgeordneten gewählt würde. Herr v. d. Heydt würde dann bald ent¬
weder seine Plane dort wieder hinzulegen haben, von wo er sie hergenommen
hat, oder den Weg gehen, den ihm die alsdann herrschende Partei zeige»
würde. Die militärische Commission würde nach reiflicher Erwägung wahr¬
scheinlich zu der Ueberzeugung gelangen, daß die neue Militärorganisation durch¬
aus keine Ermäßigung des veranschlagten Aufwandes zulasse, und die durch
mögliche Ersparungen bedingten weiteren Erleichterungen würden von selbst
hinwegfallen. Es wäre eben so schlimm, wenn die Wahlen der Ausdruck eines
mißleiteten realistischen Gefühls, als wenn sie das Resultat einer großartig
angelegten Botts-Corruption sein würden. Soll aber eine liberale Mehrheit
mit den Vorlagen des Herrn v. d. Heydt auch die Stellung des Ministers
unterstützen? Wir überlassen ihr die Antwort, wenn sie am Platze sein wird.
Herrn v. d. Heydt mag an der Persvncnfrage Alles — dem Lande wird daran
etwas weniger gelegen sein.
Gestatten Sie einem alten Mitarbeiter der Grenzboten fortan zuweilen von
den Wünschen und Befürchtungen zu schreiben, welche bei den Anhängern Preu¬
ßens außerhalb der preußischen Grenzen in der gegenwärtigen kritischen Lage
des Staats laut werden. Nirgend vielleicht in Deutschland ist die Zahl treuer
Preußen so groß als in den Landschaften zwischen'« Harz und Thüringer
Wald, und nirgend empfindet der Einzelne so schmerzlich als hier, daß ihm bei
den Gefahren, welche jetzt einer gesunden Entwicklung preußischer Verhältnisse
drohen, wenig Anderes übrig bleibt, als die-Rolle eines leidenden Zuschauers.
In Ur. 14 der Grenzboten war bei einer Skizze Massua's und der Bogos-
länder gegen einen warmherzigen und patriotischen Fürsten Thüringens ein lei¬
ser Vorwurf ausgesprochen, daß er gerade jetzt Muße zu einer weiteren Reise
gefunden habe. Weshalb sollte er gerade jetzt nicht reisen? Eine Fahrt nach
dem Nil und an die Küste des Rothen Meeres ist kaum beschwerlicher und zeit¬
raubender, als im vorigen Jahrhundert eine Reise ni die Alpen der Schweiz.
Und den Berliner Ereignissen gegenüber sind unsere Fürsten, wie eifrig und
patriotisch sie empfinden mögen, fast genau so einflußlos, als jeder Privatmann.
Und wahrscheinlich fühlen sie die Unmöglichkeit zu helfen nicht weniger pein¬
lich, als wir Andern.
Unterdeß blickt man hier mit größter Spannung auf die beginnende Wahl¬
bewegung in Preußen. Es ist schon jetzt möglich, über den Ausfall der näch-
sten Wahlen eine Wahrscheinlichkeitsberechnung anzustellen. Die Warnungen
und Wahlbefchlc der neuen Minister werden allerdings eine Wirkung aus¬
üben, die Minister haben sich selbst zuzuschreiben, wenn das Resultat nicht ganz
ihren Wünschen entspricht. Ohne Zweifel werden die Junkerpartei und die
willfährigen Beamten dem Ministerium eine Anzahl Stimmen in den Landkreisen
zu werben wissen. Wer die erregte Stimmung des Landes rin den Er¬
fahrungen früherer Jahre zusammenhält, der wird schwerlich einen bedeutenden
Rechnungsfehler machen, wenn er den Gewinn des Ministeriums auf ungefähr
30 Stimmen anschlägt. Ein theuer erkaufter und unfruchtbarer Gewinn.
Denn diese dreißig Stimmen sind ungenügend, dem Ministerium eine Hilfe zu
gewähre«. Aber was noch mißlicher ist, sie werden nicht der Fortschrittspartei,
sondern den Altlib'crater verloren gehen. Und diese Fraction, welche noch in
der vorletzten Session die Majorität in der Hand hielt, wird voraussichtlich zu
einer Minderzahl zusammenschmelzen, welche auch bei irgend einer glücklichen
Combination von Zufällen schwerlich im Stande wäre, weder einem Ministe-
rinn Stütze zu geben, noch selbst eine lebensfähige Regierung aus den Ta¬
lenten ihrer Mitte zu besetzen.
Zu dieser Aussicht haben nicht wenig die Wahlerlasse der neuen Minister
beigetragen, denn ein großer Theil der Beamten ist dadurch neutralisirt wor¬
den, und ihre Thätigkeit als Wähler, Wahlmänner und Deputirte wäre
vorzugsweise den Altliberalcn zu Gute gekommen. Auf der andern Seite hat
der Polizeigeist der Erlasse die öffentliche Meinung sofort gegen das neue
Ministerium erbittert; die Fortschrittspartei wird den nächsten Nutzen davonzie¬
hen, aber auch sie wird eine Anzahl ihrer besonnenen Kandidaten verlieren und
die Lücken durch neue Namen oder solche Persönlichkeiten ausfüllen, welche in
den letzten Kammern noch keine Aussicht hatten, gewählt zu werden. Diese
Veränderung in der Zusammensetzung der Fortschrittspartei wird wieder nicht
dazu beitragen, ihre Haltung ruhig, ihr Auftreten vorsichtig zu machen.
Deshalb läßt sich schon jetzt voraussagen, das, die Gegensätze in der nächsten
Session des Abgeordnetenhauses sehr feindlich gespannt sein werden, und daß
die Hoffnung gering ist, dem Gegensatz werde sofort eine befriedigende Versöh¬
nung der Krone mit der Volksstimmung und eine feste liberale Regierung fol¬
gen. — Unterdeß hat durch die letzten indiscreten Enthüllungen der Presse das
Ministerium v. d. Heydt einen Schlag erhalten, den es nur schwer überwinden
wird.
Das Volk erkennt vielleicht aus den Reformen, welche jetzt plötzlich in den
Steuern und dem Militäretat eingeführt werden sollen, einen Fortschritt und Sieg,
eine Frucht des innern Parteikampfes, aber es fühlt sich dafür dem Ministerium
durchaus nicht verpflichtet. Daß der Trieb der Selbsterhaltung Herrn v. d.
Heydt diese Concessionen abgezwungen hat, wird seine Stellung dem nächsten
Landtage gegenüber nicht klarer und leichter machen, und die Art und Weise,
wie seine Pläne an das Licht getreten sind, trägt, so fürchten wir, nicht dazu
bei, seine Popularität zu erhöhen.
Es wäre nicht unmöglich, daß der neue Finanzminister mit Kollegen, über
welche er eine souveräne Herrschaft ausübt, sich zu dem neuen Abgeordneten¬
hause freundlich stellen könnte. Ein kräftiger, herrschlustiger Wille, in Preußen
so selten, vermag sich wohl eine widerwillige Anerkennung zu erzwingen. Aber
dazu wäre ein vollständiger Wechsel seiner Parteitaktik nothwendig. Wer in
der nächsten Zukunft in Preußen mit Erfolg regieren will, der muß, wie er
auch heiße, die Unterstützung der Fortschrittspartei für sich gewinnen. Diese
Thatsache mag man bedauern, sie ist unleugbar. Man kann diese Partei nicht
mehr ignoriren, kein kluger Politiker wird sie mit Abneigung und Hochmuth
behandeln. Es ist hohe Zeit, daß man sich gewöhne, sie als einen berechtigten
Factor im Leben des Staates zu betrachten, und es ist durchaus unfruchtbar,
ihr heut noch vorzuhalten, daß sie im ersten Jahre ihrer politischen Thätigkeit
in einer unangenehmen Verbindung mit den Demagogen der Pflastersteine
stand. Auch sie bat, wie wir alle, an den Lehren und Leiden des letzten Jahr¬
zehnts ihren Theil gehabt, sie ist gegenwärtig die Schule geworden, in welcher
ein großer Theil der jungen Kraft Preußens sich für das öffentliche Leben
heranbildet. Es mag für den Gentleman unserer altliberalen Partei unbe¬
quem, zuweilen sogar peinlich sein, die Launen, den Mangel an parlamentari¬
scher Zucht und das heftigere Temperament dieser jüngern Rivalen zu ertragen,
er wird sich doch dazu überwinden müssen. Ja. das Interesse Preußens for¬
dert noch mehr.
Immer wieder muß gesagt werden, daß jeder große Erfolg des Liberalis¬
mus, alles Ansehen Preußens in Deutschland und Europa von einer Vereini¬
gung der beiden großen liberalen Fractionen abhängt. Es gab im vorigen
Jahre einige Wochen, wo man ,eine solche Hoffnung hegen durfte; und diese
Wochen waren es, in denen ein fröhliches Vertrauen auf die Kraft Preußens
die Gemüther durch ganz Deutschland erhob. Die Reden bei der Krönung, das
Verhalten der liberalen Minister gegen die Fortschrittsmänner im Abgeordneten-
Hanse, das Gezänk der Tagespresse, haben damals eben so sehr, als der arg¬
wöhnische Eifer der neuen Partei, diese nothwendige Vereinigung gehindert.
Die Folgen dieser Fehler haben wir jetzt zu tragen. Popularität und
Ansehn der höchsten Staatsautorität haben Einbuße erfahren, die liberalen Mi¬
nister sind aus ihren Stellen entfernt, in Preußen ist Unzufriedenheit, außer¬
halb Preußens Mangel an Respect allgemein geworden, die Thätigkeit der gro¬
ßen Staatsmaschine nach innen -und außen ist gehemmt.
-Die Schuld, daß es so gekommen ist. tragen alle Theile. Und es wäre un¬
erklärlich, wie verständiger Sinn der Parteiführer in Preußen sich der einfachen
Wahrheit verschließen konnte, daß Einigkeit stark macht, wenn man nicht wüßte,
daß persönliche Gegensätze in der Politik fast immer die Gegensätze in den
Ueberzeugungen zu überleben Pflegen. Denn im Großen betrachtet ist die Ver¬
schiedenheit der politischen Ueberzeugungen zwischen dem gemäßigten Führer der
Fortschrittspartei und dem liberalen Parteigenossen der Konstitutionellen so ge¬
ring, daß er fast nur in kleinen Verschiedenheiten des Temperaments, des Alters,
der gemüthlichen Neigungen beruht.
Die Gefahr aber, welche in der Gegenwart dem preußischen Staate droht,
ist erstens! daß das neue Ministerium, wie gemäßigt es auch legieren wolle, durch
den Haß der Liberalen immer weiter nach rechts gedrängt wird, bis es die
Majestät der Krone zu einem Vundcsgenossen der feudalen Partei herabwür¬
digt und den alten verhaßten Polizeistaat neu einrichtet, um sich zu halten.
Ferner. daß die Fortschrittspartei in einem herben Kampfe gegen ein rcactio-
näres Ministerium an Geduld und Vertrauen verliert und mit einen Pessimismus
erfüllt wird, der dem Staate zum Unsegen werden muß; endlich, daß die >c>le-
liberale Partei, eingeklemmt zwischen heftigen politischen Gegensätzen, an
Zahl und Einfluß ihrer Mitglieder schnelle Verluste leidet und in einem Kampfe
nach' zwei Seiten sich erfolglos aufreibt.
Wir meinen, daß weder der Eonstitutionelle, noch der besonnene Führer
der Fvrtschrittsmänncr sich der Einsicht dieser Gefahren verschließen kann,
es ist unnöthig, hier das Bild des Unheils auszumalen, welches über Preußen
kommen muh, wenn die Schwäche, an welcher der Staat in diesem Augen¬
blicke leidet, verlängert wird. Und noch ist es möglich, ein gehäuftes Maaß von
Demüthigungen und verkehrten Maßregeln abzuwehren, wenn sich die beiden
Parteien entschließen können, in der nächsten Sitzung fest und loyal zusammen
zu stehen.
Der erste Schritt zu einer Versöhnung der liberalen Fractionen und einem
erfolgreichen Kampfe ist aber Vereinigung der leitenden Wahlcomitös über dem
Grundsatz: Wiederwahl der alten Deputirten, in der Weise, daß beide
Fractionen einander einträchtig unterstützen. Von diesem Compromiß würden
in den meisten Kreisen die konstitutionellen den Vortheil, haben, und man
mag zugeben, daß es nach Manchem, was vorausgegangen, einer gewissen
Selbstverleugnung der Fortschrittspartei bedarf, alte Gegner zu unterstützen.
Es ist aber auch für die Linke in. so hohem Grade wünschenswert!), Deputirte
wie Saucken-Jutienfelde, Kühne, Sänger, Patow, Gras Pückler in dem neuen Ab-
geordnetenhause zu finden, daß sie deshalb wohl von der gewöhnlichen Partei-
taktik abgehen sollte, t. cum bei dem Uebergang aus einem persönlichen Regi¬
ment in ein constitutionelles, welcher sich jetzt in Preußen zu vollziehen beginnt,
werden solche Männer, welche in einem gewissen persönlichen Verhältniß zu der
höchsten Autorität des Staates stehen, sür jeden Act der Annäherung und Ver¬
söhnung unentbehrlich sein. Alles aber, was einer Vereinigung der wählen¬
den Parteien entgegengehalten wird, ist unwichtig gegenüber dem Erfolg, den zu
erreichen der Patriotismus beider bemüht ist.
Ein fernerer Schritt zur Vereinigung der liberalen Fractionen würde die
Einsetzung eines gemeinsamen Parteirathes sein, der aus wenigen Mitgliedern
zu bestehen Und vor der Eröffnung des Landtags zusammenzutreten hätte.
Zur Zeit soll von seiner Aufgabe die Rede sein.
Lebhafter als in Preußen selbst fühlen die Mitglieder der preußischen Par¬
tei außerhalb des Staatsgebiets, wie sehr ein schneller und großer Erfolg der
liberalen Parteien für Würde und Dauer des Königthums. Ehre und Größe
des Staates nothwendig ist. Wir preußisch Gesinnten außerhalb der acht
Provinzen werden von den innern Parteifragen nicht unmittelbar berührt, aber
wir sind, abgesehen von individuellen Neigungen, auch deshalb liberal, weil
wir preußisch sind. Wir würden auch einem conservativen oder reactionären
Ministerium innig dankbar sein für den tlcinstenZuwachs an Macht und Einfluß,
welchen es dem Staat unsrer Hoffnung durchzusetzen vermöchte, aber grade
wir vermögen mit Händen zu greifen, daß jeder große und dauerhafte Gewinn
gegenwärtig nur durch ein aufrichtiges Bündniß des Staates mit den liberalen
Siebzehn parlamentarische Reden und drei Vorträge von Stahl. Berlin, Ver¬
lag von Wilhelm Hertz. 1862.
Die Quintessenz der politischen Meinungen des berühmten jüdischen Sophisten,
von dessen Geist die preußischen Feudalen sich den besten Theil ihrer Stichwörter
machen und ihre Ansprüche in eine Art System bringen ließen. Er selbst hat in
seinem letzten Willen die Auswahl aus der Reihe seiner Reden getroffen und zwar
in der Absicht, in dieser Zusammenstellung der Welt sein politisches Glaubensbe-
kenntniß zu hinterlassen. Auch gab er diesen Reden in Darstellung und Diction den
Vorzug vor andern. Unsern Gegensatz gegen jenes Credo zu entwickeln, ist nicht
nöthig, und so beschränken wir uns auf eine kurze Jnhaltsanzeigc. Das Ganze
zerfällt in vier Abtheilungen, von denen sich die erste auf Königthum und Verfos-
sung, die zweite auf die Aristokratie bezieht, während die dritte die Ansichten Stahls
von ven Verhältniß des Staats zur Kirche, die vierte seine Stellung zu verschied»
nen Frage» der deutschen und der auswärtigen Politik Preußens darlegt. Die erste
Abtheilung enthält vier Reden- über Steuerverweigerung und parlamentarische Re¬
gierung, Revision der Verfassung, den Antrag des Grafen v. Saurma-Jeltsch auf
Aufhebung der Verfassung (1853) und die Lpiclhüuser in Deutschland. Die zweite
besteht aus den Reden Stahls über die Fideicvmmisse und über die Bildung der
ersten Kammer. Die dritte umfaßt die Rebe über Trennung von Kirche
und Staat, welche am 3. October 1849 in der Kanuner gehalten wurde,
und die am 13. März 1855 über das Ehcscheidungsgese^ gehaltene. Die
Reden des vierten Abschnitts behandeln: die denische Kaiserwahl, die Acten-
stücke über das Drei-Königs-Bündniß und den darauf bezüglichen Antrag Camp¬
hausens (eine in der ersten Kammer am 27. Angust 1849 blos angemeldete
Rede), die Endton-Annahme der dentschen Bundesstaatsvcrfassung, die schlcswig-
hvlfteinische Angelegenheit (von 1851), die Holstein-lauenburger Angelegenheit
(1857), den orientalischen Krieg und Preußens Stellung zu demselben, endlich
die italienische Frage im Jahre 1859. Beigcgeben sind drei Vorträge - die bekannte
Rebe „Was ist Revolution?", die auf Veranstaltung des Evangelischen Vereins
für kirchliche Zwecke 1852 gehalten wurde, die Rector-Rede Stahls über Friedrich
Wilhelm den Dritten und eine, ebenfalls im Evangelischen Verein zu Berlin, an,
18. März 18K1 gehaltene Lobrede auf te» verstorbenen König Friedrich Wilhelm
den Vierten. Die dem Text sich anschließenden Vor- und Randbemerkungen sind der
von Stahl selbst besorgten Herausgabe seiner Reden aus den Verhandlungen der
preußischen ersten Kammer und des Volkshauses des deutschen Unionsparlaments
1849 und 1850 sowie der Stahlschen Rechtsphilosophie entnommen.
— Es weht ein böser Wind der Aufklärung durch unsre
Zeit, und Mancher, der sich sanft gebettet hatte auf dem Polster des religiösen und
politischen Schlendrians, fährt erschreckt auf und blickt ängstlich in die Zukunft.
Was soll noch werden, wenn das vornehmste Bollwerk der Mittelalterlichkeit,
die weltliche Herrschaft der Päpste zu Boden geworfen ? Italienischer Unglaube,
piemontesische Tücke, französische Liebe und englischer Haß, Alles zerrt und zupft
an dem morschen Bau. Vereinzelt war keiner dieser Feinde furchtbar, wie ja wirklich
dem Unglauben Jahrhunderte hindurch so viele augenverdrehendc Marienbilder sieg¬
reich widerstanden, aber in ihrer Verbindung sind die Gegner übermächtig, und man
kann sich der Wahrscheinlichkeit ihres baldigen Triumphs nicht länger verschließen.
Es ist begreiflich, daß fromme Seelen sich unter diesen Umständen nach
einer sichern Zufluchtsstätte für den heiligen Vater umsehen, und diese glauben
manche in Jerusalem gefunden zu haben. Die Pforte, so arm an Kriegsmacht
und an Münze, so reich an verödeten Ländern und uneinlöslichem Papier, werde
sich, meint man, der ihr von den Mächten angesonnenen Abtretung der heiligen
Stadt nicht ernstlich widersetzen, und so solle ein neues Patrimonium Petri ent¬
steh», in seiner historischen Bedeutsamkeit weniger anfechtbar als das alte, und
an klösterlicher Austerität und Anlaß zu frommer Abnegation das blühende
Italien weit hinter sich zurücklassend. Welche Gelegenheit zu kirchlichen Uebungen
an den zahlreichen heiligen Stätten! und zum Fasten in einer Stadt, deren
Umgebung weit und breit den größten Theil des Jahres nur die magerste Zie¬
genweide bietet! Daneben eine Bevölkerung, welche, wenn auch in Beziehung
auf fremdes Eigenthum und Leben lockeren Principien huldigend, auch nur zu
geringem Theile der allein seligmachenden angehörig, zur Reform führende
Klügelei in biedrer Einfachheit verschmäht, unter welcher ein Peterspfennig
mehr ausrichtet, als ein Dutzend hochgeschulter Missionarien. Und dann hat
ja auch Jerusalem sein Wunder, ein noch in unsern Tagen von dem festen
Glauben vieler Millionen getragenes Wunder, ein Wunder, auf das freilich der
Katholicismus jetzt, wo es durch die Ungunst der Zeiten in schismatische Hände
gefallen, vornehm herabblickt, welches er aber noch einmal zu übernehmen sich
bequemen könnte, nachdem er es bereits während der Kreuzfahrerherrschaft in
Palästina ein Jahrhundert lang in Scene gesetzt hat, das Wunder des hei¬
ligen Feuers!
Die orientalischen Kirchen Jerusalems, namentlich die griechische, zweifeln,
wenn ihnen dies Palladium entrissen würde, nicht an den Erfolgen einer so
reichen Nebenbuhlerin, und ihre Vertreter werden von jeder Berührung der
Übersiedelung des Papstes nach dem heiligen Lande in italienischen und an¬
dern Blättern jedesmal in die schmerzlichste Aufregung versetzt. Ihren Lecker¬
bissen aber, um mit dem persischen Dichter zu reden, betrachtet Rom als Ger¬
stenbrod mit Knoblauch, und wenn je ein heiliger Bater seine Residenz in Je¬
rusalem aufschlägt, so wird mens ihm nicht als Berdienst oder Vergehen an¬
rechnen dürfen. Die östlichen Brüder tonnen also noch lange ihres Wunders
in Ruhe genießen.
Zwar Jerusalem war im Winter 1861 nicht was es hätte sein sollen.
Nachdem seit dem letzten orientalischen Kriege die Zahl der zum Osterfeste her¬
strömenden Pilger sich durchschnittlich auf 14,000 Seelen belaufen, war diesmal,
in Folge der Damascener Metzeleien im Sommer vorher, kaum ein Viertel
jener Anzahl erschienen. Ein solcher Ausfall betrifft alle Klassen der jerusa¬
lemer Bevölkerung; denn die Pilgerzcit ist zugleich eine Art Messe, für welche
der Muhammedaner die Erzeugnisse der heimischen Seifensiedereien, die Früchte
und Lederwaren von Damascus, die kostbaren Seiden von Aleppo u. s. w.,
der Jude allerlei europäische Stoffe und der Christ vorzüglich die unter dem
Namen Sanctuarien bekannten Perlmutterschnitzereien, als Crucifixe, Heiligen¬
bilder und Rosenkränze, aufstapelt. Es ist die Erntezeit des Hicropoliten, wäh¬
rend welcher er zum großen Theil seines Leibes Nothdurft für das kommende
Jahr aus den arglosen Bewohnern der anatolischcn und rumelischcn Binnen¬
länder, den Männern von kleinem Hirn und großer Geldkatze, herauszuschlagen
hofft. Wenn man nun auch in Jerusalem fremdes Unglück mit derselben Re¬
signation zu tragen Pflegt, wie überhaupt in der Levante, so herrschte doch
in Beziehung auf die Verdammung der Chnstenschlächtcrei die größte Einigkeit,
und fast am lautesten tadelten die Muhamedaner die Heldenthat rhrer Glaubens¬
genossen von Damascus, welche sich selber zwar mit der Habe der Gemordeten be¬
reichert, dagegen aberso vieleRechtgläubigedraußender Erwerblvsigteitpreisgegcben.
Nur die armenische und griechische Klerisei ergab sich^mjt >'mein Gleich¬
muthe in das Mißgeschick, der auffallend erscheinen könnte, .da Niemand in
gleichem Maße wie sie bei der Frequenz der Pilger interessirt ist. Ich. rede
hier nicht von dem Streben der würdigen Männer, das Seelenheil ihrer
Beichtkinder zu fördern, sondern lediglich von dem Almosen, das die letzteren
in den Klöstern zurückzulassen pflegen, und welches nach geringer Veranschlagung
auf den Kopf nicht weniger als 40 Thlr. beträgt. Daß es ersprießlicher ist,
diese fromme Abgabe mit gleichem Aufwande an Gebeten und sonstigen Funk¬
tionen von Tausenden als von Hunderten zu erheben, leuchtet auch dem
orientalischen Theologen unzweifelhaft ein; dennoch antwortete mir ein ortho¬
doxer Kandidat, dein ich wegen des geringen Pilgerbcsuchs mein Beileid aus¬
drückte: „Das verschläft Nichts. Kyrie, denn wem einmal, nachdem er durch
die göttliche Langmuth der Erde Güter in Sünden angehäuft, das Gewissen
erweckt worden, der entgeht uns nicht. Jsts nicht dies Jahr, so ists das
nächste, und sollte er darüber sterben, so kommt sein Erbe!" —
Der Phrase entkleidet würden diese Worte etwa lauten: „Wir gestatten
unsern Beichtkindern in den Mitteln des Gelderwerbes die äußerste Freiheit;
hat aber Jemand sein Theil gewonnen, so wissen wir ihm die Hölle heiß zu
machen, daß er nicht davon loskommt, uns als Pilger seinen Tribut zu über¬
bringen." Zur Untcrstüimng dieser Bemühungen und zur Warnung für die
Unbußfertigen findet sich im Nartbex fast jeder rumelischen Dorfkirche ein Bild,
welches die raffinirtesten Strafen der Ewigkeit in naiver Anschaulichkeit dar¬
stellt. Die Wirkung dieser Bilder auf ein wohl äußerlich kirchliches, aber ebenso
unmoralisches wie abergläubiges Volk reicht denn auch wirklich bis nach dem
fernen Jerusalem. Jene gemalten Patientinnen, welche mit durchspießtem Bauche
nackend auf feuerspeienden Kröten reiten, jene unglücklichen Greise, denen mißgestal¬
tete Teufel zur Strafe für ihre unersättliche Habsucht geschmolzenes Gold in den
Rachen gießen, sie treiben ganze Familien her nach dem Feuer, dessen Wunder¬
kraft die schon verdiente Höllengluth auslöscht, bevor sie noch angezündet
worden.
Jerusalem hatte also diesmal, was man anderwärts eine schlechte Saison
nennen würde. Dennoch verläugnete der Tag des heil. Feuers — es war Sonn¬
abend der 4. Mai — seinen Eharatter nicht. Die ganze Stadt feiert an diesem
Tage; die türkischen Bureaus sind geschlossen, die Bazars und sonstigen Ge-
schäftslocale verlassen, und dagegen füllen sich schon am frühen Morgen die
der Grabkirche benachbarten Stadttheile mit der buntesten Menschenmenge.
Türkische Regierungsbeamte, Ulemas. Efendis, Kaufleute und Handwerker,
Straßenjugend und Pöbel kommen da zusammen, um den sich langsam durch
das Gedränge dem Heiligthum zuwcilzenden Strom der Pilger, die Züge der
bei der F?ier mitwirkenden Geistlichen verschiedener Confessionen. die mit wir¬
belnden Trommeln und in festlichem Schmuck cinherziehcnden. zur Aufrechter¬
haltung des Kirchenfriedens beorderten Abtheilungen türkischer Truppen, Pd
endlich die von dem Schauspiel fernher angelockten fränkischen Reisenden, unter
denen diesmal eine brillante Sclmar französischer Offiziere von Beyrut sich
auszeichnete, anzugaffen. Daß die einheimischen Christen, auch die bei dem
Feste nicht beteiligten, in dem Gedränge der Zuschauer nicht fehlen, läßt sich
von vorn herein erwarten; nur die Juden halten sich weislich in ihren abge¬
legenen Quartieren, um nicht von christlich-fanatischer Straßenjustiz unter tür¬
kischer Connivenz für das von ihren Vorfahren vor 1828 Jahren begangene
Verbrechen zur Strafe und Buße gezogen zu werden.
Man möchte nun glauben, daß diese Versammelten, wenigstens ihre Mehr¬
zahl, zu Spöttereien über die wundergläubigen Kirchgänger sich' aufgelegt fühlen
könnten. Bezeichnen ja doch die Beschreiber Jerusalems in fast stereotyper
Weise das heilige Feuer als einen Skandal in den Augen der Nichtchristen.
Gewiß gibts auch keinen Muselmann, der nicht bei der Function lieber an
ein Schwefelholz, als an eine unmittelbare Bethätigung der göttlichen Allmacht
glauben sollte, falls er überhaupt die Sache zum Gegenstande seines Nachden¬
kens macht. In der That aber geschieht dies letztere nicht. In Jerusalem
ist keine Religion, ja fast keine Confession, welche nicht einerseits ihren Ange¬
hörigen eine Fülle von jeder menschlichen Vernunft ins Gesicht schlagenden
Monstrositäten aufbürdete und andrerseits das große Publicum von Zeit zu
Zeit mit wunderlichen und unverständlichen Ritualien unterhielte. Der Hicro-
polit ist also in Folge vielfältiger Uebung nach diesen beiden Richtungen hin
ziemlich abgehärtet, und vermöge eines gewissen Billigkeitsgefühls dehnt er die
von dem eignen Bekenntniß erheischte Kritiklosigkeit auch auf die andern aus.
Eine religiöse Feier, ob man sich durch das Bedürfniß geistlicher Erbauung,
oder nur durch irdische Neugier getrieben, dabei betheiligt, ist für den Bewohner
eines Wallfahrtsorts immer ein Schauspiel, in Jerusalem sogar das einzige
dem müssigen Volke gebotene Schauspiel. Gedankenlose Schaulust ist demnach
der durchgehende Zug auf den Gesichtern der Versammelten, seien sie nun Chri¬
sten, seien sie Muhamedaner. Gegen den Vorwurf grober Versündigung am
zweiten Gebot will ich die orthodoxe Geistlichkeit nicht in Schutz nehmen; für
das große Publicum ist aber die Charfreitagsfunction der Lateiner, die Kreu¬
zigung einer braunen, hölzernen Gliederpuppe in der Golgathakapelle und ihre
spanische Einbalsamirung auf dem .Salbuugsstein" viel unverdaulicher als
das heilige Feuer,
Natürlich steht das Gedränge innerhalb der Kirche an dem großen Tage
in potenzirten Verhältniß zu ihrer äußern Umlagerung, und daß die Nächsten¬
liebe des kräftigern Andächtigen, der sich mit Schulter und Faust einen guten
Platz erobert, nicht so weit geht, auf den schwächeren Mitchristen die mindeste
Rücksicht zu nehmen, braucht kaum versichert zu werden. Kein europäischer
Reisender wagt sich in das Gewühl auf dem Boden der Kirche, und auch ich
hatte mich wegen eines erhöhten Sitzes an den mir befreundeten syrischen
Bischof Abd-en-Nur gewandt, welcher sich gern damit gefällig zeigte. So
brauchte ich — und das war ein nicht gering anzuschlagender Lortheil —
während die unprivilegirte Menge schon Stunden lang ihre Stickluft in das
Gebäude ausathmete. mich dieser Atmosphäre erst kurz vor dem Mirakel selbst
auszusehen.
Es war gegen zwei Uhr Nachmittags, als ich mich geleitet von zwei Ca-
wasscn nach der Grabeslirchc hinbegab. Die Eingänge des Vorhofs waren mit
Militärposten besetzt, welche aber weder meinem, noch, so weit ich bemerkte, dem
Passiren andrer Nachzügler Hindernisse in den Weg legten. Auf dem Vorhofe
selbst bildete von den der Portalfa^abe parallel laufenden Resten einer zer¬
störten Säulenreihe bis zu dem Thore der Kirche die Truppe. Gewehr am Fuß.
ein Spalier, welches den von den Kirchgängern zu nehmenden Weg bezeichnete,
den Nest des Platzes nahmen zum Theil Pyramiden zusammengestellter Mus¬
keten ein. in deren Nähe die Reserve der Occupationsmacht, ick schätzte sie auf
ungefähr 90 Mann, an Schattenstellen niederkauerte und sich mit Rauchen von
Cigarritos ergötzte. Innerhalb des Portals, dessen muhamedanische Hüter in
großer Anzahl erschienen waren und sich auf ihrem erhöhten Pvlstersitze im
Festtagskaftan und blendend weißem Kopfbunde gar stattlich ausnahmen. setzte
sich die militärische Doppelreihe westlich an dem Salbungsstein vorüberlaufend
bis in die Rotunde der Grabkapelle und um diese letztere herum fort; eine Ein¬
richtung,, welche, auch wenn die brüderliche Genossenschaft einer einzigen Secte,
und nicht verschiedene, eben so sehr durch Sprache und Denkweise, als durch
bürgerliche und confessionelle Eifersucht getrennte Nationalitäten sich auf dem
engen Raume zusammengefunden hätten, wegen der durch sie gebotenen leichteren
Passage ihr Ersprießliches gehabt haben würde. Diesem Zwecke genügte sie frei¬
lich für den Augenblick nicht ganz. Mit der indolenten Gutmüthigkeit, welche
den türkischen Soldaten unter gewöhnlichen Umständen auszeichnet, hatten sich
die Reihen von der hinter ihnen wühlenden und stoßenden Volksmenge zu¬
sammenschieben lassen und bildeten mit ihr einen dichten Knäuel, den zu durch¬
dringen ich gern die mir freundlich angebotene Begleitung eines türkischen
Offiziers annahm.
Auf Zurufe desselben drängten die Soldaten die Volksmassen, der Mehr¬
zahl nach Armenier, zurück, so daß ich ohne Beschwerde nach der Rückseite der
Grabkapelle hingelangte. Daselbst empfing mich der syrische Bischof im Festge-
wande. einem faltigen schwarzen Oberkleide, purpurseidner Sultane, pmpur-
sgmmetnen Pantoffeln und einem gewaltigen blauen Turban in der Form eines
Melonenkaktus. Nach den landesüblichen Begrüßungen, bei denen sogar die
Pfeife und der Kaffee, wenigstens in dem lebhaft ausgesprochenen Kummer über
ihr Nichtvorhandensein, nicht fehlte, führte er mich zu dem für mich bereiteten
Platze, dessen Anblick, ich gestehe es, mich Anfangs mit einigem Grauen erfüllte.
Die die Rotunde umgebenden Pfeiler sind nämlich in der Höhe von un¬
gefähr 25' durch Arkaden verbunden, unter weleben sich die Eingänge zu ver¬
schiedenen por ,der Kirche abgetrennten Räumlichkeiten. Sacristeien, Kapellen
u. tgi. befinden. In einem dieser Bogen war 15^ über dem Boden ein an
Seilen schwebender loser Bretterbuden angebracht und das war der Ort, auf
welchem mir der Prälat die Honneurs des heil. Feuers machen wollte!
Eine aus dem Vestiarium hergeholte Leiter, zum Anzünden hvchhängendcr
Lampen für die Kirche angeschafft, löste das sich mir zuerst darbietende Räthsel,
wie ich da hinaufkommen sollte; aber die Frage, ob die Stricke nicht reißen,
ob die Bretter nicht brechen würden, beschäftigte mich zu lebhaft, als daß ich
nicht einige Bedenken hätte äußern sollten. Der Bischof dagegen bestand auf
der Dauerhaftigkeit seines Lufthauch und stieg zu meiner weiteren Beruhi¬
gung vor mir hinauf, so daß ich beschämt nachfolgte. Als ich mich von der
letzten Sprosse aus die tanzende, krächzende Bühne schwang und dabei auf die
Kopfe der Schulter an Schulter gedrängten Kopten und Abyssinier unter mir
herabsah, kam mir noch der fernere teuflische Trost, daß, wenn ja eine Kata¬
strophe eintreten sollte, mein Fall in halber Höhe auf diesen hamitischen Häup¬
tern gebrochen werden würde, an deren Widerstandsfähigkeit ich nach Herodots
Auskünften über die Härte der afrikanischen Schädel nicht zweifelte.
So war ich denn psr aspera hinauf, aber nicht a,Ä irstrg. gelangt. Die
heil. Grabcstirche, welche so reich ist an goldenem und silbernem Geräth, an
von Brillanten und Rubinen strahlenden Votivgegenständcn, ja welche auch zum
Nutzen der Lampenschmücker eine Leiter enthält, besitzt Nichts, was etwa einer
Bank oder einem Stuhle ähnlich sähe, und wollte eine der sechs Confessionen
einen solchen heterodoxen Gegenstand einschmuggeln, da würde sich unfehlbar
gegen die Neuerung eine siegreiche Coalition der fünf andern erheben. Der
Bischof konnte mir also Nichts als den flachen Boden der schwankenden Bret¬
ter zum Sitzen anbieten, auf welchem ich mich meinem hochwürdigen Freunde
gegenüber unter sorgfältiger Beobachtung des Gleichgewichts niederließ.
Wir saßen also beide, aber si ano taeiuut ickom, von oft, lava! Der Bi¬
schof, wie alle Orientalen, schon als Säugling gewöhnt, seine untern Extre¬
mitäten wie ein Taschenmesser zusammenzuklappen und die eignen Hacken als
Sitzpolster zu verwerthen, befand sich in ebenso bequemer als würdevoller Stel¬
lung mit aufrechtem Rückgrat und freier Haltung des Nackens, während ich
im Conflicte mit den eignen Knien entschieden den Kürzen zog und durch Vor¬
beugung des Oberkörpers mühsam dem Kopfe den ihm gebührenden überragen¬
den Posten sicherte.
Die Aussicht, die sich mir aufthat, entschädigte mich aber einigermaßen für
die körperliche Tribulation. Ich hatte vor mir die mit Griechen angefüllte
Nordhälfte der Rotunde und übersah rechts außer dem koptischen Altar noch
einen beträchtlichen Theil der Südhälfte, in welcher die Pilger der jakobitischen
Nationen sich drängten. Das Ganze machte fast den Eindruck eines Amphi¬
theaters, nicht blos die Arkaden, auch die architektonischen Vorsprünge der
Pfeiler waren zur Aufnahme der Schaulustigen eingerichtet. Auf der Empore
lag es Kopf über Kopf, und selbst der hohe Mauerkranz unter dem Ansätze der
Kuppel war dicht mit Personen beiderlei Geschlechts besetzt. Am stärksten aber
war das Gedränge an der gegen den Eingang der Grabkapelle schauenden Ost¬
seite, wo das die griechische Chorkirche abschließende Eisengitter und seine Tri¬
bunen durch die reihenweise über einander sich erhebenden Köpfe russischer und
griechischer Nonnen und vornehmes männlicher .Pilger vollkommen ver¬
deckt war.
So sehr dies Schauspiel mich ansprach, so fühlte ich mich doch bald zu
der Frage an meinen Nachbar gemahnt, ob die heilige Handlung wohl bald
beginnen werde? Die Antwort lautete wenig beruhigend. „Vielleicht bald, viel¬
leicht noch lange nicht. Gott weiß es am besten. Indessen", fügte er tröstend
hinzu, „das Zusammensein mit Freunden ist eine Schüssel .ohne Sättigung.
Die Zeit wird nur zu rasch verfliegen!"
Es entspann sich nun eine Unterhaltung, in der ich gern den Prälaten auf
das eigentliche Wesen des erwarteten Wunders gebracht hätte; aber sei es Ge-
schicklichkeit, sei es Einfalt, er biß aus den hingeworfenen Köder nicht an.
Statt dessen machte er mich auf manches Aeußerliche aufmerksam, z. B. daß
von den zahllosen Lampen der Kirche — worauf ich wegen der Tageshelle
nicht geachtet hatte — jetzt keine brenne; auch gab er mir Auskünfte über ver¬
schiedene Pilgergruppen. „Dort", sagte er u. A. auf eine besonders wild aus¬
sehende Bande deutend, „haben Sie die Cvprioten. An denen profitirt das
griechische Kloster wenig, und deshalb sind sie auch in guten Jahren unwill-
kommne Gäste. Diesmal aber waren die bessern Pilger ausgeblieben, und es
schien als würde das armenische Kloster mehr Gläubige zum heil. Feuer aus¬
senden als das griechische. Da nun dies letztere um alles in der Welt die Sei-
nigen bei dem Wahne erhalten möchte, daß die griechische Kirche als die durch
d>e Zahl ihrer Anhänger weit vorwiegende, die wirkliche Eigenthümern, der
heiligen Stätten und die andern Konfessionen nur theilweise Usurpatorinnen seien,
so wußte der greise Erzbischof McletioS, selber ein Eypriot und unter seinen
Landsleuten gar angesehn. noch in den letzten Wochen gegen 800 derselben zur
Wallfahrt zu bewegen, lediglich um heut die Kirche mit sovielen ihm ergebenen
Schreiern mehr anzufüllen. Aber, wie gesagt, pecuniär kommt nichts dabei
heraus. Schon in andern Jahren klagen die Abunas (griech. Geistlichen), in
dreiviertelstündiger Vermahnung einem Eypriotcn kaum ein paar Groschen ent¬
winden zu können, und diesmal werden sie erst vollends Nichts geben."
Allmählig wurde der Lärm in der Kirche so groß, daß eine eingehende
Unterhaltung nicht mehr möglich war. Der Unruhe, die ich beim Eintreten fand,
habe ich schon Erwähnung gethan, es war, als ob von den versammelten Tau¬
senden die eine Hälfte sich noch mit Schellen und Ellenbvgcnstößcn einen Platz
erobern wollte, während die andere Hälfte mit denselben Waffen das einmal
Erworbene vertheidigte. Diese Unruhe war durch das Warten noch gesteigert,
sie war zu übermüthiger Ausgelassenheit geworden. Hier vertrieben sich zahl¬
reiche Gruppen durch Händeklatschen nach einförmigen Takte die Zeit. Dort
schlugen leichtfertige Buben andern nichts Arges ahnenden Festgenossen den Tur¬
ban von den zur Feier frisch rasirten Köpfen: ein Vergnügen, das hier und da
der leidende Theil nicht in dem Sinne des Handelnden auffaßte, so daß es bittre
Worte und Raufereien setzte. Endlich wo, immer jerusalemer oder überhaupt
arabische Christen sich in der Zahl von 6 oder 7 zusammenfanden, da wurde
und ohrenzerreißendem Geschrei der alt-einheimische Auferstehungsvers vorge¬
tragen, welchen, da er nicht so lang ist wie ein P. Gerhard'sches Passionslied,
ich hier mittheilen zu dürfen glaube:
blas, Kahn' seMris,,
ach'A-1-!6 na aMäug,
el iriössitr aä^na
bidewu LeutaiMg,
innren-1-Mu tarlmim
va-l-jelrucl Irg>/g,rinUnsers Meisters Grab ist hier,
seinen Festtag feiern wir,
der mit seinem Blute
uns erlöst, der Gute.
Wir sind heute freudig,
und die Juden leidig.
Dieser jerusalemer Poesie in der doppelten Eigenschaft, der Einfachheit und
Geschmacklosigkeit, die Palme streitig zu machen, dürfte verwandten Productionen
schwer fallen. Doch ist die Melodie des Textes würdig. Die herkömmliche
Vortragsweise hat einige Eigenthümlichkeit. Die Theilnehmer stellen sich zunächst,
wo möglich in der Nähe argloser Fremdlinge, in dichtem Kreise, die Gesichter
gegen einander gewandt, zusammen. Dann auf ein gegebenes Zeichen intoniren
sie plötzlich mit schmetternder Kehle ihr „Irg,ela" u. s. w. und erobern gleichzeitig
mit dem abgewandten Theile ihrer Körper von den bestürzt zurückweichenden
Umstehenden so viel Raum, um mit dem Kopfe und Oberleibe in convergirender
heftiger Bewegung den Takt angeben zu können. Man fragt sich bei solchen
Scenen vergeblich, was noch ungraciöser sei, der Gesang oder die ihn begleitende
Mimik.
Bewundernswerth war dabei die Haltung des türkischen Militärs, welches,
von dem Gewühl umwickelt, weder von den Stößen der sich neckenden Jugend,
noch von der angedeuteten Angriffswaffe der Sänger verschont blieb. Man sah
es den Mienen an. daß das unleugbare Ungemach wesentlich von der humo¬
ristischen Seite aufgefaßt wurde. Nur ein übermüthiger Bursch, welcher seinen
Kopf in sinistrer Absicht durch die Säbelbeine eines Musketiers hatte durch¬
zwingen wollen, wurde von dem nahen Offizier mit wohlverdienten Gcnick-
stößen entfernt. Freilich hat diese Truppe, und sie ist sich dessen bewußt, nicht
sowohl eine polizeiliche als eine politische Mission, nämlich einen Ausbruch von
Feindseligkeiten zwischen den feiernden Nationen zu verhindern. Nur zu diesem
Zwecke wurde während der ägyptischen Occupation Syriens die Aufstellung der
Bayonnette zur Scheidung der Orthodoxen von den Iakobiten angeordnet, und
die wiederhergestellte türkische Negierung hat sich wohl gehütet, eine so heilsame
Maßregel abzuschaffen. Vor jener Zeit nahmen die compacten Massen der jeder
Konfession angehörigen Pilger ungefähr denselben Standpunkt ein wie heut zu
Tage, d. h. eine jede in nächster Nähe ihres Sonderbesitzes; aber die Neckereien,
welche unter Glaubensgenossen harmlos zu verlaufen Pflegen, wandten sich auf
den Berührungspunkten vorzugsweise gegen die Andersgläubigen und wurden
dann mit solcher Erbuterung geahndet, daß oft blutige Schlägereien entstanden.
Dazu kommt, daß, wie jetzt so damals, selten eine Passionszeit verstrich ohne
allerlei Gravamina zurückzulassen. Da war z. B. von einer Konfession auf einem
ihr nicht angehörigen Pflasterstein ein Teppich ausgebreitet oder gar eine unher¬
kömmliche Kerze auf einem gemeinschaftlichen Altar angezündet worden. Ein
derartiger Fall hatte nur wenige Tage vorher stattgefunden. Bei einer Function
vor einer griechischen Kapelle, deren Thür bei dieser Gelegenheit nach altem
Brauche verschlossen sein muß, fanden die Armenier die besagte Thüre offen,
indem die Griechen ihre in der Kapelle abzuhaltenden Gebeten heimtückisch in die
Länge spannen, so daß die armenische Gemeinde, gewiß zu großem Schaden
ihrer Seele, die griechischen Heiligen mehr als den oft gesehenen eignen kirch¬
lichen Hokus Potus angaffte. Gewöhnlich ist es unter solchen Umständen die
beleidigte Geistlichkeit selbst, welche das gleichgiltige Volk zur Rache auffordert.
Auch das Signal zum Angriff ist bisweilen von einem gewandten Novizen er¬
theilt worden, indem er mit geschicktem Steinwurfe eine feindliche Oellampe
zertrümmerte. Umsonst wurden wiederholt die zu einer gemischten Function in
die Kirche tretenden Pilger nach unter den Gewändern verborgenen Waffen
untersucht; die Klerisei hatte längst vorsorglich alle disponibel» Verstecke in ihren
, Heiligtümern mit Knitteln und Steinen angefüllt, welche nun den fanatisirten
Leuten ausgetheilt wurden. Ein Versuch, die feiernden Gemeinden im Augen¬
blicke der Austheilung des heiligen Feuers sich selbst zu überlassen, fand zum
letzten Male im Jahre 1856 statt, wo nach dem Abzüge der Truppen sofort ein
wüthender Kampf entbrannte. Bei dieser Gelegenheit wurden, einer großen An¬
zahl Verwundeter nicht zu gedenken, vier Leichen aus der Kirche getragen. Es
War ein eigenthümliches Zusammentreffen, daß französisch-katholischer Einfluß den
Pascha vermocht hatte, durch diese Maaßregel seinen Respect vor einer christ¬
lichen Function zu bekunden, und daß gleich darauf die klerikalen Blätter Frank¬
reichs gegen die Entweihung des heiligen Grabes durch die Schismatiker Feuer
und Flammen spieen, die Nothwendigkeit demonstrirend, den Katholicismus
allein im Namen der gesammten Christenheit mit der Hut des Heiligthums zu
beauftragen. Allerdings standen damals noch die französischen Truppen am
Bosporus; aber der Kaiser meditirte schon ein inniges Bündniß mit dem, der
in seinem eignen Gefühl wie in dem seiner gläubigen Unterthanen am meisten
durch einen solchen Wechsel getränkt worden sein würde.
Nunmehr ordnete sich in der griechischen Chorkapelle die Procession, und
zugleich wurde das Militär in der Rotunde commandirt, Gewehr am Fuß, die
Passage rund um die Grabkapelle herum zu ungefähr vier Fuß Breite in seinem
Spalier zu eröffnen. Ich hoffte nun, daß meine Erlösung sich nähere; der
Bischof Abd-en-Nur aber meinte, ich möge mich gedulden, da vor dem Aufbrechen
der Procession noch Gebete zu lesen seien, von deren Länge ich keinen Be¬
griff habe.
Der freie Durchgang wurde zunächst benutzt, um den Truppen, die nun
schon vier Stunden lang in Staub und Hitze dagestanden, einen Trunk Wassers
zu spenden. Zwei Sakas, Soldaten mit ledernem Schlauche auf dem Rücken,
gingen zu dem Zwecke die Reihen entlang und füllten für einen Jeden eine
geräumige Messingschciale. Noch durstiger als die Soldaten waren sicher die
Pilger, welche in derselben Temperatur sich noch mit allerlei Unfug zu schaffen
gemacht hatten. Auch ertönte vielerseits aus dem Publicum ein stehendes:
„Hemschehri! Landsmann, mir auch!" Gewiß ehrt den türkischen Soldaten das
Vertrauen, das diese Worte einflößte, und ich bemerkte auch, daß den Bitten
freigebige Folge geleistet wurde.
Nach den Wasserträgern tauchte eine neue Erscheinung aus, eine junge
amerikanische Touristin, escortirt von ihrem Gemahl und einem Dragoman.
Ich war mit den Leuten bekannt geworden und wußte, daß sie blos.um der
berühmten Function beizuwohnen ihre Abreise um 14 Tage verschoben hatten;
auch war es mir nicht schwer, in den verstörten Mienen der Dame ihre jüngste
Geschichte zu lesen. Sie hatte auf der keinem Europäer verwehrten Empore der
Lateiner ein bescheidenes Schauplätzchcn gesucht, dort aber sich begnügen müssen,
die Rücken der dicht auf und an einander liegenden französischen Offiziere zu
betrachten, ein nur etwa für Feinde in der Schlacht erfreulicher Anblick —
und so abentheuerte sie nun in dem Soldatenspalier umher, um wo möglich
den Zweck ihres Aufenthaltes nicht zu verlieren. Ich beschloß sofort, den äsus
ex rrmenina. zu spielen und dem Paare einen Platz neben mir anzubieten, welche»,
wie ich voraussah, der Bischof seiner Geschäfte wegen gern räumen würde.
Ich machte also, da meine Stimme nicht durchdrang, mit beredten Zeichen
den Vorschlag, der wie eine Erlösung begrüßt wurde. Die Leiter war auch bald
wieder zur Hand; als aber der Bischof hinabgestiegen war, schwankte die Dame,
'und es schien, als ob sie sich verlegen zurückziehen wollte — gewiß nicht aus
Aengstlichkeit und noch weniger aus Besorgniß mit Oel nuk Lampenruß ihre
elegante Toilette zu verderben. Aber zu dieser Toilette gehörte eine patentirte
Crinoline, welche bis dahin im Gedränge zusammen gedrückt war. von der sich
aber voraussehen ließ, daß sie auf der Leiter über den Häuptern der Andächtigen
ihre ganze Elasticität wieder geltend machen würde. Gewiß ist die gepriesene
Erfindung der Kaiserin Eugenie nicht auf das Ersteigen von Leitern, zumal in
Volksversammlungen berechnet! Doch siegte endlich der Wissensdrang über alle
geringeren Rücksichten, und ich hatte die Freude, den exotischen Vogel nebst dem
schweigsamen Gatten auf meinem Hühnerbalken zu begrüßen.
Der durch die Ordnung des Truppcnspaiiers unterbrochene Lärm war
'unterdessen in den ferneren Theilen der Rotunde mit doppelter Kraft wieder
losgebrochen, und die vor und unter uns befindlichen Pilger hatten sich nur
durch die Aufmerksamkeit, die sie dem zu mir aufsteigenden Luftballon widme¬
ten, abhalten lassen mit einzustimmen. Jetzt, nachdem man sich darüber be¬
ruhigt, wurde das Toben allgemein. Man schrie, man tackle, man sang, man
schalt; es war schwer, sein eignes Wort zu hören. Gewandte Bursche ließen
sich aufheben und versuchten auf den dicht an einander gedrängten Nacken zu
wandeln, andre schlugen Burzelbäume über den Köpfen ihrer Mitchristen, und
zwei einander gegenüber auf kräftigen Schultern Postirte führten zu unsäg¬
lichem Vergnügen der harrenden Gemeinde einen in üppigen Hüft- und Hand-
bewegungen bestehenden orientalischen Tanz aus.
„Welcher Greuel!" lispelte mir die schöne Amerikanerin zu, „ist Ihnen se
eine Jahrmarktscene vorgekommen, wo man roher gewesen wäre? Und dies
ist das Grab unsres Heilands! Was mag in dem Innern dieser Leute vor¬
gehn? was mögen sie denken?" —
„Denken, meine Gnädige? Wenig! es sind Menschen der That. Sie sind
von fern hergekommen, haben allen Ritualien genügt, haben sich vor wenig
Tagen, mit ihren Sterbehemden angethan, im Jordan gebadet und wollen
heut diese selben Hemden mit dem heiligen Feuer ansengen. Das war der
Zweck ihrer Wallfahrt, und sie haben ihn erreicht. Sie zweifeln nun nicht,
denn die Priester haben es ihnen gesagt, daß sie nach dem Sündenleben hie-
nieden der Freuden des Paradieses theilhaftig werden, und in das Wonnegefühl
über diese ferne angenehme Aussicht mischt sich die nähere, die der Ostermahlzeit
nach sieben Wochen kläglichen Knoblauch-und Oel-Genusses. Daher der Jubel,
welchen auch die Geistlichkeit vollkommen billigt." — „Welche grob sinnliche
Auffassung! unsre Missionarien haben ganz recht, wenn sie diese Leute nur für
Namenchristen erklären." —
„Und doch haben dieselben, das Grab ihres Heilands zu sehn, den man¬
nigfaltigsten Gefahren und Beschwerden einer weiten winterlichen Reise getrotzt,
ja noch mehr, sie haben den mühseligen Erwerb eines entsagungsvollen Lebens
ihrem Glauben geopfert. Wo findet man gleiche Hingabe unter den gebildeten
Christen, welche so vornehm auf diese Orientalen heruntersehen?"
Es war dem Eindruck meiner Vertheidigung des Pilgerthums nicht eben
günstig, daß unter der Führung eines Priesters einige Novizen mit langen
Stäben erschienen, um Nuhe und Ordnung herzustellen. Je milder die türki¬
schen Soldaten verfahren hatten — ich bemerkte sogar, daß sie hie und da den
sich zu abentheuerlichen Kunststücken vorbereitenden jungen Leuten die Kerzen
hielten — um so strenger war, diese geistliche Polizei. Es sah fast gefährlich
aus, wie die wuchtenden Hiebe so schlank auf die einzig erreichbaren Körper¬
theile des gedrängten Haufens, die Schädel, niederfielen. Doch wußten diese
Orbilier. daß sie es nicht mit Schwächlingen zu thun hatten. Die Repressiv-
Maßregel galt übrigens weniger den Phonetischen als den akrobatischen Freu¬
denbezeugungen der Menge, welche letztere hin und wieder in den Soldaten¬
reihen kleine Unordnungen hervorbrachten und daher der Procession hätten
hinderlich sein können.
Ein näselnder Gesang, dessen gehaltene Töne sich von der griechischen Ka¬
pelle her mitten durch das Geschrei vernehmen ließen, verkündigte diese schon;
da sich aber diese liturgischen Uebungen der orthodoxen Kirche vor allen andern
durch Gedehntheit auszeichnen, so wäre solche Eile für den heiligen Zug Platz
zu machen, nicht nöthig gewesen. Endlich erschien über den Häuptern der
Menge, mit verdoppeltem Toben begrüßt, eine Kirchenstandarte, ein an hoher
Stange getragenes Oelbild, in verwegener Zeichnung und grellen Farben eine
Scene der Passion darstellend; auf die erste folgte bald eine zweite, dann eine
dritte, dann in längeren Zwischenräumen noch drei andere. Langsam bewegten
die schimmernden Goldaureolen der gemalten Heiligen sich in der ungläubigen
Kriegcrgasse vorwärts, und es dauerte eine geraume Zeit, bis ihre Träger, in
dem nördlichen Raume der Rotunde angelangt, uns sichtbar wurden. Es waren
dies Laien, anatolische Pilger, in der trivialen Tracht städtischer Gemüsehändler,
welche sich das Ehrenamt durch ein schweres Stück Geld von der Priesterschaft
erkauft hatten. Sie gingen mit ehrfürchtig entblößten Häuptern; die vorzüg¬
lichste Zier des MvrgenlSnders, der Turban, fehlte ihnen also, und dieser
Mangel wurde keineswegs durch die wirren Haarstränge wieder gut gemacht,
welche der Barbier beim Rasiren der Köpfe auf dem Oberschabel hatte stehn lassen.
„Wie würdelos!" rief die Amerikanerin aus, und sie hatte Recht, denn
der Orientale imponirt nur in seiner vollen Tracht, und namentlich darf ihm
der dem Gesichte seine Bedeutsamkeit verleihende Kopfschmuck nicht fehlen. Die
Sonne schien durch die Oeffnung der Kuppel heiß auf die gläubigen Lastthiere
herunter, während sie vor unserm Hochsitze Halt machten und trotz der rinnen¬
den Schweißtropfen in ihren Mienen eine Zuversicht verriethen, als ob sie im
Begriff wären, dem Heiland der Welt den Dienst des Cyrenäischen Simon
zu leisten.
Vielleicht hatten sie eine Niertelstunde lang an dieser Stelle alle Unan¬
nehmlichkeiten ihrer Würde genossen, als der lauter werdende Gesang die An¬
näherung der Procession verkündigte. Nunmehr verstummte das muthwillige
Geschrei, und mit gutem Willen konnte man sich in eine einigermaßen feier¬
liche Stimmung versetzen. Zwei weitere Standartenbilder folgten den sechs
schon vorangetragenen, dann kam ein zahlreiches Chor geistlicher Sänger, der
Urheber jener längst vernommenen näselnder Laute nach Melodien, zu denen
man das Accompagnement eines bulgarischen Dudelsacks vermißte. Hinter den
Sängern schritten je zu zweien sechs Archimandriten in goldbrokatnen Meßge¬
wändern mit zeisiggrünen Grunde, diesen schloß sich eine lange Reihe von ein¬
heimischen Priestern, orthodoxen Arabern, in schwarzer Kleidung an. Dann
kamen zwei Bischöfe griechischer Nation, wie alle höheren Chargen ihrer Kirche,
in prachtvollen goldig bunten Kleidern, und nun folgte der Löwe des Tages.
Mclctios. der Erzbischof von Petra, durch dessen Hände die göttliche Allmacht
ihr Mirakel wirken sollte. Doch nicht unmittelbar hinter den Bischöfen, vor
ihm befanden sich zunächst zwei Kawassen. imposante Graubärte in blankem
Waffenschmuck, als ^Ehrenwache, und dann zwei jugendliche Diakonen, welche
rückwärts schreitend, mit schlanker Armbewegung ihre großen silbernen Rauch¬
pfannen gegen den Prälaten schwangen. Es waren diese Jünglinge wohl die
schönsten in der langen Reihe erlesener Männer, die an uns vorüberzogen, und
die antike Regelmäßigkeit der Züge, der sich in ihnen aussprechende, gleichsam
auf theosophische Meditation deutende melancholische Ernst, die blasse Hautfarbe,
die man als Folge strenger Ascese ansehn möchte, in ihrem Gegensatze zu den
rabenschwarzen, aus die Schultern herabwallenden Locken und dem wohlge¬
pflegten, noch nicht zu ganzer Fülle gediehenen dunkeln Bart würden jedes
Auge gefesselt haben, wenn nicht schon die ganze Aufmerksamkeit der Versamm¬
lung in der Betrachtung des Kirchenfürsten aufgegangen wäre.
.MutrÄn-M-nul'!" (der Bischof des Lichts) flüsterte es überall in der
staunend verstummten Menge — es ist das der Titel, den der Erzbischof von
Petra i. p. nach dieser seiner Hauptfunction bei den arabischen Christen führt.
Niemand zweifelte an der Wunderkraft dieses Gottesmannes, und jede Hand,
die sich frei machen konnte, war eifrigst mit Kreuzschlagen bcschäfugt. Selbst
die puritanische Genossin meines Hahnenbalkens meinte, von dem Anblick hin¬
gerissen, nie so viel Würde und Anstand bei einem Sterblichen vereint gefunden
M haben.
Wer je den Meletios bei einer kirchlichen Function gesehn, wird ihr nicht
widersprechen. Man denke sich einen fast 80jährigen Greis, etwas mehr als
mittelgroß und gleichweit von Magerkeit, wie von lästiger Fülle des Körpers
entfernt, durch aufrechte Gestalt und sichern Schritt eine große Rüstigkeit bekun¬
dend, mit langem weißen Bart, in dessen Silberschimmer auch nicht ein einziges
dunkles Härlein seinen Schatten wirft, mit unter der reichen, von Edelsteinen
funkelnden Bischofsmütze hervorquellenden, nicht minder silberhellen Locken, ge¬
rade dünn genug, um von Niemandem als der natürliche Schmuck dieses Hauy-
tes verkannt zu werden, dazu aber schwarze, buschige Brauen, die ein Paar
große, dunkelglänzende und noch jugendlich leidenschaftliche Augen beschatten,
endlich in der Farbe der Stirn noch Spuren der kräftigen Töne, welche die
südliche Sonne einst dem Knaben einbrannte, als er noch auf den cyprischen
Bergen die väterlichen Ziegen hütete, während die untern Theile des Gesichts
bereits den rosigen Teint angenommen haben/ durch welchen die Natur das hohe
Greisenalter auch im Aeußern wieder der frühen Kindheit näher bringt, So
schritt er daher, die rechte Hand mit zusammengelegten Daumen- Zeige- und
Mittelfinger sanft zum Segen erhoben, während die linke den kostbar aus Elfen¬
bein und Ebenholz geschnitzten Bischofsstab führte, die ganze Erscheinung > ge¬
hoben durch die kleidsame Tracht, die strahlende Tiara, das Meßgewand von
weißem Brokat mit eingewobenen Goldarbeiten, die schwer in Silber auf weiße
Seide gestickte Stola, deren auseinander geschlagene Zipfel von zu beiden Sei¬
ten gehenden jungen Priestern getragen wurden. Er ging an uns vorüber und
verlor sich mit seinem Gefolge von Kcmdelaften, Diakonen und Archimandriten
unter den zu unsrer Rechten aufgestellten Kopten und Abyssiniern, die ihn mit
minder ehrerbietiger Betreuzigung empfingen als seine Orthodoxen, während
die der Procession voraufgetragenen Bilder schon wieder von links her uns
nahe kamen. Dreimal umkreiste so der Zug die Grabkapelle; dann nahmen
die Bilder ihren Weg zurück in die Chorkirche.
Aus dem erhöhten Mosaikpflaster zwischen dieser und dem Eingange des
heiligen Grabes aber hielten die Geistlichen der Procession inne, und nun be¬
gann eine Function, die ich, da die sich vordrängende Menge mir den freien
Blick entzog, nicht so in ihren Einzelheiten sehen konnte, wie ich wohl gemocht
hätte. Dem Erzbischof wurde dort unter lauten Gesängen der kirchliche Prunk,
ein Stück nach dem andern, abgenommen, bis der alte Mann lediglich mit
einem weißen, auf die Hacken nicderwallenden Talar bekleidet dastand. Gleich¬
zeitig bahnte sich von der feindlichen Empore her eine armenische Procession
durch das Pilgcrgewühl ihren Weg gegen die Grabkapelle, um einen Bischof
auch ihrer Konfession hinzugelciten, der dann ebenfalls seiner Feiergewänder
entkleidet wurde. So traten dann beide Prälaten in das heilige Grab, dessen
Thüre verschlossen und in Erinnerung an den Schließstein des Felsengrabes
Josephs von Arimathia feierlich versiegelt ward.
Es ließ sich nicht erwarten, daß die Ruhe, mit der die harrende Gemeinde
die Procession empfing, bis zu deren Ende andauern würde. Schmerzlich empfand
es Mancher, wegen des Gedränges in nächster Nähe des Gottesmannes kein
Kreuz schlagen zu können, und kaum war derselbe das erste Mal vorüber, so
entstand unter Fluchen und Verwünschungen ein Schieben und Stoßen, welches
die Besitzverhältnisse nicht unbeträchtlich veränderte. Angeregt durch den Lärm
fingen dann Andere wieder aus allen Registern ihr „Hada daher" zu intoniren an,
und nur mit wüthenden Drohungen und Hieben gelang es den Ordnung hal¬
tenden ecclesiastischen Zorngeistcrn wenigstens während der abermaligen Gegen¬
wart des Erzbischofs ein bescheidenes Maaß des Anstandes zu erwirken. Jetzt
aber, nachdem derselbe in das heilige Grab eingetreten, wurde jede wettere
Maaßregelung für überflüssig gehalten. Sollte doch nunmehr aus den beiden
ovalen Fensteröffnungen des Heiligthums das crbetete Feuer zum Vorschein
kommen; wer konnte es da den Wallbrüdern verdenken, sich einen Platz an
der Quelle erobern zu wollen, um wo möglich ihre Kerze an der Wunderflamme
selbst zu entzünden! Vor dem Tumulte, der nunmehr entstand, zog sich also
die geistliche Polizei zurück, und auch das Militär trat respectvoll zur Seite.
Die besagten Fensteröffnungen sind in der Nord- und Südwand der Vor¬
halle des heil. Grabes angebracht, in deren Mitte ein fußhoher Marmorstein
für den Sitz der Engel gilt, welche zu den heiligen Marien sprachen: „Was
suchet ihr den Lebendigen bei den Todten?" Ob die unter Schloß und Siegel
eingesperrten Kirchenfürsten hier oder in der Grabkammer des Erlösers selbst
lebendiges Feuer aus todtem Mineral locken, kann ich nicht sagen. Ebenso
wenig weiß ich. wie sie es machen. Nur wage ich zu behaupten, daß ein vor
10 Jahren zum Protestantismus übergetretener Priester, welcher angab, der Bi¬
schof tauche seine Hände in eine Phosphorauflösung und bringe durch An¬
einanderreihn derselben unter eifrigen Gebeten die Flammen hervor, ebenso
wenig in das Geheimniß eingeweiht war, wie ich selbst. Nur für die aber¬
malige, schmerzlich empfundene Zögerung besitze ich eine ausreichende Erklärung,
welche die Hirte» der betheiligten Bekenntnisse ihren störrigen Böcken nicht
aufhören zu Gemüthe zu führen. „Um wi^ir-UIcum!" wegen eurer Sünden,
von denen ihr euch nicht zur Genüge durch Spenden jener elenden Metalle, an
welchen euer Herz hängt, reingewaschen! — schnöde Habsucht, sollte etwa der
Eiser um die heilige Lichtflamme sie aufwiegen?" Hinsichtlich dieses Eifers war
der Versammlung Nichts vorzuwerfen, wenn auch der Eine und der Andre über
sein Ziel hinausschoß, indem er um sich zur Quelle Bahn zu brechen das als
Hiebwaffe, gebrauchte Kerzenbündel aus dem Occiput eines Mitpilgers zer¬
bröckelte. Kein abschreckendes Exempel wurde statuirt. um diesem sich vielfach
wiederholenden Unfug steuern, die Geistlichen, wie schon angedeutet, billigten
vielmehr den Skandal als das sicherste Mittel, ihre Gläubigen vor der Pest
rationalistischer. Grübeleien zu behüten.
Es mochten, seit die Prälaten sich in das Innere des Heiligthums bege-
ben, etwa 2U Minuten verflossen sein, und diese Zeit hatte sich in ihrem Ein¬
druck auf pie angespannt Harrenden mindestens vervierfacht. Bei mir war auf
die Anspannung sogar schon eine Abspannung gefolgt, und ich wurde überrascht,
als ein lautes Ah! meiner Nachbarin mir das endliche Erscheinen des Wun¬
ders verkündigte. Meine Augen eilten nach der Oeffnung in der Kapellen-
wand, — das Feuer war schon heraus, aber noch konnte ichs im Fluge er¬
Haschen. Es war ein hcllslammender Ballon, ungefähr von der Größe eines
Manneskopfes, anscheinend aus Baumwolle bestehend, welche durch besondere
Praparirung. ohne von ihrer Leichtigkeit zu verlieren, einige Secunden lang
das Feuer zu halten vermochte. Die wogende, tosende Menschenmasse mit Hun¬
derten möglichst lang ausgereckter Arme, welche ihre Kerzenbündel von allen
Seiten gleich Radien dem einen flüchtigen Centrum zukehrten — es war ein
unbeschreiblicher Anblick! Während Jeder es von fern zu berühren begehrte,
gönnte ihm Keiner auf seinem Kopfe eine Ruhestätte, und so hüpfte es wie
ein Meteor über den zur Abwehr emporgehaltener Händen hin. bis es an einem
Rotundepfeiler verlöschend auf den Boden gelangte. Die Menge stürzte darüber
hin, aber es war todt, keine Kerze konnte angezündet werden.
Das Unglück war so natürlich, daß es keinerlei Bestürzung erregte, viel¬
mehr wandten sich alle Blicke und Stimmen wieder der Fensteröffnung zu, eine
neue Sendung des Wunderstoffs erheischend. Diese ließ denn auch nicht lange
aus sich warten, sie erschien in Gestalt eines prächtig brennenden dicken Ker¬
zenbündels, welches, so wie es mit Händen greifbar war. von einem aä live
an der Kapellenwand aufgestellten Kandelasten in Empfang genommen und
über die Menge weg zwischen die Pfeiler geschleudert wurde. Sofort waren
wieder zahllose Pilgerkerzen darüber her, es entstand ein entsetzliches Gewirre
der Anzündenwollenden, Viele stürzten zu Boden. Einige wurden, jedoch nur
unerheblich, verwundet. Endlich that sich der heulende und kreischende Menschen-
knäuel wieder auf, und siehe da, das Kerzenbündel war, wie der Baumwoll-
Ballon erloschen. Keinem war es gelungen, die heilige Flamme aufzufangen
und fortzuschleppen.
Also noch einmal d.as Geschrei gegen die Wandöffnung. Bevor aber die
dritte Sendung zum Vorschein kam/ erscholl schon von der andern Seite der
Rotunde her das Jubelgeheul der Armenier, denen es gelungen war, das ihnen
durch das Südfenster zugeworfene Feuer bei der zweiten Sendung zu fixiren,
so daß es sich über Tausende von Pilgerkerzen und zahllos an den Pfeilern, in
den Bögen und überall an den Wänden angebrachte Oellampen mit reißender
Schnelligkeit verbreitete.
Auf unserer Seite nahm der erwähnte Kandelast noch einmal ein brennen¬
des Bündel in Empfang; er vertraute dasselbe aber diesmal nicht früher den
Lüften, bis er fünf oder sechs charakter- und schulterfesten Männern in seiner
Nachbarschaft die kostbare Flamme mitgetheilt Hatte. Der Angriffseifer wurde
so getheilt, und durch Vermeiden des Uebermaßes gelang das Anzünden überall.
Jetzt wurden auf der Thüre der Grabkapelle die Siegel gelöst, und die bei¬
den Prälaten traten heraus, um ein Jeder eigenhändig dem Hochaltar seiner
Konfession das heilige Feuer zuzutragen. Der armenische Bischof versorgt bei
dieser Gelegenheit noch die Vorstände der kleineren jakobitischen Secten, den
syrischen Bischof und die Churis der Kopten und Abyssinier mit brennenden
Kerzen, Schon sahen wir den bräunlichen Aegypter, einen Mann, der den
Faunentypus seiner Race in der Vollendung darstellte, herbeieilen, um seiner dem
Marmorgrabe ihres Sohnes angeklebten lackirten Gottesmutter im Bretter¬
verschläge und dann seinem grinsenden Volke Licht zu geben. Würdevoller
verfuhr unser Bischof Abd-en-Nur unter den Seinigen, denn jede Nation
nimmt nur von ihrer eignen Geistlichkeit ihr Feuer. Es ist dies eine allge-
meine Regel; wer davon abweicht, wird als Abtrünniger, resp. Proselyten-
macher betrachtet und mag sich in Acht nehmen! Ein Fall der Me ereignete
sich in dem Südostraume der Rotunde, wo ein armenischer Wartabed russischen
Pilgern seine brennende Kerze bot. Zum Glück hinderte hier die dazwischen¬
liegende Kapelle unsre Blicke, die Nerven meiner zarten Nachbarin würden da¬
bei gelitten haben. Denn Augenzeugen erzählten, wie sofort ein glaubenseifriger
griechischer Mönch sich auf den Frevler warf, und wie ein so hitziger Kampf
entbrannte, daß man beider Bärte schon verloren gab, als türkische Soldaten
die confessionellen Kämpen trennten und ihnen die eisgraue Zier des Kinns
retteten.
Doch ich kehre zu meiner Beschreibung zurück. Was ich hier in vielen
Worten von den Ereignissen seit dem ersten Erscheinen des Wunders ausein¬
andergesetzt, geschah fast gleichzeitig oder in dem Raume weniger Minuten.
Mit unglaublicher Geschwindigkeit verbreitete sich das Feuer durch die weite
Kirche. An seinen Seiten wurden die Lampions bis zu der Gallerie unter
der hohen Kuppel hinaufgezogen, je weiter nach unten, um so zahlreicher
schmückten alle Wände sich mit Lichtern, in jedem Winkel, so weit das Auge
spähen konnte, glänzte es von ihnen. Zu diesem stillen Prunk in schroffem
Gegensatze standen die brennenden Kerzen der Pilger. Es werden diese aus
einer Mischung von Harz und Wachs mit verhältnißmäßig starkem Docht be¬
sonders für diesen Tag in großer Menge bereitet und außerhalb der Kirche feil
geboten; sie sind billig, aber dafür legt die Sitte jedem Einzelnen die Ver¬
pflichtung auf, mindestens ein halbes Dutzend zusammen zu kaufen. In der
Hitze des Gedränges wird dies Bündel zu einer Art grober Wachsfackel, welche
eine gewaltige röthliche Flamme gibt und dabei einen entsetzlichen Qualm ent¬
sendet. Nun denke man sich einige Tausende von Menschen, in so engem
Raume zusammengepreßt, Jeden eine solche Fackel schwingend, Jeden in aufge¬
regtester Stimmung sich so vie,l Bewegung machend und so laut schreiend wie
nur immer möglich. Manche auch übermüthige Späße mit der heiligen Flamme
an den Kleidungsstücken der Nachbarn sich erlaubend. Man denke sich diese roth¬
glühenden, im Eiser des Singens, Jubelns, Zürnens, Lachens verzerrten Ge¬
sichter, darüber die rothen Feß, die weißen Mützchen, oder auch die entblößten
rasirten Köpfe, das Alles zuckend, sich schiebend, sich zerrend, und allmälig in
dem immer dichter werdenden Qualm sich verdunkelnd, und man hat ein schwa¬
ches Bild der Aussicht, die sich uns darbot. Jetzt nicht die Lungen und die
Ellenbogen zum Aeußersten der Freudenbezeugung anzustrengen, wäre Vergehen
gewesen; hatte sich doch nunmehr Allen die Sündenvergebung durch ein Zeichen
bestätigt, und war doch auch der Auferstehungskirche das Licht wiedergegeben,
nachdem in der Charfreitagsnacht das letzte Lämpchen verlöscht worden! Ja
die Auferstehungskirche hatte ihr Licht wieder, nicht das gottlose Sonnenlicht,
das keine Feste respectirt, und auch Juden und Heiden, ja selbst Protestanten
bescheint, sondern ihr echtes alt-confessionell orthodoxes Licht, die rauchenden
Kerzen und die qualmenden Oellampen! Meine überseeische Nachbarin wollte
eine Aeußerung thun, aber sie vermochte den Laut ihrer Stimme sich selbst
nicht hörbar zu machen. Was hätte sie auch sagen sollen? Daß ihr in der
alten wie in der neuen Welt noch nie so Seltsames vorgekommen? Das war
überflüssig! Selbst die Sonne schien besiegt; über dem blendenden Kreise, den
ihre Strahlen vorher durch die Kuppelöffnung beschrieben, erhob sich jetzt bis
zur höchsten Höhe des Gebäudes eine bräunliche, opake Säule, welche nebst den
wie Meereswellen durch den Rauch zuckenden, rothen Feuerzungen den Gedan¬
ken einer Höllenscene aufkommen ließ.
Diese Akme aber dauerte nicht lange, das Abbrennen der sich schnell ver¬
zehrenden Kerzcnbündel setzte ihr ein Ziel. Nach kaum zwölf Minuten erloschen
dieselben eins nach dem andern, und bald war Nichts von ihnen übrig, als
der brenzliche Harzgeruch, welcher uns und manche andere Zuschauer sehr in-
commodirte. Die europäische Gesellschaft der lateinischen Empore, die franzö¬
sischen Offiziere u. s. w. verschwanden eiligst. Auch dem Pilgergewühl vor uns
war mit den Lichtern die Exstase ausgegangen und ,voll des Bewußtseins ihre
Schuldigkeit gethan zu haben, verließen die Griechen die Kirche, um Vorberei¬
tungen für die Küche zu treffen. Auch die Soldaten marschirten ab, und mit
rothen Augen wäre» wir ihnen gern ins Freie gefolgt, wenn nur die Leiter
zu beschaffen gewesen wäre. Dennoch machte die Kirche noch keineswegs den
Eindruck eines leeren Gebäudes, andre Gestalten, andre Trachten füllten all¬
mälig die leer werdenden Räume. Es waren die vier Nationen des jakobi-
tischen Bekenntnisses, welche, vorher elend zusammengedrängt, sich jetzt in Er¬
wartung einer Gesammtfunction ihrer eigenen Geistlichkeit gemächlich auf den
frühern von den orthodoxen Pilgern eingenommenen Plätzen ausbreiteten.
Schon waren aus den Sacristeien der Syrier und Kopten die alterge¬
schwärzten Kirchenstandartcn hervorgezogen und wie bei den Griechen an bevor¬
zugte Laien vertheilt worden. Die Procession nahm denn auch bald ihren An¬
fang. Bei den Armeniern als den mächtigsten unter den jakobitischen Christen
hatte sich der Zug geordnet, welcher sich nun ebenfalls von Norden her um
das heilige Grab bewegte. Es war gleichsam eine Dankfeier für die fo eben
durch das Wunder des Feuers bestätigte göttliche Gnade.
Zuerst kamen koptische Bilder, dann der Priester dieser Secte, der Churi
mit seinen Diakonen, dann syrische Bilder, von kräftigen mesopotamisehen Jüng¬
lingen getragen, dann ein Diakon mit schwerem silbernen Kreuz, einem Weih¬
geschenk der sogenannten Thomaschristen auf der Küste Malabar, dann unser
Bischof Abd-en-Nur in prachtvollem Meßanzuge, geführt von zwei schlanken
abyssinischen Diakonen, gleich hinter ihm vier abyssinische Archimandriten, eben¬
falls mit bischöflichen Jnsignien und rosagvldbrokatenen Stolen angethan, von
deren Glänze die schwarzen bartlosen Gesichter und die schwarzen Hände wun¬
derlich abstachen, und nach diesen je zu zweien die übrige, theils hier ansässige
und theils zum Feste hergekommene syrische und abyssinische Geistlichkeit. Hier¬
nach erst folgte der armenische Klerus, dessen Zug durch zehn Tragbilder und
ein zahlreiches Sängerchor eingeleitet wurde. Dies letztere führte ein Laie
als Musagete an, welcher, um sichs in der heißen Luft bequemer zu machen,
in Hemdsärmeln einherschritt. In den Melodien unterscheiden sich die Arme¬
nier merklich von den Griechen; während diese näseln und dudeln, schreien
jene, doch ist ihr Gesang weniger unangenehm, weil er sich im Rhythmus dem
occidentalischen Charakter mehr nähert. In dem Aufzuge der Geistlichen selbst
wiederholte sich ungefähr, was wir bei den Griechen bereits beschrieben, nur
wurde hier noch mehr Prunk in Gewändern. Rauchpfannen u. f. w. entfaltet.
Zehn ältere Geistliche trugen bischöfliche Jnsignien, und Mehrere unter diesen
hatten, wie unser Abd-en-Nur, abyssinische Diakonen zur Seite, als sollte die
Katholicität des jakobitischen Christenthums sammt der dienenden Stellung der
Nachkommen Hams durch die Hautfarbe der Procedenten verdeutlicht werden.
Auffallend waren zwei kunstvoll in Silber getriebene etwa fußhohe Kirchenmo¬
delle, welche von Bischöfen getragen wurden; wahrscheinlich waren es Reli¬
quien. Das noch übrige Pilgerpublicum benahm sich bei dieser Schlußfeier,
welche ebenfalls in dreimaliger Umkreisung des heiligen Grabes bestand, 'durch¬
aus anständig.
Endlich kam unser Bischof zurück und ließ es seine erste Sorge sein, die ,
Leiter zu verschaffen und uns zu befreien. Wir dankten ihm für seine Gefällig¬
keit, und ich begleitete meine amerikanischen Gäste zur Kirche hinaus. Die
Dame war sehr aufgeregt und that eine Menge Fragen über das Geschehene;
auch ihr schweigsamer Gemahl öffnete einmal die Umzäunung seiner Zähne zu
der Bemerkung: „I Zuess, .ZoruKiüizm is a msriÄMr^ ot Stränge notions."
Eine Greisin in der Tracht irgend eines fernen nördlichen Landes, welche eben
gebückt und keuchend ihr Flämmchen in einer Blendlaterne an uns vorübertrug
und mit großmütterlicher Sorgfalt den Schatz, den Trost für ihr Stündlein,
behütete, gab eine passende Illustration für diesen Spruch, Bruder Jonathan
'
aber und John Bull, welche ihre Sabbataricms, ihre Millennarians und Neo-
baptisten hersandten, trifft nicht der Vorwurf, diese Menagerie von seltsamen
Die Kenntniß der Culturzustände Deutschlands während des großen Krieges
hat in den letzten Jahren mehrere werthvolle Bereicherungen erfahren. Es sei
hier z. B. an die Monographien Helbig's und seine Beiträge in Sybel's histo¬
rischer Zeitschrift erinnert, gediegene kleine Abhandlungen, welche zeigen, wie
sehr man noch durch gewissenhafte Benutzung auch der deutschen Archive die Ge¬
schichtschreibung der letzten Jahrhunderte fördern kann. Auch das vorliegende Werk
ist eine dankenswerthe, sorgfältige und liebevolle Arbeit zweier jungen Gelehrten.
Noch ist die Kenntniß jener Zeit weit unvollständiger, als unser Selbst¬
gefühl gern zugeben möchte. Nicht nur für die politische Geschichte, vielleicht
noch mehr für die eigenthümlichen Bildungsverhältnisse, welche in dem Kriege
entstanden, entbehren wir nöthiges Detail. Es ist bekannt und öfter beklagt,
daß uns sogar noch eine Statistik der Verluste fehlt, welche durch den Krieg
der Menschenzahl und dem Wohlstande Deutschlands zugefügt wurden. Wenn der
Geschichtschreiber sich mit Erstaunen genöthigt sieht, nach einer nähern Prü¬
fung der statistischen Notizen aus den einzelnen Landschaften diesen Verlust auf
weit mehr als die Hälfte der damaligen Volkskraft, ja in den meisten Gegen¬
den auf drei Viertheile derselben anzuschlagen, so genügt eine solche Erkenntniß
der Summen noch keineswegs, uns die gesellschaftlichen Zustände jener Zeit
verständlich zu machen.
Sollte jetzt die Pest oder ein ungeheures Naturereignis; einer einzelnen
Stadt in civilisirten Lande drei Viertheile ihrer Einwohner nehmen, so würde
ein solcher Verlust nach einigen Wochen großen Elendes sofort durch den
Ueberschuß an Menschenkraft ergänzt, welchen die Nachbarschaft abzugeben ver¬
möchte. Könnte eine einzelne Landschaft durch ähnliches Unglück ebenso sehr
verwüstet werden, so würden die Ueberreste ihrer Bevölkerung vielleicht durch
einige Monate in socialer und moralischer Auflösung leben müssen, aber die
benachbarten Landschaften würden sich zu ihrer eigenen Sicherheit beeilen, von
dein verödeten Gebiet Besitz zu nehmen, und eine massenhafte Einwanderung
könnte nach wenigen Jahrzehnten den Verlust ersetzen. Wenn aber eine große
Nation in blutigem Kriegsgetümmel bis auf ein Drittel, ja bis auf ein Viertel
ihres frühern Bestandes herabsinkt, so erscheint wohl unerklärlich, daß sie
als Nation eine Selbstständigkeit zu bewahren vermochte, daß der Zerstörungs¬
proceß überhaupt noch durch geistige Gewalten gebändigt werden konnte, daß
er nicht alle Bande zerriß, jede Zucht und Gesetzlichkeit aufhob, und daß er
dem späten Frieden noch lebensfähige Zustände, Gemeinden und Staaten zu¬
rückließ. Und dieses Bedenken wird noch bei Betrachtung einzelner Er¬
scheinungen des dreißigjährigen Krieges gesteigert. Dicht neben der Zerstörung
erkennen wir nicht selten ein friedliches Hängen am Tage, ein Fortleben fast
in alter Weise, nicht nur bei Fürsten, auch bei Privatleuten. Die Tafel der
Wohlhabenden ist fast reicher besetzt als früher, wer die Mittel hat, schätzt eine
elegante Kleidung höher als sonst, schneller wechseln die Moden, neue Ge¬
genstände des Luxus, neue Seidenstoffe, die Spitzen und Goldstickereien ver¬
breiten sich, die Haartracht wird gerade bei diesem Geschlecht im Küraß und
Kriegshut künstlicher, das Tabakrauchen wird allgemein, freilich auch der Genuß
des Branntweins; feine Weine werden häufiger begehrt, sie dringen auch in
die gesellschaftlichen Zusammenkünfte der Stadtbürger. Ja, auch würdigere Be¬
strebungen hören nicht auf. Privatleute, wilde Kriegsherren und Fürsten er¬
scheinen als eifrige Sammler von Kunstwerken, Gemälden, Münzen, von seltenen
Kostbarkeiten, schön ausgelegter Holzarbeit. Große, immerhin kostspielige Werke
erscheinen im deutschen Buchhandel, die zierlichen Kupferstiche und Sammelwerke des
ältern Merian finden Bewunderer und Käufer, eine neue kunstvolle Dichtkunst wächst
in dem Kriege herauf, die gelehrte Beschäftigung,mit deutscher Sprache beginnt,
Poesie und schöne Wissenschaften werden mit vaterländischen Sinn in großen
Gesellschaften gepflegt. Ja, sogar einzelne Producte der Fabrikthätigkcit werden
in dieser Zeit besser, z. B. das Papier. Es befremdet, gerade nach der schreck¬
lichen Zeit des Krieges, in seinem letzten Decennium bei Staatsschriften, zuweilen
auch bei kleinen Büchern, besseres Papier zu finden, als die zahllosen Staats-
schriften der kaiserlichen und böhmischen Partei im Anfange des Krieges ge¬
zeigt haben.
Sieht man freilich näher zu, so schwindet in der Regel der Widerspruch,
und hinter dem scheinbaren Gedeihen einzelner Lebensäußerungen des Volkes
wird vielleicht grade der tiefste Verfall sichtbar. Es sei gestattet, das Druck¬
papier als ein solches Beispiel anzuführen. Lange nach Erfindung des
Bücherdrucks war ein festes, starkes Papier von grober faseriger Textur allge¬
mein gewesen. Die selbstgesponnene Leinwand der Bauer- und Bürgerwäsche
heilte den Stoff geliefert, und das Material hatte für die Bedürfnisse der
Druckerpresscn ausgereicht. Als die theologische und populäre Literatur nach
dem ersten Jahrzehnt der Reformation massenhaft anschwoll und zahllose kleine
Druckerstätten mit geringen Mitteln im Volke arbeiteten, reichten die Lumpen
der Deutschen nicht mehr aus, das Papier wurde theurer und sehr schlecht.
Auf solchem groben dünnen Stoff wurde noch die Kaiserwahl Ferdinands II.
dem unwilligen Volke verkündet und die böhmische Canzlei wiederholt gedruckt.
Aber im Lauf des Krieges schrumpfte die Tagesliteratur zusammen, die Auf¬
lagen der Werke wurden kleiner, viele Druckstätten waren zerstört, die Setzer
zerstreut, die Preßbengel lagen unter Kalkbrocken und zerschlagenem Fensterglas.
Der Bedarf an Lumpen wurde geringer, das Material war wieder in Massen
zu haben. So erzählt selbst das gute Papier, in welchem ein Theil der Frie-
densverhandlungen zu Münster und Osnabrück gedruckt worden find, von der
Armseligkeit des Volkes.
Auch das Jmponirende anderer Erscheinungen, in denen wir einen Fort¬
schritt begrüßen möchten, wandelt sich bei näherer Betrachtung in der Regel zu
einem Symptom des Verfalls. Leicht setzt das Behagen in Erstaunen, womit
der wackere Johann-Valentin Andreä inmitten des ungeheuren Kampfes sich mit
bescheidenen Mitteln seine kleine Kammer von Kunstsachen und Curiositäten
anlegte. Und wenn wir die Freude beobachten, womit er von den Ge¬
schenken spricht, welche ihm seine Gönner hineingestiftet haben, von einer schön
ausgelegten Laute, einem hübschen Ringe, so sind wir auf Augenblicke in einen
Kreis friedlicher Interessen versetzt, welcher uns unglaublich macht, daß der
Krieg so furchtbar in das Leben jedes Einzelnen eingeschnitten habe. Zuletzt freilich
ist auch diesem treuen Theologen seine Sammlung durch die Kriegsfurie zum
Theil verbrannt und geraubt worden. Und die ganze Neigung der Zeit, Kost¬
bares zu sammeln, ist in der Regel eine Folge des zerstörenden Krieges.
Ueberall war Wcrthvvlles, alter Familienschmuck, Kirchengcrcith, schöne Becher,
seltene Sparpfennige leicht und billig zu haben. Plünderung und Raub,
Wucher und Noth machten das Angebot nur zu häusig. Kein Wunder, daß
die Sammelfreude in Solche kam, welche noch in verhältnißmäßig geschützter
Lage lebten, in Gelehrte, Gutsherren, Obersten und Landesfürsten.
Es ist wahr, die Genußsucht wurde nach allen Richtungen größer, aber
neue Moden und Luxusbedürfnisse verbreiteten sich auch deshalb schnell über
das Land, weil die Menschen durcheinander geworfen wurden, wie nie zuvor,
weil Fremde von jeder Nation Europa's durch das Land fuhren, und weil die
Kriegsvögel sehr geneigt waren, in ausschweifendem Schmuck und kostbaren
Orgien die geraubten Schätze zu vergeuden. Grade der zunehmende Luxus
galt schon den Zeitgenossen für ein Symptom des Verfalls, jetzt mit größerem
Recht, als im 16. Jahrhundert.
Andere eigenthümliche Erscheinungen, welche der Krieg hervorbrachte, sind
wieder aus dem Umstand zu erklären, daß der große Verderb sich allmälig voll¬
zog, daß er den dritten Theil eines Jahrhunderts, eine ganze Generation le¬
bender Menschen umfaßte, und daß er nicht in dem letzten Jahre des Krieges
seine größte Höhe erreichte, sondern etwa sieben Jahre vorher, so daß die Zu¬
stände der Landschaften bei Verkündigung des westphälischen Friedens nicht
mehr genau die tiefste Niederlage der Volkskraft bezeichnen. Zumal diese
Thatsache hat, so scheint es, den Geschichtschreibern zuweilen das Urtheil über
die Cultureinwirkungen des Krieges getrübt. Sie fanden im Jahre 1649 in
mehreren Landschaften bereits die ersten schwachen Anfänge einer besseren Zeit,
in den größern Städten eine regelmäßige Arbeit und Verwaltung, kein neues
Aufblühen, aber doch ein geordnetes Vegetiren in den alten Gewohnheiten,
und sie wurden geneigt, anzunehmen, daß die Verwüstung doch nicht so groß
gewesen sei, als die verzweifelte Klage einzelner Zeitgenossen behauptete.
Und ferner, das Allmälige der Verwüstung nahm auch den Klagen des lebenden
Geschlechtes einen Theil der Gewalt und Größe, welche wir erwarten. Nur wenigeder
Männer, welche nach dem Jahre 164V als lebende Zeugen von dem Kriege be¬
richteten, hatten ein lebhaftes Bild von den socialen Zuständen vor 1618 be¬
wahrt. Ein Mann mußte fast 60 Jahre alt sein, wenn er bereits in voller
Kraft und fester bürgerlicher Stellung gewesen war, als das Unglück über Deutsch¬
land hereinbrach. Kaum einer scheint sich das Bild des frühern Wohlstandes un¬
versehrt und mit reichlichem Detail bewahrt zu haben. Und das wird begreiflich,
wenn man erwägt, daß die Verwüstungen der dreißig Jahre sich kaum Einem
so geordnet und systematisch, wie jetzt uns, als eine Folge der Kriegsnvth dar¬
stellten. In manchen Landschaften war die Zerstörung durch die Heere selbst
erst kurz vor 1630, in einzelnen noch später fühlbar geworden. Die Geldnoth
um 1621, die Verwilderung der Sitten seit 1625, sogar die verheerenden Krank¬
heiten, Theuerung und Hungersnoth erschienen den Einzelnen nicht immer als
directe Folge des Krieges. Sie selbst waren allmälig mit ihren Gemeindewesen
eingeschrumpft, sie waren härter und gleichgiltiger; was im Jahre 1618 schreck¬
lich und unerhört erschien, war ihnen so zur Gewohnheit geworden, daß' sie
in ihren Berichten nur wenige Worte darüber verlieren. Niedergebrannte Dörfer,
verhungernde Menschen. Räuber in den Wäldern und in den zerstörten Hütten
der Bauern waren so häufig, daß nur gelegentliche Erwähnung uns von
der Größe dieses Unheils Kenntniß gibt. Zwar fehlt es durchaus nicht an
Schilderungen über die Leiden des Krieges, die Theologen ergehen sich vor
und nach dem Friedensfest gern in Betrachtungen darüber, ungezählt sind
die Aufzeichnungen von Privatleuten über die Drangsale, welche sie selbst und
ihre Stadt erduldet. Aber wie beredt die erbaulichen Betrachtungen und wie
erschütternd die Schilderungen auch sind, welche sie uns hinterlassen haben, fast
immer haben wir zu bedauern, daß sie grade solche Zustände, welche uns
höchst auffällig erscheinen, als bekannt voraussetzen oder mit wenigen Worten ab¬
fertigen. Was das fremde Kriegsvolk verdorben hat, Schandthaten der Einzel¬
nen, das wird getreulich aufgezeichnet, für das größere langsame Leiden
der Verdienstlosen, Hungernden, Verzweifelnden fehlt die reichliche Schilderung.
Dazu kommt ferner, daß die Zerstörung in jeder Landschaft sich in größeren
Pausen vollzog, welche als Zeiten verhältnißmäßiger Nuhe oder geträumter
Sicherheit verliefen, daß mehr als einmal Parteifiege, Waffenstillstand, Friedens-
projecte und Verträge die Hoffnung auf ein baldiges Ende des Krieges er¬
weckten. Zwar auf dem flachen Lande war seit den großen Seuchen und den
mörderischen Feldzügen Banner's das Elend so groß und allgemein geworden,
daß eine dumpfe Resignation auch bei den Stärkern. welche in ihrer Landschaft
aushielten, die gewöhnliche Stimmung war. Nach dem Prager Frieden werden
die Aufzeichnungen dör Dorfgeistlichen seltener und spärlicher, und die Verwil¬
derung des Landvolks hat kurz vor dem Jahre 1640 eine Höbe erreicht, welche,
soweit wir ein Urtheil darüber haben, das Landleben im mittlern Deutschland
sast in Auflösung zeigt. In den größeren Städten aber stand es um die Con-
tinuität des gesellschaftlichen Lebens doch besser. Auch dort hatte der Krieg
die Zadl der erwerbenden Bürger vielleicht um die Hälfte verringert, die Menge
der Flüchtlinge und hungernden Armen ins Bedrohliche vermehrt, aber dem
Handwerk und sogar den höhern technischen Fertigkeiten brachte der Krieg zu¬
weilen auch neue Erwerbsquellen, hier und da gesteigerten, wenn auch
ungesunden Verdienst. Etwa die Hälfte der Handwerker hatte jetzt für den
Krieg zu schaffen. Die Erpressungen, welche Befehlshaber und Verwaltungsbe¬
amte eines siegreichen Heeres übten, die schnelle und flüchtige Anhäufung gro¬
ßer Summen in einer Hand, Unsicherheit des Besitzes und Lebens, dieselben
Erscheinungen, welche einen rohen Luxus in Essen, Trinken und Kleidung be¬
förderten, kamen dem Arbeiter der Städte jahrelang zu Gute. Vielleicht
wurde eine neue Fabrik silberner und goldener Bordüren angelegt, mitten unter
abgebrannten Dörfern in, menschenarmer Landschaft; die Kupferstecher stachen das
Brustbild eines fremden Feldherrn vor ein historisches oder geographisches Werk
und suchten unter seinem Schutze die Versendung desselben nach solchen Gegenden
durchzusetzen, in denen grade die Heere nicht lagen. Wie zähe und dauerhaft der
Mensch in den Gewöhnungen eines alten und festgeformten Volkslebens hängt,
das ist grade aus Handel und Verkehr arger Zeit deutlich zu ersehen. Es befrem¬
det uns, wenn wir in den Zeitungen jener Jahre lesen, daß der Besuch der
Frankfurter Messe fast während des ganzen Krieges fortdauerte, daß in dieser
Stadt, welche während des Krieges Nürnberg und Augsburg an Bedeutung
übertraf, unaufhörlich bedeutende Summen umgesetzt wurden, und daß der kauf¬
männische Credit, das Vertrauen und die Ordnung der Geschäfte durch ganz
Deutschland nicht aufhörten, wie sehr sie auch beeinträchtigt wurden. Aber der
Trieb, zu erwerben, und die Nothwendigkeit, das Leben zu erhalten, diese letzten
zwingenden Gewalten bewährten ihre unwiderstehliche Macht, und alle kriegfüh¬
renden Parteien waren in der- Lage, grade diese Thätigkeit civilisirter Menschen
am wenigsten entbehren zu können. ' Leichter als ein anderer, erwarb der Kauf¬
mann für seine Waaren die Lg-Joa, Zug-i-den der feindlichen Heere. Fast
immer stand es in seiner Gewalt, die Befehlshaber für sich zu gewinnen. Der
schwedische General, welcher in seinem Winterquartier die Fichtenwälder der
Gegend niedergeschlagen hatte, bedürfte einen unternehmenden Kaufmann, der
ihm das Holz abnahm, und wenn er mit der Bezahlung auf ein Hamburger
oder Amsterdamer Haus angewiesen war, so lag es auch in seinem höchsten
Interesse, daß die Flöße sicher durch das kaiserliche Heer Elbe oder Rhein ab
schwammen. Ja der Krieg machte die meisten Kriegsoversten und nicht wenige
Landesherrn zu gewandten Geschäftsleuten, welche die Usancen des Handels bis
zu einem gewissen Grade respectiren und den Waarenverkehr begünstigen mu߬
ten, wenn sie selbst ihre^Revenuen und ihre Beute sicher gewinnen wollten.
Während so auf der einen Seite die conservativen Gewalten des Lebens
Vieles bewahrten, was in der ungeheuren Verwüstung nach moderner Empfin¬
dung hätte zu Grunde gehen müssen, ist auf der andern Seite die Empfindung
des ^ nationalen Unglücks wieder sichtbar, wo wir sie wenig erwarten. An
den Höfen wie im Volke.
Gerade da, wo das Gemüth der Einzelnen nach der größten Freiheit rang,
im poetischen Schaffen, bei lauter und aufgeregter Geselligkeit drängt sich die
Vorstellung von dem Elend und Untergange des Vaterlands mitten in die
Verse, in Spiel und Scherz. Dem gelehrten Dichter, welcher sich aus der ro¬
hen Umgebung in die feine Welt des Horaz geflüchtet hat, begegnet es, daß
plötzlich unter den Gedichten an Sylvia und^Phyllis ein düsterer Klageaccord
die Reden seiner Schäfer und mythologischen Gestalten unterbricht.
Um 1640 trat die trauernde Germania sogar in die Repräsentation der
deutschen Höfe ein. Seit der junge Paris von Werber vor Mitgliedern des
Palmenordens seine wirksame Stilübung über das Unglück Deutschlands decla-
mirt hatte, geschah Aehnliches auch an andern Höfen. Im März 1641 führ¬
ten die kleinen Prinzen und Prinzessinnen in Hessen-Darmstadt mit ihren Leh¬
rern und einigen Hofleuten vor den Eltern ein Schauspiel, „Germanien in
Ueppigkeit, .am, Kriege, in Trauer" aus.*) Den lateinischen Reden im Stile
Cicero's, welche die Fürstenkinder zu allegorischen Figuren verkleidet decla-
mirten, sind Scenen aus dem deutschen Bauernleben eingeflochten. Eine der
letzten ist, wie die Bauern als Bettler im Verhungern sind, und nur durch ein ge-
stohlenes Brod gerettet werden. — Dergleichen wurde zwischen Lachen und Weinen
dramatisch dargestellt!
Deshalb sind sehr viele Verhältnisse, über welche man vergebens in den
Geschichtswerken und Chroniken der Zeit Auskunft sucht, aus den poetischen
Ueberresten der dreißig Jahre zu erklären. Es ist bekannt, daß das Jahr 16l8
in Deutschland noch die breite, behagliche und volksthümliche Weise zu reimen
vorfand, welche zur Reformationszeit neben dem historischen Volkslieds herge¬
laufen war, und daß diese Art Poesie in ganz anderer Weise, als die moderne,
zum Ausdruck der Vvlksstimmungen benutzt wurde. Ungeheuer ist die Anzahl
der gereimten Flugschriften und der fliegenden Blätter, welche mit einem zu¬
weilen gar nicht schlechten Kupferstich versehen sind und durch Text und Bild
einzelne Momente der Zeitgeschichte illustriren. Sie flatterten auch bei der klein¬
sten Gelegenheit aus und flogen mit großer Schnelligkeit durch das Land, in
der ersten Hälfte des Krieges massenhaft gekauft, behend nachgedruckt. Jede
Parteifarbe, jeder Ton der Empfindung wird in ihnen angeschlagen. Sie sind
die populärsten Angriffs- und Vertheidigungswaffen jeder Partei. Bösartige
Hiebe, seine Scttyre, harmlose Neckerei, Zorn, Klage und Siegesfreude schwir¬
ren darin durcheinander. Auch das ist bekannt, wie der Krieg allmälig diese
Art poetischen Schaffens den Deutschen nahm, die Lust und Kraft wurden schwächer,
nur einzeln und dünn klingen zuletzt die Klagestimmen im Volkston; die ge¬
spreizte Kunstpoesie der gebildeten Dichter, welche fast allein übrig blieb, ent¬
behrt die Kraft, die bittere Laune und dle Unmittelbarkeit des Ausdrucks.
Es war die Aufgabe des oben angezeigten Werkes, solche poetische Klänge
aus der Kriegszeit zu sammeln, sofern sie besonders charakteristisch sind oder
zur Erklärung irgend eines geschichtlichen Momentes beitragen. Die Samm¬
lung ist nicht die erste ihrer Art; nach den historischen Volksliedern von Wolfs,
Körner, Soltau und der musterhaften Sammlung von Hildebrand war der
dreißigjährige Krieg auch noch durch den Abdruck fliegender Blätter von Scheible
und zuletzt durch Weller's Sammlung von Liedern und Gedichten vertreten. Das
vorliegende Werk ist in seiner Anlage größer und reicher, die Auswahl mit be¬
sonderer Umsicht getroffen, vieles sehr Seltene, seit dem Kriege nicht wieder
Gedruckte ist darin zu finden, sorgfältige Anmerkungen und ein Wortverzeichnis^
erleichtern den Gebrauch. Die Sammlung enthält sowohl Lieder als Reime, aus¬
nahmsweise auch merkwürdige Prvsastücke, unter diesen den dankenswerthen Abdruck
der höchst seltenen Flugschrieft „Uova, uovg.vt.iqua,." Geordnet sind die Mitthei¬
lungen nach der Zeitfolge: der böhmische Krieg, die Auflösung der Union, Wal-
lensteins Herrschaft, der Eonvent zu Leipzig und die Zerstörung Magdeburgs,
Gustav Adolf's Siege, die Zeit nach Gustav Adolf, endlich religiöse, politische und
sociale Verhältnisse während des Krieges. Eifrig waren die Herausgeber be¬
müht, die Texte frei von Fehlern wieder zu geben, die Anmerkungen enthalten
sehr schätzenswerthe Notizen, über die Veranlassung der Gedichte, über ihre Li¬
teratur und über die.Verfasser, Das Ganze rollt dem Leser ein einziges Gemälde
der harten Zeit auf/, es enthält eine Fülle von echten poetischen Empfindungen
politische Leidenschaft, beißen Zorn, vergebliche Freude, erschütternde Klage.
So wird es eine hoch willkommene Ergänzung der historischen Berichte aus
Die Nachricht, daß der Zoll- und Handelsvertrag zwischen Preußen (für
den Zollverein) und Frankreich am 29. März in Berlin vorläufig festgestellt —
paraphirt — worden ist, ruft bei den Einen die Besorgnis;, hei den Andern
die Hoffnung wach, daß die Dokumente von ihrer Rundreise durch die verschiedenen
Staaten des Zollvereins nicht unversehrt zurückkehren werden. Ein oder die
andere Negierung, so stellt man sich vor, könne, mit oder ohne die Hilfe ihrer
getreuen Stände, ihr Veto einlegen und dadurch dem mühsam geförderten Werke
den Garaus machen. Manche halten es sogar für möglich, daß dieser Vertrag
eine Kündigung der Zollvereinsverträge herbeiführt, so daß an ihm der Zoll¬
verein mit dem Ablauf seiner Vcrtragsperiode im Jahre 1865 in Trümmer
gehen werde. Es offenbart sich an dieser Lebensfrage für die nächste Entwickelung
des deutschen Verkehrs, wie überall, wo gemeinsame Interessen in Frage kommen,
eine Zerfahrenheit der Meinungen, die nichts weiter ist als eine Folge der
Anarchie, welcher die Leitung und Pflege der nationalen Interessen durch die
Verfassung und Einrichtung des Zollvereins preisgegeben sind. Spaltungen
zwischen verschiedenen Zweigen wuthschastlicher Thätigkeit über Tarifsätze, über
Beschränkung oder Freigebung der Concurrenz, kommen überall vor. Die eng¬
lischen Grundherren und Pachter stritten heftig gegen die Umwandlung der
„gleitenden Scala" der Kornzölle in mäßige feste Sätze. Die Schiffbauer und
Rheder weissagten den Untergang von Alt-Englands Seefahrt und Handel als
Folge der Aufhebung der Navigationsacte, d. h. des Ausschlusses fremder Flaggen
von dem Transporte gewisser Waaren und von gewissen Fahrten von und nach
den Häfen Großbritanniens und seiner Kolonien. Unablässig tobte in Frankreich
der Kampf zwischen dem Binnenlande und den Seestädten, zwischen dem fabri-
cirenden Norden und dem weinbaucndcn Süden, zwischen der Rübe und dem
Zuckerrohr. Kaum verklungen ist in dem Saale des gesetzgebenden Körpers zu
Paris der letzte heftige Wuthausbruch einiger Industriellen aus Rouen und
Lille gegen den Handelsvertrag mit England, dem sie die Wirkung aller Plagen
Aegyptens andichteten, weil er die Einfuhr englischer Fabrikate von den Ver¬
boten oder Verbotszöllen befreite. Der Streit entgegengesetzter Interessen gegen
einander und gegen das Gemeinwohl wird sich überall hören und fühlen lassen,
aber er wird auch in jedem geordneten Staate eine der Einsicht und dem
Bildungsgrade der Gesellschaft entsprechende Lösung durch die Organe der
Gesetzgebung und Verwaltung finden. Hat ein System oder ein Act der Ver¬
kehrs- und Handelspolitik die Sanction der Factoren der Gesetzgebung erhalten,
so bleiben sie in Kraft, bis auf gleichem Wege eine Abänderung erfolgt. Kein
Theil des politischen Staatsganzen wird daran denken, sich dem allgemeinen
Gesetze zu entziehen, oder gegen dessen Anwendung Einsprache zu erheben. Die
handelspolitische Sonderstellung, die Trennung durch Zollschranken einzelner
Städte und Provinzen desselben Staates gehört der Vergangenheit an, einer
unfertigen Biidungsperivde, höchstens ist sie noch denkbar bei Staatengruppcn,
die nichts mit einander gemein haben als das Oberhaupt, wie Schweden und
Norwegen, wie früher Ungarn und Oestreich, oder bei einem Mutterlande und
seinen entlegenen Kolonien oder sonstigen Besitzungen. Dies gilt nicht allein
für.den Einheitsstaat, sondern auch für mehr oder weniger selbstständige, aber in
einem Bunde vereinigte Staaten. Die Verfassung der Nordamerikanischen
Union überträgt der Centralgewalt die gesetzliche Regelung des Zvllwcscns,
und je nach dem Grade des Einflusses der nördlichen oder südlichen In¬
teressen schwankte der Tarif zwischen höhern und niederen Sätzen; aber wie sie
auch sein mochten, sie galten für die gesammte Union, kein Staat dürfte
sich denselben entziehen, so lange er nicht, wie dies jetzt von den Südstaaten ge¬
schehen ist. das gemeinsame politische Band mit Gewalt zerriß. Die schweizerische
Eidgenossenschaft erkennt als einen der größten Vorzüge der Verfassung von
1848 die Zvlleinheit, durch welche es möglich geworden ist, die zahlreichen und
lästigen Binnenzölle aufzuheben. Beide Staatcnvcrbände aber, der amerikanische
wie der schweizerische, haben in den Zolleinnahmen die Hauptauelle ihrer Bun¬
desfinanzen zur Bestreitung der Ausgaben für ihre Bundeszwecke. Nur in
Deutschland ist jeder, auch der kleinste Bundesstaat, berechtigt, eine selbständige
Handelspolitik zu treiben und seine Grenzen mit einer Svndermauth auszu¬
statten. Da jedoch die Verhältnisse den meisten Bundesstaaten nicht mehr ge¬
statten, von diesem Ausflusse ihrer Souveränetät Gebrauch zu machen, so haben
sie sich durch Verträge zu einem größern Handclsgebiete zusammen gethan, aber
immer nur auf eine Zeit von zwölf Jahren und unter der Bedingung, daß
alle Beschlüsse über Modificationen der vereinbarten Bestimmungen einstimmig
gefaßt werden müssen. Keine gemeinsame Verwaltung und Vertretung des
Zollvereins ist vorhanden, um seine Einrichtungen nach den wechselnden Be¬
dürfnissen fortzubilden, und um den Widerstand des Einzelnen gegen nützliche,
ja nothwendige handelspolitische Maßnahmen zu brechen. - Keine Verfassung
überhebt das deutsche Handelsgebiet der Gefahr, mit Ablauf von je zwölf
Jahren in Stücke zu zerfallen, und sichert den Verkehr vor den Stockungen,
welche mit dem Fieber der Unsicherheit jeweiliger Vertragserneuerung ein oder
zwei Jahre anzudauern pflegen. Die Mängel einer Verfassung, Verwaltung
und Vertretung des deutschen Handelsbundes sind nicht etwa Fehler oder Ueber-
sehen derjenigen, die an der Gründung desselben und an dem Abschlüsse der
Verträge Theil genommen haben, sondern sie wurzeln in der deutschen Eigen¬
thümlichkeit, die es uns viel schwerer macht als es anderen Nationen geworden
ist, aus sich heraus die zu ihrer Sicherheit und ihrem Gedeihen erforderlichen
Einrichtungen zu gestalten. Aber mit dem erkannten Bedürfnisse wachsen die
Anstrengungen und bereiten Erfolge. Wenn der politische wie der Handels-
bund nur so, wie sie sind, oder gar nicht, zu Stande kommen konnten, so ist
doch die Nothwendigkeit von Reformen gegenwärtig allgemein anerkannt, und
für den Zollverein wird die Erkenntniß gerade durch den Umstand gefordert,
daß der Handelsvertrag mit Frankreich und der Fortbestand des Vereins fast
gleichzeitig in Frage kommen.
Die Uebereinkunft mit Frankreich enthält vier Verträge. Einen Handels-,
einen Schifffalntsvertrag, eine Uebereinkunft wegen der Zollabfertigung des
internationalen Verkehrs aus der Eisenbahn und eine Uebereinkunft wegen ge¬
genseitigen Schutzes der Rechte an Erzeugnissen der Literatur und der Künste.
Neben diesem Schutze gegen Nachdruck und Nachbildung, zu welche»! in
dem ersten Vertrag noch der Schutz der Muster und Fabrikzeichen kommt, ist
der Zweck des Ganzen die Erleichterung des Austausches der Erzeugnisse beider
Handelsgebiele durch Ermäßigung der Eingangszölle, Aufhebung der Durch-
und Ausgangsabgabcn (nur für Lumpen bleibt ein Ausfuhrzoll von l'V-> Thaler
pr. Centner), durch Erleichterung des Transports und durch freien Geschäfts¬
betrieb der Angehörigen des einen Landes in dem Gebiete des andern. —
Diese umfangreichen Dokumente sind nun von Preußen an seine Zollvcrbünde-
ten abgesendet, um ihre Zustimmung einzuholen. Besondere Eommissärc werden
sich für diesen Zweck bei den Regierungen in München, Stuttgart und Han¬
nover, wo vielleicht mehr als gewöhnliche Anstände besorgt werden, bemühen.
Der französische Bevollmächtigte, Herr de Clercq nimmt auf der Heimreise
von Berlin nach Paris seinen Weg durch Süddeutschland, wahrscheinlich in der
Absicht, dort einige Gründe gegen allzu lange Verschiebung der Entschließung
über „Annehmen oder Ablehnen" vorzutragen. In dem Schlußprotvtollc hat
Preußen seine eifrige Verwendung für den Beitritt der übrigen Zollvereins-
Staaten zugesagt, und Frankreich hat erklärt, es setze voraus, daß die Zustim¬
mung innerhalb Monatsfrist erfolge. Es kann den also umworbener Regie¬
rungen nur angenehm sein, ihr Selbstgefühl an den Zeichen so eifriger Be¬
mühung um ihr Jawort zu stärken; allein einige von ihnen werden auf den
weitern Genuß nicht verzichten wollen, die Bedenkzeit nach ihrem Gutdünken
zu verlängern. Zwar kann der Inhalt der Verträge die Zvllverbündeten nicht
überraschen, da sie von dem Gange der Verhandlungen fortwährend in Kennt¬
niß erhalten worden sind. Als im Spätherbste des vorigen Jahres die Ver¬
handlungen ins Stocken gerathen waren, wurden ihnen die Differenzpunkte
mitgetheilt, und sie erklärten sich einverstanden mit den Vorschlägen Preußens.
Aber es ist eine Genugthuung, welche der deutsche souveräne Particularismus
sich nicht gern versagt, die eigene Wichtigkeit suhlen zu lassen, und die erprobte
Langmuth Preußens auf immer neue Proben zu stellen. Baiern läßt, nach
Berichten öffentlicher Blätter, sämmtlichen Handelskammern die Actenstücke zu¬
gehen, außerordentliche Landtage stehen hier und dort in Aussicht, um über den
Vertrag zu berathen und zu beschließen. Es sind dies Nothbehelfe in Er¬
manglung einer Vertretung des gesammten Handelsbundes; allein nicht immer
werden sie benutzt, um die Entschließung über Gebühr hinauszuschieben. Im
vorliegenden Falle läßt sich voraussehen, daß die vierwöchentliche Frist längst
abgelaufen sein wird, bevor die Zustimmung sämmtlicher Zollverbündeten in
Berlin eintrifft. Ist dies aber geschehen, so wird es nöthig, den Vereinstarif
umzuarbeiten, um die zahlreichen Aenderungen, welche nach der bisherigen Ue¬
bung nicht ausschließlich für französische Erzeugnisse, sondern als allgemeine
Zollsätze für die Einfuhr in das Vcreinsgebiet gelten sollen, dem Tarife einzu¬
verleiben. Zu diesem Zwecke wird eine allgemeine Zollconferenz berufen wer¬
den, und ihre Arbeiten werden -— diese Behauptung ist nicht allzutuhn — im
Jahre 1862 kaum zum Abschlüsse kommen. Das Jahr 1863 aber muß
nach Maßgabe der Zollvereinsverträge die Entscheidung der Frage bringen, ob
von irgend einer Seite die Verträge gekündigt werden, oder nicht. Eine Kün¬
digung aber wird vor Ablauf des Jahres 1863 stattfinden müssen, wenn nicht
über die erforderlichen Modifikationen ein einstimmiger Beschluß vorher erzielt
wird.
In dieser Weise wirkt der mit Frankreich abgeschlossene Handelsvertrag
dem Inhalte und der Zeit nach wesentlich aus die Entscheidung über den Fort¬
bestand des Zollvereins ein. Das Zusammentreffen zweier Lebensfragen für
den deutschen Markt und seine Betheiligung an dem internationalen Verkehr
läßt die Mängel der Verfassung und Verwaltung in voller Stärke hervortreten,
insbesondere den Uebelstand, daß die Zukunft des deutschen Verkehrslebens der
Laune einer kleinen Regierung oder dem Zufall einer Abstimmung in einer
Kammer von 14 oder 7 Mitgliedern, wenn nicht gänzlich preisgegeben sein,
"doch durch so geringfügige Umstände auf Jahre hinaus gestört und verkümmert
werden soll. Daran knüpft sich folgerichtig der Wunsch, daß der gegenwärtige,
für die Zukunft des Handelsbundes so wichtige Zeitpunkt benutzt werden möge,
um eine bessere Organisation entweder durch Vereinbarung festzustellen, oder
durch Kündigung der Verträge anzubahnen. Müssen wir auch zugeben, .daß
durch die neueste Wendung der Dinge in Berlin die Aussichten auf einen
wünschenswerthen Fortschritt in der Organisation des Zollvneins wesentlich
gemindert find, so glauben wir doch in Beziehung auf die Nächstliegende Frage,
den Handelsvertrag mit Frankreich, keinen Besorgnissen Raum geben zu dürfen.
Mag die Zumuthung. eine Frage, welche Preußen an sie richtet, mit Ja zu
beantworten, dem Welsen und dem Wittelsbacher noch so schwer fallen; mögen
die vereinbarten Tarifsätze dem Schutzzöllner zu niedrig, dem Freihändler noch
immer zu hoch dünken; mag das Verbot der Nachbildung von Fabrikzeichen
und Mustern, die freie Zulassung von Geschäftsreisenden manchem Industriellen
nicht angenehm sein: den Ausschlag in der Sache geben doch ganz andere Be¬
trachtungen. Die Zeit der gegenseitigen Absperrung gegen die Bewegung der
Menschen und Güter ist für Europa vorüber. Die Länder wollen mit einan¬
der verkehren, sie wollen Arbeit und Producte gegenseitig austauschen. Preu¬
ßen hat im Jahre 1818 zuerst unter den größeren Staaten das Beispiel eines
verhältnißmäßig liberalen Tarifs aufgestellt. Allein die Fortschritte der an¬
deren, von England ausgegangen, von Frankreich aufgenommen, haben diesen,
ohnehin den geänderten Verhältnissen nicht mehr zusagenden Tarif weit hinter
sich zurück gelassen. Auch ohne Vertrag hätte der Vereinstarif bald einer
durchgreifenden Revision unterzogen werden müssen; daß diese mit dem Ver¬
trage zugleich eintritt, ist ein Vortheil, welcher dem Zollverein Antheil an dein
leichteren Verkehr mit Frankreich verschafft. Der Zollverein konnte unmöglich
mit seinem veralteten Tarife außerhalb der Umgestaltung des Völkerverkehrs
stehen bleiben, welche bald alle europäischen Länder in neue engere Beziehungen
bringen und kriegerische Störungen und Entscheidungen immer schwieriger und
seltener machen wird. Wie bei der Entstehung des Zollvereins und bei der
jeweiligen Erneuerung seiner Verträge, so werden auch diesmal Stimmen der
Unzufriedenheit über vermeintlich verletzte Interessen laut werden, politische
Engherzigkeit, particularistischer Unverstand, schlimme Leidenschaften werden sich
sehr breit machen; schließlich aber wird dennoch geschehen, was nicht zu ändern
ist: der Zollverein wird den Handelsvertrag mit Frankreich annehmen. An
diesem Erfolge zweifeln wir nicht, und wir werden uns desselben freuen.
Ob aber die wünschenswerthen Garantien für die Dauer und die zeitgemäße
Fortbildung, des Zollvereins durch Verbesserung seiner Organisation ebenfalls
gewonnen und am Schlüsse der gegenwärtigen Vcrtragsperiode eingeführt wer¬
den, ob wir alsdann keine neuen periodischen Verträge, sondern eine dauernde
Verfassung haben werden, dies möchten wir, wie gegenwärtig die Dinge liegen,
nicht mit gleicher Zuversicht behaupten.*)
Die Tagendes 8. und 9. März 1862 bezeichnen einen Umschwung in der
Kriegführung zur See, wie er seit Erfindung der Dampfschiffe und deren An¬
wendung in der Kriegsmarine, ja wie er fo plötzlich und gründlich auf diesem
Gebiet überhaupt noch nicht vorgekommen ist. Der Kampf zwischen dem „Mer-
rimac" und den Segelschiffen „Congreß" und „Cumberland" bewies, daß
hölzerne Segelschiffe gepanzerten Dampfern gegenüber vollkommen impotent,
bloße Schlachthäuser für ihre Mannschaften sind. Der Kampf zwischen der
großen Panzcrfregatte der Conföderirten und den Dampfern des Bundesge¬
schwaders auf der Hamptoner Rhede zeigte ferner, daß die einzige Sicherheit
hölzerner Dampfer bei einem Zusammentreffen mit gepanzerten in ihrer Schnel¬
ligkeit, d. h. in schleuniger Flucht liegt. Der Kampf endlich zwischen dem
„Merrimac" oder, wie die Conföderirten ihn nennen, der schwimmenden Bat¬
terie „Virginia" und dem „Monitor" lieferte den Beweis, daß selbst Panzer¬
sregatten, wie sie in den letzten Jahren in England und Frankreich construirt
wurden, sich in wesentlichen Dingen noch überbieten lassen. Wir dürfen in
Folge dessen für ausgemacht betrachten, daß die Schiffsbaukunst, soweit sie für
Kriegszwecke arbeitet, von jetzt an völlig andere Wege gehen muß, daß von
hölzernen Kriegsschiffen fernerhin kaum noch die Rede sein kann, und daß die
numerische Uebermacht der englischen und französischen Marine über die ameri¬
kanische seit jenen denkwürdigen Märztagen ihre Bedeutung zum großen Theil
verloren hat.
„Während wir," so drückt die „Times" diese ^Erfahrung aus. „bisher 149
Kriegsschiffe ersten Ranges zu unmittelbarem Gebrauch bereit hatten, haben wir
nunmehr nur noch zwei: den „Warrior" und seine Schwester „Jronfide".
Außer diesen beiden ist in der englischen Flotte kein einziges Schiff, welches
man, ohne wahnwitzig zu sein, jenem kleinen „Monitor" gegenüberstellen
könnte."
Wir möchten nach dem bis jetzt vorliegenden Material zur Beurtheilung
der Sachlage sogar noch weiter gehen und fragen: ist denn selbst der „War¬
rior" einer Batterie wie der ..Monitor" gewachsen? ja ist er auch nur einem
Panzerschiffe von der Construction der „Virginia" gewachsen? Die Kanonen
des „Monitor" schleuderten Geschosse, deren Gewicht sich zu dem der Kugeln,
welche der „Warrior" schießt, wie 18 zu 10 verhält. Dagegen läßt sich ein¬
wenden, daß die Pcrcussionskraft der englischen Armstrongkanone auf weite Entfer¬
nungen größer ist als die der amerikanischen Dahlgren-Geschütze. Aber wie steht es
mit der Verwundbarkeit der Fahrzeuge, die wir uns hier als Gegner denken?
Der „Monitor" scheint fast vor jeder Verletzung durch irgend eine gegenwär¬
tig existirende Artillerie gesichert. Ist''dies auch der „Warrior" ? Die Ant¬
wort lautet: seine beiden äußersten Enden sind ungepanzert und würden nach
wenigen Minuten in hellen Flammen stehen, wenn er mit der amerikanischen
schwimmenden Batterie im Kampf zusammenstieße.
Dazu kommt aber noch ein anderes wichtiges Moment, welches selbst die
vom „Monitor" besiegte „Virginia" stärker und zweckmäßiger gebaut erscheinen
läßt als die englischen Panzerschiffe. Als England Eisenbahnen statt der
Ebaussecn herstellte, machte es die Waggons der erstern so ähnlich als möglich
den Postkutschen, die bisher auf den letzteren benutzt worden waren. Und als
es Panzerschiffe zu bauen begann, hielt es sich so viel als thunlich an die Ge¬
stalt und Einrichtung seiner bisherigen Holzschiffe und strebte nach Unverwund¬
barkeit nur dadurch, daß es Eisenplatte ans Eisenplatte häufte, statt eine Form
zu wählen, die ein so schweres metallenes Kleid unnöthig gemacht hätte. Die
Folge ist. daß die britischen Panzerdampfer mit ihren verticalen Seiten, gegen
welche jedes schwere Geschoß mit voller Wirkung anprallen muß, vermuthlich
selbst der „Virginia" mit ihren anders gestellten Wänden, von welcher die
Kugeln der schwersten Geschütze des „Congreß" und „Cumberland" wie Kiesel¬
steine abprallten, nicht lange Widerstand leisten würden.
Das Princip, nach welchem der „Merrimac" zur gepanzerten Batterie
„Virginia" umgebaut wurde*), war ein sehr einfaches. Es war dasselbe, wel-
ches die Insurgenten schon bei der Construction der schwimmenden Batterie
angewandt hatten, mit der sie den Hafen von Charleston zu sichern suchten,
und weiches später bei Erbauung der Panzerfahrzeuge diente, mit denen die
Bundesregierung die Verschanzungen der Insurgenten am Mississippi und an
den Flüssen in Tennessee so erfolgreich angriff. Dieses Princip besteht im We¬
sentlichen darin, daß die „Virginia" in ihrem obern über dem Wasserspiegel
erhabenen Theil die Gestalt eines schrägen Hausdaches hat und so der Feuer-
linie eine geneigte Fläche von 45 Graden zukehrt, welche selbstverständlich die
Kraft der auftrcffcnden Kugeln beträchtlich vermindert. Dazu aber kam bei
der „Virginia" noch ein doppelter scharf zugespitzter Stahlschnabel zum Nieder¬
rennen und Durchbohren der feindlichen Schiffe — eine Waffe, die sich am
Bug des „Cumberland" nur zu sehr erprobte, gegen den „Monitor" aber nichts
vermochte.
Fahrzeuge wie die „Virginia" werden nothwendig unbehülflich und schwer¬
fällig in ihren Bewegungen sein. Sie können, wenn auch nicht leicht, durch
Geschütze von großem Kaliber und starker Pcrcussionskraft verletzt und bei län¬
gerem Kampf zerstört werden. Nur wenige ihrer Kanonen lassen sich zu gleicher
Zeit verwenden. Der „Monitor" hat die meisten dieser Mängel vermieden,
und er würde, wen» die „Virginia" ihm länger Stand gehalten hätte und
ihm erlaubt gcwssen wäre, statt gegossener Kugeln die ihm mitgegebenen 400
geschmiedeten zu verschießen, aller Wahrscheinlichkeit nach seine Gegnerin ver¬
nichtet haben, obwohl diese mit 10, er nur mit 2 Geschützen armirt und die
„Virginia" von dreimal größerem Tonnengehalt war als er.
Der „Monitor", von dem aus der schwedischen Provinz Wermeland ge¬
bürtigen, bereits als Erfinder der calorischem Maschine bekannten, jetzt im
Staat Neuyork wohnenden Capitän John Erichson erbaut, vereinigt in sich eine
große Anzahl von Vorzügen. Er ist verhältnißmähig wohlfeil, denn er kostete
nicht mehr als 400,00» Thaler unseres Geldes. Es bedürfte zu seiner Er¬
bauung nur kurze Zeit, denn er wurde binnen drei Monaten hergestellt. Er
zeigt eine bis jetzt unerhörte Widerstandsfähigkeit und die gewaltigste Kraft
beim Angriff.
Die Ericssonsche Batterie ist ein Fahrzeug mit flachem Boden, in ^der
Mitte breit, an beiden Enden schmaler, ein verlängertes Oval, etwa von der
Gestalt einer länglich runden Schüssel. Ueber dieser Schüssel, dem Schiffs-
rumpf oder dem Unterkörper des Fahrzeugs, der 124 Fuß lang, an der brei¬
testen Stelle oben 34 Fuß breit und KV2 Fuß tief ist, liegt wie eine große
Stürze ein oberer Schiffstheil von 174 Fuß Länge, 40 Fuß Breite und S Fuß
Höhe, der vollkommen flach ist, und dessen Ränder, nach den angegebenen
Größenverhältnissen über die untere Hälfte des Fahrzeugs hinausragend, nach
dem Wasser zu umgebogen sind und so eine Schutzwehr für die Maschine und
tels Steuer bilden. Seine Seitenwände sind senkrecht angelegt, seine Enden
laufen nach vorn und hinten scharf zu, am Bug unter einem Winkel von 80
Graden. Während der untere Theil von Eifer ist und nur V« Zoll starke
Wandungen bat, besteht der obere aus dreißigzölligcn Eichenbohlen, die innen
nur eine dünne Eisenbekleidung haben, auswendig aber mit einem Panzer acht¬
zölliger Eisenplatten versehen sind.
Auf dem Deck sieht man weder Schanzverkleidung noch Geländer, sondern
nur einen Thurm, welcher die Geschütze des Fahrzeugs trägt, ein Steuerhäus¬
chen und den Schornstein, der mit einer Kappe gesichert ist und überdies bei
einem Kampf in den Schiffsrumpf geborgen werden kann, indem er sich wie
ein Fernrohr zusammenschieben läßt. Der Thurm erhebt sich im Centrum des
Fahrzeugs. Er ist rund, hat bei einer Höbe von 10 Fuß einen Umfang von
64 Fuß und muß, durch Dampfkraft drehbar und mit zwei elfzölligen Colum-
biaden armirt, als eine bewegliche Schanze bezeichnet werden. Seine Wände
bestehen aus acht Schichten einzölliger Eisenplatten, die innen mit Schrauben
befestigt sind, so daß sie, locker geworden, ohne Mühe wieder festgeschlossen
werden können. Die Verbindungen derselben sind so eingerichtet, daß niemals
zwei zugleich von einem Schuß getroffen werden. Das Dach des Thurms ist
flach und besteht aus Eisenplatten, die auf Balken von Schmiedeeisen ruhen und
durchbohrt sind, so daß das Tageslicht in das sonst finstere Innere fallen kann.
Ein Rad. welches durch eine doppelte Cylindermaschine bewegt wird, dreht den
Thurm nach dem Belieben des Befehlshabers, der durch einen in das Gestänge
der Maschine eingreifenden Stab die Richtung des Thurms und seiner Kanonen
bestimmt. Letztere, welche Kugeln von 1,84 Pfund schießen, bewegen sich auf
geschmiedeten Schienen, und ihre Lafetten erlauben die sorgfältigste Bedienung.
Sobald das Fahrzeug in ein Gefecht eintritt, kommt zu der Panzerung
mit Eisen, die den obern Theil schützt, noch eine andere. Die See.selbst muß
dem „Monitor" als Panzerkleid für den größern Theil seiner Wandungen dienen,
was durch eine Vorrichtung bewirkt wird, vermittelst welcher die ganze schwim¬
mende Batterie soweit versenkt werden kann, daß der untere blos aus dünnem
Eisen bestehende Theil derselben vollständig und der obere noch 3 Fuß L Zoll
ins Wasser taucht, letzterer also blos noch 18 Zoll über den Meeresspiegel her¬
vorragt. Die feindlichen Geschütze haben somit nur diese 18 Zoll Seitenwand,
das flache Deck, den Eiscnthurm und das ebenfalls stark gepanzerte Steuerhäuschen
zum Ziele. Der untere Körper aber liegt so tief, und seine Wandungen sind
so construirt, daß eine Kugel, um ihn zu erreichen, zunächst eine Strecke von
25 Fuß im Wasser durchlaufen müßte und dann immer nur unter einem Winkel
von 10 Graden auf die geneigte Eisenfläche treffen könnte.
Buche somit nur die Möglichkeit, das Fahrzeug durch Entern zu nehmen.
Aber auch dafür ist gesorgt. Die Enterer würden aus einem flachen, von der
Fluth überspülten Deck stehen und vor dem Feuer der Kanonen des Thurms,
mit dem sich durch die Bohrlöcher in den Wänden des letztem Musketenfeuer
verbinden könnte, durch nichts geschützt sein. Der einzige Eingang zum Innern
des Schiffs aber befindet sich aus der Höhe des Thurms und ist nur für einen
Mann groß genug.
So ist denn der „Monitor" ein Schiff, welches einerseits hinreichend gepan¬
zert ist, andrerseits doch in Gewässern agiren kann, die sonst nur Kanonenbooten
den Zugang gestatten, und welches durch die Drehbarkeit seines eisernen Forts
die Mündungen seiner Kanonen stets auf den Feind gerichtet halten kann, ohne
selbst wenden zu müssen. Ccipitän und Mannschaft der .„Virginia" erfuhren
die Vortheile dieser Einrichtung zu ihrem Schrecken auf das Gründlichste. Mochten
sie sich drehen wie sie wollten, immer starrten sie die beiden -großen Feuerschlünde
des Gegners an, und sobald sie eine verwundbare Stelle zeigten, schlug eine
Kugel in dieselbe ein. Fraglich mag sein, ob der „Monitor" im Stande wäre,
sich auf die hohe See zu wagen, und wir sind geneigt, diese Frage zu ver¬
neinen. Dagegen ist kein Zweifel, daß das Ericssonsche Fahrzeug sich vortrefflich
zum Angriff sowie zur Vertheidigung von Häfen eignet, und daß es im Stande
sein würde, bei einem Treffen in Küstcngewässern binnen wenigen Stunden die
größte hölzerne Flotte zu vernichten, gleichviel ob dieselbe aus Segel- oder
Dampfschiffen bestände.
Capitän Erichson hat den Namen „Monitor" (Ernährer), den er seiner
Erfindung gegeben, mit folgendem Brief an den Marinesecretär Fox in Washing¬
ton motivirt:
Auf Ihr Verlangen unterbreite ich Ihrer Genehmigung jetzt einen Namen
für die schwimmende Batterie zu Greenpoint. Die Unverwundbarkeit und An¬
griffskrast dieses Baus wird die Führer der südlichen Rebellion daran mahnen,
daß die Batterien an den Ufern ihrer Flüsse fernerhin keine Schranken mehr
bilden werden für das Eindringen der Bundesstreitkräfte. Der cisenbekleidete
Eindringling wird sich so als ein ernster Mahner für jene Führer erweisen.
Aber es gibt noch andere Führer, welche der Donner der Kanonen von dem
uneinnehmbaren Eisenthurm ebenfalls erschrecken und ernähren wird. Downing-
street wird schwerlich mit Gleichgiltigkeit auf diesen neuesten Uankec-Einfall,
diesen Monitor, blicken. Für die Lords der Admiralität wird dieses neue Fahr¬
zeug ein Mahner sein, der ihnen Zweifel einflößen wird, ob es gerathen, jene
vier stahlgepanzcrten Schisse zu vollenden, die jedes vierthalb Millionen kosten.
Auf diese und viele ähnliche Gründe hin schlage ich vor, die neue Batterie „Moni¬
tor" zu nennen.
In einem andern Briefe spricht der Capiteln noch deutlicher in Betreff Eng¬
lands, wenn er sagt: „Ich werde mir alle Mühe geben, die Nation mit Kriegs¬
schiffen zu versehen, welche uns in den Stand setzen, Europa die Spitze zu
bieten. Gebe man mir nur die erforderlichen Mittel, und in sehr kurzer Zeit
werden wir zu jenen Mächten, die jetzt darauf aus sind, die republikanische Frei¬
heit zu vernichten, sagen können: Fort aus dem Golf mit euren zerbrechlichen
Flotten oder es ist euer Verderben!"
Diese Worte klingen ein wenig großsprecherisch, sind es aber in Wirklich-
lichkeit nicht. Der „Monitor" ist in der That ein ernster Mahner für die süd¬
lichen Insurgenten gewesen. Ein halb Dutzend Fahrzeuge dieser Gattung, drei
Monate früher fertig geworden, würden die ungeheuren Kosten des Bürgerkriegs
zur Hälfte erspart, würden den Potomac, den James- und den Dort-River ge¬
säubert, Norfol? sammt seinem gewaltigen Panzerschiff genommen und Charleston,
Savannah, Pcnsacola, Mohne und Neuorleans bombardirt und zur Unterwerfung
gezwungen haben.
Der ..Monitor" ist ferner ebenso unzweifelhaft eine Mahnung an die
beiden Seemächte Europas. In drei Monaten kann die Union sehr wohl die
jetzt im Bau begriffne Batterie Stevens, die sich zum „Monitor" verhält wie
dieser zur „Virginia" und 20 Miles in der Stunde zurücklegt statt wie jener
nur 7, und nebenher noch etliche Monitors fertig haben, und dann wäre ein
„(Zuos LZv" von Washington gegen die Franzosen und Spanier, die jetzt in
Mexico die Monroe-Doctrin auf den Kopf stellen zu können meinen, kein Ding
der Unmöglichkeit; dann ließe sich nickt blos von amerikanischen Köpfen selbst
eine Zerstörung der vor Veracruz und sonst im Golf liegenden europäischen
Flotten, eine Vernichtung des gegen Mexico marschirten französisch-spanischen
Heeres und ein Bombardement der Havannah denken.
Ein amerikanischer Monitor wird, wie es scheint, allerdings nicht geeignet
sein, sich über das Atlantische Meer in europäische Gewässer zu begeben. Wohl
aber ist. wie wir hören, bereits sein Plan und Modell nach Frankreich gelangt,
und wenn hier rasch ans Werk gegangen wird, so wird die französische See¬
macht in weniger als einem Jahre die furchtbarste der Welt sein, die furchtbarste
wenigstens in Europa.
Zweifelsohne weiß man das auch in England und wird man darnach ver¬
fahren. Aber man sollte, meinen wir, das auch bei uns wissen, allenthalben,
wo für deutsche Kanonenboote unter preußischer Flagge gesammelt und gesteuert
wurde, in Bremen, wo man vor sechs Monaten so viel Flotteneifer entwickelte
und wo jetzt so kühle Stille herrscht, vor Allem aber in Berlin im Cabinet
des Herrn Marmcministers, dessen bisherige Langsamkeit in der Vervollständi¬
gung der preußischen Marine unter diesen Umständen eilf ein Segen erschei¬
nen muß, dem aber von jetzt ab raschere Entschlüsse dringend zu wünschen sind-
Der Monitor mahnt die Generale und Politiker der Sklavenhalter zur
Ueberlegung. Er mahnt ferner die Seemächte, die bis jetzt als große galten,
daß sie Gefahr laufen, einen großen Theil ihrer Macht einzubüßen. Er ist
aber auch — man entschuldige die Predigerwcndung — ein lauter und lebhafter
Mahner an unsre deutschen Interessen. Er sagt uns, daß, da allenthalben von
vorn angefangen werden muß, auch wir Aussicht haben, bei einiger Energie
eine Seemacht zu werden, die einen Angriff jener großen auf ihre Küsten nicht
zu scheuen hätte. Er sagt uns ferner, daß der ganze Plan unsrer Küstenver¬
theidigung, wie er jetzt in Hamburg berathen werden soll, geändert werden muß,
daß unsre Schanzen und Batterien an Weichsel und Oder, Elbe und Weser
Kartenhäuser, daß Bremen und Hamburg, Stettin und Danzig verloren, daß
sämmtliche Schiffe der preußischen Flotte nicht mehr als ebensoviele Nußschalen
sind, wenn ein Krieg ausbrüht, in welchem auf Deutschland'feindlicher Seite
ein einziges Schiff Ericssvnscher Construction aufteilt, daß wir uns aber unan¬
greifbar stark machen können, wenn wir ebensolche Fahrzeuge bauen. Und er
fügt sehr zu unsrer Befriedigung hinzu, daß wir zu solcher Rüstung nicht mehr
als etwa ein halbes Dutzend von jenen Schiffen bedürfen, daß dieses Monitor-
Geschwader sich für die verhältnißmäßig geringe Summe von dritthalb bis
drei Millionen Thaler herstellen lassen würde, und, daß wenn man mit Eifer
ans Werk schritte, sämmtliche Schiffe in weniger als zwölf Monaten, mit der
schweren gezogenen Kanone preußischen Systems armirt, in See gestellt sein
könnten, als Wächter unsrer Küsten und Flußcinfahrten und bei der ersten
Gelegenheit als Monitoren, als Mahner an das, was Dänemark uns
schuldet.
Es ist oft und mit Recht bemerkt worden, daß wir nicht die Muskete im
Munde über die Bette nach Kopenhagen schwimmen können. Diese Unmöglich¬
keit hat jetzt ein Ende genommen, und es kommt nur noch auf den guten
Willen an, um zu sehen, daß das Unerreichbare erreichbar geworden ist.
Teutsch? Nationalbibliothek. Volkstümliche Bilder und Erzählungen aus
Deutschlands Vergangenheit und Gegenwart. Herausgegeben von Ferdinand Schmidt.
Berlin. Verlag von Brigl und Lobeck.
Soll in einer Reihe populär gehaltner Schriften, hervorgegangen aus der Fe-
der hervorragender deutscher Geschichtschreiber, ein Gesammtbild deutschen Lebens
und deutscher Geschichte entrollen. Unter den Mitarbeitern, welche der Prospect an¬
kündigt, finden wir Droysen, Gewinns, Giesebrecht, Hausier, Ranke, Waitz und
Weber, dann Namen zweiten Ranges wie Beitzke, Biedermann, die beiden Falke,
Klüpfel und Kutzen, serner nicht, endlich auch den Herrn Professor Dr. Wuttke und
den Herrn Rector Dr, Masius in Dresden, dessen Anstellung als Professor der Pä¬
dagogik in Leipzig die dortige philosophische Facultät sich soeben verbeten hat.
Selbstverständlich wird ein Theil der Beiträge sehr Tüchtiges enthalten, und die
bis jetzt vorliegenden Hefte: „Germanien in den ersten Jahrhunderten seines geschicht¬
lichen Lebens von G. Weber" und „die ritterliche Gesellschaft im Zeitalter des Frauen¬
cultus von I. Falke" sind in der That alles Lobes werth. Wie der Herausgeber
aber, bei dieser 'Durcheinandermischung von gründlichen Gelehrten und Dilettanten,
großdentsch und kleindentsch Gesinnten, ein „Gesammtbild" deutscher Art und Ent¬
wickelung, das doch im Wesentlichen auf einem Grunde der Anschauung ruhen und
von einem Geist durchdrungen sei» müßte, versprechen konnte, ist uns nicht recht
erklärlich.
Als gute populäre Darstellungen naturwissenschaftlicher Gegenstände sind die
folgenden soeben im Berlag von Ambrosius Abel in Leipzig erschienenen mit vielen
erklärenden Holzschnitten ausgestatteten Werkchen zu empfehlen: Anatomie des mensch-
liche» Körpers von H. Seh wann, Professor in Lüttich, aus dem Französischen von
A. Breiter. — Klima und Boden. Die Lehre von der Witterung, die Ver¬
änderung des Wetters und die Gestaltung der Erde. Frei bearbeitet nach der fran¬
zösischen Ausgabe von I. C. Houzeau, Assistenten an der Brüsseler Sternwarte.
— Mechanik. — Beschreibung und Darstellung der einfache» Maschinen nebst Er¬
örterung der mechanischen Principien, auf denen sie beruhen. — Frei bearbeitet nach
der französischen Ausgabe von E. Lefrantzvis, Professor am Athenäum zu Gent.
Das von Professor Zarnckc herausgcbcnc „Literarisch e Centralblatt für
Deutschland" (Leipzig. E. Avenanus) erscheint von jetzt ab in bedeutend er¬
weitertem Umfang und wird auf diese Weise in den Stand gesetzt sein, seinem Pro¬
gramm noch mehr als bisher zu entsprechen, das Publicum eingehender, umfänglicher
und rascher über die neuen Erscheinungen unsrer wissenschaftlichen Literatur in
Kenntniß zu setzen. Wir ergreifen diese Gelegenheit, unsern Lesern dieses Unter¬
nehmen als ein wohlgeleitetes, von achtbaren Kräften unterstütztes bestens zu em¬
pfehlen.
Der Verfasser hat zunächst Nürnberg, dann Regensburg und die Walhalla be¬
sucht und ist dann nach dem Hochland, dem Starenberger, Tegern-, Schlier- und
Chiemsee und von dort nach Salzburg, Se. Gilgen und Se. Wolfgang gewandert.
Weitere Hauptpunkte seiner Reisen waren der Schasoerg, das Traunthal, Linz', Se.
Florian und Moll, Passau, Deggendorf, Altötting, das Unter-Jnnthcrl und die
Scharnitz, Oberammergau, der Eid- und Plansee, das Oder-Jnnthal, der Ortcles,
Innsbruck, das Zillerthal und das Pinzgau, Berchtesgaden, Gosau und Hallstatt und
der Alter- und Mondsec. Hauptsache ist ihm die Natur und die Landschaft, die Men¬
schen und ihre Sitten erscheinen mehr als Staffage, doch ist auch von diesen man¬
ches hübsche Bild eingefügt (wir machen namentlich aus das Kapitel über die Pinz-
gauer und auf die Frau, Bd. 1, S. 199 bis 205 aufmerksam, die das Wallfahrten
und Beten für Andere als Erwerbszweig betreibt und recht ergötzlich geschildert ist)
und zum Schluß folgt eine vergleichende Charakteristik der Altbayern und der Oest¬
reicher, die neben vielem Bekannten auch manches Neue und Interessante enthält und
uns im Wesentlichen das Rechte zu treffen scheint. Im Uebrigen macht der Ver¬
fasser den Eindruck einer stillen, sinnigen Natur, die starke religiöse, bisweilen auch
empfindsame Anwandlungen hat, aber doch Verstand und Sinn für charakteristische
Details genug besitzt, um nicht in bloßen Stimmungen aufzugehen. Zu große Aus¬
führlichkeit in der Schilderung seiner Gefühle und im Ausspinnen von Gedanken,
die eigentlich Reminiscenzen sind, sind die Hauptfehler, die er bei künftigen Arbeiten
dieser Art zu vermeiden haben wirb.
Die Beschreibung einer Reise, welche im März und April 1854 von Suatin
über Kassaia nach Khartum, also vom Rothen Meer westwärts bis z>,.in Zusammen¬
fluß des Weißen mit dem Blauen Nil unternommen wurde. Von Interesse ist
namentlich das, was über. Kassala mitgetheilt ist, eine Stadt an der Grenze Abyssi-
niens gelegen und den Türken gehörig, die sehr selten von Europäern besucht wor¬
den ist. Das Ganze mag denen empfohlen werden, die sich über die Verhältnisse,
unter denen unsre Expedition nach Wadai den ersten Theil ihrer Reise zurückzulegen
hat, unterrichten und zugleich sich unterhalten wollen.
Die großen Hoffnungen, die man im ersten Drittel des Jahrhunderts für
die Entwickelung der deutschen Malerei hegte, scheinen, wie wir gesehen, nicht
oder nur zum geringen Theil in Erfüllung zu gehen. Es war kein Zufall,
es lag vielmehr in der eigenthümlichen Verfassung des modernen deutschen
Geistes, daß sich die Kunst wenig bemühte, eine gründliche Schule durchzu¬
machen und im allmäligen Aufsteigen eine sichere Herrschaft über die Mittel der
Darstellung zu erlangen. Sie hatte sich entschieden nach Gehalt und Form
von der jüngsten Vergangenheit abgewendet, und dieser gewaltsame Bruch hin¬
derte sie an einer tieferen Einkehr in die Periode der vollendeten frühern Kunst;
zudem bewegt von der Anschauungsweise und den Ideen einer neuern Zeit
mochte sie nicht erst, um ihnen Ausdruck zu geben, ihren Bildungsgang durch
eine vergangene Kunstweise nehmen. Sie war wie der ungeduldige Jüngling,
dem in der Sturm- und Drangperiode die inneren Lebensnachen keine Ruhe
lassen und der diesen, noch ehe seine Kraft sich geläutert, seine Phantasie sich
abgeklärt hat, mit einem kühnen Wurfe gleich den mächtigsten Ausdruck zu ge¬
ben sucht. Auch unsere größten Kunstwerke haben etwas von der Unreife des
sich überstürzenden jugendlichen Uebermuthes, und bisweilen ist es, wie wenn
ein erhabener Geist in unbeholfenen Formen sich eckig, mühsam, halb verlegen
und doch mit der Unbescheidenheit des unfertigen Genies bewegte.
Um so schwieriger scheint nun, nachdem die erste stürmische Zeit der Pro-
duction vorüber ist, die Rückkehr zur stillen Arbeit, die mit der mustergültigen
alten Kunst sich vertraut macht und sich von ihr die künstlerische Darstellung
des Lebens in Form und Farbe zum freien Mittel für ihre eigene Anschauung
erwirbt. Denn allerdings kann nur in dieser Weise die Vergangenheit zum
wirklichen Bildungselement für die Gegenwart werden. Es ist nicht mit einem
Borgen, Sichanlehnen, oberflächlichem Aufnehmen gethan; es handelt sich viel¬
mehr um ein gründliches Aneignen und Verarbeiten nicht der Ideen, sondern
des gebildeten Formen- und Farbensinnes, mit welchem die großen Meister die
Erscheinung über die Noth der zufälligen Realität in das reine Gebiet der
künstlerischen Wirklichkeit erhoben haben. Aber das ist es eben, was nicht sel¬
ten unsere Maler, und nicht die schlechtesten, bestreiten: wozu, so lautet ihre
Entgegnung, uns mühsam eine Form eine und Anschauung zu eigen machen,
die, so vollendet sie auch seien, einem vergangenen Zeitalter angehören, das wir
nun überwunden haben? Wozu unsre Eigenthümlichkeit der Gefahr aussetzen,
daß sie unter so mächtigem Einflüsse sich verwische, und weshalb endlich soll
unsere Anschauungsweise nicht aus sich selber und dem unmittelbaren Anschluß
an die Natur die Form finden, welche dem modernen Inhalt den ursprüng¬
lichen Ausdruck gebe?
Dreierlei Einwände, von denen übrigens die beiden ersten wenig bedeuten. ^
Jede Zeit, die in irgend einem Zweige der Kunst wirkliche Meisterwerke schasst,
findet in diesen den eigenthümlichen und doch vollendeten Ausdruck ihres We¬
sens; aber eben deshalb, weil sie ihr Leben und ihren Inhalt voll, ungebrochen
und mit gesammelter schöpferischer Kraft in diese Form gegossen, erhält dieselbe
ein selbständiges und für alle Zeiten mustergiltiges Dasein: „es ist die Ge¬
stalt, welche frei von jeder Zcitgcwalt die Gespielin seliger Natur ist." Sie
wird nicht als der Ausdruck jenes Wesens, sondern als Form und ästhetische
Erscheinung überhaupt Norm und Gesetz für jede nachfolgende Kunst, denn sie
ist aus einem Product des Geistes zur zweiten, zur gebildeten Natur gewor¬
ben. Handelt es sich hier aber nicht um eine nun überwundene Anschauungs¬
weise, sondern um eine künstlerische Wirklichkeit, die der Maler als Vorbild der
Darstellung zugleich mit der ursprünglichen Natur in sich aufnehmen soll: so
hat er auch von ihr nichts für seine Eigenthümlichkeit zu fürchten, sobald er
nur die Mühe sich gibt, gründlich in dieselbe einzudringen. Im Gegentheil,
die tiefere Kenntniß der vergangenen, vollendeten Kunst erleichtert ihm sein
Schaffen, sie gibt ihm eben so viele Mittel an die Hand, den Inhalt seiner
Phantasie in den Fluß eines freien und klaren Gestaltens zu bringen. Die
Eigenthümlichkeit, welche durch die Bildung unsicher zu werden fürchtet, steht
von vornherein auf schwachen Füßen und wird auch so nicht weit kommen.
Es ist überhaupt in unsern Tagen mit dem Glauben der Originalität eine
eigene Sache, auch wenn wir das Epigramm: „Ein tzuiÄÄin sagt, ich bin
von keiner Schule" auf die modernen Künstler, unter denen doch manche tüch¬
tige Kraft ist, nicht anwenden wollen. Jener Glaube ist, sofern er die Einflüsse
früherer Kunstperioden von sich abhalten will, eine fast kindliche Verblendung.
Der Maler steht nun einmal auf dem Boden einer allgemeinen Bildung, die
eine ganze Welt von fremden Elementen in sich aufgenommen hat, er lebt in
einer Luft, die mit den Vorstellungen ^verflossener Jahrhunderte wie geschwän¬
gert ist; dazu ist ihm in der Lehrzeit in den Akademien manche halbverstandene,
aus den Mustern der Kunst abgezogene Regel überliefert, welche unbewußt auch
in der Anschauung des reiferen Alters immer wieder anklingt. Ist er origi¬
nell, indem er die gründliche Durchbildung nach jenen Mustern von sich ab¬
lehnt, dagegen der Macht halber Eindrücke unwillkürlich unterliegt, und würde
ihm nicht vielmehr die tiefere aus eigener Arbeit erworbene Kenntniß die volle
Freiheit der Phantasie zurückgeben? Und glaubt er die Bedingungen seiner
Kunst leichter ebensowohl lernen, als lehren zu können, indem er absichtlich um
die vollendete Form sich nicht kümmert, in welcher sie von der Geschichte dem
empfänglichen Auge übergeben wird? Indem er mit unzulänglichen Mitteln und
ungeübten Kräften es allein aus sich selber unternimmt, die wirkliche Natur in
eine ästhetische umzubilden?
Man sieht: von jenen Einwänden tragen die beiden ersten die Widerlegung
in sich selber. Gegründeter dagegen scheint der dritte, zudem hängt er mit dem
eigenthümlichen Wesen der modernen Kunst genau zusammen. Es handelt sich
hier von dem neuen Inhalt des Bewußtseins, den das 19. Jahrhundert ge¬
wonnen hat, und es ist kein Zweifel, daß die Kunst, ebenso sehr als das Le¬
ben und die Wissenschaft, das Recht hat, denselben aufzunehmen und in ihrer
Weise auszudrücken. Das Verständniß der Geschichte, das dem Menschen diese
Welt als die freie Stätte seines Geistes aufklärt, hat sich ihm nun erst in sei¬
ner ganzen Tiefe erschlossen; und während er einerseits die neuen Ergebnisse der
geschichtlichen Denkweise im öffentlichen Leben zu verwerthen und so einen na¬
tionalen Gewinn aus ihnen zu ziehen sucht, hofft er anderseits von derselben
eine Neubelebung der Kunst nicht blos dem Inhalte, sondern auch der Form
nach. Jene, die Kunst, tritt somit zugleich in ein neues Reich des Geistes und
auf einen frisch sich bildenden nationalen Boden. Das Bewußtsein hat von
der Vergangenheit als seinem Eigenthum Besitz ergriffen; die Vortheile,
welche die Malerei von diesem unendlichen Erwerb zu hoffen hat, sind
oft genug aufgezählt worden, ja die Kritik hat den Anbruch einer neuen
Aera für die Kunst verkündet und dieser im Voraus klar und bestimmt das
Ziel gezeigt, an dem eine neue volle Blüthe ihrer warte.
Wir wiederholen ebensowenig die Bedenken, welche als die Kehrseite der
neuen Hoffnungen von der Wissenschaft selber sind erhoben worden: den mi߬
lichen Durchgang, den die künstlerische Production durch eine mühsame Verstandes¬
arbeit zu nehmen hat, die Gefahr im Costüm und in den Nebendingen stecken
zu bleiben, ohne zum Ausdruck des geistigen Lebens durchzudrängen; endlich die
Schwierigkeit, die Breite des Geschehens in den Rahmen einer klaren und ge¬
schlossenen Darstellung zu dringen und den erhöhten Moment des schlagenden
Zusammentreffens der Gegensätze festzuhalten, ohne in ein theatralisches Pa¬
thos zu gerathen. Alle diese Hindernisse werden die Auffassung und die Hand
des Künstlers überwinden, wenn erst der geschichtliche Stoff zum freien Eigen-
thun seiner Phantasie geworden, wenn erst die geschichtliche Denkweise die ganze
Bildung durchdrungen hat und zur festen Form der allgemeinen Vorstellung ge¬
worden ist. Das ist, wenn das Wesen der Kunst nicht verloren gehen soll,
unumgänglich nothwendig-, nur der Inhalt, der aus der stoffloser Wirklichkeit
in das klare Reich der Phantasie erhoben ist, kann zur selbständigen künstle¬
rischen Gestalt kommen. Und dazu genügt nicht die mehr oder minder fähige
Einbildungskraft des Einzelnen; sondern zum lebendigen Gebilde der allgemei¬
nen Phantasie muh das Object des Bewusstseins umgesetzt sein, wenn es sich
in der Welt der Kunst das Bürgerrecht erwerben will. War es doch mit der
mustergiltigen religiösen Kunst etwas Aehnliches; erst als der christliche Glaubens¬
inhalt aus der Unreinheit der stofflichen Empfindung in das läuternde Feuer
der Phantasie kam, wurde er in den Meisterwerken des Cinquecento zum freien
Besitz der Kunst umgeschaffen.
Und hier kommen wir auf jenen Einwand zurück, den der moderne Maler
gegen ein allzuernstliches Studium der vergangenen Kunst erheben zu können
meint. Wohl ist die Geschichte ein neuer Inhalt der ästhetischen Vorstellung,
aber erst indem sie in die Phantasie eingeht, wird sie zum Gegenstande der
Kunst. Daher verlangt sie, um dargestellt zu werden, keine absolut neue An¬
schauung der Form und Erscheinung; als Object der bildenden Phantasie ist
sie schon in die Formen- und Farbenwelt eingetreten, welche der unveräußer¬
liche Erwerb der großen Kunstepochen, die ewig giltige Erscheinungsweise der
Kunst selber ist. Möglich, daß diese Welt durch ein neues Zeitalter sich be¬
reichern läßt; aber natürlich erst, nachdem letzteres ihre ganze Fülle und Mannig¬
faltigkeit in sich aufgenommen. Also auch der dritte Einwand, mit dem die
moderne Kunst gegen die alte als unumgängliches Vorbild sich sträubt, ist nicht
haltbar. Mag die Geschichte der neubelebende Inhalt sein, der die Malerei zu
frischer Blüthe treiben soll: ihm seine künstlerische Gestalt zu geben, das wird
sich an der Hand der Holbein, Raphael, Titian und Michel Angelo leichter und
sicherer lerne», als durch ursprüngliche und doch von unklaren Erinnerungen ge¬
leitete Versuche auf eigene Faust.
Indessen ist damit der Weg noch nicht gesunden, um die Aufgabe der ge¬
schichtlichen Malerei, welche die heutige Aesthetik*) in den Vordergrund gestellt
hat. zu lösen. Denn gerade die Forderung, welche diese an den Künstler stellt,
macht es ihm so leicht nicht, den geschichtlichen Stoff in ein Phantasiegebilde
umzusehen. Erst die moderne Wissenschaft bat in der Geschichte das Gesetz der
Entwickelung entdeckt und es ist natürlich, daß sie die Wendepunkte, in denen
neue Zustände aus den überlebten sich herausarbeiten und die jüngeren Mächte
mit den alternden im bellen Kampfe zusammenstoßen, als die gipfelnden Mo¬
mente, als die Blitze der Geschichte hervorhebt. Wir lassen den Pulsschlag des
innern Lebens fühlbar werden, und es ist allerdings, wie wenn in ihnen der
in der Tiefe waltende Geist sichtbar und mit gewaltigem Schritt in die Wirk¬
lichkeit hinausträte. So scheint es begreiflich, daß die Aesthetik gerade diese
prägnanten Augenblicke dem modernen Künstler als besonders brauchbare Mo¬
tive empfiehlt; um so begreiflicher, als die Spitze des zu einem großen Ereig-
niß sich zusammenfassenden Geschehens naturgemäß in einer mächtigen Persön¬
lichkeit zum festen anschaulichen Ausdruck gelangt, Ebendies. daß der Inhalt
der Vorstellung in einem menschlichen Dasein Leben und Gestalt gewinne, in
dem Thun und Lassen eines Individuums sich verfestige, ist ja eine Voraus¬
setzung auch der Malerei; was natürlicher, als daß man nun jene Stoffe für
deren eigentliche Objecte erklärt?
Und dennoch — gerade die Wendepunkte der Geschichte bereiten der Kunst
besondere Schwierigkeiten. Abgesehen davon, daß vorab diese Motive die Ma¬
lerei von der Wissenschaft sich muß geben lassen: so wird die welthistorische
That, um die es sich bier handelt, nie rein in die künstlerische Anschauung auf¬
gehen, sie fällt mit ihrem ganzen Gewichte in die Sphäre des Bewußtseins
oder — um im Gebiete der Kunst zu bleiben — in den Kreis der poetischen
Vorstellung. Wohl treten in dem großen Momente die innerlich treibenden
Kräfte ganz in den Tag hinaus, aber sie offenbaren sich in einer blitzartigen
Helle, welche die Erscheinung gleichsam wieder verzehrt und den äußerlichen
Vorgang als verschwindenden Moment in die geistige Tiefe zurücknimmt. Die
That verhält sich daher als der entscheidende Ausschlag eines innerlichen Pro¬
cesses gegen- die Fülle der Außendinge sowohl als ihre eigene Gestalt absolut
gleichgiltig. Dennoch soll sie in der breiten Welt der Erscheinung selber ganz
zum sichtbaren Schein werden; denn dies ist ja eben Sache der Malerei, den
Vorgang bis ins kleinste Detail auszubilden. In der poetischen Vorstellung
ist die That die dramatische Spitze der Handlung. Wird diese im Bilde
fixirt. so entsteht der Ausdruck eines versteinerten Pathos; und außerdem wird,
da die Malerei ihr Recht sich nicht nehmen läßt, die Fülle der Erscheinung bis
zum Stiefel des Helden mit sorgfältiger Liebe auszuführen, unter der Wucht
des Details der eigentliche Vorgang fast immer verschüttet. So gibt der Ma¬
ler zu viel und zu wenig; denn die umgebenden Dinge sind für den Moment
der straffster Spannung völlig interesselos, und diesen in seiner gesammelten
Kraft, die das ganze Vorher und Nachher in sich schließt, kann die malerische
Erscheinung nur andeutend ausdrücken.
Die entscheidende geschichtliche That ist also aus zwei Gründen nicht Sache
der bildenden Phantasie: einmal, weil sie als Katastrophe der Gipfel einer Per¬
wickelung und der Keim neuer Wechselfälle ist. und dann, weil sie als Wille
und Schicksal in der äußerlichen Erscheinung weder sich ausspricht, noch be-
harrt. Sie ist anschaulich nur als das lösende und verknüpfende Glied der
ganzen Kette, folglich nur in der Vorstellung des Nacheinander; sie kann wohl
poetisch sein, aber nicht malerisch. Ebensowenig ist der Wille, der sowohl in
der unruhigen Spannung des Gemüthes, wie im Kampf der Gegensätze es
zum wirklichen Sein, zum Zustande gar nicht kommen läßt, Gegenstand der
bildlichen Darstellung. Wenn aber dem so ist. wie läßt sich erklären, daß den¬
noch die Aesthetik gerade die Wendepunkte der Geschichte, die immer in einer
That gipfeln, der Malerei als günstige Stoffe empfiehlt?
Die Aesthetik will der modernen Kunst aufhelfen, indem sie ihr einen
zeitgemäßen Inhalt anweist, und in diesem Punkte scheint mir der Irrthum zu
liegen. Nickt nur Motive soll die Geschichte der Malerei überliefern, sondern
sie soll für sie den beseelenden Gehalt abgeben. Also ähnlich wie bei den Ita¬
lienern die Religion und die Freude an allgemein menschlichen Zuständen, die
vornehmlich in den antiken Mythenkrciscn zu bestimmter Anschauung sich ver¬
dichtete, oder wie bei den Holländern das Behagen an selbstgeschaffenen wirt
liehen Leben soll die Wirksamkeit des menschlichen Geistes in der Geschichte die
Brust des Künstlers erfüllen. Man vergißt dabei, daß jener verschiedene In¬
halt vollständig in die Phantasie eingegangen war, daß näher der religiöse
Stoff, an dessen Stelle nun der geschichtliche treten soll, schon nicht mehr als
Gemüthsmacht die Seele des Künstlers bewegte, als er in den Meisterwerken
seinen vollendeten Ausdruck erhielt; daß überhaupt in der Kunst der Inhalt
nur so weit zählt, als er rein und ohne Nest in die künstlerische Anschauung
aufgeht. Also nicht auf den Stoff und den Gehalt desselben als solchen kommt
es an. Indem aber die Kritik von dem Maler die Darstellung großer geschicht¬
licher Momente verlangt, legt sie den Nachdruck auf den Inhalt, wie sehr sie
auch im Uebrigen den der Kunst günstigen Bedingungen Rechnung tragen mag;
und zwar auf einen Inhalt, der in seiner tiefern Bedeutung wesentlich in die
Sphäre des Bewußtseins fällt und im Bette der bildenden Phantasie nur zum
Theil flüssig wird. Sie tritt also mit einem Interesse an die Kunst heran, das
dieser im Grunde fremd ist; sie erwartet vom Kunstwerke, wenn sie das auch
nicht Wort haben will, außer dem ästhetischen Genuß noch einen intellectuellen
Reiz, und so stellt sie Forderungen an dasselbe, welche es über seinen eigent¬
lichen Kreis hinaustreiben. Was hilft es, daß unsere Philosophen, Kant an
der Spitze, den Begriff des Aesthetischen entdeckt und in seine Grenzen einge-
schlössen haben, wenn nun dennoch die Kritik wie durch eine Hinterthür ein
fremdes Element hineinbringt, und die Kunst dieses bereitwillig aufnimmt?
Macht man einmal die Darstellung der Geschichte nach den Ergebnissen des
tieferen modernen Verständnisses zur grundsätzlichen Ausgabe, so ist die natür¬
liche Folge, daß die Momente, in denen sich die Zustände und Verhältnisse zum
entscheidenden Umschlag zusammenfassen, Objecte der Kunst werden. Und es
ist begreiflich, daß der Künstler, von der Bedeutung dieser großen Aufgabe ein¬
genommen, leicht dazu kommt, über der Schwere des Inhalts die Form und
Erscheinung geringer anzuschlagen, als es sein eigentliches Ziel, die Kunst,
zuläßt.
Natürlich ist deshalb das Gebiet der Geschichte dem Künstler nicht ver¬
schlossen. Er mag sich immerhin die großen Individuen der Vergangenheit zum
Vorwurf nehmen, in deren Leben und Wirksamkeit die Seele des Zeitalters
rascher und voller pulsirt, deren Leidenschaften, Schicksale und Leiden über das
Einerlei des Gewöhnlichen hinausgehen, und mächtig in den allgemeinen Gang
der Dinge eingreifen. Er mag sie selbst in der heftigen Bewegung des Kam¬
pfes, Schmerzes Md Untergangs darstellen, wenn nur die Persönlichkeit, das
Ereigniß flüssiges Object seiner bildenden Phantasie geworden ist, wenn nur das
Thun und Leiden des geschichtlichen Menschen, sei es auch blos für einen flüch¬
tigen Moment, in der Erscheinung als Zustand sich niederlegt. Allein er hüte
sich vor dem Augenblick der entscheidenden That, die als Aeußerung des un¬
ruhig gespannten Willens der schwebende Sprung selber aus dein Geiste in
die Wirklichkeit, deren Verständniß das Resultat eines GedankenprvcesseS ist,
und die von der Kunst nur in der Dichtung als der Gipfel deS von ihr un¬
lösbaren dramatischen Verlaufes sich fassen läßt. Gerade dies, die Spitze, daS
Dramatische im eigentlichen Sinne ist nicht Sache der bildenden Kunst. Sind
aber die historischen Wendepunkte, in denen der Geist der Geschichte greifbar
sich verräth, in denen er gleichsam sein Inneres aus sich herauözublicken scheint,
kein Object für den Künstler, so ist auch kein Grund vorhanden, den geschicht¬
lichen Inhalt zur Lebensfrage der modernen Malerei zu machen. Die Geschichte
ist dann eben ein Stoff für die Kunst so gut und schlecht, wie jeder andere;
und insofern kann ihr der Maler, der von der Neigung und dem Bedürfniß
der Zeit nach historischer Betrachtung sich mit bewegt fühlt, seine Vorwürfe ent¬
nehmen, wenn ihm nur die Kunst Ausgangs- und Zielpunkt bleibt.
Die verflossenen Jahrzehnte haben das Kunstwerk nicht gebracht, das als
Thatsache die Forderung der Aesthetik rechtfertigen und für die Malerei den An-
bruch einer neuen Aera verkünden sollte. Die neueste Zeit läßt es an Ver¬
suchen allerdings nicht fehlen; sehen wir zu, wie weit diese das Problem einer
historischen Malerei lösen, vor Allem aber, wie viel oder wie wenig sie von
dem haben, was das eigentliche Kunstwert ausmacht. Denn im Grunde ist
uns doch am meisten an dieser Frage gelegen, und für den unbefangenen Be¬
schauer hat wohl ein Gemälde, das einen Stoff aus der Geschichte behandelt,
der nicht gerade auf eine welthistorische Bedeutung Anspruch machen kann, gleich
hohen Werth, wenn es nur einen Inhalt von allgemein menschlichem Interesse
in großen bestimmten Zügen und wörtlich malerischer Erscheinung darstellt.
Allen Werten voran, welche in diesem Zweige der Kunst die letzten Jahre
haben entstehen sehen, ist Lessings Gefangennahme des Papstes Paschalis zu
nennen. Bon jeher läßt sich in der Wahl der Stoffe, die Lessing getroffen hat,
ein ernster Sinn nicht verkennen; der Streit der Kaiser mit den Päpsten, dann
die Reformation in ihren verschiedenen Phasen haben seine Phantasie lebhaft
beschäftigt, und man sieht es seinen Bildern an, daß er sich nul den mäch¬
tigen Ideen, welche die geschichtlichen Personen bewegte, und mit dem Geiste
des vergangenen Zeitalters zu durchdringen suchte. Wir wollen vor dem jüng¬
sten Lilde darüber mit dem Künstler nicht rechten, ob das dargestellte Ereigniß
in dem ganzen Verlaufe jenes Kampfes eine so hervorragende Stelle einnahm;
hat es doch wenigstens mittelbar den ersten Abschluß des Streites, das Worm-
ser Eoncvrcat mit veranlaßt. Es handelt sich also um den offen ausbrechen¬
den Conflict der Gegensätze: aus der Gestalt und den Zügen des Kaisers läßt
sich der kräftige, emschivssene und doch feste, besonnene Charakter Heinrichs des
Fünften- wohl herauslesen, und der Papst zeigt in dem gefährlichen Mo¬
mente den Sieg der geistigen Fassung über den inneren Aufruhr der Leiden¬
schaften. Aber hier zeigt sich schon, daß die Kunst dem historischen Verständniß
nicht folgen kann. Es waren lediglich äußere Umstände (vornehmlich die Ein¬
sprache des deutschen Klerus), die den Papst zur Zurücknahme seines Pactcs mit
Heinrich zwangen; wie soll das nun der Künstler zum Ausdruck bringen?
Man sieht, wie unerquicklich die Kritik wird, wenn der Stoff, die Frage nach
dem historisch bedeutenden Momente in den Vordergrund tritt. Aber schlimmer
ist noch, daß der Maler einen Befehl darzustellen hatte; also eine abstracte
Aeußerung des Willens wird zum eigentlichen Gegenstand des Bildes. Dieser
Borgang läßt sich natürlich in der Erscheinung nicht malerisch niederlegen, er
läßt sich durch die Spannung der Züge und des Körpers, die Bewegung der
Arme nur andeuten. Das Malerische sind denn auch vornehmlich die Neben¬
figuren, die verschiedene Wirkung des Ereignisses auf dieselben, die als Em¬
pfindung sich vollständig herausbilden ließ. Die Individualisirung ist, wie
man weiß, Lessings Sache, und dieses Talent hal er auch hier bewährt. Dagegen
ist die unmalerische Beziehung der Gegensätze auch in der Composition fühl¬
bar; es wollen sich die Gruppen zu einem harmonischen Ganzen nicht ordnen,
es fehlt in der Gruppirung an dem Zug und Schwung, der den Blick des Be¬
schauers zu fesseln vermag.
Von dem großen Talente Lessings, dem es an Fleiß und Uebung nicht
fehlt, läßt sich wohl erwarten, daß seine Gestalten die Fülle des Daseins ha-
ben> welches die malerische Erscheinung voraussehe. Auch sind seine Figuren keine
Theaterhelden mit angelogenem Pathos und von künstlicher Bewegung, keine
Schemen; und die körperliche Bildung zeugt im Ganzen von einem richtigen
Verständniß der Form. Aber dennoch, den freien, leichten Wurf des voll und
selbständig hinausgegebenen Lebens haben die Gestalten nicht, ebensowenig die
Tiefe des Daseins, das vom Künstler losgelöst ganz in sich ruht und für sich
ist. Allen ist noch etwas von dem Gepräge der Anstrengung geblieben, welche
sie hervorgebracht hat; sie sind nicht ganz zu der Wirklichkeit herausgewachsen,
welche in der Kunst an die Stelle der Natur tritt, und die es eben ist, welche
den Beschauer aus der realen in die ästhetische Welt versetzt. Man Merkt mit
einem Wort die Arbeit, und so fehlt der eigentliche Lcbensfunkc. Auch in der
farbigen Erscheinung ist die Mühe sichtbar; es fehlt hier ebenfalls am Reiz der
freien malerischen Erscheinung, während es doch offenbar auf em kräftiges,
farbenglühendes Scheinen und Leuchten abgesehen war. Daß nun die Gestal-
ten das Mächtige der fest in sich gegründeten Existenz nicht haben, daß ihnen
in der äußeren Bildung die Vollendung fehlt, im Ausdruck die Tiefe der inne¬
ren Bewegtheit, daran macg zum Theil wohl der geschichtliche Stoff schuld sein,
der mit seinem ganzen Lebensinhalte in der bildenden Kunst nicht heimisch wer¬
den kann. Aber zum andern Theil sehen wir hie^r eine Folge der eigensinnigen
Ms sich gesteifter Originalität des Künstlers, welche die mustergiltige Vergangen¬
heit nicht einmal als Mittel der Bildung benutzen will und lediglich aus sich
selber und an der Hand der Natur über die Bedingungen der Kunst Herr wer¬
den zu können meint. Es ist schon oben bemerkt, daß die Originalen sich täu¬
schen, indem sie nur auf ihren Füßen zu stehen meinen, und wie ihre eigne
Kunst darunter leidet, daß sie den großen Vorbildern den Rücken kehren. Auch
Lessing will selber den langwierigen Proceß vollziehen, in welchem die Kunst
von Jahrhunderten die natürliche Wirklichkeit in die ästhetische umsetzt; und das
in einer Zeit, die nichts weniger als die Zeugungskraft hat. ihren Inhalt voll
und kühn der Natur in den Schooß zu werfen Und ihm so seinen Ausdruck in
unmittelbarem Guß zu geben. Daher kann er ebenfalls der Erscheinung die
Fülle und Freiheit nicht geben, welche erste Bedingung der Kunst ist, und so
kommt die Seele des Vorgangs nicht zum Durchbruch, schlägt nicht in den Be¬
schauer belebend und bewegend über. Wir machen' dem Maler den Ernst der
GestnnÄtiK' die Tüchtigkeit des Strebens. den Adel der Auffassung nicht strei¬
tig, aber' wir bedauern, daß diese Eigenschaften an der Ausführung einen Damm
gefunden haben, der sich ihrem Fluß entgegenstemmt und sie zrtt vollen Er¬
scheinung nicht herauslässt.
Ließ sich der von Lessing gewählte Stoff, dessen welthistorische Bedeutung
zudem zweifelhaft ist. in die malerische Darstellung nur' mühsam fassen, so
ist dagegen Kaulba es mit der Ausführung eines Bildes beschäftigt, dessen Gegen¬
stand mit epochemachender Wucht in die Geschichte einschneidet, und — woraus es
doch vornehmlich ankommt — leichter der gestaltenden Phantasiezsich zu fügen scheint.
Die Schlacht von Salamis', es soll das Meisterwerk des Künstlers werden.
Zwar war weder der in kleineren, Maaßstabe ausgeführte Farbcncntwurf, noch
der Carton, die beide seit geraumer Zeit fertig in Kaulbachs Atelier stehen, aus
der Kölner Ausstellung: aber sobald einmal von neuester historischer Kunst die
Rede ist, darf das Werk nicht Übergängen werden. Auf den günstigen Stoff
bat schon Nischer*) hingewiesen. Der Kampf des jugendlichen Abendlandes,
das in seinem kräftigen Schooße die Gesittung und die Freiheit des Wesens
trägt, mit dem alternden Oriente, in dein die Masse willenloses Werkzeug des
rohen Einzelwillens ist; der Sieg eines blühenden, an der Spitze der Mensch¬
heit stehenden, in der Fülle des Lebens ewig hervorragenden Geschlechtes, zu¬
gleich eine Handlung, die ganz greifbar, ganz Gestalt in die helle Bestimmtheit
äußern Geschehens hinaustritt in der plastischen Erscheinungsweise noch voller
ungebrochener Culturformcn: läßt sich eine dankbarere Aufgabe denken? Der
Maler findet sich hier nicht vor der Klippe der That, deren Schwerpunkt
im Gebiete des Willens und Bewußtseins liegt, und die, kaum in die Wirk¬
lichkeit hinausgcdrungen, wieder in das Innere zurückschlägt. Aber natür¬
lich handelt es sich nicht blos um ein malerisches Schlachtgetümmel; der
Charakter gerade dieses Kampfes muß hervortreten, dem schon besiegten, nur
als Zuschauer betheiligten und in ohnmächtiger Leidenschaft sich aufbäumenden
Aerxcs der im Bewußtsein seiner guten Sache und geistigen Ueberlegenheit
ruhig gebietende Themistokles gegenüber stehen. Ein Gegensatz, in dem zwar
die eigentliche Seele des Momentes in die bedeutungsvolle Tiefe des inneren
Lebens wieder eingekehrt ist, der aber dennoch zur deutlichen Erscheinung kommt,
wenn nur in dem wichtigen Zusammenstoß der Kämpfenden die siegreiche, dem
Willen des Feldherrn folgende Gewandtheit der Griechen und die schwerfällige
von keiner Einsicht geleitete Ueberstürzung der Asiaten sich mannigfaltig und
malerisch aussprechen. Wovor sich aber schließlich der Maler bei einem solchen
Schlachtgemälde im Interesse der Kunst zu hüten hat, das ist die historische
Breite und Vollständigkeit des Vorgangs; diese kann ihm, da sie leicht die
malerische Einheit der Composition verhindert, ebenso gefährlich werden, wie
sonst die innerliche Tiefe der geschichtlichen That.
Sehen wir zu, w,c Kaulbach seine Aufgabe gelöst hat. Rechts (vom
Beschauer) Aristides mit den Seinigen —> darunter Sophokles >— auf einem
Erdvorsprunge einem Tempel zuschreitend, ganz im Vordergründe die gefallene»,
eben von ihnen besiegten Perser; also die an das Ende des Kampfes fallende
Episode der Schlacht auf der Insel Psyttaleia. In der Mitte und mehr im
Mittelgrunde Themistokles, in der vbendcmcrtten Situativ!, aufgefaßt, — auf
dem Fcldherrnschiff. das eben ein persisches Fahrzeug anrennt; um ihn strei¬
tende, darunter Aeschylos. Im Hintergrunde Getümmel kämpfender und unter¬
gehender Schiffe, Mehr nach links Artemisia auf ihrem Boote, kühn den Bogen
spannend. Dann links im Vordergründe ein gescheitertes, persisches Prachtschiff,
im Wasser eine Anzahl nackter und halbbekleideter, theils todter, theils an's
Ufer flüchtender jugendlich üppiger Frauen-, wohl die Begleitung des asiati¬
schen Herrschers.*) Ueber dieser Gruppe ist der letztere — der von einem Vor¬
sprunge des Berges Algaleos dem Kampfe zugesehen — in der hilflosen Wuth
der Verzweiflung aufgesprungen, während ihn sein entsetztes Gefolge — die be¬
kannten Kauibachkvpse — umsonst zu beruhigen sucht. Rechts in der" Höhe
schweben schützend und schirmend die Aeakidcn daher, deren Bilder nach Herodot
als sichtbare Zeichen ihres Beistandes von Aegina herübergeholt waren: die
bekannte und oft genug besprochene Weise des Malers, was als innere Macht
die erscheinenden Personen antreibt, oder was als wesentlich' poetisches Motiv
in den sichtbaren Vorgang nicht eingeht, als transcendente Gestalten in der
Luft schweben zu lassen. Schon ein Beweis, daß es ihm mit der Behandlung
der Historie der Ernst nicht ist, den die Aesthetik voraussetzt, und daß er seinen
Stoff nicht mit der Fülle des Lebens durchdringen, acht mit der malerischen
Anschauung in sich abrunden kann, welche die Kunst verlangt. Wie anders
die Auffassung eines Rubens, der fröhlich und frei die mythischen Figuren als
die schönen Kinder der Kunst unter die historischen mischte, dem zudem sein
Zeitalter diese nimmer noch naive Verbindung erlaubte!
Ihr Endurtheil über das Werk dritt die Kritik billig zurück, bis es voll¬
endet der Oeffentlichkeit übergeben Ist; indessen über die Komposition läßt sich
jetzt schon reden, und diese ist bei Kaulbach immer das Wesentliche. Der Künst¬
ler hat den Moment nach der Entscheidung in seiner möglichst vollständigen
Mannigfaltigkeit darzustellen versucht; die Episode des Aristides tritt sogar
auf der einen Seite in den Vordergrund, die stolze Artemisia fehlt nicht; auch
nicht die beiden Tragiker. Man ist von Kaulbach diesen Reichthum, diesen,
man möchte sagen, strömenden Ueberfluß von Motiven und Beziehungen ge¬
wohnt. Gut. wenn nur nicht darunter die einheitliche Anordnung, die Har-
moule des Bildes litte. In der Mitte unseres Gemäldes ist Themistokles mit
den Seinigen auf den zweiten Plan zurückgeschoben, er sowohl, wie Tcrxes,
nehmen die zweite Stelle ein; rechts treten die gefallenen Perser und Aristides
hervor, links die Gruppe der Weiber. Einmal, wie sollen diese verschiedenen
Theile in schwungvollein rhythmischen Zusammenhang in einander übergehen,
in eine malerische Beziehung treten, in fließender Linie sich verbinden? Die so
gut wie leere Mitte, die überfüllten Seiten, die kein herüber-, hinüberführendes
Glied in ein organisches Verhältniß seht: wo bleibt das Gesetz der in sich har¬
monisch abgeschlossenen Kunst? Man vergleiche doch mit dieser Leistung der
neuen Malerei die Alexander- und die Constantinschlacht, wie hier das Leben
des Kampfes Yoll und mächtig in den Mittelpunkt schlägt, auch darin das Bild
der wuchtig zusammenstoßenden, im Gewühl sich treffenden feindlichen Elemente.
Und dann der eigentliche Gegenstand des Gemäldes ist die Gruppe der Weiber.
Auf ihr hat der Künstler mit Liebe und Sorgfalt seine Hand verweilen lassen,
auf sie hat er allen malerischen Reiz zusammengehäuft. Nachdem er also Alles
aufgeboten, um den historischen Vorgang in seiner ganzen Bedeutung und
Breite darzustellen, wirft er das künstlerische Interesse fast ausschließlich auf eine
Episode, die gar nicht zur Sache gehört, die lediglich ein Einfall seiner Phan¬
tasie ist!
Diese Art, den geschichtlichen Stoff in seiner ganzen Ausdehnung erschöpfend
darzulegen und das ästhetische Bedürfniß in einer Ncbcngruppe, zu befriedigen,
diese Art, das eigentlich malerische Element, da es im Hauptvorgange nicht
zum Durchbruch gekommen, wie in einem Vor- oder Nachspiel besonders heraus¬
treten zu lassen, ist Kaulbach eigenthümlich. Eben dies hat ihm den Beifall
des Zeitalters erworben. Einestheils, spürt seine rührige, halb poetisch, halb
reflectirend gestaltende Phantasie allen Fäden nach, die sich von dem gegebenen
Objecte nach allen Richtungen, ziehen lassen, und es unterhält unser ebenso ge-
dankenhaftes wie realistisches Jahrhundert, dieses sinnige Spiel zu verfolgen;
anderseits befriedigt der Reiz der üppigen Form und der Schönheitslinie, in
denen, wie man rühmt, Kaulbach Meister ist, die ästhetische Neigung. Allein
unter diesem äußerlichen Nebeneinander leidet natürlich die Kunst. Die male-
We, Z.iMbe erscheint als die Ironie jener geistreichen Darstellung des, Gegen¬
standes,; denn, indem in ihr der künstlerische Sinn sich eigens niederlegt, macht
er gleichsam das stille Geständnis;, daß er den Stoff selber zu durchdringen un¬
fähig sei. Wäre hier der Ort, die einzelnen Werke des Malers zu betrachten,
so würde sich leicht erweisen lassen, daß ihm eine wirklich künstlerische Eompo-
sition höchst selten gelungen ist und daß die lebendige Individualisirung. die
ja sehne Stärke sein soll, in einer Wiederholung stehender, die Grenze des
Charakteristischen überschreitender Typen besteht. Und eben deshalb, weil jener
Sinn mit dem Stoffe nicht substantiell erfüllt ist, kann er auch den Gestalten, welche
Anspruch auf Schönheit erheben, nicht den Adel und die Vollendung der Form
geben, welche den wahren Zauber der malerisch schönen Erscheinung ausmachen.
Dazu kommt, daß auch Kaulbach in Wahrheit das Verständniß der Form
nicht hat, das in der geläuterten und doch fest und richtig gebauten Bildung
des Körpers einen Reiz erreicht, an dem das Auge, auch abgesehen vom In¬
halte, sich erfreuen mag. So machen seine jugendlich vollen Gestalten in ihrer
widerlichen knochenlosen Weichlichkeit und in dem gesuchten Schwung einer
üppigen Linie nur eine äußerliche sinnliche Wirkung , die ganz naturgemäß den
Gegensatz zu- jener reflectirenden Vielseitigkeit der geistigen Auffassung bildet.
Wie man sieht, fehlt aus beiden Seiten — die, statt sich maaßvoll zu einem Gan¬
zen zu durchdringen, zu Extremen auseinanderfallen — der eigentliche künstle¬
rische Ernst; es kann nicht Wunder nehmen, daß sich Kaulbach mit ironischem
Bewußtsein, wie er meint, über sein Werk, in Wahrheit außerhalb seines
Werkes stellt, und die geistreich combinirten Beziehungen des Inhaltes der leeren
sinnlichen Form und diese wieder jenen vernichtend entgegenhält. Unser Jahr¬
hundert mag an diesem leichtfertigen Spiel mit Form und Inhalt, das aller¬
dings eine nicht gewöhnliche Mischung von Verstand und Phantasie voraussetzt,
das zudem die selbstgefällige Macht des Individuums über die Dinge beweist.
Gefallen finden; die Nachwelt wird in Kaulbach weder einen „Ethographos"
wie Polygnot sehen, der die Schlacht von Marathon in bedeutungsvoller, aber
naiver Auffassung darstellte, noch einen Apelles, dem die Charis als eigenthüm¬
licher Vorzug zugefallen war und von dem als Modelle benutzt zu werden, die
athenischen Mädchen sich zur Ehre anrechneten; am allerwenigsten eine Verbin¬
dung von beiden. Vielleicht aber einen Mann, der sich auf seine Zeit verstand
und ihr die Kunst dienstbar zu machen wußte. —
Kaulbach hat einen entscheidungsvollen Wendepunkt aus der alten Geschichte,
Lessing einen bezeichnenden Moment aus dem Mittelalter dargestellt, F. Dietz
dagegen eine folgenschwere Katastrophe aus der neueren Zeit zum Motiv ge¬
nommen: Die Schlacht von Leipzig. Nur zum Motiv; denn nicht der Kampf
selber bildet den Gegenstand des Bildes, sondern der erste Eindruck des errunge¬
nen Sieges auf das Leben des Bürgers und Landmanns, das erste freie Auf¬
athmen einer deutschen Familie, deren Vater dem fliehenden Kaiser Ver¬
wünschungen mit auf den Weg zu geben scheint — mitten auf dem Schlacht-
felde, das überall Spuren des heißen Zusammenstoßes trägt, während im Hin¬
tergrunde das französische Heer in wilder Flucht davonjagt. Ein historisches
Bild ist daher das Werk eigentlich nicht zu nennen, und doch gehört es auch
nicht, da es das Gattungsleben in einem durch die historische Beziehung gestei¬
gerten Moment schildert und in der kleinen Welt die Bedeutung des großen
Umschlages Widerscheinen läßt, in das Gebiet der Genremalerei. In unserer
Z,eit ist kein Mangel an solchen Zwischengattungen. Indessen mag dein sein,
wie ihm will: Dietz zeigt auch hier, wie schon früher, ein besonderes Geschick,
vergangenen Ereignissen durch die Beziehung auf gegenwärtige Ideen ein erhöh¬
tes Interesse zu geben und so in seiner Weise den „zeitgemäßen Inhalt", den
die Malerei sucht, zu erreichen. Mag's drum sein, wenn nun einmal dieser
nicht fehlen soll; obgleich dadurch die Kunst als solche in die zweite Linie ge¬
rückt wird. Allein hier ist doch die einschlagende Größe der weltgeschichtlichen
That allzusehr in's Kleine gezogen und die Umsetzung des heroischen Aufschwungs
in die enge Beschränktheit des kleinbürgerlichen Lebens hat doch zu Viel von
der weichen und flachen Moral Jffland'scher Rührscenen, als daß die Wucht
deo Momentes und seine nationale Bedeutung selbst in diesem bescheidenen
Rahmen zur Anschauung kommen könnten. Und darauf war es doch abgesehen.
Etwas von der Trockenheit und Schwere dieser Auffassung ist auch auf die
Figuren übergegangen, doch ist der Hintergrund, das malerische Schlachtgetüm-
mel, wie immer bei Dich, lebendig, bewegt und trägt den Stempel des künst¬
lerischen Talentes.
Trat in den verschiedenen Bildern, die wir bisher betrachtet haben, die
Frage nach dein Inhalt in den Vordergrund, so kommen wir nun zu einem
Gemälde, in dem offenbar die malerische Behandlung zur Hauptsache gemacht
ist: Piloty's Nero, der nach dem Brande Roms mit seinem Gefolge über die
Trümmer der Stadt hinschreitct. Der Stoff, der «geschichtliche Moment ist nicht
von einschneidender Bedeutung; von einer in den Gang der Dinge mächtig ein¬
greifenden That ist nicht die Rede. Das Motiv, der durch die verewigte Stadt
wandelnde Kaiser, sein Werk und das Elend der Christen, dessen Urheber er
ebenfalls ist, betrachtend, ist wohl geeignet, auf die Phantasie Eindruck zu
machen; aber hier ist nichts von der Heftigkeit aufgerüttelter Leidenschaften,
dem beißen Kampf feindlicher Gegensätze. Es ist im Grund eine ganz einfache
Situation, die nur durch den äußerlichen Contrast des prächtigen Imperators
und der Seinigen mit den Trümmerhaufen und den gemordeten Christen wirkt,
nicht durch den Ausdruck eines aufgeregten Seelenlebens. Demgemäß hat denn
auch der Maler den eigentlichen Vorgang in der Composition mit einer Ein¬
fachheit behandelt, die an Armuth grenzt: und wenn uns bei Kaulbach die
beziehungsweise Fülle der Motive als ein Zuviel erschien, so ließe sich bei
Piloty wohl ein Zuwenig finden.
Aber dem Realismus, zu dem sich Piloty offen bekennt, kommt es nun
einmal auf Gedanken-Tiefe und Reichthum nicht an. Seine Aufgabe ist, die
Kunst von einer blassen und verschwommenen Idealität zu erlösen, sie in die
straffe, farbenglühende Wirklichkeit einzutauchen und ihr mit dem warmen Schein
die Frische und saftige Bestimmtheit des .wirklichen Lebens zu geben. Wir legen
keinen Nachdruck darauf, daß diese neueste Strömung der deutschen Kunst ihre
Quelle in nun schon vorübergegangenen französischen und belgischen Versuchen
hat. Daß unsere Zeit eine realistische ist und sich als solche auch in der Kunst
zu bewähren hat, ist zum Ueberdruß wiederholt worden; und sie soll darin um
so mehr ihr Recht haben, als noch jede Kunstperiode, um zu ihrem Gipfel zu
gelangen, den Durchgang durch eine neubelebende realistische Einkehr in die Natur
zu nehmen hatte. Denn jede Kunst, von einer idealen Anschauung ausgehend
und zugleich aus einer bestimmten Zeit entsprossen, wird in ihrem Fortgange
typisch und erstarrt in conventionellen Formen, wenn sie nicht immer auf's Neue
die Fülle und Bestimmtheit der wirtlichen Erscheinung in sich aufnimmt. Und
dies thut der Gegenwart fast ebenso Noth, als das Studium der großen Vor¬
bilder, von dem oben die Rede war. Aber man hat in unserer Zeit mit dem
Realismus dem Namen sowohl wie der Sache nach nicht geringen Mißbrauch
getrieben. Es wäre ein interessanter Beitrag zur Kenntniß des Jahrhunderts,
die verschiedenen Phasen desselben in der gesammten modernen Kunst zu ver¬
folge»; hier haben wir es nur mit der deutschen zu thun. Der wahre Rea¬
lismus der Malerei besteht in der vollen Herausbildung des Motivs zur.Wcchr-
heit des individuellen Lebens in der Form sowohl, wie in der Farbe; auf die
Wahl des Stoffes kommt es dabei in erster Linie nicht einmal an. Hierzu
darf allerdings die Wärme und Sattheit des Colorits nicht fehlen, ein Scheinen
der Dinge, das ebensowohl ihr Leuchten im Lichte, wie ihre stoffliche Erschei¬
nung bis zur Täuschung des Körperhaften wiedergibt. Aber andrerseits ist die
Durchbildung der bestimmten individuellen Form und Bewegung nicht minder
wesentlich. Und dazu geHort nothwendig das Verständniß der Form in ihre»
allgemeinen normalen Zügen wie in ihrer realen Eigenthümlichkeit, damit die
Gestalt den Wurf und das Gepräge des vollen natürlichen Lebens erhalte.
Soll Beides vereinigt sein, so muß der bestimmte reale Zweck, der die Indivi¬
duen erfüllt, die Erscheinung bis in die Fingerspumi durchdringen; dies erst
ist der wahre Realismus, der zugleich ganz Kunst ist und in das Gebiet der
mit der Natur gesättigten Idealität einbiegt. Ist doch in den Terburg, Velas-
quez und Murillo bei aller Derbheit und Bestimmtheit des realen Lebens eine
Behandlung, die gerade durch ihre vollendete Wahrheit und Durchführung den
zauberhaften Hauch des Idealen über die Bilder ausgießt! —
Der neueste deutsche Realismus bemüht sich freilich wenig, jene Bedingungen
zu erfülle». Ihm kommt es vornehmlich auf das Colorit an, nicht sowohl auf
das stimmungsvolle Vorschweben im elementaren Leben von Licht und Luft,
als auf das körperhafte Scheinen der Dinge, das ihre materielle Beschaffenheit
in blendender Natürlichkeit wiederzugeben sucht. So fehlt es oft sogar am
eigentlich Malerischen, an dem Reiz des seelenvollen Leuchtens und Glühens.
Was die Form und Bewegung anlangt, so begnügt sich diese Richtung, den
zufälligen Moment der drangvollen Wirklichkeit zu belauschen und festzuhalten,
in der ungefähren Nachahmung der vereinzelten Natur die überraschende Wir-
kung einer äußerlichen Wahrheit zu suchen, ohne in dem normalen Bau und
der tief von innen bewegten Eigenheit der Gestalt die Realität künstlerisch durch¬
zuführen. Daher die absichtliche Vernachlässigung der Linie, die vielmehr in
Winkeln und Ecken, wie es die Noth des realen Daseins barbarisch fügt, zu¬
sammenstoßen soll, die äußerliche Charakterisirung der Figuren nach Modellen,
ohne daß in den Zügen und der Bewegung der Charakter als das Werk der
innen arbeitenden Seele erschiene; daher endlich der Mangel einer lebendigen
künstlerischen Anordnung und Abrundung des Vorgangs und das Heraustreten
des todten Beiwerks, das die Personen gleichsam bei Seite schiebt. Das Alles
läßt sich im Nero verfolgen. Von einem Bau der Composition, einem Schwung
der Linie ist leine Rede., die Figuren drängen sich links aus dem Rahmen hin¬
aus, rechts wiedn hinein, die Gruppe der getödteten Christen bildet — in
vielleicht absichtlicher Symbolik — ein Kreuz: die Persötten sind keine Römer,
sondern moderne Italiener in anspruchsvoller antiker Garderobe. In der Form
fehlt die Festigkeit, in der Bewegung die Sicherheit; in dem Ausdruck ist eine
stumpfe Gleichgiltigkeit, die dem Vorgang wohl entsprechen mag^, aber denn doch
in ihrer Weise lebendiger sich aussprechen mußte; nur im Nero ist etwas von
der feigen und brutalen Verworfenheit, die den Imperator charakterisirt. Da¬
gegen sind Schutt, Trümmer und Balken singersdick auf die Leinwand übertra¬
gen und hierin hat es der Maler allerdings zu einer gewissen Täuschung
gebracht.
So kehrt hier, in der entgegengesetzten Richtung, ein ähnliches Verhältniß
wieder, wie wir es bei Kaulbach beobachtet haben: Das eigentlich Malerische sind
die Nebendinge, während der Gegenstand selber von der künstlerischen Behand¬
lung nicht durchdrungen wird. Wie dort auf der Fülle von geistreichen Bezie¬
hungen, so beruht Kier mehr auf der Wahl des Stoffes, als auf der Darstel¬
lung, die Wirkung des Vorganges: das Grasse, Furchtbare, Verwüstung und
Leichname müssen den Ausdruck innern Lebens ersetzen". DaMit das historische
Ereignis? auf den Beschauer Eindruck mache, wählt der Realist einen UnglückS-
f-all. Man sieht, neben der malerischen ist es auch hier auf eine SKt von poe¬
tischer Wirkung abgesehen, die in die sichtbare Erscheinung nicht rein aufgeht;
was Nero in diesem Momente denkt und empfindet — das zu errathen, bleibt
dem Beschauer überlassen. So geräth der Realist, der sich gegen den Gedanken-
reichthum sträubte', dennoch in den Fehler des' Idealisten. Noch deutlicher tritt
dieses am Galilei desselben Malers hervor. Der Astronom betrachtet im Ker¬
ker sein auf den Boden gezeichnetes Planetensystem, auf das chert eiir Sorrnen-
strahl fällt, und denkt: L pur si muovs! Nächstens wird wohl ein Realist' d'ete
alten Kant darstellen, wie er das Problem der- kritischen Philosophie löst. Wie
Calvin den Server für seine Ueberzeugung zu gewinnen sucht, ist schon von
Pixis behandelt. Schade um den Kopf des spawischen Reformators, der nicht
ohne Kraft und Entschiedenheit ist und einer bessern Verwendung, werth ge¬
wesen wäre, sonst wäre auch dies em empfehlenswerther Stoff. Hier sei noch
eines zweiten Galilei vor seinen Richtern oder der römischen Inquisition von
Hausmann gedacht, eines Bildes, das nur durch seine großen Dimensionen, die
übertriebene und doch schemenhafte Charakteristik der Figuren und durch eine
ganz oberflächliche Bravour der Mache sich bemerkbar macht.
Aber schon sind wir aus dem eigentlichen Geschichtsbilde herausgetreten,
und ebenso ist die Frage nach dem historischen Inhalte in die andere nach der
künstlerischen Behandlung übergegangen. Allerdings stehen beide im Zusammen¬
hange; beide verlangen eine Durchdringung der Kunst mit der Wirklichkeit, aber
jede in einem andern Sinne, und so gehen sie nach entgegengesetzten Richtungen
auseinander. Legten die Aesthetik und ein Zweig der modernen Malerei nicht
den Nachdruck auf den bedeutungsvollen, mit seiner Schwere schon in das Ge¬
biet des Bewußtseins hinüberspielcnden Inhalt, so würde auch andrerseits der
Realismus nicht z« dem Extrem der farbenfetten Nachahmung der zufälligen
Erscheinung fortgehen und den Schwerpunkt der Kunst, wie das nun geschieht,
in der selbständigen Ausbildung der sogenannten Technik finden; wie wenn
diese eine von der ganzen künstlerischen Anschauung und Thätigkeit abtrenn¬
bare Sache wäre, die ihren eigenen Weg ginge! Aber in die Gefahr dieser
Einseitigkeit geräth immer der Realismus, wenn er, wie gegenwärtig, zum
Schlagwort wird und ihm in gleicher Absichtlichkeit ein von der Kunst ziemlich
entblößter Idealismus gegenübersteht. Genug der reflectirten Spannung die¬
ser Gegensätze, damit es nichl zu dem Ergebniß komme, das Schiller, der die
ästhetischen Gebrechen unserer Zeit wohl kannte, als drohende Möglichkeit dem
Jahrhundert vorhielt: „Zweierlei gehört zum Poeten und Künstler, daß er sich
über das Wirkliche erhebt, und daß er innerhalb des Sinnlichen stehen bleibt.
Wo beides verbunden ist, da ist ästhetische Ärmst- Aber in einer ungünstigen,
formlosen Natur verläßt er mit dem Wirklichen nur zu leicht auch das Sinn¬
liche und wird idealistisch, und weyn sein Verstand schwach ist gar phantastisch;
oder will er, und muß er, durch seine Natur genöthigt, in der Sinnlichkeit blei¬
ben, so bleibt er gern auch bei dem Wirklichen in dem üblen Sinne des Aus¬
drucks stehen und wird, in beschränkter Bedeutung des Worts, realistisch und
wenn es ihm ganz an Phantasie fehlt, knechtisch und gemein. In beiden Fäl¬
len ist er also nicht ästhetisch."
Arthur Schopenhauer aus persönlichem Umgang dargestellt. Ein Blick auf sein
Leben, seinen Charakter und seine Lehre. Von Wilhelm Gwinner.
Leipzig, F. A, Brockhaus. 18N2.
Wir waren bisher der Meinung, daß man nur Heiligenbilder auf Gold¬
grund malen dürfe. Wir huldigten ferner der Ansicht, daß das Leben und
der Charakter eines echten Philosophen wenigstens im Großen und Ganzen
seiner Lehre entsprechen müsse, und wir hielten uns der Uebereinstimmung
Aller versichert, wenn wir mit dem Begriffe eines Heros der Wissenschaft still¬
schweigend die Vorstellung einer nobeln Gesinnung, humaner Denkart, feinen
Gefühls für das Schickliche und Anmuthige verbanden und kleine Abweichungen
hiervon als Ausnahmen, große als undenkbar ansahen. Wir lebten endlich
der Ueberzeugung, daß eine philosophische Weltanschauung, die den Fortschritt
der Menschheit'in Abrede stellt und deshalb mit Geringschätzung auf die Ge¬
schichte blickt, nach Kant und Hegel nicht wohl mehr möglich, mindestens nicht
an ihrer rechten Stelle sei, da sie von Rechtswegen nicht an das Ende der
Geschichte der Philosophie, sondern an den Anfang dieser Geschichte und der
menschlichen Entwicklung überhaupt, wo es eben noch keine Entwicklung zu be¬
trachten und zu deuten galt, in die Zeiten Schakjamunis, an den Ganges oder
in den Himalaya gehöre.
Ständen diese Ueberzeugungen uns nicht so fest, wie ungefähr der Satz,
daß zweimal zwei vier macht, so würde sie das obige Buch nicht wenig er¬
schüttert haben. Der Verfasser nimmt sich vor und hält sich für befähigt, uns
den wahren Schopenhauer zu zeigen. Er sagt: „Aus dem, was fahrende Li-.
teraten und Zeitungsschreiber, unterstützt von dem Gewäsche neidischer Zunft¬
kritik, über ihn zusammengetragen, ist allmcilig ein Zerrbild in Umlauf ge¬
kommen, dem das Urbild gegenübergestellt werden muß, damit die Nachwelt
die rechte Mitte herausfinden könne sammt der Moral." Wenn er sich dieser
Aufgabe gewachsen glaubt, so müssen wir ihm dies auf den ersten Blick zuge¬
stehen. Er hat den Gegenstand seiner Darstellung lange Jahre genau zu be¬
obachten Gelegenheit gehabt. Er hat einen Trieb zur Wahrhaftigkeit, der kei¬
nen Schatten und Mangel wegzulassen gestattet, und so gibt er uns ein Por¬
trät, das in den Einzelnheiten treu wie eine Photographie ist. Dann aber
werden wir stutzig, zunächst wenn wir lesen, daß Herr Gwinner mit den Haupt¬
ergebnissen des Denkens seines Freundes nicht übereinzustimmen bekennt und
gleichwohl in demselben Athem Nagt, daß das „vulg-us xrok-linia der Pro-
fessionisten" in seiner „angestammten unveräußerlichen Unfähigkeit, die köstliche
Perle seines Geistes, die sie in der philosophischen Literatur unserer Tage ver¬
graben finden wie der Hahn in der Fabel, zu würdigen und zu verwerthen",
die neue Frankfurter Weltweisheit nicht gebührend ehrte. Noch mehr aber er¬
staunen wir, wenn die Mittheilungen, welche uns der Verfasser über Schopen¬
hauers Leben macht, uns einen Charakter zeigen, den selbst das mildeste Urtheil
keinen edelgebildeten nennen würde, der fast in allen seinen Zügen abstößt, in
keinem Zuneigung erweckt, ja der, ohne die entschuldigende Erinnerung an die
Umstände angesehen, unter denen er sich entwickelte, dem gewöhnlichen Gefühl
geradezu verächtlich erscheinen muß. und wenn wir zu gleicher Zeit erfahren,
daß diese Persönlichkeit ein Genius ersten Ranges, ein hochbegnadigtcr Denker,
eine Art Halbgott gewesen ist, der aus allen Poren geistiges Licht vom hellsten
Glanz ausströmte, und dem wir darum tiefe Verehrung zu zollen haben.
Wir sehen's nicht, obwohl wir uns alle Mühe geben, aber wir müssen's
glauben, wenn wir nicht vorziehen wollen, zu dem „ pi-okriiuln vulgus" der
Gwinncrschen Kraftsprache gerechnet zu werden. Wir fragen nach dem Grund
des uns zugemutheten Glaubens und finden in dem Buche, -wofern wir uns
nicht im Schlußkapitel auf phrenologischen Wege bekehren lassen wollen, kaum
eine andere der Berücksichtigung werthe Antwort als- er selbst, der Meister,
hat's gesagt. Da wir diesen Grund nicht wohl als zureichenden anzuerkennen
vermögen, so untersuchen wir das von Freundeshand gemalte Porträt noch¬
mals mit möglichster Gewissenhaftigkeit, aber das Resultat bleibt dasselbe: eine
Photographie, die nicht zu der Rctouche stimmt. Goldgrund um eine Grimasse,
moralische Gelbsucht für Beleuchtung von oben gehalten, ein Kopf, dessen nicht
gewöhnliche Größe Raum für manchen guten Einfall hat, und eine Brust so
schmal und dürftig, d.aß sie nicht einmal für die gewöhnlichsten Empfindungen
rechtschaffner Menschen, ja daß sie eigentlich fast nur Raum für die Eigen¬
liebe ihres Besitzers hat — das Ganze ein Widerspruch, der unlösbar sein,
würde, wenn nicht zunächst die Erinnerung ausbälfe, daß in Glaubenssachen
die Vernunft aufhört, und daß es Augen gibt, welche das, was ein normal
organisirtes Auge fahlgelb oder aschgrau nennt, himmelblau oder rosenroth fin¬
den, und die deshalb in den Fall kommen können, Häßliches für schön zu
halten.
Oder wäre der Vorwurf, de.r darin liegt, etwa uns zurückzugeben? Lieder
wir selbst etwa an einem Fehler der Sehkraft, der uns umgekehrt das Schöne
häßlich erscheinen ließe? Der folgende Auszug aus der Gwinnerschen Schrift
mag darauf antworten.
Arthur Schopenhauer stammte aus einer angesehenen Danziger Fa¬
milie und wurde am 22. Februar 1738 geboren. Sein Vater, seinem Beruf
noch Kaufmann, war ein rücksichtslos heftiger und zäher Charakter, in poli¬
tischen Dingen Aristokrat und Preußcnfeind, im Uebrigen Weltmann, Liebhaber
französischer und englischer Sitten und Freund vom Reisen, Die Mutter des
Philosophen, eine geborene Trosiener, anmuthig, gesellig, zu allerlei Vergnü¬
gungen geneigt, nicht ohne gute Talente, später als Schriftstellerin thätig*)/
wählte den viel älteren Gatten nicht aus Neigung. Als im März 1793 der
Freistaat Danzig der preußischen Monarchie einverleibt wurde, wanderte die
Schopenhauersche Familie nach Hamburg aus, wo sie, mit mancherlei Unter¬
brechungen durch Reisen, zwölf Jahre verblieb. Frühzeitig lernte der Knabe
auf diesen Reisen die Welt kennen und namentlich Frankreich, wo er vom
neunten bis zum elften Jahre bei einem Geschäftsfreund seines Vaters lebte
und sich so sehr zum Franzosen umwandelte, daß er selbst seine Muttersprache
vergaß. Heimgekehrt sollte er sich zum Kaufmannsstand vorbereiten; zwar ge¬
lang es seiner früh erwachten Neigung zur Wissenschaft endliche den Vater zu
bewegen, ihn das Gymnasium beziehen zu lassen, doch wurde er von diesem
noch vor endgiltiger Beschlußfassung durch das Versprechen einer längeren
Reise ins Ausland umgestimmt, die ihn in den Jahren 1803 und 1804 nach
Belgien, England, Frankreich und der Schweiz führte, und nach deren Been¬
digung er bei Senator Jenisch in die kaufmännische Lehre trat. Kurze Zeit
nachher erfolgte der plötzliche Tod seines Vaters, wie es scheint — denn er
litt an krankhaften Beängstigungen — durch Selbstentleibung, und dieser
Todesfall gab der Wittwe und dem Sohne eine Freiheit, welche beide, ihren
Charakteren gemäß, nach entgegengesetzten Richtungen führte. Jene siedelte
mit ihrer Tochter an Weimars Musenhof über, wo sie bald mit allen Be¬
rühmtheiten der Stadt befreundet wurde. Dieser verfolgte noch eine Zeit lang
mit Widerstreben die ihm verhaßte kaufmännische Laufbahn, erhielt aber end¬
lich von der Mutter auf den Rath Fernows die Erlaubniß, sich den gelehrten
Studien zu widmen, und bezog zu diesem Zweck zunächst das Gymnasium zu
Gotha, wo er rasche Fortschritte machte, sich aber bald durch hochmüthige
Verspottung eines Lehrers eine Demüthigung zuzog, die ihn von dort ver¬
trieb.
Seine Mutter wünschte, er solle nach Altenburg gehen. Er aber zog es
vor. in Weimar zu bleiben und sich durch Privatstudium unter Passvws Lei¬
tung auf die Universität vorzubereiten. Doch wohnte er nicht im Hause der
Mutter, und zwar deshalb nicht, weil dieselbe'sich, durch das melancholische und zu¬
gleich dünkelhaft absprecherische Wesen des Sohnes unangenehm berührt fand.
Der junge Philosoph muß in der That schon damals der unleidliche Timon
gewesen sein, der später in Frankfurt Stadtsigur wurde. „Ich habe dir im-
mer gesagt," schrieb ihm die Mutter einst, „es wäre sehr schwer mit dir zu
leben, und je näher ich dich betrachte, desto mehr scheint diese Schwierigkeit,
für mich wenigstens, zuzunehmen. Ich verhehle dir nicht, so lange du bist,
wie du bist, würde ich jedes Opfer eher bringen, als > mich dazu entschließen.
Ich verkenne dein Gutes nicht, aber . . . ich kann mit dir in nichts, was die
Außenwelt angeht, übereinstimmen; auch dein Mißmuth, deine Klagen über
unvermeidliche Dinge, deine finstern Gesichter, deine bizarren Urtheile, die wie
Orakelsprüche von dir ausgesprochen werden, ohne daß man etwas dagegen
einwenden dürfte, drücken mich und verstimmen meinen heitern Humor, ohne
daß es dir etwas hilft. Dein leidiges Disputiren, deine Lamentationen über
die dumme Welt und das menschliche Elend machen mir schlechte Nacht und
üble Träume."
Wie sichs mit solch einer Melancholie, solchem Jammer über die schlechte
Welt vertrug, daß der junge Herr als Gothaer Gymnasiast den Dandy spielte,
sich von Hamburg eine neumodische Claque verschrieb, den Umgang von Ba¬
ronen und Comtessen suchte u. s. w. überlassen wir Andern zu erklären. Ge¬
nug, daß er, nach Weimar übergesiedelt, sich ernstlich aus Lernen machte und
auf diese Weise schon im Jahr 1309 dahin gelangte, die Universität beziehen
zu können. Er wählte Göttingen und ließ sich dort in der medicinischen Fa-
cultät einschreiben, ging aber bald zum Studium der Philosophie über, bei
dem Schultze, der Verfasser des „Aenesidem", von entscheidenden Einfluß auf
ihn'wurde, indem er ihm rieth, vorerst allen Fleiß auf Plato und Kant zu
verwenden.
Im Herbst 1811 ging er nach Berlin. „Durch Fichte's Ruf dahin gezo¬
gen, brachte er bereits zu viel Selbstgefühl und Selbständigkeit des Urtheils
mit, um dem (man bemerke, daß Herr Gwinner spricht) zur Sophistik ausge¬
arteten Philosophiren dieses merkwürdigen Mannes gläubig zu folgen," und
„bald wich die Verehrung ir pi'iori der Geringschätzung und dem Spotte," der
auch das Aendere des Lehrers zur Zielscheibe nahm, dessen Enthusiasmus für
hohles Pathos erklärte und später zur niedrigen Schimpferei im Styl der
Frankfurter Vorstädte ausartete. Aehnlich verhielt er sich zu Schleiermacher, bei
dem er Geschichte der Philosophie im Mittelalter hörte, und den er einen
„Pfaffen" schalt, während Hegel ihm ein „ekelhafter Schwätzer," Solger für
ihn nur ein „süßer Herr" war. - Außer philosophischen Kollegien hörte er
naturwissenschaftliche und philologische, letztere namentlich bei Wolf, welcher
einer der wenigen Professoren gewesen zu sein scheint, die ihm imponirten.
Der ausbrechende Freiheitskrieg, der den „Windbeutel Fichte" zu seinen
Reden an die deutsche Nation begeisterte und selbst den schwächlichen Schleier¬
macher auf den Exercierplatz rief, ließ unsern Philosophen kalt, und nach dem
zweifelhaften Ausgang der Schlacht bei Lützen flüchtete er zuerst nach Dresden,
dann nach Rudolstadt, nicht blos, wie sein Biograph meint, weil jetzt an eine
ruhige Promotion in Berlin nicht mehr zu denken war, sondern auch, wie das Spätere
zeigen wird, weil einer der Grundzüge seines Wesens in unüberwindlicher Feig¬
heit bestand und weit davon gut vor dem Schuß ist. In Rudolstadt schrieb er
die Abhandlung „über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde",
auf Grund deren er von der philosophischen Facultät zu Jena promovirt
wurde. Den folgenden Winter verlebte er in Weimar, wo er mit seiner Mut¬
ter immer mehr zerfiel. „Er warf ihr vor, das Andenken seines Vaters nicht
genug geehrt zu haben". —- „Ich und du sind zwei! Pflegte er manchmal aus
der tiefsten Verstimmung heraus ihr zu sagen". — „Als er ihr die vierfache
Wurzel überreichte, scherzte sie, das sei wohl etwas für den Apotheker. Man
wird es noch lesen, entgegnete er, wenn von deinen Schriften kaum noch ein
Exemplar in einer Rumpelkammer stecken wird". — „Damals schon sprach er
die Absicht aus, der Philosoph des neunzehnten Jahrhunderts zu werden." —
„Die Furcht des Sohnes, daß das väterliche Vermögen in den Händen der
Mutter noch ganz zusammenschwinden und ihm damit der Boden unter den
Füßen weggezogen werden könnte — denn zum Erwerb fühlte er sich gänzlich
unfähig — steigerte sein Mißtrauen zur Angst und führte zu so heftigen Auf¬
tritten zwischen beiden, daß sie ferner nicht zusammen leben konnten."
Mit Goethe bekannt geworden, beschäftigte er sich mit dessen Farbenlehre
und studirte unter Anleitung desselben Optik, wobei er fand, „daß Goethe die
Entstehung der sogenannten physischen Farben richtig erkläre, ebenso aber auch
daß dessen Lehre die Stelle einer allgemeinen optischen Theorie, die weder phy¬
sisch noch chemisch, sondern physiologisch gefaßt werden müsse, nicht vertreten
könne."
Im Frühjahr 1814 zog er nach Dresden, wo er vier Jahr blieb und das
Buch „die Welt als Wille und Vorstellung" verfaßte. „Obwohl die angebo¬
rene Aristokratie seines Charakters auch hier seinen Umgang sehr beschränkte,
so lebte er doch nicht eingezogen, sondern verkehrte mit den Zeitgenossen und
wußte seine ihr Recht fordernde Jugend, so weit es der höhere Zweck, die sou¬
veräne Macht seiner Bestimmung zuließ, als Mann von Welt zu genießen".
Als Kommentar zu diesen Andeutungen diene, daß sein Umgang durch „die an-
geborne Aristokratie seines Charakters" auf Belletristen dritten Ranges wie
Heult, F. A. Schulze (Laun) und Gustav Schilling sowie auf den gutherzig
duldsamer Dilettanten v. Quandt beschränkt wurde*) und daß die Genüsse,
welche „seine Jugend als ihr Recht forderte", — man vergleiche Seite 45. 49,
54 und vorzüglich 147 — vor Allem beim andern Geschlecht gesucht worden
zu sein scheinen. Auf die Entstehung jenes Buchs wirkten außer Kant beson-
ders Helvetius und Cabanis ein. „Beide nämlich öffneten ihm die Augen über
die secundäre Natur des Intellects. deren speculative Begründung ihm, zumal
der Modephilosophie seiner Zeit gegenüber, zum unvergänglichen Ruhm gereicht,
und die er selbst als den Brennpunkt und als das wesentliche Verdienst seiner
Lehre urgirt". Das Werk erschien un November 1818, während sein Verfasser
nach Italien abgereist war.
„Das stolze Gefühl, der Welt seine Schuld abgetragen zu haben, beglei¬
tete ihn über die Alpen". — „In Rom, wo er vier Monate blieb, und in
Neapel verkehrte er besonders viel mit jungen Engländern. Als erregendes Cen¬
trum eines bald größeren, bald kleineren Kreises nahm er auch Theil an allen
Excentricitäten desselben. Hier sehen wir den „misanthropischen Weisen" in einer
anderen Gestalt als der landläufigen des deutschen Stubengelehrten". Nament¬
lich in Venedig „wo die Zauberarme der Liebe ihn umstrickt hielten, bis die
innere Stimme ihm gebot sich loszureißen und seinen Weg allein weiter zu
wandeln", scheint diese Gestalt eher an Byron, der sich damals ebenfalls dort
aufhielt, als an den deutschen Stubengelehrten erinnert zu haben. Von italie¬
nischen Dichtern war ihm Petrarca der liebste. Im Gebiet der Kunst richtete
er seine Aufmerksamkeit hauptsächlich auf Plastik und Architektur. Aus dem der
Musik gab er Rossini den Vorzug.
„Mitten in diese sorglose Heiterkeit seiner italienischen Reise siel die Un-
glücköpost von dem Sturz des Danziger Handelshauses, dem seine Mutter den
größten Theil ihres Vermögens ohne Sicherheit anvertraut hatte. Sie und ihre
Tochter gingen ans diesem Bankerott fast verarmt hervor; ihn selbst bewahrte
zeitiges Mißtrauen und energisches Auftreten vor empfindlicheren Verluste".
Indeß rief ihn der Unfall früher, als er beabsichtigt, in die Heimath zurück,
und „die Möglichkeit in eine des Erwerbs bedürftige Lage zu kommen, drängte
den immer das Schlimmste befürchtenden Mann zum Eintritt ins praktische
Leben."
In Frühling 1820 ging Schopenhauer nach Berlin, um sich, indem er
bald aus den durch Solgers Tod damals gerade leer gewordenen philosophischen
Lehrstuhl berufen zu werden hoffte, als Docent zu habilitircn. Der Erfolg
dieses Versuchs entsprach seinen Erwartungen nicht. Hegel und Schleiermacher
hatten bereits das Terrain erobert, der junge Philosoph fand keine Zuhörer,
außerdem sagten ihm Klima. Manieren und Wirthstafcln Berlins nicht zu. und
so floh er schon im Frühjahr 1822 wieder nach Italien zurück. Sein geselliger
Umgang in Berlin hatte sich wenig in der akademischen Sphäre bewegt. „Die
Concurrenten mied er absichtlich, und die Pedanterie des deutschen Gelehrten-
thums ekelte ihn an. Besser kam er mit Weltlenker zurecht, die er überall
nach aristokratischen Maximen wählte". Welchen Schlags diese aristokratischen
Maximen waren, wo sichs um geringes Volk handelte, zeigte er einst bei einem
Vorfall, den wir zugleich als Probe für die Ansichten seines Biographen über
den Umgang mit Menschen von Herrn Gwinner selbst erzählen lassen. Eine
gekannte seiner Hauswirthin 1821 hatte die Gewohnheit, in seinem Vorzimmer
Kaffeebcsuche zu empfangen. „Diese Person warf er einst unsanft zur Thür
hinaus, wobei sie auf den rechten Arm siel und arbeitsunfähig geworden sein
wollte. Es kam zum Proceß, der für ihn ungünstig endete; dear er mußte die
Alte lebenslänglich alimentiren. Sie besaß leider (!) eine zähe Constitution:
selbst der Würgengel der Cholera rang vergebens mit ihr, und er trug die Last
über zwanzig Jahre, bis er endlich auf ihren Todtenschein schreiben konnte!
odit HM«, Able onus".
Aus Italien wieder M'ückgetehrt, nahm Schopenhauer 1825 einen aber¬
maligen Anlauf, sich in Berlin einen philosophischen Lehrstuhl zu gewinnen,
aber zu seinem Eolleg meldete sich nur „jene bekannte akademische Demimonde,
welche mit Professoren speist und aus Langeweile, Courtoisie oder Eitelkeit ein¬
mal in den Hörsaal gelaufen kommt, ohne ständiges Mitglied eine Collegs wer¬
den zu wollen." „So machte er sich denn mit dem Gedanken vertraut, auf
jede mündliche Lehrthätigkeit zu verzichten; denn den Versuch anderwärts zu
erneuern, erlaubte sein gerechter Stolz nicht." In der letzten Zeit seines Ber¬
liner Aufenthalts machte er die persönliche Bekanntschaft Alexanders von Hum¬
boldt, dem er sich Anfangs mit Verehrung näherte, bald al'er fremd fühlte, da
er in ihm nur Talent, nicht Geist, nur scivntig., nicht sapiontia fand, und der
ihm zuletzt auch nur einer von den „Götzen der Zeit" war.
„Der cirißere Anstoß, dessen es noch bedürfte, um ihn für immer von Ber¬
lin zu scheiden, war endlich die Cholera", die 1831 dort auftrat. Er beschloß,
sich im südlichen Deutschland als Privatgelehrter anzusiedeln und wählte Frank¬
furt, „nicht per Frankfurter wegen, sondern einzig um des Komforts", der ihm
— wie Gwinner wiederholt bemerkt, — zur Vollbringung seiner Mission un¬
umgängliches Bedürfniß war, „und der cholerafesten Lage willen." Hier
lebte er von 1833 an fast ein Menschenalter hindurch „unter den Shvpkeepers
und Moneymakers — was sage ich! unter den Doctoren dieser vortrefflichen
Stadt ungestört und unerkannt", bis endlich vor etwa zwölf Jahren auch von
der Welt außer ihm die Entdeckung gemacht wurde, daß er wirklich und wahr¬
haftig der Philosoph des neunzehnten Jahrhunderts sei.
Wie er aussah, möge man im dritten Kapitel Gwinners nachlesen. Hier
genüge, zu bemerken, daß er unter Mittelgröße und von gedrungnem Bau war,
daß er einen ungewöhnlich großen Kopf, glanzreiche blaue Augen und einen
breiten Mund hatte, daß „sein Gesicht von Geist phosphorescirte", und daß
„seine Haltung durchweg aristokratisch war", worunter zu verstehen ist, daß er
„stets in ganzer Toilette, schwarzem Frack (nach dem Kleiderschnitt seiner Ju¬
gend), weißer Halsbinde und Schuhen erschien."
Auch in Betreff der Art, wie er sprach, müssen wir auf das Buch ver¬
weisen, welches darüber ausführlich Auskunft ertheilt, und uns darauf beschrän¬
ken, seinem Biographen zu glauben, wenn er sagt, daß seine Rede sich gern auf
das Höhere, im Wechsel der Erscheinung Beharrende lenkte und anschaulich, ein¬
fach, präcis, licht und lebendig war.
„Schopenhauer las viel und wußte Viel, aber nicht Vieles". — „Von Ju¬
gend auf hatte sich sein eigentliches Studium auf einzelne Capitalwerke beschränkt."
— „Er las mehr in fremden Sprachen als im Deutschen; vor Allem waren die
griechischen und römischen Classiker zeitlebens sein vertrauter Umgang." Unter den
Lateinern war Seneca sein Liebling. Ueber die deutschen philosophischen Schrift¬
steller meinte er: „Es solle sich nur jeder unbefangen prüfen, ob er aus den an¬
spruchslosen und veralteten Schriften eines Reimarus, Garve, Sulzer, Platner,
Feder, Meiners, ja selbst eines Krug nicht noch heutigen Tags mehr zu lernen
vermöge, als aus denen der drei berühmten nachkantischen Sophisten."
Übersetzungen zu gebrauchen hielt er für eines Gelehrten unwürdig, doch be¬
schäftigte er sich zuweilen selbst mit Uebersetzen. Von den neuern Literaturen
cultivirte er am meisten die englische. Besonders emsig verfolgte er die Fort¬
schritte in der Kenntniß des Orients, namentlich der Lehren des Buddhismus, der
in wesentlichen Punkten mit den Ergebnissen seiner Speculation zusammenfiel und
dessen Stifter in einer vergoldeten Statuette in seinem Zimmer eine Stelle fand.
Aus ähnlichen Gründen ehrte er die deutschen Mystiker und Quietisten wie
Meister Eckhart und Angelus Silesius, sowie die Trappisten, die er die ehr¬
würdigsten Mönche nannte. „Schriftstücke, an denen er sich immer von Neuem
erbaute, waren die 105. Epistel des Seneca, der Anfang von Hobbes „alö cioe",
Macchiavells „Principe", die Rede des Polonius an Laertes im Hamlet, die
Maximen Gracians (eines spanischen Jesuiten des 17. Jahrhunderts, dessen Werk
er ins Deutsche übertrug), die Schriften der französischen Moralisten, Shenstone's
und Klingers." Von Dichtern las er am fleißigsten Shakespeare und Goethe, dann
Calderon und Byton, „dessen pessimistischer Kain ihn natürlich am meisten ent¬
zückte." — „Unter den Lyrikern hielt er neben Petrarca Burns und Bürger in
hohen Ehren."
1836 erschien von ihm die kleine Schrift „Ueber den Willen in der Na¬
tur", 1341 „die beiden Grundprobleme der Ethik", 1844 der zweite Band der
„Welt als Wille und Vorstellung", dem 18S1 die „Parerga und Paralipomena"
folgten.
Wir kommen zum sechsten Kapitel der Gwinnerschen Biographie, welches
die für den Leser des Vorigen vermuthlich schon entschiedene Frage beantwortet:
„Wer er war?" Diese Antwort lautet für uns, um das gleich von vornherein
zu sagen: Schopenhauer war ein bedeutendes Talent, welches jedoch von einer
tiefcomplicirten ethischen Verbildung ergriffen, von einer fast unerhörten, durch
Nichtanerkennung seiner werthvolleren Leistungen nur gesteigerten und zugleich
verbitterten Selbstüberhebung überwuchert, von angeborner Melancholie ver¬
dunkelt, in Pessimismus und Quietismus, Weltschmerz und eine barocke, bis¬
weilen geradezu komische, auf alle Fälle bemitleidenswerthe Menschenverachtung
umschlug.
Herr Gwinner freilich erklärt sich das anders. Ihm ist Schopenhauer ein
Genie, und ein Genie muß sich in der Welt fremd und einsam fühlen, sich
des Gegensatzes zu ihr bewußt sein. „Dle geniale Individualität löst ihren
vorweltlichen Rapport niemals völlig, setzt ihrer Entfaltung in dieser Welt An¬
fangs den zähesten Widerstand entgegen, knüpft nur scheu und ungelenk jedes
neue Verhältniß an, dessen tiefere Wirkung sie instinctiv voraussieht und fürch¬
tet, und bewahrt sich so länger die ursprüngliche Form des Gemüths, die uns
aus den seligen Augen der Kindheit anlacht. Daher sieht sich dem den sichern
Schatz im Herzen tragenden Genius das Spiel des Lebens nur in der Vor¬
stellung leichter an, im Willen aber schwerer, und der wehmüthige Blick, den
er, je weiter er im Leben fortschreitet, desto sehnsüchtiger nach der entschwin¬
denden Kindheit zurückwirft, ist der Ausdruck des Gefühls dieser unüberwind¬
lichen Schwere des Daseins." — Dem künstlerischen Genius „gelingt es eher,
sich zurechtzusetzen mit der Welt, die des Schönen so viel hat, und wenn er jci
verzagen wollte, strömt er sein Herzblut in Bild und Gedicht aus, deren Schein
die fehlende Wirklichkeit des Ideals für Augenblicke vergessen läßt. Da¬
gegen der arme einsame Denker, dem kein Gott gab, zu sagen, was er lei¬
det, zieht sich scheu zurück aus dem regen Handel dieser Welt: er eilt
vom lauten Marktplatz des Lebens wie ein geschlagenes Kind, aus Furcht,
sein Alles zu verlieren, sich selbst abtrünnig werden zu müssen, wenn er sich
fügte."
Wir halten uns nicht damit auf, diese wundersame Anschauung vom Wesen
des philosophischen Genies in ihrer Verkehrtheit darzustellen, und fragen nur, wie
in aller Welt paßt dieser orphische Styl zu den sehr prosaischen Mittheilungen
über Schopenhauer, die unmittelbar nachher folgen, und zunächst zu der wahr¬
haft ungeheuerlichen Feigheit unseres Weltweisen? Schon als Jüngling quälen
ihn eingebildete Krankheiten und Streithändet. Während er in Berlin studirt,
hält er sich für auszehrend. Beim Ausbruch des Freiheitskriegs verfolgt ihn
die Furcht, für sein Vaterland ankämpfen zu müssen. Aus Berlin vertreibt
ihn die Cholera, aus Neapel die Angst vor den Blattern. In Verona pei¬
nigt ihn der Gedanke, vergifteten Schnupftabak genommen zu haben. Jahre
lang wird die Flamme seines Genius durch die Furcht vor dem Verlust seines
Vermögens und vor Anfechtung der Erbtheilung seiner eigenen leiblichen Mut¬
ter gegenüber getrübt. Entsteht in der Nacht Lärm, so fährt er vom Bett auf
und greift nach den Pistolen, die er beständig geladen hält.
Seine Werthsachen versteckte der (beiläufig in der legten Zeit sehr sparsam
gewordene und geschickt in Staatspapieren speculirendcj Genius dergestalt, daß
trotz der lateinischen Anweisung, die sein Testament dazu gab, Einzelnes nur
mit Mühe zu finden war. „Keine Aufzeichnung, die sein Vermögen und seine
häusliche Oekonomie betraf (er war nie verheirathet), vertraute er der Landes¬
sprache an. Er führte sein Ncchnungsbuch englisch und bediente sich bei wich¬
tigen Gcschäftsnvtizcn des Lateinischen und Griechischen. Um sich vor Dieben
zu schützen, wählte er täuschende Aufschriften, verwahrte seine Werthpapiere
als arcana meckitür, die Zinsabschnittc besonders, in alten Briefen und Noten¬
heften und sein Gold unter dem Tintenfaß im Schreibepult. Nie vertraute er
sich dem Scheermesser eines Barbiers an; auch führte er stets ein ledernes
Schiffchen bei sich, um beim Wassertrinken in öffentlichen Localen nicht der
Ansteckung preisgegeben zu sein. Die Spitzen und Köpfe seiner Tabakspfeifen
nahm er nach jedesmaligem Gebrauch unter Verschluß. Aus Furcht vor dem
Scheintode verordnete er, daß seine Leiche über die gewöhnliche Zeit hinaus
beigesetzt werden sollte. In Vertragsverhältnissen fürchtete er in der Regel
betrogen zu werden."
Mit Chamfort meinte er, der Weisheit Anfang sei die Furcht vor den
Menschen. Mit Leopardi hielt er den Betrug für die Seele des gesellschaft¬
lichen Lebens und die Weit für eine Verschwörung der Schurken gegen die
ehrlichen Leute. Derselbe Mann, welcher lehrte, der beste Mensch sein, heißt
zwischen sich und den andern den wenigsten Unterschied machen, der schlechteste,
den meisten — hatte, wie der Evangelist Gwinner sich ausdrückt, „von der
Wiege bis zum Grabe die unerschütterliche Ueberzeugung", oder wie wir es
richtiger auszudrücken glauben, den wahnwitzigen Hochmuth, „daß ihn Sternen¬
weiten von denen trennten, mit denen er leben, die er lieben sollte." Gwinner
illustrirt das mit einer ganzen Reihe von Sprüchen seines Philosophen, von
denen wir einige besonders bezeichnende auswählen.
„Schon mit dreißig Jahren war er es herzlich müde, Wesen für seines
Gleichen ansehen zu müssen, die es wahrhaftig nicht seien. So lange die
Katze jung sei, spiele sie mit Papierkügelchen, weil sie solche für lebendig, für
etwas ihr selbst Aehnliches halte; aber wenn sie älter geworden, wisse sie was
es sei und lasse es liegen. So sei es ihm mit den dixoclss gegangen.
similis simili gucket: um von den Menschen geliebt zu werden, müßte
man ihnen ähnlich sein; das aber hole der Teufel! Was sie zusammenbringe
und zusammenhalte, sei ihre Gemeinheit, Kleinheit, Plattheit, Geistesschwache
und Erbärmlichkeit. Daher sei sein Gruß an alle bixoelös- xax vobiscum,
niliil a,mMu8."
„Fast jeden Contact mit Menschen hielt er in seinem reiferen Alter für
eine eontaminÄtiyn, ein ac-Aemont. Sie seien so beschaffen, daß wer im
Laufe seines ganzen Lebens am wenigsten mit ihnen sich zu thun gemacht
habe, der Weiseste gewesen sei. Man sollte sich ansehen wie ein Brahmine
unter Sudras und Parias."
„In einer Welt, wo wenigstens fünf Sechstel Schurken oder Narren oder
Dummköpfe seien, müsse für jeden des übrigen Sechstel, und zwar um so mehr,
je weiter er von den Andern abstehe, die Basis seines Lebcnssystcms Zurück-
gezogenheit sein, je weiter, desto besser. Die Ueberzeugung, daß die Welt eine
Einöde sei, in der man nicht auf Gesellschaft zu rechnen habe, müsse zur Em¬
pfindung und habituell werden."
Diese Verachtung der Menschen muß sich sehr lange Zeit nur auf die eine
Hälfte des Geschlechts erstreckt haben. „Mit Lord Byron seufzte er oft, daß
es ihm so schwer werde, mit den Weibern zu brechen, und doch so leicht,
mit den Männern." Und erst von seinem hohen Alter gilt es, wenn sein
Biograph bemerkt: „vor Allem schätzte er sich mit Sophokles glücklich, dem
Taumel der Aphrodisien entrückt zu sein (der kurz vorher als „abnorm starke
Heftigkeit der Triebe" bezeichnet wird); denn in diesem Punkte war das Selbst-
genügen des Jünglings auf schwachen Füßen gestanden."
Mit dem, was Schopenhauer lehrte, was man etwa sein System nennen
könnte, können wir uns hier nicht eingehend beschäftigen. Eine kritische Ueber¬
sicht davon findet man im siebenten Abschnitt unsres Buchs. Seine Anhänger
meinen in seiner Lehre einen werthvollen Fortschritt, eine Vollendung des
Werkes Kants zu haben. Wir leugnen dies entschieden. Als geistreicher Kopf
hat Schopenhauer eine ziemliche Anzahl interessanter Entdeckungen gemacht,
z. B. daß die Welt androgyner Natur ist (wie die Auster), daß der Mensch
seinen Willen vom Vater, den Intellect oder die Vorstellung von der Mutter
erbt u. s. w. In anregender Weise und gutem Styl hat er den Umstand er¬
klärt, daß die Natur den Frauen den Bart versagt hat. Lesenswert!) ist, was
er über die Architektur der alten Griechen bemerkt, nicht unrichtig Manches von
dem, was er, freilich fast immer mit Uebertreibung, im Tone widerlichen Kei-
sers und das Kind mit dem Bade verschüttend, über Schelling und Hegel
äußert. Daß seine Philosophie eine neue Epoche bilden werde, daß diese bis
jetzt fast nur von Dilettanten gepriesene Lehre, die zuletzt auf Ertödtung des
Willens zu Gunsten des Intellects, auf die buddhistische Nirwana hinausläuft,
unsre Zeit erobern werde, ist glücklicherweise eben so wenig zu erwarten als
zu wünschen. Die deutsche Gegenwart hat sich von der Philosophie abgewandt,
um das, was der letzte große Philosoph, was Hegel Wahres gefunden, aus
dem Gebiet der Erfahrungswissenschaften, vor Allem auf dem der Geschichte,
praktisch zu verwerthen. Letztere und die Naturkunde sind es, in denen unser
Geschlecht für sein Heil arbeitet, von denen es sich für eine neue Epoche er¬
ziehen und rüsten läßt. Für speculative Wissenschaften D nur jnoch geringes
Bedürfniß vorhanden, und nichts steht in schrofferem GegensaK z» allen Be¬
strebungen der Gegenwart, als der Quietismus und das Eremitenthum, die
Schopenhauer uns predigt, und auf die er selbst schwerlich in so exorbitantem
Grade verfallen sein würde, wenn sich ihm zu rechter Zeit eine Professur dar¬
geboten hätte.
Gwinner selbst läßt gelegentlich durchblicken, daß es schwer ist, die Wider¬
sprüche im Leben seines Halbgottes zu erklären. Für ihn scheint ihm dies ziem¬
lich gelungen zu sein. Für uns, welche die Freundschaft nicht blendete,
ist es mißlungen. Wir sehen in seinem ..Urbild" nichts Anderes als das „Zerr¬
bild", über das er sich beklagt- einen begabten, nach gewissen Seiten unge¬
wöhnlich scharfsinnigen Geist, aber zugleich ein krankes Gemüth, ein enges, dürres,
verbittertes Herz, ein Vornehmthun, das an SeMvergötterung streift, einen
Splitterrichter, der den Balken im eigenen Auge nicht sieht, einen polternden
Feigling. Die Menschenverachtung Schopenhauers als Heimweh des Genius
deuten, ist mystische Täuschung, eine Philosophie, welcher die Erde ein
Jammerthal ist und die gleichwohl ohne behaglichstes' Versorgtsein ihres
Begründers nicht entstanden wäre, consequent finden, ist sinnlos. Das Buch
ist eine Krankengeschichte, die im Ton eines Evangeliums vorgetragen wird.
Philister über Dir, Simson! — So könnten die Junger Schopenhauers
bei diesem Resultat unsrer Betrachtung ihrem Meister in das selige Nirwana
nachrufen. Mögen sie's thun. Wir nehmen den Philisternamen in Sachen
der Sittlichkeit als Ehrennamen an und gestatten, so viel an uns ist, nicht,
daß man dem Talent eine create Stellung über der Sphäre des Gewissens
gebe, wir würden dies auch dann nicht gestatten, wenn der Weltweise von
Frankfurt wirklich das Genie wäre, welches die Mode in einigen Kreisen aus
ihm gemacht hat. Die Tage, wo dies in Deutschland erlaubt war, sind Gott
Lob vorüber, und in diesem Sinne hat Herr Gwinner Rechf, wenn er meint,
daß ,,die deutsche Welt nicht eingerichtet ist für Genies."
Das Buch erzählt, daß Schopenhauer einmal geäußert, wie er sich bis¬
weilen irrthümlich für einen Andern gehalten, „z. B. für einen Privatdocenten,
der nicht Professor wird und keine Zuhörer hat, oder für einen, von dem dieser
Philister schlecht redet und jene Kaffeeschwester klatscht, oder für den Beklagten
in jenem (oben angeführten) Insurienprocesse, oder für den Liebhaber, den jenes
Mädchen, auf das er capricirt ist, nicht erhören will, oder für den Patienten,
den seine Krankheit zu Hause hält, oder für andrere ähnliche Personen, die an
ähnlichen Missren laboriren. Das Alles sei er nicht gewesen, das Alles sei
fremder Stoff, aus dem höchstens der Rock gemacht gewesen sei, den er eine
Weile getragen und dann gegen einen andern abgelegt habe. Wer aber sei er
denn? Der, welcher die Welt als Wille und Vorstellung geschrieben und vom
großen Problem des Daseins eine Lösung gegeben habe," Wenn sein Bio-
graph das in der Ordnung zu finden scheint, so wollen wir ihm sagen, worauf
dies in seinen leptcn Konsequenzen ungefähr hinaus kommt und was der
Grundirrthum seines ganzen Buchs ist.
In Kairo begegnet man nicht selten Derwischen oder Fakirs, denen es ge¬
lungen ist, sich durch fleißige Uebung,den Zustand frommen Blödsinns bleibend
zu erwerben, Und die nun für „Santons", Heilige gelten, obwohl sie in der
Regel ein sehr unheiliges Aussehen haben und Äußerst bedenkliche Gelüste an
den Tag legen, alle Gebote des Islam übertreten, Weiber mißhandeln, Possen
unzüchtigster Sorte reißen, alle Welt verspotten und schimpfen, nackt umher¬
laufen. K oth und Häckerling essen u. s. w. Niemand stößt sich daran; denn man
nimmt an, daß ihre Seele bei Gott sei, und entschuldigt es, wenn der gleich-
giltige bei solcher Entrückung des Willens ohne Aufsicht gelassene Körper sich
unsauber und unschicklich aufführt. Man redet sie mit Ehrentiteln wie „Schech"
oder „Murebid" an und sieht in ihnen „Welis", Günstlinge Allahs (in die
abendländische Anschauung übersehe: Genies), die sich über die gewöhnliche
Menschheit erhoben haben, diese verachten und übel tractiren können.
Soweit sich dies unter deutscher Sonne, die weniger als die ägyptische
mit Sonnenstich droht, unter protestantischen Volk des neunzehnten Jahrhun¬
derts und an den Wirthötafeln der guten Stadt Frankfurt nachahmen läßt, hat
Schopenhauer hierzu ein Seitenstück geliefert, und er bat Leute gefunden, die
ihm glauben, daß es nur der Rock war, der gegen fast alle Begriffe von Würde,
Pietät und edler Denkart verstieß, nicht der wahre Schopenhauer, der die
Welt als Wille und Borstellung schrieb. Das ist die „Moral", die wir dem
neuen Evangelium entnehmen.
Wir aber wollen von solchem westöstlichen Derwischthum nichts wisse».
Unsere Klerikalen verlassen allmälig die Winterquartiere und bereiten sich
zu einem heftigen Frühlingskampfe vor. Diesesmal gilt es nicht blos der An-
siedlung der Protestanten auf dem heiligen Boden des Bischofs von Brixen,
sondern wichtigere Angelegenheiten; der Entwurf des Rcligionsedictes läßt un-
fere Schwarzröcke nicht schlafen. Vor einigen Wochen ließ Greuter in den
Tirvlcrstimmen den ersten Böller krachen, die Polizei confiscirte jedoch die be¬
treffende Nummer. Lieber wie Daniel in den siebenfach geheizten Marterofeu
d'es Liberalismus geworfen werden, als bezüglich des Reiigionsedictes nach¬
geben! „Nie und nimmer!/' ruft er aus und streicht dabei behaglich den Bauch,
welchen ihm die östreichische Regierung gewiß mit keinem Schwefelhölzchen ver¬
sengen wird, weil man es mit den hochwürdigen Herren doch nicht ganz ver¬
derben will. Gleichzeitig wurde ein Protest aufgesetzt, der von Gemeinde zu
Gemeinde wandern und mit den Unterschriften der Bauern dem Reichsrath zu¬
gesendet werden sollte. Die Polizei nahm ihn aber den Druckern unter der
Presse weg, die Polizei und immer wieder die Polizei! Diese bildet in Oest¬
reich, wie vielleicht bald wieder in Preußen? (d. R.) noch immer einen großen Theil
des gesetzlichen Bodens und auch Schmerling, scheint es, kann diesem gebrech¬
lichen Hilfsmittel, welches die Regierung ersetzen soll, noch immer nicht ent¬
sagen. Die Polizei also, wie gesagt, confiscirte obigen Protest, sie vermochte je¬
doch den Ultrcunontancn die Feder nicht aus der Hand zu schlagen, und so ge¬
langten auch wir in den Besitz einer Abschrift. Dieses Wert eines wüthenden
Fanatismus verdient volle Beachtung, vielleicht nehmen es auch die lutherischen
Pfaffen der neuesten preußischen Aera zum Muster. Es lautet:
Protest an den Reichsrath.
Die Mehrheit des Ausschusses für confessionelle Verhältnisse hat ein Ge¬
setz in Betreff der ReligivnsverlMtnisse überhaupt und der Kirchen- und Reli¬
gionsgesellschaften insbesondere für die durch den engern Reichsrath vertretenen
Königreiche und Länder entworfen und stellt den Antrag: das hohe Haus
wolle beschließen, es sei dieses Gesetz anzunehmen.
Dieser Entwurf muß seiner widerchristlichen Grundsätze wegen das Gemüth
jedes Gläubigen empören und das Gewissen zum nachdrücklichsten Protest
wach rufen.
Die Männer in Tirol möchten gerne im Hinblick auf die höchst achtbare
Minderheit des Ausschusses und die vielen ausgezeichneten Abgeordneten glau¬
ben, ein hohes Haus werde jenem ungeheuerlichen Entwurf entgegentreten.
Da aber die Mehrzahl derselben Männer in den Ausschuß wählte,» die mit
einem solchen Gesetze hervorzutreten wagen, so können die Gefertigten die Be¬
sorgnisse keineswegs unterdrücken, es könnte die Mehrheit des hohen Hauses
demselben beitreten, daher halten es dieselben für ihre heiligste Pflicht im In¬
teresse der Religion, der Freiheit und des Vaterlandes laut und öffentlich Pro¬
test wegen jenes Entwurfes zu erheben.
1. Wir Protestiren gegen einen Gesetzentwurf, der unsere heilige katholische
Kirche aufs Tiefste herabwürdigt und sie jedem neu entstehenden Conventikel
gleichstellt; — der durch Polizeigewalt den Gottesdienst und die religiösen Uebungen
regeln lassen will und dadurch unsere Gewissen auf die entehrendste Weise knechtet;
wir Protestiren gegen einen Entwurf, der heuchlerisch die Gewissensfreiheit als
Grundsatz ausstellt und in der Durchführung selbe nur denen, die keinen Glau¬
ben und kein Gewissen haben, mit ängstlicher Sorgfalt wahrt, während die
Kirche als Versammlung der Gläubigen in Ketten zu liegen bestimmt wird.
Wir Protestiren gegen einen Entwurf, der mit derselben Heuchelei die Gleich¬
berechtigung ausspricht und sie nur den akatholischen Confessionen in Wirklich¬
keit zuwendet, altes wahrhaft Katholische aber einschränkt und bürdet. Ist da
noch selbständiges Ordnen und Verwalter der eigenen Angelegenheiten, wo die
Polrzei in der Sacristei und am Altare commandirt, wo man das Ordensleben
von dem Gutdünken der Staatsdiener, die dazu auch noch Atathvlit'en und Ju¬
den sein können, abhängig macht! Wir erklären, daß wir in religiösen und
kirchlichen Dingen nur den Nachfolgern der Apostel gehorchen, nun und nimmer
aber in jenen Dingen ein Gesetz annehmen und halten wollen, wobei unsere
geistlichen Obern den Rechten und der Verfassung der Kirche gemäß nicht we¬
nigstens mitgewirkt haben.
2. Wir protestiren gegen einen Gesetzentwurf, der in der ehrwürdigsten An¬
gelegenheit der gläubigen Bürger eine so ungeheuerliche Staatsallmacht durch¬
blicken läßt, die uns am heiligsten Orte schaudern macht, — gegen einen Ent¬
wurf, der, während man auf allen Gebieten des Lcbenv nach freien Ein¬
richtungen ringt, das Kctlcngerasscl der Knechtschaft in jenen Ort hinein-
fühtt, der uns und unsern Väter stets der liebste und theuerste, war, in die
Kirche.
ö. Wir protestiren gegen einen Entwurf, der durch das höchste Mißtrauen
gegen unsere Kirche, durch die Entweihung der Heiligkeit des Ehebundes, durch
die Entchristlichung der Schule unser Gewissen verletzt, in Reich und Vaterland
namenlose Verwirrung, die Zersetzung der gesellschaftlichen Verhältnisse herein¬
führt und dadurch unsägliches moralisches Elcno überall verbreiten muß.
4. Wir Gemeinden und Männer Tirols protestiren um so lauter und kräf¬
tiger gegen jenen Entwurf, weil unser Land durch die bittersten Erfahrungen
unter einer fremden irre geleiteten Regierung jene unselige Religionsrührerei
und Knechtcrei kennen gelernt hat und wir den tiefsten Abscheu gegen derlei
Dinge von unseren ruhmvollen Vätern ererbt haben.
Indem wir diesen Protest in redlichster Ueberzeugung und gerechtester Ent¬
rüstung vor aller Welt erheben, wollen wir unsere Vertreter an jene ewig bin¬
dende sittliche Verantwortlichkeit, von der kein menschliches Gesetz befreien kann,
mahnen, und wir hoffen und verlangen, daß ein hohes Haus zur Ehre der Re¬
ligion seinen oben gerügten Gesetzentwurf verwerfe.
„Gott segne den Kaiser, das Volk und das Reich!"
Wie wenig die Negierung die Freiheit der Ultramontanen zu beschränken
gedenkt, beweist wohl, daß der Urheber obigen Protestes völlig unbehelligt sein
Geschäft treiben darf.
Uebrigens sind die Ausdrücke der Finsterlinge nicht so gefährlich, wie
früher. Wir haben eine liberale Presse, von der wir nur wünschten, daß sie
noch weit entschiedener als bisher den Unfug bekämpfte und dadurch endlich
das Ministerium moralisch nöthigte, ihn abzustellen.
Die liberalen Journale geben übrigens dem Bischof von Brixen hinläng¬
lich zu denken. Er äußerte bereits: „Die Innzcitung habe bis jetzt noch nichts
Wichtiges zu Tage gefördert, das Ganze sei, daß sie einen bösen Willen gezeigt!
Die deutschen Zeitungen brachten in gleicher Fassung einen Artikel der Lon¬
doner Korrespondenz von 10. April, welcher die Vergeblichkeit der Panzerung
der Schiffe gegenüber einer neuen artilleristischen Erfindung darthun sollte. Der Kor¬
respondent stützte sich dabei auf einen Bericht der Times über die neuesten Schie߬
versuche in Shoeburyncß.
Es ist zu bedauern, daß jene verbreitete Korrespondenz den Bericht der Times
mißverstanden und daher falsch wiedergegeben hat.
Der Bericht der Times theilt mit, daß es gelungen sei, die nachgeahmte Schiffs¬
wand des Warrior durch die 156-pfündigc Vollkugel eines glatten Armstrongge¬
schützes zu durchbohren. Derselbe sagt ausdrücklich, während jenes Schießvcrsuchcs
habe dieses Geschütz nur 156-pfündigc Vollkugcln geschossen (it ont^ tbrov
rounä folia sdot ok 156 Id vsiZIit).
Was macht hieraus die Londoner Korrespondenz der deutschen Zeitungen? Sie
substituirt der Vvllkugcl eine 156-pfündigc Hohlkugel und in Fortsetzung dieses
Ucbcrsctzungsfchlcrs führt sie weiter aus, das Geschütz sei ein 300-Pfünder gewesen.
Der Bericht dagegen sagt nur, daß, wenn dieses glatte Geschütz zu einem gezogenen
gemacht würde, so würde dasselbe ein 300-Pfünder sein, mit andern Worten:
während die Kugel dieses glatten Geschützes 156 Pfund wiege, würde der cylinder-
förmige Bolzen desselben, wenn es gezogen wäre, 300 Pfund Gewicht haben. Aus
glatten Geschützen werden Kugeln, aus gezogenen Bolzen geschossen, und die Engländer
pflegen, abweichend von uns Deutschen, das Kaliber des gezogenen Geschützes nach
dem Gewicht nicht der entsprechenden Kugel, sondern des Bolzens zu bezeichnen.
Die folgenden kurzen Bemerkungen werden die Sache selbst in das richtige Licht
stellen.
Darüber, daß es möglich sei, den Eisenpanzer eines Schiffes mit Vollgeschossen
sehr schweren Kalibers zu durchbohren, ist wenigstens in Deutschland und auch bei
den englischen Techiutcrn kann» je ein Zweifel gewesen. Aehnliche Schießversuche,
wie sie in Shocbnryncß gemacht wurden, sind schon im vorige» Sommer auch in
Berlin angestellt worden und haben, wenn wir recht berichtet sind, zu dem Resul¬
tate geführt, daß die 24-pfündige gezogene preußische Schiffskanone ans eine Viertel
malte Entfernung mit soliden Bolzen von 68 Pfand Gewicht einen Panzer von
4'/« Zoll Dicke, wie ihn der Warrior führt, schwer verletzte.
Gleichfalls schon im vorigen Sommer hat man in England Schießversuche
und zwar gegen stärkere Zielscheiben gemacht. Man hatte in Shocburyneß, nach
veröffentlichten Berichten, eine Eisenmaucr von 10 Zoll Dicke, welche ans Holz ruhte,
hergestellt. Man beschoß dieselbe ans ungefähr 1800 Fuß Entfernung mit glatten 68-
Pfündern, ohne eine Wirkung zu erzielen, dann aber mit der 120-pfündiger gezo¬
genen Kanone, und das Vvllgeschoß derselben war stark genug, jene zehnzviligc Eisen¬
maucr zu durchbohren und selbst das dahinter befindliche Holz zu verletzen. Später
zeigte sich, daß auch schon die 100-pfüudige gezogene Kanone dieselbe Wirkung
gegen die Eisenmaucr übte.
Das Eigenthümliche der neuesten englischen Schießversuche ist nur, daß man
als Geschütz die glatte Kanone und als Zielscheibe die nachgeahmte, aus Eisen,
Holz, Eisen bestehende Schiffswand des Warriors nahm und das Resultat erreichte,
mit großer Genauigkeit angeben zu können, welches Kaliber und welche Pulverla¬
dung zur Durchbohrung derselben ausreiche.
Hierin liegt indeß nichts wesentlich Neues, Nichts, welches das Urtheil über die
neu erfundenen Schutzwaffen im Allgemeinen nltcriren könnte. Nur Unkundige
können von absolut unverwundbaren Panzerschiffen geträumt haben.
Dagegen ist es unseres Wissens noch nicht gelungen, mit Hvhlkugcln der bis¬
her angewandten Gcschützkalibcr diese Panzer zu durchbohren, und der in Shoebury-
neß angestellte neueste Schießversuch würde etwas wirklich Neues gebracht haben,
wenn statt der Vollkugcln mit gleichem Erfolge hohle Geschosse angewandt wären.
Die gewöhnliche Annahme war bisher, daß die Panzerung gegen Hohlgeschossc sichere,
d. l). gegen diejenigen Geschosse, welche, indem sie geschmolzenes Eisen in das Schiff
schlendern, dasselbe dem Brande aussetzen oder durch ihre Splitter Tod und Ver¬
wirrung unter die Mannschaft tragen.
Sollte es aber auch gelingen, Hohlgcschosse durch die Wand eines gepanzerten
Schiffes zu treiben, so würde dadurch keineswegs die Panzerung überflüssig werden,
sondern es würde dadurch nur dasjenige Verhältniß von Vertheidigung und Angriff
wieder hergestellt, welches bisher bei den Holzschiffen stattfand. Das Holzschiff ist
seit dem Gefecht von Hampwn Rvads als beseitigt anzusehen.
Die Vorbereitungen zu den preußischen Wahlen nehmen in immer höheren
Maße die Aufmerksamkeit der Deutschen und des Auslandes in Anspruch. Die
mannhafte Haltung der Wähler bewahrt sich fast überall in den Vorvcrsammlnngcn
und in der Presse, zahlreiche Proteste gegen die Wahlvcrfügungeu der neuen Mini¬
ster werden eifrig nachgedruckt und gelesen; auch die Kaufleute und Fabrikanten bringen
in großer Zahl die Rücksicht auf ihre persönlichen Interessen ihrem politischen Pflicht¬
gefühl zum Opfer. Land und Volk machen in dieser Bewegung den Eindruck einer
frischen zusammengefaßten Kraft, welche gegenüber dem unsichern Schwanken der
Negierung schon setzt unzweifelhaft macht, auf welcher Seite der endliche Sieg
sein wird.
ES ist möglich, daß einige der neuen Minister unter andern Verhältnissen wohl
geeignet zur Uebernahme der Regierung gewesen wären. Diesmal aber sind die
Verhältnisse nicht so angethan, daß ihnen eine nützliche und ehrenvolle Thätigkeit
prophezeit werden kann, und sie sind nach menschlichem Erkennen nur dazu in ihre
Aemter getreten, um widerwillig einen großen Erfolg des Liberalismus in Preußen
beschleunigen zu helfen. Wer unbefangen die Zustände dieses großen deutschen
Staats betrachtet, der kann, welcher Partei er persönlich angehöre, sich nicht ver¬
bergen, daß eine Restriktion der bereits formulirten Forderungen des Volkes zur
Zeit weder weise, noch rathsam, noch sogar möglich ist. Wahrscheinlich wird in
irgend einer Zukunft eine Periode kommen, wo die conservative Partei im Staate ein
besseres Recht erhält, wo ihre Intelligenz größer, ihre Zielpunkte' verständiger, ihre
Politik nützlicher für das Gedeihen des Staates ist. Diese Zeit mag dann eintreten,
wenn die Konservativen im Kampfe mit ihren Gegnern so viel gelernt und von
den fortbildendem Ideen sich angeeignet haben werden, daß der bessere Theil der
nationalen Kraft ihnen zufallen kann, und wo die Liberalen, verwöhnt durch Er¬
folge, übermüthig durch ihre Siege, geschwächt durch innere Parteiungen, im
In- und Auslande die herzliche Bcistinunung der Gemüther verloren haben. Aber
es kann noch langt dauern, bis es so weit kommt, und man kann voraussagen,
daß die älteren konservativen Parteiführer einen solchen Umschlag niemals durch ihre
Tüchtigkeit durchsetzen, vielleicht nicht erleben werden. Denn die Kräfte, mit
welchen sie in den parlamentarische'» Kcimpfcn, zu Feld ziehen, sind im Ganzen betrach¬
te! ohne Vergleich schwächer, als die ihrer Gegner. Ihre Bildung, ihre Interessen,
ihre Gesichtskreise sind enge begrenzt, ihr Verständniß für die höchsten Ausgaben
des Staats ist geringer. Ja zwischen der Masse ihrer Partei und den Liberalen
besteht ein tieferer Gegensatz: die Conservcitiven in Preußen sind gegenwärtig
unfähig, irgend eine Regierung zu stützen, weil es ihnen überhaupt an politischen
Ideen fehlt, und weil sie zur Zeit noch nichts sind, als eine große und einflußreiche
Cotcric, deren letztes Bestreben ist, gegen einige nothwendige Bedürfnisse der Gegen¬
wart zu reagiren, und zwar nur, seit diese neuen Bedürfnisse ihnen ungemüthlich find,
und alte Gewöhnungen ihres Lebens stören. So lange die Grundstimmung einer
Partei diese Art von mürrischer Unzufriedenheit ist, leer an Inhalt, baar jeder an¬
dern, als einer durchaus egoistischen und kleinlichen Herrschsucht, ruinirt sie rettungs¬
los jede Regierung und Autorität, welcher sie sich zuneigt. Ja jedes einzelne Ta¬
lent, welches jetzt etwa dieser Partei angehört, muß, wenn die Zügel der Negierung in
seine Hand gelegt werden, versuchen, sich durch Concessionen zu erhalten, die es den
liberalen Gegnern macht, d, h, es wird sich thatsächlich durch die stärkere Kraft der
Gegner zu stützen suchen. Und es ist klar, daß dieses Mißverhältniß auch dem
jetzigen Ministerium zum Verderben gereicht, weil es ihm nur halbe Maßregeln ge¬
stattet und die aufrichtige Beistimmung jeder Partei entzieht.
Aber, was noch gefährlicher ist, als die Hilfe der Conservativen, dem gegen¬
wärtigen Ministerium fehlt zu sehr die letzte Grundlage der Dauer, die Achtung
des Volkes, der Respect seiner eigenen Beamten. In Preußen wenigstens ist uner¬
hört, was durch die Wahlerlassc der Minister verursacht worden ist. Laute Proteste
von loyalen Staatsdienern und großen staatlichen Korporationen, öffentliche Zurück¬
weisung der ersten Amtshandlung der Staatsminister, wiederholte Erklärungen in
der Presse, mit Namensunterschriften versehen. daß die höchste Regierung ungesetzlich
verfahre! Und diese Proteste von ganz Europa mit lautem Beifall und
tiefen Sympathien begrüßt! Wahrlich solche Symptome müssen das Ministe¬
rium selbst, ja auch die höchste Autorität des Staates zu einer ernsten Erwägung
veranlassen. Es wird unrathsam für die Majestät der Krone, ein Ministerium zu
conserviren, welches vom ersten Tage feiner Amtsführung so bittere Erfahrung
machen mußte. Der Versuch, durch den König selbst das Ministerium zu decken,
ist gescheitert an dem gesunden Urtheil des Volkes. ES war ein großer po¬
litischer Fehler, wer ihn auch begangen habe, es ist ein Glück, daß er in einem
so loyalen und treuen Volk, wie die Preußen sind, ohne dauernden Schaden für
das regierende Haus zurückgewiesen werden konnte; und es ist erfreulich zu sehen,
mit welchem Takt gerade die liberalen Blätter die Hoheit ihres Königs von dem
heißem Partcistrcit fernzuhalten suchen.
Schneller, als die Regierenden selbst hat das Volk begriffen, daß sein König
über den Parteien zu stehen, und mit unbefangenem Blick das jezcitige beste Recht
einer jeden von ihnen zu beurtheilen hat. In solch erhabener Stellung liegt die
Stärke und Kraft des Königthums. Aber es ist hohe Zeit, daß diese Erkenntniß
den Fürsten komme, wie sie den Völkern geworden ist. Denn es ist Gefahr, nicht
daß die Treue und Anhänglichkeit an die Personen sich verringere, wohl aber, daß
Wenn die Friesen von ihrem Stamme reden, so gerathen sie in der Regel leicht
in Gefahr, den Mund zu voll zu nehmen und mit ziemlicher Deutlichkeit merken zu
lassen, daß in ihrem Ländchen wo nicht gerade der Normalmensch, doch etwas der¬
gleichen zu finden sei. Dies gilt in gewissem Grad auch vou dem Verfasser dieses
Schriftchens, der allem Anschein nach ein Geistlicher ist, wie sich schon aus der etwas
weitschweifigen Einleitung ergeben möchte, in der wir einen guten Theil der nord-
sricsischcn Geschichte erfahren. Doch dies nur beiläufig. Im Uebrigen ist die Bro¬
schüre ein kräftiger und nicht ungeschickter Protest gegen die seit einigen Jahren , auch
auf den friesischen Westen des Herzogthums Schleswigs abzielenden Pläne der Eider-
dänen. Diese Pläne richteten sich, da gegen die friesischen Diser,inde ans dem Fest¬
land nach dem bestehenden Gesetz nichts auszurichten war, auf die Theile der Inseln
Föhr und Aurum, welche nicht zu Schleswig, sondern zum Königreich Dänemark
gehören. Daß hier Kirchen- und Schulsprache deutsch sein sollte, schien ein Greuel,
obwohl das Volk hier ganz ebenso wie in den zu Schleswig gerechneten Strichen
nur friesisch und hochdeutsch spricht, und obwohl selbst ein Däne, der Bischof von
Nipcn, nachwies, daß eine Danisirung jener Gcgende» unsinnig und ungerecht zu¬
gleich sei. Man schrieb Bücher, die darthun sollten, daß das Friesische dem Dänischen
näher verwandt sei als dem Deutschen, wies auf die vielen dänischen Dienstboten
in den friesischen Districten hin und reichte Petitionen ein, nach denen auf Föhr
wenigstens jeden vierten Sonntag dänisch gepredigt werden sollte. Die dänischen
Beamten danisirten die Ortsnamen auf den Inseln, das Dampfschiff, - welches zwischen
Husum und Wyk fährt, gab nur dänische Billets aus. man warf Gedenktafeln aus
den Kirchen, weil auf ihnen der Ausdruck „deutsches Vaterland" zu lesen war. End¬
lich soll nun auch vom dänischen Unterrichtsministerium verfügt werden, daß in den
Schulen des erwähnten Theils von Wcsterlandföhr und Aurum die dünische Sprache
als Unterrichtsgegenstand eingeführt werde, und schon wirken die eiderdänischcn
Blätter dafür, daß das Dänische auch i» der Kirche Zutritt finde. Dagegen sagt
unsere Schrift: „Wie kann es den volksthümlichen Interesse!, (von denen jene Blätter
pcroriren) entsprechen, entweder eine Predigt zu hören, die man nicht versteht, oder
wenn man keine solche Predigt "hören will, genöthigt zu sein, seine Erbauung anders,
wo zu suchen als in der Kirche?" — „Mehre Umstünde machen die Einführung
dänischer Kirchen- und Schulsprache in einem Theile der Insel Föhr fast unmöglich.
Ungefähr 1100 Einwohner aus dem zum Königreich gehörenden Westerland sind Ein-
gepfarrtc des Kirchspiels Se. Johannis auf Osterlandföhr, stehen als solche in kirch¬
licher Beziehung unter schleswigschen Gesetzen und würden also von einer auf Wcster¬
landföhr. im Kirchspiel Se. Laurentii durchgeführten Veränderung zu Gunsten des
Dänischen gar nicht berührt werden. Die zur Se. Laurentiikirchc eingepfarrten, sehr
kirchlichen Friesen würden aber, wenn man ihnen den deutschen Gottesdienst nähme,
nach Se. Johannis pilgern, da die Entfernung des äußersten Dorfes von dieser Kirche
nur eine halbe Meile beträgt. Außerdem ist noch besonders zu beachten, daß das
auf Wcsterlandföhr geltende dänische Grundgesetz freie Religionsübung verstattet (die
den Schleswigern versagt ist) und die Bewohner dieses Districts gewiß nicht ermangeln
würden, sich diesen Umstand zu Nutze zu machen. Wcsterlandföhr würde, seiner
deutschen Kirchensprache beraubt, entweder einen deutschen Prediger besolde», der nach
altherkömmlicher Weise in deutscher Sprache Gottes Wort verkündigte oder — ein
Sectenncst werden. Würde aber auf Ostcrlandföhr dänische Kirchensprache eingeführt
und nicht auf Wcsterlandföhr, so würden die dortige» ebenfalls sehr kirchlichen Ein¬
wohner den deutschen Gottesdienst auf Wcsterlandföhr besuche», den dänische» Gottes¬
dienst i» den eignen Kirchen aber unbesucht lassen" (wie dies beinahe in allen Kirch-
spiele» der Landschaft Angeln der Fall ist). Was endlich den Kindern der Föhringcr
der Unterricht im Dänischen soll, mit dessen etwaigen Resultaten sie nichts anfange»
können, und der ihnen den viel nützlichere» oder, wenn man will, bei Weitem weniger
unnützen Unterricht im Hochdeutschen verkümmert, begreift nur der zur vollständigen
Begriffsverwirrung ausgeartete Fanatismus der Eiderdäncn.
Obwohl gegenwärtig die Verhältnisse noch nicht dazu angethan scheinet,, die
Rechnung Deutschlands mit Dänemark wegen Schleswig-Hvlstei» abzumache», müsse»
wir doch alle Versuche, durch Schilderung dessen, was in den Herzogtümern ge¬
schieht, an das, was versäumt worden, zu erinnern und das Interesse des Volks
an der Frage wach zu halten, aufrichtig willkommen heißen, und zwar werden die¬
selben um so mehr wirken, wenn sie, statt zu declcuniren, sich a» die Thatsachen
halten, und wenn sie de» Eindruck machen, daß bei Abfassung der betreffenden Schriften
ebenso sehr der Verstand als das Gefühl thätig gewesen. Die Phrase macht auf uns
letzt beträchtlich'weniger Effect als noch vor zwölf Jahre», wir habe» in der Mehr¬
zahl das Schwärmen und die Leichtgläubigkeit, mit der wir damals Politik trieben,
verlernt, und wir hüten uns möglichst vor Hyperbeln. Halten wir an das Be¬
merkte die sehr überschwängliche Vorrede des vorliegende» Buches, eine Widmung an
den bekannten Karl Blind in London, so können wir leicht in den Fall komme»,
das Uebrige ungelesen zu lassen, zumal wenn uns gleich darauf „Statt der Ein¬
leitung" drei gutgemeinte, aber mittelmäßige Gedichte, versificirte Phrasen, begegne».
Wir rathen indeß, sieh dadurch uicht abschrecken zu lassen. Zwar treffen wir im
weitern Verlauf »och auf Manches, was uns durch Oberflächlichkeit und Unreife
abstößt, Manches auch, was nicht recht glaublich scheint und vermuthlich wenigstens
Uebertreibung ist. Aber im Allgemeinen erhalten wir doch eine gute Auswahl von
Beispielen für die Art und Weise des stille» Kampfs, der seit Verstummen des lauten
im Jahre 1851 in den Herzogthümern zwischen den Deutschen und den Dänen
gekämpft wurde, eine ziemliche Anzahl interessanter Charakteristiken und bezeichnender
Anekdoten, und wer zu sichten versteht, wird von dem Gebotnen eine dankenswerthe
Nachlese und Vervollständigung dessen in den Händen behalten, was d. Bl. in den
Jahren 1855 bis 18S1 über den Gegenstand mitgetheilt haben. In jenen Anekdote»,
die indeß zum Theil wohl mehr Zeichen der tiefen Mißstimmung des schleswigschen
Volks als vollständig nuf Wahrheit begründet sein möchten, und in jenen Charak¬
teristiken, denen mancher damit Bezeichnete vielleicht ein wenig mehr Discretion gcwünschi
hätte, liegt der eigentliche Werth des Buchs, Ueber die staatsrechtliche Stellung, über
Sitte und Art des Schleswig-holsteinischen Landes enthält es nichts Neues, wenigstens
in der uns vorliegenden Hälfte nicht. Könnte der Versasser bei etwaigen späteren
Auflagen etwas weniger Pathos entwickeln, einige Maßlosigkeiten mildern, und sein
Material etwas übersichtlicher ordnen, so würde sein Unternehmen jedenfalls gute
Wirkung haben. Vielleicht erinnert er sich dann anch des Gebrauchs, nach welchem
man bei Excerpten oder Umschreibungen der Mittheilungen von Vorgängern die
Quelle, an der man gesessen, anzugeben für billig hält.
Eine Widerlegung des seiner Zeit auch von uns angezeigten Buchs „Leiden und
Erquickungen eines aus seiner Heimath vertriebenen schleswigschen Geistlichen", aus
welcher allerdings hervorgeht, daß der Herr Pastor Schumacher sich wenigstens in
einigen Stellen seiner Schrift entschiedener Erfindungen und Verdrehungen der Wahr¬
heit schuldig gemacht hat, und daß er überhaupt nicht gerade der redliche mannhafte
Charakter ist, für den er nach einigen Kapiteln seines Buchs von Manchen gehalten
worden sein mag. Wir meinen, daß die wirkliche Tyrannei der Dänen in Schleswig
zu schildern vollkommen genug wäre, und daß Erdichtungen der guten Sache nur
schaden können.
Ein Beispiel dessen, was die Einwohnerschaft der Stadt Schleswig und nament¬
lich was die eifrigerer Deutschgesinnten dort sich von den dänischen Gewalthabern
bieten lassen müssen, ohne bei den Gerichten Genugthuung erlangen zu können.
Recht lebendige und farbige Schilderungen aus Ungarn, den Donaufürstenthü-
mern, der Dobrudscha und Südrußland, zuweilen etwas burschikos gehalten, mit¬
unter leise an die Jagdgeschichte streifend, andrerseits aber auch reich an interessan¬
ten Details über Land und Volk, namentlich über letzteres. Der Verfasser theilt
zunächst seine Beobachtungen und Erfahrungen auf der Tour von Pesth nach Ga¬
latz mit, giht dann ein Bild der letzteren Stadt sowie einiger benachbarten
Numänenstädtchen und erzählt hieraus, was er auf der Fahrt nach Tultscha und in den
deutschen Kolonien der Dobrudscha gesehen und erlebt. (Er gehört zu den 'Reisen¬
den, die das glückliche Schicksal haben, viel zu erleben.) Dann werde» wir in die
Sckilfgegcndcn des Donaudelta's und nach Sulina geführt, worauf wir dem Touri¬
sten nach Odessa, nach Nikolajcff und in die bcssarabischcn Steppen folgen. Hier¬
auf ein Kapitel Jngdabcnteucr, ein Ritt in das Stromgebiet des Dniepr, ein Allen'-
teuer mit Heuschrecken. Dann wieder zurück nach Nikolajcff und von da nach Eher-
so». Endlich zwei Abschnitte über die deutschen Ansiedler in Neurußland, über die
Seelen in diesen Kolonien, deren Verwaltung, Lage und Besitz, deren Methode Acker¬
bau und Viehzucht zu betreiben (der Verfasser spricht darüber als Sachverständiger,
und so gehören diese Partien seines Buchs zu den lehrreichsten), deren Märkte, deren
Einfluß auf die Nachbarschaft u. f. w. Wir entnehmen daraus nur die Notiz, daß
es in Süßrußland 2l4 deutsche Gemeinden, und zwar im Gouvernement Cherson
46, in Jekatcrinoslaw 53, in Taurien 90 und in Bessarabien SO gibt, und daß
dieselben im Jahre 1859 eine Bevölkerung von nicht weniger als 136,823 Seelen,
69,598 männliche und 67,225 weibliche hatten. Die letzten Kapitel mit Ausnahme
des Besuchs an den süßen Wassern von Asten hätte der Verfasser lieber weggelassen,
da sein Wissen und sein Talent für eine Schilderung Constantinopels und der Meer¬
fahrt von da bis Trieft, die besser wäre als die bereits vorhandenen, nickt ausreicht.
Weshalb Eulen nach Athen tragen!
Nachdem der Verfasser, ein amerikanischer Missionär, über Westafrika und seine
Bewohner im Allgemeinen gesprochen und einen Ueberblick über die dorthin gerich¬
teten Entdeckungsreisen der Portugiesen, Engländer, Franzosen und Niederländer,
gegeben hat, schildert er nach eigner Anschauung Senegambien, Nordguinea, das
Küstenland vou Sierra Leone und seine Stämme, die Pfeffer-, die Elfenbein- und
die Goldküste. Dann folgt (nach Beachcuns Wert) eine Geschichte der Aschantis und
eine Charakteristik des oftgenannten Volks. Ferner eine Beschreibung der Länder
an der Sklavenküstc, namentlich Dahome's, ein Kapitel über die religiösen Vorstel¬
lungen der Stämme Nordguinea's, eine ausführliche Betrachtung Südguinea's und
der dortigen Völkerschaften, Angolas, der Inseln Fernando Po und Se. Thomas,
endlich ein Blick auf Liberia und die Geschichte Sierra Leone's. Der Verfasser hat
fast zwanzig Jahr in Westafrika gelebt und sich zwei der dortigen Hauptsprachen
zu cigrn gemacht, und so erfreute er sich mehr als gewöhnlicher Vortheile bei Samm¬
lung seiner Beobachtungen. Die letzteren sind gut verarbeitet, die Schilderungen
lebendig und anschaulich, die Mittheilungen namentlich über die Religion der betref¬
fenden Stämme großentheils nen. Die Eigenschaften des Missionärs treten selten
störend dazwischen, und so läßt sich das Buch dem Freunde der Erd- und Völker¬
kunde bestens empfehlen.
Im vorigen Jahre ging ein junger Mann, der Sohn anständiger Eltern,
welcher die Handlung erlernt hatte, hinüber nach Amerika, dort in seinem Fache
sich weiter auszubilden, und, wenn das Geschick ihm günstig sein sollte, in der
neuen Welt sein eigenes Geschäft zu begründen. Er fand in einem deutschen
Handelshause zu Se. Louis Condition, aber kurz darauf entbrannte der lang
unterdrückte Kampf in der Union, der Alles in seinen Strudel mit hineinzog.
Handel und Wandel stockten. Alle Kreise erfüllte kriegerischer Sinn. So ent¬
schloß sich auch unser junger Handelsbeslissener rasch zur Wahl einer andern
Laufbahn: er vertauschte die Feder mit der Muskete, um für die Sache der
unionstreuen Staaten anzufechten.
Seine bisherigen Erlebnisse im Feldleben finden wir in den nachfolgenden
Briefen, die er in die Heimath schrieb, und die in Allem den Stempel der Ein¬
fachheit und Wahrhaftigkeit tragen, nebenbei aber auf die dortigen Zustände
und Stimmungen und namentlich auf das Verhältniß der Deutschen zu den Uan-
kees interessante Streiflichter werfen.
Einige Zeilen von mir werdet Ihr schon durch Herrn Kaufmann N. er¬
halten haben. Jetzt werde ich Euch etwas ausführlicher schreiben, da ich seit¬
dem Mancherlei erlebt habe, was Euch interessiren möchte.
Als die Zeiten hier so schlecht wurden, daß unser Principal sein Ge¬
schäft schloß und ich mit meinen Collegen entlassen wurde, waren eben die
großartigsten Anwerbungen für die neu zu bildende Unionsarme im Gange.
Da ein solcher Pact vorläufig nur auf drei Monate abgeschlossen wurde, so
hielt ich es für das Gerathenste, dabei mein Glück zu versuchen, und gedacht,
gethan, ich wurde Soldat. Ich trat in Siegels Regiment ein, das meist aus
Deutschen bestand. So lange wir in Se. Louis blieben, wo das Regiment
formirt wurde, hatten wir es recht gut, und außer einer hinreichenden Ver-
pflegung erhielt unsere Compagnie täglich ein Faß Bier. Diese Compagnie be¬
stand großentheils aus jungen gebildeten Leuten, die vor Begier brannten, bald
in den Kampf geführt zu werden. In ihr diente auch Friedrich Hecker als
gemeiner Soldat. Wir sahen diesen kräftigen Mann, der ouch in Bezug auf
Unterhaltung ein trefflicher Gesellschafter war, ungern aus unserer Mitte
scheiden, als er die Oberstenstelle eines Chicagoregiments erhalten hatte. -Auch
ihm hatte es wohl bei uns gefallen, er nahm weinend von uns Abschied und
schüttelte uns nach deutscher Sitte herzlich die Hände.
Unser gemüthlich ruhiges Leben sollte bald darauf ein Ende haben und
die Kette jener kleinen und großen Leiden beginnen, wie sie eben das Kriegs¬
leben mit sich bringt. Wir bekamen eines schone» Morgens Plötzlich Marsch-
ordrc. Als der Befehl verlesen worden war. erschallte ein stürmisches anhalten¬
des Hurrah; der Jubel war allgemein. Die Vorbereitungen zum Abmarsch
wurden schnell getroffen, und noch desselben Tags. Abends 9 Uhr fuhren wir
auf der Eisenbahn nach Rolla, einer Stadt in Missouri und etwa 100 bis 120
englische Meilen von Se. Louis. Die Secessionisten, die den Ort bis jetzt be¬
setzt hatten, nahmen bei unserer Ankunft Reißaus, so daß sie in der Eile nicht
einmal die aufgepflanzte Rebellenfähne mitnahmen, die wir dann sofort abrissen
und an ihrer Stelle das Banner der Union flattern ließen.
Von hier aus ging der Marsch per xe<M »poLtv1ot-um weiter und Mr
für Anfänger des edlen Kriegshandwerks etwas stark, so daß täglich 20 bis
25 Meilen*) zurückgelegt wurden, und das bei einer Hitze, die jück Ersticken
war. bei einer Temperatur von 140° Fahrenheit in der Sonne.
Acte unsrer Leute fielen am Wege, vom Sonnenstich getroffen, zusammen, um
nicht wieder aufzustehen. Nach einem sechstägigen Marsch kamen wir endlich in
Springfield, einem Städtchen von etwa 4000 Einwohnern und im südwestlichen
Missouri gelegen, an, nachdem wir vorher zwei andere Orte, Waynesville, das
wir plünderten, und Libanon passirt hatten.
In Springfield hätten wir einige Tage Rast, dann ging es weiter über
Nelke-York nach Mount Vernon. wo wir den Rcbellenvbe'rst'en John Coffin ge¬
fangen nähme». Von hier ging es nach Nevsho und sann nach Carthaffö,
wo die Schlacht bei Dry-Fork und Carthago geliefert wurde. Sregel gnff
hier bei letztem Orte M 900 Mann el'ne Uebe'raa'ehe von.ez 'bis 5000 Mann
an. Noch größer wurde das Mißverhältn'iß dWü'r'es, daß der Feind über eine
bedeutende Anzahl Kavallerie verfügen konnte, die 'uns gänzlich abging. Als
SieM'sich vom wahren Stand der Sache überMgt, mußte er sich MMziehen.
brachte aber dabei durch geschicktes Manvvriren, wodurch er dem Gegner >seine
5n<< ni'nel ,ni'i jsNllut7M s!?'.)G »i js/n «Kf .to<l!?Z ->-j-„i<et -tu .ur^izr,
Schwäche zu verbergen suchte, diesem noch empfindliche Verluste bei und erreichte
so Springsield. Trotz des Denkzettels, den wir hier erhalten, war doch Mes
munter und guter Dinge, man hatte sich herzhaft gewehrt und die erste harte
Probe nach Umständen gut bestanden. Siegel war der Held des Tages, an
allerlei Lobeserhebungen fehlte es nicht, und Levee, die etwas vom Kriegführen
verstehen wollten, verglichen diesen Rückzug sogar mit dem des Xenophon nach
du Schlacht bei Kunaxa.
In Springsield stieß General Lyon zu Siegel, um vereint mit diesem gegen
d.le Rebellen zu agiren; wir blieben .aber vorläufig hierum Lager stehen. Nach
einigen Tagen brachten ausgesendete Spione Plötzlich die Nachricht, daß etwa
10 Meilen von Springsield eine Rebellenarmee von 30,000 Mann stehe, welche
schon Marschbefehl gegen uns erhalten hätte. Die Sache verhielt sich denn
auch wirklich so. Abends 6 Uhr wurde Marin geschlagen, die Zelte.abgebro¬
chen, die Gewehre geladen (?) die Decken (zum Schlafen dienend) umgehängt,
und nnn ging's im Eilschritt fort, dem Feind entgegen. Wir marschirten die
ganze Nacht hindurch und langten bei Tagesanbruch mit bedeutend hungrigem
Magen beim James Fork of White River, einem Nebenfluß des weißen Flusses,
sowie am Wilsons-Creek an. Wir marschirten bis hoch unter die Arme durchs
Wasser, und kaum waren wir am jenseitigen Ufer, so stürzten.wir auf den
Feind, ein vor uns sich ausbreitendes -Lager einer Cavallerieabthxilung. Lange
war in dieser kritischen Lag^e nicht .zu besinnen. Wir gaben, als hätten wir
statt eines.Flusses eine bedeutende.Reserve hinter uns, eine Salve nach dem
Lager, die denn auch die gewünschte Wirkung hervorbrachte. Mu Theil der
Ueberraschten stürzte, der andere-floh in den Wald, da hier die Gegend über¬
haupt fast ganz waldig war. General Lyon benutzte den günstigen Moment und
b-rach mit .den regulär«» Truppen von Iowa und Kansas zum Angriff vor,
während Siegel mit dem 3. und 5. Regimente den Feind umging, um ihm in
den Rücken >zu kommen.
Der Kampf wurde nun sehr hitzig. Die Cavallerie, auf die wir gestoßen,
waren nur die Vorposten, die Schale, die den h.erben Kern.umgab. In dich¬
ten Massen brachen die Secessionisten Hegen uns.e.r Häuflein vor. Als Lyon sah,
daß er sich nicht mehr halten konnte, machte er einen.letzten verzweifelten An¬
lauf: er stellte sich nochmals an die Spitze eines Regiments, das bereits ge¬
worfen worden war, und sprengte, seinen Tod suchend, mitten in die Feinde
hinein, wo er denn auch bald von fünf Kugeln getroffen wurde. Seine Truppen
zogen -sich darauf nachSpringfie-it zurück. Nun Hatten wirken ganzen Anprall
des Feindes.quMuh.alten, dessen Massen Ms M erdrücke» drohten. Wir wu߬
ten noch nicht, wie es mit Lyon - stand. Die Rebellen sMst .br.achten. Ms die
Kunde .zu Ohren, unten sie sich unter einander zuschrie.en: Lyon ist Me!
Lyon -ist todt! — Um unser Verdorben .zu -beschleMMn, öffneten setzt »Mich
drei bisher maskirte Batterien ihre Feuerschlünde gegen uns, einen Hagel von
Granaten und Kartätschen in unsere Reihen schleudernd. Siegel überzeugte sich
nun/daß,, wenn wir länger fortkämpfen wollten, unser ganzes Regiment ver¬
nichtet werden würde, und ließ deshalb zum Rückzug blasen. Hierbei gingen uns
noch 5 Geschütze verloren, da die feindlichen Schützen die Kanoniere wie auch
die Pferde niederschössen. Mein Nebenmann stürzte, vom tödtlichen Blei ge¬
troffen, ein anderer erhielt eine Kugel in den Hals, ein Dritter eine in den
Arm.
Ich war endlich zu erschöpft, um dem immer eiliger werdenden Rückzug
folgen zu können; zum Tode gehetzt, sprang ich auf einen Munitionswagen,
der eben Heransuhr und mit einigen Artilleristen besetzt war. Aber noch nicht
lange hatte ich meinen eben nicht sehr bequemen Sitz eingenommen, als mein
vis s, vis einen Schuß auf die Brust bekam, wodurch ihm mehrere Rippen zer¬
schlagen wurden. Wir gaben dem schwer Verletzten sofort kaltes Wasser und
waren ihm sonst so viel als möglich behilflich, als ihn eine zweite Kugel in
den Hinterkopf traf, die seinem Leben sofort ein Ende machte. Der weitere
Aufenthalt^aus dem verhängnißvollen Fuhrwerk wurde mir dadurch so verleidet,
daß ich es verließ und lieber meine äußersten Kräfte zum Weiterlaufen an¬
wenden wollte.
Lange währte es nicht mehr, so wurden wir, die wir nur noch einige un¬
geordnete, verworrene Knäuel bildeten, von den feindlichen Tirailleurs und der
Reiterei ganz umzingelt und von allen Seiten unbarmherzig beschossen. Alles
stob nun vollends auseinander und verlief sich, um im Walde, den wir eben erreicht
hatten, auf eigene Faust fo gut als möglich zu entkommen. Unter dem Schutze
einer dichten Baumgruppe war ich mit einem reitenden Artilleristen unserer Com¬
pagnie, der aber jetzt ebenfalls den Schustersrappen ritt, stehen geblieben, um Athem
zu schöpfen, aber plötzlich sah ich mich mit diesem ganz vereinsamt, nicht eine
Spur von meinem Regiment war mehr zu sehen. Wir hielten leise einen kur¬
zen Kriegsrath, der dahin entschied, auf gut Glück gradaus zu gehen. Wir
kamen so aus dem Walde und betraten einen Weg. Aber noch nicht lange be¬
fanden wir uns auf diesem, als etwa 30 Secessionisten, Texas-Rangers, ange¬
rannt kamen, die uns auch sofort umzingelten. Sie riefen uns zu: unsere
Waffen auf den Boden zu legen und uns zu ergeben. Es wäre eine Thor¬
heit gewesen, hier noch einen Widerstand zu versuchen, wir mußten uns in
unser Schicksal fügen und dem Machtspruch unserer Gegner gehorchen.
Es währte nicht lange, so bekamen wir auf unserem traurigen Gange Ge¬
sellschaft, und Abends bestand die Zahl der Gefangenen auf dieser Seite aus
nicht weniger als 250 Mann, darunter auch unser Oberstlieutenant Albert und
einige andere Infanterie- und Artillerieoffiziere. EinZ andrer Theil des Re¬
giments wendete sich nach Little-Uork und gelangte von hier glücklich nach
Springfield. Siegel kam mit zwei Mann in der Nacht dahin. Er retirirte
nämlich immer zu und kam zuletzt an eine Mühle. Die Texas- und Arkansas-
Rangers, die besonders auf ihn Jagd machten, waren schon auf Schußweite
herangekommen und feuerten gegen 30 Schüsse auf ihn und seine Umgebung
ab. Viele stürzten, unter anderen ein Bekannter von mir von sieben Kugeln
durchbohrt. Da zog Siegel in aller Gemüthsruhe eine Cigarre und ein Schwe-
felholz aus der Tasche, zündete jene an und sagte dann zu seinen Leuten: sie
möchten sich ergeben, damit er ungehinderter entfliehen könne, er würde sie spä¬
ter nicht verlassen. 'Dann setzte er mit seinem trefflichen Pferde über eine min¬
destens 8 Fuß hohe Fenz und entkam so, wie durch ein Wunder. Das Pferd
des Oberstlieutnant Albert, der folgen wollte, stürzte bei dem gewagten Sprunge
und er selbst wurde gefangen.
Siegel wurde bis zwei Meilen vor Springsield verfolgt. Abends kamen
die Cavallcristen. die ihm nachgesetzt waren zurück und sagten: den Siegel kön¬
nen wir niemals fangen. Wir Gefangenen blieben die Nacht über beim
Schlachtfelde liegen. Der Geruch war hier furchtbar. Denkt Euch eine Hitze
von 140 Fahrenheit, und ihr werdet begreifen, wenn binnen einer halben
Stunde Alles in Verwesung überging. Die Leichen der Menschen und Thiere
waren durch die Gluth ganz aufgelöst. Die Aasgeier machten sich gierig und
haufenweise zu dieser Beute. Die Schwerblessirten, die man auf dem Schlacht¬
felde zurückließ, hatten am meisten zu leiden und mußten eben durch Blut¬
verlust, Durst und Hunger elend umkommen. Einer meiner Bekannten bekam
einen Schuß in den Arm und wurde gefangen; im Verlauf einer Stunde wim¬
melte die Wunde von Würmern. Der Anblick Schwerverwundeter auf dein
Schlachtfeld ist gräßlich; besonders Einer machte mir das Blut in den Adern >
gerinnen. Er war über und über in Blut gebadet: seine ganze untere Kinn¬
lade vom Munde an hatte eine Kanonenkugel weggerissen. Er hob flehend die
Hände gegen mich auf und versuchte, freilich vergebens, zu sprechen. So mußte
ich ihn verlassen. .
Bei Carthago hatten die Feinde gegen 900 Tode und Verwundete, wir
40; in dieser Schlacht bei Wilsons Creek hatten jene gegen 5000 Todte
und 2300 Verwundete.*) Freilich sind unsere Verluste auch bedeutend;
bei einer einzigen Compagnie waren 7 Todte und 4 Verwundete. Einer un¬
serer tapfersten Offiziere sagte nach der >Schlacht zu mir: „Ich habe während
des Kampfes gebetet und glaubte nicht, daß ein einziger Mann von uns da¬
von kommen würde."
Als Siegel in der Nacht zu Springfield angekommen war. sammelte er
sofort alle Truppen, die er hier vorfand und die nach ihm noch eintrafen, und
ließ Alles, was dem nachrückenden Feinde etwa von Nutzen hatte sein sonnen,
zerstören. Er Mhm das Geld aus der dortigen Bank und retirirte nach Rollo
zu. Unterwegs kamen noch viele Verwundete nach, die gefahren werden mu߬
ten. Sofort befahl er, sämmtliches Gepäck der Soldaten abzuladen und die
Verwundeten auf die Wagen zu bringen. Das Gepäck wurde verbrannt. So
kam denn Siegel mit dem gesammelten Rest der Truppen glücklich bei Rolla
an, wo er ein Lager aufschlagen ließ.
Wir Gefangenen wurden im Allgemeinen sehr gut behandelt, nur konn¬
ten uns die Sieger nichts zu essen geben, da sie selbst nichts hatten. Sie
trieben uns täglich zwei Mal wie eine Heerde in die Maisfelder, um dort den
drängenden Hunger mit einigen unreifen Maiskolben einigermaßen zu stillen.
So lebten wir sechs ganze Tage, dann wurden wir entlassen. Nun mußten
wir noch einen Weg von 150 Meilen und zwar ohne allen Proviant, zurück¬
legen. Wir bettelten uns von einer Farm zur andern. Des Nachts stahlen
wir Hühner und Schweine, schnitten sie in Stücke, hingen diese an Stöcke und
hielten sie so übers Feuer, um sie etwas zu braten. Wir verschlangen Alles
ohne Salz und Brod. Außerdem stipizten wir noch Aepfel und Pfirsiche, die es
allenthalben haufenweise gab, welche aber bei solcher Hitze und zum Theil noch
unzeitig eine gefährliche Kost waren. Endlich kamen wir in Rolla an und
gingen von da nach Se. Louis.
Hier wimmelt jetzt Alles von Militär. Fremont ist Obergeneral, Siegel
Brigadegeneral. Hier ist auch das Kriegsgesetz proclamirt und wird streng ge-
handhabt. Ohne Paß darf Niemand die Stadt verlassen, ebenso Niemand einen
amerikanischen Hafen ohne Paß des Staarssccretairs.
Bei der neuen Formation ließ ich mich, da mir des Kriegsleben gefällt,
auf drei Jahre engagiren. Ich kam zur Cavallerie, bin jetzt Husar und zähle
mit zu Siegels Brigade. Siegel wird hier von den Deutschen vergöttert und
von den Amerikanern beneidet.
Ich glaube, daß ich Euch diesen Winter von Virginien aus schreiben werde.
Aengstigt Euch nicht, Gott wird mich beschützen, und ist es bestimmt, daß
ich fallen soll, dann sterbe ich für eine gute Sache, für Freiheit, Recht und
Gesetz.
Schon wieder bin ick drei Monate von Se. Louis weg, und ich l,ehe Kiese
ganze Zeit über unter elenden kleinen Hütten oder unter Gottes freiem
Himmel.
» 'II-M, i')!-I,N> < titel S'I'K?I, dö
In Springficld hatten Fremonts Body-guards ein kleines Gefecht mit den
Rebellen. Wir sind noch nicht wieder im eigentlichen Feuer gewesen, ausge¬
nommen bei einigen kleinen Scharmützeln mit Vorposten und Patrouillen.
Das Lagerleben fängt jetzt an recht ungemüthlich zu werden. Wir liegen
gegenwärtig hier in Rolla und haben furchtbare Kälte urtd fußhohen Schnee
Und Eis. Wir hoffen täglich nach Se. Louis zu kommen, um dort Winter¬
quartiere zu nehmen, es scheint aber nicht, als ob wir den Winter ruhig zu¬
bringen sollten.
, Die unionstreuen Einwohner von Missouri sind jetzt sehr zu bedauern.
Ihr ganzes Hab und Gut ist von den Feinden zerstört, und so verlassen nun
Hunderte von Familien unter unserem Schutz ihre Heimath, um nach freien
Staaten überzusiedeln und dort einer vielleicht unsichern Existenz entgegen
zu gehen.
Man glaubt allgemein, daß der Krieg bald beendigt sein wird, da sich jetzt
Kentucky als unionstrcu erklärt hat. Nord-Carolina wieder zur Union zu¬
rückgetreten ist und Georgia dasselbe thun will. Charlestown und Neu-Orleans
sind hart blockirt und Mcmassas genommen.
Der Rebellengenetül Price, mit dein wir es hier in Missouri meist zu thun
haben, hat jetzt eine große Proclamation erlassen, in welcher er alle südlich ge¬
sinnten Leute in Missouri aufruft, sich 50,000 Mann stark um ihn zusammenzu-
schaaren, dann wolle er mit einem Schlage alle „Räuber" — so nennt er unsere
Armee — Äus Missouri Hittausjagen und so diesen Staat dem südlichen Bund
anreihen.
Seit acht Tagen bin ich wieder hier in Se. Louis und zwar als Civilist.
Meine militärische "Laufbahn wär^e ftweit, wenigstens vorläufig, beendet.
Nttige Tage nach S. Abreise von hier erhielt meine CompagM Marsch,
ordre, als Siegels Leibgarde mit in's Innere Missv'uri's vorzurücken. Wir fuhren
per Eisenbahn 'Nach Jefferson-Citt). her Hauptstadt des Staates, und von da
nach Scdalia, einem kleinen Städtchen mitten rü der Prairie und wichtig als
Endpunkt der Eisenbahn. Hier Nun ging unser harter Dienst an. Täglich nichten
Wir Nach den benachbarten Orten, wo Detachcments lagen, Ordonnanz reuen,
oder größere Recognosciruttgen vornehmen, wonach wir jedesmal mit Beute
an Ochsen, Pferden, Mauleseln und anderem Vieh zurückkehrten. Später rück¬
ten wir über Warsaw nach Springsield vor, bei ersterem Orte mußten wir
über den Osagefluß, wobei mehrere Leute das Leben verloren. Die Infanterie.
Artillerie und Wagen wurden auf einem Boote übergesetzt, die Cavallerie hin¬
gegen mußte durch eine Furth reiten. Unser Führer, der uns diese zeigen
sollte, leitete uns zu weit abwärts, und plötzlich verschwanden sechs meiner
Kameraden, die vor mir herritten. Ich riß sofort mein Pferd herum und kam
noch glücklich durch, die sechs anderen aber fielen von den Pferden herunter
und wurden vom Strome fortgetrieben. Zu allem Glück waren Boote in der
Nähe, so daß Alle gerettet werden konnten. Uebler erging es den uns Nach¬
folgenden, von denen zwei ertranken.
Die Stadt Warsaw, ein ächtes Rebellennest, wurde von uns niedergebrannt.
In Eilmärschen rückten wir von da nach Springfield vor. Dabei führte Sie¬
gel die Avantgarde selbst und ihm folgte General Fremont. Diejenige Abthei¬
lung der Cavallerie, die zuerst in Springfield eindrang, hatte ein kleines Ge¬
fecht, wobei sie 26 Todte verlor. Gleich daraus wurde in dem nun zum
zweiten Male genommenen Ort die Unionsflagge aufgezogen. Hier blieben
wir einige Zeit lang liegen, wobei wir die Umgegend weithin fleißig recognos-
cirten. Während dieser Zeit stießen noch Kansastruppen unter Lane und
Montgomery nebst 4000 Indianern zu uns. Diese letzteren haben uns sehr
interessirt. Sie reiten alle kleine Ponys und nehmen sich in ihren National-
costümes eigenthümlich genug aus.
Als so Alles in besten Zug kommen sollte, wurde Fremont plötzlich abbe¬
rufen. Er war der beste Feldherr, den wir in Amerika halten und der das
Vertrauen der ganzen Nation besaß. Seine große Liebe zu den Deutschen,
deren Werth er vorurtheilsfrei erkannte, mag dabei den mißtrauischen Macht¬
habern ein Dorn im Auge mit gewesen sein. Nach dieses Generals Entfer¬
nung rieb man sich auch an Siegel, der mehr und mehr in seiner Stellung
verlor und viel von dem aufgeblasenen Stolze der Westpoint-Offiziere, die
ihm die Schuhriemen nicht zu lösen vermochten, dulden mußte.
Der Haß gegen die Deutschen wächst nun von Tag zu Tag, eben weil
-die Amerikaner einsehen, daß sich die Deutschen besser als sie auf den Krieg
verstehen. Bald wird es so weit kommen, daß die Deutschen einmüthig die
Waffen gegen die Hankees wenden. Während die amerikanischen Regimenter
Monate lang in den Städten behaglich und ruhig in ihren Winterquartieren
liegen, müssen die Deutschen bei empfindlicher Kälte, fußhohen Schnee und in
den rauhesten Gegenden unter elenden Zelten campiren und sind dabei schlecht
gekleidet und schlecht verproviantirt. Daher resignirt jetzt jeder Ehrenmann, und
Siegel so wie viele Offiziere haben bereits ihre Entlassung nachgesucht.
Noch gar Vieles könnte ich über dieses Thema schreiben, will aber lieber hier
abbrechen. —
Aus mein Ersuchen erhielt ich meine Entlassung am 5. Januar, da ich über-
dies auch, in Folge eines Sturzes mit dem Pferde, einige Zeit darnieder ge¬
legen hatte. Jetzt bin ich wieder gesunder als vorher.
In der Union werde ich nicht wieder mit kämpfen, obgleich mir das Kriegs¬
leben ausnehmend gefällt; aber bald wird sich eine Gelegenheit zum Fechten
in Mexico darbieten, worauf viele meiner Kameraden warten, um ebenfalls
dahin zu gehen. Dort ist der Dutchman auch noch angesehen und geachtet.
Entweder gehe ich dann nach Mexico oder zu Land nach Kalifornien; denn hier
ist lgar nichts mehr anzufangen. Ein Tagebuch zu führen, ist also für mich
jetzt unnöthig geworden, hoffentlich aber werde ich noch Interessanteres erleben,
welches ich mir dann Alles notiren werde.
Dieses ist der letzte Brief, der von kriegerischen Ereignissen handelt. Bei
dem neuerdings eingetretenen Umschwung der Dinge in den unionstreuen
Staaten ist man endlich, nachdem sich die Leidenschaften etwas abgekühlt,
zu mancher nüchternern Ansicht gekommen und unter andern auch zu der. daß
man der Kraft und Mitwirkung der Deutschen unter so bewandten Umständen
nicht wohl entbehren kann. Da man eben nicht mit dem Kopf durch die Wand
rennen konnte, so hat man einen subtilern Anlauf genommen und sich wohl
oder übel in das Unvermeidliche gefügt. Siegel und andere höhere deutsche
Offiziere, die dem Treiben des Gouvernements in Washington stolz den Rücken
gewendet, sind bekanntlich längst wieder rehabilitirt"), und dem Beispiele der
Oberen folgend, hat sich auch manche deutsche Brust für den Kampf der Unions¬
sache wieder erhoben. Auch unser jugendlicher Gewährsmann befindet sich
wieder mit in den Reihen der Wackern, die jenseits des Oceans durch
Tapferkeit und Ausdauer dem deutschen Stamm Ehre machen.
Auch seine Verdienste scheinen erkannt worden zu sein, denn nach seinem
letzten flüchtigen Briefe aus Se. ^Louis ist er avancirt und zum Recrutirungs-
Offizier ernannt worden. Sollte er weiter Interessantes herüberberichten, so
werden wir nicht verfehlen, es in diesen Blättern folgen zu lassen.
Der geschichtlichen Bilder, welche durch ihren Inhalt den Anforderungen
der Aesthetik an die historische Kunst entsprechen, gibt es natürlich nur wenige.
Die einschneidenden geschichtlichen Momente sind der Natur der Sache nach in
den Gang der Begebenheiten nur sparsam eingestreut; und sind sie überhaupt,
wie wir gesehen, durch die bildende Phantasie nur schwer zu fassen, so ist zu¬
dem eine nicht geringe Anzahl derselben schon durch die Ungunst-der äußern
Bedingungen für den Künstler unbrauchbar. Nur zu oft zerfällt der Borgang,
obwohl er in der Borstellung straff und zusammengefaßt erscheint, in verschiedene
untrennbare und doch der Anschauung nicht zusammengehende Momente, be¬
wegt sich in gebrochenen, zerdrückten Culturformen, verläuft in Kanzleiacten oder
friedlichen Versammlungen und was dergleichen mehr ist. Ob damit im Zu¬
sammenhang steht, daß Maler, wie Menzel und Leutze. die sich durch die Dar¬
stellung historischer Motive einen Namen erworben, in den letzten Jahren nichts
Derartiges hervorgebracht haben, bleibt dahingestellt. Leutze hat den Erwar¬
tungen nicht entsprochen, die sein Uebergang Washingtons über den Delaware
rege gemacht hatte. Man fand die spätern Bilder genrehaft behandelt; die
Virtuosität der Mache drängt sich einseitig hervor, in seinem „Cromwell bei
Milton" ist eine Absichtlichkeit der Empfindung, welche die Gestalten matt,
ausgehöhlt und künstlich belebt erscheinen läßt. Auch Menzels Talent ist im
Genre, das geschichtliche Personen in gattungsmäßigen Zuständen vorführt, mehr
zu Hause, als im eigentlichen historischen Bilde; auch ihm kommt es mehr auf
eine eigenthümliche, die Bewegtheit des äußeren Lebens frappant packende Dar¬
stellungsweise als auf gehaltvolle Auffassung an. So scheint von dieser Seite
die historische Kunst wenig mehr hoffen zu dürfen.
Was die monumentalen Gemälde im Treppenhause des Berliner Muse¬
ums betrifft, welche den Charakter und die Bedeutung der weltgeschichtlichen
Epochen selber zur Anschauung bringen wollen, so ist schon Bleies dafür, Man¬
ches dagegen geschrieben; selbst wenn ein abschließendes Wort möglich ist. bat
die Kritik mit demselben bis zur Bvllendung des Ganzen zurückzuhalten. Dar¬
über indessen, daß die Nachwelt in den Bildern eher ein Zeugniß für die geiht-
reiche Reflexion, als die künstlerische Fähigkeit des Zeitalters finden wird, scheint
schon die Gegenwart sich klar zu sein; und wie wir oben Kaulbach kennen ge¬
lernt haben, läßt sich von der Geschichte ein anderes Urtheil nicht erwarten.
In München werden mit rüstiger Thätigkeit mancherlei historische Arbeiten für
öffentliche Bauten, das Athenäum und Müximilianeum, vorbereitet und ins
Werk gesetzt. Die Zukunft wird lehren, ob man dort Stoffe zu finden ver¬
standen, die beides zugleich sind, geschichtlich bedeutend und dem Maler günstig,
und — was wichtiger ist — ob man zur Ausführung die richtigen Kräfte be¬
rufen hat. In Wien war in der Ausschmückung des Arsenals eine der Kunst
nicht unwürdige Aufgabe gegeben; wir werden weiter unten auf Karl Rechts
Entwürfe zurückkommen und dabei das Verhältniß zwischen historischer und mo¬
numentaler Kunst zu berühren haben. Indessen hat sich der ursprüngliche
Plan zerschlagen. Die Arbeit ist den Händen des talentvollen Rahl, dem es
mit der Kunst Ernst und eine lebendig bildende Phantasie eigen ist, entzogen
und einem Künstler übergeben, von dem sich zweifeln läßt, ob er ihr gewachsen
sei. Schon dann, wenn die Verhältnisse günstig liegen, hat die monumentale
Kunst mit allerlei Schwierigkeiten, welche ihr das reflectirt nach innen gekehrte,
praktisch nach außen gerichtete Zeitalter entgegenhält, zu kämpfen; was soll erst
aus.ihr werden, wenn nun gar durch Bedenken und Rücksichten, die mit der
Kunst durchaus nichts zu schaffen haben, dann durch den Einfluß persönlicher
Interessen die rechten Kräfte von den großen öffentlichen Aufgaben zurückge¬
schoben werden, um der aufgedeckten Mittelmäßigkeit Platz zu machen!
Vorerst haben wir es noch mit den historischen Bildern im weitern Sinne
zu thun, welche die neueste Zeit geliefert hat. Es sind die Arbeiten, welche
einen Stoff behandeln, der wohl in das Buch der Geschichte eingezeichnet, aber
keine Handlung ist, die zu entscheidender That und Gegenthat sich zusammen¬
fäßt und eine Neue Wendung der Dinge begründet: große Individuen in sol¬
chen Momenten, da sie der folgenschweren Verwicklung erst entgegengehen, oder
den Rückschlag des harten Kampfes mit der widerstrebenden Welt auf ihr In¬
neres empfinden oder in der Stille des Privatlebens einfach menschlichen Stim¬
mungen sich hingeben; Vorgänge aus Specialgeschichten, die in ihrem Bereiche
nicht ohne Bedeutung sind, aber nur mittelbar in den großen Gang der Welt¬
dinge eingreifen, endlich Episoden aus welthistorischen Ereignissen. Zum eigent¬
lichen Sittenbilde zählen im Grunde diese Werke nicht; der historische Mensch
ist in ihnen noch nicht wieder in das Gattungsleben zurückversenkt, über das
er sich in seinem geschichtlichen Dasein erhoben hat, er bewegt sich gleichsam
zwischen beiden Kreisen, der Maler faßt ihn- auf dem Uebergange von einem
zum andern, und so ist auch diese Gattung der Kunst eine der Zwischenarten,
an denen es. wie schon oben bemerkt, die neue Zeit nicht fehlen läßt. Aber
natürlich ist hier, wo es sich nicht um die Bestimmtheit einer inhaltschweren
Handlung, um die Lösung eines großen Conflictes handelt!, dem Sittenbild¬
lichen, dem allgemeinen Boden der äußern Lebensformen, der Gewohnheit des
Daseins, dem Local. Cosiüm, Geräthe, mehr Raum gegeben; der Beschauer soll
zugleich sehen/wie es sich damals im Hause, auf dem Markte lebte, wie die
Menschen verkehrten und sich geberdeten. Hier insbesondere liegt die Gefahr
nahe, daß unter dem malerischen Reiz des Beiwerks die Seele und der Charak¬
ter der Personen verloren gehen, die Form unter dem Costüm erstarrt. Denn
auch die BeHandlungsweise drängt sich nun mehr hervor als die Auffassung;
vornehmlich in der neuesten Zeit, da man zum Bewußtsein gekommen ist. das
eigentliche Handwerk des Malers vernachlässigt zu haben und nun in der un¬
gestümen Hast des Nachholens, in der Freude des Probirens die Grenze über¬
springt.
Unter denen, welche vorzugsweise historische Personen in der Zurückgezogenheit
mehr innerlichen Lebens darstellen, hat sich Julius Schrader hervorgethan.
Seine Bilder bestehen immer in einfachen Situationen weniger Hauptfiguren.
In der Maria Stuart, welche sich am Hausaltar knieend vor ihrer Hinrichtung
die Hostie reicht, während ihr zur Seite auf dem mittleren Plan eine Beglei¬
terin, wohl ihre Amme Kennedy/ betet, hat der Maler die innige Sammlung
der jugendlich reizenden Frau in diesem schweren Augenblicke, die Ergebenheit
in ihr Schicksal darzustellen versucht. Offenbar war ihm Delaroche Vorbild;
auch dieser behandelte große Individuen, die dem Verhängniß eines in den
Kampf mit der Well verwickelten Lebens verfallen sind, sei es in dem bangen,
ahnungsvollen Momente vor der hereinbrechenden Katastrophe, sei es in dem
gefaßten Leiden des erfüllten Geschicks, in der Erwartung des letzten vernich¬
tenden Schlages. Aber er verstand es, die Gestalten mit ihrem Pathos bis
zur Fußspitze zu durchdringen» ihnen eine selbständige, charaktervoll in sich ru¬
hende Existenz zu geben, die Empfindung als bewegte Seele aus ihnen sprechen
zu lassen und doch wieder als den geheimen Grund des Lebens fest in sie
niederzulegen. Dazu kam der Adel der vollendeten Form und Bewegung.
So hatten seine Menschen, indem sie in ihrer äußern Erscheinung ganz
das Gewand ihrer Zeit trugen, den Wurf und die Tiefe eines erfüllten Le¬
bens; alles Beiwerk erschien nur als Mittel. Schrader's Maria Stuart hat
nichts von diesem innerlichen Zug des Gefühls und der voll in sich abgeschlos¬
senen Existenz, sie ist keine Maria Stuart, trotz aller auf das Costüm verwen¬
deten Sorgfall, der Ausdruck ist ohne Seele; die Bildung des Gesichts ist nicht
einmal reizend, denn es fehlt an der richtigen Form. Dazu ist die Anordnung
des Ganzen ohne Schwung, es führt kein Fluß, keine Linie von der Maria zu
Kennedy, sie stoßen in einem Winkel an einander, ebenso sind die Gestalten
selber ohne die Anmuth der in sich abgerundeten körperlichen Bildung. Auch
der Ansatz zu einer gewissen Gluth und Tiefe des Colorits kann für diese
Mängel nicht entschädigen. Schon in Delaroche wirkt oft die Darstellung des
tragischen Untergangs wie eine unaufgelöste Dissonanz, da die Schuld wie die
Versöhnung außerhalb des Bildes fallen, fallen müssen. Was soll uns nun
hier ein wenig sentimentaler Frömmigkeit, der die Seele fehlt, unter einer
Menge von anspruchsvollen Nebendingen? — ..Cromwell am Sterbebette sei¬
ner Tochter Mrs. Claypole" nennt sich ein anderes Bild des Künstlers; wir
versuchen es nicht zu enträthseln, was die ernährende Geberde der Tochter be¬
deuten soll, weshalb Cromwell sich abwendet. Schon im Milton, der seinen
Töchtern das verlorene Paradies dictirt (1855), zeigte Schrader, daß er in der
Wahl seiner Motive nicht glücklich ist: wenn es ihm auch gelungen sein sollte,
wie Einige behaupten, dem Kopfe Miltons den Ausdruck zugleich der Blindheit
und der Begeisterung des innern Schaffens zu geben. Schade um das colo-
ristische Talent, welches sich auch im Cromwell zeigt, daß es nicht an ein¬
sanken und malerischen Stoffen sich zu bilden sucht. — Auch ein Cromwell.
der sich besinnt, ob er die Krone annehmen soll, war wieder auf der Ausstel¬
lung: daß sich die Künstler aus den großen Bewegungen der Völker so oft die
Momente suchen, welche so recht eigentlich in das Gebiet des Geschichtsschrei¬
bers gehören! Lieber noch sterbende Könige, wie sie Hübner vorzuführen ver¬
sucht hat. obwohl hier in dem physischen Auflösungsproceß der Inhalt und
Ausgang eines mächtigen und wechselvollen Lebens, statt zu erscheinen, vielmehr
vergraben werden.
Was die Darstellungen von Episoden aus welthistorischen Ereignissen und
von Nebenvorgängen der Geschichte betrifft: so liegt hier dem Maler die Ge¬
fahr noch näher, in einer äußerlichen Auffassung und in der Ueberfülle des
Details stecken zu bleiben. Entweder klingt in der Begebenheit die Seele einer
mächtigen Katastrophe zu entfernt und unbestimmt an?"als daß sich an ihr die
Phantasie des Künstlers entzünden könnte; oder handelt es sich um einen mehr
bedeutungsvollen Moment, welcher eine große That einleitet oder ihr nachfolgt,
so hält auch hier die Breite der culturgeschichtlichen Umgebung den Maler fest.
Im günstigen Falle gibt dieser ein Bild vom Charakter der Zeit; bei beiderlei
Motiven bringt er es um so weniger zum erfüllten Ausdruck des die Personen
bewegenden Inhaltes und zum charakteristischen Leben in der Form und Be¬
wegung, als es ihm in der gründlichen Kenntniß der Bedingungen seiner Kunst
fehlt. Hätte er diese, wäre er Herr über die Mittel der Darstellung, so würde
er doch auch in jene Stoffe mehr Fluß und Seele bringen können. Einige
Maler, wie Martersteig und Plüddeman n, suchen jene Schwierigkeiten zu
überwinden, indem sie sich an Vorfälle halten, die mit welthistorischen Wendepunk¬
ten im Zusammenhange stehen; der eine entnimmt der Reformation, der an¬
dere gerne dem Leben des Kolumbus seine Stoffe. Martersteig hat sich in
Delaroche's Atelier ein gewisses Geschick der Individualisirung erworben: aber
sein neues Bild, der Einzug Luthers in Worms. bringt es nur zu einer schwe¬
ren und äußerlichen Charakteristik, dazu drängen sich die Nebendinge hervor,
ohne daß sie durch eine malerische Behandlung Reiz erhielten. Plüddemanns
Barbarossa auf dem Reichstage zu Besanyon ist ein Eostümbild: der Ausdruck
beschränkt sich auf übertriebene Bewegungen und große Augen, und hier zeigen
sich alle Nachtheile einer ungeschickten Stoffwahl.
Was sonst noch von neuesten Bildern der hier besprochenen Gattungen in
Köln zu sehen war. zeigt nur zu deutlich, daß die Künstler an jener gefährlichen
Klippe gescheitert sind. Sie haben die geschichtlichen Motive nur äußerlich auf¬
genommen, den Inhalt in conventionellen Ausdruck und theatralischen Bewe¬
gungen angedeutet; an der bunten sich vordrängenden Pracht der Stoffe und
Geräthe mag sich das Auge nicht erfreuen. Aber noch schlimmer ist, daß Goethe
hier Recke erhält, indem er sagte, daß es den deutschen Künstlern schwer sei,
vom Formlosen zur Gestalt überzugehen; es fehlt, um auf den früher berührten
Punkt zurückzukommen, an dem Grundelemente der Kunst, an dem Verständniß,
an der Durchbildung der Form. Die Blöße der deutschen Kunst kommt hier,
wo die Frage nach dem Inhalt zurücktritt, unverhüllt an den Tag. ß Man scheint
vergessen zu haben, daß „das Kunstwerk, nur indem es das sinnliche Anschauen
befriedigt, den Geist in seine höchsten Regionen erhebt." Denn hiezu genügt es
nicht, mit einer gewissen koloristischen Bravour, welche sich neuerdings Einige,
z. B. I. Czermak, aus der Fremde geholt haben, den warmen und blendenden
Schein des blos sinnlichen Lebens anzustreben: vor Allem ist die Herrschaft über
die Form und Bewegung erforderlich, um die Wirklichkeit als durchdrungen von
ihrer Seele darzustellen, um die Erscheinung von ihren zufälligen Härten und
Trübungen zu befreien und den Körper als das feste, lebendige und edel ge¬
bildete, freie Organ des Geistes zu behandeln. Denn auch in der durch Kampf
und Noth gebrochenen Gestalt, welche in der Malerei wohl Platz hat, muß die
Form richtig verstanden und künstlerisch vollkommen wiedergegeben sein. Zu¬
gegeben, daß die moderne Kunst die reale Welt der Geschichte, soweit sie ma¬
lerisch werden kann, in ihren Kreis zu ziehen und andrerseits die Nachbildung
der realen Erscheinung in ihrer Fülle und Bestimmtheit zu lernen hat: so muß
sie, um beides zu erreichen, vorab der Form Meister werden. Noch bei allen
realistischen Durchgängen, welche die Kunst während ihrer großen Epochen ge¬
macht hat. z. B. in Masaccio, Ghirlandajo. Mantegna. ist sie auf diesem Wege
zur Vollendung gelangt, nicht indem sie zuerst das Colorit ausbildete. Und die
deutsche Malerei glaubt ihr Ziel zu erreichen, indem sie das Verhältniß um¬
kehrt, jenes Element vernachlässigt und dieses entwickelt? Also in dem einen
unreif und unfertig meint sie im andern es zur Meisterschaft bringen zu
können?
Indessen überläßt man die Durchbildung der Form dem Idealismus.
Man verwechselt die stylisirte, vollkommene Form mit dem Verständniß der Form
überhaupt, begreift unter dieser nur den Fluß der Linie, die zarte Darstellung
der vollendeten, von der Realität abgewandten Gestalt und gibt mit einer ge¬
wissen Geringschätzung zu, daß dies Sache jener Richtung sei. Man sieht jetzt
überhaupt auf die dem Kampf der Wirklichkeit und der Gegensätze entrückte,
stille selige Welt der idealen Kunst herab, und indem man sich gegen ihre An¬
schauung erklärt, macht man zugleich ihrer Darstellungsweise den Proceß. Es
ist wahr, der Idealismus, der sich unwillig von der entgegenströmenden Zeit
abgekehrt, hat dies zum Theil selber verschuldet. Aus der Hohe, zu der ihn
Cornelius erhoben, hat er sich nicht zu erhalten vermocht. Was dem Meister
an Kenntniß der künstlerischen Mittel und an der Formvollendung fehlte, er¬
setzte er durch seine schöpferisch gestaltende Phantasie, welche in hohem Grade
das Vermögen hatte, die Welt der Mythe neuzubeleben und in tiefern rhyth¬
mischen Zusammenhang zu einem monumentalen Ganzen plastisch herauszubil¬
den; der zugleich wie Keiner die Gabe der künstlerisch schwungvollen Composition
besaß. Man sehe nur z. B. in der Münchener Glyptothek das Reich des Nep¬
tun, wie hier im Bereiche der Kunst eine beseelte, zu selbständiger Wirklichkeit
belebte Welt aus einer vergangenen, aber ewig schönen Anschauung aufgebaut
ist, wie in der genialen Beziehung der Bilder die alte Mythe flüssig geworden.
Man vergißt über diesen Eindrücken die abstracte Farbe und die hinter dem
Schwung der Erfindung zurückgebliebene Form. Aber Cornelius ist ohne Nach¬
folger geblieben. Die idealistische Richtung hat sich eine geraume Zeit hindurch
in abstracte Allegorien oder in eine Mythe verrannt, welche die Phantasie über¬
haupt nicht oder nicht mehr beleben kann, in die christliche; was die Form an¬
langt, so ist sie einerseits in einer schlaffen, schwammigen, charakterlosen Schön¬
heitslinie, andererseits in einer geistlosen, übertriebenen, kräftigen, man möchte
sagen, kolossalen Charakteristik stecken geblieben.
Aber auch diese Richtung geht vorüber, und die Gegenwart kann eine —
allerdings nur kleine — Anzahl von Künstlern aufweisen, welche die Kunst als die
Welt der Schönheit ansehen und an einer idealen Anschauung festhalten, ohne
die mannigfach bestimmte und individuell gebildete Erscheinung auszuschließen.
Ja die Zeit selber schein: sich nicht mehr so spröde wie bisher vom Idealis¬
mus abzuwenden: hie und da thut sich ein gewisser Ueberdruß an den Leich¬
namen und „ewigen Reiterstiefeln" tund und allmälig wird die Ansicht laut,
daß nicht ausschließlich der in den unruhigen Conflict der Gegensätze verstrickten
Wirklichkeit das Recht zukomme, gemalt zu werden. Allerdings hat nun seiner¬
seits der Idealismus den Forderungen der Zeit entgegen zu kommen, er ha.t
sich mit ihrer Borstellungsweise zu durchdringen, soweit dies seine Natur zu¬
läßt. So mag er die Ideen, welche jene bewegen und erfüllen, mit seinen
Mitteln, in dem Kreise der ihm eigenthümlichen Anschauungen darstellen; vor
Allem aber hat u in die künstlerische Behandlung die Wirklichkeit insofern
hereinzunehmen, daß er in der Form und Bewegung, ohne sein Ziel, die ge¬
läuterte und vervollkommnete Natur, aus dem Auge zu verlieren, den erfüllten
Schein des individuellen Lebens erreicht. Auch die ideale Gestalt muß die be¬
stimmten Züge einer eigenthümlichen Persönlichkeit tragen, während sie zugleich
in der mit vollem Verständniß durchgeführten, vollendeten körperlichen Bildung
die Erscheinung der höchsten Realität gibt. Selbst eine wärmere, saftigere Be¬
lebung des Eolorits kann, ja soll dazu mitwirken.
Und glücklicherweise ist die Gegenwart an derartigen Werken nicht so arm,
als man es nach dem Geräusch, mit dem der Realismus auftritt, glauben
sollte. Daß auch der Idealismus eine tiefere und in die Widersprüche ein.
gehende Auffassung des menschlichen Lebens, wie sie nun dem Zeitalter eigen¬
thümlich ist, in seiner Weise vollständig verkörpern kann, das hat Genelli in
seinem Leben der Hexe und dem des Wüstlings bewiesen. Selbst der novelli¬
stische Hergang tritt in der Reihenfolge der Blätter klar und anschaulich heraus,
und die individuelle Wirklichkeit wird, ohne von ihrer Bestimmtheit zu verlieren,
in die ideale Erscheinung erhoben. Daß der Künstler sich lieber in, der Zeich¬
nung als im Gemälde bewegt, ist nun einmal seine Eigenthümlichkeit. Aber
die rhythmische Lebendigkeit der Eomposition, die feine und doch sichere Formen-
gebung, die überall das Wesentliche hervorhebt und in der nur hingehauchten
Modellirung dennoch die Fülle der realen Gestalt zur Anschauung bringt, füh¬
ren uns auch in die Welt der antiken Götter und Menschen, so oft er sie dar¬
stellt, wie in ein allbekanntes, von Neuem vertraut gewordenes Land zurück.
Wer wollte den Künstler schelten, daß ihn der selige Friede eines vergangenen
Reichs der Schönheit, das in der Kunst sein ewiges Bestehen hat und in der
künstlerischen Brust immer von Neuem aufblühen mag, zu Schöpfungen be¬
geistert, in denen das gebildete Auge den Zauber einer geklärten und geläuter¬
ten Wirklichkeit findet? — Ebendies gilt von einem Maler, dessen Bilder in
Köln, wohl weil sie, wie man meinte, vom Markte des Lebens allzusehr ab¬
gelegen seien, nicht günstig placirt waren : ein Beweis, daß die Künstler — in deren
Hände doch die Anordnung gegeben war — das nicht genug beachten, was
ihnen vor Allem am Herzen liegen sollte, nämlich die Kunst. Es sind die Jahres¬
zeiten von B erd eil<5, jedesmal eine weibliche Gestalt mit zwei Knaben in einer
charakteristischen Situation aufgefaßt und in der Bewegung, dem Ausdrucke und
Colorit jede der Statur des Motivs nach eigenthümlich belebt. Hier zeigt sich,
was auch jetzt noch der Maler aus idealen Motiven machen kann, wenn nur
seine Phantasie für die malerische Schönheit angelegt ist und durch ein tieferes
Verständniß der Form und Farbe sowie durch eine gründliche Kunstbildung die
Kraft und Mittel hat. ihren Inhalt zum vollen Leben herauszubilden. Will
die Gegenwart es tadeln, daß in solchen Bildern die Kunst die Hauptsache ist,
die selbständige Schönheit der idealen Darstellung, die malerische Erscheinung
der vollkommenen menschlichen Gestalt, so ist sie auf dem besten Wege, der
Kunst selber den Abschied zu geben. Und es ist ein arges Mißverständniß,
wenn man die reine, ungebrochene, ungetrübte Schönheit für unpersönlich und
inhaltlos erklärt. Die ächte Schönheit ist immer eine gehaltvolle Persönlichkeit;
denn sie ist vom Leben erfüllt, bis in die Fingerspitzen, bis in die Hautfläche',
ja in dieser scheint es noch warm und flüssig zu pulsiren, und ebendeshalb ist
über die Gestalt zugleich der seelenvolle Hauch einer ganz erscheinenden und
doch in sie versenkten Innerlichkeit ausgegossen. Dazu ist freilich nothwendig,
daß der Künstler in der Form und Mvdellirung — welche die Färbung als
mitwirkendes Element in sich hereinnehmen muß — den Schein eines Lebens
erreiche, das zugleich individuelle Natur und durch die breite, ideale, alles Un¬
wesentliche tilgende Behandlung vollendete Gestalt ist: ein sinnlichvolles und
zugleich ganz reines Leben. Und dies hat Berdells, soweit es unter den ein¬
mal gegebenen Zeitbedingungen möglich ist, erreicht.*) Wer solchen Künstlern
vorwerfen wollte, nicht reichhaltigere Motive gewählt zu haben, der sehe zu,
daß ihnen die Ausschmückung öffentlicher Räume übertragen werde; gerade in
den größern Aufgaben wird ihre gestaltende Kraft sich zeigen, und was ihr allen¬
falls an letzter Durchbildung noch fehlt, erreichen. — Auf eine vorwiegende
Ausbildung des Kolorits, welche selbst auf Kosten der Form die üppige, farben-
glühende Fülle des Lebens hervorhebt, ist es in den Werken A. Feuerbachs
abgesehen. Man sieht, daß sich der Künstler mit den Venetianern und Rubens
vertraut gemacht hat, und daß er sich — immer auf dem Boden der idealen An¬
schauung — bald ihre heitere und festliche Auffassung, wie in den Kindergrup¬
pen, bald Mehr die tiefe verhaltene Gluth eines stimmungsvoll in sich zusam¬
mengefaßten Lebens, wie un „Dante mit den edlen Frauen aus Ravenna", zu
eigen zu machen sucht. Gelingt es ihm, die alte Kunst zum freien Eigenthum
in sich zu verarbeiten, in der Färbung zum Maß der Harmonie, in der Form
zu einer größeren Strenge und Reinheit durchzudringen, so wird er bald zu
den besten Vertretern seiner Richtung zählen.
Daß die große, stylvolle Auffassung die Fülle und Wärme des sinnlichen
Lebens, die Energie des wirklichen Daseins wohl in sich aufzunehmen vermag,
das hat noch neuerdings Karl Na si in seinen Cartons für das Hochschulge¬
bäude in Athen und das Wiener Arsenal bewiesen. Bekanntlich weiß Rahl
mit der idealen Anschauung der Form ein tiefes und Sattes Colorit zu verei¬
nigen und uns so die Schönheit der alten Welt lebendig nahe zu bringen; läßt
ihn bisweilen seine bewegte, auf das volle Le,ben gerichtete Phantasie zur fei¬
neren Durchbildung der Form nicht die Rast, so entschädigt er dafür durch den
Schwung der Gestalten und die Gluth der Farbe. Aber auch für die sinnvolle,
beziebungsreiche Durchführung einer monumentalen Idee in einer Reihe von
Bildern hat sich nun sein Talent in jenen Cartons bewährt. In den sür Athen
bestimmten Kalte er den Gang der geistigen Bildung des alten Griechenlands
darzustellen, und hier zeigt sich, daß der Künstler im malerischen Fluß und Bau
der Anordnung das innere Verhältniß der hohen Gestalten, in denen sich die
griechische Cultur verkörpert hat, zur Erscheinung herauszubilden gewußt hat.
Zugleich hat die stille Milde und Reinheit des Stoffs aus die körperliche Bil¬
dung klärend und mäßigend zurückgewirkt. Die Figuren sind mit einem feine¬
ren Gefühl für Form geschaffen, sie athmen die sanfte, reine Luft eines Daseins,
das von dem Mangel wie der überflüssigen Fülle der Wirklichkeit gleich frei ist,
ohne darum weniger lebendig, zu sein, — In den Entwürfen für das Wiener
Arsenal hat Rahl den Beweis geliefert, daß sich ein mannigfaltiges Ganze, das
einen Reichthum zusammenhängender Motive enthält, ganz wohl in bildlichen
Darstellungen auseinanderlegen, daß sich in der monumentalen Kunst die Be¬
ziehung der Gedanken vollkommen ausdrücken läßt, ohne der künstlerischen
Selbständigkeit der einzelnen Gemälde Abbruch zu thun. Der geistvolle Plan
ist schon östers mitgetheilt. Das Allegorische hat Rahl glücklich vermieden,
indem er an seine Stelle bestimmte, malerische Typen setzte, die der Anschauung
geläufig sind; in den Schlachten zeigte sich durch die glückliche, die Hauptge¬
stalten hervorhebende Anordnung, daß auch der geschichtliche Borgang sich im
Sinne der Kunst verbildlichen läßt: wie denn in den monumentalen Werken
schon durch den Raum und das Verhältniß der einzelnen Bilder das Historische
leichter und faßlicher in die Anschauung eingeht. Vornehmlich aber hat der
Künstler in dem Fries, der die epische Urgeschichte des Landes in die ersten
historischen Kämpfe überleitet, sein Stylgefühl und seinen phantasievoll gestal¬
tenden Sinn auf'S Neue bewährt. Eine allzurciche Häufung der Figuren, ein
bisweilen zu gewaltsamer Schwung der Bewegung und eine gewisse Wucht der
Form in einigen Compositionen wären wohl bei der Ausführung auf das rich¬
tige Maß der Schönheit zurückgeführt worden.
Daß vornehmlich der Idealismus, wenn er, wie bei Rahl, mit kräftigem
Lebenssinn die Fülle und Energie des wirklichen Daseins läuternd in sich herein-
nimmt und andrerseits die schönen Gestalten, welche dem Reiche der Phantasie
angehören, zur individuellen Erscheinung verfestigt, wenn er dazu in der Durch¬
bildung der Form Feinheit und Sicherheit "erreicht — daß dieser Idealismus
zu der monumentalen Kunst vorzugsweise sich eignet, ist wohl kein Zweifel.
Was das oft besprochene Verhältniß ;um Realismus betrifft, so sind sich beide
Richtungen, wenn nur jede richtig verstanden und ausgeübt wird, keineswegs
entgegengesetzt. Es ist die reflectirte, absichtliche, schroffe Einseitigkeit der Künst¬
ler und die vorlaute Einmischung der Kritik, welche beide mit vielem unnützen
Gerede den Streit entzündet und immermehr angefacht haben. Beide Richtungen
kommen sich, wenn sie in die rechte Bahn einlenken, auf halbem Wege entgegen,
und es wäre an der Zeit, daß sie, die seit lange wie feindliche Brüder mit
einander hadern „den alten Haß der frühen Kinderzeit" nun endlich ab¬
thun. —
Da es uns hier darauf ankam, einige Hauptfragen, welche die neueste
Kunst beschäftigen, eingehend zu besprechen, müssen wir uns bei der Genrema¬
lerei um so kürzer fassen. Auch ist während der letzten Jahre in dieser Gat¬
tung nichts Eigenthümliches entstanden und wenig von der Art, daß es die
Werke früherer Jahrzehnte überragte. Das Sittenbild scheint im Ganzen an
demselben Zwiespalt zwischen Inhalt und Erscheinung zu leiden, der sich oben
im geschichtlichen Bilde zeigte. Einerseits hebt der Maler den Gegenstand
als solchen, den besonderen Vorgang, die geistreiche oder witzige Beziehung der
Figuren hervor, andrerseits sucht er den eigentlichen Reiz in die äußerliche Be¬
handlung zu legen und diese als das Malerische selbständig auszubilden.
Es ist oft genug wiederholt worden, daß die deutsche Kunst im Genre auf
den volksthümlichen Boden zurückgekehrt sei und damit ein neubelebendes Ele¬
ment in sich aufgenommen habe. Und allerdings hat sich hier einigen Künst¬
lern, wie Schwind und Ludwig Richter, denen die Innigkeit deutscher Empfin¬
dung in nicht gewöhnlichem Grade eigen ist, ein Gebiet aufgethan, auf welchem
sie den träumerischen Inhalt deutschen Gemüthslebens lebendig zu gestalten
vermochten; ein Gebiet indessen, das die kräftige Individualisirung und die
Farbengluth des wirklichen Daseins der Natur der Sache nach von sich aus¬
schloß. Insbesondere hat Schwind in seinen sieben Raben gezeigt, wie sich die
Phantasie- und stimmungsvolle Welt des deutschen Märchens zu Bildungen
von eigenthümlichem und tieferem Reiz verkörpern läßt. Was aber das' Sitten¬
bild im engern Sinne betrifft, das den Menschen in örtlicher und zeitlicher Be¬
stimmtheit, in seinem zuständlichen Dasein darstellt, in welchem er in das Gat¬
tungsleben der' Natur zurückversenkt und sein Inneres mit diesem gleichsam,
verwoben ist- so beweist die Gegenwart wenigstens nicht, daß sie mit
einem Inhalte, welcher der Kunst zu gute käme, durchdrungen sei. Im wahren
Sittenbilde blickt aus der einzelnen Erscheinung, selbst wenn sie in der flüchtigen
Bewegung eines vorübergehenden Momentes festgehalten ist, die Unendlichkeit
des innern Lebensgrundeö. breit und voll in sie niedergelegt, die Gediegenheit
der fest in sich ruhenden Existenz. Man sehe nur die Werke der Spanier und
Holländer, wie diese Bettler, Bauern, Zecher, Herren und Frauen den Charak¬
ter der voll ausgeprägten, in sich abgeschlossenen Persönlichkeit haben, eine
Welt für sich, und wie nun dieser Inhalt ganz in die Erscheinung aufgegangen,
so daß das Individuum auch bei dem kleinsten Thun und Leiden ganz bei der
Sache ist. Und eben dies ist der Humor jener Bilder, daß die Personen in
ihr unbedeutendes Dasein, in den geringfügigsten Borfall ihre ganze innere
Unendlichkeit legen, und ihnen doch der Beschauer die Selbstbestimmung zutraut,
daß sie über dieses Kleine, das ihren Lebensinhalt ausmacht, ebenso sehr hinaus
sind; mag nun im Motive selber ein komisches Element sein, oder nicht. Daher
auch das innige Behagen des Beschauers an dieser selbst im Leiden und Streit
in sich befriedigten Welt; er siebt, wie heiter und bequem sich's hier sein läßt,
wie echt menschlich und natürlich dies Treiben ist. Und nun erklärt sich auch
die feine Ausbildung der äußern Erscheinung, welche sich die alten Genremaler
angelegen sein ließen; da der Lebensinhalt ohne Ueberschuß in das Äußere
Dasein gleichsam versenkt und eingetaucht ist, so sind auch das umgebende
Local und Geräthe in diese Leib und Seele verschränkende Existenz verflochten;
sie werden unendlich werthvoll, auch in ihnen spiegelt sich dieses gemüthliche
Menschenleben wieder, und der Künstler mag nun mit liebevoller Ausführung
die Einzeldinge schimmern und leuchten lassen, ihnen im seelenvollen Spiel des
Lichtes und der Farbe den vollendeten Schein der Wirklichkeit und eine selb¬
ständige Geltung geben. Andrentheils kommt in die Erscheinung der Indivi¬
duen, da sie erfüllte, substantielle Naturen sind, eine Gediegenheit, Kraft und
Anmuth der Form, die sich nicht selten zu stylvoiler Größe steigert, ohne daß
dadurch die Freiheit, die dem Zufall und den besonderen Eigenheiten gelassen
ist, eingeschränkt würde. Wie tritt z. B. in den vier Zechern von Terburg (in
München), in ihrem bloßen Zusammensein, Herumsitzen und Stehen die Tiefe
des fest in sich zusammengehaltenen Lebens in der einfachen, breiten Form voll
und mächtig heraus!
Eben diese Fälle der selbständigen Existenz, diese Tiefe des innern
Lebensgrundes fehlt fast durchgängig dem modernen Sittenbilde. Zwar
haben sich unsere Maler fast ausschließlich dem frischeren, von der ver¬
feinerten Sitte noch ungebrochenen, in die Natur verwebten Treiben der nie¬
deren Stände zugewendet, in dem richtigen Gefühle, daß hier noch die male¬
rische Erfüllung der Erscheinung zu finden sei. Aber der Sinn für die letztere
scheint ihnen mit ganz wenigen Ausnahmen zu fehlen, und sie suchen vielmehr,
wie schon bemerkt, durch die witzige Beziehung der Personen, durch komische
Verhältnisse und Contraste, oder auch durch ein melodramatisches Interesse ihren
Bildern den Reiz eines besonderen Inhaltes zu geben. Wir erinnern nur an
einige der bekanntesten Genremaler unserer Tage, die in Köln vertreten waren-
an R. S. Zimmermann. Enhuber, Rhomberg, Böttcher, stammet,
Friedländer; auch Krauß, Bankier, Salcntin sind, obwohl bei ihnen die
malerische Behandlung die Hauptsache ist, nicht frei von solchen Einfällen, die mehr in
das Bereich der Anekdote als der Kunst gehören. Wenn ein Jan Steen, ein Terburg
einen novellistischen Borgang andeutete, so war dies nur eine Zugabe zu der
Lebensfülle, die seinen Personen von Haus aus mitgegeben war; in der moder¬
nen Kunst aber tritt die geistreiche Beziehung an die Stelle des allgemeinen
Lebensinhaltes selber. Was man auch sagen mag, weder das Komische, insofern
es der momentane Blitz des über den Widerspruch mit seinem Wesen Plötzlich
aufgeklärten Subjectes ist, noch das Rührende, das in zufälligem kleinen Con¬
flict mit der Welt die äußere Existenz trübt oder das weiche Gemüth innerlich
bricht, ist Sache der bildenden Kunst. In diesen Gerichts- und Schrannentagen,
in diesen Spielern, Pfändungen und Versteigerungen sehen die Figuren aus,
wie wenn sie nur drehen Augenblick lebten, und sobald ihnen der Beschauer
den Rücken kehrt, als Marionetten in den Kasten gepackt würden, bis sie das
alte Spiel vor einem andern Auge von Neuem aufzuführen haben. Es fehlt
ihnen die Wahrheit und Tiefe des in die Erscheinung stimmungsvoll ergossenen,
innern Daseins. Ebenso sind die umgebenden Objecte absichtlich hergeholt,
zusammengesucht, selbst ihr Verbrauchtes, verschabtes Aussehen scheint eben erst
als künstliche Ruine gemacht. Dazu kommt noch, daß es den meisten dieser
Maler ebenfalls an einem tiefern Verständniß der Form und Bewegung fehlt;
die Verrenkung der menschlichen Gestalt vermehrt noch den automatenhaften Ein¬
druck, den diese in einem zugespitzten Momente mühsam belebten Figuren hin¬
terlassen. Nirgends spielt der particuläre Zug auf der breiten Grundlage eines
innerlich erfüllten Lebens.
Eine Anzahl von Künstlern hält sich im Gegensatze zu dieser Gattung,
welche die Kunst in die Prosa der illustrirten Blätter hinabzieht. an einfachere
Motive und legt den Hauptreiz in die malerische Behandlung. Sie suchen sich
größtentheils in französischen Schulen eine feinere Formengebung. eine lebhaf¬
tere Bestimmtheit des Ausdrucks und eine wärmere, vom satten Schein der
Wirklichkeit getränkte Farbe zu erwerben- Bedingungen der Kunst, die allerdings
dort mehr zu Hause sind, als bei uns. Obenan steht gegenwärtig L. Krauß;
auch sein neuestes Bild, die kartenspielenden Lehrjungen, hat, obwohl das Lächerliche
des Moments absichtlich heraustritt, mehr von der Lebendigkeit eines selbstän¬
digen vollen Daseins. Eine ähnliche Richtung haben H e lib ut h. Pettcnkofen,
Vareler. L. Löffler. Aber leicht tritt nun hier der jener Einseitigkeit des In¬
halts entgegengesetzte Fall ein: die subjective Geschicklichkeit, die coloristischc
Gewandtheit des Künstlers sieht aus dem Nahmen anspruchsvoll heraus, der
Gegenstand wird gleichgiltig, und nur der blendende Schein der ganz äußer¬
lichen Realität in ihrer stofflichen Bestimmtheit wird zur Hauptsache. So fehlt
es auch hier an der Tiefe und Gediegenheit der in sich erfüllten Erscheinung.
Hierin zeigt sich der schlimme Einfluß der französischen Kunst; und gerade die»
jenigen, die es in den Mitteln der Darstellung am weitesten gebracht haben,
wie Krauß, Pettenkofen, Heilbuth, haben sich von diesem Extrem der Virtuosi¬
tät der Mache nicht frei erhalten können.
Wie nun in das Gebiet des modernen Sittenbildes außer dem nationalen
volkstümlichen Leben die durch die heutige Bildung ausgeschlossene Welt der
Ferne und Vergangenheit eingetreten ist, können wir hier nur andeuten. Mit
diesem Reichthum ist die Gefahr der Zersplitterung verbunden, und es ist wohl
nicht zu bedauern, daß die deutsche Malerei sich mit mehr Zurückhaltung als
die französische auf diese Ueberfülle des Stoffs eingelassen hat. Zwei ähnliche
Richtungen, wie im nationalen Genre lassen sich auch hier unterscheiden: die
eine sucht dem Treiben und den Culturformen eines fremden Volksstammes
durch eine besondere Situation ein erhöhtes Interesse zu geben, z. B. Eretius,
Karl Becker, Siegert, die andere hebt auch hier vornehmlich das Malerische in
seiner äußerlichen Stimmung hervor lO. Ueberhand, Aloys Schöne, Karl
Schlesinger, Herr eberg, Baumg artn er u. s. f. In neuester Zeit wird von die¬
ser Seite aus nach französischem Vorgänge auch der Orient bei uns eingebür¬
gert. Natürlich tritt in dieser ganzen Gattung ein neues Element hinzu, das
Interesse an den unbekannten Cultursormcn, am Geräthe der Vergangen¬
heit, an der Erscheinungsweise der noch ungebrochenen Naturvölker. Es begreift
sich von selbst, daß die verschiedenen Richtungen nicht scharf von einander ge¬
sondert bleiben, sondern mannigfach sich kreuzen und verbinden; der Künstler,
de.in es um einen besondern Inhalt zu thun ist. geht wohl auch näher auf die
sittenbildliche Umgebung ein, und derjenige, dem der malerische Schein der
Realität die Hauptsache, setzt bisweilen Figuren in eine tiefere Beziehung. Im
Ganzen ist es natürlich hier, wo sich der Maler in eine fremde Welt versetzen
muß, noch schwieriger, als im nationalen Genrebilde, den Gestalten die Tiefe
und Selbständigkeit des in sich erfüllten Lebens zu geben. Tidemand hat in
seinen norwegischen Scenen den Vortheil, sich auf eigenem Boden zu bewegen,
und er weiß uns ein Bild seiner heimathlichen Titten zu geben, ohne seine
Personen auf die Spitze eines interessanten Momentes zu stellen; dagegen ist
er zur Freiheit der Form und Bewegung nicht vollständig durchgedrungen.
Nur zu oft übrigens wird es auf diesem ganzen Gebiete den Anschein haben,
als ob der Künstler das Leben der Gattung in ihrer traulichen Weise nicht zu¬
fällig belauscht, sondern absichtlich aufgesucht habe. — Aus der Vergangenheit
hat nun auch die deutsche Malerei, wie die französische, das Leben der Künstler
und Poeten zu ihrem Gegenstande gemacht. Fr. Pecht hat in seinem „Goethe
am Hofe des Markgrafen von Baden" einem glücklichen Griff gethan; der Le¬
benslauf unserer großen Dichter ist unserer Phantasie eingeprägt und so ist es
dem Künstler gelungen, den reichen Cultursormen einer vergangenen Zeit ein
tieferes Interesse zu geben. —
Neuerdings zeigt sich — ebenfalls nach französischem Vorgange — im
Thierstücke und in der Landschaft das Bestreben, die malerische Erscheinung des
Naturlebens, auch des zufälligen, durch Noth und Kampf gebrochenen, im vol¬
len Farbenscheine und dabei das Schweben und Verzittern der Dinge in den
elementaren Medien, im Licht- und Luftmeer treu wiederzugeben. Ein Realis¬
mus, der zwar die Form vernachlässigt, der aber die Kunst aus diesem Gebiete
in der Darstellung der thierischen und landschaftlichen Natur zu einer größeren
Wahrheit der äußern Erscheinung führen kann, wenn nur unter dieser die ahnungs¬
volle Stimmung des Naturbildes, welche an das menschliche Gemüth anklingt,
und die der Künstler zu entbinden hat, nicht verschüttet wird. Dieser Richtung
steht eure mehr idealistische in reichen Abstufungen gegenüber, welche bald die
südliche, bald die nordische Natur in einem mannigfaltigen Ganzen von Vege¬
tation, Gründen und Erdforinendarzustellen sucht,; in den meisten Fällen noch in einer
conventionellen BeHandlungsweise befangen, nur in sehr wenigen zur wahren
Größe der Anschauung und zur tieferen Naturwahrheit durchdringend. Die
Bemerkung, daß die moderne Zeit in diesem Zweige der Malerei zu einer rei¬
chen und eigenthümlichen Ausbildung eher gelange, als in den übrigen, ist
schon oft gemacht worden. Es liegt im Wesen des Jahrhunderts, das sich aus
der Natur ganz in die geistige Selbstbestimmung zurückgezogen hat, jene in ihrer
Selbständigkeit mehr als je zum Objecte der Betrachtung zu machen, sich zu
ihr vor der Ungunst der Culturformen und dem zelsplitterten Weltleben zu
flüchten und die unbewußten Stimmungen der menschlichen Seele in ihr wieder-
zusuchen. Daher die Bedeutung der Landschaft in der modernen Kunst; ein
Thema, auf das wir bei Gelegenheit ausführlicher zurückkommen werden und
das wir hier, wo andere Fragen in den Bordergrund traten, nur andeuten
konnten. —
Daß die neueste Kunst auch hier, wie auf den andern Gebieten, von der
französischen zu lernen sucht, kann man um so weniger tadeln, als es an hei¬
mischen Werkstätten fast ganz fehlt und dieser Weg rascher zum Ziele zu führen
scheint, als das langwierige Studium der alten Kunst. Aber nur hüte sie sich,
die sonst leicht der Bedeutung des Inhaltes ein zu großes Feld einräumt, daß
sie hier nicht in den entgegengesetzten Fehler verfalle; daß sie de> Erwerb
einiger Darstellungsmittel nicht zur oberflächlichen Virtuosität verführe, die das
Gegentheil der reifen Durchbildung ist und nur den äußern Schein erreicht,
und daß ihr der Gehalt und die Seele nicht abhanden kommen, deren das
wahre Kunstwerk, eben weil es vollendete, d. h. erfüllte Form ist, niemals ent-
rathen kann. Sie vergesse nicht, daß sie „eine zweite Natur, aber eine ge¬
füllte, eine gedachte, eine menschlich vollendete Natur" (Goethe) hervorzu¬
b
Der Leipziger Kunstverein hatte im vergangenen Jahr eine Aufforderung
zu Concurrenzentwürfen für Ausmalung einer Loggia des städtischen Museums
erlassen, dessen schon einmal in d. Bl. als eines erfreulich aufblühenden Denk¬
males der Kunstpflege im Bürgerthum gedacht wurde. Der Erfolg des Auf-
schreibens, rst — wie er in der Ausstellung der 18 eingegangenen Entwürfe vor¬
liegt. — ein so interessanter, daß es gerechtfertigt erscheint, auch für weitere
Kreise darüber zu berichten.
Der erste Eindruck, den der unbefangene Beschauer aus der Betrachtung
der Entwürfe hinwegnimmt. ist Vertrauen in die Zukunft der deutschen Kunst,
aus deren Mitte zur Lösung einer immerhin nicht großartigen Aufgabe sich
Kräfte von ungeahntem Beruf und frischer Tüchtigkeit gefunden. — Wohl
dürfte in der „ungeahnten" Entfaltung hervorragenden Kunstvermögens zugleich
eine Andeutung von der Gegenseite des freudigen Eindruckes gefunden
werden, daß nämlich unser Baterland'dem künstlerischen Streben seiner Söhne
nur selten einen ebenen Pfad bereitet; daß es Talente feiern läßt und zu
Concurrenzarbciten nöthigt, die in unfein westlichen Nachbarländern niemals
Mangel an ehrenvollen Aufträgen haben würden.
Drei Entwürfe, unter ihnen die zwei preisgekrönten, ziehen vorwiegend
die Aufmerksamkeit aller ernsten Freunde der Kunst auf sich. Vor Allem die
mit dem ersten Preis bezeichnete Arbeit The odor Große's aus Dresden, der
aus seinem gegenwärtigen römischen Aufenthalt ein Werk von großer Schön¬
heit eingesendet und aufs Neue die segensreiche Einwirkung jenes glücklichen
Kunsthimmels auf das deutsche Gemüth bekundet hat. Mit einem feinen Ge¬
fühl für die Bedingungen, welche die harmonische und in der Gesammtentwick-
lung übersichtliche Ausmalung der schmalen, aus drei Kuppelgewölben beste-
henden Loggia stellt, hat der Künstler die Wandflächen derselben frei gelassen und
in den Lünetten und Kuppeln geistvolle und formschöne Kompositionen ge-
ordnet; ihr Inhalt sind die höchsten Ziele und Vorbilder der bildenden Kunst
in allegorischer Darstellung (die Phantasie, umgeben von den Parzen und Gra¬
zien, den geistlichen und weltlichen Tugenden und den Ländern der classischen
Kunstblüthe) inmitten der bildlichen Versinnlichung des göttlichen Schaffens
nach griechischer und biblischer Anschauung. Es sind die höchsten Erscheinungs¬
formen der historischen Malerei, deren Wiedergabe der Künstler erstrebte, und
daß er unmittelbar an Raphael und Michelangelo anknüpfte, deren Einfluß
im Zuge der Linien wie in der tiefen Farbengebung wiederklingt, wer möchte
es nicht als den rechten Weg bezeichnen, wo soviel selbständige Kraft, wie in
dem vorliegenden Werke zu Tage tritt? Denn viel Schönheit und Adel ist in
seinen Gestalten, reizend sind die umrabmendcn Arabesken. In vielfachen
Zügen den Einfluß seiner Meister — Große war ein langjähriger Schüler
Bendemanns — verrathend, vereinigen sic den ernsten Eindruck der strengen
stylistischen Richtung neuerer deutscher Kunst im Sinne des Altmeisters Corne¬
lius mit einer anmuthsvoller Gcsammtcnwicklung und Betonung des farbigen
Elementes. Lebhaft ist der Wunsch nach einer — dem Vernehmen nach noch
nicht beschlossenen -- Ausführung im Große».
In verwandtem Sinne sind die beiden anderen Entwürfe concipirt, von
denen der Heinrich Gärtners in Rom, nach der im Programm ausgesprochenen
Andeutung, daß Landschaften nicht ausgeschlossen sein sollten, den Raum mit
landschaftlichen Compositionen historischen Styls ausschmückt, das Motiv der
biblischen Schöpfungsgeschichte zum leitenden Gedanken der in sinnigster Er¬
findung entworfenen Naturscenerien wählend. Nicht frei von Mängeln der
Zeichnung, ist die Arbeit doch als ein würdiges Erzeugniß derjenigen Richtung
der neuen deutschen Landschaftsmalerei, die in Joseph Anton Koch ihren Begrün¬
der gefunden hat, zu bezeichnen, und ihrem Urheber kann seine künftige Be¬
deutung vorausgesagt werden. — Wohl nur in Rücksicht auf die Bedingungen
der Ausführbarkeit ist die erwähnte Arbeit von den Preisrichtern einem Entwürfe
vorangestellt worden, der seinem ausgesprochenen Style nach offenbar von der
Hand Hermann Wislicenus' in Weimar herrührt, und in seiner künst¬
lerischen Bedeutung wohl unmittelbar neben dem an erster Stelle gekrönten ge¬
nannt werden muß. Die Prometheussage, an die, im antiken Sinne alle
Wirksamkeit des unter den Menschen entzündeten göttlichen Funkens sich an¬
knüpft, ist hier auf den Wandflächen, Lünetten und Kuppelfeldern als ein zu¬
sammenhängendes reichgegliedertes Ganze zur Anschauung gebracht. Im Styl
verräth sich neben dem orginalen Compositionstalent des Künstlers (vormals
Schüler von Julius Schmorr in Dresden, unter dessen Leitung sein Bild
„Miseria und Abundantia" entstand) entschieden der Einfluß Genelli's; es ist
ein großartiges Ganze, das fesselnd dem Blick des Beschauers entgegentritt,
ein Reichthum schönheitsvoller Cvmpositionsmotive entwickelt sich bei näherem
Eingehen, doch möchte das Gefühl, daß hier die Unbefangenheit des Künstlers
theilweise einem nicht ganz innerlich und organisch aufgenommenen fremden
Stylprincip gewichen ist, nicht ohne Berechtigung als Bedenken geltend ge¬
macht werden.
Die übrigen Entwürfe sind zum Theil, was man euphemistisch mit
„recht braven" Arbeiten bezeichnet; zum Theil originell auf Kosten der Schön¬
heit, zum Theil aber ganz unbegreifliche Berirrungen. Es ist charakteristisch,
und wird nur in Deutschland so zur Erscheinung kommen, daß fast in allen
eine Fülle allegorischer Ideen, philosophischer, religiöser und mythischer Be¬
ziehungen oder historischer Studien niedergelegt ist, und ein Mangel an Wis¬
sen, den wohlmeinende Theoretiker unsern Historienmalern so oft vorwerfen, wird
darin eben so wenig sichtbar, als — im Durchschnitt — ein Mangel an
Können. Desto schlimmer sieht es aber in der Hauptsachen den malerischen
Ideen, um mit diesem Ausdrucke die eigentliche künstlerische Conception zu
bezeichnen, aus. Siegreich tritt in den drei oben genannten Werken ein
wahrhaft befähigter Idealismus auf; wohlthuend wirkt ein entschiedenes Au¬
fdrehen desselben in zwei — der Form nach etwas schwächlichen — Entwürfen,
deren einer, in sehr sinniger Betonung der wesentlichen darstellbaren allegorischen
Beziehungen der bildenden Kunst zur Naturpoesie und Geschichte, ein im Ge¬
danken höchst ansprechendes Motiv für den Schmuck eines Kunstmuseums hin¬
gestellt hat, während der andere eine mehr wohlgemeinte als glückliche Ver¬
bindung der Musen (in altertümlicher Dreizahl) und Grazien mit dem Ruhme
der Stadt Leipzig zum Bvrwurs nimmt. — Daß ein anderer Bewerber seinen
allegorischen Figuren einfach dadurch aufgeholfen hat, daß er zwei Schwind'sche
Gestalten mit Veränderung des „Ueberflusses" in den „Handel" sich als eignes
Erzeugnis; anzeiget, wäre schwer zu begreifen, müßte man nicht eine falsche
Speculation auf die Naivetät der Richter voraussetzen. — Ein reich farbiger
Cyclus geschichtlicher Momente von einem sehr neu-münchner Gepräge, auf der
Grenzscheide von Styl und Naturalismus, läßt sich recht wirksam als Gelegen-
hcitsdecvration eines Festbaucs ausgeführt denken, besteht aber neben den ern¬
ster aufgefaßten Entwürfen mit geringem Ruhm; im Gesammteindruck verräth
er noch das Gefühl für die nothwendigen Erfordernisse monumentaler Malerei,
dessen Mangel zwei umfangreichen und sehr tüchtig ausgeführten Arbeiten begab¬
ter Meister der realistischen Schule — und erfreulicher Weise auch in
der Ansicht des Publikums — von vorn herein die Möglichkeit, bei der Aus¬
führung berücksichtigt zu werden, entziehen mußte. Man stelle sich vor, daß
der eine eine Reihe historischer Bilder — meist in Roccvcv-Costüm mir charak¬
teristisch treuer Bezeichnung der Portraitgestalten in einer Farbenwirkung wie
etwa die Bilder Caravaggios, dazwischen sechs lebensgroße ganz schwarz geklei¬
dete berühmte Leipziger, und dies alles auf einem fahlen grünen Grunde sich
in dem Raum einer heiteren Renaissance-Loggia ausgeführt denkt, und man be¬
greift, bei aufrichtigem Bedauern über die Mühen dos sehr fleißig durchgearbei¬
teten und, im Einzelnen betrachtet, äußerst wirksam colorirten Entwurfs das
bedenkliche Kopfschütteln aller Beschauer. — Die charakteristische Lebendigkeit
eines mittelalterlichen „Meßbildes" und der „ersten Universitätsvorlesung"
unterliegt demselben Schicksal aus ähnlichen Gründen. Schließlich nur noch
die Andeutung, daß ein Bewerber auf die unbeschreiblich külM Idee ge- -
kommen ist, den großmüthigen Bereicherer des Leipziger Museunis, Kaufmann
Schickler darzustellen, „wie er die bildende Kunst in Leipzig einführt" d. h. in
moderner Toilette eine bedenklich costümirte allegorische Dame einer Versammlung
leipziger Notabilitäten vorstellt, und alsdann „wie er durch Carl August und
Giotto «!) in den Kreis der Unsterblichen (dießmal im Mantel mit Sammt¬
fragen» eingeführt wird." — Daß ein historisirender Thiermaler in eine der Kuppeln
den „asiatischen Urstier" entworfen hat, der das Weltenei zerstößt, und die nor¬
dische Kuh Audumblah, die den Riesen aus einem Salzsteine leckt, erscheint dagegen
noch als kleine Verirrung. —
Man darf dem Leipziger Kunstverein Glück wünschen, daß ihm als Erfolg
seines Concurrenzausschreibens die Theilnahme so hervorragender künstlerischer
Kräfte geworden, aus denen nur zwei belohnen zu können die Preisrichter be¬
dauern werden. Eine freudige Genugthuung muß aber das einstimmige Urtheil
aller verständigen Beschauer bieten, daß trotz aller vom Auslande geborgten „tech¬
nischen Errungenschaften" des stylloscn Realismus vor einer Aufgabe Höhe,er Be¬
deutung nur die Künstler sich bewähren konnten, die fortgebaut auf dem ernsten
Grund der Altmeister neuer deutscher Kunst, welche dem Idealismus der Form
einen Ausdruck gegeben, den wir als den höchsten künstlerischen Ruhm unseres
Volkes und als den unvergänglichen Ausgangspunkt aller Bestrebungen nach
Ueber Bau und Einrichtung der Hofburgen des 12. und 13. Jahrhunderts.
Ein kunstgeschichtlicher Versuch r>vn Atom Schule). Berlin I8l!2. Nico-
laische sort. Buchhandlung.
Der Verfasser war bemüht, ein Bild von Construction und Aussehen
größerer Herrensitze aus der Hohenstaufenzeit zu geben. Er hat dazu fleißig
die Stellen mittelhochdeutscher Dichter zusammengetragen, — die vorhandenen
Wörterbücher, z. B, das von Zarncke und Müller unter Ma« hätten ihm Material
für eine noch größere Zahl von Citaten gegeben — er hat auch frühere Unter¬
suchungen, zugängliche Kupferwerke sorglich benutzt und sich bauverständig auf
den erhaltenen Trümmern alter Burgen zu orientiren gesucht. Die kleine Schrift
ist deshalb eine bequeme Hilfe zur Lectüre mittelalterlicher Schriftsteller, auch
der deutschen Dichter, obgleich der Verfasser nicht als Kundiger der alten Sprache
geschrieben h.at.
Aber ein wesentlicher Umstand ist dem Verfasser entgangen, oder doch nicht
in das reckte Licht gesetzt worden. Das Bild einer Herrenburg um 1200, wie
er dasselbe construirt, stimmt nicht zu den Anschauungen, welche die volkstüm¬
lichen Dichter jener Zeit von der Beschaffenheit eines Herrenhofes hinterlassen
haben. Zumal in den Nibelungen ist weder der Hofhalt der Burgunden noch
König Etzels in einer Ritterburg unterzubringen, und wenn auch als Wohnung
der Brunhild eine Burg mit 86 Thürmen genannt wird, so ist doch dieser Sitz
der nordischen Schlachtenjungfrau den deutschen Volkssängern des 12. Jahr¬
hunderts fremdartig und unheimisch, und mit der Handlung, welche dort ver¬
läuft, haben Mauer, Thürme und der Saal von grünen Marmelstein nichts zu
thun. Der Verfasser der vorliegenden Schrift aber zieht die Nibelungen eifrig
in Citaten heran, um das Bild seiner romanischen Hofburg deutlich zu machen,
er verwirrt dadurch seine Darstellung und irrt vielleicht den Leser des großen
deutschen Volksgedichtes.
Es gab nämlich seit dem Beginn des Mittelalters zwei ganz ver¬
schiedene Constructionen für einen Herrensitz, den römischen Castellbau und
den urdeutschen Hofbau. Vielleicht hatten die Deutschen bereits als sie
die Römer kennen lernten, einen oder den andern festen Steinsitz mit Thürmen,
einfache Fortisicationen auf Anhöhen; zuverlässig ahmten sie schon vor der Völker¬
wanderung die römischen Befestigungsbauten nach und nisteten in den eroberten.
Die Einrichtung dieser römischen Castelle ist uns nicht unbekannt, vom einsanken
Wartthurm mit seiner Pallisadenumkleidung und vorspringenden Gallerie im
oberen Stockwerk bis zum vielthürmigen Festungsbau vermögen wir das Haupt-
säcklichste ihrer Construction nachzuweisen. Noch in den letzten Jahren hat
Kellers sorgfältige Untersuchung der Schweizer Castelle viele Einzelheiten ver-
ständlick gemacht, die Fügung der Mauern, die Einrichtung der Thürme mit
Vorrathskammern, Fallthüren, Dach und Zinnen, den Hausbau innerhalb der
Burg mit mehren Stockwerken übereinander. Ostgothen und Franken, Karolinger
und Sachscnkaiser führten ihre Befestigungen nach dem Muster der römischen
auf, sie ließen wohl auch darin einen Palast nach römischer Weise durch fremde
Baumeister aufführen. Castelle und Burgen nach Römcrbrauch zeigten ihre dicken
Mauern und viereckigen Thürme häufig im Süden und Westen Deutschlands, als
neure Forts auch an der Elbe und darüber hinaus. Aber bis nach dem Jahr
1000 breitete sich der gewöhnliche Hofhalt des deutschen Grundherrn oder Für-
sten in einem Hofe von ganz anderer Beschaffenheit.
Der alte Hof der Franken und Thüringer, zuverlässig auch der übrigen
oberdeutschen Stämme, war ebenfalls durch Zaun oder Mauer eingeschlossen,
aber er umfaßte eine stattliche Bodenfläche, in ihm standen die Gebäude breit-
gelagert, einzeln, niedrig. Im scharfen Gegensatz zu dem altsächsischen Brauch
ist bei den übrigen Deutschen das Bestreben erkennbar, die verschiedenen Thä¬
tigkeiten des Haushalts und der Wirthschaft in verschiedenen, zahlreichen Ge¬
bäuden unterzubringen. Das Haus, der Saal, die Kemenate werden am häu¬
figsten als besondere Gebäude genannt, erst nach dem Jahr 1000 wird das Fremd¬
wort Min,einen im Deutschen als Palas für Herrenhaus gebräuchlich. Der Saal
ist in ältester Zeit das stattlichste Gebäude des Haushaltes, es ist die weite Halle, in
weicher der Hofherr mit feinem Gefolge <Gesinde), seinen Hausgenossen und
Gästen verhandelt, tafelt und zecht, es ist der Schmuck des freien Herrenhöfe?,
noch in den Nibelungen ein einstöckiger Holzbau, wenige Stufen über
den Boden erhöht, mit kleinen Fensteröffnungen, wahrscheinlich ohne andere
architektonische Abtheilungen, als eine erhöhte Bühne auf einer Lang- oder Quer¬
seite des innern Raumes. Aus diesem Saal führt die Thüröffnung ins Freie
die Treppe hinab, an den Thürpfosten stehen z. B. Hagen und Volker als Wächter,
um einige Stufen höher als die Heraufpringenden Angreifer. Zwischen dem
Saal und den Häusern — es werden an großen Fürstenhöfen von den Dich¬
tern gern mehre Paläste gezählt, — ist ein weiter Hofraum zum Spiel der
Rosse und Männer, um die Wohnhäuser liegen die Kemenaten, kleine Woh-
nungsräume für die Frauen und Dienerinnen, Schlafstellen, Wiuhschaftskammern;
auch sie werden häufig als besondere Gebäude genannt oder sie sind dem Haus
oder einer Mauer angebaut und haben in diesem Fall wol eigene Thüren ins
Freie. Oft freilich sind sie Zellen im Hause.
Diese altheimische Weise, im weiten Hof, in niedrigen, neben einander
stehenden Gebäuden zu Hausen, verging allmälig. Die verheerenden Einfälle
der Ungarn und Normannen, die Verminderung der freien Hofherren und das
Aufkommen des räuberischen Dienstadels trugen dazu bei, den römischen Bur¬
genbau zu verbreiten. Die Baukunst des romanischen Stils fand bei den
hohen Steinhäusern zwischen Thürmen und Vertheidigungsmauern Gelegen¬
heit, ihre Erfindungskraft,zu bewähren und ihren Schmuck anzubringen. Aber
die Gewohnheiten des deutschen Lebens machten sich auch in dem kunstvollen
Burgbau geltend, die Räume, welche auf der Felshöhe eingeengt durch
Festungsmauern, nicht mehr als getrennte Gebäude neben einander stehen
konnten, wurden unter demselben Dach über einander angebracht, und Keme¬
nate, die Wohnstube mit dem Herd und Schornstein, ja auch der große Saal
ordneten sich in die Stockwerke. Wurde 5er Saal in den obern Theil des
Burgbaues gelegt, so erhielt er auch die Aufgabe, bei einer Belagerung die
bewaffneten Vertheidiger aufzunehmen. Wurfgeschosse und Bogenschützen wurden
an seine Fenster gestellt, und wie er selbst die niedrigern Werke und den Hofraum
beherrschte, so wurde wieder er von dem großen Hauptthurme überragt. Die
Wartburg, soweit der alte Bau aus der Restauration erkennbar ist. gewährt
kein übles Bild von der Zusammenschachtelung der altdeutschen Wohnräume
in einem Burgbau des romanischen Styles. Im 12. Jahrhundert waren diese
neuen Hofburgen bereits der gewöhnliche Aufenthalt größerer Territorialherren,
sie werden auch in den ritterlichen Dichtungen als Wohnsitz der Könige,
schöner Frauen und Zank'erer dargestellt. Daß sich aber in dem großen Volks¬
gedicht der Deutschen so lebhafte Erinnerung an Haus und Hos früherer Zeit
erhalten hat, das ist eben so lehrreich, wie der Umstand, daß die Helden der
Nibelungen zwar einige Mal modernen Ritterbrauch üben und zu Roß mit dem
Speer tjostiren, daß aber ihre ernsten Kämpfe zu Fuß ausgefochten werden,
und daß sie dann den Ger, den altheimischen Wurfspieß, schleudern.
Altdeutsches Lesebuch. Gothisch. Altsächsisch Alt- und Mittel¬
hochdeutsch. Mit literarischem Nachweis und einem Wörterbuche von Oskar
Schade I. Theil Lesebuch. Halle. Buchhandlung des Waisenhauses. 1862.
Zunächst durch die eigenen Vorlesungen des Herausgebers veranlaßt, dem Lesebuch
W. Wackernagels gegenüber durch billigern Preis und stärkere Berücksichtigung
des neunten bis zwölften Jahrhunderts motivirt. Die Einrichtung ist praktisch,
jedem Stück ist ein literarischer Nachweis der Quellen, Handschriften, Drucke
beigefügt, die Auswahl ist verständig, möglichst Interessantes und weniger Be¬
kanntes hervorgehoben. Das Ganze eine nützliche und empfehlungswertbe Arbeit.
A ltdeutsches Ha ndwörterbuch von Wilhelm Wackernagel. Basel,
Schweighäuser'sche Verlagsbuchhandlung. 1861. Die neue Auflage dieses Wörter¬
buches, welches zunächst für die neue Ausgabe des altdeutschen Lesebuchs von
Wilhelm Wackernagel bestimmt ist, umfaßt zwar nicht das ganze Gebiet der alt
und mitteldeutschen Sprache, aber sie ist gegen die frühere Ausgabe des
Wörterbuchs von 1842 fast um die Hälfte vermehrt, ist durchaus selbständig gear¬
beitet, in streng alphabetischer Ordnung, knapp und sorgfältig in den Erklärungen,
mit reichlicher Berücksichtigung der Eigennamen und der alten Dialekte. Es
wird auch, was den Reichthum an Wörtern betrifft, durch das große Wörter¬
buch von Zarncke und Müller keineswegs entbehrlich gemacht, und der gelehrte
Herausgeber ist völlig berechtigt, anzunehmen, daß es bei jeder Lectüre mittel¬
alterlicher deutscher Schriftwerke mit Nutzen und Freude gebraucht werden kann.
Das Nibelungenlied aus dem Mittelhochdeutschen neu übersetzt von
Eduard Bürger. Leipzig. Brockhaus. 1861. — Wir vermögen nicht die An¬
sicht des Uebersetzers zu theilen, daß seine Arbeit die rechte Mitte halte zwi¬
schen unpassender Modernisierung und einer harten Diction, die sich zu unfrei
an die alte Sprache anlehne. Er vermeidet allerdings ungewöhnliche Wörter,
aber was er an ihre Stelle setzt, gibt häufig den Sinn ungenau oder unrichtig
wieder und in dem glattem Vers stören Hiatus und moderne pro¬
saische Wendungen doch zu sehr. Man wird sich zuletzt bescheiden müssen, das
große Wert in der allerdings unbehilflichen Umbildung zu lese», welche Sun-
rock der mittelhochdeutschen Sprache gegeben hat. Denn die Schwierigkeiten
einer guten Übersetzung aus den alten Formen der eigenen Sprache sind un¬
überwindlich. Noch lebt der bei weitem größte Theil der alten Wörter in we¬
nig geänderten Formen, aber fast jedes Wort hat in den sechshundert Jahren
seine Bedeutung mehr oder weniger nüancirt und diese Veränderungen des
Sinnes sind häusig so feine Schattirungen, daß wir gar nicht immer im Stande
sind, durch ein anderes Wort die Veränderung auszudrücken. Und die Substi-
tuirung eines fremden Wortes oder eine Umschreibung stören wieder Rhythmus
und Reim in peinlichster Weise. Ein Beispiel für Tausende und zwar ein
.bekanntes ist das Wort „Liebe". Es bedeute! in den volksmäßigen Gedichten
des 12. und 13. Jahrhunderts in der Regel frohe Empfindung oder Lust,
keineswegs die warme Neigung, welche uns dadurch ausgedrückt wird. Es ist
in vielen Fällen nur dann möglich, denn Sinn annähernd wiederzugeben, wenn
man ..Liebe" mit „Freude" übersetzt, — obgleich auch diese Vorstellung nicht ganz
dem alten Sinne entspricht. Im solcher Bedeutung steht es in wichtiger Stelle,
am Schluß der Nibelungen, wo die Worte: -rlL le die liöbL Ivicte 2ö alwi' Mir-
gists git, zu übersetzen sind: denn immer folgt zu allerletzt aus Freude Leid.
Herr Bürger überträgt unrichtig: Wie immerdar die Liebe am Ende führt zu Leid.
In welcher Form man auch die Nibelungen durchlese, es liegt jetzt sehr
nahe, dabei der großen Frage zu gedenken, welche die deutsche Philologie seit
mehr als zwanzig Jahren fast unablässig beschäftigt und wiederholt so lebhaften
Kampf der Gelehrten hervorgerufen hat, der Frage, wie das Gedicht entstanden
ist. Die Untersuchung fällt zusammen mit der über Ursprung und Fortbildung
aller epischen Volkspoesie und über die Methode des gesammten geistigen Schaft
sens in der Jugendzeit der Völker. Es ist bekannt, daß seit Wolf vornehmlich
dieser Kreis von Untersuchungen der deutschen Alterthumswissenschaft eine
eigenthümliche Physiognomie und ihren Resultaten eine Tiefe und Größe ge¬
geben hat, um die uns andere Völker beneiden mögen. Denn zuerst dadurch
wurde das Auge befähigt, tief in die geheime Werkstätte der jungen Volks¬
seele hineinzublicken, Ursprung. Wandlung und älteste Geschichte der Sprachen,
der Sitte, des Rechts, der Poesie und Kunst zu begreifen, erst seitdem wur¬
den der Wissenschaft die Völker der Erde zu lebendigen einheitlichen Orga¬
nismen mit einer geistigen Individualität, einer persönlichen Anlage und trei¬
benden Kraft. Zwischen der großen Arbeit Wolfs über Homer, den kühnen
Untersuchungen Lachmann's über die Nibelungen, der .Kritik biblischer Ueber-
licferungen durch Strauß und die Tübinger Schule ist ein tief innerer Zu¬
sammenhang, und trotz aller Verschiedenheit der Ueberzeugungen.in einzel¬
nen Fragen sind die Hauptresultate dieser großen Arbeiten Gemeingut aller
wissenschaftlich berechtigten Richtungen und Schulen geworden. In der That
erwächst der Streit über die Existenz eines Homers und über den Dichter des
Nibelungenliedes, wenn man die Fragen auf den Hauptpunkt zurückführt, jetzt
bereits nur aus einer Verschiedenheit der Ansichten über das Mehr oder Minder,
über den größeren oder geringeren Antheil, den eine einzelne Dichterpersönlichkeit
an der Construction der Gedichte in der uns erhaltenen Form gehabt habe. Die
eifrigsten Anhänger von Wolf und Lachmann begreifen, daß einmal ein Ein¬
zelner, oder Mehrere nach einander die vorhandenen Volkslieder zusammen¬
gesetzt und verbunden haben, die eifrigsten Verfechter des alten Homer
und eines Nibclungendichters räumen ein, daß die Volkssage lange Zeit, be¬
vor sie zu einem einheitlichen Gedicht zusammengebunden ward, in einzelnen
Gesängen und Liedern durch die Lande getragen wurde, und sie sind genöthigt,
zuzugeben, daß in den erhaltenen Gedichten Einfügungen und Zusammensetzungen
sichtbar sind, welche sich nur aus einer unbefangenen Benutzung vorhandener
epischer Stücke erklären lassen. So kommt die Frage zuletzt darauf hinaus:
Wie groß ist bei Griechen, Germanen oder bei dem epischen Gedicht eines an¬
dern Volkes der Antheil des alten Redactors? Ist seine Arbeit ein künstleri¬
sches Anschaffen des vorhandenen epischen Stoffes, so planvoll und schöpferisch
frei, daß er als der Dichter betrachtet werden muß, oder ist sein Verdienst nur
das eines poetisch begabten Sammlers, welcher das fertige Einzelne mit
mehr oder weniger Geschick zusammengefügt, arge Widersprüche ausgeglichen
und was etwa am Zusammenhang fehlte, ergänzt hat. Und selbst dieser
Gegensatz der Auffassung ist noch durch nähere Betrachtung alter Zustände ge¬
mildert worden. Es ist uns nicht mehr schwer zu begreifen, daß auch eine
selbständige und starke Dichterkraft in jener alten Zeit durchaus nicht unter dem
Zwange dichtete, eine originelle und eigenthümliche Arbeit liefern zu müssen,
und daß er mit einer Unbefangenheit und Sicherheit schon Vorhandenes für
sein Gedicht verwerthete, welche jetzt durchaus unerlaubt, ja unmöglich wäre.
Andrerseits verkennen auch die Vertreter der Wolf-Lachmann'schen Auffassung
nicht, daß der alte Redactor nicht nur mit poetischem Gemüth den Zusammen-
hang der Sage, wie er in der Seele seiner Zeit lebendig war. empfunden hat,
sondern daß er auch keineswegs mit einer modernen Pietät gegen alte Ueber¬
lieferungen erfüllt war, und daß er zuverlässig während der Zusammensetzung
sich als schaffender Dichter fühlte, der behaglich umformte und wegließ, was ihm
irgend gut schien. Sicher wird innerhalb der so gezogenen Schranken noch
lange ein Gegensatz der Ueberzeugungen bestehen, aber auch diesem Gegensatz
Werden die Grenzen immer enger gesteckt, je mehr unsere Einsicht in die
Urzeit des volksthümlichen Schaffens zunimmt. Wir sind gerade bei epischer
Poesie schon jetzt im Stande, an den verschiedenen Völkern ehr abweichende
Redactionsweisen zu erkennen.
Bei den Serben sind uns die epischen Volkslieder so erhalten, wie sie
von den einzelnen Sängern zur Gusle recitirt worden sind, dort sind die Ge¬
sänge des alinationalen Sagenhelden, des Königssohns Marko, durch keinen
spätern Rcdactor zu einem Ganzen verbunden, ja einzelne derselben sind uns
mehremal, aus dem Munde verschiedener Sänger, aufgezeichnet. Grade die ver-
hältnißmäßige Armuth und Eintönigkeit der serbischen Volkspoesie macht den
Vergleich mit andern Volksepen sehr lehrreich. (5s ist deutlich zu erkennen,
wie weit die lebendige Tradition der Sage noch jetzt die einzelnen Sänger beherrscht
und welche Freiheiten sie ihnen gewährt, ferner auch, wie sich doch über den einzel¬
nen Gesängen der epische Zusammenhang der Sage erhält. Fast noch lehrreicher
als die serbischen Lieder ist das große finnische Epos Kalvala, dessen einzelne Gesänge
erst in unsrer Zeit aus dem Munde des Volkes gesammelt, als ein Ganzes an¬
einandergereiht und mit einem gemeinsamen Namen versehen wurden. Zu diesen
epischen Ueberlieferungen in Einzellicdern bildet den stärksten Gegensatz das
große Sammelwerk des Persers Firdusi; dort ist althcimischer Sagenstoff, der
von alten Sängern und wahrscheinlich auch durch frühere Ncdactoren zu einer
Anzahl größerer Gedichte zusammengeschlossen war, in verhältnißmämg später
Zeit bei ganz veränderten Culturverhällnisscn unter der Herrschaft arabischer
Bildung und Sprache von einem gebildeten Hofsängcr überarbeitet und zu
einem unförmlichen Werke zusammengeschweißt worden. Eine weit andere,
ältere Verbindung massenhaften epischen Materials stellen wieder die großen
Sammelwerke der Inder, Mahabharata und Ramajana, dar, aus denen zahlreiche
ältere Dichtungen mühelos ausgeschieden werden können. Zwischen den Ser¬
benliedern und der Methode der Hindus sind die Ueberreste neidischer Poesie
einzureihen, welche lange von einer geschlossenen Dichterzunft fortgepflanzt wur¬
den, dann die Sagenbildung und epische Dichtung der Romanen im Mittelalter'
endlich die zahlreichen epischen Poesien der Germanen und zuletzt die homeri¬
schen Gesänge. — Wer jetzt die Frage über Ursprung und Umbildung der epischen
Dichtungen fördern will, der hat zunächst die Aufgabe, in eingehender Forschung
die verschiedenen Epen der fremden Völker mit einander zu vergleichen, und aus
dem Gemeinsamen und Besondern ihrer Redaction, aus ihrer Composition und
dem Grade ihrer Entfernung von der schöpferischen Epenzcit Schlüsse auf Griechi¬
sches und Deutsches zu ziehen. Er wird gut thun, dabei auch aus den epischen
Vers Rücksicht zu nehmen und die Gesetze zu suchen, nach denen derselbe aus
den Volksseelen'quillt, überall je zwei poetische Sätze durch Parallelismus,
Der erste Tag der Wahlen in Preußen ist vorüber. In einer gehobenen Stim¬
mung hat da«! preußische Volk seine Wahlmänner bestimmt. In allen Kreisen, so¬
weit politisches Urtheil in sie hineinreicht, war die Ueberzeugung lebendig,, daß die
Stunde gekommen sei, wo der Preuße sich als mündig zu erweisen habe. Wie groß
die Bewegung ist. welche an diesem Tage durch ganz Deutschland ging, vermochten
auch wir in Leipzig zu erkennen. Die große Messe hatte begonnen, zwingend waren
die Interessen, welche auch die preußischen Kaufleute und Fabrikanten am 28ten bier¬
herriefen. Die Mehrzahl von ihnen erklärte, daß sie zuvor ihrer Wahlpflicht genügen
werde. Placate hatten das hier an den Straßenecken verkündet; an« nicht preußi¬
schen Meßbesuchern hatte sich el» Comite gebildet, den Preußen dieses Opfer zu er¬
leichtern. Auch in Leipzig ruhte ein großer Theil des Geschäftsverkehrs am 28. April,.
zum Theil aus Courtoisie gegen die preußischen Landsleute, von vielen Fremden und
Einheimischen wurde der Tag wie ein Festtag begangen. Als nach der Wahl am
Abend ein großer Bahnzug die preußischen Geschäftsleute vou Berlin herführte,
fanden die Reisenden schon auf dem Wege an allen Stationen Schnuren von Men¬
schen, welche sie fröhlich begrüßten, anredeten und ihren Dank aussprachen. Als der
Zug um Mitternacht hier ankam, waren zu der späten Stunde auf dem weit ab¬
liegenden Bahnhöfe mehrere Tausend Menschen zur Begrüßung der Preußen ver¬
sammelt, auch hier wurden die Ankommenden mit Zuruf und feierlicher Anrede
empfangen. Und die hier um Mitternacht hinausgegangen waren, die Fremden zu
erwarten, das war kein zusammengelaufener Haufe der Straßen. Ernsthaft und
elnbar wie die Mäuner, welche kamen, standen auch die Tausende, welche der Preußen
harrten. Es war eine männliche Empfindung in Allen, welche wenig Worte bedürfte,
sich zu Äußern; man verstand einander mit einem Händedruck und kurzen Gruß.
Wahrlich, es ist ein gutes und tüchtiges Volk, welches jetzt seine Kraft in den
großen politischen Fragen seines Staates zusammenfaßt. Und es ist eine schiefe
und gefährliche Lage, in welche die preußische Regierung seit dem 14. v. M. gekommen
ist. Sie hat es nicht mit einer tumultuirenden Masse zu thun, sondern sie ist in
Kampf getreten mit dein Kern des eigenen Volkes. Was war es doch, was den
Kaufmann, dem man zutraut, daß er ungern Geschäft und Gewinn versäume, von
seinem Markte fernhielt? Was war es doch, was auch die kleinen Wähler der
Städte so zahlreich zu der Wahlurne trieb, was die Ermahnungen übereifriger
Landräthe, herrschlustiger Gutsherren unwirksam machte? Was gab doch dem preu¬
ßischen Volt in diesem Tage die Wärme, das fröhliche Selbstvertrauen, den festen
Entschluß des Widerstandes. Was hat die ungeheure Majorität der Städter,
einen großen Theil der Landleute zu eifrigen Kämpfern für die nationale Partei ge¬
macht? Die Wahlerlasse des Ministeriums, die ungeschickte Drohung, welche dem Volk
in der Phrase „Königthum oder Demokratie" entgegengeworfen wurde. Es
wckr das verletzte Rechtsgefühl der Preußen, welches die Wahlen so geleitet hat.
Ehrlichkeit und Gewissenhaftigkeit der Wähler sind gekränkt, durch nichts mehr, als
durch die behenden Concessionen, welche das Ministerium des Handels und der Finan¬
zen der öffentlichen Meinung so Plötzlich zu machen bereit war.
Die Urwähler haben in solcher Empfindung gewählt. Die Wahlmänner werden
in derselben Ueberzeugung ihre Pflicht thun, dann kommt die schwerere Aufgabe der
Abgeordneten, der gehobenen Stimmung des Landes dadurch gerecht zu werden,
daß auch sie würdigen und festen Ausdruck finden für die Lage des Staates.
Das Leipziger FlottcncomitS hat an den preußischen Minister des Kriegs und
der Marine folgendes Schreiben gerichtet.
Das unterzeichnete ComitS erbittet Ew. Excellenz hochgeneigtes Wohlwollen für
das folgende ehrerbietigste Gesuch, in der Ueberzeugung, daß, was wir hier ausspre-
chen, zugleich die Ansicht einer großen Zcchl derer ausdrückt, welche in- und außer¬
halb Preußens für eine deutsche Flotte unter preußischer Flagge gesammelt haben.
Die Beiträge, welche bis jetzt aus den verschiedensten Gegenden Deutschlands
bei einem hohen Ministerium der Marine einliefen, sind allerdings nicht unter gleich¬
lautenden Titel gesammelt worden, in der Regel zum Bau von Dnmpfkanonen-
booten, zuweilen ohne diese Beschränkung, zuweilen in der Hoffnung, größere Kriegs¬
fahrzeuge daraus hergestellt zu sehen. Immer war die selbstverständliche Tendenz
der Sammlungen, die preußische Wehrkraft zur See zu fördern, so weit dies über¬
haupt durch freiwillige Geldopfer Einzelner geschehen kann. Und da die Vertheidi¬
gungsmittel der Ostsee nach den bisherigen Annahmen genügend erschienen, so war
die Verwendung der freiwilligen Gaben für eine preußische Marine der Nordsee stiller
oder ausgesprochener Wunsch bei einer großen Zahl der Geber.
Allerdings konnten selbstverständlich die ausgesprochenen Wünscht und etwaigen
Beschränkungen, welche die einzelnen Comites den eingesandten Summen beifügten,
in Ew. Excellenz Ministerium nur so weil Berücksichtigung finden, als sie nicht mit
der Höhe der Gesnmmtsumme oder in technischer Beziehung mit der besseren Ein¬
sicht der Sachverständigen in Widerspruch traten. Und wir sind lebhaft überzeugt,
daß Ew. Excellenz geneigt war, ihnen jede irgend thunliche Berücksichtigung/zu
gönnen.
Wir selbst haben unter dieser Voraussetzung und nach der Einsicht von den
Bedürfnissen einer Küstenbefestigung, welche im vorigen Frühjahr die allgemeine war,
zum Bau von Dampfkcmonenbovten gesammelt.
Die letzten bedeutsamen Erfahrungen der amerikanischen Kriegsmarine, so wie
der, durch einen nordischen Staat beschlossene Bau von Panzerschiffen haben aber
die Ueberzeugung allgemein gemacht, daß der Bau von Dampfkanonenbootcn in der
.alten Weise zum Schutz deutscher Küsten fortan durchaus ungenügend sein würde.
Und die Unterzeichneten hoffen daher Ew. Excellenz hochgeneigte Leistimmung
zu erhalten, wenn sie hierdurch erklären, daß sie, weit entfernt, bei ihren Samm¬
lunge» auf dem Bau der bisherigen hölzernen Kanonenboote zu fußen, vielmehr sich
innig freuen würden, die neuesten Erfahrungen fremder Kriegsmarinen auch auf die
in Deutschland zu erbauenden Fahrzeuge angewandt und ihre eingesandten Beiträge
dafür benutzt zu sehen.
Wir bescheiden uns gern, ein sachverständiges Urtheil über die jetzt zweck¬
mäßigste Verwendung der freiwilligen Gaben nicht abgeben zu können, aber wir wa¬
gen doch, Ew. Excellenz ehrfurchtsvoll anheim zu geben, ob nicht grade jetzt eine
günstige Zeit gekommen sei, die Summe der durch Sammlungen eingegangenen
Beiträge zum Bau eines kleinen Eiscnfahrzeugs nach dem Muster des von Erichson
gebauten Panzerbootes mit Thurm zu verwenden. »
Allerdings ist die Unverwundbarkeit dieser Kricgsfahrzeugc vielleicht zu empha¬
tisch bevorwovtet worden, jedenfalls wird die nächste Vervollkommnung der Schu߬
waffe und ihrer Projectile, das, wie es eine kurze Zeit schien, gestörte Verhältniß
zwischen Angriffs- und Vcrthcidigungkraft wieder ins Gleichgewicht setzen.
Immer aber wird nach menschlichem Ermessen für eine längere Zukunft das
gepanzerte Eisenboot eine unentbehrliche Waffe des Seekrieges und in Verbindung
mit Küstenbatterien das wirksamste Dcfensivmittel gegen feindliche Angriffe zur
See bleiben.
Die bis jetzt gesammelten Beiträge würden wahrscheinlich gerade hinreichen, ein
solches Kriegsfahrzeug zu erbauen, und wir unterbreiten Ew. Excellenz erleuchteten
Urtheil, ob nicht der gegenwärtige Zeitpunkt auch aus andern Gründen vorzugs¬
weise geeignet wäre, den Deutschen die Ueberzeugung beizubringen, daß jedes
Ministerium Preußens seiner hohen Aufgabe. Vertreter deutscher Interessen zu sein,
hochsinnig eingedenk bleibt. Ew. Excellenz geneigter Beschluß wirb auch für fernere
Sammlungen die wohlthätigste Wirkung ausüben, zumal wenn Hochdieselben sich
veranlaßt sehen könnten, in irgend welcher Form die Erklärung abzugeben, daß ein
solches Eiscnbovt, welches aus den Beiträgen Einzelner erbaut werden könnte, zum
Dienst in der Nordsee, der Jahde, Elbe und Weser bestimmt sei. Die Unterzeichne¬
ten bitten Ew. Excellenz, aus diesem ehrerbietigen Gesuch die Ueberzeugung zu ge¬
winnen, daß ihnen die Erfolge Preußens auch nach dieser Richtung innig am Her¬
zen liegen, und daß man außerhalb Preußens mit gespanntester Theilnahme Alles
erfaßt, was irgend wie zur Größe und zum Gedeihen des Staates beiträgt, zu wel¬
chem wir als zu dem Vorkämpfer Deutschlands Hinsehen.
In solcher Gesinnung verharren die Unterzeichneten ?c.
Dem verehr lichen Flottencomits zu Leipzig danke ich verbindlichst für die ein¬
gehende und von lebhaftem Interesse für die maritime Streitbarkeit Preußens und
Deutschlands zeugende Zuschrift vom 16. d. M,
Es war mir sehr erfreulich, in den Aeußerungen derselben den lebhaften Wider¬
hall der Wünsche und Sorgen zu erkennen, welche mich nicht blos aus Pflicht¬
gefühl, sondern in ebenso hohem Grade aus innigem sachlichen Interesse fort und
fort beschäftigen.
Die aus den verschiedensten Gegenden Deutschlands bei dem königlichen Ma-
rineministerio eingegangenen Beiträge haben, wenngleich sie unter' verschiedenen
Titeln gesammelt und eingesandt worden sind, das Gemeinsame, daß sie, wie das
verehrliche Comitö richtig bemerkt, selbstverständlich immer das Ziel im Auge ha¬
ben, daß dadurch Preußens und somit Deutschlands Wehrhaftigkeit zur See ge¬
steigert werden möchte. Die einzelnen, bei Einsendung der Beiträge geäußerten
Wünsche können daher nur diejenige Berücksichtigung finden, welche mit der Höbe
der Gesammtsumme und der sachverständigen, dem gemeinsamen Zwecke entsprechen¬
den Verwcndungsweise im Einklang steht.
Wenn das verehrliche Comitö weiter darauf hinweiset, dasselbe habe zwar, im
Interesse der Küstenvcrtheidigung, zum Bau von Dampfkanoncnbooten gesammelt,
die neuesten Erfahrungen in den amerikanischen, sowie die neuesten Bestrebungen
in verschiedenen europäischen Kriegsmarinen deuteten jedoch darauf hin. daß die Be¬
schaffung anderer wirksamerer Vertheidigungsmittel, daß namentlich der Bau von
Panzerschiffen und schwimmenden gepanzerten Batterien zweckmäßiger erscheine: so
versichere ich meinerseits, wie ich gar nicht daran gezweifelt habe, daß die Geber
der unter verschiedenen Titeln eingesandten Beiträge mir die dem angedeuteten Haupt¬
zwecke entsprechende Verwcndungsweise der Gaben damit gleichzeitig haben anver¬
trauen wollen.
Sofern also der von den meisten Beitragenden ausgedrückte Wunsch der Er¬
bauung von Kanonenbooten älterer Construction sich nach den neuesten Erfahrungen
nicht mehr ausführen läßt, ohne den Hauptzweck der Beiträge in Frage zu stellen,
war und ist es meine Pflicht, diesen lcjztern jenen Specialwünschen voranzustellen.
Demgemäß habe ich, sobald die erwähnten Erfahrungen zu meiner Kenntniß
kamen, im Interesse der für die Verstärkung der vaterländischen Marine in Aussicht
zu nehmenden Neubauten sofort sachverständige Commissäre nach England und Frank¬
reich entsandt, um auf den dortigen Werften durch Autopsie und durch Rücksprache
mit den erfahrensten Constructcurcu jener Länder sachkundige Fingerzeige für die den
vaterländischen Verhältnissen und Interessen angemessensten Maßnahmen zu gewinnen.
Ob dann die freiwilligen Gaben in ihrer Gesammtheit, wie das verehrliche
Comite wünscht, zum Bau eines oder mehrerer kleiner Panzerfahrzeuge nach dem
Muster von Erichson unter eventueller Zuhülfenahme von Ncgicrungsmittcln am
zweckmäßigsten zu verwenden sein werden, oder ob die unserm Jahrhundert eigene
schöpferische Kraft in technischen Dingen vielleicht bis dahin schon Besseres zur Be¬
achtung zu empfehlen haben wird: das läßt sich jetzt mit Sicherheit noch nicht über¬
sehen; jedenfalls wird der Zweckmäßigkeitsfrage dabei ihre berechtigte Geltung ge¬
wahrt bleiben. Auch wird das Marineministerium seinerzeit nicht verfehlen, über
die Verwendung der ihm anvertrauten patriotischen Gaben in aagcmcsscner Weise
öffentlich Rechnung zu legen.
Schließlich danke ich dem verehrlichen Flottencomits auch für den mir in sei¬
nem gefälligen Schreiben gegebenen Anlaß, mich über einen Punkt von allgemei¬
nerer Bedeutung äußern zu können. Es wird von Wohldemsclben mit vollem Recht
vorausgesetzt, „daß jedes Ministerium Preußens seiner hohen Aufgabe, Vertreter
deutscher Interessen zu sein", eingedenk bleibt. Deuten Sie damit auf den kürzlich
stattgefundenen, übrigens nur theilweisen Personenwechsel im Ministerium hin. so
werden Sie doch nicht übersehen, daß in Preußen, dessen hochsinniger König der
jedesmaligen Staatsregierung die Ziele nach unwandelbaren Grundsätzen steckt, ein
solcher Wechsel lediglich die Personen, nicht aber die leitenden Gedanken verändern
kann, und wenn es den Leidenschaften aufgeregter Parteien dient, den solche Un-
wandelbarkeit der Grundsätze, auch in der deutschen Politik Preußens, ausdrücklich
hervorhebenden königlichen Erlaß vom 19. v. M. zu ignoriren, eine Veränderung
der Regicrungsprincipien vorauszusetzen und, als thatsächlich vorliegend, dem Publi-
cum mit allen erlaubten und unerlaubten Mitteln vorzuspiegeln! so wird die Folge¬
zeit die Berechtigung dazu doch entschieden verneinen, Sollte es inzwischen zur
Beruhigung Zweifelnder dienen, daß Preußens deutscher Beruf von seiner Regierung
nach wie vor willig anerkannt wird, und sollte dies durch die Zusicherung bestätigt
werden können, daß die aus freiwilligen Gaben gewonnenen Mittel zur Vertheidi¬
gung der deutschen, nicht speciell der preußischen Küsten verwandt werde» würden:
so nehme ich keinen Anstand, ausdrücklich zu erklären, daß, wie auch die jetzt
schwebenden commissarischen Verhandlungen über die Vertheidigung der Nordsee-
küsten beweisen — die preußische Regierung ernstlich gewillt ist, den nichtpreußischeu
Küsten Deutschlands, nach Maßgabe der disponibcln Kräfte und Mittel, denselben
Schutz zu gewähren wie den eigenen, und daß sie daher gern bereit ist, die aus
jenen Beiträgen gewonnenen Mittel ausschließlich zur Verstärkung der Nordseeflotille
zu verwenden.
Indem ich wünsche, daß diese meine, den Auffassungen der königlichen Regie¬
rung vollkommen entsprechende Erklärung die hier und da gehegten und von dem
verehrlichen Comite in dem gefälligen Schreiben vom 16. d. M. betonten Besorg¬
nisse zerstreuen möge, bitte ich die Versicherung meiner hochachtungsvoller Gesinnung
zu genehmigen.
Eine Zusammenstellung der Aufsätze, welche der Verfasser in den letzten Jahren
in das Feuilleton der „Nationalzeitung" und einige andere Blätter geliefert hat, und
die auch bei denen, welche gleich uns den Ansichten Herrn Buchers von Englands
Verkommenheit, Palmerstons v^rräthcrischer Politik, Italiens Zukunft und Oestreichs
Bedeutung sür die deutsche Entwickelung keinen Geschmuck abzugewinnen vermögen,
durch die ihnen zu Grunde liegende vielseitige Bildung, beweglichen Geist, schlagenden
Witz und anmuthiges Darstellungstalcnt vielen Beifall gefunden haben werden. Die
recvte Freiheit des Humors freilich vermissen wir nicht selten, bisweilen hat er eine
gewisse säuerliche Beimischung, häufiger keucht er unter der Last von Beziehungen,
die ihm der Verfasser als Polyhistor ausgeladen, und manchmal will uns gar bei¬
nahe bedünken, als verhielte sich hinter dem frivol scherzenden Feuilletonisten, dem
Schüler Sterne's, ein Etwas, für dus >zur keinen andern Ausdruck finden als ^Pe¬
danterie. Auch hat er sich, wie das politischen Flüchtlingen oft begegnet, in der
Fremde mancherlei unrichtige Begriffe von der öffentlichen Meinung in Deutschland
gebildet, und so geschieht es ihm bisweilen, daß er mit der Schärfe seiner Satire
Dinge angreift, die außer ihm nicht existiren. Der vorliegende erste Band enthält
unter anderen die Artikel über Kern und den Ausflug nach der Insel Wight, die
Tour nach Konstantinopel mit den Bilder» vom Saum Italiens, die Berichte über
die Pariser Industrie-Ausstellung von 1855 und die Briefe aus Deutschland, die den
Kontrast zwischen deutschem und englischem Leben, wie er sich dem heimkehrenden Ver¬
bannten darstellte, ausdrückte» und in so grundgelehrter Weise für gewisse englische
Einrichtungen, z. B. für englische Vcntilalio», Propaganda machten. Der zweite
Band soll politische Aufsätze, Kritiken und Schilderungen aus London bringen, die
zum Theil nicht in der deutschen Presse erschienen sind.
Gewissermaßen ein Nachtrag zu des Verfassers „bayerischem Hochland" und mit
ebenso anmuthiger Frische, ebenso liebenswürdigem Humor und ebenso liebevollem
Eingehen auf Sitte und Art des Volks geschrieben, wie jene allerliebste», nur durch
pessimistische Ungeduld in politischen Excursen bisweilen beeinträchtigten Skizzen von
Land und Leuten in Südbayern. Der Verfasser hat das Bedürfniß empfunden, sich
dort geschilderte alte liebe Orte wieder einmal anzusehen, alten Freunden wieder ein¬
mal die Hand zu drücken, sich nach ihrem Befinden zu erkundigen, ergänzende No¬
tizen zu sammeln, und da er voraussetzen durfte, daß jene Orte wie diese Freunde
auch dem größern Publicum werth geworden seien, gibt er uns hier neue Nachrichten
darüber, verziert mit den Arabesken seiner Laune. Das Ganze umfaßt elf Kapitel,
von denen die ersten sieben: von München nach Reichenhall — Ehicmsec und Sccbruck
— Bauerntheater in Seebruck — Scon —Autors, Falkenstein und der Petersberg
— von Brannenburg über das Arzmoos nach Bayerisch-Zell — von Bayerisch-Zell
an den Spitzingsec. bereits in der Allgemeinen Zeitung zu lesen waren, während die
vier letzten: der Jrschenbcrg — Bcnedictbeucrn und die Carmina burana — das
landwirthschaftliche Fest MStarenbeig und Im Thal der Würm, neuhinzngckominen
sind. Daß Steub, wie wir aus einem der Kapitel herauslesen möchte», in seiner
Heimath nicht den Leseitrcis gefunden hat, ^er er sich wünscht, wird die. welche sich
von dem Klang des Wortes Bayern nur an Bären, Bauern oder Bier erinnert finden,
nicht Wunder nehmen, und auch wir, die wir von den Leuten zwischen Jnn und
Jsar eine günstigere Meinung hegen, würden nicht gerade erstaunen, wenn man uns
sagte, daß unser geistvoller und zugleich gcmüthreicher Tourist bei Weitem mehr
Freunde und Leser nördlich als südlich von der Donau habe.
Die letzten Jahre haben gerade über das ferne Thule eine verhältnißmüßlg große
Anzahl guter 'Schriften gebracht (unter andern von Maurer und von Wincklcr) und
wir sind so über dessen Bewohner, dessen sociale Zustände, Sitten und Sagen un¬
gleich besser unterrichtet, als über nianckes näherlicgeudc und für das Große und
Ganze der europäischen Entwickelung wichtigere Land. So finden wir in der ersten
Hälfte der vorliegenden Schrift, der eigentlichen Reisebeschreibung. soviel sie uns auch
auf der Insel umherfühtt und so sehr sie in das Detail eingeht, nur wenig Neues
von Bedeutung ldas Werthvollste möchte in den Kapiteln enthalten sein, welche den
Aufenthalt der Reisenden in Akureyri am Eismeer und den Ausflug nach dem
Mückensee, sowie die Reise durch die große Wüste von dort bis in die Gegend des
Geysers schildern), und auch die beigegebenen, beiläufig hübsch ausgeführten Abbil¬
dungen zeigen nichts, was nicht schon, und zwar erst vor Kurzem, bildlich uns vor¬
gelegen hätte. Dagegen mag der zweite Theil des Buches in seinen ersten fünf
Abschnitten für Gclchitc von Werth sein, und so machen wir darauf aufmerksam,
daß derselbe zunächst Bemerkungen über die geognostischen Verhältnisse Islands von
Dr. Zirkel, dann ein systematisches Verzeichnis; der Gefäßpflanzen der Insel, hierauf
eine systematische Uebersicht über die Rückgratthiere derselben von Preycr, dann eine
interessante Geschichte der Thätigkeit der verschiedenen isländischen Vulkane und
schließlich verschiedene statistische Mittheilungen über die politische und kirchliche Ein-
theilung und die Bevölkerung Islands enthält. Letzteren entnehmen wir die Notiz,
daß auf Island im Jahre 1858 2937 Geburten und 2l)t9 Sterbefälle stattfanden,
und daß die Insel 1703 50.444, und 1786 nur 38,142, dagegen 1858 67.847
Einwohner hatte.
Das Herzogthum Savoyen, 17K >in Meilen und 600,000 Einwohner, ist
in 6 Provinzen eingetheilt, welche in der Richtung von Norden nach Sü¬
den in folgender Reihe liegen: Chablais, mit Thonvn; Faucigny, mit Bonne-
ville und Chamouny; Genevois mit Annecy; Savoie propre, mit Chaud^ry;
Tarentaise, mit Moutiers; Mauricnnc, mit Se. Jean.
Seit 800 Jahren hat dieses Land, in wechselnder geringer oder größerer
Ausdehnung, einer und derselben Dynastie treulich angehangen und mit Hint¬
ansetzung >der eigenen innern Interessen das Blut seiner Söhne für die In¬
teressen seiner Grafen und Herzöge außerhalb Landes vergossen. Das Haus
Savoyen ist der Sage nach deutschen Ursprungs, und es stellt den sächsischen
Nautenlranz zu Häupten seines Wappens; seine frühesten Grasen folgen stets
der Politik der deutschen Kaiser und sind ihre treuen Gefährten in den unab¬
lässigen Kämpfen gegen Italien und Frankreich. — Der mehr oder weniger
authentische Name des ersten Grafen ist Berold; er war ein irrender Ritter,
der sich in den Markgrafschaften von Susa und Jvrea, im jetzigen Piemont,
festsetzte. Sein Sohn Humbert aux ti^metres mains residirte schon in Aigue-
belle in Savoyen, zog aber Kriegsfahrten und Abenteuer einem ruhigen Leben
vor und gewann so die Provinzen Maurienne und Tarentaise, womit ihn
Kaiser Konrad der Zweite der Salier belehnte, zum Dank für den Beistand in
den Kriegen, die das alte Königreich Burgund zerrissen. Sein Tod im Jahre
1048 ist constatirt. — Unter seinen Nachfolgern, von denen mehrere durch
geschickt combinirte Heirathen sowohl ihren Besitz erweiterten, als ihr Ansehn
und ihre Macht verstärkten, nennen wir Thomas den Ersten, der Turin und
Chambm'y erwarb und 1233 zu Aosta starb; — ferner Amadeus den Fünften
oder den Großen, der von 1285—1323 regierte, und den ein sehr bewegtes
Leben fast beständig außerhalb seiner Staaten hielt. Er beendigte seine kriege¬
rische Laufbahn in Rhodus. dem er gegen die Belagerung durch die Türken
zu Hilfe kam. Seitdem ziert das sapphische Wappen die Devise: K.
?0i'tituä0 Ms Knoclum 'kennt. — Besonders zu erwähnen ist Amadeus der
Sechste, von 1343 — 1383, einer der größten Fürsten seines Hauses, der in
den Traditionen des Landes noch heute als „der grüne Graf" rühmlich ge¬
priesen wird. Er feierte seine Siege über Piemontesen und Lombarden durch
ein glänzendes Turnier in Chambery, bei welchem er sammt Pferd und Ge¬
folge in völlig grüner Tracht erschien. Er stiftete den Orden der Liebes-Seen,
der 50 Jahre später von Amadeus dem Achten zum Orden der Verkündigung
umgemodelt wurde, und als solcher noch heute besteht. Seine Regierung war
eine ununterbrochene Reihe von Feldzügen und Siegern gegen die Dauphins,
gegen Piemont, gegen tue Visconti in Mailand, gegen Griechenland, wo er
Johannes Paläologus wieder auf den Thron setzte; auf einer Expedition gegen
Sicilien starb er an der Pest, in der Nähe von Bitonto in der Terra ti Bari.
— Sein Enkel Amadeus der Achte trägt zuerst den Titel Herzog, den er vom
Kaiser Sigismund im Jahre 1416 erhielt. Durch seine Vermählung mit einer
Tochter des Herzogs von Burgund berufen thätigen Antheil an den innern
Kämpfen Frankreichs zu nehmen, zeigte er sich überall als würdiger Erbe seiner
Ahnen; aber das Mißgeschick war an seine Ferse geheftet und traf ihn so¬
wohl in seinem öffentlichen als in seinem häuslichen Leben. Zerfallen mit der
Welt, ließ er an einer der schönsten Stellen des Genfer See's, in der Nähe von
Thonvn, die Eremitage la Ripaille erbauen und zog sich dorthin zurück, in Beglei¬
tung von sechs Rittern, die seine Gesellschaft und seinen Rath bildeten. Hier
verlebte er fünf Jahre in einer eigenthümlichen Clausur, unter Befolgung streng
geregelter Vorschriften. Die ritterlichen Eremiten trugen ein graues Kleid, mit
goldnem Kreuz und goldnem Gürtel, eine rothe Mütze deckte das Haupt. Zwei
Tage jeder Woche waren den Religions-Uebungen gewidmet, fünf Tage den
Geschäften des Staats. Man rühmt die Weisheit, mit welcher der Herzog
von Ripaille aus regierte, während sein Sohn Ludwig als Generalstatthalter
seiner Staaten eingesetzt worden.
Er war der erste Fürst Savoyens, der ein Gesetzbuch publicirte. Um so
auffallender muß es erscheinen, daß im Lause der Zeit das Wort Ripaille einen
andern, geradezu entgegengesetzten -Sinn bekommen hat; jetzt bezeichnet man
damit eine Schmauserei und tÄrcz Aix-rillo heißt ?in lustiges Leben führen,
was mit den Ueberlieferungen der alten Chroniken gar nicht zusammen passen
will. Und die Glaubwürdigkeit dieser letztern findet ihre Bestätigung in den
Ereignissen der folgenden Jahre. Damals tagte das Baseler Concil, wel¬
ches gegen die päpstliche Oberherrschaft und° Verwaltung mit Nachdruck auf¬
trat und sogar im Jahre 1439 zur förmlichen Absetzung des Papstes Eugen
des Vierten schritt. Dasselbe Concil bot nun dem Herzog Amadeus die Tiara
an. Dieser läßt sich verlocken, abdicirt zu Gunsten seines Sohnes Ludwig
und wird als Papst Felix der Fünfte geweiht. Eugen der Vierte protestirt,
appellirt an das schon früher von ihm zusammenberufcne Concil von Ferrara,
und die Kirche theilt sich in zwei Parteien. Für unsern Amadeus-Felix nahm
die Sache eine schlimme Wendung durch den Einfluß des berühmten Aeneas
Sylvius, später Papst Pius der Zweite, welcher damals als Geheimschreiber
des Kaisers Friedrich des Dritten diesen vollständig beherrschte und ihn im
Sinne und zu Gunsten des römischen Stuhles zu lenken wußte. Die deutschen
Kurfürsten huldigten aufs Neue dem schon aus dem Sterbebette liegenden
Eugen, und als nach dessen Tode der Papst Nicolaus der Fünfte in Rom er¬
wählt wurde, kündigte der Kaiser der Baseler Kirchenversammlung das Geleit
aus. Felix sah sich ^uf Gens, Basel und Lausanne beschränkt und sehr bald
in der Nothwendigkeit seiner Würde zu entsagen. Er zog sich als Cardinal-
Legat nach Nipaille zurück und starb dort wenige Jahre darauf 1451. — Unter
seinen Nachfolgern erwarb Karl der Erste im I. 1487 durch Erbschaft von
Charlotte von Lusignan die Titel: König von Cypern und Jerusalem, und
damit das Prädicat Königl. Hoheit, — aber ein Unglück nach dem andern
häufte sich über die Fürsten des Hauses. Innere Zerwürfnisse und Unruhen
schwachem die Macht der Regenten und arteten mitunter in förmliche Anarchie
aus, und als Herzog Karl der Dritte sich der Liga von Cambray anschloß, um
Cypern wieder zu erhalten, gerieth er in Feindseligkeiten mit der Schweiz,
welche von Franz dem Ersten unterstützt wurde. Im Jahre 1535 fiel ganz
Savoyen in die Hände der Schweizer und Franzosen, und der Herzog behielt
nur das .feste Schloß von Nizza; ein Friedensschluß gab ihm zwar die Civil¬
verwaltung zurück, aber das Land blieb von Franzosen und Kaiserlichen besetzt,
und neue Feindseligkeiten führten im Jahre 1551 die völlige Vertreibung des
Regentenhauses und den Tod des unglücklichen Karl des Dritten herbei. Das
einzige überlebende seiner neun Kinder, Philibert Emmanuel, folgte ihm in der
Negierung, die Anfangs nur eine nominelle war. Der junge Mann, so schwäch¬
lich von Körper, daß er von Kindheit an für die Kirche bestimmt war, schien
nur dazu ausersehen, das Maaß des Ruins seiner Familie voll zu machen.
Aber man kannte noch nicht den Eisenkopf mit hundert Augen, wie man ihn
später bezeichnete. Aus der Dunkelheit eines Klosters trat er hervor, um ein
mächtiger Herrführer zu werden; ein glänzender Herrscher, ein Freund der Künste
und des Luxus. Anfangs ohne allen Besitz, ein Fürst ohne Land, trat
er in die Dienste Kaiser Karls des Fünften; aber die Thronentsagung des
Kaisers machte dem persönlichen Verhältniß bald ein Ende, und der Waffen¬
stillstand von Vaucellcs lieh ihn enterbe wie vorher. Sein klarer Blick be¬
stimmte ihn jedoch, der kaiserlichen Fahne auch fernerhin zu Ager, und am
Tage von Se. Quentin verdiente er sich ruhmvoll seine Sporen im Kampfe
gegen Frankreich. Der Friede von Chateau Cambresis im Jahre 1559 gab
endlich dem Hause Savoyen den größten Theil seiner Staaten zurück; nur
einige feste Plätze blieben im Besitz Frankreichs und Spaniens. Auch diese
wieder in seine Gewalt zu bekommen, war nun die nächste Ausgabe Emmanuel
Philiberts nach seiner Rückkehr auf den väterlichen Thron; seine persönliche
Stellung als Schwager der Könige von-Frankreich und von Spanien benutzend,
zog er den Weg der Unterhandlungen dem zweifelhaften Erfolge des Kriegs vor
und erlangte damit Alles, was er erstrebte.
Einmal wieder im vollständigen Besitze aller Territorien, erkannte er es
als seine wichtigste Aufgabe, nach außen wie nach innen den Thron zu stützen
und zu schmücken, — und indem er einerseits in dieser Absicht ein regel¬
mäßiges Heer organisirte, eine Marine gründete, die bedeutendsten Städte
befestigte und die Citadelle von Turin bauete, ließ er sich zu derselben
Zeit angelegen sein, Kunst und Industrie zu unterstützen, die Landesverwaltung
zu verbessern, der Wissenschaft durch die Gründung der Universität Turin eine
Pflanzstätte zu bereiten und seine Residenz zum Mittelpunkt eines glänzenden
und kunstliebenden Hofes zu machen. So regierte er 20 Jahre lang und
hatte sich einen geschichtlichen Beinamen errungen, als er im Jahr 1580 sich
zu seinen Vätern versammelte. Ihm folgte sein Sohn Karl Emmanuel der
Erste, gleichfalls einer der merkwürdigsten und bedeutendsten Fürsten seiner
Zeit, mehr jedoch wegen der Kühnheit seiner Unternehmungen und der Hartnäckig¬
keit seines Muthes, als wegen der von ihm errungenen Erfolge; in dieser
Hinsicht der Gegensatz seines Vaters. Denn er war fast immer unglücklich,
sowohl im Felde, wie bei Unterhandlungen und Intriguen, — obgleich die ver¬
schiedensten Zeitgenossen, wie Heinrich der Vierte und Richelieu, ihn für einen
der gescheutesten Fürsten anerkannten. Er war der allgemeine Prätendent seiner
Zeit. Wo irgend eine SuccessioMsich eröffnete, stachelte ihn der Ehrgeiz sie sür
sich in Anspruch zu nehmen, und er würde halb Europa erobert haben, wenn
das Glück seinen Eifer unterstützt hätte. Zuerst erhob er Ansprüche auf Stadt
und Territorium von Genf, von jeher das eifrig begehrte Juwel für den
Schmuck der Krone Savoyens; zu gleicher Zeit trat er als Erbe der Mark¬
grafen von Saluzzo auf — beides ohne Erfolg. Als 1539 Heinrich der Dritte
unter dem Dolche Elements gefallen war, warf er sich zum Prätendent erber
französischen Krone aus, in seiner Eigenschaft als einziger Sohn der Margaretha
von Valois. Tante der drei letztem Könige und der bekannteren Margaretha
von Valois, welche mit Heinrich dem Vierten vermählt ward. Die innern
Zerwürfnisse Frankreichs durch die Rcligionsstreitigkeiten, die Kämpfe des neuen
Königs Heinrich des Vierten mit der Ligue, waren Anfangs den Unternehmun¬
gen des SMyischcn Herzogs günstig. Die Katholiken in der Provence er¬
klärten sich für ihn; er zog in Aix ein, und sein Schwiegervater, König Philipp
von Spanien, nöthigte das dortige Parlament ihn zum Schutzherrn der Pro¬
vinz zu ernennen. Acht Jahre lang behauptete er sich in dieser Stellung, ob¬
gleich Heinrich der Vierte bereits von Frankreich wie von den Mächten als
König anerkannt war. Da Karl Emmanuel in der Provence und in der
Dauphin<> mit glücklichem Erfolge den wiederholten Angriffen widerstand,
übertrug man endlich den Krieg nach Savoyen selbst, welches von dem Herzog
von Lcsdiguivres erobert ward. Der Frieden von Vervins beendigte 15',!»
diese zerstörenden Kriege, und Karl Emmanuel unterhandelte nun selbst in Pari^
und Lyon über die endliche Festsetzung der Grenzen, welche er zu seinem grö߬
ten Vortheil zu reguliren wußte: denn er erhielt die Markgrafschaft Saluzzo,
wogegen er la Bresse und Bugey abtrat; so versperrte er Frankreich die Thore
von Italien und veranlaßte den alten Lesdiguienes zu dem Ausspruch: Hein¬
rich der Vierte hat als Kaufmann, Karl Emmanuel als König gehandelt. —
Kaum wieder im ruhigen Besitze seiner angestammten und ansehnlich vergrößerten
Lande, konnte der Herzog der alten, gewissermaßen auch angestammten Ver¬
suchung nicht widerstehen, das reiche Genf wieder unter Savoyische Botmäßig¬
keit zu bringen. Am 12. Decbr. 1602 versuchte er mittelst Ueberrumpelung,
mitten im Frieden, die Stadt zu erobern,- aber der Ueberfall ward zurückge¬
schlagen, und noch heutigen Tags wird in Genf das Fest der Escalade gefeiert.
Nunmehr wandte er seine Augen auf Cypern, welches er erobern wollte, und
auf die Türkei, da die von den Türken tyrannisirten Bewohner von Macedo-
nien ihm die Herrschaft antrugen. Es blieb jedoch in beiden Fällen bei dem
Vorsatz. Als 1027 die regierende Linie der Familie Gonzaga ausstarb, vin-
dicirte er sich die Nachfolge in dem Herzogthum Mantua und der Markgrafschasi
Montserrat und veranlaßte so den Mantuanischcn Erbfolgekrieg, in dessen Ver¬
lauf Ludwig der Dreizehnte Savoyen wieder eroberte. Der Gram und Kummer
über diese fehlgeschlagnen Hoffnungen führten im I. 1630 den Tod des ehr¬
geizigen Fürsten herbei, dem man nachrühmen muß, daß er die kurzen Augen¬
blicke der Ruhe dazu verwandte seinen Namen auch an die minder geräusch¬
vollen, aber segensreicheren Werte des Friedens zu knüpfen: er baute Monu¬
mente und Paläste, errichtete Bibliotheken und sorgte wesentlich für Herstellung
von Straßen und Wegen durch das ganze Land.
Unter seinen Nachfolgern Victor Amadeus dem Ersten, — Hyacinth, —
Karl Emmanuel dem Zweiten, — vergrößerte sich der Einfluß der regierenden
Familie wesentlich durch Heiraths-Verbindungen mit den Bourbonen und
später durch die glänzende Persönlichkeit des Prinzen Eugen von Savoyen.
Eine Folge davon so wie von der Stellung, welche sein Haus im spanischen
Erbfolgekrieg einnahm, war, daß der Herzog Victor Amadeus der Zweite durch
den Frieden von Utrecht im Jahre 1713 das Königreich Sicilien erhielt und
damit in die Reihe der Könige eintrat. Allein diese vortheilhafte Acquisition
war nicht von langer Dauer; schon im Jahre 1720 ward der neue König
durch die Quadrupel-Allianz und den Vertrag von London gezwungen, Sicilien
herauszugeben und als Entschädigung die Insel Sardinien anzunehmen. In sei¬
nem 64. Jahre abdicirte dieser erste König von Sardinien am 3. Sept. 1730 zu
Gunsten seines Sohnes Karl Emmanuel des Dritten und zog sich nach Se. Alban
zurück, mit seiner Freundin, der Herzogin von Spiro; diese ehrgeizige Frau mochte
sich jedoch mit einem Leben ohne äußern Glanz und Einfluß nicht begnügen
und wußte den alten Herrn zu überreden, daß derselbe plötzlich wieder in Turin
erschien, seine Thronentsagung widerrief und von Neuem die Regierung über¬
nehmen zu wollen erklärte. Kräftige Minister jedoch bestimmten den jungen
König, diesem unerwarteten Schritte mit Festigkeit zu begegnen; der alte König
ward arretirt und nach Montcarlier gebracht, wo er zwei Jahre später starb.
— Unter Karl Emmanuel dem Dritten der von 1730 vis 1773 regierte, er¬
freute sich Savoyen einer fast ununterbrochenen Ruhe. Die Wogen des öst¬
reichischen Erbfolgekriegs, an dem sich als Frankreichs und Spaniens Bundes¬
genosse auch der König von Sardinien betheiligte, berührten das Land nur
vorübergehend, und der Congreß von Aachen, 1743, brachte eine Vergrößerung
des Königreichs, da Maria Theresia einen Theil des Herzogthums Mailand
an dasselbe abtreten mußte. — Unter dem folgenden König, Victor Amadeus
dem Dritten, von 1773—1796, brachen die Folgen der französischen Revolu¬
tion auch über Savoyen und sein Regentenhaus herein. Die Provinz selbst
ward schon 1792 von den französischen Machthabern occupirt, und im Frieden
von Paris 1796 definitiv an Frankreich abgetreten. Als 66rM'loin<zue> ein
montdlime ward Savoyen dem Kaiserreiche einverleibt, und kam erst durch den
zweiten Pariser Frieden 1815 wieder ganz an den König von Sardinien. Die
wechselvolle Geschichte der Könige Karl Emmanuel des Vierten, Victor Emma¬
nuel des Ersten, Karl Felix und Karl Albert kann hier übergangen werden, da
die innern Verhältnisse Savoyens dadurch nicht wesentlich verändert wurden.
Die sogenannte piemvntcsische Revolution vom Jahre 1821 fand in diesem
Lande weniger Anklang als in der Lombardei; der vielbesprochene sogenannte
Savoyerzug im Jahre 1834 war ebenfalls ohne irgend eine Betheiligung der
Landesvcwohner ausschließlich durch Fremde unternommen worden. Seit Ein¬
führung der constitutionellen Regierungsform saßen Savoyische Deputirte aus
den Bänken der Abgeordneten-Kammer in Turin, wo sie selbstverständlich
numerisch immer in der Minorität waren. Die wesentlichen Verbesserungen
in der Verwaltung und Gesetzgebung fanden in Savoyen großentheils warme
Anerkennung; die als Grundzug im Charakter des Volks erkennbare Anhäng¬
lichkeit an das Fürstenhaus bethätigte sich bei allen Gelegenheiten, die seit
1843 eintraten, — und die Savoyischen Regimenter haben auf allen Schlacht¬
feldern diese Treue mit Blut besiegelt. Diese Anhänglichkeit überwand auch
stets die theilweis rührige Opposition, welche sich gegen die liberale und sehr
kostspielige Turiner Negierung kundgab. Die große Masse des gut katholischen
Landvolks, zum Theil in den Gebirgen tief versteckt, sah mit Erstaunen, daß
im Namen des Königs die Klöster aufgehoben, Kirchengüter sequeflrirt und
beharrliche Kämpfe gegen das Priesterthum und gegen Rom geführt wurden.
Ihre Treue aber für den angestammten Herzog und Landesherrn konnte da¬
durch nicht wankend gemacht werden, und an ihr scheiterten die Aufhetzereien
der Priesterpartei.
Als nun das moderne Frankreich, dessen Kaiserthum der Frieden ist, und
das seinen Ruhm lediglich darin findet für Ideen in den Kampf zu ziehen,
durch den Schmerzensschrei Italiens zum aggressiven Bündniß mit Piemont ge¬
zwungen und im weitern Verlaufe der Ereignisse genöthigt ward, mit antiker Selbst-
verläugnung die Abtretung von Savoyen und Nizza anzunehmen, — da ent¬
stand eine Aufregung der Gemüther, welche weit hinaus über die Grenzen
der betreffenden Ländergebiete sich erstreckte. Das radicale Beschönigungs¬
mittel der freien Selbstbestimmung des Volks ward auch hier wieder mit ge¬
schickter Hand in Scene gesetzt; bei der Wahl zwischen Annexion an Frankreich
oder einer dunkeln Zukunft konnte der Sieg einer rührigen Agentenschaar und
der gegen Piemont principiell feindseligen Priesterkaste nicht zweifelhaft sein.
Heute ist die Annexion Savoyens seit Jahr und Tag eine vollendete
Thatsache, und der dadurch hervorgerufene Unwille macht sich abgesehen von
den Klagen des schwer getäuschten Volkes, nur noch mittelst einzelner perio¬
discher Ausbrüche im schweizerischen Bundesrathe und im Englischen Parla¬
mente bemerkbar. Aber im Gegensatz zu dem factischen Zustande bleibt die
theoretische Seite dieser Verhältnisse immer eine offene Frag/.
Das Interesse Frankreichs und Piemonts kann man dabei unerörtert las¬
sen; bei einem Handel auf Kosten eines Dritten konnten natürlich beide Pa-
ciscenten nur gewinnen. Ob es politisch war, die angestrebte Herrschaft über
eine innerlich zerrissene Nation mit der Aufopferung des angebornen Stamm¬
landes, mit der Preisgebung der Grabmäler seiner Vorfahren zu erkaufen, —
ob es ein Fehler war, eine'von der Natur mit den mannigfaltigsten Vcr-
therdigungsmitteln ausgerüstete Grenzfeste dem mächtigeren Nachbarn abzu¬
treten, — darüber werden die Consequenzen dieses Verfahrens dereinst klare
Aufschlüsse geben. — Auch das Interesse der übrigen Großmächte mit dem so oft-
hervorgehobenen Princip des europäischen Gleichgewichts kann hier übergangen
werden; daß sie die absichtliche Nichtachtung der Verträge von 1815 nicht zu
hindern vermochten, bleibt immerhin das beachtenswerthe Bekenntniß einer Ohn¬
macht, die weniger in der überwiegenden Machtstellung Frankreichs, als in der
fatalistischen Eifersucht und dem verblendeten Mißtrauen der Uebrigen ihren
Grund hat.
Hier wollen wir nur die Interessen derjenigen Betheiligten ins Auge fas¬
sen, welche durch die Annexion unmittelbar und in umfassender Weise berührt
wurden, ohne eine andere Rolle als die des Leidenden dabei zugetheilt zu er¬
halten. Es ist dies Savoyen selbst, Land und Leute, welche das Object des
Handels bildeten, — und die Schweiz, der Nachbarstaat, dessen Existenz aufs
Innigste mit dem früheren Bestände Savoyens verknüpft war.
Abstrahire man bei diesen Betrachtungen von den gewissermaßen ideellen
Gesichtspunkten und hält sich lediglich an die materiellen Seiten, — übergeht
man daher eine Prüfung und Vergleichung der Verfassungen und Verwal¬
tungen Frankreichs und der Schweiz, und kümmert sich nicht darum, ob ganz
Savoyen oder ein Theil desselben im Anschluß an die republikanische Schweiz
freier und glücklicher sich würde entwickeln können, als in der Eigenschaft eines
Departements des imperialistischen Frankreich, — dann theilt sich die Unter¬
suchung in zwei hauptsächliche Erwägungen: eine staatsrechtliche und eine der
materiellen Interessen.
Zur genauen Würdigung der ersteren müssen wir einen Blick auf die
Karte werfen.
Die ganze westliche Grenze Savoyens wird durch die französischen Depar.
leinenes Ain und Jsore gebildet, von denen es durch die Rhone, außerdem
durch Gebirgszüge geschieden ist. Nördlich grenzt der Eanton Genf und der
Genfer See; im Osten und Süden zieht sich die Grenze auf dem Rücken der
hohen Alpenkette hin, die nach Osten zu einem Drittel in den Eanton Wallis,
zu zwei Drittel nach Piemont sich abdacht. Nach Wallis führen durch das Eha-
mounylhal die beiden Straßen über den Col de Balme und über die Töte noire,
und an der östlichen Spitze des Genfer See's die bequeme Einmündung in das
Rhonethal, mit den beiden Eisenbahnen und mit der directen Verbindung der
Simplonstraße. Nach Piemont führt wesentlich nur die Straße über den Mont
Cenis, daneben der Eommunalweg über den Mont Genövre und der Fußsteig
über den Col de Seigne in die Alloe blanche und das Avstathal. — Der erste
Blick zeigt demnach, daß der nördliche Theil Savoyens. oder die beiden Pro¬
vinzen Chablais und Faucigny von der größten militärischen Wichtigkeit sind,
da ihr Besitz die freie Disposition über den Genfer See und über das Nhonc-
thal gewährt und somit die Schweiz von allen Seiten dem Angriffe des Fein¬
des offen legt.
In Anerkennung dieser localen Verhältnisse bestimmt,die Wiener Schlußakte
vom 9. Juni 1815 in ihrem Art. 92 Folgendes: I^Sö., xroviuess Ap VKadKüs
et ein l^uoig'no, vt Wut 1o torritoiro alm 5mvoio im mora et'vgino, ÄvMr-
toimvt 5, 8. N. Jo I!ol cis LaröaiMe, Krone partis no l-r, nvntruUt6 av 1s.
Luisso, tollo ein'vllo ost roeonnuo et g^i-nulle ptrr los nuisstrneos. —
oonsocinoneo, tonlos los lois, <imo los puisss.roof voisiuos alö ig. Luisso so
trouvoront on ot^t ä'lrostilito ouverte; on innninonto, los trounos alö 3. N.
I<z Koi as Saräaißne ^ni pourraient so trnuvor 6ans eos nrovinoos. so re-
tiroront, ot pourront g. vol ollot vassor Mr 1o Valiris, si eola cloviont no-
eessairv; »neunos mrtros trouvos armoos et'g.ueuno autrs vuiLsavoo no
pourront, traverssr in stationnsr ä-ins Iss xrovinoss se territoires susäits,
faul colles Mo 1a emMllöration 8ni8hö ^u^eran a pi-oxos et'z^ placer, die»
entenäu <z>u6 est 6we göire riön 1'g.animi8tot>.ti0ii ac ess xaz^s, on 168
aZsirs civilvs as 8. N. 1e Koi as 8g.räaiguö ponriont. aussi emplo^er 1a
garni« muiiieipg.to pour 1« nuttirtisn an bon c>rcki'6.°°
Diese Bestimmungen sind für Jeden, der nicht absichtlich mißverstehen will,
so klar, daß selbst die französische Regierung in dem ersten Stadium der Ver¬
handlungen über die 'Annexion Savoyens die Absicht aussprach, die neutrali-
sirten Distrikte an die Schweiz abzutreten. Dies findet sich in einer Note des
Ministers der auswärtigen Angelegenheiten vom 4. Februar 1860; dies wurde
am 5. Februar von demselben Minister Thvuvenel mündlich gegen den eng¬
lischen Gesandten Lord Cooley geäußert, und zwar mit folgenden in einem
englischen Biauvuchc über Savoyen enthaltenen Worten: .
„Indem jedoch die französische Regierung eine Bürgschaft für die Sicher¬
heit Frankreichs verlangt, hat sie nicht die Absicht, jene zu verletzen, die Eu¬
ropa als nothwendig für seine eigene Sicherheit erachtet hat. Durch die Ein¬
verleibung Savoyens in Frankreich würden daher die betreffs der Neutralität
von Chablais und Faucigny bestehenden Verpflichtungen nicht gebrochen wer¬
den; ja, soweit Frankreich hierin eine Ansicht aussprechen kann, wäre es besser,
wenn diese Distrikte dauernd mit der Schweiz verbunden würden."
Diese Anschauung drängt sich von selbst auf, so lange man kein Interesse
hat, dieselbe künstlich umzugestalten. Mit ihr stimmen auch die Motive der
Neutralisation der Schweiz und Nvrdsavoyens zusammen. Die Eroberungs¬
politik des ersten französischen Kaiserreichs, welche Europa in unaufhörliche
Kriege verwickelte, mußte die endlich zum gemeinsamen Handeln erwachten
Mächte, nachdem sie den gefährlichen Feind in seine früheren Grenzen zurückge¬
worfen hatten, zu dem Gedanken drängen, Mittel zu erfinden, wie den sich
allenfalls wiederholenden Invasionen, wenn auch nicht vorgebeugt, doch wenig¬
stens der Vortheil der überall offenen Angriffsrichtung genommen werden könnte.
Zu dem Ende mußte man suchen, den feindlichen Angriff längs der französischen
Grenze auf gewisse Strecken zu beschränken und diese vor Flankenmanövern
zu sichern. Daher mußte man die Schweiz, das Verbindungsglied zwischen dem
deutschen und dem italienischen Kriegsschauplatz, zu einem neutralen Boden
machen; aus demselben Grunde, mußten Chablais und Faucigny ebenfalls in
den Bereich der Neutralität gezogen werden, etnestheils, um für Oberitalien die
Gefahr möglichst abzuwenden, anderntheils, um die Schweiz in den Stand zu
setzen, die ihr auferlegte Neutralität zü wahren und sie vor einer Umgehung
ihrer wichtigsten Landestheile auf jenem Wege zu decken.
Es charakterisirt daher den traurigen Zustand des dermaligen sogenannten
Staatsrechts, wie es von Frankreich gehandhabt wird, wenn schon am 17. März
als» sechs Wochen nach der oben angeführten Erklärung, derselbe Minister
The-uvenel in einer Antwort auf einen Protest der Schweiz gegen die Annexion
der neulralisirten Distrikte mit folgenden Behauptungen hervorzutreten wagt:
„Die Anordnung in den Vertragen von hatte zum Zweck einen Theil
von Savoyen zu decken, und durch ihre Aunahme hat die Schweiz sich ver¬
pflichtet die Vollziehung derselben zu sichern, indem sie sich einerseits verbind¬
lich machte den sardinischen Truppen den Nückzug zu gestatten, um nach P>e-
mont zurückzukehren, und andrerseits im Nothfall Bundestruppe» in das neu-
tralisirte Land zu werfen. Die durch die Konföderation übernommene Verpflich¬
tung ist der Preis einer dem Canto» Genf gemachten Gebietsabtretung, so wie
die eventuelle Neutralisirung von Chablais und Faucigny eine zu Gunsten Sar¬
diniens stipulirte Bürgschaft und die Compensation für ein Opfer ist. Diese
Neutralisirung ist somit ursprünglich nicht in der Absicht erdacht worden, um
die schweizerische Grenze zu beschützen, — diese ist durch eine unübersteigliche
Schranke d. h. durch die nnttelst Uebereinstimmung der Mächte proclamirte Neu¬
tralität hinreichend gedeckt; sie ist der Schweiz im Gegentheil als eine Last
auferlegt und von der Schweiz unter vnerosem Titel angenommen."
Eine weitere Note vom 7. April 18t>0 geht von denselben Grundsätzen
aus, indem sie sagt: „Frankreich, welches in die territorialen Rechte Savoyens
tritt, kraft einer regelmäßige» Übertragung, hat sich nach dem Geiste der Ver¬
träge gerichtet, indem es sich erbot, mit den beim Congreß von 1815 vertrete¬
nen Mächten über die auf die Neutralisirung bezüglichen Clauseln sich zu ver¬
ständigen; und die Bereitwilligkeit, womit es, trotz dem daß die Principien ihm
kein Gesetz vorschreiben, erklärte, es werde sich auch mit dem Sehweizerbundc
verständigen, beweist in der klarsten Weise, daß es für sich die volle Ausführung
des Art. 92 der Wiener Schlußakte annimmt."
Betrachten wir diese Behauptungen etwas näher. Frankreich sagt: „die
Neutralität von Chablais und Faucigny ist eine zu Gunsten Sardiniens stipu¬
lirte Bürgschaft, eine Servitut, welche Frankreich mit zu übernehmen sich bereit
erklärt." — Ist sie wirklich nur zu Gunsten Sardiniens stipulirt, so kann dies
nur gegen einen Angriff von Seiten Frankreichs sein; denn ein anderer Nach¬
bar existirt nicht. Wäre also ein Krieg zwischen Sardinien und Frankreich aus-
gebrochen, so hätte die Schweiz jene Provinzen militärisch besetzt. Das ganze
übrige Savoyen hätte erobert werden können; jene neutralen Provinzen nicht
anders als mittelst eines directen Angriffs Frankreichs gegen die Schweiz. Für
die Schweiz ist nun aber die Art und Weise der Eroberung ganz gleichgiltig.
Ob die Schlacht, in Folge deren Savoyen an Frankreich fiel, diesseits oder jen¬
seits der Alpen geschlagen worden, ob Savoyen mittelst Gewalt der Waffen
oder Macht der Ueberredung gewonnen wurde, ob Kanonenkugeln ober diplo¬
matische Noten gewechselt wurden, die Schweiz ist in dem einen wie
in dem andern Falle in ihrem Rechte gekränkt und in ihrer Existenz ge¬
fährdet.
Und behauptet man, jene Servitut könne eben so gut von Frankreich wie von
Sardinien getragen werden, so ergibt sich darauf die Antwort: daß es sich
schwer begreifen läßt, wie der Zweck jener Servitut, Frankreich von dem Norden
Savoyens abzuhalten, von Frankreich selbst getragen werden könne, und daß
eine Neutralität, welche gegen Frankreich gerichtet und durch Frankreich beobach¬
tet werden soll, einfach eine Absurdität genannt werden muß; daß die Interessen
Sardiniens und der Schweiz in Bezug auf jene Neutralität Hand in Hand
gingen, während die Interessen Frankreichs und der Schweiz einander gerade
entgegenlaufen, und daß es unmöglich ist von einem großen Staate zu verlangen,
daß er in einem gebotenen Augenblicke, vielleicht in dem Moment einer Krise,
nicht von allen Vortheilen Gebrauch machen solle, die ihm seine Verhältnisse
darbieten. (5s ist mit einem Worte lächerlich, zu behaupten, daß die neutrali-
sirten Provinzen diesen ihren Charakter beibehalten werden, obgleich sie franzö¬
sisch geworden. Denn entweder bedeutet die Neutralität gar nichts, oder höle
bedeutet eine Sicherstellung gegen Frankreich. Und diese in Frankreichs Hände
gelegt, ist eine Lächerlichkeit. Eine Staats-Convention der vorliegenden Art kann
nur im Kriege erprobt werden; nur dann läßt sich erkennen, ob sie unpraktisch
ist, oder ob sie wirtlich etwas zu bedeuten hat. Würde nun im Fall eines
Krieges Frankreich an seinen südöstlichen. Grenzen angegriffen, so würde eL von
der Schweiz verlangen, die neutralen Provinzen militärisch zu besetzen und so
zum Schutz des Reichs mit beizutragen. Würde aber im Gegentheile Frankreich
nach jener Seite hin den angreifenden Theil bilden, so würde es natürlich nicht
erlauben, daß auf französischem Grund und Boden die Schweiz sich dem Durch¬
märsche seiner Truppen widersetze. So würde also nicht nur die Neutralität
jener Provinzen, sondern die Neutralität der ganzen Schweiz illusorisch werden
und nur dazu beitragen, dieses Land in die Abhängigkeit Frankreichs zu bringen,
wenn nicht gar dasselbe zu zerstückeln.
Es ist im weiter» Verlaufe der diplomatischen Verhandlungen denn auch
die Rede gewesen von den Garantien, welche Frankreich für die. Beobachtung
der Neutralität darbieten würde, — als da sind: auf dem neutralen Gebiete
keine Festungen zu bauen, keine Garnisonen hinzulegen und auf dem Genfer
See keine Kriegsschiffe zu halten. Ob Garnisonen in den Provinzen Chablais
und Faucigny liegen oder nicht, ist vollkommen gleichgiltig; in demselben
Augenblicke, wo es der französischen Regierung von Interesse scheint 50,000
Mann dort aufzustellen, werden diese sich auch schon dort befinden, Wenn es
auf dem Genfer See keine französischen Kriegsschiffe gibt, werden Truppen und
Kriegsmaterial aller Art auf Dampfschiffe gepackt, welche unter französischer
Flagge fahren, und mit diesen an jedem beliebigen Punkte der Schweizer Küste
gelandet; — denn da es überhaupt keine Kriegsschiffe auf jenem Wasser gibt,
hat es für Frankreich keine wesentliche Bedeutung deren auszurüsten. Und
Festungen erscheinen daneben gänzlich zwecklos in einem Lande, welches von der
Natur eine viel umfassendere Fortisication erhalten bat als das sorgfältigste künst¬
liche System leisten könnte. —Diese sogenannten Garantien sind demnach.illu¬
sorisch, wie alle übrigen beruhigenden Redensarten. Der Unterschied, der für
die Schweiz aus der Französirung des ganzen südlichen Ufers des Genfer See's
sich ergibt, und die Gefahr, die daraus für die Sicherheit der Schweiz entspringt,
beruht eben auf der thatsächlichen Verschiedenheit der Machtverhältnisse. Sar¬
dinien oder Piemont war und ist mit allen seinen Interessen auf Italien an¬
gewiesen. Savoyen, als sardinische Provinz, convergirte daher selbstverständlich
in derselben Richtung, und es ergab sich daraus ein freundliches Grenzverhält¬
niß mit der Schweiz, welches nie gestört ward, und welches bei den Nachbarn
das Gefühl gemeinschaftlichen Interesses und gegenseitiger Hilfsleistung rege
erhielt, während ihre wechselseitige» Beziehungen nicht einmal den Schatten
des Verdachts aufkommen ließen, als könne Einer auf den Andern irgend einen
Druck ausüben. An die Stelle dieses friedlichen Nachbarn ist ein übermäch¬
tiger eingetreten, dessen staatliches Leben vorzugsweise divergirender Natur ist,
und der daher überall, wo er in der Richtung dieser, durch seine ausgebildete
Centralisation unterstützten Lebens-Aeußerungen auf den ihm im Wege liegen¬
den Schweizer-Boden stößt, immer in Versuchung sich befinden muß, dieses
unbequeme Hinderniß zu beseitigen oder zu unterdrücken. Die Erfahrungen der
ersten anderthalb Jahre nach vollzogener Annexion geben einen überreichen Evm-
mentar zu dieser, aus der Natur der Verhältnisse fließenden Befürchtung.
Die erwähnten Anerbietungen Frankreichs, zu denen noch einige unwesent¬
liche Erleichterungen für den Handelsverkehr hinzutreten, haben nun freilich
keinen praktischen Werth, beweisen aber dem aufmerksamen Beobachter, daß
Frankreich selbst, ohne es gestehen zu wollen, die Gerechtigkeit der schweizerischen
Ansprüche anerkennt. Denn wozu sonst den Schein der Neutralität aufrecht
erhalten, wenn es nicht die Sache selbst ist, die sich geltend macht und sich nicht
wegdeduciren läßt?
Um daher der einmal beschlossenen Aneignung Savoyens den Anschein
politischer Nothwendigkeit zu verleihen, und um die unbequemen staatsrecht¬
lichen Mängel zu verdecken und sie als untergeordnet erscheinen zu lassen,
mußte zu andern Hilfsmitteln gegriffen werden, was um so leichter erschien,
als von Seiten der großen Mächte mit fatalistischer Gleichgültigkeit die fran¬
zösischen Uebergriffe geduldet wurden. Es ward der Grundsatz aufgestellt, daß
das eigne Interesse Savoyens nothwendig die Annexion an Frankreich verlange.
— und in zahllosen Brochüren und Zeitungs-Artikeln ward diese Entdeckung
proclamirt und den Einwohnern mundgerecht gemacht. Und es ist nicht zu
leugnen, daß die rein materiellen Interessen Savoyens durch seine Verbindung
mit dem Königreich Italien weit weniger begünstigt sind, als durch die Hin¬
neigung zu dem westlichen und nördlichen Nachbarn; es ist aber Alles, was sich
in dieser Beziehung von dem südlichen Savoyen im Hinblick auf Frankreich
hervorheben läßt, ganz in demselben und vielleicht noch in verstärktem Maaße
Wichtig im Verhältniß des nördlichen Savoyens zu der ihm benachbarten
Schweiz.
Wir sind demnach jetzt bei der zweiten hauptsächlichen Erwägung angelangt,
die wir in Aussicht genommen hatten, bei den materiellen Interessen. Auch
hier wenden wir den Blick zuerst auf die geographischen und ethnographischen
Verhältnisse des Landes und finden vor uns das höchste Gebirgsland Europa's
durchschnitten und begrenzt von den Alpen in ihren höchsten Zügen. Der
Montblanc, der Eol du Bvnhomme, der Mont Cenis, der kleine Se. Bernard
bezeichnen die Spitzen der cottischen, penninischen und grajischen Alpen, die in
den mannigfaltigsten Ausläufer und Abdachungen das Land durchziehen. Die
höchsten Gebirgsketten sind mit ewigem Schnee und Eis bedeckt; in den niedrigen
Regionen derselben wechselt ^er kahle Felsen mit ansehnlichen Waldungen. Aber
auch an fruchtbaren und lieblichen Thalern mangelt es nicht, besonders in den
westlichen Theilen des Landes; so namentlich in der Provinz Genevois
mit der betriebsamen Stadt Annecy, und in der Provinz Savoie propre
mit den reizend gelegenen Chambvry und Aix-leo-bains. Hier wachsen
Getreide, Wein Flachs, Kartoffeln, Obst und Kastanien, und reichlich
vorhandene Wiesen veranlassen eine starke Viehzucht. Die Gebirge lie¬
fern Silber, Kupfer. Blei, Eisen, Steinkohlen, Mühlsteine, Marmor, Serpen¬
tinstein und Salz. In einzelnen Fabriken wird Seidenzeug, Glas, Vitriol¬
säure producirt, Eisen und Marmor bearbeitet. Mangel an genügendem Be¬
triebscapital und an ergiebigem Absatz bat aber hier stets hindernd im Wege
gestanden. So sehen sich denn die Einwohner der gebirgigen Provinzen trotz
ihres Fleißes und ihrer Genügsamkeit gezwungen, ihren Erwerb außerhalb Lan¬
des zu suchen. — und da die französische Sprache auch die ihrige ist, so wan¬
dern sie zu Tausenden in Frankreich el», wo sie mit den niedrigsten und mühe¬
vollsten Gewerben ein kleines Vermögen sich zu ersparen trachten, um damit
wieder in die geliebte Heimat!, zurückziehen zu tonnen. Wem sind die Sa-
voyarden unbekannt, die von der frühesten Jugend an in Paris und den andern
großen Städten Frankreichs ihr bescheidenes Dasein fristen, ohne dabei die Ehr¬
lichkeit, Treue und Biederkeit ihres StaMm-Charakters einzubüßen, auf die jedoch
die eigeuen Landsleute mit einer Art Verachtung serai'blicken, so daß sie als
Bewohner Savoyens nicht Savoyards, sondern Savoisiers genannt sein wollen.
Wollte man jedoch aus diesem Allen schließen! Savoyen sei ein armes
Land und eine Last für das sardinische Gouvernement gewesen, — so würde
man sich in einem großen Irrthum befinden. Savoyen hat nicht blos niemals
eine finanzielle Unterstützung »der Beihilfe von Piemont erhalten. — es hat
vielmehr jährlich die verhältnißmäßig ungeheure Summe von 10 Millionen
Francs an die gemeinschaftliche Kasse gezahlt, und aus dieser nie mehr als
etwa 3 Millionen bezogen, — so daß also jährlich 7 Millionen über die Alpen
gingen, um nie wieder zurückzukehren.
Um ein solches System der Aussaugung ertragen zu können, hat Savoyen
neben seinen Producten die außerordentlichen Hilfsquellen, welche aus der Hand
der Reisenden ihm zufließen. Die Naturschönheiten seiner Gebirgsgegenden,
an ihrer Spitze das weltberühmte Chcnnvuny, und die vielen mineralischen
Bäder, die besonders von Frankreich aus sehr stark besucht werden, Air,, Se.
Gervais, Evian, Brides, la Crille, Challes u. s. w. ziehen eine unglaubliche
Menge von Fremden herbei, welche dem Lande in dieser Weise tributär wer¬
den. Als Folge hiervon sah man auch schon früher fast ausschließlich franzö¬
sische Münze in Savoyen circuliren; nicht der zwanzigste Theil derselben war
sardinischen Ursprungs.
Solche Verhältnisse erleichterten der Propaganda für die Annexion an
Frankreich wesentlich ihre Arbeit, und wie sie dieselben ausbeutete, um mit
vollständiger Beseitigung der Schweiz und ihrer langgestreckten Grenzen ganz
ausschließlich das Gewicht für Frankreich in die Wagschale zu legen, ist interes¬
sant zu verfolgen.
Zuvörderst ward das ungünstige Verhältniß des Exports nach Piemont
hervorgehoben. Dorthin bringt Savoyen nur einiges Vieh und eine kleine
Quantität Leder und Käse. An der entgegengesetzten Seite der Alpen findet
man im Uebcrfluh Producte, welche denen Savoyens ähnlich sind, und letzteres
hat überdem noch den ungünstigen Transport über den Mont Cenis zu tragen,
dessen Kosten sich für die Strecke von Se. Jean de Maurienne und Susa, den
beiden Endpunkten der Eisenbahnen, auf 3 Fras. l>0 Ces. für 100 Pfund be¬
laufen. Dem Einwände, daß dieses Hinderniß des freien Verkehrs zwi¬
schen den Provinzen zu beiden Seiten der Alpen verschwinden werde mit
der Vollendung des bereits vor mehreren Jahren begonnenen Tunnels durch
den Mont Cenis, ward die Behauptung entgegengesetzt, das; man längst einge¬
sehen habe, ein so riesiges Werk könne nur durch Frankreich ausgeführt wer¬
den, nicht aber durch einen Staat zweiten Ranges, der überdem noch so belastet
sei wie der sardinische.
Jedes Land aber, wenn es nicht blos von Wilden oder von Hirten be-
wohnt wird, bedarf zu seinem Wohlsein nothwendig mannigfacher Mittel und
Wege, um seine natürlichen und industriellen Producte durch Verkauf oder
Tausch verwerthen zu können. Diese Abzugskanäle sind für Savoyen nach
der italienischen Seite hin durch die Natur versperrt; — es bleibt also nur
Frankreich — «wo bleibt aber die Schweiz?) — und hier stößt man auf die
Douane, welche nicht geringere Hindernisse in den Weg legt. Mit der Ent¬
fernung dieser Douane beginnt erst die freie Entwicklung aller innern Kräfte,
die naturgemäße Eirculation des lebenswarmen Blutes durch alle Adern des
Staatskörpers. Mit der Aushebung der französischen Zollgrenze beginnt für Sa¬
lz open der Zeitpunkt eines unberechenbaren Wohlstandes; denn es enthält alle
Elemente, um daraus ein industrielles, ein Fabrikland zu machen. Einmal ist
der Arbeitslohn daselbst sehr billig, — und zum Andern findet man dort eine
bewegende Kraft, die nichts kostet, und die in unzähligen Wasserströmen und
Bächen mit starkem Fall über das ganze Land verbreitet ist. Das sind rosl-
bare Borzüge, welche sehr bald von französischem Geld und Unternehmungs¬
geist benutzt sein werden. Bisher konnten sie nicht ausgebeutet werben,
weil der Absatz tus Ausland mangelte, und man daher nur für den ge¬
ringen inländischen Gebrauch prodrmren konnte. — Die Mineralien u. s. w.,
welche Savoyen im Schooße seiner Berge besitzt, konnten nur zu einem
sehr kleinen Theile zu Tage gefordert werden; alles Uebrige liegt brach,
aus Mangel an Absatz, an Industrie, an Capital. Das Eisen z. B. ist
von bester Qualität und sehr ge,naht; die innere Fabrikation von Gußwaaren
ist jedoch aus das Maaß von 120V Tonnen jährlich beschränkt, denn nur so
viel wird davon über die französische Grenze gelassen; sür die Überschreitung
dieses Maaßes ist Frankreich durch Einfuhrzölle verschlossen, welche dem Verbote
gleichkommen. Das rohe Material zahlt dagegen leinen Zoll, — und so fin¬
det man denn in den benachbarten Departements eine große Anzahl Hohofen,
welche nur favoyisches Eisen verarbeiten, und das Land selbst verliert den gan¬
zen Gewinn dieser Fabrikation. Es verliert dadurch zugleich die Möglichkeit,
den in Ueberfluß vorkommenden Anthracit, Kohlenblende, zu verwerthen, da
aus diesem ein namentlich sür Hohöfen sehr nutzbarer Brennstoff sich gewinnen
läßt. Ebenso steht es mit dem Gyps, der in ausgezeichneter Güte gebrochen
wirb, aber Dreiviettet seines ersten Einkaufspreises als Eingangszoll in Frank¬
reich bezahlen muß. Ganz gleiche Hindernisse ergeben sich für die Schiefer-,
Kalt- und Marmvrbrüche, so wie für die Ausbeutung der Blei-, Zinn- und
ilupfcrgruben. Es sind demnach unberechenbare Elemente des Nctchthums zur
Unfruchtbarkeit verdammt; sie werden überraschende llicsultate liefern, wenn Sa-
voyen mit Frankreich vereinigt wird. Die französische Industrie wird mit ih¬
ren Capitälen Alles in den Bereich ihrer Nutzung ziehen, was deren irgend fä¬
hig ist, und aus diese Weise so viel Arbeit schassen, daß die Auswanderung der
Savoyarden sich bcbeuicnd vermindern wird, da diese letztere ausschließlich da¬
her rührt, daß Savvve», eingezwängt und gelähmt wie es ist, seine Bewohner
nicht ernähren kann. — Auch der Ackerbau kann unter solchen Umständen nur
gewinnen, denn er folgt regelmäßig dem Gange der Industrie; diese bringt
Reichthum, Bewegung, Verbrauch. — nothwendig muß der Ackerbau hiervon
einen bedeutenden Vortheil ziehen. Und die Viehzucht würde sich ebenfalls an¬
sehnlich vermehren, wenn die Bewohner der höher gelegenen Landestheile dar¬
auf verzichteten Korn zu bauen, weil sie dasselbe zollfrei aus Frankreich erhal¬
ten, und dafür die Heerden vergrößerten, denen die französischen Märkte dann
offen stehen. Schon seither ward, trotz der Zollgrenze, mit Vortheil Vieh nach
Frankreich eingeführt; dieser Handel muß außerordentlich sich steigern, sobald
das Hinderniß des Zolls hinwegfällt.
Die vielfach hervortretenden Bedenken, daß die Abgaben in Frankreich
reichlich das Doppelte von den seither in Savoyen bezahlten Abgaben betrügen,
wurden mit der Behauptung beseitigt, daß diese Berechnung auf einem Irr¬
thum beruhe. Es ward vielmehr als nachweisbar ausgeführt, daß die directen
Abgaben in Savoyen höher seien als in Frankreich, und wenn die Vertheilung
der Steuern auf den einzelnen Kopf der Bevölkerung dennoch in Frankreich sich
bedeutend höher stelle, so falle diese Vermehrung ausschließlich aus dle indirec-
ten Abgaben. Diese Vermehrung beweise aber grade den Reichthum des Lan¬
des, denn die indirecten Abgaben ruhen auf dem öffentlichen Reichthum, auf
dem regen Verkehr, auf dem starken Verbrauch. In einem armen Lande tra¬
gen die indirecten Steuern gar Nichts em, wett dort kein Geschäftsverkehr statt¬
finde. Ueberdem set ja die Steuer nur eine relative Last, und nur dann drü¬
ckend, wenn sie acht durch öffentliche Ausgaben wieder dahin zurückkehrt, von
woher sie gekommen; daß aver u» entgegengesetzten Falle sie eine Umlaufsbe¬
wegung erzeuge, welche der Kraftentwicklung der Steuerpflichtigen und folge¬
richtig ihrer Vermögenszunahme nur günstig sei. Was die öffentlichen Lasten
in Savoyen seither so drückend gemacht habe, sei nicht die Ziffer von 10 Mil¬
lionen, welche jährlich an die Staatskasse gezahlt werden,, sondern die enorme
Summe von 7 Millionen, die nicht wieder in das Land zurückgeflossen sei. In
Frankreich finde eine ganz andere, ungleich billigere Ausgleichung statt; dort
gelte das verständige und gerechte Princip, daß die ärmeren Landstriche von den
begünstigtercn unterstützt würden; es gebe Departements, welche jährlich vorn
Staate größere Summen erhielten, als sie in die Staatskasse zahlten. — Ueber¬
dem falle in Zukunft die für Savoyen sehr drückende Zollstcuer hinweg, welche
für die aus Frankreich bezogenen Artikel gezahlt werden müsse, und die sich
auf eine ungeheure Summe belaufe, da eine ansehnliche Anzahl Waaren aller
Art, namentlich von Manufaclurenarbeiten, von dorther bezogen werde. (Wie dieser
Vortheil mit der früher hervorgehobenen Aussicht auf unberechenbare Vermeh¬
rung der Fabriken u. f. w. in Einklang zu setzen, ist freilich nicht zur Sprache
gebracht.) — ,
Bei der Darstellung und Anpreisung aller dieser Vortheile, welche die An¬
nexion mit Frankreich in Gefolge haben soll, und von denen ein Theil wohl
im Verlaufe der Zeit für das südliche Savoyen sich realisiren mag, — ist ge-
flissentlich ganz außer Acht gelassen, wie sich denn die Verhältnisse gestalten
möchten, falls die beiden nördlichen Provinzen Chablais und Faucigny zur
Schweiz geschlagen würden. Und zwar aus größter Fürsorge für die Absichten
des französischen Gouvernements — denn die wahre Erkenntniß der materiellen
Interessen jener beiden Provinzen würde unbedingt zu Gunsten ihrer Verbin¬
dung mit der Schweiz gesprochen haben, wie es denn auch längst kein Geheim¬
niß mehr ist, daß trotz der angestrengtesten Bemühungen zahlloser französischer
Agenten die öffentliche Meinung in jenen Landestheilen für die Annexion an
die Schweiz sich aussprach, so lange man noch von Paris aus die Hoffnung
aus eine abgesonderte Abstimmung der neutralen Provinzen in ofsiciöser Weise
ermuthigte. Dies hörte aber auf, sobald man dort sich den Erfolg dieser Ab¬
sonderung nicht mehr verhehlen sonnte, und nun erklärte man von Oben her:
die Jnbetrachtnahme der Schweiz falle fort, und es handle sich blos um eine
Frage zwischen dem Sardenreickc und Frankreich. Nein bedeute Verbleiben
bei ersterem, — Ja bedeute Anschluß an das letztere. Wie nun die bedeutend
große Majorität der schweizerisch gesinnten Nordsavoyer sich anschickt Nein zu
sagen, damit sie wenigstens bei ihrem angestammten Fürsten bleiben kann, —
da erklärt man von Paris und Turin aus -. das Nein bezeichne keineswegs Ver-
bleiben bei der alten Herrschaft, weil das neue Königreich Italien Savoyen
für ewig abgetreten habe, und sich durchaus nicht um dasselbe kümmere; das
Nein bezeichne somit die Ungewißheit, Regierungslosigkeit, Anarchie! Und um
dem beschränkten Unterthanenverstandc klar zu machen, wie das unbeschränkte,
freie Votum zu benutzen sei, wird in beredten Brochüren abermals der richtige
Standpunkt gepredigt und bewiesen, Savoyen könne sich nicht mit der Schweiz
verbinden (indem wieder die Möglichkeit der Abtrennung der neutralen Pro¬
vinzen mit bedeutungsvollen Stillschweigen übergangen wird):
1) weil Savoyen ein ausschließlich katholisches Land, die Schweiz da¬
gegen wesentlich protestantisch sei;
2) weil Savoyen durch Sprache und Sitten wesentlich französisch, dagegen
die Schweiz wesentlich deutsch sei;
3) weil die Geschichte beider Völker durchweg verschieden sei, und beide in
der Regel für entgegengesetzte Interessen gefochten haben;
4) weil die Schweiz keine Capitalien habe, die sie in Savoyen anlegen
omne;
5) weil Savoyen seine Garnison verlieren würde, welche unendlich viel
dazu beitrage, den Detailhandel zu beleben;
. 6) weil alle Beamte der Schweiz schlecht bezahlt seien, und demnach eine
bedeutende Quelle des Geldumlaufs ermangeln werde;
7) weil die Schweiz nichts für die öffentlichen Anstalten thun könne und
auch den Theil der savoyischen Schuld nicht übernehmen werde. Somit müsse
Alles einen kleineren Maaßstab annehmen: Tribunale, Administration, öffent¬
liche Arbeiten ze. Die jungen Leute würden gar keine Carriere vor sich haben.
Und für die Savoyarden, die schon in Frankreich leben, würde sich Alles besser
stellen, wenn sie cito^uti krautziris würden. Und endlich:
8) ein letzter, unwiderleglicher Grund widersetzt sich der Annexion Sa-
voyens an die Schweiz und der Neutralisirung seiner nördlichen Provinzen. —
ein politischer Grund von der höchsten Wichtigkeit, der durch den vereinten
Willen von Frankreich und Italien zur siegreichen Geltung gebracht werden
muß. Wenn nämlich Oberitalien seine Unabhängigkeit herstellen und sie auf
soliden Grundlagen befestigen will, muß es der Verbündete Frankreichs gegen
Oestreich sein. Die Neutralisirung Savoyens, oder seine Constituirung als hel¬
vetischer Canton schaffen ein bedeutendes Hinderniß gegen die Operationen,
welche ein solches Bündniß nothwendig stets im Fall eines Krieges herbeiführt.
Zu einer ewigen Allianz berufen durch die Vereinigung ihrer glorreichen Dyna¬
stien, durch die gegenseitigen Sympathien ihrer Bevölkerung, durch ihre glei¬
chen Interessen, dürfen Frankreich und Italien nicht zugeben, daß sich zwischen
sie ein neutrales Land ausdehnt, um sie zu trennen. Das wäre eine Demü¬
thigung, der sie sich nicht aussetzen dürfen; sie müssen vielmehr einander so
nahe als möglich sein, um sich jeden bewaffneten Beistand leisten zu können.
Binnen Kurzem verbunden durch die Eisenbahn, die den Schooß der Alpen
durchdringt, werden diese beiden Nationen von 60 Millionen Einwohnern un¬
überwindlich sein. Die civilisirenden Principien, welche sie bekennen, unterstützt
von der Einigkeit, welche die Macht ist, werden das Glück Europa's, das Glück
der ganzen Welt begründen!
Gut gebrüllt, Löwe! Gegen solche Gründe müssen freilich die Principien
des Rechts und die Forderungen der wahren Wohlfahrt der einzelnen Landes-
theile in Nichts zerfallen!
Wir aber finden in allem diesem eine Aufforderung uns der Vergangenheit
zu erinnern, weil sie uns aus die Zukunft vorbereitet. Im Jahre 1792 erfolgte
der Anschluß Savoyens an Frankreich; — im Jahre 1798 der Anschluß Genfs;
— im Jahre 1802 der Anschluß des Canton Wallis! — Nach der Einver-
leibung Savoyens ist Genf nichts mehr und nichts weniger als eine Enclave
des übermächtigen Nachbarn, dessen freundnachbarliche Gesinnung und wohlwol¬
lende Rücksichtnahme in den beiden Fragen des Dappenthals und der Affaire
von Ville la Grande schon jetzt charakteristisch genug an den Tag getreten sind.
Die wiederholte Betheuerung, „die Schweiz sei moralisch durch ihre Neutrali¬
tätgeschützt", ist eine hohle Phrase; wenn heute die in Genf lebenden 15,000
Savoyer, die nunmehr Franzosen geworden sind, mit Zuziehung der übrigen
dort domicilirten vier bis fünftausend Franzosen in den Straßen Genfs rufen:
vivs 1^ ?i'g.nee! — so müssen die französischen Truppen, wie 1798, einrücken,
um den „Wunsch der Bevölkerung" zu unterstützen, wie es dann in der officiellen
französischen Sprache lauten würde. Der Eidgenossenschaft aber würde alsdann
auf ihre Protestationen dieselbe Antwort zu Theil werden, welche der deutsche
König Heinrich der Dritte im Jahre 1038 den Abgesandten des Böhmenberzogs
Bracislaw gab- „Wer durch Gesetze regiert, der steht nicht selbst unter dem Ge¬
setze, weil das Gesetz, um mit dem Sprichwort zu reden, eine wächserne Nase
hat, Könige aber lange eiserne Arme besitzen, die sie hinstrecken können, wohin
es ihnen beliebt. Thut ihr nicht, was ich will, so sollt ihr erfahren, wie viel
gemalte Schilder-mir zu Gebote stehen!" —
Die liberalen Parteien Angesichts der Zukunft Preußens.
Berlin, 1862. I. Springer.
Indem Wir die vorstehend genannte Schrift als eine durchweg treffliche
kritische Uebersicht über das Thun der preußischen Regierung sowie der preu¬
ßischen Parteien in den letzten Jahren auf das Wärmste und Angelegentlichste
empfehlen, glauben wir die Absicht des Verfassers nicht besser unterstützen zu
können, als durch einen Auszug aus dem Schlußkapitel, welches aus dem in
den vorhergehenden Abschnitten Gefundenen die Pflichten ableitet, welche die
Parteien in Preußen bei der gegenwärtigen Lage der Dinge haben.
Der Versuch, das Bedürfniß der Staatslage durch eine dem Gebot der
Zeit entgegenkommende Regierung zu befriedigen und so zugleich den Volkswillen
zu klären, ihn mit den Schranken und Pflichten des Staats zu versöhnen, ist durch
die Märztage dieses Jahres unterbrochen. Dadurch sind Preußen und Deutsch¬
land in eine nicht zu verkennende Gefahr gebracht; denn wenn wir auch an
unserm Volk und feiner Zukunft nicht verzweifeln dürfen, so kann doch die Fort¬
dauer der innern Zerrüttung, welche mit der Fortdauer einer ohnmächtigen,
sittlich unproductiven Reaction verbunden ist, eine ganze Generation um die
Früchte einer ernsten Lehrzeit und einer langen treuen Hingebung bringen. Wir
dürfen nichts verschulden, was diesen Zustand verlängern kann. Nur Eines
kann ihn verlängern: die Schwäche unsres Willens; letztrer ist aber schwach,
sobald er in sich uneinig, sobald er in seiner Erkenntniß unreif ist. Daß es
in der großen liberalen Partei Fraktionen gibt, die sich befehden, hängt mit
der Unreife unsrer Erkenntniß zusammen. Es muß jetzt laut und nachdrücklich
gesagt werden, daß keine der beiden liberalen Fractionen, von der andern ver¬
lassen oder gar bekämpft, die Reaction siegreich zu brechen vermag. In den
Perioden ansteigender Bewegung, welche in einer Epoche der fortschreitenden
Volksentwickelung mit denen der Erschlaffung fast wie Ebbe und Fluth wechseln,
wird es dem zuversichtlichsten Theil der Bewegungspartei sehr leicht, den Schein
eines einheitlichen Volkswillens hervorzurufen und auf seine Seite zu bringen.
Man braucht nur das Ziel der Entwickelung, deren Nothwendigkeit und Un¬
aufhaltsamkeit periodisch dem allgemeinen Gefühl lebhaft gegenwärtig sind, diesem
Gefühl mittelst einer der Phantasie verständlichen Allgemeinheit anzupassen und
in wirksam geprägten Stichwörtern hinzustellen. Dieser Volkswille ist aber
keineswegs der wahrhaft einheitliche und unwiderstehliche. Er zerfällt bei der
Unbestimmtheit seines Inhalts jedesmal, sobald die concrete Form, ihn auszu¬
drücken, erkannt und behauptet werden soll, in die Atome, aus denen er sich
zusammensetzt. Nur für Dinge, deren Wahrheit eine bestimmt erlebte oder völ¬
lig klar begriffene ist. kann ein einheitlicher VMswille sich erheben. Einem
künstlich, durch ein geschickt redigirtes Programm hervorgerufenen Volkswillen
würde in ernster Stunde die ruhige, unbestechliche Ueberzeugung hellsehender
Männer fehlen, würde im eigenen Lager die Eintracht verloren gehen, würde
bald die nachhaltige Folgsamkeit der großen Zahl versagen.
Fürs Erste sind die Reformparteien auf Abwehr und Erhaltung beschränkt,
und gegenüber der drängenden Gefahr ist es leicht, die Zwistigkeiten zu ver¬
tagen. Die Gefahr der preußischen und damit der deutschen Reform liegt aber
darin, daß die liberalen Parteien sich noch jedesmal veruneinigt haben, wenn
ihnen Gelegenheit geboten war, das Werk der Reform positiv zu beginnen.
Während, d er V erth eidigungs coalition, welche die liberalen Par¬
teien jetzt nothgedrungen werden schließen müssen, muß der Grund
zu einer positiven Verständigung für die Zukunft gelegt werden.
Dies ist die Pflicht, welche der jetzige Augenblick gereift hat, und von deren
Erfüllung die Zukunft abhängt.
Mag die Fraction Grabow im nächsten Abgeordnetenhause an Zahl groß
oder klein sein, sie wird den andern Liberalen gegenüber in allen formalen
Dingen ein entgegenkommendes Verhalten zu beobachten haben, ohne die Er¬
widerung ängstlich abzumessen und namentlich ohne die Initiative von der
andern Seite zu erwarten. Sollte ihre Zahl eine erheblich geringere sein gegen
frühere Sessionen, so wird dies ihren Einfluß noch durchaus nicht mindern.
Sollte die Fortschrittspartei diesmal die Majorität unter den liberalen Frac-
tionen bilden, so wird dieselbe gar sehr die Verantwortlichkeit dieser Stellung
inne werden und gewiß nicht ohne dringende Gründe die moralische Un¬
terstützung entbehren wollen, wMe die Fraction Grabow, auch als Minorität, dem
Lande und der Regierung gegenüber den liberalen Parteien zuführt. Sollten
dagegen unsre nähern politischen Freunde die Majorität der liberalen Partei
haben (ein Fall, der diesmal nicht eintreten dürfte), so dürfen auch sie nicht
ohne unabweisbare Gründe sich die Unterstützung entgehen lassen, welche ihnen
die Fortschrittspartei im Lande und in der Presse gewährt.
Was trennt uns denn praktisch den muthmaßlichen Aufgaben der nächsten
Session gegenüber? Zunächst der Unterschied in der Auffassung der Militärfrage,
denn die Fortschrittspartei hat sich noch nicht darüber erklärt, ob sie unter allen
Umständen aus dem grundsätzlichen Widerspruch gegen die Heeresreform zu be¬
harren und jede Vermehrung der Linie, jede Ausdehnung der Reservepflicht fort
und fort zu bekämpfen gedenkt. Wir müssen wünschen, daß sie den Standpunkt
der Fraction Grabow einnimmt, die technische Nothwendigkeit der Militärre¬
form anzuerkennen oder wenigstens der Heeresleitung anheimzugeben und sich
darauf zu beschränken, daß übermäßige finanzielle Opfer abgewehrt werden.
Doch ist diese Schwierigkeit einer Verständigung nicht von dauernder Bedeu¬
tung. Wichtiger ist der Gegensatz der beiden liberalen Parteien, der in einem
vorübergehenden Unterschied in der Auffassung des Staates seinen Ursprung
hat. An diesem Gegensatze sind im Lauf der Zeit, zum Theil zufällig, immer
neue Gegensätze angeschossen, und so kann er dauernde Bedeutung gewinnen.
Aber er kann auch überwunden werden, wenn die Ueberwindung Noth thut.
„Die Auffassung des Staats", sagt unsre Schrift, „aus welcher in den
vierziger Jahren der Gegensatz einer demokratischen und liberalen Partei ent¬
sprang, war auf beiden Seiten eine schablonenhafte. Aus der einen Seite ein
Schema von bevorzugten Wählern, durch Census des Besitzes von der Nation
ausgesondert, ein sogenanntes I^al, eine Wahlkammer mit Majoritäts¬
herrschaft über die Verwaltung und mit einer aus allerlei Reliquien zusammen¬
gesetzten Ersten Kammer neben sich, die wesentlich als Rococomöbel bei den
repräsentativen Acten des Parlamentarismus verwendet wird. Dazu ein König,
um die Thronrede zu verlesen. Auf der andern Seite hatte man eine Scha¬
blone, die keine Rococomöbel dulden wollte und den nationalen Willen, d. h.
die active Regierung, anstatt in das pg^s in die Masse der Erwachsenen
verlegte, ohne im Mindesten nach der Beschaffenheit dieser Masse zu fragen."
Mit Recht bezeichnet der Verfasser diese Programme als Erzeugnisse einer
unreifen politischen Studentenzeit. Wir sind in der That aus politischen Stu¬
denten Männer geworden, welche die ehrenvolle Aufgabe haben, aus lebendigen
Elementen einen lebendigen Staat zu bilden, und wenn wir die sittliche und
historische Natur des Staats, der Gesellschaft, der Zeit, an denen und in denen
wir arbeiten, gewissenhaft studiren, so muß es uns gelingen, in der Wahr-
heit uns wechselseitig fördernd, den alten Gegensatz einer unreifen Zeit zu
vergessen. »
Jede der liberalen Parteien bat der gemeinsamen Sache, jede folglich der
andern Dienste geleistet. „Das Postulat für die richtige Constittnrung Deutsche
lands ist von der altern liberalen Partei gefunden worden und jetzt gemein¬
sames Eigenthum der Reformpartei. Ebenso gehört der ältern liberalen Partei
der große Gedanke, daß das Bürgerthum der Träger der deutschen Zukunft ist,
sowie die richtige Bestimmung dieses Begriffs zu einer Zeit, wo die Vorgänger
der Fortschrittspartei die aus einem kranken Gesellschaftsleben entlehnte Kate¬
gorie der Bourgeoisie auf Deutschland zu übertragen versucht waren. Sodann
die Erkenntniß von der fundamentalen Bedeutung parlamentarischer Central-
organe, zu einer Zeit, als der Werth dieser Institutionen durch die mystische
Vorstellung eines unmittelbaren Volkswillens verdunkelt werden sollte. End¬
lich die Vertheidigung der preußischen Verfassung auf parlamentarischem Boden
während der Zeit der Reaction.
Allein die Fortschrittspartei und ihre Vorgänger haben ebenso bedeutende
Verdienste um die Fortbildung der politischen Erkenntniß und des politischen
Lebens aufzuweisen. Der Gedanke einer sittlichen. Beseelung des ganzen Vol¬
kes wenn auch die unterschiedslose Ausstattung mit politischen Rechten nicht
der unfehlbare Weg dazu ist. dieser Gedanke, welcher das unverlierbare Eigen¬
thum der Reformbewegung geworden ist, gehört, dem historischen Ursprung nach,
dem demokratischen Factor dieser Bewegung an. Andrerseits sind aus den
Reihen der Fortschrittspartei die Männer hervorgegangen, welche mit uner¬
müdlicher Aufopferung und siegreichem Talent die Wahrheiten der Volkswirth-
schaftlichen Lehren zur populären Macht und zu einem politischen Factor er¬
hoben haben. Dieses Verdienst ist sehr hoch anzuschlagen; denn ihm verdanken
wir die Möglichkeit, die große Schicht des Volkes, deren Beruf die materielle
Arbeit ist, durch das politische Leben veredeln zu können, ohne Furcht einen
Klassenkampf heraufzubeschwören, dessen Same eine verwirrte Lehre ist. Wäh¬
rend die ältere liberale Partei den parlamentarischen Boden der Verfassung ver¬
theidigte, erwarb sich die Fortschrittspartei das nicht geringere Verdienst, zum
ersten Mal in Deutschland eine angesehene Presse von principiellen Einfluß zu
gründen, welche in den Jahren des Druckes die Mitglieder aller liberalen Par¬
teien gesammelt, ermuthigt und belehrt bat. Von besonderer Bedeutung bei
diesem Werk ist es, daß eine solche Presse auf dem Boden der Hauptstadt hat'
durchgesetzt werden können. Dadurch ist eine geistige Centralisation des po¬
litischen Lebens vorbereitet, welche die Bedingung aller politischen Freiheit ist".
Dieses Bewußtsein, daß beide Fractionen der großen liberalen Partei
einander Dank schuldig find, zu Pflegen und zu siegreichem Durchbruch zu brin¬
gen, zu möglichster Selbstverleugnung nach beiden Seiten zu mahnen und da-
hin zu wirken, daß der rechte und der linke Flügel der Partei nicht blos in der
Opposition zusammenhalte, sondern daß sich allmälig auch eine Verständigung
beider für die Tage vorbereite, wo wieder positiv an die Arbeit der Reform ge¬
schritten werden kann, ist, wie uns scheint, die Hauptaufgabe der Presse beider Partei¬
hälften sowie Aller, die von starkem Einfluß auf ihre Fraction sind. Niemand
aber erschwert den Fortschritt zur Eintracht mehr, als wer bemüht ist, unfertige
Lösungen vorzeitig mit dem Stempel der Partei zu versehen.
„Irgend ein Weiser," so sagt unsre Schrift zum Schluß, „hat bemerkt,
daß aus keiner Ursache so viel Umwege entstehen, als aus dem heftigen Ver¬
langen, immer den kürzesten Weg zu gehen. Möge man auf der einen Seite
die Vorliebe für die kürzesten Wege etwas mäßigen. Man wird der ander»
erleichtern, den Punkt, wo es auf unbedingtes Standhalten ankommt, seltener
zu verfehlen. Möge man diesen Satz vor Allein auch auf die deutsche Frage
anwenden. Diese Frage wird nur gelöst werden, wenn die mäßigsten Forde¬
rungen das ernsteste Mittel unterstützt. Sie wird jedesmal in die Ferne ge¬
rückt, wenn eine weitgehende Forderung durch bloße Appellation an das Ge¬
fühl verwirklicht werden soll. Auch das Gefühl gehorcht nur der That."
Unsre Schrift erschien vor den Urwähler. Dieselben sind nicht gegen die
Erwartung, zum Theil aber gegen den Wunsch des Verfassers ausgefallen.
Auch wir können uns, so innige Freude wir über die lebhafte Betheiligung des
Volks an denselben und an dem Sieg der liberalen Partei als eines Ganzen
empfinden, mancher Bedenken nicht einschlagen. „Man darf," so äußerte sich
die „Berliner Allgemeine Zeitung"über dieselben, „stolz sein auf die
Festigkeit, mit welcher das Land auf die verschobenen Fragestellungen und auf
die Beeinflussungsversuche des gegenwärtigen Ministeriums antwortet. Aber
gerade weil . . . eine überwältigende Majorität der Opposition auf diese Weise
unzweifelhaft ist: ist die vornehmste Pflicht der Wahlmänner, dieser Oppo¬
sition die möglichste Stärke, nicht aber, ihr den schroffsten und
einseitigsten Ausdruck zu geben, Wenn irgendwann ist jetzt ihre Pflicht,
jene die Stimmungen der beweglichen Massen mäßigende Stellung einzuneh¬
men, welche unsre Verfassung von ihnen hofft." — „Wir unterschätzen durch¬
aus nicht die Bedeutung, welche in einem Gcsinnuugsausdruck der gesammten
Preußischen UrWählerschaft von so seltner Einmütigkeit liegt. Aber die Ge«
schichte so vieler Versammlungen zeigt, welche Gefahr in dein sich gegenseitig
Ueberbieten in volkstümlichen und entschiedenen Reden, in dem sich gegenseitig
in leidenschaftlichen Stimmungen Steigern liegt." — „Für diese Gefahr einer
echaufsirten Stimmungspolitik gibt es nur ein Correctiv: jene organischen Ge-
setze, welche dem Politisiren die gesunde Grundlage praktischer Erfahrung, welche
für die Wahlen jene Vertrautheit mit der praktischen Tüchtigkeit der Kreisein-
gessenen geben, die wir noch immer an England bewundern." — „Es kann
den Wahlmännern unmöglich entgehen, daß die Opposition genau in dem Ver¬
hältniß an wahrer Stärke verliert, als sie an einseitiger „Entschiedenheit" zu¬
nimmt." — „Nur in dem Maße wird das Abgeordnetenhaus in seinem berech¬
tigten Willen unüberwindlich sein, in welchem alle liberalen Parteien und alle
politische Erfahrung des Landes in ihm vollen Ausdruck finden. Ueber die
Entschiedenheit des Meinungsausdrucks der preußischen Bevölkerung haben
die preußischen UrWähler entschieden, die Stärke derselben liegt jetzt in der
Hand der Wahlmänner."
Indem wir uns der Mahnung, die hierin liegt, anschließen, kommen wir
damit für die Wahlmänner zu spät. Schon ist ein Theil der Abgeordneten¬
wahlen bekannt, und wir müssen gestehen, daß die Taktik der Fortschrittspartei
im ersten Berliner Wahlbezirk, daß namentlich die Vereitelung der Wieder¬
wahl Kühnes, uns leinen hohen Begriff von der politischen Klugheit der Leiter
dieser Partei gegeben hat. Jene Mahnung gilt aber auch den Abge¬
ordneten. Auch sie haben zu wählen und dabei Selbstverleugnung zu
üben. Auch sie haben die Pflicht, sich mehr an das, was aus Grund von Er¬
fahrungen vorgeschlagen wird, als an das zu halten, was die Hoffnung der Ge-
sühlspolitik als erreichbar hinstellt. Auch an sie ergeht die Forderung, start zu
sein durch Maßhalten in ihren Ansprüchen der andern Fraction der Oppositions¬
partei gegenüber und durch Hinwirken auf Eintracht in allem Wesentlichen den
endlichen Sieg vorzubereiten. Unsere Schrift erinnerte die zum Wahlkampf sich
rüstenden Parteien an das schöne Wort des Dichters-
Freunde! Betreibet nur Alles mit Ernst und Liebe. Die Beiden
Stehen dem Deutschen so schön, den, ach! so Vieles entstellt.
Wir rufen dieselbe Mahnung den Erwählten beider Parteien, unsern Freun¬
den auf der rechten wie auf der linken Seite der Gesammtpartei zu. Nur
wenn mit Ernst und Liebe darnach gestrebt wird, das, was den Deutschen vor
Allem entstellt, den Particulansmus, der sich mit seinem Sonderprogramm vor
der Unterordnung unter höhere allgemeine Gesichtspunkte sträubt, möglichst jm
überwinden oder zu beschränken, ist Hoffnung vorhanden, daß die jetzt vollzogrien
Wahlen das Resultat haben, welches wir außer Preußen von ihnen erwarten.
Der Verfasser will den engeren Bund durch die Reform des Zollvereins
herstellen. Die Organe der Gesetzgebung und der Verwaltung sollen sein: ein
Staatcnhaus und ein Volkshaus als Zollvereinsparlament; ein Directorium,
gebildet aus dem Könige von Preußen, welcher den Vorsitz führt, und dem
Könige von Bayern als ständigen Mitgliedern, sodann abwechselnd aus einem
der Könige von Sachsen. Hannover und Würtemberg. Die Geschäfte führt
ein Ministerium (Verwaltungsrath). Es ist, wie der Verfasser ausdrücklich be¬
merkt, die Trias ohne Oestreich. — Die Zuständigkeit der Regierung und Ver¬
tretung des Zollvereins soll außer der Zollgesetzgebung, den Verträgen und der
Zollverwaltung, die Gesetzgebung und obere Leitung aller anderen Einrich¬
tungen für den Verkehr und die gemeinsamen volkswirthschaftlichen Interessen
umfassen, Post, Telegraphen, Münze, Papiergeld, Banknoten, Flußzölle, Eisen¬
bahnen, Handels- und Wechselrecht, Industrieausstellungen, Statistik. Die Er¬
gänzung des Vereinsgebietcs durch den Beitritt von Mecklenburg, der Hanse¬
städte und Schleswig-Holstein-Lauenburg, die deutsche Flotte, das Consulatwescn
gehören ebenfalls zur Eompetenz des bundesstaatlich organisirten Zollvereins.
Diese Vorschläge bilden den eigentlichen Kern der Schrift, obschon ihre
Begründung räumlich nur den kleineren Theil derselben einnimmt.
Voraus gehen Betrachtungen über die allgemeine deutsche Politik und alle
darauf bezüglichen Fragen; hinten nach folgen Erwägungen über die Aus¬
führbarkeit der Reform des Zollvereins und die Beziehungen desselben nach
außen und zu seinen einzelnen Gliedern. Der Versasser macht kein Hehl da¬
raus, daß er aus der Entwicklung des Zollvereins die Herstellung des engern
Bundesstaats in völkerrechtlicher Verbindung mit Oestreich erwartet. Er er¬
wähnt zwar der Möglichkeit, daß Oestreich in den Zollverband trete, und daß
alsdann die Trias mit Bayern, ohne die übrigen Mittelstaaten, gebildet würde;
aber er glaubt nicht an diese „denkbare" Möglichkeit, und es ist nur eine ir»
Nische Wendung, wenn er voraussetzt, daß die Mittelstaaten in diesem Falle
mit Vergnügen zurücktreten würden, da sie la östreichisch und großdeutsch ge¬
sinnt seien. Dagegen soll der deutsche Bund bestehen bleiben, und der Ver¬
sasser gibt den wohlmeinenden/ aber kurzsichtigen Patrioten, welche die Rechts-
Beständigkeit des Bundes negiren, zu bedenken, „daß auf ihm allein bis jetzt
das Anrecht beruht, welches Deutschland an Holstein und an dessen Verbindung
mit Schleswig hat/' — Die Schrift tritt den ungeeigneten Anforderungen an
Preußen, mit Gewalt die deutsche Einheit herzustellen, entgegen; aber sie siebt
in der Aufstellung eines gemäßigten Einheitsplans (Reform des Zollvereins)
das einzige Mittel, Preußen von der politischen Nullität zu befreien, ihm Kraft
in der innern und äußern Politik zurückzugeben. Neben dem Zollvereinsparla¬
ment könne das Preußische Parlament bestehen; neben einem deutschen Par¬
lamente müßte es sichWi weiterer Entwickelung in Provinzicü-Landtage auf¬
lösen. „Die Geschichte bat den preußischen Staat nicht entstehen lassen, damit
er von dem Radicalismus zertrümmert und aus den Fugen gerissen werde;
aber wohl, wie uns dünkt, dazu, damit er im rechten Zeitpunkt die reale
Grundlage eines deutschen Bundesstaates bilde durch die reichsunmittelbare
Provinz, die er demselben liefert." Nicht oft und eindringlich genug können
solche beherzigenswerte Worte der deutschen Partei in und außer Preußen
vorgehalten werden; aber nicht minder beherzigenswert!) ist die Schilderung der
Nachtheile, welche der Mangel einer eigenen Politik für Preußen hat, und die
leider nur zu ähnliche Skizze von'dem Leben der Preußischen Diplomatie,
welches eben durch jenen Mangel verkümmert wird (S. 1t3). An einer an¬
dern Stelle wird das Unvermögen Preußens, die deutschen Interessen bei Oest¬
reich zur Geltung zu bringen, aus derselben Ursache erklärt. „Ein Staat, der
selbst keine Politik hat, wird allerdings nicht bestimmend auf die Politik seiner
Nachbarn einwirken. Sobald einmal Preußen aus seinem schwankenden Zurück¬
halten heraustritt, seinen Willen klar ausspricht und darin von der öffentlichen
Meinung Deutschlands unterstützt wird; so wird man sich i» Oestreich hüten,
seine Freundschaft von der Hand zu weisen." —
Die Schrift wendet sich dann zu dem Verhältnisse des bundesstaatlich
organisirten Zollvereins zu Bayern, den übrigen Mittel- und den kleinern Staa¬
ten. Der Verfasser gesteht offen, daß die einheitliche Spitze besser wäre als
die tleindeutsche Trias. Mein im Hinblick auf die scchshundcrtjährige Zer¬
rissenheit Deutschlands seit der Hohenstaufenzeit hält er diese Trias für die
mögliche Einrichtung, obgleich er selbst den preußisch-bayerischen Dualismus
vorziehen würde, und sich nur ungern zu dem dritten, zwischen Sachsen, Han¬
nover und Würtemberg alternirenden Director versteht. Er hält ihn jedoch
für unerläßlich, weil der Particularismus in Sachsen und Hannover sich nur
unter dieser Bedingung zu der Reform herbeilassen werde. Seinen schwäbischen
Landsleuten hält der Verfasser, so wenig er ihre natürliche Begabung und
Tüchtigkeit unterschätzt, ein treues und darum nicht eben schmeichelhaftes
politisches Spiegelbild vor, welches ihn zu dem Schlüsse berechtigt, daß die
deutsche Frage in Schwaben praktisch noch nicht existirt. Doch theilt er seinen
Landsleuten die Bestimmung zu, die unter ihnen am gedrängtesten und schroff¬
sten vorhandenen deutschen Gegensätze am tiefsten in sich zu verarbeiten und
dadurch zu einer Aussöhnung zu bringen, mithin das Bindeglied zwischen Nord-
uud Süddeutschland zu werden. Wenn er hiernach hofft, daß die drei kleineren
Königreiche mit einem alternirenden Director zufrieden sein werden, so unter«
läßt er auch nicht, ihnen die Betrachtung vor die Seele zu führen, daß
gegenwärtig Preußen fast allein Herr im Zollverein ist, da es die Bedingungen
für die Erneuerung der Verträge dictiren kann; denn die übrigen Mitglieder
können den Verein nicht mehr entbehren, und die süddeutschen müssen „nach
einigem Gemurmel" die preußischen Bedingungen annehmen. Warum sollten
sie nicht diese factische Abhängigkeit mit einer Einrichtung vertauschen, bei welcher
ohne Genehmigung Bayerns und ihres dritten Directors und ohne Zustimmung
der beiden Häuser des Vereinsparlamentes kein wichtiger Act zur Ausführung
kommen kann?
Den Oestreichern beweist der Verfasser, nachdem er in scharfen Umrissen
die Schwarzenbergischc Politik trefflich gezeichnet, daß es in ihrem Interesse
liege, die Reform des Zollvereins mit dem Vereinsparlamcnte und außerdem
noch Preußens Führung im Kriege zuzugeben, weil diese Concessionen die
deutsche Hilfe für Oestreich bedingen. Endlich empfiehlt die Schrift ihr Reform-
Programm noch durch den Vorzug, daß die Reform des Zollvereins dein Aus¬
lande weniger Anlaß zur Einmischung gibt, als die rein politische Bundesreform.
Diesen Vorzug schlägt sie um so höher an, je bedenklicher unter den gegen¬
wärtigen Zuständen ein Krieg sein würde, der überhaupt nie dem parlamenta¬
rischen Wesen, sondern in der Regel der Reaction günstig sei. Der eilfte, letzte
Abschnitt legt zum Schlüsse den Deutschen die Aufgabe an das Herz, eine dem
Norden und dem Süden gemeinschaftliche öffentliche Meinung zu schaffen und
von dem unfruchtbaren theoretischen Gezänke zum Handeln vorzuschreiten, zu¬
nächst zur Aufstellung des Programms für die Reform des Zollvereins.
Hier haben wir also einen der seltenen Schwaben, der über die Vorur-
theile des Stammes und die Eindrücke der Umgebung hinaus sich zu der Ueber¬
zeugung emporgearbeitet hat, daß Preußen berufen ist, die Deutschen wieder
zu einer Nation organisch zu verbinden, und daß die Selbsterhaltung Preußen
gebietet, seinen deutschen Beruf zu erfüllen,,den übrigen Deutschen, ihre Ein-
heitsbestrebungen mit der Aufgabe Preußens in Einklang zu bringen. Wie
sein Landsmann Paul Pfitzer zuerst nach der stillen Periode, welche dem Kriege
gegen Napoleon gefolgt war, den deutschen Bundesstaat mit Preußen an der
Spitze und im Bunde mit Oestreich ehen so formulirt hatte, wie dies später
in den Programmen von Frankfurt und Kremsier, in Erfurt und Gotha, und
heut zu Tage in den Ka^dgebungen der großen nationalen Partei geschehen:
so weist Frauer auf die Ausbildung des Zollvereins als auf den prak-
dischen Weg zum Ziele hin. Während Paul Psitzer in frischer Erinnerung an
alle die Wunden, welche das Metternich'sche System bei Congressen und Con-
ferenzen in Wien und Karlsbad, wie durch den Bundestag, dem öffentlichen
und geistigen Leben der Deutschen geschlagen bat, mit Erbitterung gegen Oest¬
reich als gegen das starre Hinderniß deutscher Entwickelung sich wendet, während
er aus der bayerischen Geschichte eine Blumenlese politischer Sünden gegen die
deutsche Nation von der ältesten bis auf die neueste Zeit zu einem erschrecken¬
den Bilde zusammenstellt, kostet es unserm Versasser weniger Mühe, seine Ab¬
neigung gegen Preußen als seine Liebe zu Oestreich zu überwinden, und wir
rechnen es ihm, als Schwaben, besonders hoch an, daß er, um eine erreichbare
Form der Einigung zu erzielen, sein Würtemberg im Kriege unmittelbar unter
Bayern, im Zollverein weniger günstig als Bayern zu stellen sich entschließt.
Den ganzen Kampf des Verfassers gegen seine Zu- und Abneigungen, der aller¬
dings mit dem Siege des politischen Blicks und Verstandes endigt, muß der
Leser in den ersten Abschnitten der Schrift mit durchmachen. Mit vollem
Rechte stellt hier der Verfasser die Einigung zum Schulze gegen außen allen Be¬
strebungen für die innere Entwickelung voran und fordert zu diesem Zwecke:
gemeinsame Action von Oestreich und Preußen und Vereinbarung über den
Oberbefehl, welchen er über sämmtliche Contingente außer dem östreichischen für
Preußen in Anspruch nimmt. Aber bei der Begründung dieser Sätze zeigt es
sich, daß der Verfasser nächst Frankreich zumeist Italien, Ungarn und wenn
nicht gerade Preußen, doch manches Preußische, insbesondere die „Berliner und
Cölner Literaten" gründlich haßt. Wer Oestreich nicht um jeden Preis in Ve-
netien und Ungarn helfen will, wer nicht zum Vasallendicnste bereit ist — die
billigcy'Concessionen werden hier noch nicht verlangt — der ist nicht viel besser als
ein ehrloser Vaterlandsverräther. Der Süddeutsche ist in den Augen des Ver¬
fassers wirklich vorurtheilslos, Von den Kleindeutschen, zu denen er doch selbst
gehört, besorgt der Verfasser, daß sie in leidenschaftlicher Verblendung sich mit
dem äußern Feinde verbinden könnten! Wir wollen über diese Herzensergie-
ßungen mit dem Verfasser nicht rechten. Sie sind der Tribut, den er der
Schwäche der menschlichen Natur entrichtet. Er legt sie in dem ersten Ab¬
schnitte der Schrift nieder und befreit sich dadurch von ^aller trüben S.imm-
mung. Im weitern Verlause ist er der verständige Politiker, der deutsche Pa¬
triot. Aber sür einen Zug aus der Entstehungsgeschichte der Schrift, dessen
das Vorwort erwähnt, finden wir in den Erziehungen des ersten Abschnittes
die Erklärung. Dort erzählt nämlich der Verfasser, daß er die in dieser Schrift
ausgeführten Gedanken schon im Jahre 1856 auf Rigi-Staffel mit einem Freunde
durchgesprochen, daß er dann im Mai 1858 neun Briefe an die Grenzboten
gesendet und, da diese sie nicht ausgenommen, in der Rcichszeitung zu Braun¬
schweig veröffentlicht habe. Wenn nun jene neun Briefe mit den neun ersten
Abschnitten der vorliegenden Schrift übereinstimmen, und wenn die Redaction
der Grenzboten etwa nnr den ersten gelesen haben sollte, so läßt sich ihre Wei¬
gerung der Aufnahme wohl begreifen. Das? sich die Grenzboten dem Gedan¬
ken des Verfassers, durch den Zollverein zum Bundesstaate zu gelangen, nicht
verschließen, dies haben sie zur Genüge bewiesen und beweisen es mit Ver¬
gnügen durch die Aufnahme unserer ausführlichen Besprechung seiner Schrift.
— Der Gedanke war übrigens vor 1848 unter den denkenden Patnoien allge¬
mein verbreitet. Der treffliche, zu früh geschiedene Braunschweiger Steinacker
hatte schon in den dreißiger Jahren für eine bessere Organisation des Zoll¬
vereins schätzbare Vorarbeiten geliefert. Und wenn der Verfasser meint, daß
„die hochgehenden Wogen der Hoffnung" in Frankfurt den Zollverein in den
Hintergrund gedrängt hätten, so kennt er eben nicht die von dem Reichsmini-
stcrium ausgearbeiteten Entwürfe einer Zollacte, eines Flußschifffah'rtsgesetzes,
u. s. w., nicht die Denkschrift an die östreichische Regierung, aus welcher diese
ihre Vorschläge zur Annäherung an den Zollverein fast wörtlich abgeschrieben
hat. Indem wir die vorliegende Schrift der Beachtung unserer Leser empfeh¬
len, halten wir es nicht für ganz überflüssig, zu bemerken, daß sie mit unsern Auf¬
sätzen über die Zukunft des Zollvereins «Jahrg. 1860, Heft 40 und 41) im Wesent¬
lichen übereinstimmt, daß wir aber mit der kleindeutschen Trias nicht einver¬
standen sind. Der Veteran unter den Vorkämpfern für die bessere Einigung
Deutschlands, Paul Psitzcr. ist in seiner neuesten Schrift über Bundesreform
durch die Unschlüssigkeit Preußens auf der einen und die Widerstandskraft des
Particularismus auf der andern Seite dahin gekommen, daß er sich ein Direc-
torium gefallen lassen will, nur um die Trias zu vermeiden. Aus ähnlichen
Gründen fügt sich Hr. I),-. Frauer der kleindeutschen Trias. Wir dagegen
bleiben bei der Ueberzeugung, daß, wenn der Augenblick gekommen sein wird,
eine bessere Form der Einigung ins Leben zu rufen, nicht eine die Ohnmacht
organisirende Vielköpfigkeit, sondern die einheitliche - Spitze zur Geltung kom¬
men wird.
In Oestreich ist nicht nur der Staatshaushalt zerrüttet, — das ist schlimm,
— sondern auch das Geldwesen. — das ist schlimmer. Um die Finanzen zu
bessern, muß man weniger ausgeben und mehr einnehmen; um dem Geldwesen
zu helfen, muß man die Banknoten gegen Silber einlösen. Dies ist leichter
gesagt als gethan. Das Letztere aber ist das Dringendste, denn bevor das Geld¬
wesen in Ordnung ist, kann der Staatshaushalt nickt in Ordnung kommen.
Die Bank könnte ihre Noten einlösen, wenn der Staat ihr die Millionen wie¬
dergäbe, die sie ihm geliehen hat: aber der Staat hat kein Geld. Die Bank
würde ihre Lage schon wesentlich verbessern, wenn sie die Staatspapiere, die
sie vom Staate als Pfand und diejenigen, welche sie als Eigenthum besitzt,
versilbern könnte. Aber der Staat hat keinen Credit, seine Papiere stehen
schlecht und fallen noch tiefer im Preise, sobald sie in größerer Menge an den
Markt kommen, — Eine fatale Lage. Es ist dringend nöthig, die Banknoten
einzulösen, um dann den Finanzen zu helfen-, aber die Bank kann ihre Noten
nicht einlösen, weil die Finanzen zerrüttet sind. Was ist da zu machen?
Das sind die Finanz-Probleme, welche Herr von Brück gelöst haben würde,
wenn nicht der Krimkrieg, die Krisis von 1857, der italienische Krieg, die unga¬
rischen Wirren, die Willkür und Verschwendung in den Staatsausgaben seine
Plane vereitelt und ihm den Tod gebracht hätten. Es sind die nämlichen Pro¬
bleme, welche Herr von Pierer mit Bedächtigkeit und nüchternem Verstände hin
und her wendet und dreht. Beide Minister, Herr von Brück und Herr von
Pierer, kamen zu dem Resultate: Es geht nicht ohne constiiutionelle Garantien!
So kam das October-Diplom, die Februar-Verfassung, der Reichsrath und
sein Finanz-Ausschuß, Der Minister verhandelt mit der Bank, der Ausschuß
sitzt und arbeitet. Es will immer noch nicht gehen, — da fühlt Herr Doctor
Gustav Höslen sich verpflichtet, schnell die vorliegende Schrift zu schreiben und
drucken zu lassen. Seine größte Sorge ist die Nachgiebigkeit des Finanzmini¬
sters gegen die Anforderungen der Bank, richtiger gegen ihre Weigerung,
den Anforderungen der Regierung sich zu fügen. Der Ausschuß der Actio¬
näre will für die Erneuerung des Privilegiums so wenig als möglich geben.
Herr Dr. Höslen begreift nickt, wie der Finanzminister sich dies gefallen lassen
mag, statt dem Ausschusse zu erklären: entweder ihr thut was ich haben will,
oder — ich gebe Bantfrciheit! luir boni'Kk, on Ilr vie;! So naiv ist der Herr
Doctor, nachdem er zehn Jahre im Handelsministerium zu Wien gesessen. Daher
wundert es uns auch nicht, wenn er, des Staatsdienstes müde, sich einer er¬
giebigem Thätigkeit in den Verwaltungen einiger Actien-Unternehmungen aus¬
schließlich zu widmen gedenkt. Seine Schrift ist ein letztes Wort an den Finanz¬
minister, der Bank das erforderliche Maß von Opfern zur Herstellung der Va¬
luta abzudrängen.
Vier Abschnitte von den fünfen. welche die Schrift enthält, sind diesem
Anliegen gewidmet. Der erste bringt einen flüchtigen Abriß der Geschichte der
Nationalbank von 1816 bis ans die neueste Zeit. Man sieht daraus, daß das
Institut damit anfing, das Staatspapiergeld einzuziehen, und damit aufhörte,
seine eigenen Noten nicht mehr einzuwechseln. Der Staat melkte die Bank,
die Bank melkte den Staat, die Actionäre standen sich gut dabei, aber der Ver¬
kehr und die Steuerpflichtigen um so schlechter.
Im zweiten Abschnitte folgen „Studien und Vorverhandlungen über Bank
und Valuta", eine theoretische Abhandlung über den Notenumlauf und die
Bedingungen seiner Gesundheit, dann aber Mittheilungen aus den Gutachten
der Handels- und Gewerbekammern wie anderer Sachverständigen, welche Herr
von Pierer eingefordert und der Verfasser eingesehen hatte. Fast alle verlan¬
gen verfassungsmäßige Garantien gegen die schlechte Wirthschaft, und gemein¬
same Anstrengungen des Staates und der Bank zur Herstellung der Valuta.
Der Staat soll auf das Ausgeben von Papiergeld verzichten; sein Opfer be¬
steht also darin, daß er nicht zum drittenmal thun soll, was schon zweimal
Unheil angerichtet, und was er nie wieder zu thun feierlich versprochen hat.
Die Bank soll vom Staate nicht Alles fordern, was er ihr schuldet, sondern
einen Theil als unkündbare Schuld stehen lassen. Ein nicht unbilliges Ver¬
langen, über welches kein Streit ist. Der streitige Punkt ist nur der, daß die
Bank Zinsen verlangt, der Staat aber keine Zinsen bezahlen will.
Der dritte Abschnitt über „die Reform der Nationalbank und die Revision
der Statuten" stellt die Grundsätze auf, welche nachgerade überall für eine
solide Zettelbank maßgebe-ut sind. Die Hauptpunkte sind: Unabhängigkeit der
Anstalt, Schutz gegen Eingriffe des Staates, und Einlösbarteit der Noten
gegen Silber, gesichert durch einen angemessenen Vorrath von paaren Gelde und
guten Wechseln. Es ist nicht schwer, diese allgemein bekannten Sätze'aufzu¬
stellen, wohl aber ihnen bei der Oester. Nationalbank Eingang zu verschaffen.
Bei solidem Betriebe werden die Dividenden nicht so fett wie bei der Einrich¬
tung, wonach die Anstalt das Geld mit welchem sie arbeitet (die Note»), selbst
verfertigt und ausgibt. Jeder muß es annehmen, Keiner darf Silber dafür
Verlangen. Daher sperren sich, wie Herr Dr. Höslen berichtet, die Actionäre
gegen eine Nadicalcur, welche unter Anderm verlangt, daß für jeden Gulden,
der über 150 Millionen >n Noten ausgegeben wird, ein Gulden Silber in der
Kasse liegen soll. Das Beste in diesem Abschnitte sind wiederum Auszüge aus
Vorschlägen über die Bankrefvrm, welche darin mitgetheilt werden.
Der vierte Abschnitt behandelt einen Cardinalpuntt. Die Verminderung
der Schuld des Staates an die Bank. Die Schuld beträgt 250 Millionen
Gulden, und der Verfasser meint, daß bis Ende davon 192 Millionen
getilgt, eben so viele Noten aus dem Umlaufe gezogen und dann die übrigen
für einlösbar erklärt werden könnten. Damit wäre die Valuta hergestellt.
Allein es gehört dazu der Verkauf von 123 Millionen Staatslovscn. auf
welche die Bank für den Krieg von 1L59 die Summe von 99 Millionen
vorgeschossen hat. Der Verkauf an der Börse zu anständigem Preise ist un-
thunlich. Herr Dr. Höslen schlägt daher vor, diese Loose auf die Provinzen
(Kronländer) umzulegen. Wer seinen Antheil freiwillig zeichnet, bekommt die
Loose zum Nennwert!); wer dies nicht thut, wird gezwungen, seinen Theil mit
2 Procent Agio (zu 102) zu bezahlen. Dieser Vorschlag zeigt, wie schlimm
die Lage ist. Bleibt aber nur der Zwang als Rettungsmittel, dann ließe sich
damit wohl noch etwas mehr ausrichten als der Verkauf d7r verpfändeten Loose.
Der letzte Abschnitt äußert sich über die „Begründung des Gleichgewichts
im Staatshaushalte." Dazu ist geboten, daß das Erbübel des chronischen
Deficits aufhöre. Jahr für Jahr wurde bisher bedeutend mehr ausgegeben
als eingenommen; der Ausfall wurde durch Anleihen und Papiergeld gedeckt.
Anleihen bekommt man nicht mehr; die Noten sind entwerthet, alles Vertrauen
ist geschwunden. Unerläßlich ist die Herstellung des Vertrauens durch Herstel¬
lung der Valuta und des Gleichgewichts zwischen Einnahmen und Ausgaben.
Dies ist nur zu hoffen bei wirklicher Evntrole des Haushalts durch eine Lan¬
desvertretung, und durch kräftige Entwickelung der Production. Darum schließt
der Abschnitt, welcher die fortschreitende Zerrüttung der Finanzen aus Vorlagen
des Ministeriums übersichtlich darstellt, mit dem Satze, daß die östreichischen
Finanzprobleme nur politisch und finanziell zugleich gelöst werden können. Die
Schrift lehrt nichts Neues, sie bringt aber aus Gutachten und Vorlagen brauch¬
bares Material; mehr war von Herrn Dr. Höfe'e»s Art Bücher zu machen
nicht zu erwarten.
Die Veranlassung zu dem nachfolgenden kleinen Aufsätze bietet uns eine
Stelle aus der vor Kurzem erschienenen „Uebersicht der Geschichte der deutschen
Dichtung von Karl Gödecke". Es heißt dort wörtlich. „Johannes Nah, Nasus
soll ein Schneider aus Franken gewesen sein, der im Barfüßertloster zu Mün¬
chen gearbeitet und sich dann der Theologie gewidmet habe. Er wurde Bar¬
füßer und wie es scheint Lehrer an der Hochschule zu Ingolstadt. Fischart
nennt ihn im Bienenkorb Suffragan und Weihbischof. Geburth- und Todesjahr
sind unbekannt. Seine Gegner, die er durch rücksichtslose Angriffe reizte, gefielen
sich darin ihn seines Handwerks wegen zu schmähen und mehr zu verhöhnen
als zu widerlegen. Das Studium seiner in Norddeutschland seltenen Schriften
würde auch hier wie bei Murner ergeben, daß Nasus öl el bedeutender war als
Witzeleien über ihn glauben machen. In manchen seiner Schriften erscheint er,
wenn auch nicht Fischart, doch Nigrinus vollkommen gewachsen." Schließlich
zählt Gödecke drei Werke von ihm aus.
Unser Literarhistoriker weiß also von Nasus, einem der wüthendsten Vor¬
kämpfer des Katholicismus, sehr wenig. Wir machen ihm dieses nicht zum
Borwurfe; denn welcher Geschichtschreiber ist noch im Stande, das ganze in
Journalen und Programmen zerstreute Material zu sammeln und zu kennen?
Denken wir daran, was jetzt in Tirol und andern Domänen des Ultramonta¬
nismus geschieht, so mag es nicht unzeitgemäß erscheinen, über Nasus, dessen
Bedeutung für die Literatur und Culturgeschichte man erst dann würdigt, wenn
man sich näher mit ihm bekannt gemacht, bier Einiges mitzutheilen, wobei wir
den Leser von vornherein versichern, das wir durchaus nicht gesonnen sind
all den Schmutz der Polemik, welche Deutschland damals entzweite, noch ein¬
mal aufzurühren.
Unsere Quelle ist ein Buch: „Johannes Nasus", von dem Franziskaner
zu Botzen Johann Schöpf, welcher dem Leben und Wirken seines Ordensbru¬
ders eine vieljährige Forschung widmete und dabei die reichlichen gedruckten und
ungedruckten Quellen der Klvsterarchive zu Rath zog. Dieses Buch, geziert mit
dem Porträt von Nasus, ist unserem Literarhistoriker wohl nur deswegen un¬
bekannt geblieben, weil es als Programm des Botzener Gymnasiums 1860 und
nicht selbständig erschien. Wenn auch der Berfasser, wie vorauszusetzen, einen
streng ultrcunvntanen Standpunkt einnimmt, so verdient sein Werk doch volle
Empfehlung wegen der Gründlichkeit, mit der es den Stoff behandelt und sehr
viele werthvolle Daten liefert.
Johannes Nah stammt aus einer ansehnlichen Familie zu Eltmann in
Ostfranken und wurde am 19. März 1534 geboren. Er wurde ehrbar und
christlich erzogen, bei einem „frommen alten Schulmeister" lernte er den Kate¬
chismus. Doch schon als zwölfjähriger Knabe ging er nach Bamberg zu einem
Schneider in die Lehre; als Gesell besuchte er später Nürnberg, Regensburg,
Augsburg und München. Auf diesen Reisen wurde er mit dem Thun und
Treiben de.r Reformatoren bekannt; er schloß sich ihnen voll Enthusiasmus an,
besuchte ihre Gottesdienste und lebte in ihrer Gesellschaft. Ihre unausgesetz¬
ten Schmähpredigten machten auf ihn bald einen solchen Eindruck, daß er, wie
er selbst gesteht, ohne Weiteres nach Steinen gesucht hätte, wenn ihm nach einer
solchen Predigt ein katholischer Priester oder Bischof begegnet wäre. Im Jahre
1552 erfolgte jedoch der Umschlag, indem ihm ein Zufall das Büchlein et«z inri-
taticme Llrristi von Thomas a Kempis in die Hand spielte. Er wendete sich an
die Franziskaner in München, welche damals ausgezeichnete Mitglieder zahlten,
und trat, zum Katholicismus zurückkehrend, als Noviz in ihren Orden. Am
5. August 1553 wurde er zur Ablegung des Profcß zugelassen. Auch im Klo¬
ster blieb er seinem Handwerk getreu, wofür er denn später von seinen Gegnern
scharfen Spott erntete. Wie Wilegis von Mainz das Mühlrad, nahm er spä¬
ter die Scheere in sein bischöfliches Wappen aus. Beim Schneidern erwachte
jedoch in ihm der Trieb noch höherer Bildung. Stundenlang stand und kniete
er, während Alles im Kloster schlief, bei der Lampe, die vor dem Bilde der
Madonna brannte, und lernte lateinische Grammatik. Bald ging er zu den
Klassikern über und gab den staunenden Obern bald solche Beweise selbsterwor-
bcner Kenntnisse, daß er, in die Zahl der Kleriker aufgenommen, sich dem Stu¬
dium der Theologie widmen konnte. Im Jahre 1557 las er zu Freising die
erste Messe. 1559 besuchte er die Universität Ingolstadt, wo noch der Geist
von Eck nachwirkte und die Waffen zum Kampf gegen die Reformatoren ge¬
schmiedet wurden. Nah war in das rechte Fahrwasser gelangt; 1560 zum Con-
ventprediger ernannt, begann er das grobe Geschütz aufzuführen, mit dem er
nun bis zum Ende seines Lebens gegen die Neuerer donnerte. Gleichzeitig
setzte er seine Studien eifrig fort, übte sich unter Leitung der Jesuiten in Dis¬
putationen, studirte Väter und Bibel und lernte zuerst Griechisch, dann begann
er auch 1563 das Hebräische. Die Bettelmönche, aus den untersten Klassen des
Volkes hervorgegangen und mit diesem auch in Sinn und Sitte harmonirend,
haben stets auf dasselbe den größten Einfluß gehabt, weil sie sich nicht erst zu
ihm herabzulassen brauchten. Auch Nah nahm öfters den Bettelsack aus die
Schultern, sammelte Lebensmittel und griff dabei die Prädicanten in scharfer
Weise an. Es war damals eine Zeit der wildesten Leidenschaft, man darf sich
daher nicht wundern, wenn er für seine Rücksichtslosigkeit in Wort und Schrift
den bittersten Haß erntete. Man schimpfte auf den Kanzeln gegen den tollen
Mönch von Ingolstadt, verklagte ihn bei hohen Personen, selbst beim Kaiser,
drohte mit Staupbcsen und Tod. Ein Franziskaner, den man mit ihm ver¬
wechselte, wurde auf offener Straße erschlagen. Ihm selbst gelang es einst nur
mit Mühe, dem Todesstoß zu entrinnen, welchen ein Lutheraner, als er im
Bette lag, gegen ihn führte. Seine Predigten hatten großen Erfolg; so ge¬
lang es ihm die Stadt Straubing, wo die neue Lehre schon festen Fuß gefaßt,
dem Katholicismus zu retten. Es ist daher kein Wunder, daß er bei den
Bischöfen und Herzögen von Baiern, welche sich stets durch religiösen Fanatis¬
mus hervorthaten, sehr beliebt war.
Im Jahr 1569 wurde Nah zum Guardian des Klosters in Ingolstadt er¬
nannt und vermuthlich gleichzeitig zum Custos der Straßburger Franziskaner¬
provinz. In dieser Eigenschaft hatte er sich bei der Wahl des neuen Ordens-
gencrals zu betheiligen und reiste deswegen 1571 nach Rom, wo man ihn mit
großer Auszeichnung empfing und ihm der Papst den Titel eines apostolischen
Predigers verlieh. Auf der Rückreise übertrug ihm das Domcapitel zu Brixen
das Beneficium von Se. Barbara und die Stelle eines Dompredigers, welche
er mit gewohntem Eifer verwaltete und dabei ersprießliche Dienste in Bewälti¬
gung der Wiedertäufer leistete. Daß der pfäffische Erzherzog Ferdinand gegen
diese auch mit Feuer und Schwert wüthete, ist sattsam bekannt. Einem solchen
Mann, der selbst ein religiös didaktisches Drama schrieb, mußte Nah hochwill¬
komner sein, er ward daher als Prediger an die Hofkirche nach Insbruck
berufen, wobei er jedoch seiner Pfründe in Brixen nicht zu entsagen brauchte.
Zu Insbruck hatten sich aber bereits die Jesuiten eingenistet, welchen es
jedenfalls sehr unangenehm war, daß nun ein Anderer Hahn im Korb werden
und sie verdrängen sollte. Es entstanden Reibungen, bei denen die schlauen
Väter gegen ihre Widcrpartei den Kürzern zogen. Nah verlebte den größern
Theil des Jahres 1574 zu Insbruck, kehrte aber dann nach Brixen zurück. Da ihm
Baiern und er Baiern stets unvergeßlich blieb, so darf es uns nicht wundern,
wenn er von Zeit zu Zeit dahin zurückkehrte und sich wacker mit den Prädicanten
boxte. In Tirol wirkte er eifrig bei Gründung einer neuen Franziskaner-Pro¬
vinz mit, wobei er jedoch seinen Beruf als Prediger und Polemiker keines¬
wegs versäumte. Im Jahr 1580 erwählte ihn der Bischof von Brixen zu sei¬
nem Suffragan und Papst Pius der Fünfte verlieh ihm den Titel eines Bischofs
nebst 200 Ducaten Einkommen.
Obwohl zu einer hohen kirchliche» Stellung gelangt, änderte Nah doch
wenig an seiner bisherigen einfachen Lebensweise, sondern blieb im Kloster
seiner Ordensbrüder mit theologischen Studien und polemischer Schriftstellern
beschäftigt. Zugleich ging er überall den Spuren lutherischer und wiedertäufe¬
rischer Ketzerei nach. Es fehlte ihm auch auf katholischem Boden nicht an
Zwietracht. Anlaß dazu gab eine ehegerichtliche Entscheidung, wegen der er
1583 mit seinem Gegner nach Rom citirt wurde, wo man.über diese Ange¬
legenheit einen Vergleich einleitete. Später wurde er zumeist wegen Berufung
wälscher Mönche in das Ordenshaus zu Insbruck in Verlegenheiten verwickelt,
die eingeleitete Untersuchung stellte jedoch seine Unschuld glänzend heraus und
rechtfertigte seine Ehre. Auch zu Rom lagen gegen ihn falsche Berichte vor,
er verfügte sich also 1586 dahin, um alle Nebel des Argwohnes zu zerstreuen,
was ihm auch gelang. Wieder mit dem alten Vertrauen beebrr, wurde er von
Erzherzog Ernst nach Oberöstreich berufen, um zu Lambach das Unkraut der
Ketzerei auszurotten. Auch hier wirkte er mit ausgezeichnetem Erfolge. Durch
die Anstrengungen, die er für die Sache des .Katholicismus gemacht, durch so
manches Leid, welches ihm seine Kampflust zugezogen, war allmälig seine Ge¬
sundheit geschwächt worden, und er verschied am 16. Mai 1590 zu Insbruck.
Dort wurde er auch begraben. Erzherzog Ferdinand ließ ihm durch den be¬
rühmten Collin, welcher die ausgezeichneten Basreliefs am Grabmal des Kai¬
sers Maximilian zu Insbruck verfertigt hatte, dankbar ein Denkmal setzen. Es
stellt in weißem Marmor einen mit allen Jnsignien seiner Würde bekleideten
Bischof vor, zu dessen Füßen ein Wappenschild die geöffnete Scheere mit dem
Kreuz im Zwickel aufweist. Dieser Grabstein befindet sich gegenwärtig in dem
linken Seitenschiff der Hofkirche.
Nachdem wir im Vorstehenden die kurze Lebensskizze eines Mannes gegeben, der
in der Literatur seiner Zeit und bei den Ereignissen derselben ein lautes Wort
angeredet, sollten wir eigentlich über seine Schriften reden, von denen Schöpf über
40 Nummern, zum Theil in einem Nachtrage zu seiner Broschüre, aufzählt.
Wir begnügen uns hier einfach mit einer Hinweisung auf unsere Quelle, da
sich schwerlich jemand anders als der Literarhistoriker mit derselben nachträglich
beschäftigen wird. Nur ein opu« wollen wir erwähnen. Es ist die Practica
practicarum gedruckt zu Ingolstadt 1567, von der schon Gödccke nachweist, daß
sie Fischart bei seiner „Praktik" zum Vorbild diente und von ihm stillschweigend
ganz ungenirt geplündert wurde, worüber man übrigens in jener Zeit andere
Begriffe hatte als jetzt. Diese Berbältnisse dürfte übrigens der literarische
Verein in Stuttgart, der wie wir vernehmen, eine neue Ausgabe Fischarts beab¬
sichtigt, ins Auge fassen.
Was den Styl von Nasus Werken betrifft, so ist er um kein Haar feiner
und wohlgebildeter als der seiner Gegner; auch in ihm spiegelt sich die volle
Derbheit und Rohheit seiner Zeit. Wir empfehlen ihn den modernen Ultra¬
montanen, welche sich auch befleißigen möglichst „säuisch und grobianisch" aufzu¬
treten. Vielleicht könnte Herr Brunner in Wien oder Herr Zander zu München
eine Blumenlese mit Vortheil verwerthen.
Die neue Auflage ist in der That eine wesentlich veränderte. Die erste (1830
erschienen) war mehr Apologie als Biographie und enthielt eine Polemik gegen An¬
sichten, die jetzt längst aufgegeben und einer gerechten, Würdigung dessen gewichen
sind, was Fichte als Mensch war und als Philosoph leistete. Indem der Verfasser
von solcher Vertheidigung der Lehre und des Charakters Fichte's jetzt absah, gewann
er Raum für das, was wir von einer Biographie vorzugsweise verlangen, für den
Versuch, eingehend zu zeigen, wie die Lehre seines Philosophen nur Ausfluß und
Abdruck seines innersten sittlichen Wesens, seines Charakterkerns war, wie beide
jedoch sich allmälig vertieften und erweiterten und zwar nicht sowohl durch Herein-
ziehung von Fremdem, als durch die stillwirkcnde Kraft des Lebens und der reiferen
Jahre, Im Uebrigen verfährt der Verfasser wie früher, indem er Fichte durch
eignes Wort und eigne That sich darstellen läßt und nur die erforderliche Grup-
pirung und Deutung der urkundlichen Züge hinzugibt. Eine wesentliche För¬
derung erfuhr das Werk dadurch, daß dem Verfasser die im Nachlaß Beyme's
aufbewahrten Briefe Fichte's, verschiedene Aufzeichnungen von Nicolovius und
das auf seinen Gegenstand Bezügliche aus der Hinterlassenschaft von Paulus
zugänglich wurden. Vergegenwärtigen wir uns nach dieser Darstelln 11-1 das Bild
des großen Denkers, so erfüllt uns trotz der oft in seinem Charakter hervortreten¬
den Schroffheit und Härte, tiefe Hochachtung vor seinem sittlichen Ernst und der
Konsequenz seiner Persönlichkeit, Er war wirklich, wie sein Biograph sagt, „ein
deutscher Denker, Der licfsittliche Kern unsres Volkes, die Ehrlichkeit, Gewissen¬
haftigkeit, biedere Unbestechlichkeit seines Wesens, wenn man im Urtheil und Handeln
ihm Geduld läßt, das Rechte zu finden, oder wenn es, durch gewaltige Erschütte¬
rungen geweckt, auf diesen Geist sich zurück besinnt und Plötzlich allen täuschenden
Tand hinwcgschütteltalle jene einfachen und schmucklosen Eigenschaften germani¬
schen Wesens hatten in ihm ihren stärksten Ausdruck erhalten. Und sie ruhten nicht
Müßig in ihm oder verzehrten sich in unzufriedenen Grollen, Sie brachen mit un¬
widerstehlichem Drang des Handelns hervor und geboten ihm einen unablässigen Kampf
gegen das Schlechte der Zeit, in welcher Gestalt es ihm erscheinen mochte, zuerst
wider eine falsche cudämonistisehe Theologie und Religiosität, dann wider die er¬
schlaffende Selbstsucht in Staat und Gesellschaft, zuletzt gegen den Erbfeind unseres
Vaterlandes, in welchen allen er nur die verschiedenen Erscheinungen desselben Gnind-
übcls sah, des Abgestorbenscins für die sittlichen Mächte des Lesens." Der aus¬
dauernde Ernst eines solchen Kampfs ist deutsche Gesinnung, und darum wird
Fichte's Name nicht untergehen im Gedächtniß der Nation, die jetzt seinen hundert¬
jährigen Geburtstag feiert. Er ist ihr' ein Spiegelbild ihres Wesens wie Wenige
und ein Mahner an ihre Ausgabe, nicht von obenher und noch weniger von außcn-
hcr, sondern im langsamen Ringen von unten heraus, durch die steigende Fülle und
Kraft des Volksgeistes, die rechte Form der Einigung und ^amie die ihr gebührende
Bedeutung unter den Völkern zu gewinnen.
Schilderung einer Tour von Kairo nach dem Sinai, nach Dschedda und von
dort zu dem in Tals bei Mekka lebenden (frühern) Großschcris Muttalcb, bei dem
der Verfasser wohl aufgenommen wurde und Gelegenheit fand mit dem Leben und
der Denkart arabischer Fürsten bekannt zu werden. Die Bildung unsres Reisenden
geht nicht sehr in die Tiefe, auch besitzt er nicht das glänzende Talent, mit dem
Burton uns seine Reise nach Mekka schilderte, indeß hat er mancherlei Interessantes
von türkischer und arabischer Sitte beobachtet und hier anschaulich verzeichnet, und
so haben einige Kapitel, namentlich die letzten, die von dem Aufenthalte in Dschedda
und T«if handeln, auch Werth für den Geographen. Das Deutsch der Uebersetzerin
verstößt mehr als verschwiegen werden darf, gegen die Grammatik.
Ist die Fortsetzung der „Fünfzig Tage in der Wüste" von demselben Autor
und schildert eine Reise von Khartnm, durch Obernubien, das Lund Robatat und
die Wüste AtmUr Bela Mu nach Korosko und von dort den Nil abwärts bis Kairo,
Die ersten Kapitel enthalten einige gute Beispiele der Zustände Nubiens und des
Sennacir unter Abbas Pascha.
Der Verfasser hat mehrere Jahre in Rom gelebt, sich eingehend mit dem Stu¬
dium der Monumente beschäftigt und sich bei seiner Arbeit des Beistandes von nam¬
haften Gelehrten zu erfreuen gehabt. Sein Werk war durch die neuern Entdeckungen
auf dem Gebiet der Geschichte und der Topographie, durch die UntersuchNngen in
den Katakomben, durch mancherlei Umgestaltungen in den Museen und dnrch die
Veränderung in der politischen Lage des Kirchenstaats früher erschienenen Führern
gegenüber entschiedenes Bedürfniß geworden, und es kann sowohl nach der Reichlich¬
keit und Gründlichkeit dessen, was es bietet, als auch nach der übersichtlichen Ver-
theilung des Stoffes bestens empfohlen werden. Nicht weniger werthvoll sind die
beiden Pläne und die Karte. Der erste Plan gibt eine sehr specielle Uebersicht von
Rom und seinen Sehenswürdigkeiten, der zweite das Forum Romanum nach den
neuesten topographischen Untersuchungen. Die Karte hat neben ihrem archäologischen
Werth auch ein politisches Interesse, da sie genau die Grenze des bis jetzt noch dem
Papst verbliebenen Gebiets — des sogenannten Patrimvniums Petri — angibt. Auch
das Antiquarische darin bietet, von dem dnrch Ergänzungen der Topographie des alten
Latium bekannten italienischen Archäologen Rosa geliefert, manches Neue, da seit länger
als dreißig Jahren eine derartige Karte der Campagna nicht veröffentlicht worden ist.
'
Der Verfasser, ein Amerikaner, hat die hier beschriebene Reise in den Jahren
1855 und 1856 gemacht. Er begab sich zuerst von der Mündung des Gaboa
in das Land der Fars , unternahm dann einen Ausflug zu den Stämmen am
Cap Lopez, hierauf eine dritte Tour, welche die Gegend am Kaama zum Ziel halte,
endlich eine Erpedition in's Land der Aschira. Sein Hauptzweck scheint die Jagd
gewesen zu sein. Was er berichtet, klingt fast wie ein Roman und bildet eine Kette
von AbcntcUcrn der wunderbarsten Art, in. welcher menschenfressende Neger, ungeheure
gefräßige Ameisenvölker, Elephanten, Nilpferde, Riesenschlangen, und vor Allem der König
des centralafrikanischen Waldes, der riesenstarke Gorilla-Affe die Hauptrolle spielen. Ob
dies die Wahrheit und nichts als Wahrheit ist, müssen wir dahin gestellt sein lassen,
da du Chaillu der erste Weiße war, der diese Gegenden besuchte. Die Wis¬
senschaft wird seine Berichte mit Vorsicht aufnehmen müssen, dagegen gewähren sie
unzweifelhaft Unterhaltungsstoff in reichstem Maß, und darauf war's bei dieser Bear¬
beitung wohl allein abgesehen.'
Ein Seitenstück zu dem bekannten Buch Caelius, nur daß Kane, dessen Zweck
ebenfalls die Sammlung von Porträts indianischer Häuptlinge und von Genrebil-
°»rü aus dem Leben der Rothhäute war, eine andere Route, die nämlich zwischen
der großen Kette der nordamerikanischen Seen und dem Stillen Meer, einschlug und
dann Oregon, TKcile der Felsengebirge, den Puget- Sund und die Vancouver Insel
besuchte. Indem wir uns vorbehalten, auf das Buch, wenn es vollendet, zu--
rückzukommen, bemerken wir hier nur, daß das bis jetzt Vorliegende das Lob an¬
schaulicher Detailschildcrung verdient.
Das Beste an dieser Zeitschrift sind die Bilder, wohlausgeführte Holzschnitte,
die nach Verwendung in der Pariser Zeitschrift „I^s I'our ein Nonäs" hier nochmals
benutzt werden und wohl auch nach Ansicht des Verlegers des „Globus" die Haupt¬
sache des Unternehmens ausmachen. Die dazu gehörigen Texte, meist Abkürzungen
oder Auszüge der in jenem französische» Blatt gelieferten Artikel, beanspruchen nur
in seltnen Fällen einigen wissenschaftlichen Werth, doch mögen sie als Unterhaltungs-
lectüre empfohlen werden könne». Dasselbe gilt von den meisten Originalartikeln,
die etwa ein Drittel des Blattes einnehmen mögen. Daß man in den
letzten Heften einem Vertheidiger der Sklavenhalter in Amerika gestattet hat, seine
an Wahnwitz grenzenden Sympathien für die „eigenthümliche Einrichtung" und
seinen Aerger über die Parteien im Norden, die diese Einrichtung — wir geben zu
nicht immer mit viel Verstand und Rücksicht — bekämpften, hier auszubreiten, mag
ein komischer Einfall, wird aber gewiß nicht sehr klug sein. Geschieht dergleichen
von besagtem iulvoeatus cliaboli in der (reaktionäre») „Leipziger Zeitung", so wird
man dies nur als consequentes Verhalten der Redaction bezeichnen, nicht erstaunlich
finden dürfen. In einer „geographischen Zeitung" einem Propheten zu begegnen,
der uns predigt, daß der Mensch an Mensche» ein Eigenthum haben kann, erweckt
keine besonders hohe Vorstellung von der wissenschaftlichen Bildung des Herausgebers.
Ein Wert, welches der Bedeutung des Gegenstandes, den es behandelt, den
etwas altvütcrischen Ser^ ausgenommen, vollkommen entspricht, gründlich und
scharfsinnig in seiner Kritik, anschaulich in seiner Darstellung, in jeder
Beziehung als Bereicherung unsrer Kunstliteratur zu bezeichnen und zugleich
ein treffliches Handbuch für den Besucher der großen Dresdner Bildersamm¬
lung, der hier mehr als blos flüchtigen Genuß sucht. Der Verfasser hat, bei
seiner schwierigen Arbeit von hervorragenden Kunstkennern wie Waagen und Schmorr
von Carolsfeld unterstützt, mit einer Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit, wie sie nur
dem echten Gelehrte» eigen ist, und von welcher jeder einzelne Artikel des 1t2 Bogen
starken Werks Zeugniß ablegt, nicht nur alle irgend aufzutreibenden gedruckten und
ungedruckten Quellenschriften benutzt, sondern auch jedes einzelne Gemälde einer ge¬
nauen Besichtigung unterzogen und dabei eine große Anzahl höchst dankenswerther
Aufschlüsse über die verschiedensten Gegenstände der Gallerie gewonnen, früher über-
scheue Monogramme entdeckt, bisher in den officiellen Katalogen geführte unrichtige
Gemäldebezcichnungcn berichtigt und überhaupt durch sein Unternehmen die Kunst¬
geschichte in vielfacher Hinsicht wesentlich gefördert. Eine werthvolle Zugabe ist das
dem dritten Band angehängte resumirende Verzeichniß sämmtlicher in der Dresdner
Gallerte vertretner Maler in alphabetischer Reihenfolge, nebst Angabe der Bildernum-
mern und Localitäten, sowie der Zahl des Bandes und der Seite, wo die betreffen¬
den Gemälde beschrieben, beurtheilt und nach ihrer Entstehung besprochen
sind. Wir empfehlen das Wert, das beiläufig im Verhältniß zu dem, was es gibt,
ungewöhnlich wohlfeil ist, angelegentlich und zwar nicht blos dem Kunstkenner und
dem ausübenden Künstler, sondern auch dem Laien, der an der Kunst Interesse
nimmt.
Wir müssen uns eine ausführlichere Besprechung dieses Unternehmens für
später vorbehalten und bemerken hier nur, daß das Bisherige nach Anordnung wie
Ausführung Lob verdient, und baß dieses Conversationslexicon nicht nur mehr
Artikel enthält als das Brockhaus'sche, sondern die betreffenden Gegenstände in der
Regel auch ausführlicher behandelt.
Erdballen von größeren Artikeln einen Aufsatz über Wucher und Wucherge¬
setze, politische Lebensbilder aus Dänemark, eine Biographie des letztverstorbenen
Königs von Preußen, eine Abhandlung über die Sklaverei in den Vereinigten Staa¬
ten und eine Lebensbeschreibung der Schröder-Devrient.
Von dieser sehr gut geschriebenen Revue liegen uns die beiden letzten Hefte des
vorigen Jahrgangs vor, in denen namentlich ein ausführlicher Auszug aus der Bio¬
graphie Spcranstys vom Baron Modest Korff allgemeine Beachtung verdient.
Von dieser durch uns bereits angezeigten reichhaltigen Sammlung schwäbischer
Sitten, Sagen und Volksregcln aus alter und neuerer Zeit sind die fünfte und
sechste Lieferung erschienen-
Immer mehr hat sich in den letzten Jahren die Ueberzeugung Bahn ge¬
brochen, daß zur Sicherung der nationalen Wohlfahrt Deutschlands und zur
Erreichung der uns im politischen Verkehr der Völker gesteckten Ziele - eine
Kriegsflotte unentbehrliche Nothwendigkeit ist. Ebenfalls in weiten Kreisen
verbreitet ist serner das Bewußtsein, daß diese maritime Macht, zu welcher in
der preußischen Flotte der Grund gelegt ist, aller Wahrscheinlichkeit nach ihre
nächste Verwendung gegen Dänemark und für das gute Recht Schleswig-Hol¬
steins finden wird, und daß folglich unsere Bestrebungen zur Förderung der
Flottensachc zunächst dahin gerichtet sein müssen, den Dänen zur See überlegen
zu sein. Um dafür den rechten Maßstab zu gewinnen, haben d. Bl. versucht,
die Stärke dieses Gegners zur Kenntniß zu bringen und dabei gefunden, daß
es keiner übergroßen Anstrengung bedarf, ihm zur See gleichzukommen, ja ihn
in verhältnißmäßig kurzer Zeit unter sich zu sehen. Im Folgenden knüpfen
wir daran den weiteren Versuch, den Werth einer andern nordischen Seemacht
darzulegen, die von den Einen und namentlich den Dänen als natürlicher Ver¬
bündeter Dänemarks bei einem Krieg zwischen diesem Staat und Deutschland
angesehen wird, während andere auf Gründe hin, die sich hören lassen, aber
nur unter gewissen Constellaiivncn stichhaltig sein möchten, sich der Hoffnung
hingeben, daß das Gegentheil eintreten, die betreffende Macht als unser Bun¬
desgenosse sich am Kriege betheiligen werde.
Die Seemacht, die wir meinen, ist Schweden, und unsere Erörterung
soll zeigen, daß die Befürchtungen, die man von einer Einmischung dieses
Staats in einen deutsch-dänischen Seekrieg hegen mag und die man bei bloßer
Berücksichtigung der Zahl der schwedischen Schiffe wirklich hegen könnte, zur
Zeit ebenso wenig begründet sind, als etwaige Hoffnungen auf dessen wirksamen
Beistand in einem solchen Kampfe, und daß wir im Stande sind, in wenigen
Jahren selbst einer vereinigten dänisch-schwedischen Seemacht mit Hoffnung auf
Erfolg die Spitze zu bieten.
Die schwedische Flotte ist, um das gleich von vornherein zu sagen, fast
nur auf dem Papier eine mächtige. In Wirklichkeit ist sie ein den Anforde-
rungen der Zeit nur in sehr wenigen ihrer Glieder entsprechendes, meist aus
alten kaum noch seetüchtigen Segelschiffen bestehendes, schlecht bemanntes und
der neuen Artillerie nicht mehr gewachsenes Institut, und zu der raschen gründlichen
Umgestaltung, deren sie bedarf, um einer preußisch-deutschen Flotte, wie man
sie bei einiger Energie in einigen Jahren herstellen könnte, gefährlich zu sein,
besitzt das verhältnißmäßig arme Schweden nicht die Mittel; diese Umgestaltung
würde daher nur sehr langsam vor sich gehen können.
In der Bewaffnung mit Geschützen ist die preußische Marine, wenn man
nicht auf die Zahl, sondern auf die Wirksamkeit sieht, der schwedischen schon
jetzt überlegen, und von der Bekämpfung eines einzigen „Monitor" oder Mer-
rimac" durch die gesammte Schiffsmacht Schwedens könnte nicht die Rede sein.
Die letztere würde in einem solchen Fall im Laufe eines einzigen Vormittags
versenkt werden.
Ueber den Zustand der schwedischen Seemacht herrscht nicht blos in Deutsch¬
land, sondern in ganz Europa eine Art mysteriösen Dunkels. Nur so viel
weiß man, daß der König von Schweden diese Flotte reorganisiren will, und
daß sie. laut dem Almanac de Gotha die ungeheure Zahl von 897 Kriegsfahr¬
zeugen umfaßt, und eine Bemannung von etwa 30,000 Mann erfordert. Aller¬
dings Zahlen, die bald zu erreichen jedem deutschen Patrioten unmöglich er¬
scheinen muß.
Der Zweck der folgenden Artikel ist, die Verhältnisse darzustellen, wie
sie in Wirklichkeit sind;' vorausschicken müssen wir aber, daß diese Darstel¬
lungen nicht deutsche Beobachtungen und Urtheile wiedergeben sollen, die ja
leicht befangen sein könnten, sondern daß sie die ungeschminkte Wiedergabe der
amtlichen Berichte der im vorigen Jahre niedergesetzten schwedischen Flotten-
Untcrsuchungscommission sowie der Veröffentlichungen sind, welche zwei compe-
tente schwedische Flvttenofsiziere durch den Druck ins Publicum gelangen ließen.
Wir werden uns nun zuerst mit dem Material, nächstdem aber mit dem
noch wichtigeren Personal der Flotte beschäftigen.
Die schwedische Flotte zerfällt in die ..Linienflotte", in die „Schären¬
flotte" (skärgardsflotille) und in die Dampferflotte/) Die erstgenannte Kategorie
besteht aus 8 Linienschiffen, 5 Fregatten (nicht 6, wie im Almanac de Gotha
steht) und einer Anzahl kleiner Schiffe, die wir im Folgenden nur kurz erwähnen
werden. Die Linienschiffe sind bis auf 2 nur kleine Fahrzeuge dieser Art und
im Durchschnitt nur zu 69 Geschützen eingerichtet. Sie liegen sämmtlich in der
befestigten Flottenstation Carlscrona, deren Etablissements, Personal und Ma¬
terial zwei Drittel des ganzen Flottenbudgets, im Jahre 1858 also 2.161.000
Rdr.-rat., beanspruchten. Der Hasen von Carlscrona ist ca. 2 Wochen früher
vom Eise geschlossen und ebenso viel später von demselben frei als die preußi¬
schen Ostseehäfen, wodurch die günstige Operationszeit der schwedischen Linien-
Flotte eigentlich um einen Monat kürzer ist als die der preußischen Ostsee-
Flotte.
Wir beginnen mit Betrachtung der Linienflotte und zwar zunächst mit dem
Linienschiff Carl der Dreizehnte. Kiel und Steven dieses Schiffes wurden im
Jahre 1805 errichtet. Das Fahrzeug ist nach alter Bauart mit Kupferverbolzung
construirt. im Jahre 1819 in See gestellt und erlitt 1837 eine schwere Repa¬
ratur im alten Dock, kleineren Bausälligkeiten wurde bei den Untersuchungen
abgeholfen, wie dies auch bei den übrigen Fahrzeugen geschah. Der Rumpf
erfordert bedeutende Reparatur. Die Artillerie ist complett, und zum Theil
benutzt. Takelwerk und Segel complett, stehendes Tauwerk abgenutzt, laufen¬
des Tauwerk zum Theil abgenutzt, zum Theil neu; Segel theils in gutem Zu¬
stande, theils abgenutzt. Masten und Bugspriet sowie ein Theil der Rund-
Hölzer erfordern Ersatz durch neu». Zimmermannsinventarien complett und
benutzt.
2. Linienschiff Försigtigheten. Kiel und Steven wurden 1798 auf
dem großen Stapel der alten Werft errichtet. Das Fahrzeug, welches mit
Diagonalverbindung versehen, dicht verzimmert und tupfcrverbolzt ist, wurde
1799 in See gestellt, erlitt von 1819—1824 schwere und von 1843—53 an¬
sehnliche Reparatur. Der Rumpf ist gut und steht unter Bedachung, im Dock
No. 1., er ist weder kalfatert noch kupscrverkleidet. Die Verkleidung ist aber
vorhanden. Artillerie complett und in gutem Stande. Takelwerk und Segel
complett, stehendes Tauwerk neu, laufendes Tauwerk zum großem und Segel
zum größten Theile neu. Rundhölzer complett und neu. Zimmermannsinven-
taricn complett und benutzt.
3. Linienschiff Gustaf den Störe. Kiel und Steven wurden 1825 im
neuen Dock Ur. 3 errichtet. Das Schiff ist tupferverbvlzt, mit Diagonalver¬
bindung, dicht verzimmert, wurde 1832 in See gestellt und erlitt leichte Repa¬
ratur 1848, bedeutende 1356. Der Rumpf ist gut und unter Complettirung
im Dock Ur. 4; er ist weder kalfatert noch kupscrverkleidet. Die Ver¬
kleidung ist aber vorhanden. Artillerie complett und in gutem Stande.
Takelwerk und Segel complett, stehendes und laufendes Tauwerk in gutem
Stande und die Segel neu. Ein Theil schwere Rundhölzer erfordert Ersatz
durch neue. Zimmermannsinventarien complett und benutzt.
4. Linienschiff Prius Oscar. Kiel und Steven im neuen Dock Ur. 1
im Jahre 1819 errichtet. Das Schiff ist dichtvcrzimmert mit Diagonalverbindung
und kupferverbolzt, in See gestellt 1830 und erlitt ansehnliche Reparatur von
1848—1852. Der Rumpf, gegenwärtig in diensttauglichem Zustande, erfordert
wahrscheinlich in einigen Jahren eine umfassende Reparatur. Artillerie com¬
plett und benutzt. Takelwerk und Segel complett. stehendes und laufendes Tau¬
werk abgenutzt, von den Segeln ein Theil neu, ein Theil alt und abgenutzt.
Masten und ein Theil schwere Rundhölzer erfordern Ersatz durch neue,
Zimmermannsinventarien complett und etwas benutzt.
5. Linienschiff Skandinavien. Kiel und Steven 1825 im neuen Dock
Ur. 2. errichtet. Das Fahrzeug ist dichtverzimmert und mit Diagvnalverbindung,
auch kupferverbolzt; es wurde I8W in See gestellt, nachdem es 1858 eine an¬
sehnliche Reparatur erlitten hatte. Der Rumpf ist gut, nur ist noch ein Theil
Einrichtungs - und Klarmachungsarbeit darauf zu verwenden; ist nicht kupfcr-
verkleidet, die Perkleidung aber im Vorrath. Artillerie complett mit Ausnahme
der Kanonenschlösser; sonst die Kanonen und Zubehör neu. Takelwerk und
Segel complett, stehendes und laufendes Tauwerk sowie Segel neu. Ein
Theil schwere Rundhölzer fehlt. Zimmermannsinventarien complett.
6. Linienschiff Dristigheten. Kiel und Steven wurden 1785 auf dem
Stapel nach alter Bauart errichtet. Das Fahrzeug ist dichtvcrzimmert, mit
Diagonalverbindung und eisenverbolzt. wurde 1785 in See gestellt, erlitt 179«,
leichte Reparatur. 1805—1806 schwere, ebenso 1823—182«, dann leichte 1842 und
ansehnliche Reparatur 1843 — 1848; 1855 wurde es zum Krankenschiff ein¬
gerichtet. Der Rumpf erfordert Reparatur an der obern Länge des Vorder¬
stevens und wahrscheinlich bald eine weitere umfassende. Artillerie complett,
mehr oder minder abgenutzt. Takelwerk und Segel complett. stehendes Tau¬
werk theils neu, theils alt, laufendes Tauwerk zum größeren Theile neu, Segel
ungebraucht, aber alt. Rundhölzer erfordern zum kleineren Theile Completi-
rung. Zimmermannsinventarien complett.
7. Linienschiff Fäderneslandet. Kiel und Steven 1782 aus dem Stapel
nach alter Bauart errichtet. Das'Fahrzeug, welches dicht verzimmert, mit Dia¬
gonalverbindung versehen und eisenverbolzt ist, wurde 1783 in See gestellt,
erlitt 1794 leichte und 1820 schwere Reparatur, 1827—1830 wurde es umge¬
baut. Rumpf unbrauchbar und zu cassiren. Artillerie complet, aber theilweis
von entrer Construction und abgenutzt. Takelwerk und Segel abgeliefert.
Masten und Rundhölzer unbrauchbar. Zimmermannsinventarien abgeliefert.
8. Linienschiff Manlighetcn. Kiel und Steven im Jahre 1785 nach
alter Bauart auf dem Stapel errichtet. Das Schiff ist eisenverbolzt, wurde
1785 in See gestellt, erlitt 1794 — 1795 schwere Reparatur, 1802 - 1803
und 1820 — 1822 ebenfalls. 1833 — 1834 aber leichte Reparatur. Rumpf
unbrauchbar und zu cassiren. Artillerie. Takelwerk und Segel abgeliefert.
9. Fregatte Dcsirse (50 Kanonen). Kiel und Steven wurden im neuen
Dock Ur. 1. im Jahre 1831 errichtet. Das Fahrzeug ist dichtverzimmert, mit
Diagonalverbindung und kupferverbolzt; es wurde 1843'in See gestellt. Der
Rumpf erfordert ansehnliche Reparatur. Artillerie complett und in gutem
Stande. Takelwerk und Segel complett, sehendes und laufendes Tauwerk so¬
wie Segel abgenutzt. Rundhölzer complett und in gutem Stande; Bugspriet
und Masten nur noch mit Beschlag zu versehen. Zimmerinannsinventarien
complett und benutzt.
10. Fregatte Götheborg (44 Kanonen). Ursprünglich ein Linienschiff,
wurde im Jahre 1834 im Schweiungsraum des neuen Docks zur Fregatte
umgebaut. Dicht verzimmert, mit Diagonalverbindung und knpferverbolzt.
In See gestellt 1839. Der Rumpf bedarf einer ansehnlichen Reparatur. Ar¬
tillerie complett. aber ein Theil derselben von älterer Beschaffenheit. Takel-
werk und Segel complett, stehendes Tauwerk abgenutzt, laufendes Tauwerk
zum größern Theile abgenutzt, Segel theils neu, theils unbrauchbar. Masten
und Rundhölzer zum größten Theil cassirbar. Zimmermannsinventarien
complett.
11. Fregatte Josephine <36 Kanonen). Kiel und Steven 1831 im Wasa-
schuppcn errichtet. Das Schiff ist dichtverzimmert, mit Diagonalverbindung
und kupferverbolzt; es wurde 1834 in See gestellt, erlitt 1852 leichte und
1855—1856 ansehnliche Reparatur. Rumpf in gutem Zustande; liegt im Re¬
parationsdock. Artillerie complett und in gutem Stande. Takelwerk und Segel
complett, stehendes Tauwerk in gutem Zustande, laufendes zum größten Theile
abgenutzt, Segel theils neu, theils abgenutzt. Rundhölzer complett. Zimmer¬
mannsinventarien complett.
12. Fregatte Eugenie (36 Kanonen). Kiel und Steven.wurden auf dem
Stapel des alten Werfts im Jahre 1837 errichtet. Das Schiff ist dichtver¬
zimmert, mit Diagonalverbindung und kupferverbolzt; es wurde 1844 in See
gestellt, 1851 einer leichten und 1860 — 1861 eiuer ansehnlichen Reparatur
unterzogen. Rumpf in gutem Zustande und unter Ausrüstung. Artillerie,
Takelwerk und Segel complett, stehendes und laufendes Tauwerk abgenutzt.
Segel theils schadhaft. Rundhölzer complett. Zimmermannsinventarien complett.
13. Fregatte Norrköping (36 Kanonen). Kiel und Steven wurden im
Jahre 1843 im Wasaschuppen errichtet. Das Schiff ist dichtverzimmert, mit
Diagonalverbindung und kupferverbvlzt; es wurde 1858 in See gestellt.
Rumpf in gutem Zustande., Artillerie, Takelwerk und Segel sowie Rundhölzer
complett und neu. Zimmermannsinventarien complett.
Zur bessern Würdigung der weiter entwickelten Ansichten der Commission
über die Brauchbarkeit der aufgezählten Schiffe müssen wir das Alter der letzteren
kurz zusammenfassen. Es ist demnach das Linienschiff
Gewiß sind das respectable Alter, besonders wenn man bedenkt, daß die
preußische Corvette Amazone noch nicht 20 Jahr zählte, vom vorzüglichsten
Materiale. neu ausgezimmert und mit Diagonalverbindung versehen war, trotz¬
dem aber nachträglich sür nicht seetüchtig erklärt und ihr Verunglücken der
preußischen Admiralität zur Last gelegt werden sollte. Noch muß bemerkt wer¬
den, daß die angeführte Fregatte Norrtöping und eine noch ältere Corvette
Lagerbjälte. im vorigen Sommer, erstere nach den amerikanische», letztere nach
den Mittelmcergewcissern entsendet wurde. Diese Schiffe brauchten etwa acht
Wochen zu ihrer Ausrüstung, dann, im Sunde angelangt, legten sie bei gutem
Winde die kleine Strecke von Kopenhagen bis Helsingör in etwa 24 Stunden
zurück (über welche Langsamkeit sich die dänischen Organe verschiedene Bemer¬
kungen erlaubten), kehrten dann wieder um, weil ihnen der Wind, den Kauf¬
fahrteischiffe zum Auslaufen benutzten, zu stark war, und segelten erst andern
Tags in das Kattegat.
Die Commission ist der Ansicht, daß die Linienschiffe Försigtigheten, Gustaf
den Störe, Prius Oscar und Scandinavien, sowie die Fregatten Josephine,
Cugenie und Norrköping nach bewerkstelligten Klarmachungsarbeiten und nach¬
dem unbedeutenderen Mängeln an ihnen abgeholfen ist, in See gehen können,
die Linienschiffe Carl der Dreizehnte und Dristighcten dagegen, sowie die Fregatten
Desirec und Göthebvrg erst nachdem sie bedeutenden Reparationen unterzogen sind.
Da Schweden nicht von aller Seewehr plötzlich ganz entblößt werden
darf, sei es auch nur aus kürzere Zeit, so ist die Commission der Ansicht, daß
die Ausrangirung^ der Fahrzeuge nach und nach und in der Weise geschehe, daß
sie durch Neubau zeitgemäßer Schiffe wirksam ersetzt werden. Deshalb ist die
Commission nach Erwägung aller Umstände zu dem Resultat gelangt, für
-jedes der angeführten Fahrzeuge ein besonderes Gutachten dahin abzugeben
wie folgt:
Das Linienschiff Carl der Dreizehnte ist, was den Rumpf betrifft, nothdürftig
zu unterhalten, damit es bis aus Weiteres als Kranken-, Casernen-, oder
Außenschiff dienen kann; der Zubehör desselben ist abzuliefern. Die Linien¬
schiffe Försigtigheten, Gustaf den Störe, Prius Oscar und Scandinavien sind
mit Rumpf und Inventarien so lange in diensttauglichem Zustande zu erhal¬
ten, bis dieselben eine ansehnliche Reparation erfordern. Das Linienschiff
Dnstigheten ist nothdürftig soweit zu unterhalten, daß es flott bleibt und auf
der Rhede von Carlscrona als Krankenschiff oder Casernenfahrzeug verwendet
werden kann, doch sind alle seine Ausrüstungsgegenstände abzuliefern. Das
Linienschiff Fäderneslandet ist, was den Rumpf betrifft, nothdürftig zu unter¬
halten, um als Außenschiff Verwendung zu finden. Das Linienschiff Maniig-
heten ist nicht flott zu erhalten, sondern zu verkaufen oder zu zerschlagen. Die
Fregatte Desir6e, in Anbetracht ihrer hervorragenden Eigenschaften als Segel¬
fahrzeug, ist bis auf Weiteres zu unterhalten. Von der Fregatte Götheborg
ist nur der Rumpf nothdürftig zu unterhalten, um bis auf Weiteres als Kran¬
ken-, Casernen- und Außenschiff oder auch als Kohienniederlage benutzt werden
zu können; der Zubehör ist abzuliefern. Die Fregatten Josephine, Eugenie und
Nvrrköping sind mit Rumpf und Inventarien bis aus Weiteres in dienstfä¬
higem Zustande zu unterhalten.
Die zur Ermöglichung der oben gewünschten Maßregeln nöthigen „jähr¬
lichen" Unterhaltungskosten der Kriegsschiffe hat die Commission für Rumpf
und Zimmcrmannsinventarien, sowie,für Artillerie und Takelage besonders ab¬
geschätzt. , ^,
Die Unterhaltungskosten des Rumpfes eines Fahrzeuges sind dabei auf
die praktischen Erfahrungen gegründet, welche man in den letzten 20—30 Jah¬
ren machte, also gewissermaßen Durchschnittssummen*); die Kosten für Artillerie
und Takelungsinvcntarien sowohl in der Voraussetzung der Aufbewahrung in
den Depots als der ununterbrochenen Dienstleistung konnten nur nach den von
der Werstverwaltung aufgestellten Grundsätzen abgeschätzt werden. Die Un¬
gleichheit der Untcrhaltungssummen hat ihre Ursache theils in der Größe, in dem
Alter, in dem größeren oder geringeren Werthe des Fahrzeugs, theils auch, be¬
sonders bei den kleineren Fregatten, in der häufigeren Benutzung zu effektiven
Seedienste.
Im Falle die genannten Fahrzeuge verkauft oder zerschlagen werden, würde
nach Schätzung der Commission du annähernde Werth der Materialien, wie
solcher durch Verkauf oder Wiederverwendung in der königlichen Marine sich
stellen könnte und so gut er sich „aus officiellen Ackerstücken und Angaben er¬
mitteln läßt," folgender sein:
1. Für das Linienschiff Carl der Dreizehnte, 205,904, für das Linienschiff
Försigtigheten 244,372, für das Linienschiff Prius Oscar 199.255, für das
Linienschiff Gustaf den Störe 200,090, für das Linienschiff Scandinavien
239,109, für das Linienschiff Dristigheten 129,327, sür das Linienschiff Fäder-
neslandet 55,325, für das Linienschiff Manligheten 13,598, für die Fregatte
Desir6e 210.724. für die Fregatte Götheborg 167,945, für die Fregatte Jo¬
sephine 129,761. für die Fregatte Eugenie 121.661 und sür die Fregatte Norr¬
köping 164,433 Rdlr. rat.
Diesen amtlichen Werth-Angaben gegenüber kann die Commission doch
nicht umhin, ihre eigene Meinung dahin aussprechen, daß bei einem Verkauf
genannter Fahrzeuge sich jedenfalls im Durchschnitt nur erzielen ließen:
Außerdem gibt der Präses der Commission, O. Nordenskjöld. eine Ver¬
wahrung dahin ab, daß er die Meinung der Mehrheit der Commission insofern
nicht theile, als er sich mit der angerathenen Bestimmung der Linienschiffe
Carl der Dreizehnte und Dristigheten und der Fregatte Götheborg nicht ein¬
verstanden erklären könne. Seiner Ansicht nach könnten dieselben noch seetüch¬
tig gemacht werden, ja die Götheborg und die Desiree verdienten noch mit
einer Auxiliardampfmaschine und Schraube versehen zu werden. Auch die Zer¬
schlagung des Linienschiffes Manligheten scheint ihm nicht geboten.
Diese Taxen sind augenscheinlich zu günstig abgefaßt, wozu wohl die Ver¬
anlassung war, daß die Commission weniger an einen Verkauf durch öffentliche
Auction, als an eine sofortige Wiederbenutzung des gewonnenen Materials für
die Flotte dachte. Wie man indeß die Trümmer 40—80jähriger Schiffe zum
Neubau oder auch nur zur Reparatur anderer Fahrzeuge verwenden will, ist
freilich ein ebenso großes Räthsel wie das Vorhandensein so uralter Kriegsfahr¬
zeuge überhaupt; es läßt aber einen, keineswegs günstigen, Schluß auf die
Güte der neu zu schaffenden resp, der zu erhaltenen Fahrzeuge thun. Ganz
undenkbar ist, daß Industrielle oder Kaufleute bei einer Auction die ausgewor¬
fenen Werthe bezahlen werden, man verrechnet sich dabei gewöhnlich sehr. So
gab die dänische Admiralität im vorigen Jahre bei Gelegenheit der mißglückter
Auction des Barkschiffes' „Saga" an, dieses Fahrzeug hätte 120,000 Bdlr. ge¬
kostet und dürfe nicht unter 50.000 Bdlr. weggeben. Das höchste Gebot
blieb aber nur 18,000 Bdlr,, und doch ist die Saga erst 12 Jahr alt und wie alle
dänischen Schiffe aus gutem Materiale erbaut, wogegen die schwedischen nur
aus schlechtem Material bestehen, wie solches schon aus den angegebenen Preisen er¬
sichtlich ist, die doch, was die Rumpfe angeht, nicht zu tief unter 80°/« des An¬
schaffungspreises sein sollen. Jetzt scheint man auf besseres Material Bedacht
nehmen zu wollen, wenigstens ließ der König im vergangenen Jahre 200,000
Cubikfuß Eichenholz aus Deutschland verschreiben. Ob sich dies aber noch öfters
wiederholt, muß abgewartet werden; die Commission scheint es nicht für nöthig
zu halten.
Das also wäre die imposante schwedische Linienflotte, welche vor 14 Jahren
beinahe im Verein mit der dänischen gegen uns operirt hätte, welche vielleicht
in diesem oder im nächsten Jahre gegen unsere Häfen und unsere junge Flotte
auftreten, möglicherweise aber auch mit uns verbündet operiren wird. Schwe¬
dische Autoritäten erklären diese Flotte für see- und triegsuntauglich, sie halten
sie nicht einmal für gut genug, um Lazarett)- oder Casernenschiffe abzugeben.
Nun gibt es zwar noch 4 Segel-Corvetten. (Lagerbjälke. Najaden, af Chavman
und Tarramas), einige Briggs und eine Anzahl Schooner. über deren Zustand
die Commission noch nicht ihr Gutachten abgegeben hat; doch ist es in Schweden
Jedermann bekannt, daß es mit diesen Fahrzeugen ebenso oder noch schlechter steht
als mit den besprochnen. Sie geben der Linienflotte an Alter nichts nach, sind,
weil nicht so große Werthe darstellend, mit weniger Sorgfalt gebaut und haben viel
mehr gelitten, da sie häufiger in Dienst gestellt wurden, besonders die 4 Korvetten.
Wie diese morschen Segler hartes Wetter oder den Stoß ihrer eignen, freilich
nicht schweren und nicht gezogenen Geschütze beim Feuern aushalten sollen, ist
an sich schon unbegreifliche sie aber dem Feuer gezogener schwerer Geschütze aus¬
zusetzen, wäre wohl das Unbegreiflichste, was eine Admiralität thun könnte.
Wir haben nun noch die schwedische Schärenflotte zu betrachten. Dieselbe
verdankt ihre Entstehung dem genialen Ehrensvärd und dem kenntnißreichen
Chapman. Ursprünglich hieß dieselbe die „Flotte der Armee", da sie haupt¬
sächlich bestimmt war, die rechte Flanke des schwedischen Heeres in Finnland
zu decken, während die Linienflotte das offene Meer hielt. Finnland ging ver¬
loren, und bei dem Verrathe Sveaborgs siel auch der größte Theil der Schären¬
slotte in Rußlands Hände. Die Fahrzeuge, welche sich retteten, bildeten, durch
neue vermehrt und vielfach verbessert, den Stamm der gegenwärtigen Schären¬
flotte, die in Stockholm auf dem Schiffsholm stationirt ist. Diese Fahrzeuge
sind flachgehend, werden durch Ruder bewegt und führen vorn oder hin¬
ten ein Geschütz. Die Bemannung bilden einige seepflichtige Bauern und
Artilleristen für das Geschütz und gewöhnliche Soldaten oder Wehrmänner
zum Rudern. Die Offiziere sind seit 1824 Flottenofsiziere. Die Ausgabe der
Waffe ist auch heute noch Unterstützung des Landesheeres bei Vertheidigung
der Küsten und Häfen. Die offene See können jene Fahrzeuge nicht befahren.
Die von der Commission angestellten Untersuchungen der Schärenslotte
haben ein Resultat ergeben, welches wir in den Hauptsachen wörtlich mittheilen.
Von den 154 Stück bewaffneten Ruderfahrzeugen, welche sich in der Stock¬
holmer Flottenstation befinden, sind litt in so gutem Zustande, daß sie keiner
andern Reparatur bedürfen, als da und dort das Einsetzen einer Bodenblante,
welche zur Ermöglichung genauerer Untersuchung aus Begehren der Commission
ausgehauen wurde. Doch haben diese Fahrzeuge ein mittleres Alter von
über 30 Jahr, und daß ihr Zustand trotzdem ein guter (?) zu nennen ist, ver¬
dankt man theils der Fürsorge, die bei ihrer Aufbewahrung beobachtet ist,
theils dem haushälterischer System, nur die älteren und schlechteren Fahrzeuge
zu Uebungszwecken herzugeben, die neuen und ausgebesserten aber in den wohl-
unterhaltener Fahrzeugschuppen zu belassen.
Die übrigen 36 Stück Fahrzeuge bedürfen hingegen einer größeren oder
geringeren Reparatur; 9 Stück der älteren von diesen sind so schlecht, daß
sie keine Reparatur verdienen, da diese 50 — 60°/o ihres Anschaffungswerthes
in Anspruch nehmen würde.
Die Inventarien der Fahrzeuge sind complett und vortrefflich geordnet und
aufbewahrt'; einigen unbedeutenden Schäden an kleineren Rundhölzern ist ohne
nennenswerthe Kosten abzuhelfen.
Um dem wirklichen Belaufe der nöthigen Untcrhaltungssummen der Fahr¬
zeuge möglichst nahe zu kommen, hat die Commission dieselben ihrem Alter
und ihrer Beschaffenheit entsprechend in drei Kategorien getheilt und die
Unterhaltungskosten gewissen Procenten der gegenwärtigen Neubaukosten ent¬
sprechend dargestellt. Demnach erforderten:
69 Stück neue Fahrzeuge oder solche, die nie in Se egestellt wurden, 2°/°
Unterhaltungskosten;
47 Stück Fahrzeuge,*) die erst kürzlich reparirt. also eine Zusammensetzung
aus Altem und Neuem sind, 4"/<- Unterhaltungskosten;
29 Stück Fahrzeuge, die zwar brauchbar sind, aber nach wenigen Jahren
Ausbesserungen erfordern, 8°/o Unterhaltungskosten.
Diese Unterhaltungskosten, 3,91°/» im Durchschnitt, beziehen sich nur aus
den Rumpf der betreffenden Fahrzeuge, deren Herstellungswerth folgendermaßen
angesetzt ist:
von welcher Summe 3,9l°/o — 72,177 Rdr. während der nächsten Jahre zum
Unterhalt der Rumpfe jener Fahrzeuge erforderlich sind.
Was die Inventarien angeht, so ist die Commission der Ansicht, daß
diese durch Alter nicht so leiden, wie Schiffsrümpse, deshalb würden 2°/° des
Anschaffungswcrthes als Unterhaltungskosten genügen. Da Gewehre. Riemen¬
zeugstücke, Kojen, Cisternen und Proviantgesäße nicht mitgerechnet sind, betragen
die Anschaffungswerthe der Inventarien 794,032 Rdr., wovon 2°/o —
15.880 Rdr.
Die Unterhaltungskosten der Rumpfe und Inventarien betragen also zu¬
sammen 88,057 Rdr., wofür Reparaturen und Neubauten (im Ersatzwege) zu
beschaffen sind. Hierzu kommen aber noch 15,000 Rdr., welche die Commission
für nöthig hält, um die tägliche AbWartung der Fahrzeuge und Inventarien,
wie Lüftung, Schneeschaufcln bei den Schuppen und Vorratshäusern, Erneue¬
rung und Ausbesserung der Bettungen der Fahrzeuge, Aufstoßen. Reinhaltung
u. s. w. vornehmen zu können. Die Gesammtuntcrhaltungstosten für die
brauchbaren 145 Fahrzeuge belaufen sich also auf 103.057 Rdr.
Die im Gothenburger Depot befindlichen 12 Kanonenschaluppen und 14
Kanonenjvllen hat die Commission nicht besichtigt, da sie dies nicht für noth¬
wendig hielt. Sie verweist kurz auf das Flotten-Manual. Wahrscheinlich wer¬
den die Verhältnisse der Stockholmer Station auf jene ebenfalls zutreffend sein.
Es muß auch bei diesen Mittheilungen der Commission die vorgefaßte gün¬
stige Meinung derselben auffallen, welche sie von der Brauchbarkeit des Mate¬
rials hegt, das doch ein „Mittelalter" von über 30 Jahren hat. Außerdem
läßt der angegebene auffallend geringe Herstellungspreis der Fahrzeuge keinen
günstigen Schluß auf deren Material und Ausstattung zu. Die preußischen
Ruderkanonenjollcn haben ziemlich das Doppelte gekostet und sind erst 12—
14 Jahre alt. Weil man diese Art Fahrzeuge nicht für praktisch hält, glaui't
Preußen an 40 Stück mehr wie genug zu haben.
Vor etwa 200 Jahren, zur Zeit König >.Carl des Elster, war Schweden
noch ein Grobstaat, dessen eroberte oder erworbene Provinzen einen größeren
Flächenraum einnahmen als das Mutterland. Die Ostsee war so zu sagen ein
schwedischer Binnensee, und diesen zum Schutze der ausgedehnten Provinzen zu
beherrschen, erforderte eine Kriegsflotte, die in keinem Verhältnisse zur Große,
zur Volkszahl und zum Wohlstande jenes Mutterlandes stand. Diese gewal¬
tige Flotte konnte aber nicht mit Matrosen bemannt werden; denn Schweden
hatte deren nicht genug, und überdies wäre ihre Avlöhnung zu kostspielig ge¬
worden, ^'le Provinzen wurden aber mehr als Schutzlänbcr, wie als Zins¬
länder behandelt, sie genossen alle Vortheile des schwedischen Schutzes ohne
dafür zu schweren Steuern in Geld oder Mannschaft herangezogen zu werden.
Bei dieser Lage der Dinge erließ Carl der Elfte aus königlicher Machtvollkom¬
menheit den Befehl, daß die Landbevölkerung der Küstenprovinzen zum See¬
kriegsdienste herangezogen werden solle, und so entstand das System des „Ma-
trvsenstellens", welches bis heule die Grundbedingung bei der Bemannung
der schwedischen Flotte geblieben ist. Es war und ist dies ein unnatürliches
Princip; nur durch die Nothwendigkeit und die Umstände geboten, hat es wenig
Segen für Schweden gehübt.
Die Schweden haben tapfer und oft glücklich zur See gekämpft; wo sie
aber mit wirklichen Seevölkern zu thun hatten, wie z. B. mit den Dänen, er¬
rangen sie nur selten Erfolge. Den damaligen russischen Flotten waren sie
indessen gewachsen und konnten ihnen vier blutige Treffen liefern, die aber doch
nicht so hartnäckig fortgesetzt wurden, wie die Seeschlachten zwischen Engländern
und Holländern oder Franzosen. Ja der blutige Sieg bei Svensksund war,
so wunderlich dies heute klingt, mehr ein Sieg des Landheeres „zur See" als
der Flottenmannschast; denn die Schiffe waren zum großen Theil mit Regimen¬
tern der Armee besetzt, und das Commando führten Offiziere der Schärenflotte.
Durch Subsidien war es 1788 noch einmal ermöglicht, während dreier
Jahre 20 Linienschiffe und Fregatten in See zu halten, aber von da ab ver¬
minderte sich das Material der Flotte mit jedem Jahre, und durch das System
der Bemannung wurde eine Landbevölkerung decimirt, welche ein Landheer mit
Kerntruppen hätte versehen können. Die unglücklichen, plumpen, holzschuhbe-
kleideten Jünglinge, die wider Willen ihrer ländlichen Beschäftigung entrissen
wurden, nun plötzlich hohe Mastbäume erklettern, in schwankendem Tauwerk
arbeiten und riesige Kanonen laden und abfeuern sollten, erlagen in schrecken¬
erregender Zahl den ungewohnten Strapazen, den Mißhandlungen harter Lor¬
gesetzten und der schlechten Verpflegung, Die schwedischen Kriegsschiffe jener Zeit,
welche erst 1814 schloß, waren «.besonders 1608) rin vollen Sinne des Wortes
schwimmende Lazarethe.
Und doch herrscht noch heute in Schweben dasselbe System der Matrosen¬
stellung. Freilich ist seitdem Vieles anders geworben, die Verpflegung ist besser,
die Behandlung humaner und die betreffende Landbevölkerung mit dem Ge¬
danken ihres Seemannsberuses etwas vertrauter, obwohl sie heute noch eben
so ungeschickt, so ungewohnt und ohne Interesse für denselben ist. Schwedische
Autoritäten behaupten daher, daß Schweden auch heute nicht, und selbst nicht
mit Hülse von Subsidien, un Stande ist. eine seediensttaugliche Bemannung
von 10—12000 Mann zu stellen, so lange das System bleibt.
Es tann nicht unsere Ausgabe sein, all' die Reformvorschläge. die gemacht
sind, zu beleuchten. Nur das sei erwähnt, daß diese fast alle daraus hinaus
taufen, eine solche Reduction des Flvttenmaterials herbeizuführen, daß eine Be¬
mannung von circa 6000 Mann, aber nur aus Berufsseeleuten bestehend, für
dasselbe genügend ist.
Gegenwärtig besteht das Personal der schwedischen Flotte aus 5700 be¬
soldeten iinckLlts,) Bootsleuten, 800 Mann Marinesvldaten, 200 Kanonieren und
einem Corps wirklicher Matrosen in der Stärke von 400 Mann. Außerdem ver¬
fügt die Flotte, aber nur in Kriegszeiten, über 1500 Rotcbovtsleute (rotvrmßs-
inäir) d. h. Bauern, welche verpflichtet sind einen Bootsmann auf ihre Kosten zu stellen
oder selbst zu dienen; dann über die in 5 Klassen eingetheilte Seewehr, etwa
22,000 Mann, aus Küstenbewohnern, ohne Unterschied des Berufs, bestehend.
Zu der Seewehr gehören auch noch cuca 6000 Handelsmatrvsen. welche sich
im vorgeschriebenen Wehrpflicht-Alter befinden und im Seemannshause einge¬
schrieben sind. Zusammen nominell 33,000 Mann.
Das Offiziercorps besteht aus 1 Admiral. 2 Viceadmiralcn, 6 Cvntre-Admi-
ralen, 24 Commandeur-Capitains, 16 Fregatten-Capitains, 98 Ober- und 31
Unterlieulcnants, zusammen 228 Mann.
Der Werth dieses Offiziercorps läßt sich erst während eines Seekrieges
bestimmen. Daß die höhern Chargen sehr fest an dem Althergebrachten, meist
sehr Unzweckmäßigen, hängen, ist schon gesagt worden.
Wie es zur Zeit mit dem übrigen Flvttenpersonale steht, darüber gibt,
unter mehreren Broschüren, eine in Stockholm im vorigen Jahre erschienene,
betitelt: „Unsere Zeit und unsere Seewehr", die einen Seeoffizier zum Ver¬
sasser hat, den besten Aufschluß. Dieselbe veranlaßte eine heftige Polemik in
den öffentlichen Blättern, doch vermochten die Anhänger der alten Schule die
angeführten Thatsachen und Ansichten des Neuerers weder zu widerlegen noch
abzuschwächen.
Wir geben daher einen Auszug aus der interessanten Schrift.
Das 400 Mann starke Matrosencorps, welches sich der Staat aus Schiffs¬
jungen erzieht (von denen fortwährend 280 unterkalten werden) bildet den
einzigen seetauglichen Stamm, den die Flotte besitzt, und aus dem die Decks-
offizicre, nämlich Steuerleute, Constabler (Geschützcommandeure) und Schiffer
ergänzt werden. Dieses kleine unbedeutende Corps, gegenwärtig in Carlscrona
stationirt, ist die Seele der ganzen Seewehr. Diese Leute verrichten jede See¬
mannsarbeit und sind mit allen Zweigen des Seedienstes vertraut, sie erhalten
nicht blos die Schiffe in tauglichem Zustand, sondern verfertigen sogar dieselben.
Sie sind Schiffbauer, Segelnäher, Repschläger etc. Liegt ein neues Schiff auf
der Rhede, so waren es diese Matrosen, welche die Takelung besorgten vom
kleinsten Knoten bis zum schwer gebundenen Wemt oder Tauspliß. Ohne sie
könnte das Schiff nicht aufgetakelt werden, nicht manövriren und nickt in See
gehen. Wird ein Befehl gegeben, so versteht ihn nur der Matrose und ihm
liegt die Ausführung desselben ob. Er ruft die ihm zugetheilten Bootsleute
herbei, steckt ihnen das Tauende, welches gehalt werden soll, in die Hand, oder
zeigt ihnen, was sie thun sollen, manchmal gelassen, öfter ungeduldig und hef¬
tig. Dieser seekundige Theil der Schiffsmannschaft, ohne den das Fahrzeug
gar nicht zu regieren wäre, schwankt zwischen V», V«. ja V,° der Gesammt-
stärke der Besatzung, die aus unkundigen Bootsleuten oder Marinesoldaten
besteht.
Diese Matrosen sind aber auch seit ihrem Is. Jahr im Seedienste, während
die Bootsleute oft erst im 30. Jahr'dazu herangezogen werden und während
ihrer ganzen Dienstzeit selten mehr als ein Jahr zur See sind. Der einzige
Erfolg der auf ihre Ausbildung verwandten Mühe ist, daß sie gedanken¬
los, aber gutwillig simple mechanische Arbeiten, unter Aufsicht der Unter¬
befehlshaber verrichten können. Von Weitem betrachtet nimmt sich ein von
ihnen ausgeführtes alltägliches Manöver fast so exact aus. wie es auf Kriegs¬
schiffen anderer Nationen erscheint; fällt aber irgend etwas Außergewöhnliches
vor, dann verlieren sie alle Besinnung und erlahmen, kurzum sind Koi-s ac
e<zmkg,t aus bloßer Unkunde.
Als das schwedische Geschwader 1848 aus der Rhede von Malmö lag.
wünschte der Chef der Fregatte Göthevorg im 480 Mann Besatzung), daß ihm
die Matrosen des Geschwaders geliehen würden, um die Warten seiner Fre¬
gatte in tauglichen Stand zu setzen, was wegen Mangels an Zeit bei der Aus¬
rüstung in Carlscrona nicht geschehen konnte. Das Geschwader bestand außer
der Göthcborg aus den Fregatten Desiree. Eugenie und Josephine. sowie fünf
kleineren Fahrzeugen. Die Fregatten zählten im Ganzen 1660 Mann Besatzung,
und von diesen waren nur 84. schreibe vierundachtzig Matrosen oder Halbbe¬
fahrene; bei den übrigen Schiffen waltete dasselbe Verhältniß ob.*)
Die Fregatte Josephine. auf welcher sich der Verfasser unserer Broschüre
befand, gab ihre 18 Matrosen, mehr hatte sie nicht, ab. Während deren Ab¬
wesenheit kam ein dänisches Lootsenbovt heran, um an der Fregatte beizulegen.
Es wehte ein scharfer Wind, die See brach sich kurz, und dazu war eine starke
Strömung. Unter solchen Umständen ist es äußerst nöthig, dem nahenden
Boote ein Tau zuzuwerfen, damit es beim Anlegen nicht an der Schiffsseite
zerschellt. Man wirft dieses Tau gewöhnlich.aus dem Fockrust, und selbst diese
simple Handlungverstehtunter 50 schwedischen Bootsleuten kaum einer auszuführen.
Es war grade gegen Ende der Mittagsstunde; die Unteroffiziere waren noch
unter Deck, die Besatzung hingegen hatte schon abgegessen, und über 100 Mann
derselben befanden sich auf dem Verdeck. Der wachthabende Offizier gab mit
lauter Stimme das betreffende Commando, ein Tau aus dem Fockrust zu wer¬
fen, doch keiner der Leute rührte sich, obschon die Menge willig aussah. Der
Offizier ertheilte noch einmal den Befehl und zwar mit lauterer Stimme, doch
ohne Erfolg. Da sprang er auf ein Geschütz und rief: „Ist einer unter Euch
allen, der da weiß was ein Tau werfen bedeutet, dann schnell in den Fockrust.
gemacht!" Die Leute stierten den Offizier an, blickten sich sehnsüchtig um, als
ob sie aus der Luft Verständniß baben wollten, im Uebrigen rührten sie sich
aber nicht. Da sprang der Offizier zur Steuerbords-Fallrepstreppe, faßte dort
eine Leine und warf diese so glücklich, daß die Lootsen im Boote dieselbe er¬
faßten, doch fast wäre es zu spät gewesen; denn das Boot war schon weit
nach hinten getrieben und hatte sich mit seinem Mast in das überhängende
Tauwerk der Fregatte verwickelt, so daß. es nahe am Kentern war. Ein
schwedischer Offizier leistete 1849 aus der dänischen Fregatte Dienst, welche
Swinemünde blockirte. Er konnte seines Erstaunens nie Herr werden, wenn
er sah, wie die dänischen Matrosen selbst bei hartem Wetter Boote in See
ließen und Prisen jagten. Ein zweimal abgefaßtes Schiff wurde mit 8—10
Matrosen besetzt und nach Kopenhagen geschickt, daher kam es, daß oft ca. 60
Mann abwesend waren, und doch erlitt der Dienst dadurch keine Störung.
Die Mannschaft bestand aber auch nur aus gedienten Matrosen und Fischern,
die den Seedienst verstanden und liebten. Käme eine schwedische Fregatte in
dieselbe Lage, so würde sie mit ihrer ungeschickten Besatzung — nach jenes
Offiziers Ansicht — eine traurige Rolle spielen, wohl eher die Boote mit der
Mannschaft verlieren, als Prisen aufbringen; und wenn ihr Letzteres auch
glückte, so genügte die Abwesenheit von 6—8 Prisenbesatzungen, Um sie außer
Manövrirfähigkeit zu setzen!
Wenn ein Fremder in Friedenszeiten ein ausgerüstetes schwedisches Fahr¬
zeug betritt, so t'ann er sich durch das, was er sieht, schwer einen Begriff von
der Untauglichkeit der Mannschaft machen. Das Schiff wird spiegelblank und
sauber sein, die Mannschaft ruhig, wohlgekleidet und gesund, auch ein ausge¬
führtes Geschütz- oder Handwaffen-Exercitium, oder eins mit Segeln und Rund¬
hölzern, wird ihm ganz vortrefflich erscheinen, obwohl es ihm besonders bei dem
letzteren auffallen muß, daß V° oder V° der Leute zwar willig, aber in einer
Weise arbeiten, daß man sieht, sie wissen nicht, was sie thun oder warum sie
es thun. Unter den Bootsleuten wird er fast nur große und starke Männer,
aber wenig bewegliche oder gewandte sehen; ruhig und gleichgiltig stehen sie
da, wo matt sie hingestellt hat. Vielleicht sieht der Besuchet auch einen vier¬
zehnjährigen Schlingel, den Schiffsjungen, der sich unbemerkt glaubt und zum
Zeitvertreib einem doppelt so alten Bootsmann auf die Zehen tritt oder ihn
nasenstübert, während dieser sich verlegen und ängstlich dreht und nicht weiß,
wie er sich seinem kleinen Plagegeist entziehen soll. So behandelt ein Schiffs¬
junge einen Bootsmann und warum? Weil der Bootsmann von dem Augen¬
blicke an, in welch'em er die Planken betrat, alles Selbstbewußtsein Und Ver¬
trauen in seine Kraft und seinen Verstand verloren hat! Er befindet sich in
einem unnatürlichen Zustande und auf einem ihm fremden Elemente.
Wird der Befehl gegeben, in die Takelung hinauf zu klettern, so springen
Matrosen und Halbbefahrene um die Wette, der Bootsmann hingegen setzt zag¬
haft einen Fuß vor den andern, kriecht langsam hinauf, und seine ganze Sorge
ist darauf gerichtet, sich festzuhalten, um nicht zu fallen. Zu Verrichtungen in
der Takelung, die Gewandtheit und Selbstvertrauen erfordern, kann er daher
auch gar nicht verwandt werden. Matrosen und Halbbefahrene müssen dieselben
übernehmen, da aber deren Zahl so gering ist, muß sich das M,rzeug mehr auf
sein gutes Glück als auf seine Mannschaft verlassen.
Unter fünfzig.Bootsleuten kann rann einer schwimmen, und unter zwanziger
geht höchstens einer freiwillig in's Wasser, um zu baden. An sehr heißen Tagen
wird nämlich längs der Schiffsseite ein Segel einige Fuß tief unterm Wasser¬
spiegel ausgespannt, und ein paar Boote mit tüchtigen Schwimmern halten da¬
bei, um Jeden aufzufischen, der sich etwa aus diesem improvisirten Bassin ver¬
irren sollte, aber es bedarf selbst bei der größten Hitze eines ernsten Befehls,
um die Bootsleute in's Wasser zu treiben, während Matrosen und Schiffsjungen
nur auf die Erlaubniß warten, um sich sofort kopfüber in's Wasser zu stürzen.
Da dem Bootsmann sein Beruf so durchaus fremd ist, kümmert er sich
auch um weiter nichts, als wozu er gezwungen wird. So kann er selten die
bekanntesten Flaggen von einander unterscheiden, ebenso wenig eine Art Fahr-
zeug von einer andern, z. B, eine Fregatte von einer Corvette. Auch die See¬
mannsfreuden an Festtagen bringen ihn nicht aus seiner Apathie; er sieht dem
Tanzen und Springen der Matrosen zu, ohne sich zu betheiligen. Seine Ge¬
danken sind in der Heimath bei Ackerbau und Viehzucht. Dabei läßt er sich
aber kein Mißvergnügen merken, er erträgt harte, ja grausame Behandlung mit
der größten Ruhe, ist willig im Dienst und verrichtet die schwerste Arbeit,
wenn zu ihr nur Körperkräfte nöthig sind, mit unermüdlicher Ausdauer.
In der Flottenstation Carlscrona werden fortwährend 800 Bootsleute ge¬
halten, um die dort nöthigen Arbeiten zu verrichten. Da müssen sie Steine
karren, graben, Balken schleppen, Zimmermanns-, Maurer- und Schmiedearbeit
verrichten, oder in den Werkstätten Handlangerdienste thun. Sieht man die
Leute bei diesen unseemännischen Verrichtungen, so kann man sich schwer über¬
zeugen, daß sie der Stamm der schwedischen Kriegsflotte sein sollen, die im
Fall eines Krieges durch Seetüchtigkeit die Mängel der eintretenden Seewehr
verdeckt! Unter den 4000 Bootsleuten, welche der Station überhaupt zugetheilt
sind, ist kein einziger, der den Namen vollkommner Seemann verdient, und nicht
1000 besitzen eine so mittelmäßige Uebung und Ausbildung, wie sie vom ge¬
wöhnlichsten Mann auf einer Flotte verlangt werden.
Dem Staate kosten die Bootsleute sehr wenig; denn ein ganzes Jahr Löh¬
nung mit Portionskosten beträgt etwas über 200 Rdr.-rat. (ca. 80 Thaler);
doch muß der Notehalter, dessen Stellvertreter der Bootsmann ist, dazu außer¬
dem etwa 130 Mr.-rat (ca. SO Thlr.) bezahlen. Zieht man aber den geringen
Nutzen dieser Leute in Betracht, dann kommen sie dem Lande noch viel zu
theuer zu stehen.
Das Matrosencorps wird übrigens auch unbegreiflich schlecht bezahlt.
Außer 2 Pfund Brod täglich und jährlicher Bekleidung zum Werthe ,von 60
Rdr.-rat sowie jährlich 12 Rdr.-rat Einquartierungsgeld, erhalten 100 per
Mann täglich 75 Ocre (100 Ocre ^- 1 Rdr.), 100 per Mann täglich 65 Ocre,
200 Halbbesahrene per Mann täglich 39 Ocre. Mit 75 Ocre täglich kann ein
sparsamer Mann allenfalls sich durchschleppen; wie aber ein erwachsener Mensch
bei schwerer zehnstündiger Arbeit mit 39 Ocre auskommt, ist ein noch ungelöstes
Räthsel. Ein brauchbarer Matrose der Handelsflotte würde nimmermehr unter
2—3 Rdr. Löhnung täglich dieselbe Arbeit verrichten.
Außer dem bedeutenderen Kostenpreis gibt es noch einen Umstand, welcher
der Reorganisation der Flotte sehr hinderlich sein wird. Dies ist der Abscheu,
den die schwedischen Handelsmatrosen gegen den Dienst auf schwedischen Kriegs¬
schiffen hegen. Diese Fahrzeuge sind ihnen gleichbedeutend mit Zuchthaus,
während sie auf vielen fremden Kriegsmarinen gerne Dienste nehmen. Im
Jahre 1848, als das in Carlscrona ausgerüstete Geschwader Aussicht hatte in
See zu stechen, kam man zu der Ueberzeugung, daß es unmöglich sei, die Fahr-
zeuge mit der beschriebenen vorhandenen Mannschaft zu Handthieren. Es wurde
also Ordre ertheilt, eine gewisse Anzahl Handelsmatrosen zu miethen und auf
den Fahrzeugen zu vertheilen. Aber was nützte dies? Kein wahrhaft brauch¬
barer Seemann ließ sich anwerben, und V-° der Angeworbenen bildeten so zu sagen
den Abschaum, der auf Handelsfahrzeugen gar nicht mehr angenommen wird. Es
entstand auch in der Flotte eine solche Entrüstung darüber, mit derartigen Leu¬
ten zusammen zu dienen, daß man trotz der Disciplin oft den Ausspruch hörte:
Es ist eine Schande, daß die Flotte solche Subjecte annimmt. Uebrigens waren
viele dieser Leute gar nicht Matrosen, sondern in ihrem Beruf verkommne Per¬
sonen, wie Kellner, Billardmarqueure, Schuster, Schneider :c.
Es wird jedenfalls schwer werden, den Widerwillen der Handelsmatrosen
gegen die Kriegsflotte zu brecken, vielleicht eben so schwer als die Bekehrung
der Herren von der alten Schule zu dem zeitgemäßeren System. Unter allen
Umständen wird beides viel Zeit erfordern; bis zur durchgeführten Reorganisa¬
tion hat aber die schwedische Kriegsflotte einen sehr zweifelhaften Werth.
In einem frühern Aufsatz d. Bl. (Ur. 10. d. Jahrg.) wurde darauf auf¬
merksam gemacht, wie wenig verläßlich die meisten der Touristen sind, aus de-,
ren Berichten das Publicum seine Kenntniß von Rußland schöpft, und wie sehr
infolge dessen unsre Vorstellungen von den dortigen Zuständen der Berichtigung
bedürfen. Indem wir in den nachstehenden Abschnitten den Versuch machen,
einige Hauptpunkte in das rechte Licht zu stellen, folgen wir vorzüglich dem
soeven erschienenen Werke „1d<z Kussians s.t Horns" von Sutherland Ed¬
wards, welches sich zu diesem Zweck aus mehren Gründen empfiehlt. Der
Verfasser war, mit der russischen Sprache vertraut, hinreichend lange Zeit
in Petersburg und Moskau, um gut beobachten zu können; und er hat in meh¬
ren Beziehungen wirklich gut beobachtet. Er ist in die verschiedensten Lebens¬
kreise eingeführt worden. Er schildert endlich vorwiegend das Rußland, wel¬
ches uns jetzt am meisten interessirt, welches zu unsern Tagesfragen gehört, das
„neue Rußland" Alexanders des Zweiten. Da er indeß Einiges zu günstig
beurtheilt und überhaupt als Engländer mit andern Augen sieht, als w,ir, so
werden wir uns erlauben müssen, unsre Auszüge gewissermaßen doppelt zu
übersetzen, nicht blos aus der fremden Sprache, sondern auch theilweise aus der
uns fremden Anschauung oder richtiger Beleuchtung der Dinge.
Wir geben zunächst eine Zusammenstellung dessen, was Edwards in ver¬
schiedenen Kapiteln seines Buchs über die russische Gesellschaft im Allgemeinen
sagt, und lassen dann Mittheilungen aus dem folgen, was er von den einzel¬
nen Klassen derselben, namentlich von den Vertretern der Literatur und der
Presse überhaupt, von den Beamten, Geistlichen und andern erzählt. Eine er¬
schöpfende Schilderung der socialen Verhältnisse im Czarcnreich ist damit nicht
beabsichtigt.
Vom niedern Volk abgesehen, kommen in den Städten Rußlands vorzüg¬
lich drei Klassen der Gesellschaft in Betracht: der Geburth- und Amtsadel, die
Schriftsteller, die Künstler und die Kaufleute. Die Schriftsteller fallen zum
Theil durch Geburt, zum Theil durch bedeutendes Talent mit der vornehmen
Welt zusammen. Von den Künstlern gilt dies nur in seltenen Fällen. Ein
Maler wie Brulvff wird allerdings dieselbe Stellung einnehmen wie Puschkin;
aber Rußland hat manchen hervorragenden Dichter und nur wenig beachtens-
werthe Maler hervorgebracht, und so ist es gekommen, daß es für ein Mit¬
glied der guten Gesellschaft sich nicht schickt, sich, ausgenommen der Erholung
und Zerstreuung halber, mit Kunst zu beschäftigen. Sehr viele Adelige ver¬
öffentlichen Bücher, keiner stellt Gemälde aus. So wird es wiederum Schrift¬
stellern aus der Mittelklasse bei nur einiger Begabung leicht, Künstlern aus die¬
ser Klasse selbst bei beträchtlicher Begabung schwer, Zutritt zur vornehmen
Welt zu erlangen, und so bilden letztere einen Gesellschaftskreis für sich, der,
wenn er einerseits mit" dem Adel wenig in Berührung kommt, sich iandrerscits
doch auch nicht mit den Kaufleuten einlassen mag, welche für den Mann von
Genius ungefähr da,s, sind, was der Philister für den deutschen Studenten ist,
und die mit ihrer Geldgier, ihrem Großthun und ihren ungeschickten Manieren
der russischen Satiren- und Possenliteratur nächst den Beamten zur Haupt¬
zielscheibe für ihre Witze dienen.
In Rußland ist ein großer Unterschied zwischen dem Theil der Gesellschaft,
der Anspruch auf die Bezeichnung „Gentleman" hat, und dem Kaufmanns¬
stand. Vor zwanzig Iahrcy drückte sich dieser Unterschied sogar noch durch die
Tracht aus. Damals trugen die reichsten Kaufleute noch lange Bärte, Kaftane
und Bastschuhe. „Dies ist", sagt Edwards, „jetzt allerdings nicht mehr der
Fall, und ich selbst habe in Moskau bei einem Kaufmann erster Gilde gespeist,
dessen Kleider dem. berühmtesten Schneider von London oder Paris Ehre ge¬
macht hätten, welcher drei oder vier Sorten französischen Rothwein auf dem
Tisch hatte, dessen Töchter Melodien eins Erncmi und Rigoletto spielten und fast
so gutes Französisch als ihre Gouvernante sprachen. Nichts war lächerlich,
vieles sehr wohlanständig in dem Auftreten und Wesen dieses Kaufmanns, und
das einzige Zeichen des üblen Geschmacks, der dieser Klasse in Nußland nach¬
gesagt wird, waren die Bilder, mit denen er seine Wände behängen hatte.
Dieselben waren in der Ausführung geringer als die schlechtesten Holzschnitte,
die je in einer illustrirten Zeitung erschienen, und stellten Scenen dar wie den
Uebergang über einen Fluß im Kaukasus oder die Rache russischer Soldaten
an etlichen Türken, die just einen griechischen Priester ermordet, oder die hero¬
ischen Anstrengungen einiger russischen Matrosen, andre Türken von einem sin¬
kenden Boot zu retten, während die feindlichen Batterien am Ufer keinen
Augenblick aufhörten, nach ihnen zu feuern. Wahrscheinlich hatte der Kauf¬
mann zwei bis dreitausend Pfund auf die Einrichtung und Ausmöblirung der
Zimmer verwendet, in denen er seine Freunde empfing (sein Piano allein
mußte ihm über zweihundert gekostet haben), dagegen konnte die ganze Summe,
die er auf Bilder gewandt, kaum zehn Schillinge betragen haben. Ohne Zwei¬
fel hatten die Gegenstände der Darstellungen ihn interessirt, aber es scheint ihm
nie eingefallen zu sein, daß die Ausführung irgend welche Berücksichtigung ver¬
dienen könne. Dennoch war der Mann mit seinem rasirten Kinn und seinem
feintuchncn Anzug weit davon entfernt ein Typus seines Standes zu sein. Er
war artig, verständig, wohl unterrichtet über Alles, was den Handel Rußlands
betrifft, ein eifriger Freund der damals von Alexander dem Zweiten beabsich¬
tigten Reformen und, wie alle Russen, denen ich begegnete, stets bereit über
Politik, innere wie äußere, zu disputiren. Sicherlich werden viele von der
nächsten Generation russischer Kaufleute dieser meiner Bekanntschaft gleichen;
denn obwohl das jetzige Geschlecht der Mehrzahl nach selbst sehr wenig Unter¬
richt genossen hat, schicken sie doch ihre Söhne auf die Rcgicrungsgymnasicn,
wo man für eine geringe jährliche Summe eine recht gute Erziehung erhält.
In der Zwischenzeit ist der russische Kaufmann ein schöner Gegenstand für die
Komödie."
Fast alle die Kaufleute, welche nicht mehr den Kaftan tragen, haben eine
Art Mittelding zwischen diesem und dem gewöhnlichen europäischen Rock ange¬
nommen. Sehr wenige haben den langen Bart aufgegeben — in der That,
nur einige reiche Mitglieder der ersten Gilde, die sich bereits halb schämen,
Kaufleute zu sein, und von denen leider anzunehmen ist, daß sie ihre Söhne
entweder die Offiziers- oder die Beamtenlaufbahn betreten lassen werden.
Diese Schwäche und Eitelkeit des Standes ist es vorzüglich, weshalb derselbe
so verachtet ist. Man blickt nicht aus engherzigen Stolz oder aus Gering¬
schätzung derer, die sich ihr Brot durch Arbeit verdienen, auf sie herab;
denn fremde Kaufleute verkehren mit dem Adel wie Gleiche mit Gleichen, und
man hat sogar die Großfürsten mit einigen von ihnen auf der Newskiperspec-
tive Arm in Arm gehen sehen. Der Grund liegt vielmehr darin, daß es in
Rußland leicht ist, geadelt zu werden, und daß die Söhne reicher Kaufleute
und Fabrikanten, statt bei ihrem Stande zu bleiben und demselben durch ihre
Stellung Würde und Einfluß zu verschaffen, von ihren Vätern angehalten wer¬
den, sich den Adel und damit die Erlaubniß zur Erwerbung eines Ritterguts
zu verdienen. Dient ein solcher junger Mann acht Jahr in Reihe und Glied
als Junker (Adelige brauchen nur zwei Jahre zu dienen), so wird er Offizier,
womit der persönliche Adel verbunden ist; bringt er's bis zum Obersten, so er¬
langt er den erblichen Adel und sann sich ein Gut taufen. Früher war der
Erbadel schon mit einem geringern Grade zu erreichen; der jetzige Kaiser da¬
gegen soll beabsichtigen, ihn erst mit dem Generalsrang zu verbinden. Wie
dem auch sei, die Bildung eines geachteten und mächtigen Mittelstandes ist bis
jetzt durch den angeführten Umstand stark gehindert worden, und dieser Ehrgeiz
des russischen Kaufmanns, sich in eine Sphäre einzudrängen, für die er nicht paßt,
ist so notorisch, daß er fortwährend von der t'omisckcn Bühne ausgebeutet wird.
Die Kaufleute Rußlands sind nicht blos weniger gebildet und unterrichtet
als der Adel, sondern auch weniger natürlich. Wenn es unter unserm Bürger¬
stand einige Thoren gibt, welche Höhergestellte nachahmen zu müssen meinen
und in Folge dessen in Unnatur verfallen, so ist die große Masse des Stan¬
des doch der Natur und der Sitte ihrer Väter treu geblieben. Sie leben dem
Wesen der Dinge angemessener als die vornehme Welt, haben weniger unge¬
sunde Vergnügungen, gehen eher zu Bett und stehen früher auf. heirathen
großentheils aus Neigung, und wenn der Luxus neue Parfüms. Pommaden,
Schminkpülverchcn, Zahnpasten und andern kosmetischen Plunder erfindet, so
denkt er dabei gewiß nicht an sie. In Rußland ist's umgekehrt, und welche
Tugenden auch die Mittelklassen besitzen mögen, der Tugend der Einfachheit
können sie sich nicht rühmen. Die FrcnMr der vornehmen Welt schminken sich
nur ausnahmsweise, die der Kaufleute fast ohne Ausnahme.
Diese barbarische Sitte scheint ein Rest der Tartarenhcrrschaft zu sein, die
jedenfalls mehr auf das Volk eingewirkt hat, als die Russen zugeben, wenn
auch vielleicht weniger, als manche unter den westlichen Nationen glauben. An¬
dere Spuren dieser Einwirkung lassen sich in Menge an den Mittelklassen
auffinden. So die Abneigung der Kaufmannsfrauen zu tanzen, bei öffentlichen
Zusammenkünften zu erscheinen, ihre Haare sehen zu lassen, so ferner der häufige
Gebrauch des Tschibbuk in den Traktirs oder Restaurationen, wo die Moskaner
Kaufmannschaft verkehrt, die Massen von Dienstboten, die man hält, die Sitte,
vor, nicht nach dem Essen zu trinken und der unmäßige Gebrauch von Thee,
von dem man Kaufleute, namentlich wenn sie ein Geschäft abschließen, nicht
leiten fünfzehn bis sechszehn Tassen zu sich nehmen sieht.
Diese Sitten des Kaufmannsstandes fallen aber wenig ins Gewicht,
wenn man sie mit den Vorurtheilen vergleicht, nach denen in diesem Bereich
geheirathet wird. Mancher Vornehme würde sich mit Familienrücksichten ent¬
schuldigen können, wenn er nur aus den Reihen von Seinesgleichen seine Wahl
träfe, und doch sind hier in Rußland Verheiratungen mit Mädchen geringern
Standes so wenig unerhört als bei uns. Der russische Kaufmann macht sich
dagegen einer Mißheirat!) niemals schuldig: er verkauft seine Töchter und kauft
seine Schwiegersöhne, wie wenn sichs um ebensoviele Tonnen Caviar oder Talg
handelte. Die Angelegenheit wird in der Regel durch einen Makler vermittelt,
der einen passenden Bräutigam oder etre annehmbare Braut besorgt, und es
gilt durchaus nicht immer für nöthig oder wünschenswerth, daß die jungen
Leute vor der Trauung mit einander bekannt werden. In einem Lustspiel,
welches zur Zeit der Krönung des jetzigen Kaisers in Moskau sehr beliebt war,
liegt der ganze Humor darin, daß ein Bräutigam seine Braut nicht eher kennen
lernt als auf dem Wege zum Altar. Der Unglückliche ist in Verzweiflung,
daß seine Eltern ihn nöthigen, ein Mädchen zu heirathen, das er nicht kennt,
und das Mädchen, welches er liebt, nicht zur Frau zu nehmen, bis er endlich
die beglückende Entdeckung macht, daß seine Braut und seine Geliebte eine
und dieselbe Person sind.
Welches der Geschmack der jungen Damen ist, mag ein anderes Stück,
das zu den besten seiner Gattung gehört, Ostroffsti's „Swoi Ludi" zeigen.
Hier wünscht sich die Tochter eines Kaufmanns, die heiratsfähig geworden,
natürlich Mit einem jungen Herrn von feiner Lebensart und eleganter Tour-
nüre zu vermählen. Als ein Jüngling von der Handlung erscheint und um
ihre'Hand anhält, betrachtet sie ihn zunächst mit Geringschätzung, bis er end¬
lich einen leidenschaftlichen Anlauf nimmt und sich zu außerordentlichen Opfern
erbietet. „Ja heiß mich selbst zu einem deutschen Schneider gehen und mir
einen Modefrack kaufen (er trägt einen Kaftan), heiß mich sogar meinen Bart
abscheeren (der Jüngling ist in Besitz eines artigen Exemplars), so werd' ichs
thun!" ruft der Freier emphatisch aus. — „Ich verlange blos einen Beweis
der Liebe," antwortet die junge Schöne. — „Was ist's?" fragt jener. —
„Lernen Sie Französisch."
Bekannt ist, daß eine große Anzahl der russischen Kaufleute den allgläu-.
bigen Secten (Raskolniken oder Starvwerzen) angehört. Dieselben sind sehr
exclusiv, starke. Gegner alles Fremdländischen und deshalb fremden Reisenden
wenig zugänglich. Indeß kann man sie an öffentlichen Orten beobachten, und
in Moskau ist sogar eine große Theewirthschaft (Traktir) eigens für sie bestimmt.
Ueber den Glauben und die Sitten dieser Secten haben wir früher ausführ¬
lich berichtet.
Die industrielle Thätigkeit Rußlands hat sich in den letzten drei Jahr-
zehnten außerordentlich gehoben. Die alte politische und religiöse Haupt¬
stadt der Großfürsten und Czaren ist jetzt der Mittelpunkt einer sehr wich¬
tigen Fabrikthätigkeit, und das ganze Gouvernement Moskau voll von
Baumwollenspinnernen, Webereien und Druckereien. Wo einst mit den
Mongolen, dann mit den Polen, zuletzt mit den Franzosen gekämpft wurde, in
Borodino, in der Nachbcuschaft des berühmten Troiza-Klosters, im Schatten
des weißummauerten Kreml selbst, schnurren die Spindeln, rauchen die Schorn¬
steine dieser Industrie, welche sich von Jahr zu Jak>r mehr hebt und in einigen
Betriebszweigen jetzt schon so Gutes leistet, als ^das Ausland. Freilich aber
auch mit Hilfe des Auslands. Das Geld liefert zu diesen Unternehmen allerdings
zum bei Weitem größten Theile die russische Speculation, und selbst das Roh¬
material kommt zum Theil aus dem Inland, da die transkaukasischen Provin¬
zen etwas Baumwolle bauen. Auch die Arbeiter sind Russen. Aber während
die Fabrikanten von Lancashire und Mühlhausen, die westphälischen und
sächsischen ihre Geschäfte selbst leiten, geschieht es in Rußland sehr selten, daß
der Besitzer einer Fabrik, der häufig zugleich Eigenthümer des Grundes und
Bodens ist, auf dem dieselbe steht, die Befähigung zur eigenhändigen Leitung
seines Unternehmens besitzt. Er überträgt dieselbe daher in der Regel einem
Factor, der hier den Titel „Director" führt und meist ein Schotte oder Nord¬
engländer, bisweilen ein Elsässer, seltner ein Deutscher von diesseit des Rheins
ist. Diese Directoren beziehen gegenwärtig nicht mehr die ungeheuern Gehalte
von ehedem, wo es unmöglich war, ihre Stellen mit Eingeborenen zu besetzen,
und wo die Vortheile, die Rußland dem „geldmachenden" Publicum bietet, den
Engländern noch weniger bekannt waren, aber noch heute bekommt der oberste
Leiter einer solchen Fabrik selten weniger als 4000 Thaler das Jahr, oft das
Doppelte, ja das Dreifache.
Die Arbeiter in den Fabriken waren bis jetzt fast ohne Ausnahme Leib¬
eigene. Dieselben zahlten ihren Eigenthümern den „Obrok". den das Her¬
kommen für diese Art Leute auf zehn Rubel jährlich festgestellt hatte; indeß
hinderte kein Gesetz den Besitzer mehr zu verlangen. Doch ist dabei in Be¬
tracht zu nehmen, daß ein leibeigner Fabrikarbeiter zwar circa zehn Thaler
preußisch weniger das Jahr verdient, als ein freier, aber die Sicherheit hat,
im Alter oder wenn er auf irgend eine Weise genöthigt ist, die Arbeit auf¬
zugeben und sich in sein Heimathsdorf zurückzuziehen, für seinen Unterhalt ge¬
sorgt zu sehen. Im Jahr 1857 betrug der Lohn eines gewöhnlichen Spinners,
Webers oder Druckers durchschnittlich zehn Rubel monatlich, und außerdem
wurden sie in der Fabrik mit Wohnungen versorgt. Natürlich hatten sie sich
die Lebensmittel selbst zu beschaffen, und gewöhnlich war ihr Essen, des Mittags
aus Suppe, Rindfleisch und Buchweizengrütze bestehend, recht gut. Indeß ist
zu bemerken, daß Fleisch in Moskau nur halb so theuer als in den" größern
Städten Deutschlands ist, und daß der Krieg damals die Löhne fast verdop-
pett hatte.
Die Schlafsäle der Arbeiter waren sehr einfach eingerichtet. In der That,
es befand sich in ihnen nichts als eine riesenhafte Pritsche, die sich von einem
Ende des Raumes bis zum andern streckte, und auf welcher die Leute ohne
alle Bettwäsche, aber mit Hemd und Hosen, der gewöhnlichen Hauskleidung des
russischen Mujik, neben einander lagen, „wie die Löffel in einem Löffelkästchcn"
sagte der Besitzer einer Fabrik zu unserm Reisenden. Indeß hat das nicht
viel auf sich, da diese aus Bauern zu Fabrikarbeitern gewordenen Burschen
in ihren heimischen Hütten ebensowenig den Luxus von Bettstellen und Lein¬
tüchern kennen. Und andrerseits befindet sich in jeder Fabrik ein Bad für sie,
und jeder Sonnabendsnachmittag wird der Benutzung desselben gewidmet.
Die täglichen Morgenabwaschungcn sollen etwas oberflächlicher Natur sein,
aber doch regelmäßig vorgenommen werden. „Männer sowohl wie Frauen",
sagt Edwards, „sahen reinlich aus. Sie waren fast durchgehends sauber ge¬
kleidet, und in ihren hellfarbigen Kleidern, die Männer mit ihren von einem
schmalen Band, die Frauen mit ihren durch gelbe oder rothe Kopftücher zu-
rückgehaltnem Haaren, boten sie einen recht malerischen Anblick dar, nach dem
man sich in den düstern Factoreien von Lancashire umsonst umsehen würde.
Doch muß man sich bei einem Vergleich dieser russischen Arbeiter mit den eng¬
lischen, deren Gesichter von Kohlenstaub geschwärzt sind und deren Haare von
den Fasern der überall umherfliegenden Baumwolle vollhängen, erinnern, daß
die Moskaner Fabriken nicht in verräucherten Gruppen, sondern jede auf eignem
Grund und Boden stehen, und daß man die Maschinenkessel, da Kohlen nicht
zu haben sind, lediglich mit Holz heizt." —
„Aber wenn die Arbeiter, die ich sah", fährt Edwards fort, „sich gut aus-
nahmen, so war die Ursache nicht, daß sie nicht überarbeitet waren; denn die
Arbeitsstunden sind in den Fabriken zahlreich und in einigen über das Maß.
Diese Geschäfte sind meist sehr einträgliche Speculationen, und die Besitzer ver¬
stehen es, in möglichst kurzer Zeit möglichst viel Geld herauszuschlagen. Ge¬
wöhnlich beschäftigt man zwei Abtheilungen von Arbeitern in ihnen, die eine
von früh sechs bis Abends sechs Uhr, die andere von Abends sechs bis früh
sechs Uhr, und die Maschine ist, mit Ausnahme weniger Minuten sür neue
Einölung, Tag und Nacht hindurch im Gange. Bei diesem System ist, wenn
man die für Frühstück, Mittagsbrod und Abendessen gestattete Unterbrechung
abzieht, die Arbeitszeit nicht viel länger als in den englischen Fabriken (wo
gesetzlich nicht mehr als zehn Stunden gearbeitet wird); aber wo jene Zwei¬
theilung des arbeitenden Personals nicht eingeführt ist, müssen die unglück¬
lichen Leute von früh vier bis abends acht Uhr am Werk sei, so daß ihnen
nur acht Stunden von ihrer Zeit übrig bleiben.
Andrerseits freilich hat der russische Fabrikarbeiter im Jahre eine erstaun¬
liche Menge Feiertage. Er hat alle Sonntage, alle Sonnabendsnachmittage für
sich, und durchschnittlich alle zwei Wochen außerdem noch drei Festtage, an de¬
nen in seiner einzigen Fabrik gearbeitet wird. Er nimmt sich zu Ostern auf
mehre Tage Ferien und empfangt dann gewöhnlich die Hauptsumme seines
Lohnes, denn die übrige Zeit des Jahres läßt er sich nur geringe Aconto-
Zahlungen machen." —
„Die größte Thätigkeit der Fabriken fällt in den Winter, da während der
Sommermonate, wo die Bauern alle mit landwirtschaftlichen Beschäftigungen
zu thun haben, oft schwer die erforderlichen Arbeitskräfte für industrielle Unter¬
nehmungen zu beschaffen sind."
Ihre Lebensmittel beschaffen sich die Arbeiter gemeinschaftlich, in ähnlicher,
aber nach monarchischen Princip gestalteter Weise, wie die Associationen des Sy¬
stems von Schulze-Delitzsch. Es ist der von uns bei einer frühern Gelegen¬
heit besprochene Geist der russischen Bauerngemeinde, der sich auch in den Fa¬
briken kund gibt. Wie in 'den Dörfern die Gemeinde ihren Willen an einen
Vorstand (Starost) abgibt, so wählen hier die Arbeiter einen Proviantmeister,
der Alles, was man braucht, auf gemeinsame Kosten einkauft, beim Essen den
Vorsitz führt, das Fleisch und die Suppe austheilt u. s. w. Die Schlüsse, die
unser Berichterstatter aus dieser Einrichtung zieht, beruhen auf Mißverständniß
und stellen das gemeine russische Volk zu hoch. Dagegen ist sein Lob der
Anstelligkeit des russischen Mujik nicht übertrieben.
„Allenthalben empfing ich dieselben ^Berichte über die Fähigkeiten des russi¬
schen Arbeiters. Hier und da zwar klagte man, daß sie faul seien, wenn man
sie nicht überwache, aber ich glaube, das sind alle Arbeiter, die nach der Zeit
bezahlt werden, und alle kamen darin überein. daß sie Verstand und Geschick
zeigten. In einer Kattundruckerei, die von dem Neffen eines der ersten Fa¬
brikanten Mühlhausens geleitet wurde, sah ich mehre Arbeiter, die eben erst
vom Pflug hereingekommen waren, vielfarbige Muster mit der Hand drucken,
und man sagte mir, daß sie diese schwierige Arbeit sehr zur Zufriedenheit ver¬
richteten. Andere in derselben Fabrik hatten in kurzer Zeit das Eingraviren
der Muster in die Metallwalzen der Maschinen erlernt. „Sie thun alles Mög¬
liche." sagte der Director, „wenn man ihnen nur zeigt, wie es zu machen.
Affen, Monsieur, wahre Affen", setzte er freundlich lächelnd im Bewußtsein
seiner geistigen Ueberlegenheit hinzu." —
Wenn diese Fremden die Russen geringschätzen, so werden sie wie alle
Fremden von einer starken Partei im Lande aufs Tiefste gehaßt. In Moskau
und Petersburg und ebenso in den meisten andern großen Städten Rußlands
sind eine Anzahl von Gewerben fast nur in den Händen von Ausländern. In
Moskau sind alle Buden im Gastinnoi Door, einem Basar, in dem nach orien-
talischer Sitte jedes Handwerk seine besondere Gasse einnimmt, mit Russen besetzt,
andre Geschäfte dagegen gehören zum großen Theil Fremden. Auf der Schmiede¬
brücke, der Hauptstraße der Stadt, haben die besten und elegantesten Läden und
Magazine Franzosen zu Inhabern. Von Franzosen kauft man seine Hand¬
schuhe, seine Seidenstoffe und natürlich alle seine „iritieles alö?in-i8". Ferner
gibts hier einen Laden mit englischen Nähnadeln und in einer Seitengasse ein
Magazin mit Messerschmiedewaaren aus Sheffield. Die Pastetenläden werden
von Deutschen und Franzosen gehalten, dagegen sind die Condilorcn meist Rus¬
sen, da diese im Fache der Zuckerbäckerei nur den Südorientaicn nachstehen.
Die Bäcker sind gewöhnlich Deutsche, und das Weizengebäck, das sie liefern,
ist so weiß und zart als das in Wien. Die Apotheker sind ohne Aus¬
nahme Deutsche, desgleichen die Wursthändler. Ein Moskaner Gassenjunge
weiß einen Fremden, den er beschimpfen will, nicht besser zu bezeichnen als
durch ein Wort, welches ..Fleischklosesser" bedeutet. Mit dem Fleischklos
meint ,er die Wurst, die hier als Nationalgericht der Deutschen zu gelten
scheint.
Die Zeichnenlehrer sind meist Russen, die meisten Musiklehrer dagegen
Deutsche, die Fechtmeister gewöhnlich Franzosen. Die Haarkünstler Moskaus
gehören drtrchgehends der „großen Nation" an. „In der That", sagt Anser
Verfasser, „fügen wir zu den vier Franzosen, welche Hoffmann auf dem Ber¬
liner Markt gesehen, noch einen hinzu, so habe» wir die fünf typischen Franz-
männer aller fremden Städte: den französischen Perückenmacher, den französi¬
schen Tanzmeister, den französischen Fechtmeister, den französischen Sprachlehrer
und den französischen Koch. Dies erinnert mich daran, daß es in Moskau
auch französische Restaurants und Hotels gibt. Englische Speisehäuser finden
sich hier nicht, und ich gratulire den Moskowitern dazu."
Unter den Aerzten sind Engländer, Franzosen und Deutsche. Man trifft
englische, französische und deutsche Gouvernanten, doch scheinen die englischen
(vermuthlich weil englische Sprache und Sitte unter den Vornehmen seit eini¬
ger Zeit die französische zu verdrängen begonnen hat) die gesuchtesten zu
sein; auch gibt es viele englische Erzieher in der Stadt. „Die Freigebig¬
keit und Güte, mit der in Rußland die Gouvernanten behandelt werden, ist
oft erwähnt worden; doch muß daran erinnert werden, daß die Familien, in
denen auf die Erziehung der Kinder große Sorgfalt verwendet wird und in
welchen man sich daher bemüht, brauchbare Erzieherinnen an das Haus zu fes¬
seln, in der Regel zugleich nach Geburt. Erziehung und Stellung die besten
sind und wenigstens ein Jahrhundert europäischer Cultur hinter sich haben.
Nicht von Leuten dieser oder ähnlicher Klasse werden die Gefühle der Gouver¬
nanten in England verletzt, sondern von „Snobs", die auf Grund des¬
sen, daß sie reich geworden sind, aristokratische Prätensionen machen, von
philisterhaften Glückspilzen*) also. Denn der froh ist in allen Ländern wesent¬
lich derselbe, mögen wir ihn einen froh, einen LpieiLr, einen Philister oder mit
den Nüssen einen „Khlistsch" nennen. Dennoch glaube ich, daß im Allgemeinen
die Gouvernanten nirgends besser als in Rußland behandelt werden/ Sie
scheinen mit den betreffenden Familien auf dem Fuße vollkommner Gleichheit zu
verkehren, alle ihre Vergnügungen zu theilen und selbst mit ihnen Besuche zu
machen und zu empfangen. Dies findet statt in einer Gesellschaft, von welcher
Kaufleute, mögen sie so reich sein als sie wollen, mit wenigen Ausnahmen
völlig ausgeschlossen sind. Ich bewundere diese letztere Regel durchaus nicht
und erwähne sie eigentlich nur hier, um zu zeigen, daß die Nüssen keineswegs
ohne Standesdünkel sind. Nur scheiden sich bei ihnen die gesellschaftlichen
Klassen anders als bei uns, und ihr Stolz ist verschieden von dem unsern.
Sie blicken auf Leute, die an Kenntniß und Sitte Ihresgleichen sind, nicht-
deshalb mit Geringschätzung, weil sie bis zu einem gewissen Grade in Betreff
ihres Lebensunterhalts von ihnen abhängen."
Ob das bei Allen Aeußerung humaner Denkart ist, ob Lehrer und Erzieher
nicht deshalb in Nußland höher geachtet sind als in England, weil in jenem
Land die Nachfrage nach ihnen größer ist als das Angebot, oder mit andern
Worten, ob nicht die Nüssen sich in dieser Beziehung gerade deshalb civilisirter
zeigen, weil sie erst bei einem untergeordneten Grade von Civilisation ange¬
langt sind? Unser Verfasser erklärt sich zu Gunsten der russischen Humanität und
nennt alle anders Vermuthenden „baar aller correcten moralischen Vorstellungen
und alles Ehrgefühls — moralische Einfaltspinsel". Wir möchten nicht so
streng über diese Zweifler urtheilen, ja wir glauben Ursache zu haben, uns
ihnen beizugesellen.
„Ich sagte", fährt Edwards fort, „daß die russischen Fabriken hauptsäch¬
lich von Engländern geleitet werden. Engländer dirigiren ferner die meisten
der bedeutenden Eisenwerke (Baird, der Eisengießer von Se. Petersburg, hat
ein ganzes Quartier der Stadt inne), es gibt englische Ingenieure auf den
Dampfern des Schwarzen Meeres und der Wolga, alle Pferdewärter höherer
Klasse, alle Jockeys und Grooms sind aus England. Die Kutscher sind keine
Engländer; denn im Fahren hat der Russe nichts zu lernen. Es gibt einige
russische Jockeys, aber bei den Wettrennen auf der Petrowst'y-Ebene, hart bei
Moskau, sind sie selten die Gewinner." —
Es gibt Engländer in der russischen Armee; ob auch Franzosen, kann ich
nicht sagen, aber Offiziers mit nicht zu verwechselnden englischen Zügen pfleg¬
ten bisweilen in der englischen Kirche zu Moskau zu erscheinen. Jedermann
weiß, daß im russischen Heer Deutsche dienen, und eine Menge von ihnen im
Civildienst angestellt sind, in welchen meiner Ansicht nach kein Engländer oder
Franzose freiwillig eintreten würde, obschon die Franzosen in ihrer Art ebenso
große Bureaukraten sind (sie sind die größten und eingefleischtesten auf Erden
d. R.): nur sind sie nicht so erpicht darauf, sich bestechen zu lassen."
Der Verfasser fragt sich nun, welche civUisircnde Wirkung diese vielen
Fremden auf Rußland haben, und antwortet:
„Gewiß geben sie ihm gutes Brot und gute Messer, es zu schneiden,
gute Scheeren und gute Haarschncider, sie damit zu adonisiren, Professoren, die
sie tanzen, Klavierspielen und singen lehren, Erzieher und Gouvernanten, von
denen sie Französisch, Deutsch und Englisch sprechen lernen und zwar so gut
wie Russisch, Ingenieure und Fabrikanten, die ihnen zeigen, was mit ihrem Eisen
und ihrem Flachs zu thun ist und wie sie ihre importirte und ihre daheim ge¬
baute Baumwolle in Taschentücher und Hemden sür die Chinesen verwandeln
können. Endlich sind sie mit Deutschen gesegnet, die nachsehen, daß ihre Pässe
sich in guter Ordnung befinden. Aber Ideen? — Diese Fremden gehen (das
gilt zum guten Theil bis hinauf zu den Professoren von Dorpat) nur mit
einer einzigen Idee nach Rußland, mit der, Geld zu verdienen. Wenn sie nach
Hause zurückkehren und ihr Schäfchen ins Trockne gebracht haben, so loben sie
Rußland, wo nicht, so schimpfen sie eS. Aber ihr Lob ist schlimmer als ihr
Schimpfen. Sich blos um ihr eignes Wohlbefinden kümmernd oder doch nur
um das ihrer unmittelbaren Umgebung, bemerken sie nicht die Uebel des Des¬
potismus und leugnen ihre Existenz. Sie leben behaglich, vergnügen sich, sehen
nichts von der Knute (deren Gebrauch freilich auch nach dem Verfasser seltner
ist, als man bei uns meint), von welcher sie vor ihrer Uebersiedelung nach
Rußland so viel gehört hoben, und finden bald, daß sie ungefähr ebensoviel
Aussicht haben, nach Sibirien geschickt zu werden, als nach dem Monde. Statt
deS elenden Leibeignen, der unter der Peitsche seines Vogts stöhnt, sehen sie
einen Landmann, der eine Hütte und ein Stück Land hat, welches er als sein
Eigenthum betrachtet, und Pferd und Kuh, die ebenfalls sein Eigenthum sind,
welche aber der Herr des Dorfes ersetzen muß, falls eines davon stirbt, einen
Landmann, welcher für diese Vortheile drei Tage in der Woche für seine Ge¬
bieter arbeitet, und die andern vier für sich hat, es wäre denn, daß er sich
durch jährliche Zahlung eines Obrots. der selten elf Thaler das Jahr über¬
schreitet, von aller Verpflichtung zu solchem Frohndienst befreite. Darauf hin
gelangt der liberale Fremde, der sein Glück zu machen sucht — natürlich nur
in dem Fall, daß er's macht — zu dem Schlüsse, daß über Rußland und die
russischen Leibeignen sehr viel Unsinn geschwatzt wird, daß es eine Wohlthat
für manche unsrer hungerleidender Armen sein würde, wenn sie sich in so an¬
genehmer Lage befänden als die Bauern um Moskau, daß Rußland ein vor-
treffliches Land ist, darin^zu leben, wenn man nur die Regierung ungeschoren
läßt, und warum sollte man sie nicht ungeschoren lassen?" u. s. w.
»Kaiser Nikolaus war ein guter Regent", sagte eines Tages zu mir ein
wohlmeinender Engländer, welcher zwanzig Jahre in Rußland gelebt hatte.
Dann versicherte er mir, w>e zum Beweis für die Trefflichkeit der hiesigen Ein¬
richtungen, daß er in dieser ganzen Zeit niemals auch nur die geringste Schere¬
rei mit seinem Paß gehabt. „Er war ein guter Regent", schloß er, „er ver¬
stand es, Ordnung im Lande zu erhalten".
Edwards citirt unmittelbar nach dieser Mittheilung eine Stelle aus
Cyprien Roberts „nouae Lif-ve", gleichsam als Schlußsatz seiner Erörterung.
Es heißt da- „Fälschlich behauptet man, daß der Liberalismus in Rußland
durch Hilfe der Ausländer, welche hier Beschäftigung finden, Fortschritte macht.
Die Mehrheit dieser Fremden besteht aus Deutschen. Anbetern des goldenen
Kalbes, welche in das Slavenland nur gekommen sind, um sich so rasch als
möglich die Tasche zu füllen und dann an ihren heimischen Herd zurückzukehren.
Solche Söldlinge, indifferent gegen alle politischen Systeme, sind gewöhnlich
die gelehrigsten Werkzeuge des Despotismus. In Folge dessen blicken die
russischen Freisinnigen auf sie mit der tiefsten Verachtung herab. In Rußland
ist es nur das eingeborne oder slavische Element, welches die Befreiung Aller
herbeiführen kann".
Die Antwort auf den letzten Satz haben d. Bl. in den Aufsatz „Rußland
und der Liberalismus" (Ur. 10 d. Jahrg.) gegeben. Ueber die vorhergehenden
aber nur wenige Worte. Daß viele Deutsche in Nußland sich zu Stützen des
Despotismus hergeben, dürfen wir leider nicht in Abrede stellen, indeß wirft
das auf die Nation so wenig, oder, wenn man will, nur so viel übles Licht,
als die Unterdrückung und Niederhaltung Neapels durch die Miethtruppen, die
Ferdinand, der königliche Bombardier, unter den „freien" Schweizern recrutirte,
und Edwards selbst zeigt, daß auch der großherzige Brite sich für gutes Geld
auf guten Fuß mit dem russischen Regierungssystem stellen kann. Geschieht
dies von Deutschen in größerer Zahl, so liegt die Erklärung nahe. Nußland
hat eben deutsche Provinzen, aber keine, die von Engländern und Franzosen
bewohnt sind.
Zum Schluß dieses Abschnitts noch einige Andeutungen über die Position,
in welche sich die in Rußland weilenden Engländer durch den Krieg versetzt
sahen. Man that ihnen zunächst zu wissen, daß sie russische Unterthanen wer¬
den müßten, falls sie in Rußland zu bleiben wünschten. Als sie dies ablehn¬
ten, forderte man blos die Unterzeichnung eines Documents, in welchem sie
sich als dem russischen Gesetz unterworfen erklärten, was ihre Stellung nur
in so weit veränderte, als sie dann für gewisse Verbrechen über die östliche
Grenze, nach Sibirien, statt wie bisher über die westliche, in's Ausland trans-
portirt werden sonnten. Im Uebrigen behandelte die Regierung diese Fremden
mit viel Rücksicht. Man gestattete nam während des Kriegs sich nach Hause
zu begeben (mit Ausnahme einiger auf den russischen Dampfern im Asowschen
und Schwarzen Meer dienenden Ingenieure) und stellte denen, welche nach¬
wiesen, daß wichtige Geschäfte sie nach England riefen, sogar Pässe zur Rück¬
kehr nach Rußland aus. „Nach? der Kriegserklärung deutete Graf Zagrewsky,
Gouverneur von Moskau, dem Pfarrer der dortigen englischen Kirche die Noth¬
wendigkeit an. in der Litanei das Gebet wegzulassen, daß Ihrer Majestät Waf¬
fen „mit dem Sieg über alle ihre Feinde begnadigt werden möchten". Der
Reverend Mr. Grey erwiederte, daß er entweder alle oder keine Gebete ablesen
müsse, und wendete sich zu gleicher Zeit an den Kaiser in Se. Petersburg, der
ihm sofort Erlaubniß ertheilte, den Gottesdienst seiner Kirche ohne Abänderung
oder Weglassung fortzusehen".
Für solche Großherzigkeit segnete der russische Gott aber auch sein Volk,
indem er im erleuchteten England wieder großherzige oder besser weitherzige
Seelen erweckte, die so wenig von dem Interesse ihres Volks erfüllt waren,
daß sie reichlich Raum für das Interesse des Czaren übrig behielten und mun¬
ter und flott in der Themse und im Clvde für Rußland Kriegsdampfer bauen
konnten, als ob die Königin Victoria und Kaiser Nikolaus die besten Freunde
gewesen wären.
Endlich, so scheint es, soll in Kurhessen dem Recht Genüge geleistet und
Ordnung geschafft werden. Ein Ultimatum ist, so lesen wir, nach Kassel abge¬
gangen, und die in den Provinzen Sachsen und Westphalen stehenden preußi¬
schen Armeecorps haben Befehl erhalten, sich marschfertig zu machen. Es war
die höchste Zeit dem raschen rücksichtslosen Handeln der kurhessischen Negierung,
dem widerwilligen Zögern der Mehrheit im Bundestag und der an Preußens
entschiedenem Willen fast verzweifelnden öffentlichen Meinung gegenüber.
Wiederholt, aber jedesmal vergebliche hat die hessische Regierung versucht,
auf Grund der octroyirten Verfassung von 1860 einen Landtag zu Stande zu
bringen, der diese Verfassung scmctioniren sollte. Das Land hat beinahe ein-
stimmig durch Wahlen geantwortet, welche den entschiedensten Protest gegen
diese Versuche einlegten. Preußen hat sich von Beginn der Regierung seines
jetzigen Königs an bald mehr, bald weniger energisch bemüht, dem hessischen Volk
zu dem ihm gebührenden Rechte zu verhelfen, ihm die Verfassung von 1831 wie¬
der zu verschaffen, und es ist in diesem Bestreben nicht ohne Erfolge geblieben.
Mehre deutsche Regierungen wurden für die preußische Auffassung gewonnen,
und.nachdem auch Oestreich sich derselben angeschlossen, war kaum noch zu
zweifeln, daß man in Kassel nachgeben werde. Gegen alle Erwartung — die
Erwartung derer vielleicht ausgenommen, welche an eine doppelte östreichische
Politik, eine officielle in Berlin und Frankfurt und eine stille in Kassel, glau¬
ben mochten — gaben der Kurfürst und sein Ministerium auch dieser Conjunc-
tur nicht nach. Während Preußen und Oestreich sich geeinigt, am Bunde einen
Austrag des Verfassungsstreites auf Grund der Verfassung von 1831 herbei¬
zuführen, und der darauf gerichtete Antrag der beiden Großmächte alle Aus¬
sicht hatte, durchzudringen, erging von der kurfürstlichen Regierung die bekannte
Wahlverordnung, durch welche allen denjenigen, die nicht von vornherein aus¬
drücklich ihre' Anerkennung der octroyirten Verfassung erklärten, das Recht zu
wählen abgesprochen wurde. Bei der Stimmung des Landes konnte es mit
dieser gegen alle politische Moral, allen constitutionellen Brauch und alle Lo¬
gik verstoßenden Maßregel lediglich auf Minoritätswahlcn. auf einen Land¬
tag bestehend aus einigen durch angedrohte Geldstrafen genothwendigten Wider¬
willigen und jenen seltsamen Schwärmern abgesehen sein, die nach dem Glau¬
bensbekenntniß: Jesus Christus unser himmlischer, Kurfürst Wilhelm unser ir¬
discher Herr, unser Hort und Horn des Heils die octroyirte Verfassung, Politik
treiben.
Die hessische Regierung konnte einen solchen Schritt nur in der Absicht,
Preußen zu beleidigen, oder in der Voraussetzung wagen, daß die preußische
Politik in den Märztagen d. I. ihre Grundsätze völlig geändert habe, daß das
neue Ministerium die Ziele des bis dahin am Ruder befindlichen nicht weiter
verfolgen werde. Oder wäre es denkbar, daß sie geglaubt hätte, der durch
ihre Wahlverordnung beabsichtigte Landtag werde vor den Augen der Bundes¬
regierungen als Ausdruck der Ueberzeugung des Landes und nicht viel mehr
als neuer Beweis für die in demselben herrschende beispiellose Willkür gelten,
ein künstlich durch offnen Zwang zusammengebrachtes parlamentarisches Votum
zu ihren Gunsten werde sich als Stimme des Volks darstellen lassen, eine in
Kassel als Landtag eröffnete Versammlung von Mitgliedern des „Hessenvereins"
werde als befriedigende Lösung der Verfassungswirren angesehen werden?
Es ist möglich, daß der eine und der andere Bundesgenosse des Kurfürsten
sich unter andern Verhältnissen das Ansehen geben würde, als ob er solchen
Schein für Wahrheit hielte. Unter den gegenwärtigen Umständen, den ver-
schiedenen Zeichen der Zeit, den neuen Wahlen in Preußen, der durch den
Nationalverein allenthalben angeregten Stimmung gegenüber, ist dies nicht
Wohl möglich.
Man hat bis in die letzten Jahre der öffentlichen Meinung Manches ge¬
boten, was unmöglich schien und doch möglich war. Hier aber müssen selbst
die Regierungen, welche das Ministerium Ab6e-Vilmar bisher unterstützten, sich
bloßgestellt sehen, wenn sie bemerken, daß dasselbe einerseits sogar eine der wichtig¬
sten Bestimmungen der octroyirten von ihnen protegirten Verfassung, die über
Ausübung des Wahlrechts, umstößt und dieses Recht an eine noch nie erhörte
Bedingung knüpft, andererseits gegen die am Bunde schwebenden Verhandlungen
eine so wenig verhüllte Rücksichtslosigkeit bekundet, daß es einem ihr ungün¬
stigen Beschlusse durch ein Mittel entgegenarbeitet, welches sehr mild bezeichnet
wird, wenn man es ein abnormes nennt.
„Noch schärfer und verletzender" — wir haben hier die seltne Freude, einmal
das Organ des jetzigen preußischen Ministeriums, die „Sternzeitung" als Ausdruck
unserer Ansichten citiren zu können — „richtet sich der Schritt der kurhessischen Re-
gierung natürlich gegen die beiden deutschen Großmächte, die den gemeinsamen
Antrag eingebracht haben. Ihre speciellen Bestrebungen sind es, die noch im letz¬
ten Moment durch Zwangsmittel von ganz abnormer Art durchkreuzt werden sollen.
Es ist aber schon von andern Seiten wiederholt ausgesprochen worden, und es
kann hierüber auch unmöglich ein Zweifel bestehen, daß die kurfürstliche Ver¬
ordnung der preußischen Negierung in noch viel größerem Maß ass der östrei¬
chischen feindselig entgegentritt; denn es ist offenkundig, daß Preußen den ge¬
meinsamen Antrag angeregt hat, daß Preußen auf die Durchführung desselben
den höchsten Werth legt, daß es somit ein vorzugsweise preußisches Werk ist,
dem die kurfürstliche Regierung noch in der zwölften Stunde den Boden zu
verderben sucht. Die hierdurch kundgegebene besondere Feindseligkeit gegen
Preußen wird durch den Charakter der Mittel, welche die kurfürstliche Regie¬
rung anzuwenden keinen Anstand nimmt, in ein noch grelleres Licht gestellt.
Wenn wirklich, um der Animosität gegen Preußen freien Lauf zu lassen, kein
andrer Weg offen stand, als der Entschluß, die Mehrzahl der hessischen Wähler
durch einen Federstrich von der Ausübung des ihnen zustehenden Wahlrechts
auszuschließen, so hätte eine gewissenhafte Regierung sich schon durch die Rück¬
sicht auf ihre Pflichten gegen das eigne Land und auf die eigne Ehre (ein
starker Ausdruck bei einem Regierungsblatt) von einem Verfahren abhalten
lassen, welches durch eine flagrante Beeinträchtigung der eignen Unterthanen
das von ihr selbst octroyirte Verfassungsrecht in einer seiner wichtigsten Bestim¬
mungen über den Haufen wirft und die Formen des verfassungsmäßigen Lebens
auf den Kopf stellt. Selbst Rücksichten von solchem Gewicht waren nicht im
Stande, die kurfürstliche Regierung von einem gehässigen Act zurückzuhalten, der
ihren feindlichen Gegensatz zu den Bestrebungen Preußens in unzweideutiger
Weise bekundet: sie schließt alle diejenigen vom Wahlrecht aus, welche die von
der preußischen Regierung seit dem Jahre 1858 offenkundig vertheidigte Ansicht
theilen, daß die Verfassung von 1831 nicht rechtsgiltig beseitigt ist, und daß
nur durch Wiederherstellung derselben das Land zu innerem Frieden gelangen
kann."
Preußen ist gegen dieses Verfahren durch seinen Gesandten am Bunde
kräftig aufgetreten, ohne von Seiten der Mehrzahl der Bundesgenossen unterstützt
zu werden. Es scheint jetzt von Worten M That übergehen zu wollen. Unsre
besten Wünsche würden es in diesem Fall begleiten. Ernstes durchgreifendes Handeln
würde die eine Hälfte der traurigen Erinnerungen von Olmütz auslöschen, die nor¬
dische Großmacht dein deutschen Volke wieder einmal lebhafter als Vertheidigerin
seiner Rechte erscheinen lassen und innerhalb Preußens selbst dem neuen Ministe¬
rium die Temperatur im Abgeordnetenhause beträchtlich angenehmer machen,
als bisher zu erwarten stand.
Behandelt in zwei Abschnitten zunächst die verschiedenen mehr oder weniger be¬
kannten G.eräthc eines gerechten und vollkommenen Anglers, dann die Köder, hierauf
die einzelnen Methoden des Fischens im Allgemeinen, woran sich eine Reihe von
Regeln und Recepten knüpft, endlich die einzelnen Flußfische und deren Fang, worauf
ein Blick auf den Fischfang im Meere folgt. Als Laien auf dem Gebiet der Angel¬
kunst übergaben wir das Buch einem englischen Freunde, den wir für tief einge¬
weiht halten dürfen, und derselbe sprach sich über die mitgetheilten Vorschriften
durchweg befriedigt ans. Die beigegebene» Holzschnitte sind wohl ausgeführt.
Liebhaber der Andersenschcn Dichtungen macheu wir auf ein soeben in Berlin
in der Hände- und Spenerschen Buchhandlung erschienenes Bündchen „Neuer
Märchen und Geschichten" dieses Schriftstellers aufmerksam, welches vier Stücke:
Die Eisjungfran — der Schmetterling — die Psyche — die Schnecke und die
Rosenhecke enthalt. Styl und Manier sind dieselben wie in den frühern Arbeiten
dieses Autors. Wir vermögen solcher Zuckerkand-Literatur und ihren Nippes-Figuren
nur geringe» Geschmack abzugewinnen.
Briefe und Bruchstücke von Briefen, die einen Theil der sehr umfänglichen
Korrespondenz zwischen dem großen italienischen Staatsmann, welchen das vorige
Jahr seinem Volke nahm, und Ratazzi, seinem einstigen Freunde und jetzigen Nach¬
folger bilden und für die Würdigung des Genius Cavours, seines raschen und
energischen Charakters, seiner Beurtheilung der Menschen und Dinge und seines
ganzen Wesens ein werthvolles Material an die Hand geben. Indem wir diese
Erinnerungen an Cavour, deren die Politik der letzten Jahre betreffende Stücke den
Lesern zum Theil aus den Tagesblättern bekannt sein werden, den Freunden der
neuern Geschichte bestens empfehlen, geben wir im Folgenden ein paar Proben der
geistigen Freiheit Und guten Laune, mit der er, mit Arbeit überhäuft, den größten
Schwierigkeiten gegenübergestellt, von allerlei Gelegenheit zu Befürchtungen um¬
geben, sich über seine Hauptgegner, die Rothen und die Schwarzen zu äußern
Pflegte. Als Jemand ihm wegen eines Denkmals für den bekanntlich in Nizza ge¬
storbenen Tue geschrieben, schickt er den Brief mit der Notiz zurück! „Der Unter-^
zeichnete ist nicht allein schwach genug gewesen, die Snbscnption zur Errichtung
eines Denkmals für den socialistischen Romanschreiber zu gestatten, sondern er hatte
sogar die Einfalt, sich selbst durch die Unterzeichnung der namhaften Summe von
zwei Like (16 Silbergroschen) daran zu betheiligen. Sicherlich wird er, wenn man
seine Sympathien für die Lehren Sues nach der dargebrachten Summe bemißt,
keiner übermäßig socialistischen Richtung beschuldigt werden können. Aber da die
Partei der Schwarzröcke von dieser seiner Subscription großen Lärm machte, ohne
bon geringen Betrag derselben anzugeben, so folgte daraus, daß der Unterzeichnete
in Frankreich als Anhänger der Hochrothcn verschrien worden ist." — Nach der
Einnahme Sebcistopols ermahnte er seine Kollegen, ein Tedeum singen zu lassen,
„wenn auch nur, um das Vergnügen zu haben, die bösen Gesichter zu sehen, welche
unsre Freunde, die Canonici, schneiden werden." — Von einem Anonymus, der
gegen ihn schrieb, äußerte er, „ich weiß wer die mit L unterzeichnen Artikel
schreibt. Es ist ein-Günstling des S., welcher von ihm als erste Violine beim
„Nisorgimento" angestellt worden, und als er bei seinem Auftreten Fiasco gemacht,
von mir mit Schimpf und Schande nach Hanse geschickt worden war. Zu jener
Zeit schwor er Mir ewige Rache, aber er fand keine Cloake, wo er sie ausschütten
konnte, bis die N. N. Zeitung ihm ihre Spalten öffnete . . . und wenn diese
Voraussetzung wahr ist, so verdient er Mitleiden, nicht Strafe." Sehr hübsch ist
endlich noch folgende scherzhafte Einladung zu einem Diner: „Bei meiner Rückkehr
nach Hause fand ich eine aus den königlichen Kanälen gefischte Forelle, welche der
Ingenieur Noe, dieser Verführer, mir geschickt, statt sie zu Gunsten der Staatskasse zu
verkaufen. Diese Verführung setzt mich in die Verlegenheit, entweder Nos zu be¬
strafen oder mich durch Verspeisen der Forelle zu seinem Mitschuldigen zu machen.
Aber wenn ich sie allein äße, würde ich befürchten müssen, in der Kammer zer¬
malmt zu werden, und deshalb muß ich Sie sammt den Puritanern Daziani und
Pallieti zu Mitschuldigen haben. Ich bitte Sie daher> die schon getroffne Verab¬
redung dahin zu amcndircn. daß Sie das Mittagsessen bei Trvmbetta auf Mittwoch
vertagen und statt dessen morgen zu mir kommen. Wenn die Forelle sich nach
unsern' Bequemlichkeit frisch erhielte, würde ich das staatsverbrecherische Mittagsessen
auf übermorgen vertagt haben. Aber wenn wir das thäten, so würden wir die
doppelte Sünde begehen, eine königliche Forelle zu verspeisen und sie nicht einmal
frisch zu essen/'
Der Verfasser, schon bekannt als Sammler auf den Gebieten des Volksbrauchs
und des Sprichworts, hat hier eine große Anzahl von Sprichwörtern der verschie¬
densten Sprachen (sogar äthiopische, hindostanische, chimsische, hebräische, arabische,
und tamrüischc find darunter) zusammengetragen und unter gewissen Rubriken- Was
sind die Frauen? — Frauenthränen — Frauenlist — Werth der Frau — Lieben
- Verliebte — Soll man heirathen? — Ehcrcgcln — Die Hausfrau — Böse
Frauen — Die Stiefmutter — Alte Weiber u, s, w, zu einem Buch zusammen¬
gestellt, welches manches Hübsche enthält und durch seine Vergleiche auch einigen Werth
für die Ethnographie haben möchte.
Der Verfasser des Werkchens ist ein spanischer Jesuit des siebzehnten Jahrhun¬
derts, der Uebersetzer der bekannte Frankfurter Philosoph, der Manchen jetzt als ver¬
kanntes Genie ersten Ranges gilt, durch die Wahl dieser Arbeit aber eben keinen
besonders unter Geschmack bewiesen hat. Unter den dreihundert Klugheitsregeln,
welche das Buch aufstellt, sind eine Anzahl dankensmerthe, aber ebensoviele Gemein¬
plätze, viele, die vorhergehenden oder nachfolgenden widersprechen, viele auch, die
nur vor einem jesuitischen Gewissen die Probe bestehen. Dazu kommen häufige
Wiederholungen, ein bald dunkler, bald spanisch überschwänglicher Styl, der oft
den Eindruck des Ungeschicks macht. Von philosophischer Tiefe, Kenntniß des mensch¬
lichen Herzens nur geringe Spuren, von System in der Anordnung ebensowenig.
So hat das Buch kaum einen anderen Werth als den einer Reliquie für die, welche
in dem Uebersetzer ihren Meister verehren.
Eine sehr dankenswerthe Sammlung von Materialien zu einer Biographie
Schinkels,'zusammengetragen und geordnet mit der Sorgfalt, welche die Verehrung
vor dem Genius eines großen Verstorbenen gebietet. Der erste Theil enthält Tage¬
bücher der ersten Kunstreise Schinkels Mes Italien (1803 bis 1805), ergänzt durch
eine Anzahl von Briefen, die er während dieser Reise und des daran sich schließen¬
den Aufenthalts in Paris an Freunde in der Heimath schrieb, sowie die erste Hälfte
des Tagebuchs, in welchem er die Erlebnisse und Beobachtungen seiner zweiten, im
Jahre 1824 unternommenen italienischen Reise aufzeichnete. Der zweite Band gibt
zunächst die Fortsetzung dieser Aufzeichnungen sowie die von Schirckel im Verlauf
dieser Tour an seine Frau gerichteten Briefe, wornus, wieder in Briefen an seine
Frau, Mittheilungen über die Eindrücke der Kunstreise folgen, die Schinkel 1826
nach Frankreich und England unternahm. Ein Anhang bringt dann Briefe und
Berichte um Eichhorn, Altenstein und den Fiuanzminstcr Grafen v, Bülow, die fich
auf die Erwerbung der Boisseröe'sehen Gemäldesammlung für den preußischen Staat
beziehen, Aphorismen Schinkels über die Bestimmung der Kunst, das Princip der
Kunst in der Architektur u. a., ferner Nachrichten über Sckinkels Vorfahren, die
vom Bischof Roß am Sarge Schinkels gehaltene Rede, endlich eine classtficirte Ueber¬
sicht über die Bauten,, Gemälde, Zeichnungen u. s, w, des verewigten Meisters, die
über ihn erschienenen Schriften und die bildlichen Darstellung»» seiner Person,
Außerdem ist das Werk mit drei Porträts Schinkels aus verschiedenen Lebensperio-
den, einer photographirtcn Skizze und einer Probe seiner Handschrift geschmückt.
Die Tagebuchsblätter des ersten Theils erinnern durch ihre frische tbeilnahmvollc
Darstellung vielfach an die jüngst erschienenen Rciscbriefe von Mendelssohn-Bar-
tholdy. Die über die zweite italienische Reise enthalten außer trefflichen, oft meister¬
haften Landschnftsbildern auch eine große Anzahl interessanter und gediegener Ur¬
theile über bedeutende Menschen, mit denen Schinkel in Berührung kam/
Versucht nicht blos eine Biographie des bekannten Philosophen und Förderers
von Reformen unter den Juden, sondern zugleich ein Bild der Cultur- und Lite-
raturgeschichte zu geben, so wett jener auf sie oder sie auf jenen einwirkte. Wir
erhalten Mittheilungen über das Verhältniß Mendelssohns zu Lavater, Hamann,
Lessing und Herder, ausführliche Berichte über die damalige Lage der Juden in
Deutschlnud und Oestreich n, d, in. Das kritische Talent des Verfassers ist mäßig,
seine historische Kenntniß in wesentlichen Dingen oberflächlich, sein Standpunkt kein
ganz vorurtheilsfreier, seine Verehrung vor dem Gegenstand seiner Darstellung bei¬
nahe unbegrenzt, und seine ohnehin empfindsame Sprache verwandelt sich, wo es
die Vorzüge Mendelssohns und dessen Beziehungen zu andern hervorragenden Per¬
sönlichkeiten zu feiern gilt, in eine Kette sentimentaler und oft überschwänglicher
Frage- und Ausrufungszeichen. Doch hat ihm bei seiner Arbeit viel gutes Mate¬
rial vorgelegen, und so bekommen wir in derselben manche dankenswerthe Ergän¬
zung unsrer Kenntniß von der Geschichte des vorigen Jahrhunderts.
Wohl geschrieben, leidenschaftslos, reich an Dctailschilderungcn, gibt dieses Buch
(dessen Versasser jetzt als evangelischer Pfarrer wirkt) ein im hohen Grade interes¬
santes Bild katholischen Lebens und Empfindens, soweit der Jesuitismus darauf
Einfluß hat. Besonders lehrreich sind die ausführlichen Mittheilungen über die Pen¬
sion der Jesuiten in Freiburg, in welcher der Arttvr dieser Memoiren in der Zeit
kurz nach Ausstellung deS heiligen Rocks von Trier Aufnahme fand, sowie die Er¬
zählung dessen, was derselbe in der Hauptstadt des Katholicismus und namentlich
im Collegium Romanum erlebte, dessen Zögling er bis Ende März 1848 war und
aus dem er mit den übrigen Jüngern Loyola's durch die Revolution vertrieben
wurde. Indem wir uus vorbehalten, aus diesen letzten Kapiteln demnächst einige
Auszüge zu geben, empfehlen wir das Ganze als einen dankenswerthen Beitrag zur
Culturgeschichte der neueren Zeit.
Eine Reliquie aus der Zeit, wo die grotesken Phantasien Sckellings und seiner
Schüler über Gegenstände der Naturwissenschaften noch als tiefe Wahrheiten bewun¬
dert wurden. Die ungeheuren Fortschritte, welche die Physiologie, die Chemie und
verwandten Disciplinen seitdem gemacht haben, sind wie eine Sündfluth über jene
geistreichen Ungeheuerlichkeiten hinweggegangen, wir leben in einem anderen Licht,
in einer anderen Temperatur, und wo uns Neste jener versunkenen Epoche vor Augen
kommen, haben wir etwa das Gefühl, das uns vor Ueberbleibseln früherer Erdpe¬
rioden, antcdiluvialcn Th>erer und Pflanzen, erfüllt, nur daß wir hier trotz aller
Seltsamkeit des Gebildes immer die Natur, bei den Einfällen jener Naturphilo-
sophen aber die Unnatur einer an die Stelle des Verstandes getretenen Einbildungs¬
krast vor uns haben. Schubert und seines Gleichen gehören in das Petresactcnca-
binct der Literaturgeschichte. Wer sie uns, wie der Herausgeber, als mehr anpreist,
bezeichnet sich damit als außerhalb des Kreises Moderner Bildung stehend.
Ein illustrirtes Werk etwa von der Art des Meycrsche» Universums, Mit dessen
Ton sein Text ungefähr übereinstimmt, während die Abbildungen hier Holzschnitte
sind. Die Ausstattung im Schnitt, Papier und Druck ist elegant, das Ganze augen¬
scheinlich das Werk eines Laien für Laien in der Kunstgeschichte. Die vorliegende
Abtheilung enthält die Beschreibungen und Bilder der Kirche des heiligen Paul bei
Rom, der Sophienkirche in Konstantinopel, des Doms zu Pisa, der Marcuskirche zu
Venedig, der Kathedrale (einstigen Moschee Abderrhamans des Ersten) zu Cordova,
der Dome zu Mainz, Speyer und Bamberg, der Kathedralen zu Paris und Chartres,
zu Rheims und Amiens. Die zweite und letzte Abtheilung soll unter anderen die
Dome zu Rouen und Caen, Lincoln, Straßburg, Freiburg, Wien, Cöln, Antwerpen
und Burgos und die Peterskirche in Rom bringen.
Macht keinen Anspruch darauf, der Gelehrsamkeit zu dienen, sondern will in anspre¬
chender allgemein faßlicher Form dem gebildeten Laien eine Uebersicht der Entwickelung
der deutschen Dichtung geben (weshalb unsrer Meinung nach auch ein weniger umfas¬
sender, weniger anspruchsvoller Titel etwa „Geschichte der deutschen Dichtung" oder, da
nur die Hauptwerke berücksichtigt sind. ,>Die hauptsächlichsten Dichtungen der deutschen
Literatur" zu wählen gewesen wäre). Außerdem will der Verfasser, der dabei auch an
ein Hilfsmittel für Schulen dachte, „die Hauptgruppen in da« gebührende Licht setzen
und den innern Gehalt bestimmter Culturcpochen in ihnen concentnren", weshalb rr
aus den Werken entlegnerer Zeiten Auszüge gibt und aus denselben den Gedanken-
gehnlt entwickelt. Ob ein solches Unternehmen nach dem. was die letzten beiden
Jahrzehnte auf diesem Gebiet geleistet haben, noch besonders tiefgefühltes Bedürfniß
ist, möchte zu bezweifeln sein. Ob, wenn dies bejaht wird, Herr Noquctte den Be¬
ruf hatte, diesem Bedürfniß abzuhelfen, werden wir nach Vollendung des Ganzen
untersuchen. Für jetzt genüge die Bemerkung, daß das Buch zwar im Allgemeinen
gut geschrieben, ein gründliches Zurückgehen auf die Quellen aber und ein tieferes
Verständniß der Zeiten und der Mächte, die sie bewegten, darin nicht ersichtlich ist.
Wir geben schließlich eine kurze Uebersicht über den Inhalt, der in drei Bücher:
Mittelalter. Reformation und Gelehrtcndichtung zerfällt. Das erste umfaßt die
Heidenzeit und die Anfänge des Christenthums, die ältesten deutsche» Poesien und
namentlich die der Klöster, die Dichtungen des zwölften Jahrhunderts, die Blüthen¬
zeit der höfischen Dichtung, die Nationalepe», den Minnegesang und die Ausgänge
der mittelalterlichen Poesie; das zweite vorzüglich den Meistergesang, das lutherische
Kirchenlied, die Lehrdichtung und Tcndenzlitcratnr, das Volkslied, Hans Sachs und
Fischart. Das dritte behandelt die schlesischen Schulen, die Pegnitzschäfer, das Drama,
die Romane des siebzehnten Iechrhuuderls, die Hofpoesie und die Niedersachsen sowie
Günther, mit dem dieser Theil schließt.
Der Verfasser hat sich schon in frühern Schriften mit einzelnen Seiten des
rätselhaften, durch seine Grüberbauten sowie durch sein gynükokratischcs Familien -
system für den Archäologen interessanten kleinasiatischen Volkes beschäftigt. Hier
stellt er Alles, was über dasselbe vorliegt, nach gewissen Gesichtspunkten zusammen
und sucht zuletzt den Mittelpunkt seines innern Lebens, seinen Charakter zu ge¬
winnen. Dabei ergibt sich ihm eine Volksseele, welche die Eigenschaften der Frie¬
densliebe, wesentlich konservativer Denkart, religiösen Sinnes, der Anhänglichkeit an
die Demokratie in ihrer alten Einfachheit, vielseitiger technischer Fertigkeit, der Hin¬
gabe an das Mysterium und seine in das Jenseits hinüberreichenden Hoffnungen
und der Unterordnung unter die Erscheinung des Naturgesetzes umfaßt, Eigen¬
schaften, die sich, wie der Verfasser meint, auf das in Lykien wie unter allen Völ¬
ker» der vorhellenischen oder pelasgischen Welt geltende „Principal des Muttcr-
thums" oder der Gynäkokratie gründen, während in der griechischen und römischen
Welt das Vatcrprincip herrschte. Lykien ist dem Verfasser für alle guten Eigen¬
thümlichkeiten des vorhellenischen Lebens Muster, und nach seinem Bilde erst ver¬
mögen wir den Fortschritt zwischen der alten und neuen (griechisch-römischen)
Weltanschauung zu würdigen. Hat der Hellenismus dem menschlichen Geiste eine
reichere Entwicklung gegeben und ihn aus den Banden des Naturgesetzes befreit, so
besaß doch jenes ältere Geschlecht in seinem Muttecprincip einen Kern der edelsten
Anlagen, fähig der schönsten Entwickelung. — Wir müssen die Prüfung dieser
Ansicht der Archäologie überlassen und bemerken nur, daß uns die Schlüsse, die
der Verfasser auf das vorliegende mythologische und geschichtliche Material baut,
oft sehr kühn zu sein scheinen.
Der Politische Standpunkt des Verfassers ist bekannt, der Ton, in dem er seine
Ansichten vorzutragen Pflegt, ebenfalls. Seine Vorschläge in Betreff der Reorgani¬
sation gehen in ihren Grundzügen auf folgende Sätze hinaus: Die Wehrpflicht in
Preußen ist allgemein. Die Armee besteht aus der Landwehr ersten und zweiten
Aufgebots. Die Dienstzeit in ersterem dauert vom 20. bis 30., die in letzterem vom
30. bis 36. Lebensjahre. Zur Unterhaltung der Festungen und der militärischen
Etablissements sowie zur Bestellung der Cadres ist die Regierung ermächtigt, 14,000
Mann freiwilliger gcworbner Leute in beständigem Dienst zu halten. Die Mann¬
schaft der Landwehr ersten Aufgebots, welche in das 20. Lebensjahr tritt, bleibt
drei Monate in Schulbataillonen vereint bei den Brigadestümmen präsent und
wird bei der Entlassung auf die Bataillone der Landwehr ersten Aufgebots einge¬
theilt. In jedem Jahre wird der dritte Theil sämmtlicher Brigaden des ersten Auf¬
gebots mit Bataillonen von 600 Mann auf vier Wochen zu großer» Kriegsübun-
gcn versammelt. Monatliche Schießübungen für die gesammte Landwehr finden in
den Gemeinden und den Kreisen statt, in derselben Weise Controllversammlungen.
An allen Schulen wird die Zahl der täglichen Unterrichtsstunden auf höchstens vier
beschränkt, dagegen werden tägliche Turm- und Ercrcierstunden eingeführt, an wel¬
chen die nicht mehr die Schule besuchende» junge» Leute wöchentlich zweimal theil-
nehmen müssen. Die jetzt bei der Fahne stehenden Soldaten werden spätestens
binnen drei Monaten entlassen, desgleichen alle überflüssig werdenden Berufsoffiziere,
letztere mit Pension oder Inactivitütsgchalt. Die geeigneten entlassenen Offiziere
haben vorzugsweise Berechtigung zur Anstellung als Turnlehrer und Exercicrmeistcr.
Die Garde wird aufgehoben. Einer Kritik solcher Uebcrspanntheitcn bedarf es süe
die Leser d. Bl. schwerlich. Wäre Deutschland eine Insel in der Südsee, so ließe
sich eher davon sprechen.
Ein wohlgclungencr Versuch, bei den immer größer werdenden Anforderungen,
welche der Luzens an Kunst und Gewerbe stellt, auf die einfache Weise des Alter-'
thums zurückgehend, neue Ornamente aus dem Reich der Natur, den Blumen,
Ranken und Blättern der vegetabilischen Welt zu gewinnen, Die gegebenen Muster
zeugen ebenso sehr für den Geschmack des Künstlers, der sie zusammenstellte, als
für den guten Blick, mit dem er die Urformen künstlerisch zu erfassen verstand, und
das Ganze kann, so weit es vorliegt, in seiner eleganten Ausstattung nicht blos
Gewerbtreibenden, wie Decorationsmalern, Steinhauern, Metallgießer», Teppich- und
Tapetcnfabrikantcn, sondern auch Damen, die sich ihre Stickmuster selbst zu ent¬
werfen verstehen, warm empfohlen werden.
Die Polizei eines Staates kann in gewissem Grad als Maßstab für die
Beurtheilung der innern Zustände desselben selbst genommen werden. Welcher
Unterschied zwischen einem russischen Polizeisoldaten und dem Stadtgardisten
einer freien Stadt, zwischen dem englischen Policeman und einem neapolitanischen
Sbirren, zwischen dem pariser Sergeant de Ville und einem türkischen Kawaß
oder einem ungarischen Panduren!
Im Allgemeinen aber wird die Polizei eines Landes, je mehr die Verfas¬
sung desselben sich dem Absolutismus nähert, ein militärisches Gepräge tragen,
in constitutionellen. noch mehr aber in republikanischen Staaten eine mehr
bürgerliche Verfassung besitzen.
Diese Erscheinung zeigte sich in Oestreich besonders auffällig; ja, als die
einzelnen Bestandtheile dieses Reiches eine verschiedene Verfassung besaßen,
hatten auch die Polizeiorgane eine verschiedene Verfassung.
Wiewohl Oestreich vor 1848 ein Polizeistaat im eigentlichsten Sinne des
Wortes war, konnten doch seine Pvlizeitruppen weder der Zahl noch der
Qualität nach ansehnlich genannt werden. Die Beamten der Polizeibehörden,
Stadthauptmannschaften und Commissariate und die berüchtigten „Vertrauten"')
waren der eigentliche Körper der Polizei, welche sich weniger auf das ihr zu¬
gewiesene bewaffnete Personal, als auf die eigentliche Militärmacht des Staates
stützte.
Nur in den sogenannten Erbländern und in Galizien existirte ein eigenes
Polizeiwachcorps, welches militärisch organisirt und in mehrfacher Beziehung
dem Hoftricgsrathe untergeordnet war.
Die Bekleidung dieses Corps bestand in einem lichtblauen Fracke und
gleichfarbigen Beinkleidern mit grünen Aufschlägen und messingenen Schuppen-
epaulets und einem Helme, an dessen Stelle später ein Tschako trat; die Be¬
waffnung war ein leichter Jnfanteriesäbel und ein gewöhnliches Bayonnetge-
wehr. Doch wurde letzteres nur bei besonderen Gelegenheiten, z. B. bei Pa¬
raden, und von ^en Schildwochen bei den Gefängnissen getragen, sowie auch
der Säbel nur der Zierde wegen da zu sein schien und für gewöhnlich friedlich
in seiner Scheide verblieb.
Die Hauptwaffe des östreichischen Pvlizeimannes aber war der —Hasel¬
stock, welcher als gefürchtetes Symbol der polizeilichen Gewalt neben dem
Säbel hing, aber auch oft als bochgcschwungener Commandostab und fast eben¬
so oft als wirksames Strafwcrt'zeug fungirte.
Der Gebrauch dieses Instrumentes schien bei der Polizei so gründlich ein¬
gebürgert zu sein, daß auch die Feldwebel sich ihrer dicken spanischen Röhre
und. die Offiziere ihrer Spazierstöcke zu gleichem Zwecke bedienten. So war
ein alter Polizeilieutenant in Prag z» jener Zeit der Schrecken aller Markt¬
bauern und Fuhrleute. Schon am frühen Morgen konnte man die riesige Ge¬
stalt desselben bei einem der frequentesten Thore sehn. Er war so stadtbekannt,
daß er gar nicht für nöthig hielt, erst eine Uniform oder überhaupt ein Kenn¬
zeichen seiner Würde anzulegen. Wehe aber dem Fuhrmanne, welcher auf
seinem Wagen eingeschlafen war, oder dem Handwerksburschen, welcher unbe¬
kannt mit den Localgesetzen sein Pfeifchen im Munde behalten hatte. Ein
Paar gewaltige Hiebe, welche der Gefürchtete mit seinem schweren Spazierstöcke
dem Rücken des Leichtsinnigen applicirlc, belehrten denselben höchst eindringlich,
wie gefährlich es sei, sich dem starken Arme der Polizei zu nähern.
In Wien gab es auch berittene Polizeisoldaten, welche sich, gleich jenen
zu Fuß, aus der Armee recrutirtcn. Gewöhnlich wurden halbinvalide, für den
Felddienst nicht mehr ganz geeignete Soldaten von guter Aufführung hiezu
ausgewählt. Bei der damaligen langen Dienstzeit des Militärs konnte es
nicht an Leuten fehlen, welche Befähigung und Lust zum Polizeidienste hatten,
zumal da derselbe in gewöhnlichen Zeiten nicht anstrengend war, und der Be¬
treffende eine kleine Geldzulage bekam, auch hin und wieder Ncbenspvrteln ab¬
fielen.
Zwar erhielt der neu aufgenommene Polizeimann fast gar keinen Unter¬
richt über den Umfang und die Bedeutung seiner Pflichten und Rechte, aber
da er gewöhnlich wenigstens jenen Schliff besaß, welchen eine längere Militär-
dienstzcit zu verleihen vermag, so wurde der Dienst im Allgemeinen erträglich
verrichtet. Denn wenn auch die ausübenden Polizeiorgane nur schwer aus
dem gewohnten Schlendrian zu bringen waren, über Kleinigkeiten das Wich¬
tigste vergaßen, gewöhnlich überall zu finden waren, wo sie nicht hingehörten,
und häufig sich Pflichtvernachläsfigungen erlaubten, so kamen doch andrerseits
auch höchst selten und nur auf Befehl von oben Ueberhebungen und Willkür¬
lichkeiten bei den Soldaten der Polizei vor. Darum wurden, wenn man auch
das Institut,selbst haßte, dessen untere Organe weder gefürchtet noch geachtet,
ja oft mit derbem Spott behandelt. Die häufig beobachteten Beispiele von
Bestechlichkeit, deren sich die Polizeisoldaten, vom Stadlhauptmann bis zum
Gemeinen herab, schuldig machten, vernichteten das moralische Ansehen eben
so vollständig, als die Furcht vor der physischen Leistungsfähigkeit schwinden
mußte, wenn man z. B. sah, wie der erste beste Vagabund die ihn anhaltenden
gebrechlichen Pvlizeileute gleich Mücken zur Seite schleuderte, und wie letztere,
bei den meisten Gelegenheiten den Kürzern ziehend, das Weite suchen und auf
die nächste Militärwache um Verstärkung schicken mußten.
Und wie im Kleinen, so im Großen. Bei jedem größeren Excesse in einer
der Landeshauptstädte, bei jedem Volksauflaufe zeigte sich die Gewalt der Po¬
lizeitruppen ungenügend, und es mußte Militär requirirt werden. Viele Stra¬
ßenskandale, die anderorts ausschließlich von der Polizei bewältigt worden wären
und auch hier bei nur einiger Klugheit und Mäßigung ohne Aufsehen unter¬
drückt werden konnten, wurden erst dadurch, daß die Polizei gleich bei den ersten
Lebenszeichen des aufgeregten Volksgeistes das Einschreiten des Militärs ver¬
langte, zu Aufständen gestempelt.
So z. B. mehrere ganz gewöhnliche Wirthshausraufereien 1838 und 1839
in Wien, die Druckerrevolte 1844 in Böhmen und mehrere geringere Excesse
in andern Orten. Das Militär aber, zur steten Helferin der Polizei herabge¬
würdigt, faßte theilweise gegen diese Verwendung einen gründlichen Widerwillen
und erfüllte nur lau und zögernd das ihm Aufgetragene, wie es sich hei mehre¬
ren Gelegenheiten zeigte, wo die Soldaten die Kugeln wegwarfen oder in die
Luft feuerten. Anderntheils aber gewöhnte sich auch das Militär an diesen
Dienst und glich — wie 1848 von polnischen, walachischen und italienischen
Soldaten geschah — die Schwäche der Polizei durch die Brutalität von Scher¬
gen aus.
Spielte schon die Polizei in den Hauptstädten keine glänzende Rolle, so
konnte man kaum etwas Armseligeres finden, als die Polizei in den mittleren
und kleinen Provinzialstädten.
Die Polizeisoldaten dieser Orte waren theils städtisch, theils ständisch und
in ihrer Unisormirung der Militärpolizei ähnlich, — wenigstens durfte der de>
liebte „Haslinger" nicht fehlen. Man wählte allerdings meist ausgediente Sol¬
daten für diese Posten aus; allein das vorgerückte Alter (Leute von mehr als
60 Jahren waren nicht selten), körperliche Gebrechlichkeit und der nun einmal
eingewurzelte spießbürgerliche Geist trugen dazu bei. dreselben zu wahren Car-
ricaturen zu machen, hinter welchen die verrufenen Stadtsoldatcn der ehemaligen
Reichsstädte weit zurückstanden.
Bei einer nur geringen Löhnung hatten übrigens diese Leute eine ganz
gemächliche Stellung, da ihnen verschiedene Nebengebühren, zuweilen auch An¬
theile an Taxen und Strafgeldern. Trinkgelder (hier waren es wirkliche Trink-
gelber) und tgi. zufielen. War bei ihnen von einer ordentlichen Diensterfül-
lung keine Rede, so betrugen sie sich doch arrogant, grob und eigennützig genug,
besonders gegen Fremde und wenn sie sich im Besitze der Gewalt wußten. Frei¬
lich kamen sie dabei manchmal an den Unrechten/)
Jedenfalls ist es ein sprechender Beweis der loyalen und praktischen Ge¬
sinnung, welche die Bewohner der deutschen Provinzen beseelte, daß man zwar
offen über die Uebelstände des Polizeiinstitutes klagte, jedoch keineswegs dessen
gänzliche Beseitigung, sondern eine gründliche Verbesserung verlangte, ja daß
wiederholt der Wunsch nach Einführung einer Gendarmerie geäußert wurde.
Freilich dachte man dabei nur an eine Gendarmerie nach dem Muster jener in
den deutschen Nachbarstaaten; denn für die Sicherheit der Straßen und des
Landes war nicht einmal dein Namen nach eine Vorkehrung getroffen. Um sich
vor Dieben. Räubern oder Brandlegern zu schützen, mußten die Bewohner der
Dörfer und kleineren Städte selbst Wache halten, die Reisenden mußten sich
wohl bewaffnen, und die Fuhrleute schlössen sich gewöhnlich in größere Kara-
vanen zusammen, wenn sie eine unsichere Strecke zu passiren hatten. Oft
mußte dann der Postwagen, wenn er größere Geldsummen verwahrte, von
mehreren Soldaten begleitet werden. Nur wenn das Unwesen der Buschklepper
gar zu arg wurde, wurden MUitärabthcilungen, gewöhnlich Jäger, „auf Näuber-
commando" entsendet. Man kann sich von dem Umfange des Räuberunwesens
eine Vorstellung machen, wenn man erfährt, daß oft ganze Bataillone hierzu
verwendet werden wußten. Namentlich war dieses in Böhmen der Fall und
es schienen „die böhmischen Wälder" noch immer die sichere Zufluchtsstätte der
Feinde des Eigenthums zu sein. Welche Kräfte mußten aufgeboten werden,
um dem Treiben des Babinsty, des Hiesel und Anderer ein Ziel zu setzen,
oder um die weitverzweigte Räuber- und Schmugglerbande der Brüder Kohl¬
mann zu zerstreuen!
An den Grenzen sollte zwar die „Grenzwache"") neben der Verhinderung
des Schmuggels auch über die allgemeine Sicherheit wachen, aber es mußte
auch hier- wiederholt Militär requirirt werden, um der Grenzwache nur die Er¬
füllung ihrer Berufspflicht, die Wahrung der Douane, zu ermöglichen.
Die außerdem öfters genannten Kreisdragoner, Bezirksboten, Ueberreiter
u. f. w. waren nur uniformirte, oft aber nicht einmal bewaffnete Amtsdiener,
die mit dem Dienste der Polizei gar Nichts zu schaffen hatten. Die von den
Gemeinden erhaltenen Nacht-.und Gemeindewächter waren nur den Gemeinde-
Vorständen verantwortlich und wurden von den competenten Regierungsorganen
beinahe niemals controlirt.
Wenn nun die Sicherheitsorgane der absolut-monarchisch regierten Provin¬
zen den leitenden Regierungsprincipien folgten und nur einen blinden Gehor¬
sam gegen ihre Oberen, nebenbei den eigenen Vortheil, fast niemals aber eine
Rücksicht gegen das Publicum im Auge behalten zu müssen glaubten: so war
dagegen die Polizei in Ungarn, wenn dort von einer Polizei überhaupt die
Rede sein konnte, ein rein oligarehisches Institut.
Hier waren es die Comitats- und Stadt-Panduren, Husaren, Hayducken
oder Trabanten, welche als Kanzleiboten, Gerichtsdiener, Gefangenwärter, Po¬
lizeisoldaten und Gendarmen fungirten. Wie schon der Name anzeigt, wurden
sie theils von den Obergespanen der Comitate, theils von den Magistraten
der Städte ernannt und besoldet, oft aber waren sie auch bloße Leibtrabanten
der Edelleute und Prälaten.
Ihre Kleidung war in jedem Comitate und in jeder Stadt von anderer
Farbe und anderem Schnitte, nur in dem übereinstimmend, daß sie stets als
Husaren montirt und mit Neitersäbel und Gewehr bewaffnet waren. Oft haben
sie recht martialisch, mitunter aber auch ganz hariekinmäßig aus. Wie die Klei¬
dung, waren auch die Reglements und Jnstructionen der Panduren verschieden.
In der Auslegung und Anwendung der Gesetze aber und in dem Benehmen
gegenüber der Bevölkerung kamen wohl alle Panduren überein, mochten sie
nun in Siebenbürgen, in Nord- und Südungarn, oder im Banat amtiren.
Uebermuth gegen den Bürger und jeden nichtadeligen Fremden, Brutalität und
Ungerechtigkeit gegen den Bauer und Juden, kriechende Unterwürfigkeit gegen
den vorgesetzten Beamten und gegen den Edelmann, Eigennutz, Bestechlichkeit,
Spielsucht, Prahlerei, Eigensinn und Unwissenheit waren die Eigenschaften und
Tugenden dieser Wächter der Gesetze. Sowie die ungarischen Gerichtsbeamten
in der Ausübung ihres Amtes oft höchst parteiisch verfuhren, namentlich aber
Übertretungen und Bergehen verhältnißmäßig strenger und auch mit größerer
Beeilung zu bestrafen pflegten, als schwere Verbrechen, so fahndeten auch die
Panduren mit besonderer Lust und Beharrlichkeit nach den kleinen Uebelthätern,
während sie achtlos — oft auch mit gutem Wissen — an den ärgsten Räubern
vorübergingen. Der umherziehende Zigeuner, der jüdische Hausirer, der Hand¬
werksbursche Und der leibeigene Bauer wurden von dem Späherauge des Tra¬
banten auf jedem Schritte bewacht und im Falle des geringsten Fehltrittes
unnachsichtlich in Haft genommen. Wehe demjenigen, welcher es an dem ge¬
bührenden Respecte gegen die Comitats- oder Stadtbeamten, gegen einen Edel¬
mann oder 'auch gegen den Kedves huszar ur (den geschätzten Herrn Husaren)
hatte fehlen lassen. Er wurde sogleich „in das Loch gesteckt" und oft auch
wohl von dem Trabanten selbst abgestraft, und zwar aus dessen eigenes Ermes¬
sen hin mit dem Haslinger, der Peitsche, der „Disciplin" oder der „Marianka," *)
Dem notorisch bekannten Räuber, dem Pferdediebe (einer dem Ungarlande eigen¬
thümlichen Species), oder dem Schmugglerführer wurde nur selten zu Leibe
gegangen, wenn er nicht etwa das Unglück hatte, den Panduren oder einen
Freund desselben zu benachtheiligen, oder wenn nicht etwa ein Preis auf seinen
Kopf ausgesetzt war.
Wiewohl nun diese Panduren weder militärisch organisirt noch disciplinirt
waren, nannten sie sich doch gern Soldaten und wurden auch von ihren Vor¬
gesetzten als Soldaten betrachtet, — vielleicht blos darum, weil sie bei dem
Aufgebote der allgemeinen Jnsurrection in früherer Zeit wiederholt an Stelle
der pflichtschuldigen Kontingente der Comitate und Städte abgeschickt worden
waren.
Von gleicher Beschaffenheit waren die Polizeiorgane in den ungarischen
Nebenländern, Siebenbürgen, Kroatien, Slavonien und dem ungarischen Littorale.
Die Militärgrenze, diese riesige Kaserne, hätte gar keiner eigentlichen Poli¬
zeiwache bedurft, da zwei Drittel der erwachsenen männlichen Bevölkerung für
die Sicherheit des Landes wachen mußten. Demungeachtet hatte jedes Grenz¬
regiment 2—300 Seressaner, welche mancherlei Vorrechte, namentlich Steuerbe¬
freiung und Diensterleichterung genossen, überhaupt in größeren Ansehen als die
übrigen Grenzer standen, dafür aber zur Verrichtung des Gendarmeriedienstes
in der Militärgrenze verpflichtet waren. Sie erhielten vom Staate weder Waf¬
fen noch Montur und staffirten sich mit zwei türkischen Pistolen, einem Hand¬
schar und einer langen Flinte recht malerisch aus. Ihr Hauptbekicidungsstück
war der traditionelle blutrothe Mantel, und die Panduren Trenks, die Roth¬
mäntel aus den französischen Kriegen, sowie 1848 die Seressaner und irregu-
lären Kroaten des Ban Jellachich waren nur dem Namen, nicht aber dem We¬
sen nach verschieden. Während die andern Grenzer Pikets und Schildwachen
längs der Grenze bezogen, patrouillirten die Seressaner den ganzen Cordon ent¬
lang, durchstreiften auch wohl das jenseits der Grenze liegende Gebiet und
waren zur Verfolgung von Räubern, Deserteuren, schwarzem und Contumaz-
übertretern vorzugsweise verpflichtet. Der eigentliche Polizeidienst wurde jedoch
auf dem Lande von allen Grenzern gemeinschaftlich, in den Städten von den
in Garnison befindlichen Linien- oder Grenztruppen verrichtet. In den Militär-
Immunitäten, d. i. er jenen Städten, deren Bewohner nicht militärpflichtig
waren, gab es auch Panduren, welche sich von ihren Kameraden in Ungarn
wenig unterschieden.
Dalmatien hatte seine Serdaren, ein Mittelding zwischen den Seressanern
der Grenze und den Cvmitatpanduren in Ungarn, weder ganz von den Kreis¬
oder Stadtbehörden abhängig, noch direct in dem Militärverbande stehend. Sie
hatten ihre eigenen Offiziere und waren militärisch organisirt, wurden aber aus
den Einkünften des Landes besoldet.
Das oft sehr gewaltthätige Austreten der Serdaren, besonders bei Aus¬
übung des Pvlizcidienstes in den Städten, wurde von der im Allgemeinen
ziemlich ungebildeten Bevölkerung nicht schwer empfunden, ja es mochte sogar
gerechtfertigt erscheinen und auch in anderer Hinsicht, nämlich bei den räuberi¬
schen Ueberfällen der Bosnier und Montenegriner, wurde die Thätigkeit der Ser¬
daren gelobt. Dagegen zeigten sie sich bei der Verfolgung inländischer schwerer
Verbrecher, besonders solcher, weiche der Blutrache wegen einen Mord begangen
hatten, lau und widerstrebend, da sie, mit den Einwohnern des Landes ver¬
wandt und befreundet und deren Ansichten theilend, in den von den kaiser¬
lichen Gerichte« Verfolgten nur des Schutzes bedürftige Flüchtlinge erblickten.
In Italien, welches unter allen östreichischen Provinzen am längsten un¬
ter französischer Herrschaft gewesen war und dessen Bevölkerung sich in die Na¬
poleonischen Institutionen schon hineingelebt hatte, ließ die östreichische Regie¬
rung fast Alles beim Alten, namentlich auch beim Polizeiwesen, bei welchem
nur einige unbedeutende administrative Aenderungen vorgenommen wurden.
Daher hatte diese Provinz eine Gendarmerie und nebenbei ein Militärpolizei-
wachcvrps. Letzteres wurde nach dem Muster der Polizei in den Erbländern
umgemodelt, bestand durchaus aus Italienern, verrichtete den gewöhnlichen Po¬
lizeidienst mit Eifer und Geschick, ließ aber sonst Vieles zu wünschen übrig.
Der größte Theil dieses Corps schloß sich 1843 den Insurgenten an, und nur
Wenige zogen mit Radetzky's Truppen aus Mailand.
Besser war die Gendarmerie. Dieselbe bildete ein Regiment, von welchem
die größere Hälfte zu Fuß, der Rest zu Pferde diente.
Die Bekleidung, welche von den Oestreichern fast ungeändert beibehalten
worden war, bestand aus dunkelgrünen Fracks und Beinkleidern, mit rosenrothen
Aufschlägen und gelben Schnüren, dreieckigen Hüten und grauen Mänteln, die
Bewaffnung aus einem Jnfanteriesäbel und einem leichten Bayonnetgewehr,
bei den reitenden Gendarmen aber aus einem Pallasch und einem Carabiner.
Diese Gendarmen hatten ihre Thätigkeit hauptsächlich auf das Land und
die kleineren Städte auszudehnen, während in Venedig, Mailand, Verona und
andern großen Städten für gewöhnlich nur die Polizeiwache zu fungiren hatte.
Die Mannschaft bestand fast ausnahmslos aus Italienern, wurde aber
mit ziemlicher Sorgfalt aus altgedienter verläßlichen Soldaten der Linieninfan-
terie und des italienischen Chevauxlegersregimentö ausgewählt. Die Offiziere
aber konnten jeder beliebigen Nationalität angehören, wenn sie nur der italie¬
nischen Sprache vollkommen mächtig waren. Die Besoldung der Gendarmen
konnte bei den damaligen Verhältnissen eine wirklich namhafte genannt werden.
Dafür entwickelte auch die östreichisch-italienische Gendarmerie eine rühm¬
liche Thätigkeit und steuerte dem Banditenwesen in einer Art, wie solche in
Italien vordem kaum für möglich gehalten worden war, während in den Nach¬
barländern, besonders im Kuchenstaat, trotz aller Gegenmaßregeln die Unsicher¬
heit der Straßen eher zu- als abnahm.
Gewiß würde auch die Haltung der Gendarmerie beim Ausbruche der Er¬
hebung von 1843 eine bessere gewesen sein, wenn der Abfall nicht von oben
ausgegangen wäre; denn einzelne nur von Offizieren »der Unteroffizieren ge¬
führte Abtheilungen blieben der kaiserlichen Fahne getreu, während in Mailand
der Chef des gesammten Genbarmeriewesens, der alte General Riveira aus
Zaghaftigkeit oder wohl gar in direct verräterischer Weise die Pläne der In¬
surgenten begünstigte, sich im entscheidenden Augenblick krank stellte, heimlich
aber solche Maßregeln traf, daß seine Mannschaft vereinzelt, von der Verbin¬
dung mit den verläßlichen Truppen abgeschnitten und der Verleitung durch die
Insurgenten preisgegeben wurde.
Das Jahr 1848, dessen Stürme das Gebäude des Metternich'schen
Systems zerstörten, brachte in allen Zweigen der Staatsverwaltung eine totale
Umwälzung hervor. War der Polizeistaat gefallen, so mußten auch dessen
Stützen, die Polizei und die Diener derselben, wo nicht ganz außer Thätigkeit
gesetzt, so doch auf den gebührenden Wirkungskreis beschränkt werden.
Während der Märztage in Wien, sowie bald darauf in den meisten Pro¬
vinzen machte sich der lang verhaltene Volksunwille vorerst nur in Angriffen
auf die Polizeiorgane und die Finanzwache Luft. So wurden z. B. in Wien
die Linienämter (Polizei- und Douanehäuser bei den Barrieren) demolirt, ein¬
zelne Finanzwächter und Polizisten verhöhnt und insultirt.
Der Gemeindevorstand von Wien, die von dem Kaiser verliehene größere
Selbständigkeit der Gemeinden zu verwirklichen strebend, errichtete sofort eine
eigene Municipalgarde oder Sicherheitswache zu Fuß und zu Pferde. Die Be¬
kleidung dieses Corps bestand in grasgrünen Waffenröcken mit hochrothen Auf¬
schlägen, grauen Beinkleidern und Tschakos oder Helmen, auf welchen das
Stadtwappen angebracht war. Ein leichter Schleppsäbel war die gewöhnliche
Waffe.
Auf den ersten Anblick machte diese Municipalgarde einen recht günstigen
Eindruck, da dieselbe durchgehends aus großen und stattlichen Leuten bestand,
auf deren Anzug und Ausrüstung hinreichende Sorgfalt verwendet wurden Da
aber das in Oestreich althergebrachte Protectionswesen auch hier Wurzeln faßte
und bald nur die Schützlinge der ersten Gemeindebeamten und anderer ein¬
flußreicher Personen aufgenommen wurden, während man doch auf die körper¬
liche Befähigung Werth legte, so mußte man in den übrigen Anforderungen
»achlassen und auf Intelligenz und ein tadelloses Vorleben verzichten.
Kleineren Skandalen ruhig zusehend und bei größeren Ereignissen durch
das sofortige Erscheinen der Nationalgarde, der Studentcnlegion, oder auch des
Militärs überflüssig gemacht, spielte die Sicherheitswache eine wenig glänzende
Rolle und machte nur einmal (bei der Arbeiter-Emeute Ende August 1848)
einen Versuch zur Wiederherstellung der Ruhe, wobei sie freilich ihrem Namen
eine traurige Berühmtheit verschaffte.
« In vielen,Städten der deutsch-östreichischen Provinzen übernahm die Na¬
tionalgarde den Polizeidienst, ohne jedoch das allgemeine Beste hierdurch sonder¬
lich zu befördern.
Indessen bestand auch die frühere Polizeiwache noch fort. Sie hatte gleich
im Anfange den verhaßten Haselstock abgelegt und schien sich dem Publicum
gegenüber eines humaneren Auftretens befleißigen zu wollen. Bald aber ver¬
minderte sich ihre Thätigkeit mehr, und mehr und hörte endlich ganz auf. Die
Polizei existirte noch, war aber nicht mehr zu sehen. Vielleicht wollte sie durch
die Einstellung jeder, auch der nothwendigsten Thätigkeit, die Bevölkerung von
ihrer Nothwendigkeit überzeugen, um nach dem sehnlich erwarteten Siege der
Reaction eine größere Gewalt als je zu erhalten.
Nach den Octobertagen kam die Polizei aus ihren Verstecken hervor und
wurde von Vielen freudig begrüßt. „Lieber die schlechteste Polizei als gar
keine," war zu jener Zeit das Losungswort der „gutgesinnten" Wiener.
In Ungarn ließ man das alte Pandurenwesen fortbestehen, wiewohl an
manchen Orten die Nationalgarde — zum großen Verdrusse der Edelleute —
sich einen Theil des Polizeidicnstes zueignete. Obgleich gewöhnlich Vollblut¬
magyaren, benahmen sich diese Panduren mit solchem Takte, daß ihnen nach
dem endlichen Siege der Oestreicher nicht nur die Waffen nicht abgenommen,
sondern sogar die Gleichstellung mit den kaiserlichen Polizeisoldaten und die einst¬
weilige Fortführung ihres Amtes zugestanden wurden.
Dalmatien, unter allen östreichischen Provinzen von den Kämpfen jener
Zeit verhältnißmäßig am wenigsten berührt, behielt seine Serdaren.
Italien aber war factisch ohne eine eigene Polizei. Die frühere Polizei¬
wache und Gendarmerie lösten sich auf, die treu gebliebenen Reste dieser Corps
verrichteten den Dienst im östreichischen Hauptquartier und gaben ihre Kontin¬
gente zur Errichtung der Stabsinfanterie, Botcnjäger und Stabsdragoner ab.
Die provisorischen Regierungen der Städte, sowie die Sardinier hatten nicht
Zeit, der Regelung der innern Angelegenheiten große Aufmerksamkeit zu schen¬
ken, obschon hie und da eine Art Municipalgarde" errichtet wurde. Nach der
Wiedereroberung des Landes durch die Oestreicher wurden zwar die frühern
Verwaltungs-, Justiz- und Polizeibehörden wieder eingesetzt, der ausübende po¬
lizeiliche Dienst aber wurde provisorisch den Linientruppen übertragen.
Erst nach gänzlicher Unterdrückung der Revolution in allen östreichischen
Provinzen, also Ende 1849, dachte man an die Neuerrichtung der Polizei¬
truppen.
Der Feldmarschalllieutenant Kempen, der Minister Bach und der Kriegs¬
minister General Csorich führten diese Aufgabe ihrer Lösung zu.
Das Verdienstlichste war jedenfalls die Errichtung der Gendarmerie; leider
nur wurde die Grundidee nicht so durchgeführt, daß das Institut die erwarte¬
ten Vortheile schassen und allgemeine Beliebtheit erlangen konnte.
Es wurden in Allem 16 Gendarmerieregimcnter zu Fuß und zu Pferd,
gewöhnlich in jeder Provinz eines errichtet. Diese Regimenter waren von sehr
ungleicher Stärke; so hatte z. B. das dalmatische Regiment wenig über 400 Mann,
darunter kaum 50 Berittene, während die Regimenter in Ungarn und Galizien
über 2000 Mann, wovon ein Drittel beritten, zählten. Einige Jahre später
wurde durch Theilung der drei größten Regimenter die Zahl derselben auf
neunzehn gebracht. Der Stab des Regimentes befand sich in der Hauptstadt
der betreffenden Provinz, wogegen zwei oder drei Majore desselben in den
nächst größeren Städten ihren Sitz hatten. Die Rittmeister waren die Chefs
der Flügel und die Offiziere die der Züge, gewöhnlich in den Kreis- und Be¬
zirkshauptstädten. Wachtmeister und Vicewachtmeistcr waren als Sectionscom-
mandantcn in den Märkten und allen größeren Dörfern aufgestellt. Derlei
Posten bestanden aus einem Unteroffizier und drei bis nenn Gendarmen. Die
gesammte Gendarmerie stand unter der Leitung der General-Inspection in Wien,
an deren Spitze der General Kempen stand.
So war denn über die ganze Monarchie ein Netz gebreitet, mit einem
Mittelpunkte, von welchem aus man das Ganze bis in die kleinsten Details
leicht und sicher leiten zu können vermeinte. Aber der ganze Plan wurde lei¬
der in zu bureaukratischer und militär-dictatorischer Weise durchgeführt, keine
Generalinspection correspondirte mit ihren untergeordneten Organen für ge-
wöhnlich auf dem stufenweisen Dienstwege, in manchen Fällen aber konnten
selbst Postcncommandanten mit Umgehung ihrer nächsten Vorgesetzten, ja wohl
über diese Vorgesetzten selbst, der obersten Behörde geheimen Bericht erstatten,
wodurch der Angeberei Bahn gebrochen wurde. Noch mehr wurde diese dadurch
befördert, daß die Gendarmerie über die in ihrem Bezirke befindlichen Staats¬
beamten und umgekehrt wieder diese über die Gendarmerie geheimen Rapport
abstatten mußten.
Der gemeine Gendarm besaß Unteroffiziersrang in der Armee und genoß
überhaupt verschiedene Vorzüge, verlor aber diesen Rang, wenn er — auch
ohne seine Verschulden — zur Truppe zurückversetzt wurde. Wer als Offizier
oder Unteroffizier aus der Gendarmerie entfernt wurde, konnte seine militärische
Laufbahn als geschlossen betrachten. Denn der Makel, zur Gendarmerie nicht
tauglich befunden worden zu sein, klebte unauslöschlich an. Man bedachte
nicht, daß man ein ausgezeichneter Soldat und doch nur ein mittelmäßiger
Gendarm sein könne. Und die Entfernung aus der Gendarmerie erfolgte oft
der unbedeutendsten, mit dem Gcndarmeriedienste in gar keiner Verbindung
stehenden Ursachen wegen.
Der Gendarm konnte jeden Offizier verhaften ohne einen Haftbefehl vor¬
zeigen zu müssen, er sprach einfach-. „Im Namen des Gesetzes", und es mußte
ihm Gehorsam geleistet werden; der Gendarm selbst aber war sogar hohen
Militär- oder Civilbehörden gegenüber unantastbar und brauchte nicht einmal
Auskunft zu ertheilen. Widersetzlichkeit gegen die Gendarmerie galt als das
höchste Verbrechen, demungeachtet wurde der von der Gendarmerie verhaftete
Soldat empfindlicher gestraft, als jener, welcher von einer Polizei- oder Mili¬
tärpatrouille oder von den Organen einer Civilbehörde verhaftet wurde. Die¬
ses Alles erzeugte im Heere einen gründlichen Widerwillen gegen die Gen¬
darmerie, und die sonst so innige, fast sprichwörtlich gewordene Kameradschaft
der östreichischen Militärs fand zwischen der Armee und der Gendarmerie nur
ausnahmsweise statt.
Ein anderer, die Armee tief berührender Nachtheil war das allzu hastige
Vorgehen bei Errichtung der Gendarmerie. Eine solche Truppe errichtet man
nicht regimenterweise. Die Mannschaft wurde, wenigstens in gewisser Hinficht,
sehr sorgfältig ausgesucht. Der Mann mußte eine ansehnliche Größe besitzen,
des Lesens und Schreibens, sowie der deutschen Sprache und in den nicht
deutschen Provinzen auch der Landessprache kundig, er mußte endlich im Exer-
ciren und bei der reitenden Gendarmerie im Reiten vollkommen ausgebildet und
von einer tadellosen Aufführung sein. Diese Anforderungen übertrafen jene,
welche man an einen tüchtigen Unteroffizier zu stellen gewohnt war Nur höchst
selten, im Anfange gar nicht, wurden besonders befähigte Recruten direct der
Gendarmerie zugetheilt. Mit einem Schlage wurden also der Armee über
22,000 Unteroffiziere oder zu Unteroffizieren Befähigte entzogen! In den deut¬
schen Provinzen mochten sich zwar die Nachtheile hievon weniger fühlbar machen;
desto empfindlicher mußten sie in den ungarischen, slavischen und rumänischen
Regimentern sein, wo die Obersten schon früher nur mit Mühe den nöthigen
Ersatz an Unteroffizieren aufzubringen vermocht hatten.
Die vom Kaiser Ferdinand einige Jahre früher erlassene Herabsehung der
Dienstzeit verminderte zwar die Zahl der altgedienter Unteroffiziere, verjüngte
und erfrischte' aber auch die Armee in einer zweckdienlichen Weise.
Nun aber nahm die Gendarmerie den Truppen, besonders der Kavallerie
und Infanterie, die besten und rüstigsten Unteroffiziere und den Nachwuchs der
selben hinweg.
Die Polizei, Gardcgcndarmerie und die andern übermäßig verstärkten
Garden, Miiitärerziehungsanstaltcn. Kanzleien u, s. w, setzten die Linientruppen
auf gleiche Weise in Tribut, so daß bei denselben fast nur Recruten und einige
zwar ältere, aber entweder körperlich oder moralisch defecte Leute verblieben.
Die hohe Besoldung war dem anstrengenden Dienste der Mannschaft an¬
gemessen, erschien aber bei vielen Offizieren, besonders bei den Stabsoffizieren,
welche kein Regiment befehligten, nicht gerechtfertigt und erregte daher bei an¬
dern Militärs von gleichem Range Neid und Verdruß.
Auch die Bekleidung war nicht sonderlich zweckmäßig. Grüne Waffen¬
röcke mit rosenrothen Vorstoßen, gelben Epaulets und Fangschnüren, graue,
im Sommer weiße Beinkleider, weißes Lederwerk und eine schwere Pickelhaube
mochten sich Wohl bei Paraden, im Gerichtssaale und in den Straßen einer
Hauptstadt recht hübsch ausnehmen, waren aber sehr unpraktisch für den das
Land durchstreifenden Gendarmen, zumal die Pickelhaube von keinem an¬
dern Soldaten der östreichischen Armee getragen wurde und der flüchtige Ver¬
brecher bei dem Ansichtigwcrden dieser weithin strahlenden Kopfbedeckung den
Gendarmen erkennen und sich bei Zeiten nach einem Versteck umsehen konnte.
Bei der Bevölkerung selbst mußte die Gendarmerie in kurzer Zeit sehr
unbeliebt werden, und die erwartete» Vortheile blieben fast gänzlich aus.
Unbestreitbar gebühren einem Gendarmen gewisse Vorrechte und eine ziem¬
lich ausgedehnte Vollmacht, — aber man überschritt in Oestreich das in dieser
Hinsicht zulässige Maß.
Gegen den Befehl des Gendarmen gab es keinen Widerspruch; was er
gethan hatte, wurde gutgeheißen und keine Berufung dagegen angenommen.
Mißbrauchte er seine Gewalt, so Martine Beschwerde dagegen selten von Er¬
folg und eine falsche Aussage des Gendarmen kaum widerlegbar, denn sein
Wort war wie ein Eid, welchem unbedingt geglaubt werden mußte.
Um sich Ansehen und Ruf einer besondern Thätigkeit zu verschaffen, ver¬
anlaßten manche Gendarmen ohne erhebliche Ursachen Arretirungen und wußten
nachher den Betreffenden wirklich eines Vergehens zu überweisen, wobei sie
noch von den Polizeibehörden kräftig unterstützt werden mußten/)
Den Gendarmen war bei vorkommenden Widerstands- oder Fluchtversuchen
die sofortige Waffenanwendung gestattet. Anfänglich scheint man die Gendar¬
merie in den größeren Städten statt der Polizeiwache zu verwenden Willens
gewesen zu sein, bald aber die Unzukömmlichkeit dieser Einrichtung erkannt zu
haben. Denn wiederholt ereignete es sich, daß ein Gendarm aus einen Be¬
trunkenen oder einen gemeinen Taschendieb, welcher dem ihm zugerufenen „Halt"
nicht Folge leistete, ohne Rücksicht, daß sich noch andere Personen auf der
Straße befanden, Feuer gab und dadurch friedliche Spaziergänger verwundete.
Vierteljährig wurden von der Gencralinspection Ausweise über die Thätigkeit
der gesammten Gendarmerie zusammengestellt und in allen Zeitungen veröffent¬
licht. Das Material hiezu wurde den^von den einzelnen Stationen eingesen¬
deten Rapporten entnommen. Diese Ausweise waren eben nichts Anderes als
ein dem Publicum vorgemachtes Blendwerk. Denn man konnte darauf rech¬
nen , die Gefangennehmung eines Verbrechers in vier bis fünf verschiedenen
Rubriken paradiren zu sehen. Der rapportirende Offizier füllte z. B. bei der
Verhaftung eines gewöhnlichen Diebes nachstehende Posten aus: „Gemachte
Patrouillen — 1, AnHaltung paßloser Vagabunden — 1, Verhaftung eines
Diebes — 1, Escortirung eines Gefangenen — 1, Zeugenschaft vor dem Ge¬
richt — 1, u. s. w. Uebvigens waren Patrouillen und AnHaltung verdächtiger
Individuen (d. h. aller Schlcchtgcklcideten) der Hauptinhalt dieser Ausweise.
In Ungarn und in Italien — 1851 in der Delegation Rovigo — grassirte
das Räuberunwesen ärger als je und konnte nur durch militärischen Beistand
unterdrückt oder wenigstens beschränkt werden, und andere Verbrecher, beson¬
ders die von feinerer Sorte, wurden häufig erst von den mitunter sehr geschickten
Polizeibeamten und Agenten der Gendarmerie in die Hände gespielt.
In den deutschen Provinzen, die von früher her an ein übcrstrengcs Po¬
lizeiregiment gewöhnt waren und wo man die Errichtung einer Gendarmerie
selbst begehrt hatte, wurde das Gebahren derselben weniger schmerzlich empfun¬
den, besonders da unter den, der Bevölkerung dieser Provinzen entstammenden
Truppen sich eine bessere Auswahl für die Gendarmerie treffen ließ. Aber in
Ungarn, wo man froh sein mußte, Leute von nur theilweiser Befähigung zu
finden, traf man unsäglich rohe Elemente unter der Gendarmerie, so daß selbst
die Gebildeten, obgleich sie die Nützlichkeit des neuen Instituts anerkannten,
zuletzt gegen dasselbe eingenommen wurden. Die Altconservativen erblickten in
der Gendarmerie eine verkörperte Verletzung ihrer Verfassung und legten da¬
her ihr Mißtrauen und ihre Abneigung offen an den Tag. Bei dem großen
Haufen endlich wurde durch eine eigenthümliche Begriffsverwirrung die Gen¬
darmerie für die Ursache aller mißliebigen politischen Maßregeln gehalten,
weil sie deren Durchführung zu überwachen hatte. Das den Ungarn bisher
fast unbekannte Paß- und Meldungswcsen, die Recrutirung und so manches
Andere war nach der Volksmeinung von oder wegen der Gendarmerie einge¬
führt worden; ja im Anfange hielt man an vielen Orten die Gendarmen für
zurückgebliebene Russen. Selbst daß die Gendarmerie mit Eiser, wenn auch
nicht immer mit Erfolg, den Räubern und Pußtadiebcn nachsetzte, war dem
gemeinen Manne, der für die „armen Burschen" eine gewisse Sympathie hatte,
nicht recht. „So unbarmherzig waren die Panduren nicht."
Ganz ähnlich stand es in den ungarischen Nebenländern. Die Szekler
und Ungarn in Siebenbürgen dachten wie ihre Brüder in Ungarn, und die
Kroaten, Slavonier und Wallachen, welche zur kaiserlichen Partei gehalten
hatten, glaubten sich zurückgesetzt und klagten über Ungerechtigkeit, da sie die
Einführung der Gendarmerie für eine den Ungarn aufgelegte Strafe hielten.
Die wohlhabenden, aber oft sehr geizigen Sachsen in Siebenbürgen murrten
über die ihnen aufgebürdeten neuen Steuern, welche sie für Erhaltung der
Gensdarmerie entrichten mußten.
Nur die Militärgrenze behielt ihre früheren Institutionen.
Auch in Dalmatien hatte die Gendarmerie große Hindernisse zu über¬
winden. Das fast halbwilde Volk konnte sich schwer oder gar nicht mit dem
polizeilichen Zwange befreunden. Der kühne Gebirgssohn war gewohnt, sein
Dorf nicht anders, als bis an die Zähne bewaffnet, zu verlassen, und nun
sollte er dem ihm begegnenden Gendarmen seinen Waffenpaß vorweisen, oder
gar seine Waffen abgeben und sich verhaften lassen; er sollte der Vendetta ent¬
sagen, seine Hütte durchsuchen lassen oder das Gastrecht verletzen und einen
zu ihm geflüchteten Freund anzeigen und ausliefern. Solche Schmach glaubte
er nicht tragen zu dürfen, und wenn er sich auch nicht gegen seinen Landesherrn
empörte, so hielt er es durchaus nicht für ungerecht, dem Gendarmen, der ihn
beleidigt hatte, bei guter Gelegenheit eine Kugel zuzusenden. Die vielen nach
officiellen Berichten im Kampfe mit den Räubern gefallenen Gendarmen waren
zum Theil nur dem Hasse der erbitterten Landesbewohner zum Opfer gefallen.
In Italien, wo die Gendarmerie beinahe besser als in den meisten andern
Provinzen geleitet und verwendet wurde, konnte sie sich die Anerkennung der
Bevölkerung schon darum nicht erwerben, weil sie ein östreichisches Institut war.
Demungeachtet muß man der östreichischen Gendarmerie das Lob zollen,
daß sie, wenn auch von der Bevölkerung im Allgemeinen mit Abneigung —
ja mit Haß betrachtet, so doch gefürchtet wurde und sich vielfach die Achtung des vor¬
urteilsfreien Theiles der Bevölkerung erwarb. Die zahlreichen Beweise von
Muth, Aufopferung, Pflichttreue und Menschenliebe, welche die Gendarmen ga¬
ben, mußten für das Verdienst der Einzelnen sprechen, wenn man auch den
Geist, der das ganze Institut leitete, tadelte.
Das Gegentheil aber widerfuhr dem Polizeiwachcorps, welches fast zur sel¬
ben Zeit neu organisirt wurde.
Die erste Aenderung betraf das Aeußere dieser Truppe. Die Bekleidung
war jener der Gendarmerie ähnlich, nur trat der Tschako an die Stelle der
Pickelhaube. Hierauf wurde das Corps ansehnlich vermehrt und es erhielten
nicht nur Wien und die Landeshauptstädte, sondern fast alle bedeutenderen
Orte der Monarchie ihre «eigenen Polizeidetachemcnts. Die noch existirenden
städtischen Polizeisoldaten wurden entlassen, oder in einfache Amtsdiener ver¬
wandelt. Dasselbe widerfuhr auch dem größten Theile der Comitatspanduren
in Ungarn. Nur in Wien ließ man die Sicherheitswache länger als zwei
Jahre neben der Militärpolizei fortbestehen.
Die Jnstructionen der Polizeiwache waren zwar ziemlich human; aber der
das ganze Polizeiwesen leitende Geist und die mangelhafte Auswahl der Mann¬
schaft für diese Truppe konnten nichts Gutes hervorbringen.
Hinlängliche Kenntniß des Lesens und Schreibens, sowie eine gute Auf¬
führung waren im Anfange die Ausnahmsbcdingungen für die zur Polizeiwache
sich meldenden Soldaten. Aber da die karge Löhnung, der ungemein ange¬
strengte Dienst und die igcringe Aussicht auf Beförderung Wenige anzog, die
Obersten der Linientruppen zuletzr auch keine zur Polizeiwache tauglichen Leute
bei ihren Regimentern finden konnten oder wollten; so mußte man selbst diese
bescheidenen Anforderungen noch herabstimmen und die Polizeiwache endlich
durch directe Recrutirung, besonders aus den slawischen Provinzen, ergänzen.
Und bei der schließlichen Auflösung der .Municipalgarde wurden die Individuen
derselben als Chargen eingetheilt und damit viele unlautere Elemente in das
Polizeicorps gebracht.
Hätte man den Leuten einen nur nothdürftigen Unterricht über ihre Ob¬
liegenheiten und die Wichtigkeit ihres Dienstes ertheilt, so hätte sich die Sache
ganz gut gestalten können. Der Mann erfuhr aber nur, „daß er besser sei, als die
andern Soldaten, und daß er dazu da sei, die Civilisten zu arretiren." Seine
Ausbildung aber war eine rein militärische Dressur, bei welcher man eher aus
alles Andere, als auf die eigentliche Bestimmung der Polizei Rücksicht nahm.
Freilich stand, wenn es nur auf einen ordonnanzmäßigen Anzug und auf Exer-
cirgewandtheit ankam, der östreichische Polizeisoldat unübertroffen da, man konnte
die Leute sogar plänkeln und „das Bayonnetfechten gegen Cavallerie" üben
sehen!
Dafür durfte man aber auch in dem ungebildeten polnischen oder czcchischen
Recruten kein eifriges und verständiges Organ der öffentlichen Sicherheit suchen,
sondern nur einen mittelmäßig dressirten Soldaten, welcher lau und mecha¬
nisch das verrichtete, wozu man ihn antrieb, oder einen eigenmächtigen und
unvernünftigen Büttel.
Wenn die Polizei in früherer Zeit den Spott und die Mißachtung des
Publicums auf sich gezogen hatte, so erregte sie jetzt durch ihr inconsequentes
und willkürliches Verfahren auch Haß und Verdruß, welche Gefühle sich
in den letzten Jahren bei verschiedenen Anlässen Luft machten. Und dieses ge¬
schah nicht etwa bei der Hefe, sondern bei der Mittelklasse der Bevölkerung,
da nur diese die Begegnung mit der Polizei zu scheuen hatte. Der Dieb, der
Excedent und der Trunkenbold aber fürchteten den Polizeimann nicht, da sie
recht gut wußten, daß derselbe nur im äußersten Nothfälle von seinem stumpfen
Säbel, nie aber von seinem Gewehr Gebrauch machen durfte. Fast wäre also
die frühere Polizei mit dem Haselstock vorzuziehen gewesen. Wie lächerlich nahm
es sich z. B. aus, wen» der Wasenmeister mit seinem Karren die Straßen
durchzog, um herrenlose Hunde anzufangen, begleitet von zwei Polizeisoldaten
mit geschultertem Gewehr, und wenn die liebe Straßenjugend mit wildem Hal-
loh den reputirlicher Zug umschwärmte, bald da bald dort einen der gefange¬
nen Hunde befreiend.
Und weicher komische Anblick war es, wenn ein Polizeimann, mit dem Ge¬
wehr im Arm, vor dem hochgeschwungenen Besen einer Oebstlenn die Flucht
ergriff.
Einen Beweis, daß man die Unzulänglichkeit der Polizei erkannte, gab die
Einrichtung der Wiener Gewölbewache, welches Institut vorzüglich auf Betreiben
des Handels- und Gewerbestandes'ins Leben gerufen und aus den Mitteln der
Gemeinde erhalten wurde.
So trugen die Polizeitruppen Oestreichs ganz das Gepräge der Schöpfung
eines nach äußerlichen Effect strebenden, aber wenig innern Werth und Halt
besitzenden Militärstaates, wie Oestreich es zu dieser Zeit auch wirklich war.
Die jüngsten Bewegungen in Oestreich bewirkten abermals eine Aenderung^
über deren Umfang und Dauer indeß noch nicht abgeurtheilt werden kann. Zu¬
erst wurden einige Gendarmerieregimenter gänzlich aufgelöst, die übrigen aber
in ihrem Stande bedeutend verringert. Auch ihre Bekleidung wurde vereinfacht
und verbessert. Dann wurde die Mehrzahl der Gendarmerieregimenter nach
Ungarn und Italien gezogen und in den deutschen Provinzen blos schwache
Depots zurückgelassen. In Ungarn wendete sich gleich beim Beginne der Erregung die
Wuth des Volkes gegen die Polizei. Kein Soldat, kein Gendarm, kein Beam¬
ter hatte solche Unbilden zu ertrage»; ein Beweis, wie verhaßt dieses Institut
gewesen war. Und als die Cvmitats- und Stadtbehörden restituirt wurden,
beeilte man sich vor allem Andern, das alte Pandurcnwesen in vollem Umfange
herzustellen und dadurch die kaiserliche Militärpolizci entbehrlich zu machen.
Klugerweise hat die Negierung auch jetzt, wo der Belagerungszustand factisch,
wenn auch nicht nominell, über Ungarn verhängt ist, in dieser Hinsicht Alles
ungecindert gelassen. Aehnliche Erscheinungen erlebte man in den ungarischen
Nebenländern. Auch dort wurde die Militärpolizei die Zielscheibe des Spottes
und Hasses der Bewohner und machte schließlich nationalen Pvlizeiorganen
Platz. Nur in Wien, in den Hauptstädten der deutschen Provinzen und in
Italien blieb die Militärpolizci in Thätigkeit, wiewohl sie auch da, der öffent¬
lichen Meinung nachgebend, sich zu einem bescheidneren Auftreten bequemte,
wie es z. B. bei den Katzenmusiken im vorigen Jahre in Wien und bei einigen
andern Anlässen in den Provinzen ersichtlich war.
Ob aber diese Besserung eine bleibende sein, und nicht etwa mit dem ersten
Ministerwcchsel wieder verschwinden werde, kann eben nur die Zukunft lehren!
Einen Journalismus, wie er in England, Frankreich und seit einigen Jahr¬
zehnten auch in Deutschland existirt, gibt es in Nußland — schon der bis auf
Kaiser Alexander den Zweiten sehr streng gehandhabten Censur wegen — nicht.
Die Tagesblätter, unter denen das Journal de Se. Petersburg, die Nordische
Biene, der Russische Invalide und die Moskaner Zeitung vom Ausland allein
einize Beachtung erfahren, bringen nur gelegentlich Leitartikel und Korrespon¬
denzen von Interesse, und keines von ihnen läßt sich einer wohlredigirten eng¬
lischen oder deutschen Zeitung an die Seite stellen. Die Stärke von dem. was
man in Rußland als Journalismus bezeichnen kann, liegt in den Magazinen,
den Monats- »der Wochenblättern, und viele Familien, welche auf kein Tages¬
blatt abonniren, empfangen zweimal monatlich die „nationalen Jahrbücher"
oder den „Russischen Boten", welche, wie der „Zeitgenosse" und die „Allgemeine
Lesebibliothek," in jedem Heft einen Rückblick auf politische und literarische Er¬
eignisse bringen. Diese Revüen besitzen den Aortheil, daß sie alle von gebil¬
deten Leuten geschrieben werden und daß sie zwar auch unter Censur, aber
nicht unter dem directen Einfluß der Regierung erscheinen wie die cigemlicheu
Zeitungen.
Die genannten Organe enthalten etwa so viel Lesestoff wie die englischen
Reviews und müssen, da sie sehr billig sind, eine außerordentlich starke Ver¬
breitung haben. Der „Russische Bote" bringt alle vierzehn Tage ein Heft von
durchschnittlich 360 Seiten groß Octav und kostet jährlich nicht mehr als 15
Rubel, der „Zeitgenosse", eine Monatsschrift, deren Hefte circa 700 Seiten ent¬
halten, ist ungefähr zu demselben Preis zu haben.
In Betreff des Inhalts hängen diese Zeitschriften noch ziemlich stark vom
Ausland ab, doch wird von den bessern bereits viel Eignes geliefert. Auffal¬
lend ist die Aufmerksamkeit, mit welcher sie namentlich die einzelnen Erschei¬
nungen der englischen Literatur verfolgen, und die Art, wie sie sich diese zum
Muster dienen lassen. „Wir finden in ihnen", sagt Edwards, „keinen frivolen
Feuillctonismus, keine unnatürliche Romanschreiberei, und zu gleicher Zeit keine
Mystik, keine Empfindelei, sondern Novellen und Erzählungen aus der Erfah¬
rung geschöpft, Charakterskizzen, Satiren auf Beamte und verschiedenartige
Mifibräuche der Regierung, Artikel über die Hilfsquellen des Landes, seine frü¬
here Geschichte und seine künftige Entwickelung".^)
Um näher zu zeigen, was diese Zeitschriften enthalten, gibt unser Bericht¬
erstatter eine Uebersicht über den Inhalt verschiedener Hefte von vier der be¬
deutendsten unter denselben.
Der „Zeitgenosse", von Puschkin gegründet und jeizt von Nekrasoff und
Panacff herausgegeben, enthielt im ersten Jahr des Krimkriegs an Novellen
und Erzählungen zwei Beiträge: „Die beiden Freunde" und „Mumunia" von
dem auch in Deutschland bekannten talentvollen Turgucneff, zwei fernere von
Panaeff: „das arme Mädchen" und „Experimente mit russischen Philistern,"
dann die humoristische Novelle „Fanfaron, ein Beispiel unsrer Philister" von
Pisemski, „das Tagebuch eines Neitervffiziers während des Türkenkriegs von
1828", endlich Uebersetzungen von Dickens' „Bleathouse", Thackeray's „Der Ball
von Mrs. Perkins", „Eine Reise nach Paris", „Die Abenteuer des Major Ga-
hagan" und Douglas Jerrolds „Leute von Charakter". Die Beiträge in Ver¬
sen sind sehr zahlreich, die besten darunter die von Netrasoff und Graf Tolstoi.
Die Liste der biographischen, kritischen und wissenschaftlichen Artikel umfaßt u,
a. eine Abhandlung über das Leben und die Werke Shendans. Thackcray's
Vorlesungen über die englischen Humoristen, den Versuch einer Biographie Go¬
gols, mehre Aufsätze über die gegenwärtige Lage der Türkei, das Leben des
letzten Fürsten von Montenegro (verfaßt von dem polnischen Gelehrten Kawa-
lcwski, der von Alexander dem Zweiten zum Minister des öffentlichen Unter¬
richts und Rector der Universität Moskau ernannt wurde), einen Aussatz über
die Aufrichtigkeit zeitgenössischer Kritik, eine Ueberschau über die im Jahre 1853
in russischer Sprache erschienenen Schriften, eine Charakteristik des oströmischen
Kaisers Basilius des Macedoniers und die Beschreibung einer Reise in die
Polargegenden und entlang der Küste von Weißrußland.
Der eine der beiden Herausgeber des Blattes, Panaeff. schreibt als Kri¬
tiker unter dem Namen „der neue Poet." Im Uebrigen liefert er satirische
Skizzen und Sittenbilder, die ein nicht unbedeutendes Talent verrathen, aber
start an Thackcray's Manier und namentlich an dessen schonungsloser, keine
fleckenlose Schönheit lernenden Realismus erinnern. Der „Zeitgenosse" hat so
ziemlich alle Werke der englischen Novellisten sofort nach ihrem Erscheinen in
London in russischer Uebersetzung gebracht und zwar in recht guter, so daß
Thackeray vielleicht in keinem Lande nächst seiner Heimath so eingebürgert ist.
als im fernen Neußenland.*)
Nekrasoff, der andere Herausgeber der Zeitschrift, beschränkt sich auf Dich¬
tungen in Versen, von denen vor einiger Zeit eine Sammlung Herauskam, die
manches auf Tagesfragen Bezügliche enthielt, und von der es hieß, die Censur
würde eine zweite Auflage nicht gestatten. Der Verfasser von „Fanfaron",
Pisemski, hat verschiedene Lustspiele geschrieben, ist aber vorzüglich durch seine
Dorfgeschichten zu Ruf und Ansehen gelangt. Bei Weitem berühmter und be¬
liebter ist Turgueneff. Sein Hauptwerk sind die „Erinnerungen eines Jagdlieb¬
habers." Seine Abhandlung über die Schriften Gogols wurde, da sie starke Worte
über dre Verderbtheit der russischen Beamtenwelt enthielt, von der Censur beanstan¬
det ; aber Turgueneff wagte sie dennoch zu veröffentlichen und wurde dafür
mit Verbannung bestraft, ein Urtheil, welches indeß durch Verwendung des
jetzigen Kaisers, damaligen Großfürsten Alexander, rückgängig gemacht wurde.
Das Januarheft der „Allgemeinen Lesebibliothek", deren Hauptmit¬
arbeiter Gregorowitsch und Gras Tolstoi sind, enthielt im Jahre 1857 eine
Uebersetzung des horazischen carinon stroeuwo, die Uebersetzung eines Gedichts
von Andrü Ehönicr, Gedichte von Mailvff, Graf Tolstoi u. A., eine Novelle
„Verwandtschaften in der Hauptstadt" von Gregvrowitsch, eine Uebersetzung der
polnischen Erzählung „der wandernde Musikant", eine Beschreibung von Bak-
tschiserai in der Krim und Besprechungen der „Lena> N(-moll<ZÄ" von Hamel
Beechcr-Stowe, der Geschichte Griechenlands von Grote, des Aufstands der
Niederlande von Motley und der „Skizzen aus dem Bauernleben" von Pi-
semsti.
Grcgorvwitsch hat sich besonders durch Dorfgeschichten einen Namen ge¬
macht und ist namentlich stark in Detailschildcrungen. Nachdem er die Univer¬
sität verlassen, diente er einige Zeit im Jngcnieurcvrps, dann verließ er — es
beißt in Folge einer ihm vom Oberbefehlshaber der Garde ertheilten Rüge —
die Armee und trat in die Petersburger Akademie der schönen Künste ein, wo
er unter Brulvff studirte. Später gab er die Kunst auf und lebte lange auf
dem Lande, bis er endlich seine Erfahrung und seine malerische Befähigung
durch Schilderungen aus dem russischen Landleben verwerthete.
Wir kommen zu dem dritten russischen Magazin, den aller vierzehn Tage
erscheinenden „nationalen Jahrbüchern", deren bedeutendster Mitarbeiter
Wladimir Dahl ist, und deren erstes Heft im Januar 1857 zunächst verschiedene
Gedichte, dann „die Portrait-Galerie", eine Novelle von Dankoffski, „Bilder
russischen Lebens" von Dahl, eine Uebersetzung von „Little Dorrit" von Di¬
ckens, „Bogdan Khelminzki, eine Episode aus der Geschichte Polens", „Ein
Tag in Paris" von Stachel, „Skizzen russischen Lebens im achtzehnten Jahr¬
hundert" von Kawelin. endlich eine Reihe von Kritiken und Büchcranzcigen
enthält. Unter letzteren befindet sich eine ausführliche Abhandlung über die
politische Zukunft Englands, geknüpft an eine Beurtheilung des bekannten
Montalcmbertschen Werkes.
Dahl gehört zu der Schule Gogols, des Vaters der russischen Novellistik.
Wie dieser hält er sich in allen Stücken an die Wirklichkeit und schildert er
mit Vorliebe in satirischer Komik die Verderbtheit der Beamtenwelt. Seine
Richter lassen sich bestechen, er nennt einen Dummkopf einen Dummkopf und
einen Kosaken'einen Spitzbuben.
Von ähnlichem Charakter sind die Beiträge, welche Soltikosf unter dem
Pseudonym Schtschedrin in den „Nuss,sehen Boten lieferte, ein Magazin,
welches erst unter dem jetzigen Kaiser entstanden ist. Diese Beiträge, welche
unter dem Titel „Skizzen aus der Provinz" erschienen und die stärkste Satire
enthalten, die je in Nußland geschrieben wurde, bezeichnen recht deutlich den
Umschwung, der seit der Thronbesteigung Alexanders des Zweiten im russischen
Journalismus stattgefunden hat. Kaiser Nikolaus hatte eine Abneigung gegen
alle Schriftsteller, schon deshalb, weil die Mehrzahl der Führer des Aufstands,
der bei Gelegenheit seines Regierungsantritts ausbrach, aus literarisch gebilde¬
ten und für die Literatur thätigen Offizieren und Beamten bestanden hatte.
Sein Nachfolger dagegen hatte von Jugend auf literarische Sympathien. Sein
Lehrer war Jukoffst'i, der Uebersetzer des Homer und vieler andern Dichter,
der Autor des „Säugers im russischen Lager", der Freund Puschkins, Kriloffs
und aller bedeutenderen Poeten und Schriftsteller jener Zeit. Ein andrer her¬
vorragender Mitarbeiter des „Russischen Boten" ist Kudriatseff, Professor der
Geschichte an der Moskaner Universität und Verfasser eines Lebens Karls.des
Fünften, der in einem der Hefte Reiseeindrücke während einer Tour von
Berlin nach Wien veröffentlichte. Graf Tolstoi schildert in einer andern Seba-
stopol wahrend seiner Belagerung. J>r der Nummer, welche Kudriatseffs Reise-
skizzen brachte, befand sich ferner ein sehr eingehender Artikel über Faraday's
Entdeckungen. Eine andere enthielt eine recht gute Übertragung von ErabbeS
„r^i-iLli KvListvv", die zweite Julinummer von 1859 den Anfang einer Ueber
Setzung des bekannten englischen Romans „Adam Bete."
Besonders eifrig beschäftigt sich der „Russische Bote" mit politischen The¬
men. So behandelt eine Reihe von Artikeln die Laufbahn Sir Robert Peels,
andere besprechen den Proceß Montalcmocrt, die Orsini-Affaire, die Parlamentö-
debatten, welche dem Rücktritt des Cabinets Derby vorausgingen, wieder an¬
dere (Juli 1859) den Frieden von Villafranca, noch andere die Reformen,
welche man von der Regierung wünscht, die Einführung von Geschworenenge¬
richten z. B. Der Ton und die Grundsätze, von denen die Verfasser dieser Auf¬
sätze ausgehen, sind die eines sehr fortgcschrittnen Liberalismus. Mit Feuer
wird das Princip der Selbstregierung verfochten, mit den stärksten Worten das
französische System der Centralisirung verurtheilt. In allen Stücken tritt her¬
vor, daß die russische Reformpartei, die in diesem Magazin das Hauptorgan
ihrer Bestrebungen besitzt, vorzüglich die Nachbildung englischer Einrichtungen
für Nußland im Auge hat. Wie wenig diese zum russischen Volksgeiste passen,
hat unser Aufsatz in Nummer 10 dargethan.
In gleich liberalem Geiste sind die Artikel über auswärtige Angelegenheiten
gehalten. In dem über den Frieden von Villafranca wurde der Befreier Ita¬
liens sehr stark mitgenommen, und Oestreich natürlich noch stärker. Die Schroff¬
heit, mit der über letzteres gesprochen wurde, rief eine Entgegnung des „Ruski
Invalid" hervor, welche der Redaction solche Ausfälle verweisen wollte. Allein
der „Bote" ließ sich nicht werfen. Er erwiderte den Artikel des officiösen Blat¬
tes mit einem sehr malitiösen Aufsatz, in welchem er nachwies, daß das einer
fremden Macht gebührende Maß von Artigkeit in einem unabhängigen Organe
nicht dasselbe sei wie das, welches für ein notorisch von der Regierung sala-
-nrtes Journal gelte.
In Betreff der Censur, die sich in Rußland bekanntlich auf alle Erzeug-
nisse der Presse, auf Bücher, Zeitungen und Monatsschriften, einheimische und
fremde erstreckt, bemerkt Edwards, das; dieselbe einheimischen Autoren in vielen
Stücken größere Freiheit zu lassen scheine, als ausländischen, was unsrer Ansicht
nach aber wohl nur von solchen Themen gilt, welche mit -den Absichten der
Negierung, z. B. der Emancipation der Leibeignen und der Reform des Bcam-
tenwesens zusammenfallen. Man kann sich in Petersburg und Moskau wie in
andern größeren Städten auf alle fremden Zeitungen abonniren, aber sehr oft
bekommt man dieselben mit den bekannten schwarzen Bierecken an den Stellen,
wo mißliebige Artikel standen. Selbst der „Nord", als er noch ein Organ für
russische Interessen war, und die „Jud6pendence Belge", die eine speciell für
Nußland angefertigte Ausgabe hat, bleiben nicht verschont. Diese schwarzen
Quadrate, welche das Werk der Petersburger Censoren sind, lassen eine Zei¬
tung von Weitem wie ein illustrirtes Blatt erscheinen, und ein russischer Herr,
welcher unserm Reisenden das erste Beispiel einer auf diese Art gemißhandelten
englischen Zeitung zeigte, händigte es ihm mit den Worten ein: „da sehen Sie
unsre russische Jllustrirte Zeitung." In Moskau pflegt der Censor nicht zu
schwärzen, sondern im buchstäblichem Sinn des Wortes zu radiren. Mit einem
P>äparat von Guttapercha und gepulvertem Glas reinigt er die „Times" von
einem Artikel oder den „Punch" von einem Witz in so sauberer Manier, daß
nicht die Spur von den Buchstaben und ebensowenig eine Andeutung von dem
Proceß übrig bleibt, durch den diese hinwegeöcamotirt wurden. Ein auf diese
Weise weißgewaschner Zeitungsmohr gleicht ebenfalls einer illustrirten Zeitung,
aber einer solchen, welche ihre Illustrationen erst empfangen soll, bei welcher
der Setzer nur die Schrift, noch nicht die Hoizstöckc in die Form gebracht hat.
„Ich muß", fährt Edwards fort, „den russischen Censoren die Gerechtigkeit
widerfahren lassen, zu sagen, daß sie ihre Aufmerksamkeit nicht auf Artikel rich¬
ten, welche Rußland im Allgemeinen angreifen, wie schwer und übelbegründet
die Anklagen auch sein mögen. So erschien im October 1856 in der „Mor-
ning Post" eine Reihe von Aufsätzen gegen den großen russischen Eisenbahn-
Plan, welche das Land in maßloser Weise mißhandelten. Sie gingen unver¬
ändert durch dre Censur, und desgleichen geschah mit den Auslassungen der
„Times" über denselben Gegenstand. „Galignanis Messenger" brachte nach der
Schlacht bei Jnkcrman eine ganze Masse von Korrespondenzen über dieses Ereig¬
nis;, die meist in der ersten Hitze des Moments nach diesem großen und theuer
erkauften Siege geschrieben waren und natürlich starke Dinge über die russische
Armee, die Aufregung der Soldaten durch Religion und Alkohol, das Verräthe¬
rische Verhalten der Generale u. s. w. enthielten. Alles dies konnte man in
Moskau so gut wie in Paris und London lesen".
Die Censoren sind durch ihre Instruction angewiesen „alle solche Werke
zu unterdrücken, welche in einem der rechtgläubigen griechischen Kirche seindieli-
gen Sinn geschrieben sind, oder irgend etwas gegen die Wahrheiten der christ^
liehen Religion enthalten oder gegen die gute Sitte und Moralität verstoßen;
alle Publicationen mit der Tendenz, die Unverletzbarkeit der autokratisch-monar
chisehen Gewalt und die Grundgesetze des Reichs zu bekämpfen oder die der
kaiserlichen Familie gebührende Ehrfurcht zu vermindern, alle Preßerzeugnisse,
die Angriffe auf die Ehre und den guten Ruf irgend Jemandes enthalten, indem
sie entweder unschickliche Ausdrücke brauchen oder Umstände mittheilen, die sich
auf das Familienleben beziehen oder überhaupt irgend welche Verläumdung
aussprechen".
Man sieht, die russische Censur ist in der Theorie nicht schlimmer als die
Nachcensur, welche die Polizei, mit Ausnahme Preußens, in Deutschland übt.
Alles kommt auf die Censoren an, und diese haben unter dem jetzigen Kaiser
ein verschiedenes Amtsgcwissen. Als im Januar 1357 die „Times" einen
Brief Nussells aus Tula brachte, in welchem behauptet und. was noch schlim¬
mer ist, bewiesen wurde, daß die Feuerwaffen der dortigen Gewehrfabrik viel
weniger werth seien, als die von Birmingham und Lüttich, und außerdem von
der starken Erschöpfung Rußlands durch den Krieg die Rede war, deckte die
Petersburger Censur ein großes schwarzes Leichentuch über die Columne. auf
welcher der Artikel stand, wogegen derselbe wie alle andern Berichte Nussells
aus Nußland in Moskau unbeschädigt anlangte. Eine andere Nummer der
„Times" aus derselben Woche enthielt die berühmte Rede Sir Robert Peels
über Nußland, welche nicht nur „der rechtgläubigen griechischen Kirche feindselig"
war, sondern auch „die Tendenz hatte, die der kaiserlichen Familie gebührende
Ehrfurcht zu vermindern", und die überdies „Angriffe aus die Ehre und den
guten Ruf" von mindestens zwei Personen enthielt, von „Verläumdung" ganz
zu schweigen. Hier verfuhr der gröbere Petersburger Censor summarisch, indem
er die außerordentliche Rede ohne Weiteres mit einem mächtigen Pflaster von
Druckerschwärze verdeckte. In Moskau dagegen konnte man sie in „Galignani's
Messenger" und den „Jllustrirten London News" lesen, wenn auch zwei kleine
Sätze dem Nadir-Instrument verfallen waren. In einem derselben gab der
witzige Baronet einen burlesken Bericht über die Kaiserin, wie sie vor der Krö¬
nung in der Himmclsahrtskirche niedergekniet, um die Reliquien zu küssen.
In dem andern pries er die Gastfreundschaft des Fürsten Orloff und setzte dann
kaltblütig hinzu, daß sein freundlicher Wirth einer der Mörder deö Kaisers Paul
gewesen — eine offenbare Verwechslung, da der so schwer Bezüchtigte gar nicht
zu der alten Familie der Orloff gehörte.
Unter Nikolaus waren selbst Werke wie Macaulay's Geschichte Englands
in Nußland verboten und nur den Gelehrten der Universitäten zugänglich, über
deren Lectüre die Censur überhaupt keine Gewalt hatte. Jetzt sind alle Haupt-
werke der englischen, französischen und deutschen Literatur für jedermann erlaubt,
selbst ein Buch wie Carlyle's „Französische Revolution", dem sicher Niemand
leicht in Nußland zu begegnen erwarten wird.
Wir tragen noch nach, daß Petersburg auch eine illustrirte Zeitung und
ein Witzblatt besitzt. Letzteres hatte freilich bis auf die letzten Jahre weit mehr
Aehnliche'eit mit dem gefesselten und geknebelten Pariser Charivari als mit dem
Londoner Punch oder unserem Kladderadatsch, doch ist nicht in Abrede zu stellen,
daß die Russen bedeutendes Talent zu komischen und satirischen Productionen
besitzen. Einen Beweis dafür lieferten die zahlreichen Carricaturen, die wäh¬
rend des letzten Krieges erschienen und namentlich England und seine Staats¬
männer und Generale, gelegentlich aber auch russische Feldherrn verspotteten,
bis endlich mit der Einnahme Scbastovols und der allgemeinen Erschöpfung
des Landes der Nation das spaßen verging.
So lange die Belagerung währte, waren die russischen Witzbolde ziemlich
fruchtbar, und ein paar Beispiele werden zeigen, daß sie auch recht glücklich in
ihren Scherzen waren. So zeigt eine der Carricaturen aus dem Anfang des
Krimfeldzugs eine große Wage, in deren einer Schale ein russischer Mujik in
seinem bunten Hemd, in die Stiefel gesteckten Hosen, schmalrandigem Hut und
mit einem gewaltigen Prügel steht, während sich in der andern französische Ge¬
nerale, englische Admiräle, sardinische und türkische Soldaten in Menge befin¬
den. Der Mujit wiegt schwerer als sie alle, und seine Schale hebt sich nicht
einen Zoll. In Nußland pflegt man den Gewichten die Gestalt von Kanonen¬
kugeln zu geben, an denen sich oben Griffe befinden, und der Künstler hat diese
Aehnlichkeit benutzt und die Alliirten dargestellt, wie sie immer neue Gewichte
oder neue Kanonenkugeln in die Wagschale werfen und doch den Mujik nicht
zum Steigen bringen können. So zeigt ferner ein anderes Bild, wie Admiral
Napier, nachdem er umsonst in jenem berühmten Tagesbefehl seinen Matrosen
geboten, ihre Entersäbel zu wetzen, und statt Sveaborg und Kronstäbe nur ein
paar Hundert Schifserboote genommen, in dem britischen Parlament mit einem
großen Fisch unterm Arm erscheint, der einzigen Beute seiner Expedition in
die Ostsee.
Nachdem die Russen an der Alma und bei Jnkerman geschlagen worden,
schrieb die öffentliche Meinung in Petersburg dies dem Ungeschick der Generale
zu, und es gab verschiedene Carricaturen, welche diese Ansicht darstellten. Eine
von denselben zeigt die Heerführer der Alliirten zum Kriegsrath versammelt.
Es ist soeben eine Sendung Miniv-Büchsen eingetroffen, und dieselben sollen
an die Truppen vertheilt werden. Man berathet, was für specielle Anweisungen
man den Soldaten in Betreff ihres Gebrauchs ertheilen soll. Sollen sie auf
die feindlichen Colonnen im Allgemeinen feuern, die Stabsoffiziere wegschießen
oder auf die Generale zielen? „Um des Himmels willen nur den Generalen
keinen Schaden thun!" ruft einer der Alliirten, welcher die (angebliche) Unfä-
higkeit der russischen Feldherrn entdeckt hat, und so wird eine Ordre des fol¬
genden Inhalts aufgesetzt: „Jeder Soldat, welcher auf einen russischen Gene¬
rat feuert, wird erschossen".
Andere Beispiele für die Neigung der Russen zur Satire finden sich in
den Soldatenliedern, welche die aus dem Krimkrieg heimkehrenden Regimenter
in Masse mitbrachten. „Natürlich waren dies keine Triumphgesänge. Sie ver¬
glichen das Schicksal der S^baten. welche unbemerkt zu Tausenden gestorben,
mit dem der Generale, welche Orden und Danksagungsschreiben des Kaisers für
verlorene Schlachten empfangen. Es wurde darin erzählt, wie das russische
Heer zuerst ohne Erfolg gegen die Türken geführt worden, wie dann die Ver¬
bündeten gekommen, und wie man sie habe ins Meer hinabwerfen wollen, wie
jene aber sich nicht hätten werfen lassen, wie neue Generale ernannt worden
und einer nach dem andern sich unfähig bewiesen. Manche dieser Lieder waren
durch die gesammte Armee bekannt, andere nur in gewissen Divisionen. Sicher
ist, daß die Generale sie ebenso gut kannten als die Soldaten. „Ich habe",
sagt Edwards, „von Offizieren, die mit in der Krim gewesen waren, erfahren,
daß diese Dichtungen während des Marsches von ganzen Regimentern gesungen
wurden, und daß die höheren Offiziere sie niemals zu hören schienen, während
die Subalternoffiziere sich ohne Zweifel daran ebenso ergötzten als die Uebrigen.
Die Autorschaft einiger wurde einem berühmten Schriftsteller zugeschrieben, der
sich damals in Sebastopol befand, aber die große Mehrzahl derselben war von
den Mannschaften selbst erdacht, und von dem besten unter allen diesen Ergüs¬
sen wußte man, daß er einen Gemeinen von Osten-Sackens Corps zum Ver¬
fasser hatte. In diesem Spottiiede hat jeder General seinen Vers. Die deut¬
schen Heerführer werden geradezu mit Abscheu besprochen, und von einem
darunter, der unaufhörlich sich bekreuzt, heißt es, daß er der nichtswürdigste sei."
Verwandt mit diesen Liedern sind andere Dichtungen und Aufsätze, die
unter Nikolaus handschriftlich circulirten und theils in scherzhaftem Tone, theils
in ernstem Styl die Maaßregeln der Regierung angriffen. Dahin gehört ein
Gedicht der Gräfin Nvstopschin „Der Burgherr und sein Weib oder die ge¬
zwungene Heirath", worin das Verfahren des Kaisers gegen Polen gegeißelt
wurde, und welches so allgemeine Verbreitung fand, daß der berüchtigte Bul¬
garin veranlaßt wurde, es in der „Nordischen Biene" mit einer versisicirten Re¬
plik zu widerlegen. Ferner gehören in diese Kategorien verschiedene Gedichte
von Rylejeff, z. B. sein „Wvinaroffsty", der nie gedruckt werden durste, aber
trotzdem allen Russen, die Anspruch auf Bildung machen, bekannt ist.
Wieder eine andere Klasse der geheimen Literatur und zwar die wichtigste
und wirksamste besteht in Schriften und Zeitungen, die außer Landes geschrie¬
ben werden und auf dem Wege des Schmuggels über die Grenze gelangen.
Edwards sagt darüber Folgendes:
„Ohne Zweifel gibt es sehr viele Russen, welche glauben, daß die Vater¬
landsliebe in stummem Gehorsam und blinder Bewunderung besteht, gerade
wie es Massen von Franzosen gibt, die, zur Familie Chauvin gehörig, es für
Patriotismus halten, immer und ewig vom ersten Napoleon zu reden und mit
Begeisterung die Säule auf dem Vendomeplatz anzublicken. Solche Leute werden
Gedichte von der Art des „Woinarvsfst'i" mißbilligen und das Verfahren jener
russischen Flüchtlinge im Ausland, welche ihre Landsleute mit geheimer ge¬
druckter Literatur versehen, aufs Stärkste verdammen. Von Nicolai Turgueneff.
der sich in Paris befand, als der Aufstand von 1825 ausbrach, und welcher
trotz der dringendsten Aufforderungen sich weigerte nach Rußland heimzukehren
und wegen des Antheils, den er an der Verschwörung genommen, Rede zu
stehen, bis auf Alexander Herzen, liegt eine lange Reihe literarischer Verbann¬
ten, freiwilliger und unfreiwilliger, welche Rußland mit England oder Frankreich
vertauscht und in einigen Fällen sich genöthigt gesehen haben, Frankreich
wieder mit England zu vertauschen. Der berühmteste, fähigste und thätigste
dieser Flüchtlinge ist Herzen, welcher in London die „Severnaja Swesda"
(oder den Polarstern) herausgibt, wo er auch ,.Up Lxils" veröffentlicht hat. Er
schrieb früher zu Hamburg „Vom andern Ufer" und ließ dann in Paris eine An¬
zahl Exemplare seines Werks „Du DevelaMemMt de>s laves 1ivv0tut,i0kwa.ii'<ZL
en liussie" erscheinen, wo der Verkauf derselbe» indeß sehr bald verboten wurde.
Die wichtigste von Herzens Veröffentlichungen in russischer Sprache indeß
sind, nach ihrem Einfluß auf Rußland zu urtheilen, die Bände seines Jour¬
nals „Der Polarstern" mit dessen aller vierzehn Tage erscheinendem Supple¬
ment „Die Glocke" (Kökökök). In diesem wird Alles, was in Nußland ge¬
schieht, sowie Alles, was nach der Meinung des Herausgebers dort nicht ge¬
schehen sollte, discutirt, und ministerielle Acte, welche unter dem Regiment
der Censur zu tadeln unmöglich sein würde, werden bisweilen mit großer
Heftigkeit angegriffen. Ein russischer Minister macht sich natürlich nicht Viel
daraus, was man in Paternoster Now (der Londoner Buchhändler-Straße), von
seinem Thun und Lassen denkt; aber es gibt eine geheime Verbindung zwischen Pater¬
noster Now und Se. Petersburg, und Alles, was von Herrn Herzen in London ge¬
schrieben wird, wird von zwei- bis dreitausend seiner Landsleute gelesen, oder viel¬
mehr von zwei oder dreitausend gekauft und von zchntausenden gelesen. Gegen¬
wärtig ists geradezu Mode in Se. Petersburg und Moskau, Herrn Herzens
„Kökökök" zu halten, und es ist Grund zu dem Glauben vorhanden, daß der
Kaiser nicht grade böse über deren Verbreitung ist, obwohl viele seiner Minister
sie verabscheuen und fürchten müssen, und es Thatsache ist, daß einer derselben
neulich hinreichend viel Einfluß besaß, ihre Beschlagnahme in der „freien Stadt"
Frankfurt zu veranlassen.
Herr Herzen kam zu dem Entschluß, sich in England niederzulassen und,
um seinen eignen Ausdruck zu brauchen, hier eine Batterie zu errichten,
durch welche die Nachtheile des russischen Negierungssustems angegriffen werden
sollten, unter den folgenden Umständen. Er hatte der russischen Regierung
bereits Anstoß gegeben, fuhr aber fort, in die russischen Revuen zu schreiben und
sandte im Jahre 1848 in eine dieser Zeitschriften den ersten Theil einer Er¬
zählung, die den Titel „Pflicht vor allen Dingen" führte. Gerade damals
wurde die Censur mit ungewöhnlicher Strenge geübt. Ja es gab eigentlich
zwei Censurstellen, eine gewöhnliche und eine andere, die nach Herrn Herzen
aus Generalen, Genieoffizieren, Artillerie-Stabsoffizieren, Garnisonsoffizieren und
zwei Mönchen, das Ganze unter einem Tartarenfürsten, zusammengesetzt war.
Obwohl nun Herrn Herzens Erzählung von der Wochenschrift, in der sie er¬
scheinen sollte, wiederholt angekündigt worden, gaben ihm doch die militärischen
und kirchlichen Censoren zu verstehen, daß nicht nur „Pflicht vor allen Dingen"
nicht gedruckt werden dürfe, sondern daß das Imprimatur der Regierung Allem,
was der Verfasser prvducire. versagt werden würde, „selbst wenn ich", bemerkt
Herzen, „über die Vortheile der geheimen Polizei und des Absolutismus oder
über die Nützlichkeit der Leibeigenschaft, körperlicher Strafen und des Necruti-
rungssystems schriebe. Dieser Bescheid," fährt er fort, „überzeugte mich, daß
es nicht länger möglich, in Rußland die Feder zu führen, und daß Schrift¬
stellern kein andrer Weg offen stünde, als außerhalb des Landes zu schreiben."
So begab Herr Herzen sich denn ins Ausland, aber es würde ein sehr großer
Irrthum sein, wollte man annehmen, daß alle Schriftsteller des Landes seinem
Beispiel gefolgt seien. Er begann seine neue Laufbahn damit/daß er deutsch
schrieb, veröffentlichte dann mehre Werke in französischer Sprache und kam erst
in den letzten Jahren zu dem Entschluß nur russisch und ausschließlich für rus¬
sische Leser zu schreiben.
Ueber die Wirkung der Herzenschen Schriften auf Nußland zu urtheilen ist
für einen Engländer schwierig, aber ich habe aus bester Quelle vernommen,
daß von dem ersten Bande seines „Polarsterns", einem Octavheft von mehren
hundert Seiten, gegen dreitausend Exemplare verkauft worden sind, und gleich¬
viel ob diese von Russen daheim oder im Ausland gekauft worden sein mögen,
die große Mehrzahl derselben muh nach Rußland gelangt sein. Ich sehe außer¬
dem aus einer Beilage zur „Glocke", daß die Verleger Herrn Herzens von
1855 bis auf die Gegenwart in London nicht weniger als vierundzwanzig
Werke in russischer Sprache veröffentlicht haben, Es muß also einen Absatz
für dieselben geben, sonst würden nicht fortwährend neue erschienen sein, und
man darf als Regel annehmen, daß sie nur von Russen getauft werden. Den¬
noch muß der nominelle Ausschluß der Schriften Herrn Herzens.sie eines gro¬
ßen Theils jener Publicität berauben, welche der eigentliche Lebensodem jour¬
nalistischer Erscheinungen ist. Sie können nicht öffentlich eingeführt, nicht
öffentlich besprochen werden. Die „Times" erfreut sich ihres gegenwärtigen
ungeheuren Einflusses nicht blos, weil sie täglich von fünfzig bis sechzigtau-
send Personen gekauft und von zwei bis dreimalhunderttausend andern gelesen
wird, sondern auch weil ihre Leser in ihrer Unterhaltung die Ansichten und
Argumente reproduciren, die sie in ihren Artikeln ausgesprochen gesehen haben.
Ohne daß sie es merken, werden sie Agenten für Verbreitung ihres Namens
und Fortpflanzung ihrer Ideen, und so erfahren Hunderttausende an sich die
Einwirkung der „Times", ohne sie jemals zu sehen. Man kann in Zweifel
sein, ob Herrn Herzens Einfluß in Rußland sich nicht vermehren würde, falls
er (die Einwilligung der kaiserlichen Regierung vorausgesetzt) für eine der ein¬
heimischen Wochenschriften schreiben und sich der Censur unterwerfen wollte,
wie man sich andern Unbequemlichkeiten unterwirft, wenn es einem diese über¬
wiegenden Vortheil gilt. Gegenwärtig hat Herr Herzen die Freiheit zu schrei¬
ben, was ihm beliebt, aber nicht das Recht, sich nach Belieben an Jeden zu
wenden. Jedes Heft des „Russischen Boten" kostet viermal so viel als eine
Nummer der „Glocke" (die monatlich zweimal erscheint und von der das Heft
sechs Pence kostet) und enthält etwa vierzigmal so viel Lesestoff, und alles das in
einem Lande, wo das Papie.r zweimal soviel als in England kostet und der
Setzerlohn, schon früher sehr hoch, sich seit der Thronbesteigung des jetzigen
Kaisers verdoppelt hat. Der Absatz dieser einheimischen Wochen- und Mvnats-
blätter muß also, mit dem der „Glocke" verglichen, sehr beträchtlich sein, und
es fragt sich, ob, wie Heine es für klüger hielt, nur einen Theil dessen, was
er dachte, in den Spalten der „Allgemeinen Zeitung" zu sagen, als genöthigt
zu sein, Alles in der beschränkten Sphäre eines Bierhauses vorzutragen, es
nicht auch vortheilhafter für die von Herrn Herzen gehegten Meinungen sein
würde, in einem anerkannten und weitverbreiteten Organ mit Mäßigung aus¬
gesprochen als unverkürzt und mit Uebertreibung in einem Journal vertreten
zu werden, welches eine sehr beschränkte Anzahl von Lesern hat und schwer zu
erlangen sein muß. Herr Herzen würde sein System grober persönlicher An¬
griffe aufgeben müssen, die selten etwas Gutes zur Folge haben und welche
minder gewichtig wirken, weil sie von einem Schriftsteller ausgehen, der im
Ausland lebend für seine Worte ebenso wenig zur Rechenschaft gezogen werden
kann, als der unverantwortliche Minister des Despotismus für seine Thaten.
Unter der Negierung des Kaisers Nicolaus that Herzen, da man ihm nicht
erlaubte, in Rußland zr< Worte zu kommen, recht daran, wenn er seine Schriften
im Ausland drucken ließ. Er war 1832 der Meinung, daß bald „der einzige
freie Fleck in Europa das Deck eines nach Amerika bestimmten Schiffes sein"
würde, trotz welcher Meinung er als eine Sache, die sich von selbst versteht,
in diesem unsern in Sklavenkettcn liegenden England alles Mögliche, was ihm
einfiel, veröffentlichte mit Einschluß von Büchern, die in Frankreich und Deutsch-
land streng verboten sind. Wir sehen, Herr Herzen hat einen wunderlichen
Begriff von der Freiheit. Er meint, daß England nicht frei, und was noch
seltsamer, daß'Amerika frei ist. Sicher könnte er in den Vereinigten Staaten
seine „Glocke" und seinen „Polarstern" herausgeben, so lange er sich auf die
Vergötterung der Häupter der Verschwörung von 1825 (deren Porträts, den
Umschlag des „Polarsterns" schmücken) oder darauf beschränkte, die Minister
des jetzigen Kaisers mit Nennung ihrer Namen der Absicht, ihren Souverain
zu ermorden, anzuklagen. Vielleicht auch würde man ihm gestatten seine Artikel
über die Befreiung der Leibeigenen drucken zu lassen. Aber sage er in einem
der südlichen Staaten auch nur ein Wort von der Befreiung der amerikanischen
Sklaven, und er wird sehr wahrscheinlich finden, daß der freieste Fleck in Ame¬
rika das Deck eines nach England bestimmten Schiffes ist. Herr Herzen macht
sich die vollständige Freiheit, die hier zu Lande allen Schriftstellern gelassen
ist, in maßloser Weise zu Nutze. Er schreibt in der That wie jemand, der
nicht daran gewöhnt ist, zu sagen, was er mag, wie ein freigewordener Sklave,
wie ein Parvenu der Freiheit."
Wir halten dieses Urtheil für durchaus begründet, zumal da Edwards an
andern Stellen den im Allgemeinen guten Willen und die mannichfachen Ver¬
dienste des hier Getadelten anerkennt. Die Flüchtlingsliteratur ist in der Regel
von beschränktem Werth, und plötzlich freigewordene Menschen reden und thun
Wie plötzlich befreite Völker selten etwas nach den Grundsätzen der Billigkeit.
Der Verstand wird von dem Gefühl, die Erfahrung von der Stimmung über¬
wuchert.
Dazu aber kommt bei Herzen noch ein auffallender Widerspruch, der durch
alle seine Schriften geht, dem man in der Unterhaltung mit der Mehrzahl der
„Jungrussen" begegnet, und der auch unserm Berichterstatter nicht entgangen
ist. „Herrn Herzen," sagt er, „passirt es häufig, daß er an der einen Stelle
klagt, wie Europa von Rußland weniger wisse, als Cäsar vor seinem Einbruch
in Gallien von den Galliern gewußt habe, dann an einer andern uns (wie
der selige O'Connell von den Jrländern) versichert, daß der russische Bauer
der beste von der Welt' sei. uns begeistert die russischen Dichter preist, uns die
glühende Strebsamkeit der studirenden Jugend in Moskau rühmt, und dann
wieder mit augenscheinlichem Behagen die Bauern als Mordbrenner darstellt,
auf die Zahl der von ihren Leibeignen ermordeten Leibhcrren hinweist (die er
sehr übertreibt), den Kaiser Nicolaus als Mörder von Leuten anklagt, denen
er nur Gutes gethan, kurz so eifrig und erfolgreich Alles was guk in Rußland
verhüllt, Alles was schlecht in den Vordergrund schiebt und sogar vergrößert.
Die Folge »se. daß der Leser (natürlich um der mit kritischem Blick) sich geneigt
fühlt, dem Himmel zu danken, daß er in der That so wenig von dem Lande
weiß, und daß wir uns sagen, wie Cäsar die Gallier erst kennen lernte als er
sie besiegt hatte, so wünschen auch wir lieber nicht eher etwas von den Russen
zu erfahren, als bis wir genöthigt sind sie zu bekämpfen."
-Zwei hochwichtige Ereignisse nehmen zu gleicher Zeit die leidenschaftliche
Theilnahme der Preußen in Anspruch-, die Eröffnung der Kammern und die
Verwickelung in Kurhessen. Jedermann wird fühlbar, wie sehr die innern Ver¬
hältnisse des Staates durch die äußern beeinflußt werden, sowohl die Taktik der
Parteien, und ihre Stellung zum Ministerium, als die Stimmungen, welche
zwischen Volk und Krone auf und nieder schweben.
Der glänzende Sieg der Fortschrittspartei bei den Wahlen hat auch außer¬
halb Deutschlands eine mächtige Wirkung ausgeübt und die Achtung vor
Preußen in wenig Tagen höher gesteigert, als es den diplomatischen Noten
seit mehren Jahren gelungen war. So bedeutsam wirkt jede Entwicklung von
Volkskraft in einem Verfassungsstaate, so lebendig sind die Sympathien, welche
.jeder Aeußerung von Energie in Preußen zuströmen.
Wer in Deutschland irgendwie liberale Sympathien hatte, mußte zunächst
wünschen, daß alle liberalen Fra-ctionen in Preußen durch engen Anschluß an
einander die gegenwärtige Aeußerung der Volksstimmung unwiderstehlich mach¬
ten. Wenn aber dies^ wie sich leider gezeigt hat, nicht möglich war, so mußte
er wieder für das Zweckmäßigste halten, daß eine der beiden liberalen Frac-
tionen, Altliberale oder Fortschrittsmänner, ein so entschiedenes Uebergewicht
erhalte, daß die Majorität der zweiten Kammer ihr gesichert, und ihre Herr¬
schaft bei den Abstimmungen eine unbedingte sei. Denn dieselbe Partei ist in
durchaus anderer Lage, wenn die ganze volle Verantwortlichkeit eines Beschlus¬
ses auf ihr allein ruht, als wenn sie sich nur wie ein Gewicht in balanciren-
der Wagschaale betrachtet. Da nun aber ein Sieg der altliberalen Partei unter
den gegenwärtigen Umständen unmöglich war, so war es sehr wünschenswert!),
daß die Fortschrittspartei allein mehr als die Hälfte der Kammermitglieder
zähle. Gerade dieser jungen, heißblutigen, leicht aufgeregten Partei,' welche das
seltene Schicksal erlebt hat, im dritten Jahre nach ihrem Entstehen die Volks¬
stimmung fast souverain zu beherrschen, war die moralische Zucht nothwendig,
welche ihr durch Verantwortlichkeit und Gefahren einer entschiedenen Kammer¬
majorität entstehen.
Nicht ganz ist diese Perspective erfüllt worden. Die beiden Fractionen
der Fortschrittspartei umschließen fast, aber nicht ganz die Mehrzahl des Hau¬
ses, sie erhalten dieselbe sicher erst durch Zutritt der Fraction Bockum-Dolffs.
Indeß da sich voraussetzen läßt, daß diese Fraction, welche diesmal das kleine
entscheidende Gewicht der Kammer geworden ist, wenigstens in einigen Haupt¬
fragen sich der Linken anschließen wird, so wird der Umstand wahrscheinlich nicht
verhängnißvoll werden, daß die Fortschrittspartei immer noch um einige Stim¬
men zu schwach ist.
Nun ist allerdings anzunehmen, daß der große Körper der Fortschrittspar¬
tei nicht auf die Länge als sestgeschlossene Einheit bestehen wird. Wie gut
auch der Wille der Gewählten und die Parteidiscipiin ist, die Partei vereinigt
sehr verschiedenartige, in innerlichem Gegensatz stehende Elemente; und was man
schon in der letzten Sitzung voraussagen durfte, wird voraussichtlich in dieser
oder der nächsten eintreten: eine äußerste.Linke wird sich etwa unter Waldeck in
einer kleinen Zahl von Häuptern ablösen, und die große Mehrzahl der Partei
wird durch den auftauchenden Gegensatz den gemäßigteren liberalen Fractionen
ein wenig näher gerückt werden. Das aber wird ein dauernder Gewinn für
das Verfassungsleben Preußens werden, weil es die Bildung einer großen ein¬
heitlichen Partei vollenden hilft.
Denn immer muß wiederholt werden, daß diese Bereinigung eine unab¬
wendbare Nothwendigkeit ist, daß die gegenwärtige Trennung nicht mehr hohe
Politische Berechtigung hat, und daß keine der jetzt bestehenden Fractionen,
weder Altliberale, noch die Mittelfraction, noch die Fortschrittsmänner in ihrer
jetzigen Zusammenstellung die Bürgschaft langer Dauer in sich trägt.
Es war ein glänzender Sieg, den das Volk durch seine Wahlen über die
Negierung davongetragen hat. Wie sehr er dem Ministerium imponirt hat, be¬
weist die Thronrede, weiche jede Art von Concessionen macht, um einen Con¬
flict mit der neuen unbequemen und für die Regierung unberechenbaren Ver¬
sammlung zu vermeiden. Aber auch die Volkspartei muß empfinden, daß ihr
Sieg doch kein unbedingter ist. Die Concessionen sind abgerungen, dahinter steht
ein letzter, durchaus noch nicht gebrochener Wille, welcher über einen gewissen
Punkt sich schwerlich wird hinaustreiben lassen, ohne neue starke Conflicte. Es
ist anzunehmen, daß die Führer der Fortschrittspartei, die vielleicht von der
Größe ihres Erfolges selbst überrascht waren, sich zunächst ernsthaft bemühen
werden, einen solchen Conflict zu vermeiden. S'e können kaum n v es g co innen,
Wohl aber viel verlieren. Brennt aber ein unvermeidlicher Zwist mit der
Regierung auf, so werden sie sorglich darauf sehen, daß er in einer Frage ent¬
stehe, wo sie des Volkes, welches hinter ihnen steht, ganz sicher sind.
Unterdeß haben zunächst wir, die wir außerhalb Preußens schreiben, die
größte Veranlassung, auf die Erfolge aufmerksam zu machen, die auch dieser
letzte innere Kampf in Preußen für den Staat gehabt hat. Ueber dem Par¬
teihader hat sich in, dem heilsamen Zwange des parlamentarischen Lebens überall
Patriotismus und eine fast begeisterte Empfindung für die Ehre und Größe
des Staates kund gegeben. Auch das Ministerium, am Tage der Wahlen das
unpopulärste, welches je in einem Verfassungsstaate gebildet wurde, hat Gele¬
genheit gehabt zu beweisen, daß ihm sich etwas von dem Aufschwünge mitge¬
theilt hat, der in das Volk gekommen ist. Noch vor wenig Tagen mußte man
voraussetzen, daß eine der ersten Folgen des Wahlsieges nach Eröffnung der
Kammern ein Protest gegen die Existenz des Ministeriums in irgend welcher
Form sein würde. Heut haben ernsthafte Verwickelungen nach außen die Stel¬
lung der Regierung wesentlich gebessert. Minister und Volksvertreter find jetzt
als Patrioten und Preußen engagirt, beide haben zunächst die Aufgabe, Ehre
und Würde Preußens gegen eine fremde Regierung zu vertreten.
Leider ist es eine deutsche Regierung, leider ist es die eines kleinen Staa¬
tes. Aber die schmachvolle Beleidigung, welche dem General Willisen in Kassel
zugefügt wurde, brennt jetzt in den Herzen, sie verlangt eine Jedermann ver¬
ständliche und gründliche Genugthuung. Es gibt nur eine, die Entfernung der
gegenwärtigen Regierung von Kurhessen, die Befreiung des Landes von einem
gesetzlosen, tyrannischen Regiment, von einer despotischen Willtürlaune, welche
der Haß gegen Preußen bis zur völligen Blindheit gebracht hat. Auch hier
soll sichtbar werden, daß das Schicksal blendet, bevor es vernichtet.
Während diese Zeilen geschrieben werden, ist das 48stündige Ultimatum
abgelaufen, welches Preußen an die kurhessische Regierung gestellt hat. Nach
allen Symptomen zu schließen hat der Kurfürst sich nicht zu der Entlassung
seines Ministeriums verstanden, er wird voraussichtlich damit zögern, selbst
wenn er dem stillen Rathe Oestreichs folgt, nachzugeben, bis die preußischen
Truppen in der That sein Land betreten; weicht er dann der Gewalt, so hat
er doch die Freude, sein Selbstgefühl bis zum letzten Augenblick zu bewahren
und nur dem äußersten Zwange zu weichen.
Aber die jetzt erhobene Forderung Preußens, daß der Kurfürst das Mini¬
sterium, welches einen preußischen Abgesandten beleidigt hat. entlasse, gibt allein
doch noch keine Aussicht, den hessischen Streit auf eine ehrenvolle und den
Bedürfnissen des hessischen Volkes entsprechende Weise zu erledigen. Was hin¬
dert den Kurfürsten, an der Stelle der gegenwärtigen Minister andere nicht
weniger preußenfeindliche zu ernennen? Wer sie auch sein möchten und wenn
sie Hassenpflug hießen, der jetzigen Forderung würde dadurch genügt und der
Vorwand zum kräftigen Eingreifen in die Verhältnisse des zerrütteten Staats
der preußischen Negierung genommen werden.
Und noch ein Anderes droht Werth und Bedeutung des Ernstes, den
Preußen jetzt gezeigt hat, zu verringern. Die active Theilnahme Oestreichs
am Einmarsch in ^urhcssen. Schon melden die Zeitungen, daß das Cabinet
zu Wien diese Theilnahme gefordert habe.
Die Ehre Preußens gebietet, diese Forderung entschieden zurückzuweisen.
Schon einmal während der Regierung des jetzigen Königs war, wenn wir recht
unterrichtet sind, bei ganz anderer Veranlassung eine solche Bewegung östreichi¬
scher Truppen nach Norddeutschland beansprucht, und damals von Preußen
mit sehr bestimmter Drohung zurückgewiesen worden. Soll jetzt geschehen dür¬
fen waS damals unerhört schien? Allerdings ist der König von Preußen nicht
Bundcsfeldherr geworden, nicht nördlich von der Mainlinie, was das Ber¬
liner Eadinct damals beanspruchte, nicht irgendwo. Aber Preußen allein hat
das Recht und die Pflicht, wenigstens in diesem Theile von Deutschland Ord¬
nung zu halten, ein Stecht, welches höher steht und besser sundirt ist, als alles
Recht des Bundes, denn Preußen allein hat die Fähigkeit und Macht, bei
einem deutschen Kriege mit dem Westen die kleinen Staaten im Norden des
Mains gegen äußere Feinde zu erhalten und zu schützen.
Zu den bittersten Erinnerungen aber aus einer wenig ehrenvollen Ber- '
gangcnheit gehören dem preußischen Volte und Heere die Tage, in welchen
Truppen aus Süddeutschland unter die deutschen Stämme des Nordens ge¬
sandt wurden, dort Polizeidienste zu verrichten. Das preußische Volt hat die
größte Hochachtung vor der Tapferkeit des östreichischen Militärs, es ist durch¬
aus nicht gesonnen, die Machtsphäre Oestreichs zu beeinträchtigen, aber es
wird jede östreichische Heeresabtheilung. welche unter den gegenwärtigen Ver¬
hältnissen sich im Norden deS Mains aufstellen sollte, für eine Beeinträchtigung
preußischer Interessen, für eine tiefe Demüthigung und Beleidigung halten.
Was die Preußen jetzt von ihrer Regierung fordern, ist demnach erstens,
daß die Genugthuung für den Schimpf, der Preußen angethan worden, eine
vollwichtige und glänzende sei; ferner, daß gegenwärtig die Veranlassung benützt
werde, das alte Leiden Kurhesseus gründlich und vollständig zu heilen; drittens
aber, daß, wenn dies durch preußische Truppen geschieht, nur preußische Truppen,
"huc Einmischung irgend eines andern deutschen Staats, die Execution ausführen.
Noch schmerzt die Wunde von Bronzell; das erst würde eiye Genugthuung sein.
Kann das gegenwärtige Ministerium Preußens diese drei Punkte geschickt
und energisch durchsetzen, dann wird es in den Seelen der Preußen sich hohe
Achtung, ja herzliche Zuneigung gewinnen. Denn die Preußen sind vor Allem
Preußen und Deutsche, es ist ihnen natürlich, politisch liberal zu urtheilen,
aber es ist ihr heißes Bedürfniß stolz zu sein. Wir find, indem wir schreiben,
nicht ohne Hoffnung, daß die Minister dem Volk beweisen werden, daß auch
Enthält die Darstellungen Iphigenia's, des Harfners, Mariannens, Wilhelms
von Oranien und Margarethens von Parma, Die Auffassung dieser Persönlichkeiten
ist wie bei den Bildern der früheren Lieferungen recht sinnig und ansprechend, und
auch der begleitende Text (von Pechl) zeigt, obwohl wir ihn uicht durchgehends
unterschreiben möchten, daß der Künstler über seinen Gegenstand vielfach nachge¬
dacht hat.
Diese Vortrage enthalten neben vielem Klaren und Nichtigen, wohin wir nament¬
lich den größern Theil vom Inhalt des ersten Vortrags rechnen, auch Manches, wo¬
für uns das Verständniß abgeht und Anderes, dessen Sinn uns zwar deutlich ist,
womit wir aber uicht übereinstimmen können. Für uns ist Schleiermacher aller¬
dings der bedeutendste Theolog seit Luther. Wir ehren in ihm mit Strauß ein
Bollwerk, hingestellt gegen die Wiederkehr der Glaubcnstyrannci und der Barbarei im
Denken. Indem er die Durchdringung des Göttlichen und Menschlichen zum posi¬
tiven Inhalt des Christenthums machte, wurde er der Reformator unsrer Theologie.
Es war in ihm die Vereinigung tiefster Religiosität und unendlich beweglicher Ver-
standesreflexion verkörpert. Sein Denken war stets von höchster Anschaulichkeit.
Wie Kant die alte Metaphysik, so zertrümmerte Schleiermacher die theologische
Scholastik, wie jener in dem sittlichen Bewußtsein der praktischen Vernunft einen
positiven Boden gewann, so war diesem das fromme Gefühl der Punkt, von wo
aus er seinen Christus postulirte. Mit sicherem Tact hob das religiöse Gefühl in
ihm aus der alten Dogmatik alles für den Glauben Wesentliche hervor, das Uebrige
verfiel der Kritik. Ein Christ in dem Sinne, wie er hier im zweiten Vortrag ge¬
nommen wird, war er nicht.
Eine sehr umsichtige und geschickte Zusammenstellung von Excerpten aus den
wichtigsten Ackerstücken, 'welche der Kampf für die kurhessische Verfassung vom 5..
Januar 1831 zu Tage gefördert hat. Die betreffenden Verordnungen, Proklama¬
tionen und Kamlncrredcn der Jahre 1832 bis 1848 sind mit Ausnahme des letzten
Willens Wilhelms des Zweiten an die Landstände (worin derselbe sein Vertrauen zu
den Ständen ausspricht, „daß sie die Aufrechthaltung der von Uns gegebenen Ver¬
fassung, das Glück Unserer Unterthanen, sichern werden") ausgelassen. Dagegen sind
die Auszüge aus den bezüglichen Schriftstücken von 1848 bis 1861 um so vollstän¬
diger. Wir empfehlen de>S Schriftchen, das auch dem Nichtgelehrten verständlich sein
wird, angelegentlich.
Gibt eine für das größere Puvlicum berechnete, sehr wohl geschriebene Geschichte
der Versuche, für den deutschen Bund ein wirkliches oberstes Gericht einzusetzen, wel¬
cher zum Vergleiche Darstellungen der Entwicklung ähnlicher politischer Institutionen
im Bunde der Eidgenossenschaft und in den Vereinigten Staaten von Nordamerika
vorausgehen und Blicke ans die allgemeine Gestalt der politische» Verhältnisse in
Deutschland folgen. Wir empfehlen das lehrreiche und durchweg vom Standpunkt
d. Bl. urtheilende Schriftchen allen Lesern auf das Wärmste.
Der Uebersetzer legt seiner Arbeit im Wesentlichen den griechischen Text von
Fast zu Grunde, seine Hexameter sind fließend und großenteils klangvoll, seine
Auffassung und Wiedergabe des Geistes der Originaldichtungcn fast durchweg der An¬
erkennung werth, die beigegebenen Anmerkungen für den NichtPhilologen ausrei¬
chend, und so läßt sich das Ganze bestens empfehlen.
Vortrefflich ausgeführte Radirungen nach Baumstudien, denen die Absicht zu
Grunde liegt, Anfängern im Zeichnen von Landschaften den Blick für das Charak-
teristische der verschiedenen Formen zu üben und sie so zum Zeichnen und Malen
nach der Natur vorzubereiten. Das Ganze wird aus 27 Abbildungen bestehen,
von denen die erste Lieferung die meisterhaften Nachbildungen der Edeltanne, der
Sommereiche, verschiedener Zweige von Pappelarten, der Esche und der Winterlinde
enthält. Bei der Edeltanne wäre wohl besser ein älteres Exemplar zur Nachbildung
gewühlt worden.
Indem der Verfasser die Politik der Stuarts beurtheilt, kritisirt er zugleich die
der Bourbonen und die Ludwig Philipps, und indem er uns das Porträt Wilhelms
des Dritten gibt, zeigt er uns den Fürsten, der ihm als Muster gilt. Die innere
Politik des jetzigen Kaisers der Franzosen ist damit freilich kaum erklärt, wohl aber
in gewissem Grad die äußere. Im Folgenden theilen wir die Resultate mit, zu denen
der Versasser bei seiner Betrachtung gelangt. Die Regierung der Stuarts begann
unter den glücklichsten Anzeichen, Wilhelm dagegen war vom ersten Tage an von
Gefahren und Schwierigkeiten umgeben. Weshalb fielen jene, während dieser siegte?
Als die Stuarts auf den Thron gelangten, hatte der Fortschritt der.Civilisation
England in zwei Parteien gespalten, in die Anhänger des Alten, die durch das
Herkommen mächtig, und in die Freund? neuer Ideen, die durch die Aufklärung
stark waren. Statt die Interessen dieser Parteien zu vereinigen, begannen die
Stuarts den Kampf für die alten Rechte. Sie befanden sich dabei stets in einer
schiefen Lage. Sie sollten Vertreter des Protestantismus, der Freiheit und Duldung
sein. und sic waren im Herzen Katholiken und Absolutisten. Sie sollten Englands
Interessen vertreten und waren Frankreich ergeben. Wilhelm dagegen war aus
Ueberzeugung, waS er ans dem Throne darstellte. Der Ursprung einer Gewalt
hat während ihrer Dauer beständig Wirkung auf sie. Im Allgemeinen enden Re¬
volutionen, welche von einem Oberhaupt geleitet werden, durchaus im Interesse der
Massen, da der Leiter, um Erfolg zu haben, im Sinn des Volks handeln, und
um sich zu halten, diesen Interessen treu bleiben muß. Die von den Massen be¬
wirkten Revolutionen dagegen nutzen nicht selten den Führern, weil das Volt nach
dem Siege das Werk für gethan hält und überdies lange Zeit bedarf, sich von den
zum Sieg führenden Anstrengungen zu erholen, Wilhelm, der durch seine Illegiti¬
mität jeden Zusammenhang mit den frühern Regierungen von sich wies, der durch
seine Person und seine Thaten das Haupt seiner Sache und der Revolution war,
der endlich durch die freie Wahl ein unbestreitbares Recht erworben, hatte die Grund¬
pfeiler seines Throns lief in die englische Erde gesenkt.
Die Stuarts hatten Muth, Geist und Ausdauer. Sic wendeten diese Eigen¬
schaften aber nur gegen die Forderungen des Volkes an, sic widerstanden, wo sic
hätten nachgeben, sie gaben nach, wo sic hätten widerstehen sollen. Sie waren nur
in'ihrem Haß ausdauernd, nie in ihrer Liebe. Eine Negierung freier Völker ist
niemals stark genug gewesen, um die Freiheit im Innern auf längere Zeit zu unter¬
drücken, wenn sie nicht Ruhm nach außen errang. Die Stuarts haben Ersteres ver¬
sucht, Letzteres nie vermocht. Sic verließen die Sache des Protestantismus und
mußten sich ihm doch unbequemer, und so war das Zeichen ihres Regiments In-
consequenz und Schwäche. Nie versuchten sic durch Anwendung eines großen Prin¬
cips, durch Annahme eines großen Systems die Wohlfahrt und Macht ihres
Landes sicher zu stellen. Sic führten Krieg, um durch ein wenig Ruhm ihre
schwankende Macht zu erhalten, Wilhelm dagegen, um den Einfluß Englands
zu mehren; jene forderten nach Niederlagen Frieden, -dieser genehmigte ihn nnr
nach dem Siege, jene suchten ihre Ehre nur in der Bundeslade der könig¬
lichem Vorrechte, dieser die seinige im Stolz der Nation. Hienieden sind alle
Menschen mehr odcr weniger ' Schauspieler; aber jeder wählt den Schauplatz
und seine Zuhörer selbst, er setzt alle Kräfte daran, den Beifall dieser Zuhörerschaft
seiner Wahl zu erlangen. Die Stuarts strebten nur nach dem Beifall einer Par-
tei und eines fremden Fürsten. Wilhelm dagegen suchte sich den Beifall der Nach¬
welt zu verdienen. Die ersterem beriefen das Parlament/ um es zu täuschen,
letzterer versammelte es, um es zu überzeugen. Jene herrschten mit Verstellung und
Intriguen, dieser regierte mit Offenherzigkeit. Die Stuarts wollten den Katholicismus
in England wieder aufrichten, das Königthum erheben, die Ordnung herstellen, und
sie erreichten von Allem das Gegentheil. Wilhelm gelang es, den Abgrund der
Revolution zu schließen, und zwar nur dadurch, daß sein Verhalten das Gegentheil der
Stuarts war. —
Die Quintessen; dieser Ergebnisse lautet für die Fürsten aller Länder und Zeiten l
Nie genügt die Hilfe des Auslands, um eine von der Nation nicht getragne Ne¬
gierung zu halten. Stellt euch an die Spitze der Ideen eures Jahrhunderts, diese
Ideen begleiten und erhalten euch. Bleibt ihr hinter ihnen zurück, so reißen sic euch
fort. Bekämpfe ihr sic, so stürzen sie euch.
Wie sehr sich die Praxis Napoleons des Dritten in Betreff der innern Politik
von der Theorie unterscheidet, die er sich als Prinz Louis Napoleon ans dein Ver¬
fahren Wilhelms von England bildete, ist nicht nöthig auseinanderzusetzen. Die
auswärtige Politik des Kaisers der Franzosen dagegen entspricht in ihren wesent¬
lichen Jnger den hier dargelegten Grundsätzen.
Die Dichtungen des großen Sängers der Hohenstaufenzeit erscheinen in dieser
neuen Auflage zum ersten Male in vollständiger Uebertragung, auch ist die Auf-
einanderfolge derselben, namentlich in der dritten Abtheilung „Herrendienst", welche
die politischen Lieder des Dichters umsaßt, strenger chronologisch geordnet, wodurch
das kleine Buch in gewissem Grade auch die Bedeutung einer Geschichtsquelle er¬
halten hat. Wir empfehlen das Werkchen, das sich durch die ersten beiden Abschnitte
seines Inhalts sowie durch sehr hübsche Ausstattung in Druck und Papier auch
zum Geschenk für Frauen eignet, den Lesern angelegentlich.
Von Alfred Meißncrs „Dichtungen", Leipzig Verlag von Fr. W. Grunvw, ist
die achte Auflage erschienen, von Spitta, Leipzig, Verlag von Robert Friese,
„Nachgelassene geistliche Lieder" im Styl der bekannten Sammlung „Psalter und
Harfe". Dem Buche ist ein Bildniß des 1859 verstorbenen Dichters beigegeben.
Veranlaßt durch die bekannten Vorgänge an der Bonner Universität, bei wel¬
chem circa 300 katholische Studenten bei dem Curator Beseler in, Frühjahr 1802
wiederholt, von ultramontanen Nachgeben, ausgesungen, eine Beschwerde über an¬
gebliche Beeinträchtigung der katholischen Interessen einreichten, sowie durch die in
der ultramontanen Presse des Rheinlandes und namentlich durch die bei Herder in
Freiburg erschienene Broschüre „Beleuchtung der Parität in Preußen aus dem Ge¬
biet des höhern und mittleren Unterrichts" verbreiteten Unwahrheiten. Unsre Schrift
widerlegt, aus bester Quelle schöpfend und in ihrem Ton sehr vortheilhaft von der
Unverschämtheit und der oft pöbelhafter, bisweilen gradezu schmutzigen Sprache
der gegnerischen Auslassungen abstechend, jene Anklagen vollständig und in den
Hauptsachen auf eingehendste Weise. Zum Schluß heißt es: „Man hat der preu¬
ßischen Regierung im Lauf der Zeit schon Vieles zugemuthet, aber so weit wird es
doch, wir wollen dies im Interesse aller katholischen wie evangelischen Deutschen
wünschen, wohl niemals kommen, daß der Staat Friedrichs des Großen auf seinen
Universitäten! die akademischen Lehrer nicht wegen ihrer wissenschaftlichen Thätigkeit,
sondern wegen ihres Bekenntnisses anstellt". — „Wer wegen seines katholischen
Bekenntnisses von der preußischen Regierung in seinen Rechten verletzt, beeinträchtigt
oder gekränkt wurden ist, der melde sich offe» und bringe seine Klagen ein. Es
wird uns eine Freude sein, jede berechtigte Beschwerde unserer katholischen Mitbürger
mit Nachdruck, soviel in unsern Kräften ficht, zu unterstützen. Bis ein solcher that¬
sächlicher Fall der Oeffentlichkeit übergebe», und der Nachweis seiner Nichtigkeit ge¬
liefert worden ist, fordern wir unsre katholischen wie unsre protestantischen Mitbür¬
ger ans, das ultramontane Geschrei: „keine Parität in Preußen" für eine
böswillige Verdächtigung und gehässige Lüge zu erklären".
Eine wohlgeschriebene Darstellung des Lebens und Charakters des "großen Pa¬
trioten, der wir recht viele Leser wünschen.
Campe ist in neuester Zeit vielfach geringer geschähe worden, als er verdient.
Wir freuen uus, i» vorliegender kleiner Schrift, die anch auf »»gedrucktes Material
basirt ist, wieder einmal den Versuch gemacht zu sehen, dem Autor unsres alten
Jugendfreundes Robinson Crusoe, dem doch keine der anspruchsvolleren neuern Ju-
aendschriften das Wasser reicht, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
Schildert in der Form von Memoiren eines Herrn Peter Tink Verhält¬
nisse und Menschen in den Vereinigten Staaten, namentlich in den Sklnvcn-
staatcn des Westens, wobei dem Verfasser die eigne Erfahrung — er war mehre
Jahre Redacteur eines Parteiblattcs in Amerika — das Material lieferte. Der
Zweck der Schrift ist, „republikanischen Schwärmern Deutschlands einen Spiegel
vorzuhalten, in welchem sie das Ideal der Volkssouveränetät klar und deutlich er-
ke»ne» können," und in der That, wenn die Zustände in Amerika wirklich so, oder
richtiger nur so wären, so müßte selbst der eifrigste Liebhaber besagter Souveräne-
tät an seinem Ideal irr werden. Die Schilderungen unsrer Schrift sind eine fast'
»uunterbrochne Kette von Schwindeleien, Gemeinheiten, Jndustrieritterstückchen, wider¬
wärtigen Sitten, Rohheiten und Unverschämtheiten, die nur durch die hübsche Art
zu erzählen und einige humoristische Excursc einigermaßen genießbar werden. Wir
glauben nun dem Verfasser gern, daß alle von ihm mitgetheilten Begebenheiten
„ohne Ansncchme Thatsachen find," und wir sind weit entfernt, ihm zu bestreiten,
daß das Leben der „freien und erleuchteten" Herren Musterrepublikaner mehr Fle¬
cken als lichte Stellen hat, ja wir geben ihm zu, daß dieses Leben weit mehr dunkle
Seilen zeigt als das weniger freier und nach der Meinung gedachter Mustcrrepubli-
kancr weniger erleuchteter Völker. Dennoch müssen wir sagen, daß das Buch kein
richtiges Bild von den Amerikanern gibt, sondern nur ein Bild ihrer Schattenseite.
Auch die Lichtseite forderte ihr Recht, und da diese hier fast ganz vernachlässigt ist,
so wird es uns erlaubt sein, das Buch als Partcischrift zu bezeichnen, die in ihren
Einz elnhci t er die Wahrheit sagt, als Ganzes aber nicht mehr unser Urtheil bestimmen
kann, als die Bücher, welche uns nur die lichte und schöne Seite Amerikas zeigen.
Zeichnungen der Straßen. Parks, Märkte und Docks der Thcmscstadt, Notizen
über Wirthshäuser, Essen und Trinken, Verschiedenes über das Parlament und den
englischen Adel, Diebe und Polizei, auch eine Hinrichtungsscene mit obligaten Pö-
belgrimasscn, nicht viel Neues darunter, Einzelnes hübsch erzählt. Die beigegebenen
zwölf Abbildungen sind recht charakteristische Federzeichnungen; die eine „Sitzung im
Haus der Gemeinen" gibt sogar Porträts.
Diese Skizzen lausitzcr Zustände und Gegenden waren früher in der sogenann¬
ten „Wissenschaftlicher Beilage" der Leipziger Zeitung abgedruckt und gehörte» zu
dem wenigen Lesbaren, welches dieses Blatt bisher brachte. Sie sind, nach eignen
Beobachtungen geschrieben, als anmuthig und lehrreich zugleich bestens zu em¬
pfehlen.
Ein junger Italiener, der trotz seiner geistreichen Airs eigentlich ein Gimpel ist,
glaubt einer Sängerin, daß sie ihn liebe, wird von ihr zur Verschwendung seines
Vermögens und Vernachlässigung seines redlichen Vaters verlockt, gerät!) in Paris
in schlechte Gesellschaft und kommt erst, als er ruinirt ist, zur Einsicht, daß seine
Dame eigentlich nur eine brillante Dirne ist. Der Held interessirt uns als Schwach-
maticus wenig, die Künste dagegen, mit denen Marcella ihn immer wieder zu fesseln
weiß, sind mit außergewöhnlichem Talent und mit den glänzendsten Farbe» ge¬
schildert.
Jettatnra bedeutet im Italienischen die unglückliche .Gabe des sogenannten „bö¬
sen Blicks", der bekanntlich schon bei den Alten eine Rolle spielte und »och jetzt
unter Italienern, Griechen, Slaven - und Orientalen gefürchtet wird. Ein junger
Engländer, der feiner schwindsüchtiger Braut (Schwindsucht ein beliebtes Vcrklärungs-
mittel für die Heldinnen einer gewissen Klasse englischer und französischer Novellisten)
nach Neapel gefolgt ist, ger^es dort einer eigenthümlichen Bildung seiner Augen Käl¬
ber in den Verdacht, ein „Jettatore" zu sein und glaubt zuletzt selbst daran. Ein
Nebenbuhler duellirt sich mit ihm in den Ruinen von Pompeji auf Dolche und
wird dabei getödtet. Am andern Tag blendet sich der Bethörte mit einem glühen¬
den Messer selbst, besucht in diesem Zustand seine Geliebte und findet sie ans der
Bahre, worauf er sich ins Meer stürzt. Zum Schluß gibt es ein entsetzliches Ge¬
witter über der Leiche.
Arbeiten eines jedenfalls noch sehr jungen Schriftstellers, der, nach einzelnen
Weuduuge» zu schließe», nicht ohne gute Anlagen ist, aber noch sehr der Abklärung
bedars und sich namentlich noch viel auf die Darstellung von Absonderlichkeiten legt.
Einiges recht anmuthig, Anderes von nur mittelmäßigem Werth, namentlich
ist die Schreibart des Verfassers oft äußerst wunderlich verzwickt und überschwäng-
lich zugleich. Als Probe möge die Beschreibung einer Dame in der Novellette „Das
Räthsel in Erz" dienen: „Wie an einer kostbaren Perlenschnur von Sekunden trat
die Schönheit der Dame in meinen Gesichtskreis. Ich stand und lauschte. Erst
klang ein Tonspfcl harmonischer Linien aus der Ferne. Nie sah ich einen Körper,
der sich gehaltner trug, der seine Formen voll plastischem Maß, voll Weite > und
Tiefe so leicht und zierlich bewegte. Dann der Kopf. Zug um Zug ging ein
Antlitz auf, wie eine Camee aus einem Juwel geschnitten. Jede 'Linie streng und
bestimmt, weich und schwellend zugleich. Die Schale der Stirn war mit einer gro߬
artigen Hoheit modcllirt. Ueber das Auge spannte sie sich in einem weiten prangen¬
den Bogen, der einen geistreichen Schatten in die Augenhöhle warf. Das Ange
wurde dadurch tief, ohne hohl zu sein — eine wahre Grotte der Phantasie! das
Stirnbein setzte sich fort in eine Nase vom reinsten griechischen Styl" u. s, w, Wenn
unsre neuern Poeten doch, statt ihrem Stylgcschmack zu vertrauen, studiren wollten,
wie Goethe sich in dergleichen Dingen ausdrückte!
Berichtet uns die Geschichte eines jungen Adeligen, der, nnchdcm er in Leipzig
und Berlin studirt, einer Liebe wegen, die von einem Theil seiner Familie als Mes¬
alliance angefochten wird, nach Amerika geht, um dort als Bürgerlicher sein Glück
zu machen, dabei Erfolg hat, und schließlich, durch den Schleswig-Holsteinischen
Krieg zurückgerufen, seine Geliebte bekommt und in sehr angenehmen Verhältnissen
vermuthlich noch heute lebt. Der Verfasser erzählt hübsch, ist ein warmes Gemüth,
von liberaler und patriotischer Gesinnung und nicht arm an drolligen Erfindungen.
Der alte Herr Oberst und der brave Wachtmeister Schilling sind recht gesunde Figu¬
ren, die Geschichte von der Goldquclle bei Se. Louis gehört zu den ergötzlichsten
ilircs Genres. Dagegen könnte der Ton des Ganzen etwas weniger burschikos sein,
auch erhöht es nicht gerade die Gemüthlichkeitwenn der Oberst in jeden längern
Satz seiner Rede ein halb Dutzend „Millionenhunde" n. d. verflicht.
Goethe hat bekanntlich gegen Lessings Meinung von dem, was durch die Pla¬
stik darstellbar sei, behauptet, das; ein vorübergehender Moment zu wählen, und dies
im Laokoon gefunden! die Gruppe sei „ein sirirter Vlitz, eine Welle versteinert im
Augenblick, da sie gegen das Ufer anströmt". Auch Vischer erklärte es für eine
unerträgliche Beschränkung, wenn die bildende Kunst nicht auch das ganz Vorüber¬
gehende sollte darstellen können, und berief sich ebenfalls deswegen auf das Muster
des Laokoon. Diesen Ansichten gegenüber versucht unser Verfasser nachzuweisen, daß
eine im Gange befindliche Bewegung nicht bildlich dargestellt werden könne, daß
aber trotzdem eine .bewegte Begebenheit durch bildliche Darstellungen zur Anschauung
zu bringen sei und daß dies in der Lavkoongrnppe wirklich der Fall. Wir finden
diesen Versuch, der sich (der Verfasser ist Prosector in Marburg) auch ans anato¬
mische Beweise gründet und viele feine Bemerkungen enthält, in der Hauptsache ge¬
lungen und empfehlen die kleine Schrift den Freunden der Plastik als dankens-
werthe Gabe.
Darstellungen aus der Sittengeschichte Roms in der Zeit von August bis zum Aus¬
gang der Antonine, Von Ludwig Fricdlünder. Erster Theil. Leipzig,
Verlag von S. Hirzel. 1862.
Der Verfasser versucht aus dem reichen Material, welches in der Literatur
sowie in den Denkmälern der ersten Hälfte der Kaiserzeit vorliegt, ein Bild
der Sitten und Zustände Roms in dieser Periode zu gewinnen. Dabei konnte
ihm nicht entgehen, daß sich innerhalb des genannten Zeitraums gewisse Ver¬
änderungen in den Bräuchen, Ansichten und Einrichtungen verfolgen lassen,
und er hat in der That mehr als Frühere diese Phasen der damaligen Cultur
hervorgehoben. Aber im Ganzen wird man ihm Recht geben müssen, daß der
Süden in dieser Beziehung sich langsamer verändert als der Norden, daß fer¬
ner im Alterthum die Stabilität der Cultur größer war als gegenwärtig, und
daß namentlich die Cultur der von ihm ins Auge gefaßten Periode, mit der¬
jenigen der vorausgegangnen und der folgenden verglichen, einen einheitlichem
Charakter trägt, und so läßt sich gegen das Unternehmen, ein Sittengemälde
zu entwerfen, welches zwei volle Jahrhunderte umfaßt, nichts Wesentliches ein¬
wenden. Vollständigkeit wurde nicht beabsichtigt, doch ist für die Darstellung
dessen, was der Versasser zu schildern sich vornahm, alles thatsächlich Feststehende
herbeigezogen. Wenn einzelne Abschnitte mehr Detail enthalten als andere, so
liegt dies an der größern Reichhaltigkeit der Quellen in Betreff der hier be¬
sprochenen Gegenstände. Das Ganze, auch für nicht eigentlich gelehrte Kreise,
ja für diese mit Ausnahme der Citate und Beweisstellen Wohl vorzüglich be¬
stimmt, ist als eine auf guter philologischer Bildung beruhende, sorgfältige und
zugleich wohlgeschriebene Arbeit zu bezeichnen.
Von den fünf Kapiteln des vorliegenden Bandes, welche zunächst die
Stadt Rom, dann den kaiserlichen Hof mit seinem Einfluß auf das sociale
Leben, seinen Beamten, Freigelassenen und Sklaven und seinem Ceremomell,
hierauf die drei Stände der Senatoren..der Ritter und der Geschäftsleute,
serner den geselligen Verkehr und schließlich die Frauen der alten Weltstadt
zeichnen, haben die beiden letzten in der Hauptsache dem Publicum in frühern
Jahrgängen d. Bl. vorgelegen.
Im Folgenden geben wir den Lesern einen ausführlichen Auszug aus dem
ersten Abschnitt des Buches, welches damit den Freunden des Alterthums warm
empfohlen sein möge.
Bis zu der Neronischen Feuersbrunst ist Rom keine schöne Stadt im mo¬
dernen Sinne gewesen. Es waren schon vor Augustus mancherlei verschwen¬
derisch ausgestattete öffentliche Bauten entstanden, und die Augusteische Zeit
schuf zu diesen so viel Prächtiges hinzu, daß die Backstcinstadt sich in eine
Marmorstadt umgewandelt zu haben schien. Aber die große Masse der Privat¬
gebäude wurde davon nicht betroffen, die Straßen blieben eng, krumm und
uneben, die Häuser unverhältnißmäßig hoch und durch häßliche Anbauten ent¬
stellt, und das Ganze zeigte das Bild einer ohne Plan und Regel entstan¬
denen Stadt.
Der große Brand des Jahres 64, der von den vierzehn Quartieren Roms
drei vollständig und sieben größtentheils in Schutt und Asche legte, hatte einen
Neubau im Gefolge, bei welchem die Häuser bis zu einer gewissen Höhe feuer¬
fest und minder hoch aufgeführt, die Straßen breiter und gerader angelegt und
die Quartiere planmäßig vertheilt wurden. Indeß blieben die Häuser, da das
ohne Zweifel sehr theure Areal zum Aufsetzen zahlreicher Stockwerke nöthigte, noch
immer ziemlich hoch. Augustus hatte ihre Höhe auf der Seile, wo sie die Straßen
einfaßten, auf 70 römische Fuß (circa 66 preußische) beschränkt, Nero und spä¬
ter Trajan setzten dies noch beträchtlich herab. Indeß kam damit das alte
Rom, dessen höchste Häuser nach dem angegebenen Maß kaum mehr als vier
Stockwerke gehabt haben können, modernen Städten, wie Genua, wo acht bis
neun, und Edinburg, wo selbst zehn Geschosse vorkommen, nicht gleich. Im
Ganzen wird die verhältnißmäßige Schmalheit der Straßen bewirkt haben, daß
die Gebäude höher zu sein schienen, als sie waren. Sehr lange, breite und
zugleich gerade Straßen waren auch in der Zeit nach Nero selten, da die stete
Abwechslung von Thal und Hügel auf dem Stadtareal solche nur an einigen
Stellen gestattete. Großartige Prospecte. wie sie Alexandria und Antiochia
mit ihren fast meilenlangen, rechtwinkelig durchschnittenen Prachtstraßen boten,
hat Rom nie gehabt. Häufig wichen die Häuserfronten von der geraden Linie
ab. Die verschiedenen Theile der einzelnen Gebäude waren von ungleicher
Höhe, die Fenster soie noch heute im Orient) unregelmäßig und vereinzelt, die
lebhafteren Gassen durch An- und Vorhanden, Buden, Verkaufsladen, Schenk¬
stuben und Werkstätten (etwa wie heute in Kairo und Damaskus) verengt.
Ganz Rom, sagt Martial, war eine große Taberne geworden, alle Straßen von
Krämern und Händlern, Fleischern, Schenkwirthen und Barbieren in Beschlag
genommen. Man sah keine Hausschwelle mehr. Dampfende rußgeschwärzte
Garküchen nahmen die stanze Breite einer Gasse ein, und Prätoren waren ge¬
nöthigt, durch den Koth des Fahrdammes zu wandeln.
Aber trotz dieser Mängel war Rom mit dem verwirrenden und berau¬
schenden Treiben eines aus allen Ländern der Welt zusammenströmenden Ver¬
kehrs, mit der Großartigfeit, Pracht und Menge der öffentlichen Bauten und
Anlagen und mit seiner unermeßlichen Ausdehnung eine Stadt ohne Gleichen.
Wer damals von der Höhe des Capitals herabschaute, dessen Blick verlor sich
in einem Gewirr von Prachtgebäuden und Denkmälern jeder Art, das zu seinen
Füßen sich meilenweit über Thal und Hügel in unabsehbare Ferne hinbreitete.
Ueberall griffen die Ausläufer der Stadt in die Campagna hinaus und ver¬
schlangen allmälig die zahlreichen umliegenden Flecken und Ortschaften, und ihre
Vorstädte verloren sich in neuen Anlagen prachtvoller Landhäuser, Tempel
und Monumente, deren marmorne Zinnen. Giebel und Kuppeln aus dem dun¬
keln Grün von Hainen und Gärten hervorleuchteten.
Unter den öffentlichen Anlagen übertrafen die des Marsfeldes alle übrigen
an Ausdehnung, während sie an Pracht und Großartigkeit keinen nachstanden.
Die weite, auf drei Seiten von der Mündung des Stromes umschlossene Ebene,
deren ungeheure immergrüne Grasfläche dem Gewühl der Wagen und Reiter und
daneben einer unzähligen Menge Raum bot, die sich in Leibesübungen tummelte,
die Prachtgebäude und Denkmäler ringsum, ein Labyrinth säulengetragener
Hallen. Kuppeln und Giebeldächer, unterbrochen von dem Grün der Lusthaine
und Baumgänge, als Begrenzung die Kuppen der jenseits über dem Flusse
im Halbkreis aufsteigenden Hügel — das war ein Anblick, der die übrige Stadt
wie einen Anhang erscheinen ließ. Betrat man aber diese letztere und erblickte
nun die Form eines neben dem andern ausgebreitet, von Säulengängen und
Tempeln eingefaßt, und das Capitol mit seinen Bauwerken und den Palatin und
die Colonnade der Livia, so mochte man leicht das außerhalb Gesehene
vergessen.
Was von dieser großentheils durch Augustus geschaffenen Herrlichkeit in den
Bränden unter Nero und Titus verloren ging, wurde wiederhergestellt und
durch neue Prachtbauten vermehrt. In dem halben Jahrhundert von Vespa-
sian bis Hadrian erreichte Rom seinen höchsten Glanz, aber auch unter den An¬
tonium und später noch geschah Vieles zu seiner Verschönerung. Als der Kaiser
Constantius im Jahr 357 zum ersten Mal nach Rom kam und das Forum,
die berühmte Stätte der alten Macht betrat, war er. wie Ammian er¬
zählt, stumm vor Bewunderung, und indem er sodann allmälig die einzelnen
Theile der Stadt musterte, auf den Höhen der sieben Hügel, auf deren Ab¬
hängen und in der Ebene, meinte er immer das, was er zuerst gesehen, werde
unter allem Uebrigen das Größte sein. „Der Jupiterstempel auf dem Tarpeji-
schen Felsen strahlt wie Göttliches vor Menschlichem. Die Bäder sind in der
Ausdehnung vou Provinzen eingelegt. Die Masse des Modischen) Amphithea¬
ters, ein mächtiger Bau aus Tiburtinischem Stein, ragt so hoch, daß der Blick
kaum bis zur äußersten Höhe hinaufreicht. Der herrliche Rundbau des Pan¬
theons mit prachtvoller hoher Ueberwölbung, die riesenhaften Ehrensäulen, zu
deren spilen im Innern Treppen hinaufführen, und welche die Statuen frü¬
herer Fürsten tragen, der Tempel der Göttin Roma, das Forum des Friedens,
das Theater des Pompejus, das Odeum, das Stadium, alle diese Zierden der
Stadt wetteifern an Schönheit, Pracht und Großartigkeit miteinander. Als
er aber zum Forum Trajans gekommen war und diesen Bau erblickte, der
unter dem ganzen Himmel nicht seines Gleichen hat und wohl auch von den
Göttern als wundervoll anerkannt werden würde, stand er wie betäubt, indem
er seinen Geist durch die gigantischen Wölbungen hinschweifen ließ, die weder
mit Worten beschrieben werden können, noch für Sterbliche zum zweiten Mal
erreichbar sind."
Rom war aber nicht blos durch diese Bauten und Anlagen eine Stadt
unvergleichlicher Wunder. Auch die Sculptur und Malerei hatten es auf das
Reichste mit ihren Werken geschmückt. Die Wände der Hallen und Tempel
prangten im Farbenschmuck der Mauergemälde, und ihre Räume sowie'Straßen
und Plätze waren von Erz- und Marmorbildern erfüllt. Noch im sechsten Jahr¬
hundert, als wiederholte Stürme und Verwüstungen sie längst des besten Theils
ihres Schmucks beraubt hatten. schien es, als ob noch ein zweites Volk von
Statuen in ihren Mauern wohne. Allenthalben waren die Massen der Ge¬
bäude von Gärten unterbrochen, in denen man auch fremdländische Bäume, z.
B. den Lotos, angepflanzt hatte, und zu allen Zeiten des Jahres sah man
frisches Laub in Fülle. Aber vielleicht die schönste Zierde Roms war die Menge
und Großartigkeit seiner Wasserwerke. Die Quellen der Gebirge, meilenweit
in unterirdischen Röhren oder auf gewaltigen Bogenreihen in die Stadt gelei¬
tet, ergossen sich rauschend aus künstlichen Grotten, breiteten sich wie Teiche in
weiten verzierten Behältern aus oder stiegen plätschernd in den Strahlen präch¬
tiger Springbrunnen auf, deren kühler Hauch die Sommerluft erfrischte und
reinigte, und von denen die metÄ sudh-us die Fontäne von Se. Peter weit
übertreffen haben muß.
Andere unerschöpfliche Schauspiele bereitete der Welthandel, der sich in
Rom concentrirte, und welcher seine reichsten Basars in den Septa, in der
sacra Via, wo besonders Goldarbeiter und Juweliere sich angesiedelt, auf dem
Forum Pacif. wo man vorzüglich ägyptische und arabische Waaren feil hatte,
im Vicus Tuscus, wo Wohlgerüche, Specereien und Seidenstoffe verkauft wur¬
den, und vermuthlich auch im Circus MaximuH» hatte. Die Läden dieser Ba¬
sars füllten die seltensten und kostbarsten Erzeugnisse der Erde, die prächtigsten
und mühseligsten Werke des Gewerb- und Kunstfleißes aller Völker: spanische
Wolle und chinesische Seide, künstliche bunte Gläser und feine Leinwand aus
Alexandrien, Wein und Austern von den griechischen Inseln, gewürziger Alpen¬
käse (dessen übermäßiger Genuß den Kaiser Antoninus Pius ums Leben ge¬
bracht haben soll), die Seefische des Schwarzen Meeres, die Heilkräuter Sici-
liens und Afrikas, der Balsam Jerichos, der Weihrauch Arabiens, die Perle
vom Grunde des Rothen Meeres und der Diamant der indischen Gruben, ba¬
bylonische Teppiche, Geräthe und Gefäße aus Elfenbein und Schildpatt, korin¬
thischen Erz und Krystallglas, riesige Balken farbigen Marmors in den Ge¬
birgen Kleinasiens gebrochen, schön genäherte Scheiben kostbaren Holzes am Atlas
gewachsen, griechische Statuen und Becher, endlich zahlreiche ausgesuchte Skla¬
ven aus allen Nationen. „Zu euch", heißt es in einer griechischen, um die
Mitte des zweiten Jahrhunderts verfaßten Lobrede auf Rom, die beiläufig leb¬
haft an die Schilderungen des Glanzes von Tyrus bei Jesaias erinnert,
„kommt aus allen Ländern und allen Meeren, was die Jahreszeiten her¬
vorbringen, und was alle Zonen tragen, was Flüsse und Seen und was die
Hellenen und die Barbaren mit ihrer Arbeit erzeugen. Wenn also jemand
willens ist alles dies zu schauen, so muß er entweder die ganze Welt durchrei¬
sen, oder sich in dieser Stadt aufhalten."
Ueberhaupt empfand man in Rom tausendfältig, daß man im Mittelpunkt
eines Weltreichs war. Von den fernsten Grenzen der Erde kamen aus allen
Straßen ununterbrochne Nachrichten, „wie von Vögeln getragen", nach dem Sitz
der Weltherrschaft. War in Oberägypten Regen gefallen (bekanntlich eine außer¬
ordentliche Seltenheit) oder hatte in Kleinasien die Erde gehabt, waren die Le¬
gionen am Rhein aufrührerisch gewesen oder hatte der Parthische Hof seine
Stellung gegen Rom geändert: man sprach davon wenige Tage nachher auf
dem Forum und auf dem Marsfeld, bei Gastmählern und andern geselligen Zu¬
sammenkünften. War irgendwo eine unerhörte Naturseltenheit, ein Riese, ein
Zwerg, eine Mißgeburt und drgl. entdeckt worden, so wurde sie an den Kaiser
gesandt und in Rom öffentlich ausgestellt. So unter Claudius ein arabischer
Riese, der 9V« Fuß maß, unter Nero ein Kind mit vier Köpfen, unter Seve-
rus das Geripp eines Wallfisches, in welchem 50 Bären Platz hatten. Künst¬
ler und Virtuosen kamen aus allen Ländern, um sich sehen oder hören zu las¬
sen. Athleten, um sich den Kranz in den großen römischen Wettkämpfen zu er¬
werben. Dichter und Redner, Philosophen und Gelehrte, um Vorträge zu hal¬
ten, die fähigsten und ehrgeizigsten jungen Leute aus den Provinzen, um des
besten Unterrichts theilhaftig zu werden. Mindestens seit Vespasian und noch
mehr seit Gründung des Athenäums unter Hadrian muß ein stetes Zuströmen
von Provinzialen nach Rom ihrer Ausbildung halber stattgefunden haben. Zur
Ausbildung wie zur Erholung bot die Hauptstadt der Welt die großartigsten
Anstalten. In den Hallen zahlreicher Bibliotheken (die Regionarier geben de-
ren 28 an) konnte der Freund der Literatur sich in kostbaren Pergament- und
Papyrusrollen satt schwelgen und sich in den Kreisen der Gelehrten, die sich
dort gern versammelten, Förderung suchen. Anstalten von unvergleichlicher Pracht
standen in den Thermen auch dem Geringsten zum Gebrauch offen. Alle Wun¬
der der Wundcrstadt wurden noch überboten durch die Schauspiele der Bühne,
des Circus und der Arena, wo Alles, was die ausschweifendste Phantasie er¬
sinnen konnte, zur überwältigenden Wirklichkeit wurde.
Doch das größte unter den Schauspielen Roms war das Menschengewühl,
das sich täglich ohne Unterbrechung durch seine Straßen wälzte. Je mehr die
Stadt Mittelpunkt der Welt wurde, desto mehr strömten hier alle Nationen zu¬
sammen, doch eine allgemeine Masseneinwanderung aus den Provinzen begann
erst seit dem Untergang der Republik. Später war die Stadt im eigentlichen
Sinne ein „Versammlungsort des Erdkreises" oder, wie einer ihrer griechischen
Lobredner sagt, „ein Compendium der Welt". Noch bunter wird das Gemisch
dieser Bevölkerung durch die Menge der unaufhörlich ab- und zuströmenden
Fremden, deren Zahl bei ungewöhnlichen Veranlassungen, wie namentlich bei
großen Schauspielen, auch eine außerordentliche Höhe erreichte, aber zu allen
Zeiten schon deshalb sehr groß war, weil man hier „für Tugenden wie
für Laster die höchsten Preise zahlte." Hier schwirrten hundert Sprachen,
drängten sich die Formen und Farben aller Racen, die Trachten aller Völ¬
ker durcheinander. Mohrensklaven führten Elephanten aus den kaiserlichen
Zwingern vorüber. Blonde Flamländer von der kaiserlichen Leibwache erschienen
in glänzender Rüstung. Nicht fern von ihnen trugen Aegvpter mit kcchlgeschor-
nen Köpfen und in Linnentalaren die große Göttin Isis in Procession. Hinter
einem griechischen Gelehrten ging ein junger Hindu beladen mit Bücherrollen.
Orientalische Fürstensöhne in hohen Mützen und weiten bunten Gewändern
schritten mit ihrem Gefolge in schweigsamen Ernst durch die Menge, und tättowirte
Wilde aus Britannien beflaumten die Wunder der neuen Welt, die sie umringten.
Die Zahl der Bewohner Roms läßt sich nur sehr ungefähr veranschlagen.
Wenn sie auch großen Schwankungen unterworfen war, dürfte sie doch in der
Zeit von Augustus bis Trajan im Ganzen fortwährend gestiegen sein und bis
zu den großen Pester unter Marc Aurel und Commodus nicht merklich abge¬
nommen haben. Die neueste sorgfältige Revision der Berechnungen der Volks¬
zahl Roms gibt nach der Meinung Friedländers (S. 21 und 22) v. Wietersheim
in seiner seit 1859 erscheinenden Geschichte der Völkerwanderung. „Wenn auch
dort nicht alles Einzelne richtig gefaßt ist. so sind doch mehre Momente genauer
als bisher und einige zum ersten Mal erwogen. Das Resultat ist. daß aller¬
wegen die Bevölkerung Roms in der Kaiserzeit nicht merklich über anderthalb
Millionen angenommen werben könne und daß der mittlere Durchschnitt diese
Summe kaum erreicht haben dürfte.
Die bisherigen Berechnungen gingen aus:
1) Von der Zahl der Getreideempfänger. So Bunsen, Zumpt, Hock und
Marquard, welche alle auf ungefähr zwei Millionen schließen. Aber mit Recht
bezeichnet v. Wietersheim es als sehr bedenklich drei verschiedene Ausdrücke in
Mon. Alte. (plsbs romg-na, plebs urdg.na, plebs <iug.e tum Irumeirtum publi-
cum Äeeepei-unt) in ein und demselben Sinn aufzufassen. Sodann bemerkt
er, daß die freie weibliche Bevölkerung in Rom erheblich geringer als die männ¬
liche zu veranschlagen ist.
2) Von den Zahlen der insulas und clomus bei den Regionariern, wobei
Gibbon auf 1,200,000, Marquard je nach der zu Grunde gelegten Scala auf
1.610,000 oder 2,070,000 Einwohner kommt. Allein auch abgesehen von der
Schwierigkeit, die Durchschnittszahl der Hausbewohner zu bestimmen, sind un¬
ter insulas nicht blos ganze Miethhäuser, sondern offenbar auch bloße Abtheilungen
derselben zu verstehen. Eine Bevölkerung, wie Marquard sie annimmt, würde
übrigens um allenfalls für die Zeit Trajans denkbar, aber für das vierte Jahr¬
hundert schon an und für sich sehr unwahrscheinlich sein.
Z> Von dem Flächeninhalt, der von der Aurelianischen Mauer eingeschlos¬
sen ist. So Dureau de la Malle, welcher, da dieses Areal nur «/» des Are¬
als von Paris beträgt, für Rom 550,000 Einwohner annimmt. Schon
Zumpt bemerkt dagegen, wenn die von jenem französischen Gelehrten angeführte
Scala des vierten Arrondissements zu Grunde gelegt würde, so wäre eine Ein¬
wohnerzahl von 1,153,476 anzunehmen. Aber auch dies würde wohl noch
nicht hinreichen wegen der durch v.< Wietersheim hervorgehobenen Grundver¬
schiedenheit der antiken und modernen Wohnungsverhältnisse. Wie Pompeji
zeigt, waren die Wohnungsräume der Alten viel beschränkter als die heutigen.
Zweitens umfaßte die Aurelianische Mauer nicht ganz Rom. sondern, wie ein
Theil der vierzehnten Region unzweifelhaft außerhalb lag. so hat sie sicherlich
noch andere Vorstädte ausgeschlossen und zwar nicht unbedeutende.
Wenn auch keine dieser Berechnungen ein sicheres Resultat gibt, so stim¬
men doch ihre ungefähren Ergebnisse zusammen oder lassen sich wenigstens mit
einander vereinigen, was die Wahrscheinlichkeiten sehr erhöht. Vollkommen gut
stimmt damit endlich die Berechnung Marquards Handb. d. R. A. III. 2, 104.
499. welche 4) von der Getrcideconsumtion der ganzen Stadt ausgeht- Diese
betrug nach zwei Angaben von Victor und Josephus in der Zeit des Letzteren
sechzig Millionen Modii jährlich, was. 60 Modii auf den Kopf gerechnet, eine
Million Einwohner gibt. Da aber auf Frauen und Kinder weniger gerechnet
wird und die höhern Stände von andern Lebensmitteln mehr consumirten, so
muß die Zahl bedeutend höher angenommen werden.
Wir haben die Lichtseite des Lebens in der alten Weltstadt betrachtet und
folgen nun dem Verfasser unsers Buchs zu der Schattenseite. Im Genuß der
Fülle von.Vortheilen, Anregungen und Schauspielen, welche das kaiserliche Rom
bot, befanden sich die höchsten und niedrigsten Schichten der Bevölkerung am
wohlsten. Die ungeheure Mehrzahl der freien Bewohner wurde auf Staats¬
kosten ganz oder theilweise ernährt, die Großen fanden hier Raum und Mittel
zu einer fürstlichen Existenz wie sonst nirgends. Den Schattenseiten des Le¬
bens in Rom waren am meisten die Mittelklassen ausgesetzt. Dazu gehörte die
Höhe der Preise für alle Lebensbedürfnisse im Vergleich zu der Wohlfeilheit in
den Municipien Italiens und den Provinzen. Schon zu Cäsars Zeit scheint
der Preis der Wohnungsmiethen in Rom durchschnittlich viermal so hoch ge¬
wesen zu sein als in den Städten des übrigen Italiens, und diese Preise stei¬
gerten sich später ohne Zweifel noch beträchtlich, wenn auch sehr übertrieben
sein mag, was Juvenal in dieser Beziehung sagt, nach dem man in Sora Fa-
bratcria oder Frusino Haus und Garten für eine Summe hätte kaufen können,
die man in Rom für eine finstere Wohnung als Jahresmiethe zu entrichten
hatte.
Nichts war in Rom umsonst, namentlich wenn man in Anschlag bringt,
daß Jeder, der nicht gerade zu den untersten Klassen gehörte, durch die Verhält¬
nisse zu einem Aufwand gezwungen war, der seine Mittel überstieg. Man
schämte sich von Thon zu speisen. Man konnte sich öffentlich nicht anders als
im Staatsgewand der Toga zeigen und nicht ohne eine Anzahl von Sklaven.
Eine glänzende Armuth war sehr verbreitet, häusig kamen Bankerotte vor. Ge¬
gen diesen trüglichen Schimmer des hauptstädtischen Lebens contrastirte die Ein¬
fachheit und Anspruchslosigkeit der kleinen Städte und des platten Landes nicht
minder als die Sittenstrenge, die sich namentlich in den Städten Oberitaliens
erhielt, gegen die Verderbnis; und Zügellosigkeit, die in Rom ihre Orgien mit
beleidigender Oeffentlichkeit feierte.
In Rom war unaufhörlich Lärm und Getümmel. Schon Horaz klagte
über das Tag und Nacht fortwährende Geräusch, über das Gewühl und Ge¬
dränge in den Straßen der Stadt, aus deren „Fluthen und Stürmen" er gern
in die Stille der Sabiner Berge flüchtete. Aber zu Martials und Juvenals
Zeit war mit der Bevölkerung auch die Lebendigkeit des Verkehrs noch bedeu¬
tend gestiegen. Schon vor Tage riefen die Bäcker ihre Waaren aus. Dann
begannen (wie jetzt in den orientalischen Städten) die Kindcrschulen im Chor
zu buchstabiren, und die Hämmer und Sägen der Werkstätten setzten sich in Be¬
wegung. Nun schleppten knarrende Wagen ungeheure Steinblöcke und Balken
zu Bauplätzen. Schwerdeladne Lastthiere und Träger rannten die Fußgänger
an. Von allen Seiten wurde man gedrängt, gestoßen und auf die Füße ge¬
treten, und Diebe hatten es in diesem Gewühl leicht Beute zu machen. Be¬
schreibt uns doch Ovid feingekleidete Herren dieser Gattung, die den Frauen unter
dem Schein galanter Aufmerksamkeiten auf offener Straße die Kleider stahlen.
was jedenfalls eine sehr fortgeschrittne Ausbildung des Handwerks andeutet.
Bettler, namentlich angebliche oder wirkliche Schiffbrüchige, heisesten in singen¬
dem Ton Almosen. Kleinhändler und Verkäufer aller Art, Herumträger von
Erbsenbrei und rauchenden Würsten priesen kreischend ihre Waaren an. Hier
erscholl das Geheul einer umherziehenden Procession von Priestern der Großen
Mutter, dort das Geschrei der Andächtigen aus einem Isistempel.
Auch, bei Nacht hörte der Lärm nicht auf. In den weitläufigen Palästen,
wo die Schlafzimmer weit von der Straße entfernt lagen, schlief man aller¬
dings ruhig, in den Mietwohnungen desto schlechter. Das Gerassel- der Reise-
wagen, die den größten Theil des Tages in der Stadt nicht fahren durften,
störte den festesten Schlaf, wenn sie um die Ecken der schmalen Straßen bogen.
Dazu kam das Toben schaarenweis umherziehender Raufbolde und Nacht¬
schwärmer oder Ständchen von Liebenden, die bei ihren Schönen Einlaß er¬
baten. Waren alle Häuser verschlossen, alle Schenken still geworden, so waren
die leeren, völlig' unbeleuchteten Straßen für den einsamen Wanderer ebenso
unheimlich als gefährlich. Die Unsicherheit der Straßen Roms war zu allen
Zeiten groß. Diebstähle und Einbrüche kamen so häufig vor, daß in Plinius
Zeit die Fenster des ersten Stocks (das Parterre hatte deren nach der Gasse
heraus nicht) mit Läden verwahrt zu werden pflegten. Nicht selten wurden die
Straßen von Räubern unsicher gemacht, die sich massenweis nach Rom zogen,
wenn ihre Schlupfwinkel in den Pontinischen Sümpfen und in dem Fichten¬
walde südlich vom Volturnus von Soldaten besetzt waren. Andere Gefahren
drohten dem Armen, der sich mit seinem Lichtstumpf nach Hause leuchtete, wenn
er mit einem jungen Herrn von Stand zusammentraf, der mit großem Ge¬
folge unter Vortragung zahlreicher Fackeln und Laternen von einem späten
Gelage nach Hause lärmte. Die Unglücklichen, die solchen anmuthigen Junkern
in den Weg geriethen, wurden angehalten, auf ausgebreiteten Mänteln ge¬
prellt, wofür man das Wort sah-illo hatte, oder sonst gemißhandelt. Von den
Dächern sielen nicht selten Ziegel, aus den Fenstern der obern Stockwerke
wurden Becken ausgegossen oder zerbrochne Gefäße herabgeworfen, die krachend
aus dem Pflaster zerbrachen.
Schlimmeres hatten die Bewohner der Miethhäuser zu befürchten. Die
Spekulation in solchen Gebäuden war lockend, denn sie warf hohe Zinsen ab.
aber andrerseits konnte bei den in Rom sehr häufigen Bränden, für die man
sich nicht versichern konnte, sehr leicht das Capital verloren gehen. Die Unter¬
nehmer bauten also jedenfalls so wohlfeil und somit so liederlich als möglich.
Die oberen Stockwerke waren aus'Holz und Machwerk ausgesetzt. Ueberdies
war bei Privatgebäuden eine Bauweise gewöhnlich, bei der die Mauern leicht
Nisse bekamen, und das in einer Zeit, deren öffentliche Bauten noch jetzt un¬
zerstörbar zu sein scheinen. Ein Theil unsrer Furcht, sagt Seneca, sind unsre
Dächer. Selbst aus den mit Gemälden gezierten Hallen der großen Palast
floh man entsetzt, sobald sich ein Knistern vernehmen ließ. Ein großer Theil
der Miethhäuser war baufällig und gestützt, die nothwendigsten Ausbesserungen
unterblieben entweder ganz oder wurden nachlässig ausgeführt. Einstürze ge¬
hörten daher neben den Bränden zu den häufigsten Vorkommnissen in Rom, und
Strabo nennt beide Arten von Ungiücksfcillen sogar unaufhörlich.
Die Feuersbrünste, die in dem heutigen, fast durchgehends massiv gebau¬
ten Rom fast unerhört sind, waren im alten Rom nicht blos außerordentlich
zahlreich, sondern, wegen der Höhe der Häuser, der Enge der Straßen und der
Masse von hölzernen An- und Vorhanden, welche die Muth vorzugsweise nähr¬
ten und rasch verbreiteten, auch dreifach gefährlich. Durch die Stadtgeschichte
Roms zieht sich, außer fast unablässigen kleinern Bränden, eine Reihe großer
Feuersbrünste, die denen, welche von Zeit zu Zeit aus dem heutigen Konstantinopel
berichtet werden, an Ausdehnung nichts nachgeben. In die Regierung Tibers fallen
zwei dieser furchtbaren Ereignisse: im Jahr 27 brannte der Cälius, im Jahr
38 der Aventin und der anstoßende Theil des großen Circus ab, beim letzteren
Fall betrug der Schaden 100 Millionen Sesterzen, d. h. über 7 Millionen
Thaler. Auf den Neronischen Brand folgte unter Titus eine Feuersbrunst,
die drei Tage und drei Nächte im Marsfeld wüthete. Eine andere unter An-
toninus Pius vernichtete 340 Wohngebäude. Wieder eine andere, die unter
Commodus ausbrach, zerstörte zunächst den großen Basar ägyptischer und ara¬
bischer Waaren, der sich beim Friedenstempel befand, und zog sich dann nach
dem Palatin hinüber. Alle Anstrengungen, ihr Einhalt zu thun, waren um¬
sonst, sie erlosch nicht eher, als bis sie einen sehr bedeutenden Theil der Stadt
in Asche gelegt und unermeßliche Reichthümer verschlungen hatte.
Auch zerstörenden Naturereignissen war Rom im hohen Grade ausgesetzt.
Wiederholt werden von den Geschichtschreibern Erdbeben erwähnt, noch öfterer
Überschwemmungen. Der Tiber trat nirgends so weit aus als in der Stadt.
Trotz aller Vorkehrungen überflutheten seine gelben Gewässer im Frühling oder
Herbst, von Stürmen gestaut, von Regengüssen geschwellt, immer aufs Neue
die Niederung um Roms Hügel. Tagelang standen dann ganze Stadttheile
unter Wasser, so daß nur die höher gebauten Häuser herausragten, und die
Straßen mit Kähnen befahren werden konnten. Sank dann der Strom wie¬
der in sein Bett zurück, so folgten Einstürze der unterwühlten Gebäude,
Seuchen und Hunger.*) Seit Augustus kamen in den beiden ersten Jahrhun¬
derten, namentlich in den Jahren 27, 23 und 22 v. Chr. dann 5, 15. 36 und
69 n. Chr., ferner unter Nerva, Trajan, Hadrian, Antoninus Pius und Marc Aurel
große, langdauernde und beträchtlichen Schaden anrichtende Überschwem¬
mungen vor.
Ein anderes unabwendbares Uebel der Weltstadt waren große Thcurungen,
die bisweilen sich zu furchtbarer Hungersnoth steigerten. Auch die angelegent¬
lichste Fürsorge der Kaiser vermochte nicht immer die Zufälle abzuwenden,
welche in der überfüllten, ganz auf den Ertrag finnischer, ägyptischer und an¬
derer überseeischer Ernten angewiesenen Stadt Mangel und Theurung und mit
diesen die Gefahr des Aufruhrs herbeiführten. Bei einer zum Theil in Folge
des Austretens des Tiber ausgebrochnen Getreidenoth, die während der Jahre
6 bis 8 herrschte, stieg der Preis des Brotkorns in Rom auf das Sechsfache
des gewöhnlichen. Sklaven und Fremde wurden in Masse ausgewiesen, um
für die Uebrigen das Nothdürftigste zu sichern, und nur durch außerordentliche
Anstrengungen beugte man dem Ausbruch von Unruhen vor. Unter Claudius
war zweimal, 41 und 52, große Theurung. Das zweite Mal, wo nur noch
auf zwei Wochen Getreide vorhanden war, kam es zum Aufstand des
wüthenden Volkes, dem der Kaiser nur mit Mühe auswich. Andere Fälle
großer Hungersnoth werden aus den Jahren 69, 138, 166 und 188 berichtet.
Endlich hafteten auch die Keime verheerender Volkskrankheiten von jeher
im Boden Roms. Schon die ältesten Ansiedler hatten dem Geist des Fiebers
Altäre errichtet, und das Fieber ist zu allen Zeiten in Rom endemisch gewesen.
Dazu erzeugten sich in einer so gedrängt wohnenden Bevölkerung schädliche
Einflüsse andrer Art in Menge. Eine schwere Luft lagerte über der Stadt
und ihren engen Gassen, geschwängert von den Düften unzähliger Küchen und
rauchender Herde, deren Qualm sich mit Staubwolken mischte. Sobald man
die Stadt im Rücken hatte, fühlte man sich erleichtert. Im kaiserlichen wie
im republikanischen Rom haben große Epidemien, oft in erschreckend kurzen
Zwischenräumen einander folgend, zahllose Opfer hingerafft. Bei der schrecklichen
Seuche des Jahres 65 blieb kein Geschlecht, kein Alter noch Stand verschont,
die Häuser waren voll Todte, die Straßen voll Leichenzuge, allein in die
Bücher der Libitina wurden in diesem Herbst dreißigtausend Bestallungen ein¬
getragen. Auch auf den großen Ausbruch des Vesuv, der 79 n. Chr. statt¬
fand, folgte eine verheerende Volkskrankheit, bei welcher nach Eusebius, der
indeß hier gewiß ungeheuer übertreibt, manche Tage zehntausend Todesfälle
gemeldet worden sein sollen.
Die größte aller Epidemien aber, und zwar nicht blos die größte Roms,
sondern der ganzen alten Welt überhaupt wurde von dem mit L. Verus aus
dem Morgenland zurückkehrenden Heer 166 n. Chr. in den Westen eingeschleppt.
Sie wüthete im ganzen Kaiserreich und ergriff zuletzt auch Rom, wo sie, ver¬
muthlich in den folgenden Jahren bald stärker bald schwächer auftretend, unter
Commodus — etwa 187 bis 189 — mit furchtbarster Heftigkeit ausbrach.
Nach Dio starben an dieser Seuche, in welcher man neuerdings die Pocken er¬
kennen will, in Rom an einem einzigen Tage oft zweitausend Menschen.
„So zahlreiche, mannigfache und furchtbare Uebel", schließt unser Verfasser
sein Kapitel, „erinnerten auch in dem goldnen Rom immer von Neuem an das
Wort Varro's: das Land ist göttlichen Ursprungs, die Städte von Menschen¬
hand gebaut."
In rascher Folge haben sich in den jüngsten Jahren die Feste gedrängt,
welche das Andenken der großen Männer unsres Volkes feierten. Aber laut
und schneidend klingen in den Jubel der Menge die fragenden Stimmen der
Mahnung und des Spottes: ob wir denn gar nicht müde werden uns behaglich
die Hände zu wärmen an dem Feuer vergangener Größe? ob uns denn gar zu
wohl sei in dem Bewußtsein einer epigonenhaften Zeit? ob wir denn ganz ver¬
gessen, daß alle Straßen und Plätze von Athen prunkvoll geschmückt waren
mit den Standbildern seiner großen Männer zur Zeit, da Griechenland des
Eroberers Beute ward? —Nicht ein Wort mag ich erwidern auf den Vorwurf,
daß wir in einem Zeitalter der Epigonen lebten. Denn mit solchem Willen
soll eine jede Zeit sich rüsten, als ob sie die erste sei, als ob das Höchste und
Herrlichste gerade ihr zu erreichen bestimmt sei; und ruhig mögen wir einem
späteren Jahrhundert überlassen zu entscheiden, ob unser Streben ein ursprüng¬
liches gewesen — wie ich denn sicher hoffe, es werde unsern Tagen dies Lob
dereinst nicht fehlen. Aber wohl gebührt, sich eine Antwort aus den anderen
Vorwurf der Selbstbespiegelung. Nein, nicht die Eitelkeit, nicht einmal jene
ehrenwerthe Pietät, die andere Völker treibt ihre großen Todten zu ehren —^
ein tieferes Bedürfniß der Seelen ist es, was gerade jetzt gerade unser Volk be¬
wegt seiner Helden zu gedenken mit einer Innigkeit, die von den Fremden
vielleicht nur der Italiener versteht. Auf uns lastet das Verhängniß, daß wir
staatlosen Deutschen die Idee des Vaterlandes nicht mit Händen greifen an
den Farben des Heeres, an der Flagge jedes Schiffs im Hafen, an den tau¬
send sichtbaren Zeichen, womit der Staat den Bürger überzeugt, daß er ein Va¬
terland hat. Nur im Gedanken lebt dies Land; erarbeiten, erleben muß der
Deutsche die Idee des Vaterlandes. Die Mehrzahl hinter der Anwesenden ge¬
denkt noch jener Jahre, da ihnen im Verkehr mit Deutschen aus aller Herren
Ländern die Erkenntniß anbrach was deutsches Wesen sei, bis endlich der Ge¬
danke, daß es ein Deutschland gebe, vor ihrer Seele stand mit einer unmittel¬
baren Gewißheit, die jedes Beweises und jedes Streites spottet. Wachsen wir
so erst im Verkehr mit den Lebendigen zu Deutschen heran, so begreift sich das
Volk als ein Ganzes in seiner Geschichte. Und das ist der Sinn jener Feste,
deren die politisch tiefbewegte Gegenwart nicht müde wird, daß wir, rückschauend
auf die starken Männer, die unsres Geistes Züge tragen, erfrischen das Be¬
wußtsein unsres Volksthums und stärken den Entschluß, daß aus dieser idealen
Gemeinschaft die Gemeinschaft der Wirklichkeit, der deutsche Staat erwachse.
Darum fällt die Feier solcher Tage vornehmlich Jenen als ein unbestrittenes
schönes Vorrecht zu, die sich nicht genügen lassen an dem leeren Worte von der
Einigkeit der Deutschen, sondern Kopf und Hände regen zum Aufbau des deut¬
schen Staates. — Und das auch ist ein rühmliches Zeichen für das lebende
Geschlecht, daß aus der langen Reihe von Jahrhunderten , welche dies alte
Volk hinter sich liegen siebt und in der Gegenwart gleichsam neu durchlebt,
keine Epoche uns so traulich zum Herzen redet, uns so das Innerste bewegt,
wie jene 70 Jahre seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts, da unser Volk
sich losrang zuerst von der Geistesherrschaft, dann von dem politischen Joche
unheimischer Gewalten. Erst heute werden die Helden jener Zeit von ihrem
Volke verstanden, besser oft verstanden als von den Zeitgenossen; und wenn
es ein Herrliches war eine Zeit zuschauen, die einen Stein und Goethe ge¬
bar, so mögen wir es auch als ein Glück preisen, in Tagen zu leben, die die¬
sen Männern ganz gerecht geworden.
Das heutige Fest ist unsrer sächsischen Heimath eine liebe Pflicht; denn
uns ziemt es dem todten Johann Gottlieb Fichte den Zoll der Ehren
darzubringen, den dem Lebenden die Heimath kalt versagte. Ein gesegneter
Winkel des obcrsächsischen Landes fürwahr, der in kaum hundert Jahren den
Deutschen Lessing. Fichte. Rietschel schenkte — drei Geister im Innersten ver¬
wandt, wie fremd sie sich scheinen, der kühne Zcrtvümmercr der französischen
Regeln unsrer Dichtung, der tapfere Redner und der weiche sinnige Bildhauer — jeder
in seiner Weise ein Träger der besten deutschen Tugend, der Wahrhaftigkeit.
Leicht erklärt es sich aus dem Wesen solcher Misch- und Gr.enzstämme, daß
dieser Deutsche Stamm, den die Nachbarn necken ob seiner höflichen Schmieg¬
samkeit, dennoch jederzeit reich war an schroffen.und schneidigen Charakteren..
Solch' eines scharfen massigen Geistes voll war auch der Dorfwebersohn, der
in dürftiger Umgebung in der altfränkischen Sitte der Lausitzer Bauern empor¬
wuchs. Frühzeitig und stark arbeitet er im Innern, mit dem Verstände und
mehr noch mit dem Gewissen. Der so begierig lernt, daß er eine Predigt nach
dem Hören wiederholen kann, wie rüstig kämpft er doch gegen die Dinge, die
so lebendig auf ihn eindringen. Das schöne Volksbuch vom hörnernen Sieg¬
fried wirft er i» den Bach als einen Versucher, der ihm den Geist ablenkt von
der Arbeit. Als ihm dann durch die Gunst eines Edelmannes eine gelehrte
Erziehung aus der Fürstenschule zu Pforta zu Theil wird, stemmt sich der eigen¬
willige Knabe wider jene Verkümmerung des Gemüths, welche der familienlosen
Erziehung anhaftet, sein waches Gewissen empört sich gegen die erzwungene Un-
wahrhaftigkeit der Gedruckten. Er gesteht seinem herrischen Oberen den Ent¬
schluß der Flucht; er flicht wirklich; auf dem Wege, im Gebete und im Anden¬
ken an die Heimath kommt das Gefühl der Sünde über ihn; er kehrt zurück
zu offenem Bekenntniß. So früh sind die Grundzüge seines Wesens gereift,
wie zumeist bei jenen Menschen, deren Größe im Charakter liegt. Der Knabe
schon bezeichnet seine Bücher mit dem Sinnspruch, den der Mann bewährte:
si kraotus nig-datur orbi», imxavicZum ksriont ruinAE.
Schwere,', langsamer entscheidet sich die Richtung seiner Bildung. Kümmer¬
lich schlägt er sich durch die freudlose Jugend eines armen Theologen, und sein
Stolz — „die verwahrlosetstc Seite meines Herzens" — schämt sich bitterlich der Ar¬
muth. Erst in seinem siebenundzwanzigsten Jahre wird ihm das Schicksal gü¬
tiger, da er auf der weiten Fußwanderung nach einer Hauslehrerstelle in Zü¬
rich eine für jene Zeit ziemlich ausgedehnte Erfahrung sammelt von dem
Elend des armen leidenden Volks, da er in der Schweiz mit der großen Ar¬
beit der deutschen Literatur vertraut wird, da er in Zürich das schmucklose We¬
sen eines ehrenhaften Freistaates verstehen lernt, das seinem schlichten Stolze
zusagte, da er endlich in Johanna Rahn, einer Nichte Klopstocks, das herrliche
Weib seiner Liebe fand. Eine verwandte Natur, sehr ernsthaft, wirthschaftlich
nach Schweizer Weise, nicht gar jung mehr und längst schon gewohnt ihr war¬
mes Blut in strenger Selbstprüfung zu beherrschen, tritt sie ihm fertig und ru¬
hig entgegen, und oftmals mochten ihre Augen strenge unter dem Schweizer-
Häubchen hervorblicken: „Höre Fichte, stolz bist Du. Ich muß Dir's sagen, da
Dir's kein Andrer sagen kann." Auch in der abhängigen Stellung des Haus¬
lehrers weiß er sich seine feste Selbstbestimmung zu wahren, er zwingt die El¬
tern, die Erziehung bei sich selber anzufangen, führt bin gewissenhaftes Tage¬
buch über ihre wichtigsten Erziehungsfehler. Nach zwei Jahren steht er sich
wieder in die Welt getrieben; eine Fülle schriftstellerischer Pläne wird entwor¬
fen und geht zu Grunde.
Da endlich erschien seines inneren Lebens entscheidende Wendung, als er,
bereits achtundzwanzigjährig, in Leipzig durch einen Zufall die „Kritik der rei-
neu Vernunft" kennen lernte. „Der Hauptendzweck meines Lebens ist der",
hatte er früher seiner Braut geschrieben, „mir jede Art von (nicht wissenschaft¬
licher, ich merke darin viel Eitles, sondern) Charakterbildung zu geben. Ich
habe zu einem Gelehrten von Metier so wenig Geschick als möglich. Ich will
nicht blos denken, ich will Handels, ich mag am wenigsten denken über des
Kaisers Bart." Aber woher drehe Sicherheit des Charakters, so lange sein Ge¬
müth verzweifelte über der Frage, die vor allen Problemen der Philosophie
ihn von frühauf quälend beschäftigte, über der Frage von der Freiheit des Wil¬
lens? Sein logischer Kops hatte sich endlich beruhigt bei der folgerichtigen
Lehre Spinoza's, wie Goethe's Künstlersinn von der grandiosen Geschlossenheit
dieses Systems gefesselt ward. Sein Gewissen aber verweilt zwar gern bei
dem Gedanken, daß das Einzelne selbstlos untergehe in dem Allgemeinen, aber
immer wieder verwirft es die Idee einer unbedingten Nothwendigkeit, denn
„ohne Freiheit keine Sittlichkeit". Welch ein Jubel daher, als er endlich durch
Kant die Autonomie des Willens bewiesen fand! Der Verkündigung dieser
Lehre soll nun sein Leben geweiht sein, „ihre Folgen sind .äußerst wichtig für
ein Zeitalter, dessen Moral bis in seine Quellen verderbt ist." Und zum sicher¬
sten Zeichen, daß er hier einen Schatz von Gedanken gefunden, der seinem eigen¬
sten Wesen entsprach, entfaltet ^sich jetzt seine Bildung ebenso rasch und sicher,
als sie schwer und tastend begonnen. Eine Reise nach Polen und Preußen
führt ihn zu dem Weisen von Königsberg, dem er ehrfürchtig naht, „wie der
reinen Vernunft selbst in einem Menschenkörper." Bei ihm führt er sich ein
durch die rasch entworfene Schrift „Kritik aller Offenbarung 1791". Damit be¬
ginnt sein philosophisches Wirken, das näher zu betrachten nicht dieses Orts
noch meines Amtes ist, so reizvoll auch die Aufgabe, zu verfolgen, wie die Den¬
ker, nach dem Worte des alten Dichters, die Leuchte des Lebens gleich den
Tänzern im Fackelreigen von Hand zu Hand geben. Es genüge zu sagen, daß
Fichte die Lehre von der Selbständigkeit und Unabhängigkeit des Willens mit
verwegenster Kühnheit bis in ihre äußersten Folgesätze hindurchführte. Weil
die Bestimmung unsres Geistes sich nur verwirklichen läßt im praktischen Han¬
deln, das praktische Handeln aber eine Bühne fordert, deshalb und nur des¬
halb ist der Geist gezwungen eine Außenwelt aus sich herauszuschauen und als
eine wirkliche Welt anzunehmen. Ich konnte sie nicht übergehen, diese "Grund¬
gedanken des transcendentalen Idealismus; denn allein an der Kühnheit dieser
Abstractionen, der verwegensten, die der Denkermuth zu fassen wagte, können
Sie den aufrechten Trotz des Mannes ermessen, dem wir zuversichtlich glau¬
ben, daß „seine wissenschaftliche Ansicht nur die zur Anschauung gewordene
innere Wurzel seines Lebens" selber war. In sicherem Selbstgefühle saßt
der Mann, sich jetzt zusammen, als die namenlose Schrift des Anfängers
für ein Werk des Meisters Kant gehalten wird und der triviale Lärm seich-
ter, Lobreden ihn rasch die Nichtigkeit der literarischen Handwerker durch¬
schauen läßt.
So steht sein Charakter vollendet, voll hohen Strebens nach der Weise
jener an den Helden des Plutarch gebildeten Tage, mannhaft, fast männisch,
des Willens, die ganze Welt unter die Herrschaft des Sittengesetzes zu bringen,
folgerichtig im Kleinsten wie im Größten, gänzlich frei von Schwächen, jenen
kleinen Widersprüchen wider die bessere Erkenntniß — und eben darum zu
einem tragischen Geschicke bestimmt, zu einer Schuld, die mit seinem Wesen
zusammenfiel, die er selber unwissend bekennt, indem er sich also vertheidigt:
„Man paßt bei einer solchen Denkart schlecht in die Welt, macht sich allent¬
halben Verdruß. Ihr Verächtlicher! Warum sorgt Ihr mehr dafür, daß Ihr
Euch den Andern anpaßt, als diese Euch und sie für Euch zurechtlegt?" —
Andre für sich zurechtlegen — das ist die herrische Sünde der idealistischen
Kühnheit. Als in der Noth des Krieges von 1L0ö sein Weib, einsam zurück¬
geblieben in dein vom Feinde besetzten Berlin, voll schwerer Sorge um den
fernen Gatten, in Krankheit fällt, da schreibt ihr der gewaltige Mann: „ich
hoffte, daß Du unsre kurze Trennung, gerade um der bedeutenden Geschäfte
willen, die Dir auf das Herz gelegt waren, ertragen würdest. Ich habe diesen
Gedanken bei meiner Abreise Dir empfohlen und habe ihn in Briefen wieder
eingeschärft. Starke Seelen, und Du bist keine schwache, macht so etwas
stärker — und doch!" So hart kann er reden zu ihr, die ihm die Liebste ist;
denn er glaubt an die Allmacht der Wahrheit, ihm ist kein Zweifel, wo die
rechte Erkenntniß sei, da könne das rechte Handeln, ja das rechte Schicksal nicht
fehlen, und jeden Einwand menschlicher Gebrechlichkeit weist er schroff zurück.
Darum keine Spur von Humor, von liebenswürdigem Leichtsinn, Nichts von
Anmuth und Nachgiebigkeit in ihm, der das derbe Wort gesprochen: „eine
Liebenswürdigkeitslehre ist vom Teufel." Nichts von jener Sehnsucht nach der
schönheitssatten Welt des Südens, die Deutschlands reiche Geister in jenen Tagen
beherrschte. Entfremdet der Natur, die ihm nur bestand, um unterjocht zu wer¬
den von dem Geiste, unfähig, ungeneigt sich liebevoll zu versenken in eine
fremde Seele, ist Fichte ein unästhetischer Held geblieben, wie groß er auch
dachte von der Kunst, die der Natur den majestätischen Stempel der Idee aufdrückt."
Selbst jene hohe Leidenschaft, die dem strengsten aller Dichter, Milton, nur
als die letzte Schwäche edlerer Naturen erscheint, der Durst nach Ruhm wird
scharf und schonungslos als eine „verächtliche Eitelkeit" verworfen von dieser
selbstlosen Tugend, welche leben will „aus dem erkannten rein Geistigen her¬
aus." In Augenblicken des Zweifels — als gälte es Schillers witziges Epi¬
gramm zu bewähren — prüft der gestrenge Mann, aus welcher Seite seine
Steigung stehe, um dann mit freudiger Sicherheit des anderen Weges zu gehen.
— Ein Eloge zu halten ist nicht deutsche Weise, und in Fichte's Geiste am
wenigsten würde ich handeln, wenn ich nicht trotzig sagte, wie gar fremd
unserer Zeit, die an sich selber glaubt und glauben soll, dieser Idealismus
geworden ist, der so nur einmal möglich war und kemen Schüler fand. Seit
jenen Tagen ist das Leben unsres Volkes ein großer Werkeltag gewesen. Wir
haben begonnen in harter Arbeit den Gedanken der Welt einzubilden und sind
darüber der Natur freundlich näher getreten. Sehr Vieles nehmen wir beschei¬
den hin als Product der Natur und Geschichte, was Fichte dem Sittengesetze
zu unterwerfen sich vermaß. Mit dem steigenden Wohlstand ist ein hellerer
Weltsinn in die Geister eingezogen; ein schönes Gleichmaß von Genuß und
That soll uns das Leben sein; und wer unter uns bezweifelt, daß die Sittlich¬
keit der Athener eine reinere war als die Tugend der Spartaner und dem
Genius unsres Volkes vertrauter ist? Seitdem ist auch die gute Laune wieder
zu ihrem Rechte gelangt, wir heißen sie willkommen auch mitten in der Span¬
nung des Pathos, und die kecke Vermischung von Scherz und Ernst in
Shakespeare's Gedichten ist erst dem realistischen Sinne der Gegenwart wieder
erträglich geworden. Doch eben weil jener Idealismus Fichte's unsrem Sinn
so fern liegt, weil längst der Zeit verfiel was daran vergänglich war, weil Lust
und Noth des rastlosen modernen Lebens uns von selber ablenken von jeder
Ueberspannung des Gedankens — ebendeshalb gereicht es unseren fröhlicheren
Tagen zum Segen sich in diese weltverachtenden Ideen selbstloser Sittlichkeit zu
versenken wie in ein stählendes Bad der Seele, Selbstbeherrschung davon zu
lernen und zu gedenken, daß ein thatloses Wesen dem Humor anhaftet und der
Dichter sicher wußte, warum er seinem Hamlet die Fülle sprudelnden Witzes
lieh. Und wie beschämt muß all unsre heitre Klugheit verstummen vor dem
Einem Worte: „nur über den Tod hinweg, mit einem Willen, den Nichts, auch
nicht der Tod, beugt und abschreckt, taugt der Mensch etwas."
Diesem gewaltigen Willen kamen endlich frohere Tage, als eine Aende¬
rung seiner äußeren Lage ihm erlaubte seine treue Johanna heimzuführen und
der Ruf ihn traf zu der Stelle, die ihm gebührte, zum akademischen Lehramte
in Jena. Denn, Sie haben es längst errathen, ein geborener Redner war
Fichte, wie schon der erste Plan des jungen Mannes der kecke Gedanke ge¬
wesen war, eine Rednerschule zu gründen in einem Volke ohne Rednerbühne,
wie nach seiner Auffassung der Geschichte alle großen Weltangelegenheiten da¬
durch entschieden wurden, daß ein freiwilliger Redner sie dem Volke darlegte.
Zur That berufen sind jene feurigen Naturen, denen Charakter und Bildung
zusammenfallen, jede Erkenntniß als ein lebendiger Entschluß in der Seele
glüht; doch nicht das unmittelbare Eingreifen in die Welt konnte den weltver¬
achtenden Denker reizen. Von ihm vor Allem gilt das Stichwort des philo¬
sophischen Idealismus jener Tage, daß es für den wahrhaft sittlichen Willen
keine Zeit gibt, daß es genügt der Welt den Anstoß zum Guten zu geben.
Auf den Willen der Menschen zu Wirten, des Glaubens, daß daraus irgendwo
und irgendwann die rechte That entstehen werde, das war der Beruf dieses
eifernden geselligen Geistes. Daher jener Brustton tiefster Ueberzeugung, der,
wie alles Köstlichste des Menschen, sich nicht erklären noch erkünsteln läßt. Da¬
her auch der Erfolg — in diesem seltenen Falle ein sehr gerechter Richter —
denn was der große Haufe sagt: „ihm ist es Ernst", das bezeichnet mit plum¬
pem Wort und feinem Sinn den geheimsten Zauber menschlicher Rede. Aber
vergeblich suchen Sie bei Fichte jene Vermischung von Poesie und Prosa, wo¬
mit romanische Redner die Phantasie der Hörer zu blenden lieben. Sogar die
Neigung fehlt ihm, freie Worte als ein Kunstwerk abzuschließen; der Adel der
Form soll sich ihm gleich der guten Sitte ungesucht ergeben aus der voll¬
endeten Bildung. Nur aus der vollkommenen Klarheit erwächst ihm jede
Bewegung des Herzens; die Macht seiner Rede liegt allein begründet in dem
Ernste tiefen gewissenhaften Denkens, eines Denkens freilich, das sichtbar vor
unseren Augen entsteht. Ein Meister ist er darum in der schweren Kunst
des Wicderhvlens, ^denn wessen Geist fortwährend und mit schrankenloser
Offenheit arbeitet, er darf das hundertmal Gesagte noch einmal sagen, weil es
ein Neues ist in jeden Augenblicke wie jeder Augenblick ein neuer ist. Doch
vor Allem, er denkt groß von seinen Hörern, edel und klug zugleich hebt er
sie empor statt sich herabzulassen. Die Jugend vornehmlich hat dies dankend
empfunden; denn der die Menschheit so hoch, das gegenwärtige Zeitalter so
niedrig richtete, wie sollte er nicht das werdende Geschlecht lieben, das noch
rein geblieben von der Seuche der Zeit? der stets nur den ganzen Menschen
zu ergreifen trachtet, er war der geborene Lehrer jenes Alters, das der allseiti¬
gen Ausbildung der Persönlichkeit lebt, bevor noch die Schranken des Berufs
den Reichthum der Entwicklung beengen. Endlich — fassen wir die Größe
des Redners in dem Einen von tausend Hörern wiederholten Lobe zusammen
— was er sprach, das war er. Wenn er die Hörenden beschwor eine Entschlie¬
ßung zu fassen, nicht ein schwächliches Wollen irgend einmal zu wollen: da stand
er selber, die gedrungene überkräftige Gestalt mit dem aufgeworfenen Nacken,
der streiW geschlossenen Lippe, strafenden Auges, nicht gar so mild und ruhig,
wie dies Bild ihn zeigt, das die Verklärung des Todten verkörpert, voll trotzigen
Selbstgefühles und doch hoch erhaben über der Schwäche beliebter Redner, der
persönlichen Eitelkeit -— in jedem Zuge der Mann der durchdachten Entschlie¬
ßung, die des Gedankens Blässe nicht berührte. Darum hat sich von allen
Lehrern, die je an deutschen Hochschulen wirkten, sein Bild den jungen Ge¬
müthern am tiefsten eingegraben; sein Schatten ist geschritten durch die Reihen
jener streitbaren Jugend, die für uns blutete und in seinem Sinne ein Leben
ohne Wissenschaft höher achtete denn eine Wissenschaft ohne Leben.
Ich übergehe, wie eine pöbelhaste Anklage .Fichte bei dem kursächsischen
Konsistorium des Atheismus bezüchtigte und ihn aus Jena vertrieb, weil er
nicht im Stande war den Schein des Unrechts auf sich zu nehmen, wo sein
Gewissen ihm Recht gab. Da wollte es eine glückliche Fügung, daß der Nath
des Ministers Dohm thu nach Preußen führte, in den Staat, der gerade diesem
Manne eine Heimath werden mußte. Nimmermehr sollen wir Fichte's gedenken
ohne diesen Staat zu preisen, der den Lehrer und Philosophen zum Patrioten bildete.
Ein strenger Geist harter Pflichterfüllung' war diesem Volke eingeprägt
durch das Wirken willensstarkcr Fürsten, fast unmenschlich schwer die Lasten, die
auf Gut und Blut der Bürger drückten. Was Andere schreckte, Fichte zog es
an. Nur das Eine mochte ihn abstoßen, daß jener Sinn der Strenge schon zu
weichen begann, daß zu Berlin bereits ein Schwelgen in weichlichen unpoetischen
Empfindungen, eine seichte selbstzufriedene Aufklärung sich brüstete, deren Haupt
Nicolai unser Held bereits in einer seiner tvdtschlagenden humorlosen Streit¬
schriften gezüchtigt hatte. Ein rührender Anblick, wie nun der Kühnste der .
deutschen Idealisten den schweren Weg sich bahnt, den alle Deutsche jener Tage
zu durchschreiten hatten, den Weg von der Erkenntniß der menschlichen Freiheit
zu der Idee des Staats: wie ihn, dem die Außenwelt gar nicht existirte, die
Erfahrung "belehrt und verwandelt. Kein Widerspruch allerdings, aber eine ver¬
wegene Weiter-Entwicklung, wenn er jetzt begreift, daß der Kosmopolitismus in
der Wirklichkeit als Patriotismus erscheine, wenn erst den Einzelnen hinweise
auf sein Volk, das „unter einem besonderen Gesetze der Entwicklung des Gött¬
lichen aus ihm" stehe. Längst schon war der Philosoph der freien That durch
das Wesen seines Denkens auf jene Wissenschaft geführt worden, welche den
nach Außen gerichteten Willen in seiner großartigsten Entfaltung betrachtet. Er
hatte die Revolution begrüßt als den Anbruch einer neuen Zeit, mit radicaler
Bitterkeit die Denkfreiheit zurückgefordert von den Fürsten, Nach der Lehre von
dem Staatsverträge abstracte Rechtsregeln aufgestellt für das Leben des Staats,
der in sich selber das Princip der Veränderung tragen solle, und bereits war
er gewöhnt sich einen Demokraten schelten zu lassen. Er hatte dann das wirth¬
schaftliche Leben der Völker betrachtet, und der Sohn der Armuth, der Verächter
weltlichen Genusses schuf die despotische Lehre von dem „geschlossenen Handels¬
staate", der in spartanischer Strenge sich absperren sollte von den Schätzen des
Auslands und das Schaffen der Bürger also regeln sollte, daß ein Jeder leben
könne von seiner Arbeit. Nun war ihm bestimmt sein Bestes zu leisten, als
er die idealste Seite des staatlichen Lebens, die Volkserziehung, betrachtete. Sie
fragen: wie doch war es möglich? Ist doch dem Politiker die Erfahrung nicht
eine Schranke, sondern der Inhalt seines Denkens. Hier gilt es, nach Aristoteles
Vorbild, mit zur Erde gewandtem Blicke eine ungeheure Fülle der Thatsachen
zu beherrschen. Ort und Zeit abwägend zu schätzen, die Gewalten der Ge¬
wohnheit, der Trägheit, der Dummheit zu berechnen, den Begriff der Macht zu
erkennen, jenes geheimnißvolle allmälige Wachsen der geschichtlichen Dinge zu
verstehen, das die moderne Wissenschaft mit dem viel mißbrauchten Worte „or¬
ganische Entwicklung" bezeichnet. Wie sollte Er dies Alles erkennen? Er, des¬
sen Bildung in die Tiefe mehr als in die Breite ging, der die Mensch¬
heit zur Pflanze herabgewürdigt sah, wenn man redete von dem langsamen
natürlichen Reifen des Staates? Er hat es auch nicht erkannt; nicht einen
Schritt weit kam sein Idealismus der Wirklichkeit entgegen, aber er lebte in
Zeiten, da allein der Idealismus uns retten konnte, in einem Volke, das,
gleich ihm selber, von den Ideen der Humanität erst herabstieg zur Arbeit des
Bürgerthums, in einer Zeit, die Nichts dringender bedürfte als jenen „starken
und gewissen Geist", den Er ihr zu erwecken dachte. Mit der Schlacht von Jena
schien unsre letzte Hoffnung gebrochen; „der Kampf — so schildert Fichte das
Unheil und den Weg des Heils — „der Kampf mit den Waffen ist beschlossen;
es erhebt sich, so wir es wollen, der neue Kampf der Grundsätze, der Sitten,
des Charakters." Wohl mögen wir erstaunen, wie klar der Sinn des nahen¬
den Kampfes in diesen Tagen der Ermannung von Allen verstanden ward, wie
diese Worte Fichte's überall ein Echo fanden. Die Regierung selber erkannte
es, daß allein ein Volkskrieg retten könne, allein die Entfesselung 'aller Kräfte
der Nation, der sittlichen Mächte mehr noch als der physischen. So, gerade so,
auf dieser steilen Spitze mußten die Geschicke unsres Volkes stehen, einen Krieg
mußte es gelten um alle höchsten Güter des Lebens, eine Zeit mußte kommen
von jenen, die wir die großen Epochen der Geschichte nennen, da alle schlum¬
mernden Gegensätze des Völkerlebens zum offenen Durchbruch gelangen, die
Stunde mußte schlagen für eine Staatskunst der Ideen, wenn grade dieser
Denker unmittelbar eingreifen sollte in das staatliche Leben.
Nicht leicht ward es ihm seine Stelle zu finden unter den Männern, die
dieser Staatskunst der Ideen dienten. Denn was den Nachlebenden als das
einfache Werk einer allgemeinen fraglosen Volksstimmung erscheint, das ist in
Wahrheit erwachsen aus harten Kämpfen starker eigenwilliger Köpfe. Wie
fremd stehen sie doch nebeneinander: unter den Staatsmänner Stein, der
Gläubige, der schroffe Aristokrat, und Hardenberg, der Jünger französischer
Aufklärung, und Schön, der geniale Kantianer; unter den Soldaten die
denkenden Militärs, die Scharnhorst und Clausewitz, denen die Kriegskunst
als ein Theil der Staatswissenschaft erschien, und Blücher, dem der Schreib¬
tisch Gift war, der Eines nur verstand — den Feind zu schlagen, und York,
der Mann der alten militärischen Schule, der Eiferer wider das Nattergezücht
der Reformer; unter den Denkern und Künstlern neben Fichte Schleier¬
macher, dessen Milde Jener als leichtsinnig und unsittlich verwirft, und
Heinrich v. Kleist, der als ein Dichter mit unmittelbarer Leidenschaft em¬
pfindet was Fichte als Denker bekennt. Ihm zitterte die Feder in der Hand,
wenn er in stürmischen Versen die Enkel der Cohortenstürmer, die Römerüber-
winderbrut zum Kampfe rief. Und er selber war es, der Fichte die höhnen¬
den Verse ins Gesicht warf:
sehet, ihr träfe's mit euerer Kunst und zöge uns die Jugend
nun zu Männern wie ihr: liebe Freunde, was wär's?
Wenn er seine Adler geschändet sah von den Fremden, wie mochte der
stolze Offizier ertragen, daß dieser Schulmeister herantrat, die Nöthe des Augen¬
blicks durch die Erziehung des weidenden Geschlechts zu heilen? Und dennoch
haben sie zusammengewirkt, die Männer, die sich befehdeten und schalten, ein¬
trächtig in dem Kampfe der Idee gegen das Interesse, der Idee des Nolks-
thums wider das Interesse der nackten Gewalt.
Schon vor der Schlacht von Jena hatte sich Fichte erbeten mit dem aus¬
rückenden Heere als weltlicher Prediger und Redner zu marschiren, denn was
— ruft er in seiner kecken, die Weihe des Gedanken mitten in die matte Wirk¬
lichkeit hineintragenden Weise — „was ist der Charakter des Kriegers? Opfern
muß er sich können-, bei ihm kann gar nicht ausgehen die Erhebung zu etwas,
das über dies Leben hinaus liegt." Doch das letzte Heer des alten Regimes
hätte solchen Geist nicht ertragen. Die Stunden der Schande waren ge¬
kommen, Fichte war aus Berlin geflohen, weil er „seinen Rücken nicht unter
das Joch des Treibers beugen wollte", und auch ihn hatte jetzt auf Augen¬
blicke die Verzweiflung überwältigt, da er zufrieden sein wollte, ein ruhiges
Plätzchen zu finden, und es den Enkeln überlassen wollte, zureden — „wenn
bis dahin Ohren wachsen sie zu hören"! Nicht die Zuversicht fand er wieder,
aber die Stärke des Pflichtgefühls, als er nach dem Frieden dennoch redete zu
den Lebendigen ohne Hoffnung für sie, „damit vielleicht unsre Nachkommen thun
was wir einsehen, weil wir leiden, -weil unsre Väter träumten". In Stun¬
den einsamer Sammlung war nun sein ganzes Wesen „geweiht, geheiligt"; der
alte Grundgedanke seines Lebens, in eigener Person das Absolute zu sein und
zu leben, findet in dieser weihevollen Stimmung eine neue religiöse Form, er¬
scheint ihm als die Pflicht „des Lebens in Gott." Rettung um jeden Preis
— dieser ungeheuren Nothwendigkeit, die leuchtend vor seiner Seele stand, hatte
er sogar Manches geopfert von der Starrheit des Theoretikers; konnte er doch
jetzt Machiavelli preisen, der von der entgegengesetzten, der niedrigsten. Schä¬
tzung des Menschenwerthes, zu dem gleichen Endziele gelangte, der Rettung des
großen Ganzen auf Kosten jeder Neigung des Einzelnen. Gereift und gefestigt
ward dieser Jdeengang, als Fichte jetzt sich schulte an den großartig einfachen
Mitteln uralter Menschenbildung, an Luthers Bibel und an der knappen Form,
der herben Sittenstrenge des Tacitus. Also ^vorbereitet hielt er im Winter
1807/8, belauscht von fremden Horchern, oft unterbrochen von den Trommeln
der französischen Besatzung zu Berlin, die „Reden an die deutsche Nation." Sie
sind das edelste seiner Werke geworden, denn hier war ihm vergönnt, unmittel¬
bar zu wirken auf das eigentlichste Object des Redners, den Willen der Hörer;
ihnen eigen ist im vollen Maße jener Vorzug, den Schiller mit Recht als das
Unterpfand der Unsterblichkeit menschlicher Geisteswerke pries, doch mit Unrecht
den Schriften Fichte's absprach, daß in ihnen ein Mensch, ein einziger und un¬
schätzbarer, sei» innerstes Wesen abgebildet habe. Dock auch der Stadt sollen
wir gedenken, die, wie eine Sandbank in dem Meere der Fremdherrschaft, dem
kühnen Redner eine letzte Freistatt bot; die hocherregte Zeit und die hingebend
andächtigen Männer und Frauen sollen wir preisen, welche des Redners schwe¬
rem Tiefsinn folgten, den selbst der Leser heute nur mit Anstrengung versieht.
Riesenschritte — hebt Fichte an — ist die Zeit mit uns gegangen; durch ihr Ueber¬
maß hat ihre Selbstsucht sich selbst vernichtet. Doch aus der Vernichtung sel¬
ber erwächst uns die Pflicht und die Sicherheit der Erhebung. Damit die
Bildung der Menschheit erhalten werde, muß diese Nation sich retten, die das
UrVolk unter den Menschen ist durch die Ursprünglichkeit ihres Charakters, ihrer
Sprache. Unterdrücken wir strenge das wohlweise Lächeln des Besserwissens.
Denn fürwahr ohne solche Ueberhebung hätte unser Volk den Muth der Er¬
hebung nie gefunden wider die ungeheure Uebermacht. Freuen wir uns viel¬
mehr an d^r feinen Menschenkenntnis? des Mannes, der sich gerechtfertigt hat
mit dem guten Worte „ein Volk kann den Hochmuth gar nicht lassen, außer¬
dem bleibt die Einheit des Begriffs in ihm gar nicht rege." — Diesem Ur¬
Volke hält der Redner den Spiegel seiner Thaten vor. Er weist unter den Wer¬
ken des Geistes aus die Größe von Luther und Kant, unter den Werken des
Staates — er, der in Preußen wirkte, und Preußen liebte — auf die alte
Macht der Hansa und preist also die streitbaren, die moderneren Kräfte uns¬
res Volksthums — im scharfen und bezeichnenden Gegensatze zu Fr. Schle¬
gel, der in Wien zu ähnlichem Zwecke an die romantische Herrlichkeit der
Kaiserzeit erinnerte. — In diesem hochbegnadeten Volke soll erweckt werden
„der Geist der höheren Vaterlandsliebe, der die Nation als die Hülle des Ewigen
umfaßt, für welche der Edle mit Freuden sich opfert und der Unedle, der nur
um des Ersteren willen da ist, sich eben opfern soll." Und weiter — nach
einem wundervollen Rückblick auf die Fürsten der Reformation, die das Banner
des Aufstands erhoben nicht um ihrer Seligkeit willen, deren sie versichert
waren, sondern um ihrer ungeborenen Enkel willen — „die Verheißung eines
Lebens auch hienieden, über die Dauer des Lebens hinaus, allein diese ist es,
die bis zum Tode fürs Vaterland begeistern kann." Nicht Siegen oder Sterben
soll unsere Losung sein, da der Tod uns Allen gemein und der Krieger ihn
nicht wollen darf, sondern: Siegen schlechtweg. Solchen Geist zu erwecken ver¬
weist Fichte auf das letzte Rettungsmittel, die Bildung der Nation „zu einem
durchaus neuen Selbst" — und bereichert so seinen Rechtsstaat mit einem tie-
ferm, sittlichen Elemente, der Volkserziehung, und fordert damit, was in anderer
Weise E. M- Arndt perlangte, als er der „übergeistigen" Zeit eine Kräftigung
des Charakters gebot. Ein neues Geschlecht soll erzogen werden fern von der
Gemeinheit der Epoche, entrissen dem verderbten Familienleben, erstarkend zu
völliger Verleugnung der Selbstsucht durch eine Bildung, die nicht ein Besitz-
thum, sondern ein Bestandtheil der Personen selber sei. In Pestalozzi's Erzie¬
hungsplanen meint Fichte dqs Geheimniß dieser Wiedergeburt gefunden. Zu
solchem Zwecke redet er „für Deutsche schlechtweg, von Deutschen schlechtweg,
nicht anerkennend, sondern durchaus bei Seite setzend und wegwerfend alle die
trennenden Unterscheidungen, welche unselige Ereignisse seit Jahrhunderten in
der Einen Nation gemacht haben." „Bedenket ^ beschwört er die Hörer —
daß Ihr die letzten seid, in deren Gewalt diese große Veränderung steht. Ihr
habt doch noch die Deutschen als Eines nennen hören, Ihr habt em sichtbares
Zeichen ihrer Einheit, ein Reich und einen Neichsverband, gesehen oder davon
vernommen, unter Euch haben noch von Zeit zu Zeit Stimmen sich hören lassen,
die von dieser höheren Vaterlandsliebe begeistert waren. Was nach Euch kommt,
Wird sich an andere Vorstellungen gewöhnen, es wird fremde Formen und einen
andern Geschäfts- und Lebensgang annehmen, und wie lange wird es noch
dauern, daß Keiner mehr lebe, der Deutsche gesehen oder von ihnen gehört
habe?" — Auch den letzten kümmerlichen TM raubt er den Verzagten, die
Hoffnung, daß unser Volk in seiner Sprache und Kunst fortdauern werde. Da
spricht er das furchtbare Wort „ein Volt, das sich nicht selbst mehr regieren
kann, ist schuldig seine Sprache aufzugeben." So geschieht ihm was er selber
deutschen Denkern nachrühmt, daß sie, ernstlich suchend, mehr finden als sie su¬
chen, weil der Strom des Lebens sie mit fortreißt. In diesem radicalen Sahe
schlummert der Keim der Wahrheit, welche erst die Gegenwart verstanden hat.
daß ein Pole ohne Staat nicht existirt. Gleicherweise ist in einer an¬
deren Stelle dieser Reden die geistigere Auffassung der Unsterblichkeit, die den
modernen Menschen begeistert, vprgeahnl und vorgebildet — in dein schönen
Satze: „die Ewigkeit kommt der neuen Zeit mitten in ihre Gegenwart hinein."
— „Es ist daher kein Ausweg, schließen die Reden — wenn Ihr versinkt, so
versinkt die ganze Menschheit mit ohne Hoffnung einer einstigen Wiederherstellung."
Wir Nachgeborenen haben den bewegenden Klang jener Stimme nicht ge¬
hört, welche die andachtsvollen Hörer zu Berlin ergriff, aber noch vor den todten,
Lettern zittert uns das Herz, wenn der strenge Züchtiger unseres Volkes „Freude
verkündigt in die tiefe Trauer" und an die mißhandelten Deutschen den stolzen
Ruf ertönen läßt: „Charakter haben und deutsch sein ist ohne Zweifel gleichbe¬
deutend." — Sie fragen, welchen Widerhall diese Reden in der Welt erweckten?
Achselzuckend ließ der Franzose den thörichten Ideologen gewähren, gleichgiltig
erzählte der Moniteur von einigen Vorlesungen über Erziehung, die in Berlin
einigen Beifall gefunden. Kaum günstiger urtheilte der Redner selbst über die
Wirkung seines Wortes aus die „tiefverderbte" Zeit. Denn es ist das tragische
Geschick großer Männer, daß sie ihren eignen Geist nicht wieder'erkennen, wenn
er von den Zeitgenossen empfangen und umgeformt wird zu anderen Gestalten,
als sie meinten. Pestalozzi's Erziehungssystem war es freilich nicht, das unser
Volk zu dem Befreiungskampfe stählte; und dennoch war der Redner an die
deutsche Nation nur der Mund des Volks gewesen, er hatte nur dem, was jedes
Herz bewegte, einen kühnen hochgebildeten Ausdruck geliehen. Denn was war
es anders, als jene höhere Vaterlandsliebe, die der noch ungeborenen Enkel
denkt — was anders war es, das den Landwehrmann von Haus und Hos und
Weib und Kindern trieb, das unsre Mütter bewegte alles köstliche Gut der Erde
bis zu dem Ringe des Geliebten für ihr Land dahinzugeben? Was anders
war es, als daß sie unser gedachten? In diesem Sinne — denn wer ermißt
die tausend geheimnißvollen Kanäle, welche das durchdachte Wort des Philo¬
sophen fortleiteten in die Hütte des Bauern? — in diesem Sinn hat Fichte'S
Wort gezündet, und. die Kundigen stimmten ein, wenn Friedrich Gentz, der Geg¬
ner, sagte: „so wahr, tief und groß hat wohl noch Niemand von der deutschen
Nation gesprochen."
Wieder kamen Jahre stiller Arbeit. Unter den. Ersten wirkte Fichte bei
der Gründung der Berliner Hochschule, die dem erwachenden neuen Geiste ein
Herd sein sollte. Ein Glück vielleicht, daß Wilhelm Humboldt, als ein beson¬
nener Staatsmann, statt an die verwegenen Pläne des Philosophen anknüpfte
an die altbewährten Ueberlieferungen deutscher Hochschulen. Ein Glück auch,
daß Fichte sein Rectorat niederlegte, weil er nicht Nachsicht üben wollte mit
alten unseligen Unsitten der Jugend. Die gewohnte Macht über die jugend¬
lichen Gemüther blieb ihm nach wie vor. Er nutzte sie, den Keim zu legen zu
der deutschen Burschenschaft und warnte die Gesellschaft der „Deutschen Jünger"
vor jenen beiden Irrthümern, welche später die Burschenschaft lähmten: sie
sollten sich hüten, mittelalterlich und deutsch zu verwechseln, und sorgen, daß
das Mittel — die Verbindung — ihnen nicht wichtiger werde als der Zweck
— die Belebung deutschen Sinnes. —
Endlich erfüllten sich die Zeiten; dies Geschlecht, das er verloren gab,
fand sich wieder; denn so tief war es nie gesunken, als der Idealist meinte.
Die Trümmer der großen Armee kehrten aus Rußland beim, die Provinz Preu¬
ßen stand in Waffen, der ostpreußische Landtag harrte aus das Wort des Königs.
Der König erließ von Breslau den Ausruf zur Bildung von Freiwilligen-
Corps; aber noch war der Krieg an Frankreich nicht erklärt. Aus jeder Straße begeg¬
neten dem französischen Gensdarmen dichte Haufen still drohender Bauern, die
zu den Fahnen zogen; und Fichte's Schüler zitterten vor Ungeduld dem Rufe
des Königs zu folgen, doch sie warteten des Lehrers. Meinen Sie nicht, daß
in diesen schwülen Tagen der Erwartung ein glühender Aufruf aus Fichte's
Munde wie ein Blitzstrahl einschlagen sollte? — schlicht und ernst, wie nach
einem großen Entschlüsse, tritt er endlich am 19. Febr. 1813 vor seine Stu¬
denten. Nur selten berichten die lauten Annalen der Geschichte von dem Edel¬
sten und Eigenthümlichsten der großen historischen Wandlungen. So ist auch das
Herrlichste der reinsten politischen Bewegung, die je unser Volk erhob, noch nicht
nach Gebühr gewürdigt -— jener Geist schlichter, gefaßter Manneszucht, der das
Ungeheure vollzog so ruhig, so frei von jedem falschen Pathos, wie die Er¬
füllung alltäglicher Bürgerpflichten. Nichts staunenswürdiger an diesen einzigen
Tagen, als jener ernste, zuversichtliche Gehorsam, der unser Volt selbst dann
noch beherrschte, da die hochgehenden Wogen volkstümlicher Entrüstung die
Decke sprengten, die sie lange gehemmt. Ein Heldenmuth ist es, natürlich, selbst¬
verständlich in den Tagen tiefer Bewegung, dem Nohre der feindlichen Kanone
freudig ins Gesicht zu blicken! aber jedes Wort des Preises verstummt vor der
mannhaften Selbstbeherrschung, die unsre Väter beseelte. Ais ein Heißsporn
des ostpreußischen Landtags die Genossen frug: „wie nun, meine Herrn, wenn
der König den Krieg nicht erklärt?" — Da erwiderte ihm Theodor von
Schön: „dann gehen wir ruhig nach Hause." Durchaus getränkt von diesem
Geiste ernster Bürgerpflicht war auch die Rede, die Fichte in diesen gewaltig
erregten Tagen an seine Hörer richtete. Er habe, gesteht er, lange geschwankt,
ehe er mit solchem Worte vor seine Schüler getreten. Die Wissenschaft aller¬
dings sei die stärkste Waffe gegen das Böse, und in diesem Kampfe würden
Siege erfochten, dauernd für alle Zeit. Aber zu dem geistigen Streite bedürfe
es des circhern und des innern Friedens; und nur darum, weil diese Ruhe des
Gemüthes ihn selber, trotz vielfacher Uebung in der Selbstbesinnung, zu ver¬
lassen beginne, schließe er jetzt seine Vorlesungen — das einfache Wort genügte
die Jünglinge in die Reihen der Freiwilligen zu führen. Noch einmal ist ihm
dann der Gedanke gekommen, als ein Redner in das Lager zu gehen — noch
einmal vergeblich. Dann ist Fichte krank und halbgelähmt, mit den gelehrten
Genossen und dem kaum mannbaren Sohne, in den Landsturm getreten; Lanze
und Säbel lehnten nun an der Thüre des Philosophen.
Aber als die Kunde erscholl von den herrlichsten deutschen Siegen, von den
Tagen von Hagelsbcrg und Dennewitz, selbst dann hat er nicht gelassen von der
alten tüchtigen Weise, den Dingen nachzudenken bis zum Ende. Alsbald nach
dem Aufrufe des Königs an sein Volk'schreibt er jenen Entwurf einer po¬
litischen Schrift, der uns unschätzbar ist nicht blos als ein Denkmal sei¬
nes Geistes — denn hier, in der That, sehen wir ihn pochen und gra¬
ben nach der Wahrheit, den Verlauf der angestrengten Arbeit unterbrechen
mit einem nachdenklichen „Halt, dies schärfer" und die Schlacken der er¬
gründeten Wahrheit aus der Grube emporwerfen — sondern mehr noch,
weil uns Fichte hier entgegentritt als der erste Verkündiger jener Ideen, weiche
heute Deutschlands nationale Partei bewegen. Ein Parteimann freilich im heu¬
tigen Sinne ist Fichte nie gewesen, ihm war es zu thun um Klarheit und
Einsicht, „daß diese Gedanken nicht untergehen in der Welt." Aber kein Partei¬
mann unsrer Tage mag das tödtliche Leiden unsres Volkes, daß es media tisirt
ist, klarer bezeichnen als Er mit den Worten, das deutsche Volk habe bisher an
Deutschland einen Antheil nur genommen durch seine Fürsten. Und Er,
der demokratische Theoretiker, gesteht, es handle sich unter den Verhältnissen des
Augenblicks nicht um eine Republik, sondern um das Kaiserthum, um das Ab¬
wenden der Gefahr, daß „alles beim Alten bleibe," das deutsche Volt wiederum
nur in seinen Fürsten politisch vertreten sei. Oestreich kann die Hand nie er¬
heben zu dieser Würde, weil sein Kaiser durch sein Hausinteresse gezwungen ist
„deutsche Kraft zu gebrauchen für seine persönlichen Zwecke". Preußen aber „ist
ein eigentlich deutscher Staat, hat als Kaiser durchaus kein Interesse zu unter¬
jochen, ungerecht zu sein.'. . . Der Geist seiner bisherigen Geschichte zwingt
es fortzuschreiten in der Freiheit, in den Schritten zum Reich. . . . Sonst geht
es zu Grunde." Desselbigen Sinnes sind die Vorlesungen seines letzten Sommers
über die Staatslehre. Mit prophetischer Kühnheit.bezeichnen sie als ein Gesetz
der sittlichen Welt, daß ein Volk gebildet werde durch gemeinsame Geschichte;
daß aus dieser Bildung sich entwickeln solle ein Reich, wodurch die alte Schule
des Volks, der Einzelstaat, überflüssig werde; daß endlich wer da eingreife in
diese Bildung als Feind zu betrachten sei. Näher eingehend auf die Bewegung
des Augenblicks schildert er das Wesen des gewaltigen Feindes, der unter den
Ideenlosen' der Klügste, der Kühnste, der Unermüdlichste, begeistert für sich selber,
nur zu besiegen ist durch die Begeisterung für die Freiheit. So stimmt auch Fichte
mit ein in die Meinung unsrer großen Staatsmänner, welche erkannten, baß die
Revolution in ihrem furchtbarsten Vertreter bekämpft werden müsse mit ihren
eigenen Waffen. Fast gewaltsam unterdrückt er den unabweislichen Argwohn
gegen die drohende Rückkehr der alten Zeit. Nicht ungerügt freilich läßt er
es hingehn, daß man in solchem Kampfe noch „gotteslästerlich" von Unterthanen
rede, daß die Formel „mit Gott für König und Vaterland" den Fürsten gleich¬
sam des Vaterlandes beraube. Nicht ohne Rüge mag er dies lassen, der so hoch
denkt von diesem Staate, daß er dem König von Preußen die Frage zuwirft,
ob nicht Er als „der Zwingherr zur Deutschheit" auftreten wolle. Aber alle
solche Makel der großen Erhebung gilt es als schlimme alte Gewohnheiten zu
übersehen; „dem Gebildeten soll sich das Herz erheben beim Anbruche seines Va¬
terlandes." Beim Anbruche seines Vaterlandes — die aus der Ferne leiden¬
schaftslos zurückblickende Gegenwart mag diese schöne Bezeichnung der Freiheits¬
kriege bestätigen, welche die hart enttäuschten Zeitgenossen kummervoll zurück¬
nahmen.
So — nicht eingewiegt, nach der gemeinen Weise der Idealisten, in leere
Illusionen, aber auch nicht ohne frohe Hoffnung ist Fichte in den Tod gegangen
für sein Land. Welch ein Wandel seit den Tagen der Revolutivnst'riege, da
er der Geliebten noch vorhielt, daß sie gleichgiltig sei gegen die Welthändel.
Der Schwung der großen Zeit, die opferbereite Empfindung weiblichen Mitge-
gefühls führt jetzt Johanna Fichte unter die wunden Krieger der Berliner Hos¬
pitäler. Alle guten und großen Worte des Gatten von der Macht der gött¬
lichen Gnade werden ihr lebendig und strömen von ihrem Munde, da sie die
unbärtiger Jünglinge der Landwehr mit dem hitzigen Fieber ringen, in letzter
Schwäche, in unbezwinglichen Heimweh die Heilung von sich weisen sieht. An den
ersten Tagen des Jahres 1814 bringt sie das Fieber in ihr Haus. Einen Tag
lang verweilt der Gatte an ihrem Lager, eröffnet dann gefaßt seine Vorlesungen
und findet, zurückgekehrt, die Todtgeglaubte — gerettet. In diesen Stunden
des Wiedersehens, meint der Sohn, mag den starken Mann der Tod beschli-
chen haben. In seine letzten Fieberträume siel noch die Kunde von der Neu¬
jahrsnacht, 1814, da Blücher bei der Pfalz am Rheine den Grenzstrom über¬
schritt und das feindliche Ufer wiederhallte , von den Hurrahrufen der preußischen
Landwehr. Unter solchem Trostdonner von kriegerischer Größe ist der streitbare
Denker verschieden am 27. Jan. 1814. Sein Lob mag er selber sagen: „Un¬
ser Maßstab der Größe bleibe der alte: daß groß sei nur dasjenige, was der
Ideen, die immer nur Heil über die Völker bringen, fähig sei und von ihnen
begeistert." Und nirgends lauter soll dies Lob ertönen, als in Fichte's Heimath.
Denn ist es ein schweres Unglück dieses Landes, daß wir nicht Theil genommen
an dem größten Kampfe der neueren Deutschen — ein Fluch, dessen geheimes
Fortwirken der ernste Beobachter noch heute in dem sächsischen Staate erkennen
mag — so mögen wir doch mit einigem Stolze sagen, daß wir einen Fichte
gesendet in die Reihen der Streiter.
Seitdem ist eine lange Zeit vergangen, Fichte's Name ist im Wechsel ge¬
priesen worden und geschmäht, ist aufgetaucht und wieder verschwunden. Sagen
Sie nicht, daß ich die Feier dieses Tages durch eine gemeine Erinnerung trübe.
Meine Pflicht ist es, zu erzählen, wie der deutsche Bund Fichte's Namen in den
Koth getreten; denn nicht oft genug kann der Deutsche hören, wie tief dies
Volk entwürdigt worden, damit er ermesse, wie ernst und berechtigt die Arbeit
derer sei, welche heute daran gehen dem Jammer des deutschen Bundestages
ein Ziel zu setzen. Viel zu milde, leider, lautet das landläufige Urtheil, daß
unser Volk mit Undank belohnt worden für die Errettung der Throne, die sein
Blut erkauft. Als'ein Verbrechen vielmehr — warum das längst Erwiesene
verbergen? — als ein Verbrechen ward in Frankfurt der deutsche Freiheitskrieg
betrachtet. Da die Central - Untersuchungs - Commission zu Mainz den unbe-
lchämten Augen des Bundestages die demagogischen Umtriebe darlegte, standen
obenan unter den verbrecherischen Geheimbünden — die Vereine, welche in den
Jahren 1807—13 sich gebildet zum Zwecke der Vertreibung der Franzosen, und
die Liste der Verdächtigen ward eröffnet mit den erlauchten Namen von —
Fichte und Schleiermacher.
Mag es sein, daß Fichte's nervige Faust den Bogen zu heftig spannte und
über das Ziel hinausschoß; in der Richtung nach dem Ziele ist sicherlich sein
Pfeil geflogen-, die Zeit wird kommen die Sehergabe des Denkers zu preisen,
der Preußen die Wahl sollte unterzugehen oder fortzuschreiten zum Reiche. Mag
es sein, daß der verwegene Idealist oftmals abirrte in der nüchternen Welt der
Erfahrung: — ein Vorbild des Bürgermuthes ist er uns geworden, der lieber
gar nicht sein wollte als der Laune unterworfen und nicht dem Gesch. Und
auch das praktisch Mögliche hat der Theoretiker dann immer getroffen, wenn er
handelt von den sittlichen Grundlagen des staatlichen Lebens. Alle Vorwcuide
der Zagheit, all das träge Harren auf ein unvorhergesehenes, glückliches Ereig¬
nis) — wie schneidend weist er sie zurück, wenn er versichert, keiner der beste¬
henden Landesherren „könne Deutsche machen," nur aus der Bildung des
deutschen Volksgeistes werde das Reich erwachsen. Wenn wir nullig diesem
Worte glauben, so hoffen wir dagegen — oder vielmehr wir müssen es
wollen, daß ein anderer Zukunftsspruch des Denkers nicht in Erfüllung
gehe. Schon einmal sahen wir ihn, nach der Weise der Propheten, sich
täuschen in der Zeit: sechs Jahre schon nach den Reden an die deutsche
Nation erhebt sich das Geschlecht, das er gänzlich aufgegeben. Sorgen
wir, daß dies Volk nochmals rascher lebe als Fichte meinte, daß wir
mit eigenen Augen das einige deutsche Reich erblicken, welches er bescheiden
bis in das 22. Jahrhundert verschob. — Wieder ist den Deutschen die Zeit
des Kampfes erschienen; wieder steht nicht der Gedanke gerüstet gegen den Ge¬
danken, nicht die Begeisterung wider die Begeisterung. Die Idee streitet gegen
das Interesse, die Idee daß dieses Volk zum Volke werde, wider das Sonder-
interesse von Wenigen, die an das nicht glauben, was sie vertheidigen.
Wenn die Langsamkeit dieses Streites, der uns aus sittlichen noch mehr denn
aus politischen Beweggninden zu den Fahnen ruft, uns oft lähmend auf die
Seele fällt, dann mögen wir uns aufrichten an dem Fichteschen Worte der
Verheißung, daß in Deutschland erstehen werde ein wahrhaftes Reich des Rechts,
der persönlichen Freiheit, gegründet auf die Gleichheit alles dessen, was Men-
schenangcsicht trägt. Damit, fürwahr, sind bezeichnet die bescheidensten, die-ge¬
rechtesten Erwartungen der Deutschen. Nur die Ueberhebung, die Unwissenheit
träumt von der ungeheuern Machtentfaltung des einigen Deutschlands. Sind
doch die gesegneten Länder der Welt, die Herrschaft der Meere längst vertheilt
unter glücklichere Völker. Was die Deutschen, wenn sie den Einmuth finden
ihren Staat zu gründen, bei mäßiger Macht dennoch hoch stellen wird in der
Reihe der Nationen, ist allein dieses! kein Volk Kar je größer gedacht als das
unsere von der Würde des Menschen, keines die demokratische Tugend der
Menschenliebe werkthätiger geübt.
Durch eine eigene Fügung fällt mit der heutigen Feier der Beginn des
preußischen Landtags zusammen. Zur Freude Aller, zur Beschämung Vieler
unter uns haben unsre Nachbarn jüngst bei den Wahlen bewiesen, daß unter
den Deutschen noch etwas lebe von dem „Charakter des Kriegers", der sich zu
opfern weiß. Opfer hat dies Volk gebracht — und schwerer als solche, die
sich schätzen lassen nach dem Tauscbwcrthc — für die Erfüllung einer ernsten
Bürgerpflicht. Uns ziemt es zu bekennen, daß wir wissein diese Thaten des
Bürgersinnes sind auch für uns vollbracht worden. Hoffen wir, daß über dem
an so verheißungsvollem Tage begonnenen Landtage der Geist des Mannes
walte, dem wir den Spruch verdanken: „Charakter haben und Deutsch sein ist
ohne Zweifel gleichbedeutend."
Der russische Kalender ist hinter dem unsern um zwölf Tage zurück. Wie
weit ist Rußland in andern Dingen hinter uns zurückgeblieben? Die Antwort
lautet: in vielen wichtigen Dingen sind wir ihm um Jahrhunderte voraus, in
andern nur um Jahrzehnte; wieder in andern höchstens um einige Jahre, wäh¬
rend einige sind, in denen es uns nie gleichkommen wird, weil der slavische
Geist eben ein andrer ist, als der germanische.
Beispiele für diese Behauptungen anzuführen wird unnöthig sein. Doch
mag eins hier Platz finden. Um einen Vergleich zwischen der russischen Polizei
und irgend einer andern aufzustellen, bei welchem beide sich fast vollkommen
gleichen, müssen wir auf die Alguazils des Gil Blas zurückgehen. Die Be¬
amten sind der Fluch Rußlands, und die schlimmsten von diesen Blutsaugern
an den Lebensadern des Volkes sind die Polizeibeamten. Nicht daß die russische
Gendarmerie die Reisenden übel behandelte, wie man gewöhnlich annimmt.
Selbst die Paßquälerei ist von den Touristen, von denen einer in den Fu߬
tapfen des andern geht, sehr übertrieben worden. Auf keinen Fall ist sie so
groß wie im kaiserlichen Frankreich, wo man fast keinen Schritt thun kann, ohne
um seine Aufenthaltskarte befragt zu werden, und wo man sich bei jedem Gast-
hofswechsel frisch einschreiben lassen muß. Ebensowenig mischt sich die russische
Polizei in der Weise des Kaisers Napoleon in häusliche Angelegenheiten. In
Frankreich darf man nicht fünfzig Personen in seinem Hause versammeln, ohne
die Polizei davon in Kenntniß zu setzen, die dann in der Regel einen Aufpasser
hinschickt; in Nußland weiß man davon nichts. Auch die Regeln der Straßen¬
ordnung werden von den Constablern, die auf allen Hauptstraßen aufgestellt
sind, nicht besonders streng gehandhabt.
„Niemals sah ich sie," erzählt Edwards, „einen Hieb austheilen, ausge¬
nommen, wenn eine Sperrung der Straßen drohte, an das Pferd eines Jswost-
schiks, und die Schimpfreden, die dann gewöhnlich von letzterem folgten, schienen
zu beweisen, daß der Kutscher eben keine unnöthige Ehrfurcht vor der Macht
und Würde des Butostschnik empfand. Aber bei einer Gelegenheit, wo ein un¬
verschämter und theilweise benebelter Russe von einem Engländer auf sehr pas¬
sende Weise zu Boden geschlagen worden, sah ich, daß ein Butostschnik dabei
stand, als der Gefällte eine Geldentschädigung für den Schlag empfing, und
daß der liebenswürdige Butostschnik bemerkte, Geld sei das einzige Auskunfts¬
mittel. Da der Engländer auf einen Ball wollte und nicht wünschte, die Nacht in
einer Bulla zu verbringen, so gab er dem Manne der Polizei natürlich Recht und die
Sache wurde in aller Gemüthlichkeit ausgeglichen, indem der verletzte Theil für
ein sehr schönes blaues Auge eine Entschädigung empfing, die etwa einem Schilling
und acht Pence gleich kam. Wie viele von den fünfzig Kopeken in die Tasche des Bu¬
tostschnik flössen, weiß ich nicht zu sagen. Aber es ist vollkommen sicher, daß der Wächter
der öffentlichen Ordnung von dem Friedensbruch Nutzen zog, und in gleicher
Weise profitirt die russische Polizei von jedem Verbrechen und jedem Mißgeschick,
das zu ihrer Kenntniß gebracht wird. Wenn ein Gast in einem Hotel etwas
Vermißt und die Polizei von seinem Verlust benachrichtigt, so werden die Herren
ihn für Anbringung der Klage bezahlen lassen, so werden sie dann den Wirth
dafür, daß in seinem Hause gestohlen worden, bezahlen lassen, und so werden
sie schließlich den Dieb, wenn sie ihn sangen, dafür, daß sie ihn nicht einstecken,
bezahlen lassen.
Einem meiner Bekannten war ein Buch entwendet worden, er folgte der
Spur bis in einen Antiquarladcn und war dann Thor genug, den des Dieb¬
stahls Verdächtigen von der Polizei einsperren zu lassen. Mit froher Miene
nahm der Polizeimann den Dieb in Empfang, mit froher Miene ging der
Dieb mit dem Polizeimann. Dann hatte der Bastos,inne auf der Polizei zu
erscheinen und wieder zu erscheinen und abermals zu erscheinen und sofort und
jedesmal Geld zu zahlen, bis man ihm endlich gegen Entrichtung von zwei
Rubeln seine Klage zurückzuziehen gestattete.
Ein Franzose, welcher in der Haupthandelsstraße Moskau's lebte, versicherte
mir, wenn er einen ertappe, der in seinem Laden gestohlen, so fiele es ihm nicht
ein, ihn auf die Polizei abzuliefern. Er habe dies, sagte er, schon zu oft ge¬
than; denn habe man sich einmal mit der Polizei eingelassen, so sei kein Los-
kommen, und sein Recht zu erlangen, unmöglich. „Was thun Sie denn mit
einem erwischten Ladcndieb?" fragte ich. „Je nun, wir nehmen ihn ins Hinter-
stübchen. hauen ihn tüchtig durch und werfen ihn dann auf die Straße," war
die Antwort. „Wir wissen, daß wir ihn nicht wiedersehen werden. Er dankt
Gott, so wohlfeilen Kaufs davon gekommen zu sein, und wir thun desgleichen."
„Die Furcht vor der Polizei ist so groß, daß ein Nüsse einem Leichnam
oder einem Sterbenden aus dem Wege geht, damit die Alguazils ihn nicht dar-
über betreffen und ihn als Mörder fassen, um ihm Geld abzupressen. Einer
meiner Freunde befand sich eines Tages im Troiza Traktir zu Moskau, als
. Plötzlich ein Kaufmann vom Schlag getroffen wurde. Augenblicklich waren alle
Tische um den Sterbenden leer, und es fand sich Niemand, ihm das Halstuch
zu lockern. Der erste Gedanke Aller war, der Polizei zu entgehen, welche die
Leute Monate hindurch mit täglichen Citationen geplagt haben würde, wenn sie
sie nicht gar eingezogen und gethan hätte, als ob sie an eine Ermordung des
apoplektischen Gentleman glaube."'
„Der russische Polizeibeamte ist ein autorisirter Räuber," und Jedermann
weiß das, da es nicht möglich ist, täglich einen Thaler auszugeben, wenn man
nur einen halben Thaler pro Tag einnimmt. Edwards erzählt: „Ein Freund
von mir sah einst einen Jswostschik fast in Thränen, weil ein Kwartalny (Vier-
telscommissär) sich von ihm durch ganz Moskau hatte fahren lassen, ohne ihm
zuletzt mehr als etwa sechzehn Pfennig dafür zu reichen — natürlich hatte der
Kutscher kein Mittel sich Gerechtigkeit zu verschaffen. Aber der Kwartalny be¬
gnügt sich nicht, arme Lohnkutscher zu betrügen, er hält sich gewöhnlich selbst
Equipage und überdies ein paar Schreiber, die seine Arbeit thun, und er macht
dies bei einem Gehalt von 40 Pfund jährlich möglich. Er preßt jedem Haus¬
besitzer, wenigstens jedem Ladeninhabcr seines Bezirks Geld ab. Er läßt sich
mit fünf oder zehn Rubeln beschenken, weil sein Geburtstag ist oder weil unser
Geburtstag ist, oder weil man eine Firma über dem Laden hat oder weil man
einen Laden ohne Firma hat. Er läßt uns nur dann unangezapft, wenn wir
von Adel sind; denn von Adel fein heißt in Rußland, das Privilegium haben,
als menschliches Wesen von Verstand und Gefühl behandelt zu werden und An¬
dere zu behandeln, als ob sie nichts der Art wären."
Weniger schädlich für das Publicum, aber eben so niederträchtige Bursche
wie die Pvlizeivfficianten, sind jene Militär- und Civilbeamten, die selbst im
Angesicht einer Invasion nicht so viel Vaterlandsliebe besitzen, sich der Plünde¬
rung des Gouvernements zu enthalten. So hören wir von Dampfercapitäncn,
welche täglich so und so viel für Kohlen berechneten, während die Fahrzeuge doch
im Hafen lagen und nicht geheizt hatten. Die Beschießung von Sweaborg soll
zu einer wahren Festlichkeit für gewisse Magazin-Verwalter geworden sein, welche
Entschädigungen für Vorräthe erlangten, „die vielleicht durch die englischen
Bomben vernichtet worden wären, wenn sie überhaupt jemals in den Magazinen
gelegen hätten/' Mehre von den Commissären in der Krim wurden beschuldigt,
die für die Hospitäler von Sewastopol erhaltene Leinwand den Verbündeten
verkauft zu haben, und wenn dies auch wahrscheinlich unwahr ist, so ist die
weite Verbreitung dieses Gerüchts doch schon ein Beweis dafür, daß man
solchen Handel für möglich hielt, und daß ähnliche Geschäfte gemacht wurden,
haben die Verurteilungen hoher russischer Offiziere in den Jahren nach dem
Kriege zur Genüge dargethan.
Die Beamtenkrankheit war längst schon als ein Hauptgebrechcn Rußlands
anerkannt, aber selbst die Energie des Kaisers Nikolaus vermochte nichts zur
Milderung des Uebels zu thun. Da machte sich endlich die russische Bühne
ans Wert, und ihr dankt das Land, daß wenigstens eine Diagnose der häßlichen
Seuche existirt.
Ueber die Geschichte des russischen Theaters bitten wir den Leser, der ein
Interesse dafür hat, das Buch von Edwards selbst nachzulesen. Hier beabsich¬
tigen wir nur die beiden merkwürdigsten Lustspiele, die Rußland je hervorge¬
bracht hat, den „Revisor" von Nikolaus Gogol und „Kummer von Witz"
(Gore- ot Ana) von Gribojcdoff, zu besprechen. Diese Komödien, obwohl grund¬
verschieden nach Conception und Ausführung, haben doch dieselbe Grundlage:
die Gebrechen des russischen Beamtensystems, und beide sind zu einem ernsten
Zweck geschrieben, wie man ihn in keinem andern dramatischen Werke dieser
Gattung verfolgt findet, Beaumarchais' „Hochzeit des Figaro" ausgenommen,
welche allerdings ebenfalls ein politisches Pamphlet in dramatischer Form ist.
„In den meisten Ländern." sagt unser Berichterstatter, „ist die Presse als Organ
politischer Kritik der Bühne voraus, aber in Rußland ist bis auf die jetzige Re¬
gierung die Bühne der Presse voraus gewesen."
Der Gang des Gogolschen Stückes ist in Kurzem folgender. Khlestakoff,
ein junger Mann im Staatsdienst zu Se. Petersburg, hat auf einer Reise von
der Hauptstadt nach seines Vaters Gut all sein Geld ausgegeben und sieht
sich aus Mangel an Fonds genöthigt, in der entfernten Provinzialstadt zu
bleiben, in welche der Schauplatz der Komödie verlegt 'ist. Er befindet sich in
einem elenden Wirthshaus, und der Wirth verweigert ihm nicht nur fernern
Credit, sondern droht auch bei der Polizei zu klagen, daß er sich bei ihm mehre
Tage aufgehalten, ohne ihm einen Kopeken zu zahlen. Nun trifft sichs, daß
in dieser kleinen Stadt, wo jeder Beamte seine besondere Art von Schurkerei
betreibt, der Postmeister als ein Ding, das sich von selbst verstehe, alle Briefe
zu lesen Pflegt. Der Inhalt derselben bildet eigentlich seine ganze Unterhal¬
tung, die. wie man erwarten wird, ebenso mannigfaltig als interessant ist. Er
trägt sogar Briefe mit sich herum und sagt zu seinen Freunden: „Da hab' ich
hier 'nen Brief von einem jungen Menschen, der von einem prächtigen Ball
berichtet; ich denke seine Beschreibung wird Sie interessiren" und so weiter.
Dieser Postmeister hat bei der geschilderten Praxis Wind davon bekommen,
daß ein Generalrevisor im Begriff steht, ihnen einen Besuch zu machen, daß
derselbe der Träger geheimer Weisungen ist und daß er incognito reist. Auch
der Gouverneur der Stadt ist von der Ankunft des schrecklichen Mannes be¬
nachrichtigt, und alle Beamten des Ortes kommen zusammen, um sich über den
besten Plan zu besprechen, dem Abgesandten der Regierung Sand — wofern,
erforderlich, Goldsand in die Augen zu streuen. „Letzte Nacht träumte mir
von Ratten", sagt der Chef, „ich wußte, daß etwas Fürchterliches im Anzug
wäre."
Zunächst empfiehlt der Gouverneur einige Vorsichtsmaßregeln; denn es ist
ganz unmöglich, daß der Erwartete sich nicht auf Bestechungen einlassen, son¬
dern streng nach seiner Pflicht verfahren sollte. „Wäre ich an Ihrer Stelle",
sagt er zu dem Aufseher des Hospitals, „so gäbe ich meinen Kranken reine
Nachtmützen. Der Revisor wird es vielleicht nicht gern haben, wenn sie wie
Schornsteinfeger aussehen, was gewöhnlich der Fall ist. Und dann würde ich
eine Schrift über jedes Bett setzen — in Latein oder einer andern Sprache
— welche das Datum, wo der Patient krank geworden, oder so was Ähn¬
liches angäbe. Auch würde ich weniger Kranke im Spital haben, weil man
sonst denken könnte, sie würden nicht gebührend behandelt."
„Was das Behandeln betrifft", erwidert der Aufseher, „so habe ich das
Alles mit dem Doctor arrangirt. Je einfacher die Behandlung, desto besser.
Wenn einer stirbt, so stirbt er, wenn er gesund wird, so wird er gesund.
Wir ahmen die Natur nach. Ueberdies aber, wie kann der Doctor mit den
Kranken über ihre Gebrechen reden, wo er nicht ein Wort Russisch ver¬
steht?"
Hier läßt der Arzt ein unverständliches Gemurmel vernehmen.
„Und Sie," fährt der Gouverneur, zum Richter gewendet, fort, „würde
es nicht ein guter Einfall sein, wenn Sie Ihre Gericktsstube in Ordnung
brächten? Sie halten Hühner drin. Die Hühnerzucht ist sicherlich eine ver¬
dienstliche Beschäftigung, aber — ich weiß nicht, ich dächte, eine Gerichtsstube,
Sie verstehen mich, wäre nicht der rechte Ort dazu. Dann liegt da in dem
Verhörzimmer eine Jagdpeitsche auf dem Pulte unter den Acten. Ich weiß,
Sie sind Jagdliebhaber, und das ist ganz schön, aber es würde nichts schaden,
wenn Sie die Jagdpeitsche wegthäten. Sie tonnen sie ja wieder hinlegen,
wenn der Revisor abgereist ist. Sie haben außerdem andere Fehler, wie sie
natürlich Jedermann hat — die Vorsehung hat das so gefügt, was auch die
Voltcnrianer dagegen sagen mögen — aber Sie lassen sich wirtlich zu häufig
Jagdhunde schenken."
„Jagdhunde!" entgegnet der Richter. „Na wirklich, was wollen ein paar
Hunde bedeuten? Wenn eins einen Pelzmantel fünfhundert Rubel werth, oder
einen Kaschmirs!)ciwl für seine Frau annimmt, so ist's was Anderes."
„So, was Anderes?" antwortet der Gouverneur ärgerlich. „Wohl denn,
soll ich Ihnen sagen, weshalb Sie sich Hunde schenken lassen? 's ist, weil Si«
nicht an Gott glauben. Was ich auch sein mag, so habe ich doch meine Re¬
ligion; aber Sie — wenn Sie von der Formation der Welt reden, so stehn
mir die Haare zu Berge."
Für das Ortsgymnasium ist ebenso wohl gesorgt wie für das Hospital
und die Gerichtsstube, die Straßen sind in Unordnung, die Gassen nicht ge¬
pflastert. Die Ladeninhaber sind jahrelang schon genöthigt, dem Gouverneur
an seinen Geburtstagen — er ist so glücklich, deren jährlich zwei zu haben — un¬
erhörte Geschenke zu machen, und neulich ist eine Soldatenfrau, die als eine
Freie summarischer körperlicher Abstrafung nicht unterworfen ist, durchgepeitscht
worden. Die Beamten zittern, zanken sich und werfen sich gegenseitig ihre
Sünden vor: „Sie nehmen so viel, ich nur so viel: Sie stehlen zu viel
für Ihren Posten", und so geht's fort, bis plötzlich die Nachricht herein¬
kommt, im Gasthofe sei ein Herr, der Niemand bezahle.
„Dann muß es ein Regierungsbeamter von hohem Rang sein", ist die
allgemeine Ueberzeugung, und sofort geht eine Deputation nach dem Wirths¬
haus, wo Khlestakoff und sein Diener abgestiegen sind.
Khlestakoff nimmt, als der Gouverneur der Stadt angemeldet wird, an,
daß er ihn wegen Beschwindelung des Gastwirths ins Gefängniß stecken will,
und nun kommt es zu einer höchst komischen Scene. Khlestakoff beginnt mit
einer Anklage des Wirths. Er hat ihm ein schlechtes Zimmer, schändlichen
Thee, verabscheuenswerthe Mahlzeiten gegeben. Der Gouverneur beklagt das
tief und spricht die Meinung aus, dann werde,ein Wechsel der Wohnung abhelfen.
„Ich verstehe", sagt Khlestakoff entrüstet, „Sie wollen mich ins Gefäng¬
niß bringen. Wissen Sie, Herr, wer ich bin? Wissen Sie, daß Sie einen
kaiserlichen Beamten vor sich haben?"
„Er ist entschlossen, seine Pflicht zu thun", überlegt sich der Gouverneur,
„weil er fürchtet, irgend eine Vernachlässigung aus seiner Seite werde mit
Gefängniß bestraft werden. Aber wie wüthend er ist. Es muß ihm eins hin-
terbracht haben, daß ich die Soldatenfrau aufpeitschen ließ und daß ich mich
bestechen lasse." Und darauf setzt er jenem auseinander, daß die Geschichte
mit der Soldatenfrau eine Lüge ist, und daß er, was die Geschenke angeht,
niemals welche von großem Werth genommen hat und daß übrigens sein Ge¬
halt nicht im Einklang mit seinen Ausgaben steht. Der darüber -sehr erstaunte
Khlestakoff versichert dem Gouverneur, daß er nicht die Absicht hat, sich in
seine Privatangelegenheiten zu mengen, und daß er in der Stadt -nur verweilt,
um Geld von daheim zu erwarten.
„Wie pfiffig er's andreht/' denkt der Gouverneur, ist aber entschlossen,
sich nicht fangen zu lassen. „Wenn Sie Geld brauchen", bemerkt er, „so ist
es meine Pflicht, Reisenden Gefälligkeiten zu erweisen. Erlauben Sie mir,
Ihnen zweihundert Rubel vorzustrecken."
„Mit Vergnügen", erwidert Khlestakoff.
Der Gouverneur gibt ihm ein Packet Banknoten, und als der junge Rei¬
sende eingewilligt hat, sie ohne sie gezählt zu haben, in die Tasche zu stecken,
sagt jener vergnügt für sich: „das habe ich wunderschön gemacht. Ich sehe,
daß wir uns verständigen werden. Statt zweihundert Rubel habe ich ihm
vierhundert gegeben."
Schließlich zieht Khlestakoff in das Haus des Gouverneurs, wo er von
jedem Beamten der Stadt Satire und nicht blos hellre, sondern mit Geschenken
überhäuft wird, mit denen man die Nachsicht des vermeintlichen Revisors er¬
kaufen will. Er verlobt sich sogar mit der Tochter des Gouverneurs, worüber
dieser vor Freuden fast den Verstand verliert und Visionen bekommt, in welchen
er General ist.
Nachdem alle Beamten dem „Herrn Revisor", ihren Tribut dargebracht, er¬
langen die Kaufleute der Stadt eine Audienz. Sie bringen Hüte Zucker und
Flaschen mit Branntwein, um sich damit die Gunst „Seiner durchlauchtigsten
Hoheit des Herrn Finanzministers", wie sie ihn tituliren, zu erkaufen. Der
eine klagt, daß der Gouverneur ihm nicht blos Kleider für sich und seine ganze
Familie abnöthigt, sondern auch noch ganze Stücke Tuch von fünfundzwanzig
Ellen und mehr mit in den Kauf nimmt. Ein anderer bezeugt seine Betrüb¬
niß darüber, daß er, wenn er nicht Geschenke gibt, mit Einquartierung von-
einem ganzen Regiment bedroht wird. „Ich kann dich nicht prügeln", sagt
ihm der Gouverneur, „weil das Gesetz dies nicht erlaubt, aber ich werde dich
in meiner Weise schon darankriegen." Es ist nicht das mindeste Pathetische
in dem Kummer dieser Opfer des Beamtenthums. Sie find durch die ewige
Plackerei und durch das Beispiel ihrer Vorgesetzten so heruntergebracht, daß sie
zu dieser Klage über die Ortsbeamten vor dem Beamten aus der Hauptstadt
erscheinend sich mit der Stirn auf den Boden werfen und ihn mit Geschenken
zu bestechen suchen, damit er ihren Quäler bestrafe.
Dann kommt ein armes Weib herein, deren Mann unter die Soldaten
gesteckt worden ist. „Es war gegen die Gesetze; denn sie dürfen keine ver-
heiratheten Leute nehmen", klagt sie, „und außerdem war der Sohn des
Schneiders an der Reihe, aber seine Mutter gab ihnen ein Stück Geld. Dann
war noch Einer daran, aber seine Mutter brachte der Frau des Gouverneurs
drei Ballen Leinwand, und so fielen sie denn zuletzt auf meinen armen Mann."
Hier kann Khlestakoff nichts thun. Er kann Geschenke nehmen, aber kein
Unrecht wieder gut machen. Dann stellen sich andere Kläger und Bittsteller
ein, und zuletzt sind gar die Kranken im Spital aus ihren Betten gestiegen,
um ihr Leid vorzutragen, und schon sieht man sie an den Coulissen, als der
Vorhang fällt, und mit Recht; denn der „Revisor" ist ein Lustspiel.
Als Khlestatoff die Stadt verlassen hat. kommt eines Tages der Post¬
meister in die Versammlung der Beamten, in der Hand einen nach seiner Ge¬
wohnheit erbrocbncn Brief. Es ist eine Mittheilung Khlestakoffs an einen
Freund in Se. Petersburg.
„Wie konnten Sie sich unterstehen," sagen die andern Beamten, „den Brief
eines so hochgestellten Herrn zu öffnen?"
„Hochgestellter Herr?" erwidert der Postmeister. „Er ist überhaupt kein
Herr. Der Teufel mag wissen, was er ist."
Hier geräth der Gouverneur in sittliche Entrüstung. „Wissen Sie wohl,
daß er mein zukünftiger Schwiegersohn ist?" ruft er aus, „und daß ich Gene¬
ral werde, und daß ich Sie nach Sibirien schicken könnte, falls Sie in diesem
Ton reden?"
„Sibirien ist weit von hier." erwidert der Postmeister gelassen. „Lesen
Sie selber."
Die nächste Scene (dem .Mscmtlii-opö" in der Form nachgeahmt) ist von
erstaunlicher Komik. Der Brief enthält für jeden der Versammelten einen belei¬
digenden Satz. Der Gouverneur, sich bloßgestellt sehend, will über eine Stelle
hinwegsehen, aber der Postmeister nimmt ihm den Brief aus der Hand und
liest weiter. Dann als dieser ähnliche Nachsicht mit seinen Schwächen an den
Tag legen zu wollen scheint, wird ihm-das Document von dem Aufseher des
Hospitals weggenommen, der aber ebenfalls stockt, als bald darauf sein Name
erwähnt wird, und so weiter durch die ganze würdige Versammlung.
„Daß ich mich an der Nase herumführen ließ, wie merkwürdig!" ruft der
Gouverneur mit reizender Naivetät aus. „Ich, ein Mann, der dreißig Jahre
im Dienst und mit den geriebensten Spitzbuben der Welt zu thun gehabt hat.
Hin — habe in meiner guten Zeit drei Intendanten üver's Ohr gehauen, ja
drei Intendanten, und einen Intendanten hinter's Licht zu führen, will etwas
sagen."
Darauf erhebt sich die Frage: „Wer sagte zuerst, daß dieser Schwindler
ein General-Revisor sei?" — „Das waren Sie." — „Nein, es war Bobtschinski."
— „Nein, Dobtschinski war's." Und ein Unglücklicher, Namens Dobtschinski wird
eben als Sündenbock für das ganze Unglück vorgenommen, als plötzlich ein
Courier erscheint und den Herren meldet, daß der wirkliche Revisor eingetroffen
ist und sie sofort zu sehen wünscht. Die Wirkung dieser Botschaft kann man
sich vorstellen. Der Vorhang fällt unter allgemeiner Bestürzung.
Das zweite politische Lustspiel „Gore ot Ana," Kummer von Witz, meint
Mit seinem Titel nicht gerade das, was wir jetzt Witz nennen, sondern, was
man etwa vor hundert Jahren darunter verstand, und das Stück zeigt, indem
es ein lebendiges satirisches Gemälde des Lebens der Moskaner vornehmen
Welt aufrollt/das Loos, welches unausbleiblich einen rechtschaffnen und ge-
scheidten Menschen erwartet, welcher von einer Gesellschaft von Lumpen und
Tropfen umgeben ist. Wcibrend Gogol in Prosa schreibt und wesentlich dra¬
matisch verfährt, ist Gribojcdvfss Komödie versificirt und mehr lyrischen Styls.
Die Personen handeln wenig und discuriren desto mehr, in der Hauptperson
ist der Verfasser selbst verborgen, in den gemeinen und thörichten Seelen, die
ihn als Nebenpersonen umgeben, steckt er ebenfalls, nur spricht er aus diesen
ironisch.
Tschatski, der Held des Lustspiels, ist ein Menschenfeind, aber zugleich ein
strebsamer, feuriger Schwärmer, der unter günstigeren Umständen vielleicht dem
Menschenhasser geworden sein würde, obwohl Sophie, die Heldin des Stückes,
bemerkt, „daß er sich am wohlsten befindet, wo die Menschen sich am lächer¬
lichsten betragen." Das Lustspiel Grivojedvffs hat einige Ähnlichkeit mit
Moliöre's „Menschenfeind", doch liegt sie eigentlich nur darin, daß die Helden
beider Stücke ihre Geliebte langweilen, der Franzose durch stetes Predigen, der
Russe durch unaufhörliches Schelten. Alceste moralisirt und ergeht sich in lan¬
gen sermonem. Tschatski ist ein bitterer Satiriker und declamirt die schneidend¬
sten Tiraden. Der Schluß ist hier, daß der verständige und warmherzige
Tschatski von der Gesellschaft von Dummköpfen und Spitzbuben, gegen deren
Verkehrtheiten und schlechte Streiche er umsonst seinen Witz verschossen, einfach
für verrückt erklärt wird.
Der Gang des Stückes ist sehr einfach. Tschatski, von seinen Reisen
heimgekehrt, findet nach dreijähriger Abwesenheit von Moskau, daß sich Sophie,
deren Neigung er einst besessen/nichts mehr aus ihm macht. Der hochsin¬
nige, aber mit seiner Neigung zur Satire unbequeme junge Reisende, welcher
zu'sehr die Unabhängigkeit liebt, um in die Dienste der Regierung zu treten,
wo nur Kriechen und Schmiegen ihm fortlielfen kann, ist aus dem Herzen des
Mädchens durch einen Musterbeamten, Namens Molischalin verdrängt worden,
der vor seinen Vorgesetzten stets schweigt, um nicht durch zu viel Reden Ge¬
fahr zu laufen, einmal Anstößiges zu sagen, der systematisch vor allen Höher-
gestellten schweifwedelt und der Tochter des Chefs seines Departements lediglich
als Geschäftssache den Hof macht. „Mein Vater gab mir," sagt der kaltblü¬
tige Secretär, „auf seinem Todtenbett den Rath, mich bei Allen/mit denen ich
in Berührung käme, auf guten Fuß zu stellen — mit dem Besitzer des Hauses,
in dem ich wohnte, mit meinen Vorgesetzten in der Kanzlei, mit dem Bedien¬
ten, der mir den Rock ausbürstet, mit dem Hausmann, der mir die Thür aus¬
schließt, ja selbst mit dem Hunde des Hausmanns, damit er mir nicht nach den
Waden schnappe." Sophie liebt diesen Mvltschalin aufrichtig, aber Mvltschalin
eigentlich Lisa, die Soubrette des Stücks, „und ich," sagt Lisa, „fürckle mich
vor der Liebe wie vor dem Teufel, aber wie könnte man es über's Herz brin¬
gen, Petruschka, den Kammerdiener, nicht zu lieben!"
'
Famussoff, Sophies Vater, ist ein serviler Functionär von hohem Rang,,
welcher, in seinen besten Momenten Gemeinplätze etwas blühender Art vor¬
bringt, während die unbeholfene Dummheit seines Freundes Skalozub, eines
militärischen Pedanten, sich hauptsächlich durch naive Sentenzen auszeichnet.
Das ganze Stück ist weit mehr Satire, als Komödie, Vieles darin greulich, nur
Weniges belachenswerth. Als Probe diene eine Rede, die Famussoff für die
gute alte Zeit hält, nachdem er auf Tschatski gescholten, daß er nicht in Staats¬
dienste getreten.
„Ihr jungen Herren seid alle voll Hochmuth, aber ihr solltet fragen, wie
es eure Väter machten. Es würde viel klüger sein, von Leuten zu lernen, die
älter als ihr sind, von mir zum Exempel oder meinem seligen Oheim, Maxim
Petrowitsch. Seine Mahlzeiten wurden ihm nicht blos auf Silber-, sondern auf
Gvldgeschirr servirt, und an die hundert Bedienten besorgten die Aufwartung.
Er war mit Orden bedeckt und fuhr nur vierspännig. Er verbrachte sein gan¬
zes Leben am Hofe und an was für einem Hofe! Wie verschieden von dem
heutigen! Es war der Hof der Kaiserin Katharina. Zu dieser Zeit wog Jeder¬
mann in der Hofhaltung mindestens seine vierzig Pud. Selbst wenn man sich
vor ihnen bis auf die Erde bückte, würdigten sie einen nie eines Gegen¬
grußes . . . Was meinen Oheim anlangt, so hatte er ein ernstes Aussehen
und eine stolze Haltung, aber vor Höhergestellten konnte er sich zusammenkrüm¬
men wie ein Reifen. Einmal bei einem großen Ball im Schlosse rutschte er
aus und fiel so heftig, daß er fast das Genick gebrochen hätte. Der alte Herr
that einen tiefen Seufzer, wurde aber mit einem kaiserlichen Lächeln beglückt.
Die Kaisern lachen — was denken Sie, das er that? Er stand auf, schüttelte
sich, machte einen Versuch, sich zu verbeugen und fiel wieder — aber diesmal
absichtlich. Das Lächeln der Majestät dauerte fort, und siehe da, zum dritten
mal machte er sein Stückchen mit dem Ausgleiten und Hinpurzeln. Nun, was
meinen Sie dazu? — Wir hielten es für gemal, denn durch dieses Fallen
stieg er. Auf Grund dieser Kunstgriffe und ähnlicher Leistungen wurde er stets
an den Spieltisch der Kaiserin befohlen und mit den gnädigsten Worten be¬
glückt. Wer war der Liebling des ganzen Hofes? Maxim Petrowitsch. Wer
wurde allenthalben mit der größten Hochachtung behandelt? Wieder Maxim
Petrowitsch. Ich scherze nicht. Wer streute Titel und Pensionen um sich aus?
Abermals Maxun Petrowitsch. Ja! und wer von euch jungen Lassen wäre
werth, ihm nur die Schuhncmen aufzulösen!"
Tschatslu Sie sprechen die Wahrheit. Das war wirklich ein Jahrhnn-
burrdert der Furcht und knechtischer Gesinnung. Alles, was geschah, wurde
unter der Maste des Eifers für den Souverän gethan. Ich spiele damit nicht
auf Ihren Onkel an; wir wollen dessen Äsche in Frieden ruhen lassen. Jetzt
finden wir wenige Leute, die bereit sind, zum Amüsement des Publicums den
Hals zu brechen, und obwohl es immer Seelen geneigt zu Niederträchtigkeiten
grbt, so schreckt sie in unsern Tagen die Furcht sich lächerlich zu machen ab und
tritt an die Stelle des Schamgefühls. Daher kommt's, daß es mit den Auf¬
rücken im Staatsdienst so langsam geht."
Fa muss off! „Gott im Himmel, er ist ein Earbonaro!"
Eine andere starke Steile im dritten Act ist folgende:
Stalozuln „Soll ich Ihnen eine gute Nachricht mittheilen? Es geht allge¬
mein das Gerücht, daß in allen Lyceen, Schulen und Gymnasien künftig nur
noch exerciren gelehrt werden soll. Die Bücher werden für besondere Gelegen¬
heit reservirt."
Famussoff: „Nein, Scrgei Sergeitsch, wenn wir das Uebel bei der Wur¬
zel fassen wollen, so müssen wir alle Bücher ins Feuer werfen."
Skalozub: „Durchaus nicht. Es gibt verschiedene Sorten von Büchern.
Aber wenn man mich zum Censor machte, so würde ich gewiß in Bezug auf
alle Fabeln unerbittlich sein. (Anspielung auf Kriloffs Fabeln, die in de/That
näher betrachtet Satiren sehr beißender Art auf russische Zustände sind). Ich
würde mich vor ihnen wie vor dem bösen Feind fürchten. Sie sind voll Späße
über Löwen und Adler. Aber sagen Sie was Sie wollen, obschon sie von
Thieren handeln, meinen sie doch eigentlich die Czaren."
Wir glauben nicht, daß dergleichen auf deutschen Bühnen gesagt werden
kann. Sicher wird wenigstens Niemand, welcher einer Aufführung von Beau-
marchais' Meisterwerk im THMre franyais seit Wiederherstellung der „Ordnung"
in Paris beigewohnt hat und sich erinnert, wie Figaro's berühmter Monolog
verstümmelt worden ist, glauben, daß die komische Muse in Frankreich jemals
solche lose Reden führen dürfte.
Ein anderes Ziel, welches der Verfasser verfolgt, ist, die Nachahmung aus¬
ländischen Wesens lächerlich zu machen, und zugleich zu zeigen, daß sie unaus¬
rottbar ist. Eine Probe davon enthält der zweite Act. Tschatski predigt in
einer Abendgesellschaft gegen die Nachahmung deutscher und französischer Sitte.
Seine Zuhörer verschwinden einer nach dem andern, bis er sich nach einem be¬
sonders heftigen Ausbruch seiner patriotischen Entrüstung plötzlich umdreht und
die Entdeckung macht, daß ihm keine Seele mehr zuhört. Die Herren und
Damen, die er bekehren wollte, tanzen im Hintergrund einen deutschen Walzer
und Vorhang,; de fällt.
Das ist, wie der Eindruck des ganzen Stückes, weder erbaulich noch komisch,
wohl aber ist es bezeichnend für die Anschauung des Dichters, die darauf hinaus¬
geht, daß das, woran die russische Gesellschaft krankt, sich wohl erkennen. aber
nicht ändern läßt. Wir werden diesem Pessimismus nicht völlig beipflichten
können, da seit Gribojedoffs Auftreten Mancherlei besser geworden ist, in vie¬
len wesentlichen Dingen aber werden wir seine Meinung theilen, da sie sich auf
den Grundzug im Charakter seiner Landsleute zu basiren scheint.
Wir schließen mit einigen Auszügen aus dem Kapitel, das von der Musik
der Russen handelt.
„Rußland wird wahrscheinlich einmal gute Opern produciren. Das Volk
liebt die Musik leidenschaftlich, und die Regierung fördert sie. Die Russen wis¬
sen guten Gesang zu würdigen und haben mehre treffliche Sänger aus ihrer
Mitte hervorgehen sehen, während ihre nationale Musik, was Charakter und
wahre Melodie anlangt, im Allgemeinen die aller andern Nationen Europa's
übertrifft. (Ein großes Wort, das wohl nur ein Engländer so gelassen aus¬
sprechen kann.) Auch sind schon seit langem fremde Musiker in Rußland sehr
begünstigt worden. Die Musik der russischen Kircke ist von Pasiello gelobt
worden, der einige Jahre in Petersburg lebte. Boieldicu, der verschiedene
Opern für die russische Bühne schrieb, hat ebenfalls seine Bewunderung der
russischen Kirchenmusik ausgedrückt und namentlich Bortnicmskis Beiträge für
dieselbe gepriesen."
„Von den modernen russischen Componisten kann ich nur sagen, daß sie
sehr zahlreich sind, daß ,sie mehr Vocal- als Instrumentalmusik schreiben, und
daß sie nicht viele Opern producirt haben. Ihre Lieder sind sehr schön, und
die besten darunter haben ein entschieden nationale? Gepräge, während andere
wieder für die Zigeunertruppen geschaffen sind, die als Musikbanden im Lande
umherziehen. Die ganze neuere populäre Musik in Rußland schein» uns in
solche Melodien, die den Styl der nationalen Weisen nachahmen, und in solche
zu zerfallen, die Nachahmungen oder Variationen der traditionellen Zigeunerlieder
sind. Jene zeichnen sich durch ihre Einfachheit und Schwermuth, diese durch
ihr leidenschaftliches Feuer und einen gewissen vmcntalischen Charakter aus.
Natürlich kommen dazu in jetziger Zeit manche Melodien, die mehr oder weniger
fremder, vorzüglich italienisches Musik nachgebildet sind. Aber trotz des Ein¬
flusses der italienischen Oper und der zahlreichen italienischen -Componisten.
welche 'das Land von Zeit zu Zeit besucht haben, trotz der vielen deutschen
Musiklehrer in Petersburg und Moskau haben die Russen eine nationale Mu¬
sikschule, was sich nicht blos aus ihren Liedern, sondern auch aus den Opern
Glinka's und WerstosM's darthun läßt."
Glinka hat außer andern Werken, Liedern, Quartetten u. d, die Oper
„Iisn za Czarya" (das Leben für den Czar) geschrieben, die 1843 zuerst auf¬
geführt wurde und jedenfalls viel Nationales enthält, gegenwärtig aber selten
mehr auf die Bühne kommt und auch von ihren Arien nichts an das Volk ab¬
gegeben zu haben scheint,
Werstoffski, jetzt Director der Moskaner Oper und Componist vieler Lieder,
hat sich vorzüglich durch die Opern „Askoldowa Mogila" (das Grab Askolds)
und „Gramvb'ol" bekannt gemacht. Die erstgenannte Oper will vom künstle¬
rischen Standpunkt nicht viel bedeuten. Die Ouvertüre ist von kläglicher Ar¬
muth, kein einziger Act hat ein wohlgefügtes Finale. Ein Musiker von Fach
würde daher „das Grab Askolds" ohne Weiteres links liegen lassen, wenn es
nickt der Bausteine wegen interessant wäre, aus denen es zusammengesetzt ist.
Der Komponist hat eine Anzahl Nativnalmelodien eingefügt und den'selbst er¬
fundenen eine nationale Färbung gegeben, was dem Ganzen ein nicht gerade
schönes, aber interessantes Gepräge verleiht. So singt der Held eine Arie im
Maß der Polatka, die den Bootsknechten der Wolga abgelauscht ist, und so
trägt die Primadonna eine andere Arie mit Chor vor, die gleichfalls unverkenn¬
bar" volkstümlich ist. Die Mehrzahl der Melodien dieser Oper bewegen sich,
wie fast alle slavischen Weisen, in Moll, andere Arien heben Refrains oder
Nesponsen im Chor, die ein anderer charakteristischer Zug russischer Volksmusik
sind, gleichviel ob sie von Bauern, Zigeunern oder Kosakcngesellschaften execu-
tire wird. Askoldowa Mogila ist also ein nationales Werk, und wenn wir be¬
greisen, daß die Habitues der italienischen Oper und der Petersburger philhar¬
monischen Concerte nickt allzuviel davon halten, so ist es doch von großem In¬
teresse für den Fremden, der Zwecke der Ethnographie verfolgt.
Baron v. Haxthausen hat in seinem sonst vielfach werthvollen Buch über
Rußland den Leichtsinn gehabt, zu behaupten, „das Grab Askolds" habe ihn
an „die Nachtwandlerin" und den „Freischütz" erinnert. Edwards sagt darüber:
„Ich sollte meinen, daß, wenn es an eine von den beiden Opern mahnte, es
ruckt wohl an die andere denken lassen konnte, da zwischen beiden keine Aehn-
lichkeit ist. Auch kann ich nicht begreifen, wie die Musik Werstoffski's irgend
Jemand entweder an Bellini oder an Weber erinnern kann. Dagegen würde
Werstoffski's letzte Oper „Gramoboi" dem Baron Haxthausen eher den Frei-
schütz zurückrufen können, da sich dieselbe auf eine Sage gründet, in welcher
Jemand seine Seele dem Bösen verkauft." Sonst hat freilich auch diese Oper
nichts von Webers Schöpfung. Das Werk erschien (1857) prachtvoll ausge¬
stattet auf der Moskaner Bühne und zog eine Zeit durch Costüme und Decora-
tionen an, hatte aber als Oper gar keinen Erfolg.*
Bekannt als Komponist ist auch Lwoff, dessen Lobgesang auf den Czar)
Nationallied geworden ist und als solches über die russischen Grenzen hinaus
Verbreitung gefunden hat. Man hat von ihm noch eine Anzahl Arien,
Duette, Phantasien und Psalmen, von denen ebenfalls manches im Ausland An¬
erkennung erlangte. Weniger bekannt wird sein, daß er die russische Kirchen¬
musik regulirte, vielleicht ebensowenig, daß er bei Gelegenheit verletzten Kaiser¬
krönung in Moskau statt der großen Trommel ein neues sehr wirkungsvolles
Instrument in der Musik einführte — die Kanone nämlich.
Die umfassenden Werte des Lehrers, der sich zugleich als praktischer Staats¬
mann bewährt, bestimmen den Abschluß einer alten, den Beginn einer neuen
Periode in der Behandlung der Staatswissenschaften und in ihrer Einwirkung aus
das öffentliche Leben. Seine Encyclopädie, seine Geschichte und Literatur der
Staatswissenschaften, seine „Monographien" über Staaisrecht, Völkerrecht und
Politik vergleichen wir den Leistungen der Gebrüder Grimm für unsere Sprache,
Von Gewinns für die Literaturgeschichte, von Macaulay für die Historie, von
Adam Smith für die Nationalökonomie. Sie wirken nicht durch eine massen¬
hafte Verbreitung, nicht durch die Vermittlung der Kritik. Sie bilden Lehrer
in Wort und Schrift, welche aus der reichen Quelle fleißig schöpfen und ihrer¬
seits wieder Tausende von Schülern heranziehen. Ihre Schätze werden Ge¬
meingut, und nur Wenige erfahren, woher es ihnen gekommen. Die gewöhn¬
liche Kritik wagt sich ungern an solche Werke, weil sie nickt die Muße hat, sie
gründlich durchzuarbeiten, und weil sie fühlt, daß ein oberflächliches Urtheil
hier nicht erlaubt ist. Auch wir verzichten auf eingehende Besprechung und
glauben, den Lesern der Grenzboten gerecht zu werden, indem wir sie einfach
auf ^diesen .neuesten Band aufmerksam machen.
Wie ist doch die Zeit vorangeschritten — so dachten wir, als wir das
.Buch gelesen — in der freien Uebung des Rechtes, die Wahrheit zu sagen!
R. v. Mohl bezeichnet sein Werk über Politik als einen Versuch, Erscheinungen
der Sagesgeschichte zur Gewinnung theoretischer Sätze zu benutzen. Hätte er
diesen -Versuch vor dreißig, vor zwanzig Jahren gemacht, er wäre von Amt und
Katheder entfernt, in eine höchst verdrießliche Untersuchung verwickelt, jedenfalls
unschädlich gemacht worden. Heute ist und bleibt R. v. Mohl Bundestags-
Gesandter; es ist möcht.die Rede von „Epuration", wie sie gegen seinen Lands-
MMfl, .den Bundestagsgesandter v. Wangenheim 1822 geübt worden; keine
Mainzer Eentrqluntersuchungs-Commission denunzirt seine „Politik" als einen
.der Zielen Vulkane, auf denen, nach ihren Jahresberichten, Deutschland sich zu
ängstigen pflegte. Im Gegentheile. Seine College» in Frankfurt, die Mini¬
ster und geheimen Räthe an den verschiedenen Sitzen deutscher Regierungen
dürfen das Buch nicht unbeachtet, ja kaum unbeherzigt lassen, wenn sie ferner¬
hin auf Bildung Anspruch machen wollen. Wer weiß, ob nicht einer oder der
andere von ihnen seinem Allergnädigsten Herrn das Buch als eine, zwar in
der Form vielfach anstößige und verletzende, aber doch höchst merkwürdige Lec-
türe empfohlen haben wird.
Es wäre eine leichte Aufgabe, für diesen ersten Eindruck aus dem Buche
Belege zu sammeln. Allein es würde ein einseitiges und darum unrichtiges
Bild geben, wenn wir die Geradheit und Offenheit der Sprache, die durch keine
Rücksicht gestörte Arbeit des Denkens nur in den Richtungen und Stellen aus¬
beuten wollten, welche dem großen Publicum das Vergnügen gewähren, sich an
Schwächen bevorzugter Klassen und ihrer Einrichtungen zu ergötzen. Für un¬
sern Zweck genug: es, hervorzuheben, daß in dem ersten Theile des Buches, der
allgemeinen Politik, besonders der Abschnitt über das Verhältniß des Staats
zur Kirche, sodann der ganze zweite Theil, die Justizpolitik, aus der Geschichte
die Lehren ziehen und zu einem System verbinden, welche eine moderne Staats¬
wissenschaft begründen. DaS Abgelebte, wovon wir bisher zu zehxen gewohnt
waren, wird an die Stelle gewiesen, an die es fortan gehört, in das Archiv
des historischen Materials; die zerstreut umher liegenden Elemente neuerer For¬
mation werden gesammelt und verwendet zum wissenschaftlichen Neubau. Wir
haben keine Compilation, sondern eine geistige Schöpfung vor uns. — Nicht
unvorbereitet aber wird der Leser in das neue Gebäude eingeführt. Zu seiner
Orientirung dienen die einleitenden „politischen Aphorismen". Wer irgend
einer politischen Partei angehört, wer sich an einem Hofe oder in einem Amte
bewegt, der wird, was er über andere Parteien und Berufskreise liest, mit Be¬
hagen, zuweilen mit Schadenfreude genießen; mit dem Urtheile über die eigene
Partei oder die Verhältnisse der eigenen Stellung wird er weniger einverstanden
sein. R. v. Mohl sagt eben Allen die Wahrheit, und zu allererst den politi¬
schen Parteien. Ihre Führer theilen sich in drei Klassen. Die Th eoretiker.
die Doctrinäre der Partei, geben der gemeinschaftlichen Forderung den bewu߬
ten Zweck und klaren Ausdruck — Burke, Bentham, Rotteck, Welcker, Stahl,
Haller, Görres, Philipps. — Praktische Staatsmänner suchen das im
einzelnen Falle Mögliche und Nützliche zu erreichen, indem sie sich auf die ihrer
Richtung zunächst kommende Partei stützen. Sie haben zuweilen nicht das
Vertrauen der Masse, haben viel mit den Doktrinären zu kämpfen, aber nur
durch sie wird etwas errungen — Pitt, Fox, Peel, Palmerston, Cobden, Gui¬
zot, Thiers, H. v. Gagern, Stüve, Römer, v. Radowitz. Endlich laute
Stimmführer, welche die Gedanken Anderer ausbeuten und auf die Masse
wirken — Robespierre, Danton, Robert Blum, Vogt, Simon. Jede Partei ^
bedarf zu ihrem Gedeihen der drei Arten von Führern. Doctrinäre und Wort¬
führer finden sich leichter, bedeutende Staatsmänner sind seltener. — Der libe¬
ralen Partei haben Tadelsucht, Geiz und Unentschlossenheit den Sieg ent¬
rissen; sie hat sich zu allen öffentlichen Angelegenheiten, auch gegen die eigene
Partei, überwiegend kritisch Verhalten. Bis 1848 war sie ein Menschenalter
in der Opposition gewesen, und ihre Führer, welche zur Regierung kamen,
wurden sofort beim Volke verdächtigt. Da sie ihre Fehler kaum ablegen
wird, so kann sie wohl eine starke Opposition bilden, aber schwerlich die
Regierung führen (Neue Aera in Preußen). Sie bleibt bei der Einführung
des constitutionellen Systems stehen, statt die Durchführung des parlamentari¬
schen Systems zu verlangen. Bei der demokratischen Partei bildet den inner¬
sten Kern die Leidenschaft zur negativen Freiheit; sie ist demgemäß auch antikirch-
lich und irreligiös. Roheit und unerträgliche Pöbelhaftigkeit gelten vielfach als
gleichbedeutend mit demokratischer Richtung. Viele wenden sich deshalb von
dieser Richtung ab, die Abneigung der Gebildeten hindert die Durchführung ihrer
Plane, sie wird daher auch in Europa nicht siegen. Der Unverstand der Reac¬
tion aber kann die liberale und die demokratische Partei vereinigen (Neuere
Wahlerlasse). Die katholische Partei gehört der neueren Zeit an. Sie war
in den vereinigten Niederlanden (Holland-Belgien) und ist in Irland mit natio¬
nalen Elementen gemischt; rein kirchlich ist sie zum erstenmale in dem modernen
Preußen aufgetreten und bildet in der Ständeversammlung eine unbehagliche,
bedenkliche, irrationale Größe. Eine protestantische Partei in katholischen
Staaten kann es nicht geben, weil sie kein auswärtiges Kirchenoberhaupt hat.
Die Protestanten werden dort in der Regel liberal sein. Einen bedeutenden
Factor bei einer politischen Bewegung in Deutschland bilden die Juden. In
Masse sind sie der Bewegung innerlich fremd, schließen sich aber um der Sicher¬
heit willen an. Ihre Literaten stehen auf der extremsten Seite (doch nicht alle),
sie sind boshaft, frech, weil sie sich noch als Unterdrückte, d. l>. ausgeschlossen,
von den Aemtern, fühlen. Das revolutionäre Element recrutirt sich stark aus den
Schulmeistern, welche' die schlechtesten Zeitungen versorgen (R. v. Mohl kennt
dies von Heidelberg her). Durch geringere Bildung (Regulative) und bessere
Stellung wird nicht geholfen; eher durch gesündere Bildung in den Seminaren,
durch landwirthschaftliche Kenntnisse und Grundbesitz. — Daß R. v. Mohl
der Frauen nicht gedenkt, daß er ihnen nicht ebenfalls die Wahrheit sagen mag
in diesem Umstände erkennen wir das einzige Zeichen zarter Rücksichtsnahme,
welches uns in dem Buche vorgekommen ist.
Der Abschnitt „Von Ständeversammlungen" behandelt die Fragen von
dem allgemeinen Stimmrecht. Wählbarkeit der Beamten, Zusammensetzung der
Kammern. Zweikammersystem und alle die Gegenstände, welche Bentham's par¬
lamentarische Taktik einer frühern Zeit, Niemand aber der Gegenwart so mei-
sterhast dargelegt hat. — Dann zeigt uns das Buch „die Machtelemente der
Monarchie." zunächst das persönliche Ansehen des Fürsten, die schwächste seiner
Stützen, welche indeß in Deutschland gestärkt werden könnte, wenn der Bund es zum
Grundsatz schöbe, schlechte Fürsten von der Regierung zu entfernen, wie den
Herzog Karl von Braunschweig. Ferner die Anhänglichkeit des Volkes an die
Monarchie als Einrichtung, die Gewinnung Einzelner durch, Belohnung, namens
lieh durch Orden, die zwar, wie uns gesagt wird, durch- die Menge entwerthet,
als Trinkgelder gegeben, doch immer noch brauchbar sind fü-r die Eitelkeit'. Dem
„Ordenswesen unserer Zeit" ist später ein eigenes- KapKel gewidmet, worin
unter Anderm geklagt wird: „Nicht blos das Unglück gibt, nach dem englischen
Sprichworte. einem Manne wunderbare Bettgesellen; sondern auch durch
Aufnahme in manchen Orden kann man verwunderliche Genossen erhalten, mit
denen man nicht gern am lichten Tage durch Coventry ziehen möchte." Das
Beamtenthum ist dem Verfasser eine zweifelhafte Stütze der Monarchie; es diene
gegen Rechte und Freiheiten des Volkes, aber nicht gegen Umwälzung oder
auswärtige Eroberung. Die Bevorzugung des Adels Wft wenig in der Noth.
Die Monarchie ist Stütze des Adels, nicht umgekehrt. R. v. Mohl ist Monar¬
chist und wünscht die Erhaltung der EinHerrschaft in Europa. Aber er kann
sich der Wahrnehmung nicht verschließen, daß das Princip seit einigen Men¬
schenaltern bedeutend verloren hat in Beziehung auf den Glauben an seine
innere Berechtigung. Er beschäftigt sich daher angelegentlich mit der Frage:
welche Maßregeln als passend erscheinen, dem erschütterten neue Stützen zu
geben, wenigstens dasselbe vor neuem Schaden zu bewahren. Dahin gehört
die Einführung des parlamentarischen Systems, welches Staatsmänner an die
Spitze der Ministerien bringen würde.
In Bezug auf die allgemeinen deutschen Verhältnisse hat der Versasser
keinen Glauben an den Erfolg der von den Regierungen ausgehenden Versuche
zur Bundesverbesserung. Die Mittelstaatcn wollen von ihren Souverainetäts-
rechten nichts abtreten. Das Vorhandensein zweier großer Mächte ist ein
unlösbares Hinderniß jeder einheitlichen Gestaltung, und doch sowohl die Unter¬
werfung der einen unter die andere, als die völlige Ausschließung einer von
beiden aus Deutschland ein halsbrechendes Unternehmen, dessen Versuch einen
dreißigjährigen Krieg zur Folge und doch schließlich kaum eine Aussicht auf Ev>>
folg hätte (S. 55). An einer andern Stelle aber, wo die Frage unter dem Ge¬
sichtspunkte der Vereinigung bisher getrennter Theile derselben Nationalität
Aufgefaßt wird und die schweren Hindernisse aufgezählt werden, gibt der Ver¬
fasser wenigstens so viel zu. daß die Sache, wie auch Beispiele zeigen,
unter Umständen möglich ist; allein es bedarf günstiger Verhältnisse und
einer weisen und thatkräftigen Benutzung derselben. Die Erklärung, Gut
und Blut zu setzen an die Herstellung der nationalen Einheit Muß Nicht
blos auf dem Papiere stehen, sondern ein furchtbar ernster Mtschluß' sein
(G. 354).
Wir wollen das Buch nicht beurtheilen, nur die Leser auf dasselbe auf¬
merksam machen. Für diesen Zweck mögen die wenigen Andeutungen genügen.
Bund und Bundesreform. Betrachtungen über die brennende Frage
d'er deutschen Gegenwart von einem ehemaligen Minister-'. München. Is«2
bei E. H. GuMmi. „Der Verfasser hielt es für unnütz, seinen Namen voran¬
zustellen" — aber er sorgt dafür, daß man ihn errathen kann, citirt seine
Gchriften und gibt sich außerdem als fleißigen Mitarbeiter der Augsburger
Allgemeinen und der Neuen Frankfurter Zeitung zu erkennen. Es ist der ge¬
schäftsgewandte, vielerfahrene, redefertige, schreibselige, stets gutgesinnte Fürst
Ludwig von Oettingen-Wallerstein. Was er über die „brennende Frage"
sagt, verdient mit Aufmerksamkeit gelesen zu werden; denn er gibt nicht nur
eine' staatsmännisch gefaßte Skizze von der Entstehung der Bundesacte und
dem Treiben des Bundestags, von der Stellung und den Beziehungen
des Bundeskörpers als festländischen Eentralblock zwischen und zu den peri-
pherischen Mächten, die ihm nicht Leben und Bewegung gönnen. Seine Auf¬
fassung der Bundesreformfrage dürfen wir als die äußerste Concession des
Particulakismus an das Bedürfniß stärkerer Einigung ansehen, zu welcher sich
ein' hochgebildeter, deutscbaesinnter bayerischer Beamter, d. h. ein wirklicher
Bayer, nicht etwa ein Franke, oder gar ein Pfälzer, zu erheben vermag. Da¬
nn liegt die eigentliche Bedeutung dieser Schrift, und wenn wir. diesen Um¬
stand erwägend, sie trauernd ause der Hand legen, so dürfen wir doch nicht" ver¬
gessen und nicht außer Berechnung lassen, was sie uns lehrt. Von einem
deutschen Bundesstaate kann hier natürlich nicht die Rede sein. Der Verfasser
beweist uns, daß wir ihn nicht brauchen, und, selbst wenn wir ihn brauchten,
daß wir ihn nicht haben tonnen, denn: der Wille ist zu schwach, die Hinder¬
nisse sind zu stark, die „peripherischen'' Mächte würden ihn nicht dulden, jeder
Versuch, ihn zu bilden, ist mißi'ungen und wird mißlingen. Und endlich —
nur kömmt die gemüthliche Seite: „sicher ist es. selbst in den Augen der so
viele ächte Patrioten zählenden Kleindeutschen ein nie da gewesener Act extrem¬
ster und schmerzlicher Verzweiflung, wenn eine große Nation aus freiem An¬
triebe nahezu vierzehn Millionen biederer, intelligenter, größtentheils für das
gemeinsame Vaterland warm fühlender Angehöriger aus dem Vaterhause aus¬
weist, um für die Uebrigen eine kräftigere Haltung zu gewinnen." Die Schwie¬
rigkeiten einer bessern Einigung Deutschlands, und die Fruchtlosigkeit der bis¬
herigen' Versuche, fie zu überwinden, sind leider nnr zu wahr,- aber sie bewei¬
sen eine Unmöglichkeit hier ebenso wenig als bei anderen schwierigen Gestal-
tungen, die nrir so lange unmöglich gewesen, bis sie wirklich geworden sind,
weil sie nothwendig waren. Nothwendig aber erscheint der deutsche Bundes-
Staat den denkenden Deutschen mehr und mehr; ohne ihn bleibt die Wahl nur
zwischen dem Einheitsstaate oder dem Untergange des -Vaterlandes. — Wahr¬
haft kindisch aber ist für einen gewiegten Meister in Staatsgeschäften das Ge¬
heul über die angebliche Ausweisung von vierzehn Millionen biederer Oestreicher
aus dem Vaterhause. Aus dem Vaterhause, welches die Bundesacte uns er¬
baut hat, wollen wir die Oestreicher nicht vertreiben; sie aber wollen in kein
anderes, und wollen den übrigen Deutschen auch nicht gestatten, sich in dem
großen Hause wohnlich einzurichten, wie sie selbst es in ihren Räumen ver¬
suchen. Das ist unbillig und kann nicht lange mehr ertragen werden. In
diesem Augenblicke will Oestreich uns verbieten, mit den übrigen Nationen des
Festlandes freier zu verkehren, weil es ihm nicht gefällt ebenso mit uns und
mit den anderen zu verkehren, und weil es besorgt, daß es uns dorn nicht so
leicht mehr für seine fremden Zwecke werde ausbeuten können. In diesem
Augenblicke geht der Finanzausschuß in Wien mit dem Antrage vor, den
Gläubigern des Staates — leider gibt es deren Viele unter uns — künftig
'/--> statt an den vertragsmäßig bedungenen Zinsen abzuziehen. Die
einfachste Art der Convertirung! —Hier wird nicht, wie es sonst üblich, und
wie die Stümper Fould und v. d. Heydt noch jüngst gethan, den Gläubigern
die Wahl gelassen, ob sie sich mit weniger Zinsen begnügen, oder ihr Capital
zurück empfangen wollen. Nein — man verkürzt ihnen die vertrags¬
mäßigen Zinsen, gibt ihnen statt 5 nur 4"/- Procent, nennt dies — Ein¬
kommensteuer und damit Punctum!
Genug davon. Der erlauchte Verfasser hat ein Programm für seine Bun-
desreform. das Zusätze und Auslegungen bei einzelnen Artikeln der Bun¬
desacte fordert, welche diesem völkerrechtlichen Vertrage ein wesentlich anderes
Aussehen geben würden. Statt der „gemeinnützigen Bundestinrichtungen"
in Art. K, soll die „Pflege und größtmögliche Förderung des geistigen Lebens
sowohl als der materiellen Wohlfahrt der deutschen Nation" in Art. 1 unter
die Bundeszwecke aufgenommen werden. Den Artikeln 2, 6, und 9 hänge
man an; eine Executivgewalt gebildet aus den Gesandten von Oestreich, Preu¬
ßen und einem Vertreter der übrigen Bundesstaaten, ein deutsches Parlament
aus Mitgliedern der Landeskammern zur Mitwirkung bei Gesetzen und ge¬
meinnützigen Anordnungen, dann mit dem Rechte der Wünsche und Anträge.
Aus Artikel 7 streiche, man das Erforderniß der Einstimmigkeit und setze an
dessen Stelle die einfache, höchstens Zwei-drittel-Majorität. Den Artikel 12 be¬
reichere man mit einem obersten Bundesgerichte. Im Artikel t3 interpretire
man die „landständischen Verfassungen" im Sinne des constitutionellen Systems
und verpflichte man sich, liberale Verfassungen und Gesetze in den Einzelstaaten
künftig ungeschoren zu lassen. Die im Artikel 18 ä verheißene Preßfreiheit
schütze man vor Censur und Polizei in allen Einzelstaaten.
Gemeinnützige Anordnungen, constitutionelles System und freie Presse sind
gute Dinge. Oestreich, Preußen und die meisten deutschen Staaten haben sie
dem Bundestag vorweggenommen. Sobald Oestreich, Preußen und die Mittel¬
staaten sich dazu verstehen, drei Gesandte in Frankfurt als Träger der deutschen
Centralgewalt mit weiten Vollmachten auszustatten, um die Beschlüsse einer
einfach-en Majorität des Bundestages überall zu vollziehen: dann wird der
Bundestag wohl auch keinen Anstand nehmen, die Borschläge des Herrn Für¬
sten zu sanctioniren und die bayerische Trias herzustellen. Wir schwärmen
nicht für diese Einrichtung. Wie die Dinge liegen, würde die Majorität den
Herrn Grafen Rechberg, v. d. Pfordten, v. Beust. v. Borries, v. Hügel,
v. Dalwigk, Hassenpflug u. s. w. zufallen, die wir von ihrer starken Seite
nicht eben als Garanten des constitutionellen Systeme, liberaler Institutionen
und der Preßfreiheit haben kennen lernen. Aber — wie wäre es, wenn die
Würzburger unter sich das Experiment mit der Trias und dem Kammern-
Parlament machen wollten? Nur zur Probe, um zu erfahren, ob es für ganz
Deutschland Paßt oder nicht.
In der frühern Berliner Börsen- und Schwindelliteralur, als Lvhnredner
bei Generalversammlungen, hat sich der Verfasser einen Namen gemacht, für
den es kein Unglück wäre, wenn er vergessen würde. Hat vielleicht ein leicht¬
sinniger Magyare gewähnt, durch vorliegende Schrift die Besitzer von
Metalliques und National-Anleihe in das ungarische Lager zu treiben,
so hat er vergebliche Opfer gebracht. Die östreichischen Finanzen können
sich nicht erheben, bevor Ungarn versöhnt ist. Ungarn versöhnt sich nicht,
bevor ihm gewährt wird, was Hr. Deal verlangt. Weiter liegt nichts drin.
Von ganz anderem Werthe ist eine in Paris bei Amyot unlängst erschienene
Schrift: Lolntion Ah 1a ciise nonAroisv aus der Feder des Ritters Debrauz.
der seit länger als dreißig Jahren in Paris für Oestreich wirkt. Sein östrei¬
chischer Patriotismus heißt ihn Gerechtigkeit für Ungarn verlangen. Seine
Vorschläge beginnen mit einem Krönungs-Landtage und Ernennung eines Pa¬
ladin, der den Ungarn angenehm ist (Erzherzog Maximilian). Die Wiener
offiziöse Presse hat zwar erklärt, daß die Schrift nicht den Gedanken der Re¬
gierung wiedergebe, die Schrift verliert jedoch dadurch nicht entfernt an ihrem
Werthe.
Auf keinem Gebiete der Wissenschaften macht sich wM 5>e.r gxün.bliebe
Verfall und die gänzliche Verkommenheit der -eigentlichen.Fstrschpyg während
der ruhelosen Zeiten des 'Mittelalters .so .grell und auffallend geltend, wie auf
dem >Geviote der wissenschaftlichen Medicin. Ermißt.man die großen Fort¬
schritte, .welche -das Alterthum bereits Auf diesem Felde gemacht hatte, und da¬
gegen die lange -Zeit, -welche verfloß, .ehe man nur wieder da anlangte, wo die
Alten stehen geblieben waren, so begreift man kaum, wie ein solcher Rückschritt
möglich wurde. Denn -in ,d.er That harren die Griechen nickt blos in d,er
Philosophie, wie.dies allgemein anerkannt ist, sondern ques in allen denjenigen
Fächern, welche zunächst.nur eine r.ein.e und unbefangene Beobachtung zu ihrer
Begründung voraussetzen, also in der Mathematik, in den Naturwissenschaften,
und ganz besonders in der Medicin nach allen Richtungen hin den Grund
für eine wahrhaft .wissenschaftliche Bearbeitung vorbereitet; ja sie hatten den
Aufbau-der.empirischen Wissenschaften in so .glänzender Weise begonnen, daß
es sich noch heute d.er Mühe lohnt, ihren Wegen .nachzugehen. Freilich wächst
heutzutage die Masse des zu bewältigenden Materials so rasch, es vervielfälti¬
gen-sich ,ti.e mechanischen.Hilfsmittel der Beobachtung alljährlich so sehr, daß
die -meisten Bearbeiter über der Fülle des Stoffs den Sinn für reine historische
Behandlung einbüßen und über den oft engen Kreis ihres Beobachtungsseldes
kaum hinausschauen. .So sehr nun dadurch der Fortschritt im Einzelnen ge¬
fördert -wird., .so ,d,.ars doch der Zusammenhang der Einzelforschung mit der
gesammten Bildung des menschlichen Geschlechts nicht ohne Gefahr aus dem
.Auge verloren werden, und ein solcher wird stets durch die historische Betrach¬
tung am besten vernuttelt. Aber auch für die Zukunft der Wissenschaft hat
diese Betrachtungsweise ihre erhebliche Bedeutung. Bedenkt man nämlich wie
nach der Blüthe >de.s classischen Alterthums ein Stillstand von nahezu anderthalb
Jahrtausenden einzutreten vermochte: so drängt sich ganz natürlich neben der
Frage, wodurch ein solcher Verfall bedingt wurde, die auf, ob wir nicht selbst ein¬
mal einer solchen gänzlichen Umkehr der Wissenschaften von Neuem entgegen¬
gehen können. Diese Fragen für das Gebiet der wissenschaftlichen Medicin
etwas -näher zu erörtern, ist der Zweck der vorliegenden Untersuchung.
Abgesehn von denjenigen Ursachen, welche ziemlich gleichmäßig alle Wissen¬
schaften trafen und sie auf eine kümmerliche Fristung ihrer Existenz in den
Klosterschulen zurückdrängten, lag die Ursache des/Verfalls der Medicin vorzugs¬
weise in der gänzlichen Vernachlässigung der Anatomie. Ehe an den Ausbau
wissenschaftlicher Theorien gedacht werden kann, handelt es sich in allen empi-
rischen Wissenschaften zunächst um die Beobachtung und Feststellung der Er¬
scheinungen. Solche sind aber ohne eine genaue Kenntniß der Körper, an
welchen sie sich vollziehen, gar nicht zu verwerthen. Da nun die Kenntniß der
einzelnen Organe der Untersuchung ihrer Thätigkeiten, diese der Untersuchung
der Störungen, welche die Functionen erleiden können, vorausgehen muß, so ist es
klar, wie die Anatomie die eigentliche Basis aller wissenschaftlichen Forschungen
im Gebiete der Medicin sein soll. So lehrt denn in der That die Geschichte,
daß die Fvrscbrittc der Medicin stets an die Fortschritte der Anatomie geknüpft waren,
und daß diejenigen Zeitalter, welche sich keiner anatomischen Entdeckungen zu
rühmen vermochten, auch fruchtlos für die wissenschaftliche Forschung in der
Medicin geblieben sind.
Wie die Physiologie auf der normalen, so ruht die Pathologie auf
der pathologischen Anatomie. Beide gehen aus das Innigste Hand in
Hand. Wenn aber anatomische Untersuchungen in ihrer Ausübung viel¬
seitig von dem Glauben und Aberglauben der Völker abhängen, so ist es
kein Wunder, daß gerade im Mittelalter alle Ursachen zusammentrafen, um solche
Untersuchungen zu unterdrücken. Eine Wissenschaft, die mit der Schärfe des
Messers die Schärfe des Gedankens controlirt, weiche die Nebel des Glaubens
und der Meinungen zu festen Anschauungen verdichtet, fand vor allen eifrige
Widersacher in Zeiten, in welchen der dunkle Drang nach einer gemüthlichen
Erregung alle Welt beherrschte. Die Anatomie, die wichtigste Grundlage der
Medicin, wurde im Mittelalter auf die dürftigsten Behelfe beschränkt. Dazu
kam eine andere nicht minder wichtige Ursache. Keine Erfahrungswissenschaft
kann sich ohne Gefahr dem Glauben an eine andre Autorität als die der Be¬
obachtung hingeben. Der Autoritätsglaube, indem er die eigne Untersuchung
überflüssig erscheinen läßt, greift die empirischen Wissenschaften an ihrer Wurzel
an und unterbindet ihnen d>e> Lebensadern. Ganz besonders gefährlich wird
er, wo, wie in der Medicin, die für die Wissenschaft förderliche Beobachtung
sehr complicirte Voraussetzungen hat; wo die Beobachtung am Krankenbette
erst ihre richtige Stellung erhält durch die Untersuchung an der Leiche. In der
Medicin haben von jeher alle apriorische» Theorien, alle spekulativen Systeme
den Fortschritt gehemmt, weil sie, der Bequemlichkeit eine willkommene Stütze,
die eigne Untersuchung überflüssig erscheinen ließen, und ohne Weiteres die
Beobachtung zu verwerthen gestatteten, ohne daß man sich die Mühe zu geben
brauchte, die Beobachtung selbst zu controliren. Gerade die Herrschaft eines
solchen Systems bedingte nächst den genannten Ursachen den Verfall der
Medicin im Mittelalter.
Das System Galens, des berühmten Arztes von Pergamos, war
vor allen andern dazu geeignet, zur Alleinherrschaft zu gelangen, weil es
für jede Frage eine Antwort bereit .hatte und in einer eleganten und
faßlichen Form die Hippvkratische Medicin der großen Masse zugänglich
machte. Wie die Hippokratit'er suchte Galen in einer Verderbniß der Säfte
die vorzüglichste Ursache der Krankheiten. Wie Hippokrates lehrte Galen,
die Körperwelt entstehe aus den vier Grundstoffen Feuer, Luft, Wasser
und Erde, denen im thierischen Leibe das Blut, der Schleim, die schwarze
und die gelbe Galle entspreche, aus welchen sich der Körper zusammenfege
und deren Mißverhältniß die Krankheiten erzeuge. Eine so grundlose Theorie,
welche Aussonderungsproducte von so verschiedenem Werthe zu Grundstoffen
erhebt, und sie mit ebenso schlecht bestimmten Elementen identificirt. welche
noch dazu untergeordnete Zustände eines dieser vermeintlichen Grundstoffe (wie
die schwarze und gelbe Farbe der Galle> eine Rolle spielen läßt, die ihnen
nie zukommen kann, bedarf heutzutage keiner Widerlegung-. Wenn dieselbe
aber in den Hippokratischen Schriften neben den vorzüglichen und für alle
Zeiten musterhaften Schilderungen der einzelnen Krankheiten herlief und die¬
selben unter allgemeinere Rücksichten verband, so übte sie doch auf die prak¬
tisch therapeutische Richtung keinen wesentlichen Einfluß. Die Hippokratiker
betrachteten die Medicin als eine Kunst. Zur Wissenschaft wurde sie erst nach
der Einführung der Anatomie durch die Alexandriner. Wenn daher später
Galen trotz der ungeheuren Fortschritte, welche die Medicin an der Hand der
Anatomie gemacht hatte, auf das humoralpathvlogische System des Hippokrates
zurückging, so war der Rückschritt um so verderblicher, als er die Anatomie
wieder zur Nebensache herunterdrückte. Das Galenische System hat, trotzdem
Galen als der vorzüglichste Lehrer der Anatomie das Mittelalter hindurch galt,
doch die Anatomie in eine untergeordnete Stellung hinabgedrängt, sie als eine
Nebensache behandelt, und so die Möglichkeit des Fortschritts aufgehoben, weil
es die Krankheiten in den Säften suchte und auf die Organe selbst keine Rück¬
sicht nahm. Für ein solches System ist die Anatomie nur dazu da, dre Kennt¬
niß des'Körpers und seiner Theile zu erleichtern, nicht aber die Krankheiten
in ihrer Quelle auszusuchen und die krankhaften Veränderungen der Organe zu
studiren. Von einer pathologischen Anatomie ist daher bei Galen so wenig
wie bei den Hippvkratitern die Rede. Dazu kommt, daß Galen bei seinen
anatomischen Untersuchungen, die für mehr als ein Jahrtausend maßgebend
blieben, sich vorzugsweise mit Affen begnügte, indem er selbst erklärte, die
Alexandriner hätten die Uebereinstimmung der Menschen in ihrem anatomischen
Baue mit den Affen hinreichend dargethan; man könne sich deshalb füglich auf
die Untersuchung von Affen beschränken. Auf diese Weise wurden eigne For¬
schungen zuletzt ganz unnöthig; Galen hatte ja den anatomischen Bau so gut
und klar beschrieben, er hatte die Ergebnisse der Alexandriner, wie man glaubte,
so trefflich benutzt, daß scheinbar nichts hinzuzufügen blieb. Daß die Affen
in ihrem Baue sehr wesentliche Verschiedenheiten vom Menschen zeigen, ahnte
man nicht, und bei dem Mangel aller eignen Untersuchungen konnte man
natürlich auch über das ,Wesen der Krankheiten keine Aufschlüsse gewinnen.
So ward die Anatomie des Galen gar bald wie ein unerschütterliches Dogma
behandelt, der Irrthum ward geheiligt, jeder Einspruch galt als Frevel, Und
die eigne Untersuchung wurde so unselbständig, daß man etwaige Abweichungen
von den Lehren Galens lieber als Selbsttäuschungen ansah, als sich durch sie
zu weiterer Forschung anleiten ließ.
Dennoch hatte bereits im Alterthume die Anatomie eine sechr fruchtbrin¬
gende Richtung eingeschlagen. Neben der blos beschreibenden Anatomie, welche
den normalen Bau des Körpers betrachtet, hatten schon die Griechen, ,und
zwar in viel weiterem Umfange als man gewöhnlich glaubt, die pathologische
Anatomie betrieben und ausgenutzt. Man hatte gar bald Veränderungen in
den Organen kennen gelernt, welche wichtige Aufschlüsse über die Krankheiten
gaben und mit ihnen schon vielfach eine überraschend klare Einsicht gewonnen.
Daß bei den alten Völkern überhaupt die Scheu vor Allem, was mit dem
Tode zusammenhing, den anatomischen Untersuchungen hemmend entgegentrat,
ist bekannt genug. Vielen galt die Beschäftigung mit der Leiche für unrein,
und bei den Juden wie bei den Aegyptern heiligten eigene Gesetze diese Auf¬
fassung. Man sollte meinen, daß bei den Aegyptern die Einbalsamirung der
Leichen den anatomischen Studien günstig gewesen wäre, nichtsdestoweniger
waren ihre Kenntnisse vom inneren Baue des Menschen ebenso roh, wie die
der übrigen Völker, welche gewöhnlich aus dem Baue geschlachteter Thiere auf
den menschlichen zurückschlossen. Nur bei jenem wunderbar begabten Volke,
welches aus allen Gebieten des Wissens stets allen andern voranleuchten wird,
bei welchem das Bedürfniß nach klarer Anschauung ebensosehr überrascht wie
die Schärfe des Gedankens und die männliche Intensität der Empfindung,
überwand der Drang nach , wahrer Wissenschaft frühzeitig die Scheu vor der
Leiche, eine Scheu, die, zunächst durch den Anblick der entseelten Hülle erregt,
zwar nicht angeboren, aber um so leichter atterzogen und genährt wird durch
die Widerwärtigkeit der Verwesung. Der Irrthum, welchen zuerst Welcker, der
gewiß wie kein Andrer mit feiner Anempsindung in den Geist des classischen
Griechenthums eindrang, aussprach, es sei ganz Unmöglich, daß Aristoteles
menschliche Leichen untersucht habe, weil dies unvereinbar sei Mit der gesamm-
tM innern und äußern Religion, mit der Gefühlsweise und den Sitten des
griechischen Alterthums — ist jetzt hinreichend widerlegt. Schon vor Aristote¬
les muß Man menschliche Leichen anatomisch untersucht haben, und wenn die Ana¬
tomie zu Alexandrien in einer sehr ausgedehnten Weise geübt wurde, so muß
sie noch zuo römischen Kaiserzeit eine gewisse Popularität gehab? haben. Be¬
sitzen wir doch aus der letztere« in Marmor nachgebildete anatomische Präpa¬
rate, nicht blos von SketetHeiten, sondern selbst von inneren Organen. Im
Vatican befindet sich die Nachbildung eines kunstgemäß geöffneten Brustkastens,
in welchem man die zwei Flügel der linken, die drei der rechten Lunge erblickt;
zwischen ihnen sieht man das Herz, darunter das Zwerchfell und die mehr¬
lappige Leber: eine Darstellung, die nur nach einem menschlichen Präparate
angefertigt sein kann, und aus welcher sich schließen läßt, daß die Alten die
Eröffnung der Brusthöhle gerade so vornahmen, wie wir. Diese und ähnliche
Mcmnorbilder und Terracotten, welche zum Theil sehr gut nachgebildete Körper-
theile vorstellen, wurden, wie noch heutzutage an vielen Wallfahrtsorten, z. B.
in Kevelaer, freilich mit schlechten Wachsbildern, geschieht — als Votivbilder in
den Tempeln aufgestellt.
Daß die Hippokratiker nicht blos an Thieren die Anatomie erlernten, son¬
dern wie auch Aristoteles menschliche Leichen zergliederten, ist aus zahlreichen
Schriften zu erweisen, wiewohl keine der letztern ausschließlich der Anatomie
gewidmet war, sonder» die Beschreibung der Organe gelegentlich in den übrigen
Inhalt verwebt wird. Obwohl schon bei Hippokrates die Ansicht ausgesprochen
ist. daß die Anatomie ihren wahren Werth erst durch die Beobachtung der Ab¬
weichungen in der Gestalt und der Lage der Organe erhalte, so hatte dieselbe
doch nur geringen Einfluß, da die Hippotratische Medicin zunächst und vor
Allem eine Kunstübung war. für welche die Beobachtung der Krankheiten und
die Erkenntniß der Heilanzcigen den Mittelpunkt der ärztlichen Thätigkeit bil¬
dete. Zudem aber war jene humoralpathologische Doctrin. welche die Krank¬
heiten von abnormen Säften ableitete, ein wesentliches Hinderniß der Erforschung
der localen Erkrankungen. Wie überall vergaß die Humoralpathologie, daß
kranke Säfte nothwendiger Weife nur aus kranken Organen entstehen können; trotz
ihrer Unrichtigkeit hat sich freilich tue Hippokrattsche Auffassung bis auf unsre
Tage erhallen und spielt namentlich bei den unvollkommnen Theorien, welche
sich die Laien über die Entstehung der Krankheiten zu bilden lreben, eine große
Rolle. Die Verdienste der Hippokratischen Medicin liegen übrigens auch weit
weniger in ihren Theorien, als in der Diagnostik und Therapie.
Eine umfangreichere Anwendung der Anatomie auf die Praxis finden wir
bei der alexandrinischen Schule. Wenn auch unzweifelhaft feststeht, daß Hippo¬
krates und seine Schüler mitunter auch menschliche Leichen zergliederten, so
waren doch ihre anatomischen Kenntnisse immerhin sehr unvollkommen. Am
besten kannten sie begreiflicher Weise den Knochenbau, weniger richtige An¬
schauungen hatten sie vom Gefäßsystem, wobei ihnen namentlich die im ganzen
Alterthume sehr verbreitete unrichtige Deutung der Schlagadern, die man.
weil dieselben in der Leiche gewöhnlich blutleer gefunden werden, für luftfüh¬
rende Kanäle stielt, im Wege stand, und ebenso von dem Nervensystem. Wie
dies noch heute von den Laien vielfach geschieht, verwechselte man die Nerven,
die Leiter der Empfindung und Bewegung, ihres glänzenden weißen Ansehens
wegen mit den Sehnen, den fasrigen Ansätzen der Muskeln an die Knochen-
Auch von den eigentlichen Eingeweiden hatten die Hippokratil'er nur unvoll-
kommne Begriffe. Erst mit der Gründung der Akademie (des Museums) zu
Alexandrien durch die Ptolemäer gelangte die Anatomie gegen den Anfang
des zweiten Jahrhunderts vor Christus zu ihrer eigentlichen Bedeutung. Hier
wurde zum ersten Male die Anatomie systematisch an menschlichen wichen be¬
trieben und gelehrt. Wie groß das Interesse für diese Wissenschaft war. geht
schon daraus hervor, daß die Ptolemäer selbst an den anatomischen Unter¬
suchungen Theil nahmen; ja der Eifer steigerte sich so weit, daß man sich nicht
scheute, verurtheilte Verbrecher noch lebend anatomisch zu untersuchen — eine
Verirrung. die nicht wenig dazu beigetragen hat, daß die anatomischen Studien
von den Lehrern des Christenthums als ein heidnischer Greuel verschrieen
wurden. Freilich soll schon der Maler Parrhasius einen Kriegsgefangenen als
Modell des vom Adler zerfleischten Prometheus benutzt haben, und Aehnliches
wird sogar von Michel Angelo in Bezug auf ein die Kreuzigung Christi dar¬
stellendes Gemälde erzählt, wogegen denn freilich der wissenschaftliche Eifer der
alexandrinischen Anatomen noch eher entschuldbar erscheint. Unter den letzteren
sind es vor Allen zwei berühmte Anatomen, welche sich unsterbliche Verdienste
erwarben: Herophilus und Erasistratus, berühmt durck die Entdeckung der
Bedeutung des Nervensystems, des Baues des Gehirns und Rückenmarks, des
Zusammenhangs der Blut- und Schlagadern, der Lymphgefäße und des Baues
'des Auges. So groß indeß die Verdienste des Herophilus und Erasistratus
um die beschreibende Anatomie waren, so können wir aus den vorhandenen
Fragmenten, noch mehr aber aus der Einwirkung d'er alexandrinischen Schule auf
die Fortentwicklung der Medicin doch nur schließen, daß sie die Anatomie nur
gelegentlich auch in Bezug auf die krankhaften Veränderungen, welche sie an
den Organen zeigte, ausbeuteten oder die topographischen Kenntnisse in der
Chirurgie verwertheten. So wissen wir, daß Herophilus die Zurückhaltung
des verrenkten Oberschenkels besonders deshalb für schwierig hielt, weil bei der
Verrenkung das runde Band zerreiße. Er muß also solche Verrenkungen doch
anatomisch untersucht haben. Die hierüber hinausgehenden Behauptungen,
welche Celsus den Anhängern des Astlepiades zuschreibt, wurden von diesen
wohl mehr behufs ihrer eigenen Vertheidigung den Alexandrinern beigelegt, als
dies in Wahrheit geschehen konnte. Denn im Ganzen herrschte in Alexandrien
wie im gesammten Alterthume vorzugsweise die Hippokratische dynamistische
Lehre vor. Es war dem Einflüsse der Philosophie, die so vielfach die weitere
Entwicklung anderer Wissenschaften im Alterthume bestimmte, vorbehalten, eine
ganz entgegengesetzte Richtung, welche ungemein fruchtreich hätte werden können,
anzubahnen. Die uralte von Demokrit und Epikur weiter ausgebildete Ato¬
menlehre wurde von einem der scharfsinnigsten Aerzte des Alterthums, Asklepia-
des von Bithynien. zuerst auf die Medicin übertragen. Asklepiades ging von
dem Grundsatze aus, daß die Materie eben so wie sie ewig und unzerstörbar sei.
an sich nicht erkranken könne; nur aus einer abweichenden Zusammensetzung
der Atome gehe die Krankheit hervor; vorzugsweise durch ein Mißverhältniß
zwischen den strömenden Atomen und ihren Wegen werde sie bedingt; und
namentlich wenn die Atome wegen ihrer Größe, ihrer Gestalt, ihrer Menge
in Stillstand oder schnellere Bewegung geriethen, oder wenn die Wege zu weit
oder zu eng. zu zahlreich oder zu selten werden, sei ein Anlaß zur Er¬
krankung gegeben; die Säfte selbst könnten aber keine näheren, sondern nur
fernere Gelegenheitsursachen der Krankheiten begründen. Indem also Askle¬
piades und mit ihm die Schule der Methodiker in der Synkrise der Atome
die Krankheitsprincipien erblickten, traten sie der dogmatischen Auffassung, die
besonders durch die Platonische Philosophie gestützt wurde und nach einem gei¬
stigen Principe, dem man den Namen des Pneuma beilegte, suchte, entgegen
und begründeten sie zuerst die solidarpathologische Auffassung, welche nothwen¬
diger Weise auf die Erforschung der localen Erkrankungen hinführte. Das Feste
sei das eigentlich Kranke, erst aus den Leiden einzelner Organe entständen die
kranken Säftemischungen. So Mußte man sich, ganz wie dies heutzutage als erstes
Erforderniß einer wissenschaftlichen Auffassung der Medicin gilt, aus die Unter¬
suchung der kranken Organe selbst verlegen, da diese den ersten und greifbarsten
Aufschluß über die so unsicheren und so sehr von der suvjectiven Auffassung
der Kranken abhängigen Symptome geben. Wenn man nicht weiß, was da '
leidet, wenn man die Veränderungen nicht kennt, welche die Krankheit in einem
Organe bewirken kann, so kann man auch die Krankheit nicht richtig behan¬
deln. Die Leichenuntersuchung ist daher für den Arzt die wichtigste Erkenntni߬
quelle, und es ist sehr zu bedauern, daß die Scheu des Publicums vor den
Obductionen mock so vielfach diese zu verwerthen den Aerzten versagt, während
doch das größte Interesse der Leidenden die Fortschritte der Wissenschaft auf
alle Weise zu befördern empfiehlt. Auch in andern Beziehungen trat Asklepia¬
des reformatorisch auf, wie er denn zuerst der Hippokratischen Theorie von den
Krisen und der vermeintlichen Heilkraft der Natur ganz consequent entgegen,
trat; lehrte er doch die ketzerische, aber nichtsdestoweniger richtige Ansicht, daß
die Natur gar nicht selten den Krankheitsverlauf durch Uebermaß der Krisen
störe und dadurch anstatt zu nützen schade.
Aus dem Gesagten wird es leicht begreiflich, wie sine derartige Auffassung
der Medicin nothwendig auch der Anatomie außer der bloßen Kenntniß der Or¬
gane die viel tiefer gehende Aufgabe stellen mußte, die krankhaften Veränderun¬
gen zu untersuchen. Niemand, so läßt Celsus die Asklepiaden lehren, könne
die Krankheiten erkennen, der die inneren Theile nicht selbst kenne. Es sei ba-
se>r nothwendig, todte Körper zu öffnen und zu besehen. Vortrchlich hätten
demnach Herophilus und Erasistratus gehandelt, welche selbst' Vivisectionen
anstellten, um die Lage, Farbe, Gestalt, Größe, Ordnung, Härte, Weichheit,
Glätte oder Rauhigkeit, Verschrumpfung, Verlängerung und Verkürzung ein¬
zelner Theile genauer zu untersuchen. Derjenige, welcher die Lage der Gin¬
geweide nicht genau kenne, könne bei einem Schmerze in inneren Theilen so
wenig wissen, was eigentlich schmerze, als derjenige eine Krankheit heilen könne,
der keine Kenntniß derselben habe. Ja selbst der Chirurg bedürfe der Kennt¬
niß der inneren Organe zur Heilung der Wunden, um etwa vorgefallene Theile
nicht mit anderen zu verwechseln. Solchen Anforderungen gegenüber erklärten
freilich die Empiriker die Untersuchung der verborgenen Sitze der Krankheuen
für überflüssig, weil die Natur unbegreiflich sei, wie sich am besten aus der
Uneinigkeit der bedeutendsten Aerzte ermessen lasse; warum solle man dem Hip-
pokrates mehr glauben als dem Herophilus. warum diesem mehr als dem As-
klepiades? Wolle man der Theorie folgen, so lasse sich eine jede Theorie wider¬
legen; frage man nach den Erfolgen, so hatten die Einen wie die Andern glück¬
liche Heilungen erzielt; und somit könne lediglich die Erfahrung, was nütze
oder schade, entscheiden; selbst bei unbekannten Krankheiten brauche man nicht
über die verborgenen Ursachen zu grübeln, sondern habe nur die Arzneien zu
versuchen, die in ähnlichen Krankheiten geholfen hätten. Die Anatomie nütze
der Therapie ja doch nichts; in der Leiche sei es nicht so wie im lebenden
Körper, und die nöthige Kenntniß vom Baue des Leibes könne man gelegent¬
lich bei Verwundeten und Todten bei Schlachten und Kämpfen sich erwerben.
Die Leichenuntersuchung, die dazu noch schmutzig und widrig sei, könne man
daher völlig entbehren und zur Erlernung der (dcscriptiven) Anatomie bedürfe
es nicht der Zerfleischung der Gestorbenen.
Glaubt man nicht in diesen nichtigen Einwänden, welche die Bequemlich¬
keit stets gegen die wissenschaftliche Untersuchung vorbringen wird, die Reden
unsrer heutigen Erfahrungsheilkünstler, Homöopathen und Quacksalber wieder
zu erkennen? Heutzutage freilich gilt es nicht mehr die grobe Anatomie, die
man des Anstandes wegen schon gelten lassen muß, sondern man richtet die¬
selben Angriffe gegen die feinere histologische Untersuchung und erklärt diese
für die eigentliche Medicin, für die Praxis, für die Behandlung für gerade so
nutzlos, wie dies von den Empirikern vor 1800 Jahren mit der Anatomie über¬
haupt geschah; dennoch wurde die Auffassung der Empiriker bald die verbreite-
tere, und man erkannte in der Anatomie nicht viel mehr als eine nützliche
Hilfswissenschaft, von welcher man über die Krankheiten selbst sich keine Auf¬
schlüsse versprach.
Dennoch waren die Forderungen des Ast'lepiades nicht fruchtlos gewesen, und.
wenn wir auch von ihm selbst keine Schriften besitzen, welche den segensreichen Ein¬
fluß der pathologischen Anatomie aus die Diagnostik und Therapie zu beweisen
im Stande wären, so können wir aus mehren seiner Nachfolger, namentlich aber
aus einem der merkwürdigsten ärztlichen Schriftsteller des Alterthums, den wir
geradezu, was Klarheit und Schärfe der Darstellung anlangt, zu den vorzüg¬
lichsten zählen, den Beweis führen, daß die pathologische Anatomie bereits im
Alterthume einen sehr hohen Grad von Ausbildung erlangt hat. Es ist einer
jener stets wiederholten Irrthümer, wenn man mit den Meisten annimmt, die
Anatomie habe nur zu Alexandrien unter den ersten Ptolemäern eine kurze Zeit
der Blüthe gehabt. Aus den Schilderungen des Aretaeus geht klar hervor,
daß man noch in viel späterer Zeit Leichen und zwar nicht blos zu Zwecken
der beschreibenden Anatomie, sondern lediglich um Aufschluß über die Krank¬
heiten selbst zu gewinnen, und zwar auf das Sorgfältigste untersuchte.
Indem Aretaeus der Beschreibung der Krankheiten der einzelnen Organe
eine oft bewundernswerthe Schilderung ihres anatomischen Baues vorausschickt,
beweist er schon hinlänglich den Werth, welchen er der Anatomie einräumt. Der
Schilderung der .Krankheiten selbst fügt er aber stets Bemerkungen bei, die er
nur der eignen Anschauung an der Leiche verdanken konnte. Es ist dies Letz¬
tere ein Punkt, den man bisher kaum beachtet hat, und den wir nur durch
einige der auffallendsten Beispiele belegen wollen.
Bei der Beschreibung der Ruhr macht Aretaeus zuvor die Bemerkung,
daß ein oberer und ein unterer Theil des Darms unterschieden werden müsse,
der obere sei dünn und gallenhaltig, der untere dick und fleischig. In allen
Theilen des Darmes entständen Geschwüre als Ursachen verschiedener Krank-
heiten, die man mit dem gemeinsamen Namen der Dysenterie belege; diese Ge¬
schwüre hätten aber einen sehr verschiedenen Charakter. Einige nämlich zer¬
störten nur die innere Oberfläche und erschienen als bloße Excoriationen; diese
seien gewöhnlich ungefährlich, besonders wenn sie im Dickdarme säßen. Andere
Geschwüre dagegen gingen in die Tiefe, fräßen um sich, hätten den Charakter
der Drüsengeschwüre, krochen weiter, könnten brandtg werden und dadurch den Tod
herbeiführen, der aber auch bei größrer Ausdehnung der Geschwüre durch Blu¬
tungen aus angefressenen Gefäßen entstehen könne. Eine dritte Art von Ge¬
schwüren hätten geschwollene Ränder, seien ungleich, schwielig, wie holzige Kilo
ten, und schwer heilbar, da sie nur schwer vernarbten. Diese verschiedenen
Geschwüre seien nun durch verschiedenartige Ausleerungen charaktenstrt. indem
die oberflächlichen profuse, gelbe, die Haut wund beizende Diarrhöen, die zweite
blutigem Fleischwasser ähnliche dünne Stühle, die im Dickdarme sitzenden die
Entleerung dicker, klumpiger Blutmassen veranlaßten. Die Darmgeschwüre bei der
eigentlichen Ruhr führten gewöhnlich Tenesmus herbei, und es könne selbst ein
ganzes Stück der inneren Haut des Darmes dabei abgehen und Unwissende«
die Furcht einflößen, daß der Darm selbst abgegangen sei; die äußere Haut des
Darmes bleibe aber dabei unversehrt und vernarbe. Man muß gestehen, daß
in diesen Schilderungen, aus welchen wir nur einige bezeichnende Momente her¬
vorgehoben, bereits eine vollständige Charakteristik der katarrhalischen, tuberku¬
lösen und typhösem wie dysenterischen Geschwüre vorliegt, wie solche erst in den
neuesten Zeiten durch die Fortschritte der pathologischen Anatomie wieder ge¬
wonnen ist; ebenso genau beschreibt Aretaeus die selten vorkommenden Darm¬
verschlingungen und gibt schon an. daß ein brandiges Stück der Schleimhaut
durch Eiterung ausgestoßen werden könne, ohne daß deswegen der ganze Darm
unterbrochen werde. Alle diese Schilderungen setzen voraus, daß Aretaeus den
Darm aufgeschnitten und untersucht hat.
Ebenso merkwürdig sind seine Beschreibungen der Nierenkrankheiten, er
unterscheidet eine durch Nierensteine veranlaßte Nierenentzündung, und eine solche,
die bei Harnverhaltung entstehe und mit Blutaustritt und Vereiterung der Nie¬
ren verbunden sei; auch kennt er Blasenentzündungen mit Verschwärung und
Brand der Blase, mit Ausdehnung der Harnleiter und der Nierenbecken, ja er
schildert deutlich die Symptome der Harnstvffvergiftung des Blutes, welche er schon
der Harnverhaltung zuschreibt. Die Rippenfellentzündung unterscheide sich durch
die Schmerzhaftigkeit und die Möglichkeit auf der kranken Seite zu liegen von
der Lungenentzündung. Wenn dabei Eiter entstehe, so kündige sich die Eiterung
durch Schüttelfrost und stechende Schmerzen, durch Erstickungsnoth und das Be¬
dürfniß aufrecht zu sitzen an; der Eiter könne auch höhlenartige Geschwüre in
die Lunge machen, wenn sich aber der Absceß zwischen den Rippen Bahn breche
und sich zuspitze oder sich in die Eingeweide ergieße, so könne die Pleuritis
heilen. Zu den glänzendsten Schilderungen gehört die Beschreibung der Lungen¬
schwindsucht, bei welcher er die in der Lunge selbst entstehenden Geschwüre beschreibt;
auch weiß er schon, daß nicht blos bei Lungenkrankheiten, sondern auch bei Herz¬
krankheiten, die vorzugsweise häusig einen plötzlichen Tod zu bedingen pflegten,
Kurzathmigkeit vorkommt. Die Leberabscesse. welche gegen die Eingeweide hin
durchbrechen, der Leberkrebs, der meistens Wassersucht herbeiführe, werden vor¬
trefflich beschrieben. In der Milz finde sich häusiger Verhärtung mit bedeu-
tender Vergrößerung, als Vereiterung, meist von Wassersucht begleitet; zuweilen
sei die Milz sehr beweglich und weich, fluctuirend bald hier- bald dahin — so
daß also schon Aretaeus die s. g. wandernde Milz, auf die erst Rokitansky von
Neuem aufmerksam machte, kannte. Im Uterus werden oberflächliche und Phage-
dänische sowie scirrhöse Geschwüre unterschieden, der Vorfall des Uterus wird
von der Erschlaffung der Bänder, mit welchen das Organ in den Leisten auf¬
gehangen sei. abgeleitet. Aretaeus weiß, daß die Knochen selbst nur schwer zur
Eiterung kommen, die Knorpel aber noch weniger Neigung zu derselben haben,
er kennt verschiedene Formen des Wasserkopfes, beschreibt die verschiedenen Arten
der Wassersucht, ja er kennt die Entstehung des Brandes durch Verstopfung der
Gesäße, die erst die neuere pathologische Anatomie wieder auffinden mußte;
er weiß schon, daß sich die vom Gehirn ausgehenden Nerven kreuzen, während
die aus dem Rückenmarke entspringenden auf derselben Seite verlaufen, und
erklärt aus diesem Verhältnisse ganz richtig, wie vom Gehirn ausgehende
Lähmungen auf der entgegengesetzten, vom Rückenmarke abhängige auf derselben
Seite bemerkbar werden — kurz er gibt so mannigfache Beweise eines ebenso
gründlichen, als erfolgreichen Studiums, daß wir erstaunt fragen, wie ist es
möglich, daß derartige pathologisch-anatomische Forschungen so lange Jahrhun-
derte fruchtlos vergraben blieben; daß so viele richtige Angaben des Aretaeus
erst die Neuzeit wieder entdecken mußte.
Allerdings ist nun. auch Aretaeus. der einzige classische Schriftsteller, welcher
in solcher Art die Anatomie zu verwerthen verstand, und mit ihm erlöschen die
Spuren einer wohlthätigen Rückwirkung der Anatomie auf die Praxis fast voll¬
ständig. Nur bei Caelius Aurelianus, welcher im 4. oder 5. Jahrhunderte unse¬
rer Zeitrechnung lebte, der indeß meist nur die Äerke früherer Methodiker, be¬
sonders des Svranus compilirte, finden wir noch die Anatomie in ähnlicher
Weise als Basis der Diagnostik wie bei Aretaeus, und bei jeder Krankheit
stets ein besonderes Kapitel über den Sitz derselben vorausgeschickt, ohne daß
indeß wesentlich neue Entdeckungen auf diesem Gebiete bemerkbar wären.
Das Werk des Celsus, dessen wir oben vorübergehend erwähnten, und
welches mit Recht als eine Art Codex der alten Medicin gilt, hat für unsern
Zweck kaum eine Bedeutung. Celsus schrieb eine Art Encyklopädie der Künste
und technischen Wissenschaften zum Gebrauche für Landwirthe, wie wir deren
ja auch heute besitzen. Die Bücher über die Medicin enthalten daher wesent¬
lich praktische, weniger rein wissenschaftliche Darstellungen, ja es ist nicht ein¬
mal ganz sicher, daß Celsus selbst die Medicin praktisch ausgeübt habe, was
freilich Alles dem Hoden Werthe des Werkes keinen Eintrag thut.
Viel weniger klar als die Beschreibungen des Aretaeus sind die freilich oft
glänzenden und bestechenden Krankheitsbilder. welche Galen entwirft, indem sie
deutlich den Mangel eigner anatomischer Anschauung bekunden. Bei ihm stand
schon die Neigung zur Spekulation einer derartigen Untersuchungsmethode sehr
im Wege, und die Krasenlehre, welche wieder alle Krankheiten auf ein lediglich
supponirtes Pneuma, oder auf die Lebensgeister, welche man neulichst wie¬
der hat auferwecken wollen, so wie auf die Mischungen der Elemente des Kalten,
Warmen. Trocknen und Feuchten zurückführte, verdrängte die solidarpatholo-
gische Auffassung. Nicht minder verderblich wirkte die oft sehr gewaltsam den
Thatsachen aufgezwängte dunkle und confuse Theorie, die mit den anatomischen
Thatsachen fast außer allem Zusammenhange steht, die aber nichts destowe-
niger auf alle Fragen eine Antwort, für jedes Räthsel eine Lösung bereit hat.
Eben daher kam es, daß man sich so leicht bei dieser bequemen Auffassung be¬
ruhigte und das Galenische System gar bald zur unbeschränkten Herrschaft ge-
langte, welche alle selbständige Forschung überflüssig und entbehrlich erscheinen
ließ. Trotzdem finden sich auch später noch Spuren,-welche beweisen, daß man
die Anatomie nicht gänzlich vernachlässigte, wie denn Alexander von Tralles
im 6. Jahrhunderte nicht blos Nierensteine kannte, sondern auch steinige Ver¬
härtungen in den Lungen beschrieb, und noch im 8. Jahrhundert ging aus
der, Alexandrinischen Schule Paul von Aegina hervor, dessen Verdienste um die
Chirurgie nicht unbedeutende anatomische Kenntnisse verrathen: überhaupt sind
es begreiflicher Weise die Chirurgen, welche sich nie ganz von der Anatomie
lossagten, und daher auch weniger leicht in nichtige Speculationen sich einließen.
Der nüchterne Sinn, den das Handwerk fordert, die Kaltblütigkeit, welche allein
den guten Chirurgen macht, hat die Chirurgie vor vielen Abwegen behütet, und
ihre Vertreter auf das Studium der Natur immer wieder zurückgeführt, wenn sich
die innere Medicin noch so sehr in labyrinthische Jrrgänge hatte locken lassen.
Bei den Arabern, welche als die nächsten Crben der griechischen Medicin
zu betrachten sind, welche dieselbe aber freilich meistens aus schlechten Ueber¬
setzungen, aus dem Griechischen ins Syrische und aus diesem erst in ihre
Muttersprache, kannten, lag in der Religion des Islam, welche die'unbedingte
Ergebung in den göttlichen Willen vorschrieb und das eigene Denken als
Frevel wider die Gottheit bezeichnete, das Haupthinderniß gegen eigne Un¬
tersuchungen! doch machten namentlich auch unde» ihnen einige Chirurgen wie
Abdollatif, Albucasis und Avenzoar auf die Nothwendigkeit anatomischer
Kenntnisse aufmerksam, ja der Erstere untersuchte den menschlichen Knochenbau
in den Leichenhäusern, um die Beschreibungen des Galen zu controliren.
Schlimmer fast noch erging es der Anatomie in den ersten Zeiten der christ¬
lichen Cultur. Das salische Gesetz erklärte den Verkehr mit solchen, die eine
Leiche ausgruben, für infam, die Kirche verbot namentlich den mönchischen
Schulen, welche dürftig die Reste der griechischen Medicin erhielten, alle chirur¬
gischen Operationen, ganz besonders aber die Leicheneröffnungen, wobei die tirch-
iche Lehre von der Auferstehung des Leibes natürlich das Haupthinderniß bil¬
dete. Mit dem Zurücktreten der Chirurgie siel ein sehr wichtiges Anregungs¬
mittel für die Verfolgung anatomischer Studien hinweg; die mönchischen Schu¬
len waren wesentlich pharmaceutische Lehranstalten, und cultivirten demnach
mehr die Quacksalberei als die wissenschaftliche Medicin, die Chirurgie selbst
wurde den Bädern und herumziehenden Steinschneidern, Staarstechern und
Zahnärzten überlassen. Die Anatomie trat gänzlich zurück. Ja in der berühm¬
ten medicinischen Schule zu Salerno mußte der Student drei Jahre lang Logik
hören. Droguenkunde und Pharmazie betreiben, von der Anatomie war kaum
die Rede. Erst der freisinnige und im Geiste des classischen Alterthums gebildete
Friedrich der Zweite, welcher auf den Schulen zu Bologna, Ferrara, Padua
und Pavia das Studium der Alten einführte, reformirte auch die Salernita-
mische Schule und stiftete, ähnliche Anstalten zu Neapel und Messina, wobei er
zuerst ein ärztliches Examen einführte; in diesem Examen wurde, zwar nur von
den Wundärzten, auch der Nachweis anatomischer Kenntnisse verlangt, weil ohne
dieselben seine chirurgische Operation vorgenommen werden könne. Freilich ließ
man sich dabei gewöhnlich nur von den Metzgern in der Anatomie der
Schweine unterrichten und betrachtete den Galen als den untrüglichsten Lehrer
der Anatomie. Ist es auch nicht erwiesen, daß schon Friedrich selbst die jährliche
Vornahme der Oeffnung einer menschlichen Leiche vorschrieb, so schwand doch je
mehr die classische Bildung Boden gewann» allmälig das abergläubische Vor¬
urtheil, welches sich, scheinbar durch das Christenthum gestützt, gegen die Unter¬
suchung menschlicher Leichen stemmte, und im Beginne des 14. Jahrhunderts
sehen wir die Borträge über Anatomie auf den Universitäten wenigstens in
Italien und Frankreich zum ersten Male wieder durch wirkliche Sectionen erläu¬
tert. Freilich fehlte noch viel, daß man zu eigner Cnntrole des Galen über¬
zugehen wagte; dazu war freilich auch das anatomische Studium vor der Hand
nicht angethan. Bestand doch die ganze Demonstration noch während der Lehr¬
zeit des Vesal um das Jahr Is30 darin, daß man höchstens alljährlich von
rohen ungeschickten Barbiergehülfen die Leichen öffnen ließ und in vier Tagen
nacheinander die ganze Anatomie durchging. Während der Professor vom Ka¬
theder herab die entsprechenden Kapitel des Galen ablas, mußten die Gehilfen
am ersten Tage die Unterleibsorgane vorzeigen, weil sie schneller in Fäulniß
übergingen, dann kam das Nervensystem an die Reihe, die Respirationsorgane
und zuletzt die Extremitäten. Wollte der Augenschein nicht mit dem Galen
übereinstimmen, so traute man sich selber doch weniger als dem römischen Wei¬
sen, und die Kritik durfte in den anatomischen Theatern nicht laut werden.
Wir wissen aus dem Leben des Vesal, daß dieser als wissensdurstiger Jüng¬
ling mit seinen Kameraden nach der Vorlesung ganz wider alle Sitte sich sel¬
ber die Dinge zu besehen Pflegte, und gar häusig zum großen Aergerniß seiner
Lehrer Widersprüche mit dem Galen aufdeckte, die seinen Eifer erst recht an¬
spannten. Indeß eiferten noch immer wiederholte päpstliche Edicte wider die
frevelhafte Verletzung der Menschenwürde, wenngleich aufgeklärtere Päpste we¬
nigstens zu Gunsten der Künstler eine Ausnahme gestatteten. Julius der
Zweite und Leo der Zehnte erlaubten denselben ihre anatomischen Studien an
frischen Präparaten zu machen, und wie ausgiebig dies geschah, ist aus der
Reichhaltigkeit der anatomischen Skizzen zu entnehmen, die Leonardo da Vinci
als Studien für de la Tone's Anatomie offenbar nach der Natur entwarf.
Die Originale seiner Skizzen, welche einen großen künstlerischen Werth haben,
sind in der tgi. Sammlung in London, das Werk selbst ist leider nie erschie¬
nen. Definitiv wurde der Streit zwischen der Kirche und der Wissenschaft erst
im Jahre 1SS6 entschieden, als Karl der Fünfte ein Gericht der Universität
Salamanca über die viel angefochtenen Schriften des Vesal berief, welches die
Frage beantworten'mußte, ob es einem Katholiken gestattet sei, menschliche Lei¬
chen zu öffnen. Die Mönche, freisinniger als vielleicht heutzutage ihre Nach¬
folger, entschieden: es sei nützlich — also auel erlaubt.
Es war der Geist der Reformation, welcher die Welt mit frischem Hauche
erfüllte, die alten Perrücken lüftete, den Staub von den vergilbten Pergamen¬
ten fegte und die Menschen wieder an die frische Quelle der Natur und der
Selbstbeobachtung zurückführte. Mit dem Geschmacke für die alten Wissen¬
schaften erwachte auch der Geschmack an der Naturforschung. Die Kritik be¬
gann sich zu regen, die eigne Untersuchung trat in den Vordergrund, der Buch¬
stabenglaube wurde von Grund aus erschüttert und so ward denn auch endlich
die Autorität des Aristoteles und des Galen, welche lange Jahrhunderte uner¬
schütterlich geherrscht hatten, gestürzt. Auch hier war es ein Germane, welcher
den romanischen Geist an der Wurzel traf. In Vesal, dessen Geschlecht aus
Wesel am Rhein stammte, einem gebornen Brüsseler, fand die anatomische For¬
schung einen ebenso rüstigen wie unermüdlichen, einen ebenso unbefangenen
wie scharfsinnigen Kämpfer, welcher der Medicin von Neuem diejenige Grund¬
lage wieder eroberte, welcher sie nimmer entbehren kann, wenn sie sich aus
dem bloßen Handwerke zur Wissenschaft, aus der dürren Speculation zur ech¬
ten Empirie erheben soll. Freilich hat es noch lange gedauert, ehe auch die
eigentliche Controle der Pathologie, die pathologische Anatomie von dem wieder¬
gewonnenen Boden der beschreibenden Anatomie das ihr gehörige Gebiet sich
wieder eroberte und ehe man zu denjenigen Gesichtspunkten zurückkehrte, welche
schon Aretaeus aufgestellt hatte. Schon vor Vesal hatten einzelne Anatomen,
wie Antonio Benivieni in dieser Richtung gearbeitet. Vesal selbst hatte beab¬
sichtigt seine pathologischen Beobachtungen zu einem größeren Werke, an dessen
Ausführung er indeß durch feinen frühzeitigen Tod verhindert wurde, zusammen¬
zustellen. Auch war die große Zeit der Reformation der Anatomie, welche ne¬
ben Vesal die glänzenden Namen Eustachi, Fallopia. Jngrassia nennt, sich dieser
Richtung sehr wohl bewußt; man verkannte keineswegs, daß die anatomischen
Studien schließlich die genauere Erkenntniß der Krankheiten zu fördern wesent¬
lich bestimmt seien, und einzelne jener Forscher, wie z. B. Rembert Dodoens,
forderten geradezu die Leicheneröffnung zur Vervollständigung der Kenntnisse
von den einzelnen Krankheiten, indem es keine andere Weise gebe sich schnell
und sicher Aufschluß über verborgene und seltene Krankheiten zu verschaffen,
als die anatomische Untersuchung. Doch waren es Anfangs eben vorzugs¬
weise die „seltenen Fälle." auf welche man sein Augenmerk richtete, und es
verging noch eine lange Zeit, ehe man den Leichenbefund auch für die gewöhn¬
lichen Krankheiten verwerthete. Die Ersten, welche diesen Weg betraten, wie
Peter Forestus und namentlich Giov. Bat. Morgagni, gingen dabei noch von der
Ansicht aus, daß der Leichenbefund eben nur zur Erläuterung der Symptome
der Krankheit diene; und ihre nächsten Nachfolger waren eigentlich nur Samm¬
ler im guten und schlechten Sinne, die ein möglichst großes Material aufzu¬
häufen bestrebt waren. Die wahre Bedeutung der anatomisch nachweisbaren
Veränderungen der Organe in dem Sinne, als sie das einzig und allein, einer
exacten Untersuchung zugängliche Material der Krankhciteert'cnntniß sind, hat
erst die neue Zeit erfaßt, und die gegenwärtige wissenschaftliche Bewegung in
der Medicin dreht sich recht eigentlich um die Anerkennung der pathologisch-
anatomischen Richtung als der einzig maßgebenden.
Blicken wir aber nochmals zurück aus jene Zeit des Jahrhunderte langen
Stillstands, so beschleicht uns leicht die Besorgniß, ob wir nicht selbst einmal
einer solchen gänzlichen Umkehr der Wissenschaft wieder entgegengehen können.
Wird doch eine solche von denen, die in der wissenschaftlichen Forschung einen
Eingriff in die göttliche Ordnung der Dinge zu erblicken vorgeben, sehnlichst herbei¬
gewünscht. Eine Reaction auf dem Boden der Wissenschaft ist aber heutzutage
so gut wie eine Reaction in der Politik nur noch auf Zeiten und bei einzel¬
nen Völkern möglich. Die wissenschaftlichen Bestrebungen sind nicht mehr
ausschließlich in den Händen eines Volkes noch einer abgeschlossenen Kaste,
sie sind ein Gemeingut Aller, wie die Interessen der Humanität und die Frei¬
heit solidarisch mit den Forderungen der modernen Cultur verbunden sind.
Ueber einzelne Perioden einer localen Reaction geht die Geschichte gar bald
zur Tagesordnung über. Es ist nicht mehr eine kleine und schwache Menschen¬
zahl wie im Ausgange des Alterthums, es sind die Völker des Erdkreises.
Welche von der Frucht der Erkenntniß. genossen haben. Mit der Wissenschaft
un Bunde schreitet die Industrie einher, die Mittel und Wege, welche der
Wahrheit den Sieg sichern, vervielfältigend. Dirs Bedürfniß nach einer fort¬
schreitenden Erkenntniß, nach der unbeschränkten freien Forschung, das Bedürf¬
niß nach Wahrheit und nach Licht werden weder diejenigen Barbaren unterdrücken
können, welche in der Unterdrückung der freien Forschung ihre eigne Herrschaft
sichern wollen, noch diejenigen, welche etwa im fernen Osten die Erde von
Neuem gebären könnte. Nur in uns selbst liegt die Gefahr; wenn wir er¬
schlaffen, wenn der Autoritätsglaube auch bei uns einmal den Sieg davon
trägt, so kann die Reaction für eine kurze Zeit siegen. Aber auch nur für
kurze Zeit, denn der Wissensdrang hat alle Völker zur Theilnahme an dem
Fortschritte erreicht, und es fällt bald der einen bald der andern Nation die
Rolle zu, die Fahne des Fortschritts voranzutragen. So ist denn auch auf je¬
dem Einzelgebiete des Wissens, welches doch immer nur in seinem Zusammen¬
hange mit der ganzen Cultur seine wahre Bedeutung findet, ein Stillstand in
ähnlicher Weise, wie er schon einmal stattgefunden hat, kaum mehr denkbar.
Die russische Kircke unterscheidet sich von der griechischen und der allge¬
meinen morgenländischen bekanntlich nicht durch die Lehre, sondern nur durch
die Hierarchie. Sie steht in freundlicher Beziehung zu dem Patriarchen von
Konstantinopel, wird aber durch eine aus Metropoliten und Archimandriten
zusammengesetzte, in Moskau refidirende „heilige Synode" regiert, die unter
Oberaufsicht des Kaisers steht. Letzterer läßt sich bei ihr durch einen Procura-
tor vertreten, ein Amt, welches jetzt von Murawicff, dem gelehrten Verfasser
einer Geschichte der russischen Kirche, eines Werks über den Ritus derselben
und einer Reisebeschreibung, welche die heiligen Orte Palästina's schildert, ver¬
sehen wird. Murawieff hat den Rang eines Kammerherrn, und dieser ist dem
eines Cavaleriegcnerals gleich, was deshalb hier erwähnt wird, weil daher die
geistreichen Bemerkungen englischer und französischer Blätter stammten, nack
denen die Leitung der russischen Kirche in den Händen eines Reiterossizicrs
war, welcher die Gewohnheit hatte, in Kürassierstiefel»» in die Synode zugeben
und die Bischöfe und Erzbischöfe im echten Kasernenstyl zu behandeln.
Obwohl die russische Kirche in der Bedeutung, welche sie dein Ceremoniell
beilegt, in der Ohrenbeichte und einigen anderen Beziehungen der römisch-katho¬
lischen gleicht, hat sie doch i» vielen andern Dingen größere Aehnlichkeit mit
der englischen Hochkirche, und so konnte es geschehen, daß unter Peter dem
Großen und Wilhelm dem Dritten Unterhandlungen zwischen englischen Bi¬
schöfen und der russischen Synode angeknüpft wurden, die den Zweck hatten,
die beiden Kirchen zu vereinigen oder sich doch zu nähern. Diese Verhandlungen
versprachen Erfolg, und nachdem verschiedene Episteln gewechselt worden, blieb
für die Engländer nur noch ein Anstoß zu erledigen, der Bilderdienst der Rus¬
sen. Auch über diesen hatte sich die Moskaner Synode bereits zufriedenstellend
erklärt, als das Project eines Bündnisses plötzlich ins Stocken gerieth, indem
Peter der Große mit Tode abging.
Nun ist bekannt, daß die russische Kirche kein Dogma kennt, welches die
Anbetung der Bilder oder die Verehrung derselben selbst gebietet. Ja der
Katechismus des jetzigen Metropoliten von Moskau warnt gegen diesen Mi߬
brauch ausdrücklich. Indeß läßt sich das in allen ungebildeten Völkern steckende
Heidenthum hier durch Katechismen so wenig verbannen, als anderswo, und
so geschieht es, daß hier ebenso wie anderswo, und zwar nicht blos von
der unwissenden Masse, das Bild wie das Original angesehen wird und daß
namentlich gewisse Bilder eine an Götzendienst grenzende Verehrung genießen
und als > mit magischen Kräften begabt gelten. Um ein Beispiel anzuführen,
würde kein gottesfürchtiger Moskowit ein neues Haus beziehen, bevor das¬
selbe nicht eine Visite von dem prächtig geputzten, reich mit Juwelen besetzten
Porträt der dreihändigen Iberischen Jungfrau empfangen hat, welches, vom
Evangelisten Lucas gemalt, früher auf dem Berg Athos war und jetzt in
einer Kapelle vor dem Thore verwahrt wird, das auf den Rothen Platz
führt. Da Besuche von andern Marienbildern nicht für so wirksam gelten,
so ist die Iberische Jungfrau bisweilen den ganzen Tag hindurch in Anspruch
genommen, und die Frommen setzen sich lieber allen möglichen Unbequemlich¬
keiten aus und empfangen sie lieber in der Nacht oder am frühen Morgen,
wenn sie unbelegt ist, als daß sie auf die segensreiche Visite Verzicht leisteten.
Die Heilige fährt übrigens zu solchen Besuchen, wie der Metropolit, stets in
sechsspänniger Karosse. Ihre Postillone erscheinen unbedeckten Hauptes, und
nur im Winter gestattet ihnen das Herkommen, sich Tücher um die Köpfe zu
wickeln. Mütze oder Hut sind auch dann gegen die Etiquette. In der Kathe¬
drale der Himmelfahrt auf dem Kreml befindet sich ferner das Bild Sanct
Antiopos'. des Märtyrers, zu dem man nur zu beten braucht, um sofort vom
eingewurzeltsten Zahnweh befreit zu werden. Es gibt noch manches Bild die¬
ses guten Heiligen, aber kein Mensch würde sich zu einem andern als gerade
zu diesem wenden, um zahnärztliche Dienstleistungen zu erbitten.
Von selbst versteht sich übrigens, daß die Andächtigen nicht, wie die Kirche
vorschreibt, blos die Vermittlung der Heiligen bei Gott anrufen, sondern zu
den Heiligen selbst, wie zu Untergöttern, um Gewährung ihrer Anliegen
bitten.
Nicht so selbstverständlich ist für uns, daß die russische Kirche nur gemalte,
nicht solche Heiligenbilder duldet, weiche Statuen sind. Indeß wird das Recht
des Meißels bis zu einem gewissen Grad anerkannt, das heißt, man gestattet
Haut- und Basrelief-Darstellungen, und zwar können die ersteren im höchsten
Relief ausgeführt sein, nur dürfen sie sich nicht ganz von der Wand ablösen.
Die gemalten Bilder aber müssen nach einer bestimmten Schablone gemacht
sein, wenn sie dem orthodoxen Volte Ehrfurcht abnöthigen sollen. Sie haben
große Ähnlichkeit mit den Figuren auf Spielkarten und werden fabrikmäßig,
zum Theil von den Mönchen der Athosklöster. zum Theil in Rußland selbst
angefertigt.
Diese Heiligenbilder dienen dann zugleich als Hausgötter für das russische
Volk, und so findet man deren vom Palast bis zur elendesten Bauernhütte, in
den kleinen Dampfbooten, die zwischen Kronstäbe und Petersburg fahren, und
deren düstre Kajüten sonst kein Hausgeräth zeigen, wie in den Prachtgalerien
der Eremitage, wo sie als Repräsentanten des plumpen steifen Byzantinerthums
natürlich sehr unvortheilhaft von den Meisterwerken italienischer und nieder¬
ländischer Kunst absteche». Die Glorien um die Köpfe dieser braunen Erlöser
und Gottesmutter sind in der Regel von gegossenem oder geschmiedeten Metall,
gewöhnlich von Messing, oft von Silber, bisweilen von Gold, und sehen,
wenn das Gemälde nicht in günstigem Licht steht, so daß blos der Heiligenschein
sichtbar ist, wie an die Wand genagelte Hufeisen aus. Mitunter ist die ganze
Bekleidung des Heiligen von getriebenem Gold- oder Silberblech gemacht, und
das einzige Gemälde daran sind Hände und Gesicht, so daß man bei ihnen
(z. B. bei der erwähnten Panagia des heiligen Lucas in der Moskaner Himmel¬
fahrtskirche, die beiläufig einen auf 200.000 Rubel geschätzten Schmuck von
Diamanten trägt) mehr an den Goldschmied als an den Maler denkt.
Die Heiligenbilder für das Haus werden großentheils in Susdal, einer
Stadt des Gouvernements Wladimir, fabricirt, welche in diesem Erwerbs-
zweig so berühmt ist, wie Tula durch seine Kurzwaren und Tarjock durch seine
Lederstickereien. Selten verwendet man mehr als drei Farben, und jede von
diesen hat ihre besondere Klasse von Malern oder richtiger Aufstreichern, ganz
wie in den jetzt etwas aus der Mode gekommenen russischen Hornmusikchören
jede Note ihren besondern Hornisten hat. Das Gemälde wird auf eine voll¬
kommen glatte Holztafel gezeichnet. Der Maler verdünnt seine Farbe mit
großen Quantitäten Oel und polirt, wenn er fertig, sein Werk mit einem
Pulver aus Bimstein. Hat der Künstler in Noth sein Stück Arbeit vollbracht,
so übergibt er das Gemälde dem Künstler in Gelb, der es seinerseits, wenn er
sein Theil gethan, dem Künstler in Blau zustellt. Dann heftet der Metallar¬
beiter den Heiligenschein an, und das „Ikon" ist reif für den Rahmenmachcr,
wofern überhaupt ein Rahmen für nöthig gehalten wird.*)
Es gibt in jeder größern Stadt Läden mit solchen „Ikons", und ein
Ikon ist in Rußland die einzige Waare, um die nicht gefeilscht wird; denn
der Versuch, den Preis eines Heiligenbildes, auch nur im commerziellen Sinn
des Wortes, herab zu setzen, würde für mehr als unanständig angesehen wer¬
den, während ebenso der Versuch, den Käufer zu übertheuern als Sünde be¬
trachtet werden würde.
Die Größe der Heiligenbilder steht gewöhnlich im umgekehrten Verhältniß
zu dem socialen Rang der Personen, deren Wohnung sie schmücken und heiligen.
So nehmen sie in den Buden des Gastinnvi Door. jenes permanenten Jahr¬
markts in Moskau, die Dimensionen historischer Gemälde an. denn der russische
Kleinkrämer ist ebenso fromm, als er pfiffig ist^ In den Privathäusern der
.?>M^clShili6et 'n^l 'Mulli ir^it^liimull /l^l^i juo 'ni!'» 6nu ?Mi>.>.'
''
Kaufleute erster Gilde sind sie etwa so groß wie Genrebilder. In den Häu¬
sern des Adels endlich überschreiten sie selten die bescheidnen Grenzen von
Miniaturgemälden. „Das kleinste Ikon, weiches ich jemals sah", bemerkt
Edwards, „befand sich im Speisesaal des Adelsclubs zu Moskau, wo ganz
oben an der Decke in der östlichen Ecke ein winziges Hciligenbildchen ange¬
bracht war, das von fern wie die Pique-Königin in der Karte aussah und
^ sicher nicht größer war."
Die russischen Städte haben in der Regel sehr viele Kirchen, Moskau soll
früher deren nicht weniger als vierzig mal vierzig besessen haben — jeden¬
falls eine Uebertreibung mit Anwendung der Zahl vierzig, die im Orient auch
unter Moslemin als besonders heilig gilt. Dafür aber sind die Kirchen mit
wenigen Ausnahmen sehr klein, namentlich die ältern. Diese sind im byzan¬
tinischen Styl gebaut, mit kleinen Fenstern und dicken Mauern. Gewöhnlich
erheben sich über das Dach derselben fünf Kuppeln, vier an den Ecken des
Gebäudes, welches stets ein Parallelogramm bildet, und eine größere in der
Mitte. Diese Kuppeln sind außen mit schreienden Farben angestrichen, ver¬
oldet oder versilbert, und enden mit einem Kreuz, das aus einem Halbmond
steht. Einige Kirchen haben nur drei, manche nur zwei Kuppeln, andre wieder
sieben, ja die groteske Kirche des Iwan Vlagennoi in Moskau besitzt deren nicht
weniger als dreizehn, und dieselben sind ebenso wie die Thürme von der verschieden¬
sten Form und Farbe, eine von der gewöhnlichen Zwiebelgestalt, eine andere wie
eine Melone gestreift, eine dritte in Facetten zerschnitten wie ein Tannzapfen,
eine vierte gewunden wie ein Turban, wieder eine andere mehr artischockenförmig.
Inwendig sind die Kuppeln in der Regel mit sehr häßlichen Heiligenbildern
bemalt, häufig gilt dies auch von den Wänden und Säulen. Die neuern
Kirchen gleichen in der Hauptsache meist den alten, nur sind sie gewöhnlich
an den Außenwänden mit zahlreichen Säulen korinthischer Ordnung geschmückt.
Der Glockenthurm steht regelmäßig einige Schritte abgesondert von der Kirche
und trägt fast überall eine Menge großer und kleiner Glocken, die aber nicht
wie die unsern geläutet, sondern mit einem Hammer geschlagen werden.
Die russische Normalkirche zerfällt im Innern in drei Theile- eine kleine
Vorhalle, in der sieh gar nichts befindet, das Schiff, welches ein gleichseitiges
Viereck bildet und immer ohne Sitze ist, und das Heiligste, welches stets im
Osten liegt, über das Schiff nicht erhöht, aber von demselben durch eine Wand
geschieden ist und dem Priester zur Vornahme der heiligen Handlungen sowie
als Chor und Sacristei dient. Jene Wand, Jkonostasis genannt und von oben
bis unten mit Heiligenbildern bedeckt, hat drei Thüren, eine, die „königliche",
in der Mitte und eine auf jeder Seite. Unmittelbar hinter der Königspfortc,
die mit einem rothen Vorhang geschlossen ist, wenn der Priester die Wandlung
vollbringt, befindet sich der Altar, ein freistehender einfacher Würfel, aus dem
die Monstranz oder das Tabernakel, das Evangelienbuch und ein Kreuz zu
sehen sind. Die Lichter, welche während der Messe brennen, sieben niemals
auf dem Altar, sondern auf hohen Leuchtern hinter demselben am Boden.
Der Gottesdienst zerfällt in.drei Theile: Vorbereitungen 'durch Gebet und
Vorlesen aus der Bibel, Wandlung des Brotes und Weines und Genuß des
Abendmahls nebst dem Schlußsiebet. Das Ganze ist ein prächtiges, malerisches
Schauspiel, bei dem nur die Priester und ihre Diakonen thätig sind und die
Gemeinde lediglich durch fleißiges Niederknien und Kreuzschlagen sowie durch
Betheiligung an der Kommunion einigermaßen mitwirkt. Die Vorlesung aus
der Bibel ist ein unverständliches Plappern, das überdies von dem vor der
Jkonostasis aufgestellten Sängerchor häufig mit den Worten „Goöpodi, Gvspodi,
Gospodi pvmilui!" (Herr, Herr, Herr, erbarme dich!) unterbrochen wird. Die
Wandlung wird immer bei herabgelassenen Vorhang der königlichen Pforte voll¬
zogen und durch einen von den Gängern, gewöhnlich sehr schön, gesungnen
Psalm eingeleitet, und während sie vor sich geht, fällt Alles im Schiff auf die
Knie, bekreuzt sich und kund den Boden, indeß draußen alle Glocken der Kirche
losbrechen. Das Abendmahl, mit etwas Wein getränktes Brot, das in einem
silbernen Löffel gereicht wird, wird von den Communicanten knieend und mit
über der Brust gekreuzten Armen genossen. Nach demselben folgen wieder
Gebete, dann nochmals Vorlesungen aus der Bibel, zuletzt der Segen, den der
vornehmste Priester auf die Gemeinde herabbittet: „Von Gott dem Vater, dem
Sohne und dein heiligen Geiste! Von Johannes dein Täufer, von Joseph und
Anna! Von der Gottesgebärerin! Von dem Heiligen des Tages! Von Sanct
Antonius. Von Michael und Nicolaus! Von allen übrigen wunderthätigen
Höhlenbewohnern!" Worauf die Sänger noch einen Psalm anstimmen und die
Gemeinde sich kreuzschlagend entfernt.
Eine Predigt kommt selten vor. Von der Vorlesung aus dem Evangelium
hat die Zuhörerschaft nicht das Mindeste, da die Worte zu schnell gelesen werden,
als daß man etwas davon verstehen könnte, von den übrigen Worten bei der Li¬
turgie nicht Viel mehr, da die Sprache derselben die altslavonische ist. Gemcinde-
gesang ist völlig unbekannt, Kirchenmusik mit Znstrumenten nicht orthodox, ja
es befindet sich in den russischen Gotteshäusern nicht einmal eine Orgel, und
als Kcuscr Nicolaus vor einigen Jahren die Absicht äußerte, eine solche in der
Himmelsahrtstathedralc im Kreml aufzustellen, scheiterte er am Widerstand der
Geistlichkeit. Der Metropolit Philarct, welcher für den gelehrtesten Prälaten
Ruhlands gilt und auch sonst in vieler Hinsicht Anspruch auf die Bezeichnung
eines Mannes von Bildung hat, protestirte mit aller Macht gegen die „un-
orlhodoxe Neuerung" und drohte sogar mit seinem Rücktritt vom Amte, falls
der Czar auf Ausführung seines Plans bestünde.
Was Edwards über die Vvcalmusik in den russischen Kirchen sagt, bitten
wir die, welche sich für das Detail iniercssiren, in dem Buche selbst nachzu¬
lesen. Dagegen sei es gestattet, noch einige Auszüge aus dem, was unser
Verfasser über die Geistlichen erzählt, mitzutheilen und daran das Jnteressanteste
aus der Schilderung eines Besuchs im Troiza-Kloster, einem der berühmtesten
in ganz Rußland zu knüpfen.
Bekannt ist, daß die griechischen Kleriker der untern Klassen das Gelübde
der Ehelosigkeit nicht abzulegen haben. Es ist aber hinzuzufügen, daß ein solcher
Geistlicher sogar verheirathet sein muß, bevor er die Weihe erhalten kann.
Eine zweite Verheirathung ist ihm dagegen nicht gestattet. Unrichtig aber ist,
wenn man liest, daß ein Priester, dem die Frau gestorben, genöthigt wäre ins
Kloster.zu gehen. Die Sache verhält sich vielmehr so, daß die höhern Kleriker
nur aus den Klöstern genommen werden, und daß verwittwete Geistliche niedern
Ranges sich häufig entschließen, Mönch zu werden, um sich die Bahn zum
Archimandritcn und Metropoliten zu öffnen. Manche dieser Prälaten finden
Zeit, sich eine nicht unbedeutende Gelehrsamkeit zu erwerben, einige denken
ziemlich liberal in Sachen der Religion, aber eine gewisse Beschränktheit bleibt
bei allen zurück.
Vor einigen Jahren erschien in Nußland eine Ueberhebung der Bibel, aber
sofort gab der Metropolit Philaret den Rath, sie zu unterdrücken. Es hieß
zwar, die Maßregel sei verhängt worden, weil jene Arbeit allerlei Unrichtig¬
keiten enthalten habe, und es ist seitdem eine andere Übersetzung unter den Au¬
spickn Philarets erschienen. Allein, was würde man in Deutschland von dem
Bischof oder Superintendenten sagen, der sich solche Eingriffe in den Buchhan¬
del erlauben wollte? ^ „,,j,. „/^i.- i...til.i'i^'.' i„» „-1?«,' .'.leite-im:'.
Eine andere Klage über die theologische Engherzigkeit Philarets scheint
nicht so begründet. Es heißt, der Metropolit habe ein Verbot gegen ein geo¬
logisches Werk veranlaßt, weil dessen Darstellung der Weltschöpfung von der
in der Genesis enthaltenen abgewichen. Dies paßt aber nicht zu der Thatsache,
daß der Moskaner Metropolit dem Professor der Naturgeschichte an der dorti¬
gen Universität das Wort redete, als einige der Geistlichen den Vorschlag ge¬
macht hatten, die Vorlesungen desselben untersagen zu lassen, und eben sowenig
zu, der bald nach diesem Vorschlag erfolgten Veröffentlichung seiner Commentare
zum ersten Buch Mosis, in welchen die Lehre ausgesprochen ist, daß die Welt-
schöpfung in Perioden und nicht in Tagen erfolgt sei. Philaret steht im Rufe,
nicht blos der gelehrteste, sondern auch der beredteste Prälat der russischen Kirche
zu sein, wie er denn auch der älteste ist. Eine der besten von den Predigten,
die von ihm erschienen sind, die „Stimme in der Wüste", wurde im Jahre
18>2 gehalten und bezieht sich mittelbar auf das Unglück, das damals Moskau
betroffen hatte. Er ist zugleich ein guter Patriot, der furchtlos auch sehr hoch¬
stehenden Personen die Wahrheit sagt (was für einen hohen Geistlichen freilich
Wohl schon unter Nicolaus wenig oder keine Gefahr hatte. D. R.). Bei einer'
Gelegenheit im Troiza-Kloster, dessen Archimandrit der Metropolit von Moskau
ist, hielt er dem Kaiser Nicolaus eine merkwürdige Predigt über die Pflichten
eines Herrschers, die natürlich nie veröffentlicht worden ist. Neuerdings, als
Alexander der Zweite sein erstes Rundschreiben an den Adel in Betreff der
Bauernbefreiung erließ, hielt er im Tschudoff-Kloster im Kreml einen trefflichen
Vortrag über die Pflichten der verschiedenen Klassen der Gesellschaft gegen den
Kaiser und die Obliegenheiten der Gutsbesitzer gegen ihre Leibeignen.
Philaret muß gegenwärtig fast achtzig Jahre alt sein. Er ist ein kleiner
abgemagerter Greis mit feinen Gesichtszügen, langen weißen Haaren, einge-
sunlnen Augen und sehr leiser Stimme. Wenn er seine Predigt beginnt, ist
er vollkommen unverständlich, aber allmälig, wenn er von seinem Gegenstand
warm wird, schwillt seine Stimme stärker an, seine halberloschenen Augen leuchten,
und seine Worte machen den mächtigsten Eindruck auf seine Zuhörer. „Das
letzte Mal", sagt unser Reisender, „hörte ich ihn im Tschudoff-Kloster, aber
obwohl er den Gottesdienst verrichtete, war er nicht im Stande, die Predigt
zu halten, die deshalb von einem der dienenden Geistlichen von seinem Manu¬
skript abgelesen wurde, wobei derselbe neben dem Metropoliten auf den Stu¬
fen vor der Jkonostasis stand. Beim Schluß der Predigt drängte sich die Ge¬
meinde, welche alle Theile der Kirche füllte, um den Metropoliten, um seinen
Segen zu empfangen und ihm die Hände zu küssen. Philaret lebt ein Leben
von fast beispielloser Enthaltsamkeit sowohl was Nahrung als was Schlaf be¬
trifft. Er arbeitet beinahe unablässig und ahndet die geringste Nachlässigkeit
auf Seiten der ihm untergebnen Geistlichkeit, wie man sagt, mit der größten
Strenge. Die Moskaner sagen deshalb, daß seine tägliche Nahrung „aus einem
Gründling und drei Priestern" bestehe." —
Ein andrer berühmter Kanzelredner war der Erzbischof Augustin von Mos¬
kau, der sich besonders durch die Reden einen Namen gemacht hat. die er an
Alexander den Ersten und die Moskaner Landwehr im Jahre 1S12 hielt. Gleich¬
falls großen Ruf besitzt der Erzbischof Jnnocent von Odessa, der während der
Belagerung von Sebastopol der Garnison des Platzes als eine Art Oberfcld-
prediger zur Seite stand und bei dieser Gelegenheit eine Reihe von Vortragen
hielt, die später in einer der Monatsschriften Se. Petersburgs erschienen. „Ein
sehr merkwürdiger Sermon, der vor. mehren Jahren von Jnnocent an einem
Charfreitag vorgetragen wurde, ist von Baron Haxthausen in seinem werthvollen
Buch über Nußland mitgetheilt worden. Da die deutsche Uebersetzung des Ba¬
rons, deren Unterlage ihm von einem russischen Studenten geliefert wurde,
nicht ganz genau ist, so zögre ich nicht eine wörtliche Uebertragung davon zu
geben. Ich muß dabei vorausschicken, daß man am Charfreitag in den russi¬
schen Kirchen (wie in den römisch-katholischen. D. R.) an allgemein sichtbarer
Stelle einen Sarg aufzustellen pflegt, um die Gemeinde an das Leiden und den
Tod des Erlösers zu erinnern."
Der Sermon lautete: „Einst hatte ein frommer Einsiedler seinen Brüdern
etwas zu sage», die vor» ihm belehrt zu werden erwarteten. Durchdrungen von
einem tiefen Gefühl der Armuth des Menschengeschlechtes rief der alte Marin
statt irgend welcher Belehrung aus: Brüder, lasset uns weinen, und sie fielen
allesammt zu Boden und vergossen Thränen. Ich weiß. Brüder, daß ihr jetzt
Worte der Belehrung von mir erwartet, aber meine Lippen schließen sich unfrei¬
willig beim Anblick unsres Herrn im Sarge. Wer wagte zu sprechen, während
er chweigt. Und läßt sich irgend etwas zu euch sagen von Gott und seiner
Wahrheit und von dein Menschen und seiner Unwahrheit, was diese Wunden
nicht hundertfciltiglich eindringlicher aussprächen? Können die, welche von ihnen
nicht gerührt werden, von schwachem Menschenwort bewegt werden? Auf Gol¬
gatha war kein Prediger, dort sah man sie nur schluchzen und an die Brust
schlagen. Und an der Seite des Sarges ist kein Raum für die Predigt, son¬
dern nur für Buße und Thränen. Brüder, unser Herr und Erlöser ist im
Large. Laßt uns beten und weinen. Amen!"
Man sieht, es ist Krummacher'scher Styl, jn welchem der berühmte Erzbi-
schof predigt. Edwards scheint ihn zu bewundern. Wir finden weniger Ursache
da^u. doch ist anzuerkennen, wie kurz der Redner sich zu fassen wußte, und das
wird. Manchem auch etwas werth scheinen.
Kiefs, die alte Hauptstadt der Großfürsten. Moskau, die Stadt der Czaren,
Petersburg die moderne Kaiserstadt haben jedes sein berühmtes Hauptkloster.
Das in Kicff ist das älteste, das der Troiza oder Drcinigteit bei Moskau das
historisch merkwürdigste, das Alexander Ncwsti-Kloster zu Petersburg ist wie die
Stadt von neuerem Datum, erinnert aber an einen der größten Heiligen und
Helden Altrußlcmdö. welcher die 'Schweden und die Deutschen auf dem Eis der
Newa schlug, woher sein Beiname Newski.
Jn der Mongole»- und Tartarenzeit und später noch unter der Herrschaft
der Polen waren die Klöster Rußlands nicht blos Zufluchtsstätten für weltmüde
Seelen, sondern zugleich die Festungen des Landes, und das gilt von einigen
in gewissem Grade noch jetzt. Die Festung am Weißen Meer, die während des
letzten Kriegs von den Engländern bombardirt wurde, war nichts als ein be¬
festigtes Kloster, und nach der Meinung gläubiger Russen war es nur der hei¬
lige Charakter des Gebäudes und ein gewisses wundcrthätiges Bild der Jung¬
frau (welches die meisten Kugeln auffing), wodurch es vor Zerstörung bewahrt
wurde.
Die Katakomben der Laura von Kieff sind voll von den Gebeinen der
durch die Tartaren ermordeten Märtyrer. Dagegen knüpfen sich an die Laura
der Troiza nur Erinnerungen an Triumphe der russischen Waffen, an den Aus-
zug des heiligen Sergius mit seinen kriegerischen Mönchen, durch welchen die
Vernichtung der Tartarenhvrdcn in der Schlacht bei Kulikoff entschieden wurde,
an den Kampf Minims und Fürst Pvjarski's mit den Polen, der mit der Be¬
freiung Moskaus endete, und an verschiedene,glücklich bestandene Belagerungen
des Klosters in frühern und spätern Zeiten.
Der Gründer des Troiza-Klosters, Se. Sergius, lebte im vierzehnten Jadr-
hundert. Sein wunderbares Leben begann schon vor seiner Geburt. Im
Mutterleibe schon hörte man ita drei Schreie thun — zu Ehren der heiligen
Dreieinigkeit, interpretirt die Legende. Während seiner Kinderjahre blieb der
zukünftige Heilige taub gegen die Stimmen der Belehrung. Seine Eltern
klagten dies einem heiligen Eremiten, den der Knabe (er hieß damals Bartho-
lomäus) im Walde gefunden und mit heimgcnvmme». Der Einsiedler sang
darauf ein Tedeum und öffnete die Bibel, und siehe da, es fand sich, daß der
Knabe fertig lesen konnte, worauf der wunderthätige Schulmeister unsichtbar
wurde. Nach dem Ableben seiner Eltern nahm Bartholomäus den Mönchs¬
namen Sergius an, zog sich aus der Welt zurück und gründete das Troiza-
Kloster. Hier lebte „dieser himmlische Mann und irdische Engel" ein Lebe»
beispielloser Heiligkeit, die selbst auf die wilden Thiere des Waldes ihre Wir¬
kung übte, also daß sie in seiner Gegenwart ihre gewohnte Grimmigkeit ab¬
legten."
Wie vor seiner Geburt, so war Se. Sergius natürlich auch nach seinem
Tode für das Gute thätig. Als die Polen sein Kloster belagerten und selbst
schweres Geschütz gegen dasselbe aufführen, pflegte oft ein alter Mann, welcher
der Beschreibung des Heiligen glich, zu Roß in den Wolken zu erscheinen und
die Mönche zu tapferem Kämpfen gegen die Belagerer zu ernähren, und eine
ähnliche Erscheinung fand noch in diesem Jahrhundert statt. Das Troiza-Klo-
ster ist unermeßlich reich, es besitzt an kostbaren Perlen allein mehr als das
ganze übrige Europa. Dennoch wurde es von den Franzosen im Jahre 1812
nicht geplündert, obwohl es von den Russen nicht vertheidigt wurde. Aller¬
dings erhielt, so erzählt die Legende, Murat Befehl, es zu nehmen, aber als
er vom Kreml nach der Richtung des Klosters ausschaute, sah er ein großes
Heer schwarz uniformirter Soldaten auf der Straße aufgestellt, worauf er dem
Kaiser meldete, daß er mit der ihm zur Verfügung gestellten Hecrevmacht den
Angriff zu unternehmen außer Stande sei. Wir haben nicht nöthig, zu bemer¬
ken ,, daß dies ein Wundergesicht war. Die schwarzen Soldaten waren Mönche
früherer Jahrhunderte, und Se. Sergius selbst hielt Heerschau über sie. nach¬
dem er vorher den Segen Plato's. des Moskaner Metropoliten empfangen, wel¬
cher indeß den Heiligen damals nicht erkannte, sondern sich erst später besann,
daß er's gewesen.
Das Troiza-Kloster liegt circa acht Meilen von Moskau und ist das
Ziel häusiger Wallfahrten. Allenthalben längs der Straße, im Schatten
der Bäume sieht man Pilger einzeln und in Gruppen sitzen und liegen.
Der Musik in seinem ewigen Schafspelz, der Kaufmann in seinem Kaftan, und
zu gewissen Zeiten Personen von hohem Stande wandern zu Fuß (weil das
mehr Gnade erwirbt) langsam nach dem Kloster hin. Der Bauer trägt in der
Regel kahnförmige Schuhe aus Weidcnbast; hat er Lederschuhe, so hängt er sie
auf den Rücken, um sie zu schone». Hier und da ist ein frommer Pilger von
seiner Ehehälfte begleitet, die sich mit einem Schleier und einem Regenschirm
gegen Sonne und Nässe zu schützen sucht. Hinter ihnen kommt ihre Kibitke,
in welcher die Dame vorsorglich ihre Thecurne (Samowar) und Betten mitge¬
nommen hat; denn die Gasthäuser beim Kloster sind noch übler eingerichtet als
die meisten andern Hotels im Lande. Weniger fromme Seelen und natür¬
lich alle Touristen nehmen die Diligence oder einen eignen Wagen. Auch
unser Verfasser zog diese vor. Folgen wir ihm in seiner Beschreibung der
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Einige Stunden vor der Ankunft im Kloster.pflegt der Kutscher, wenn
er mit dem Herkommen der Straße bekannt ist, an einer Steile zu halten, wo
ein vor zwanzig oder dreißig Jahren verstorbener Eremit den großem Theil
seines Lebens mit Aushöhlung eines unterirdischen Ganges bis zu einer kleinen
Kapelle in der Nachbarschaft verbracht bat, bei der er jetzt begraben liegt. In
Khatkoff findet der Wallfahrer dann Gelegenheit, den in einem Waldkloster
aufbewahrten Reliquien des heiligen Cyrillus und der heiligen Marie, der El¬
tern des heiligen Sergius, durch Kniebeugung seine Ehrfurcht zu bezeugen.
Weiterhin kommt man durch einen zweiten Wald auf eine Ebne und sieht die
Kuppeln des Troiza-Klosters vor sich glänzen. Auf dem Wege bis zu diesem
passirt man ein Gasthaus und einige Bauernhütten, sowie eine Anzahl von
Buden und Verkaufstischen, an welchen Heiligenbilder und Erinnerungen an
das Kloster feil sind. Ferner gibt's hier Geldwechsler, welche die Gläubigen
mit den passenden Münzen zu Almosen versehen, und Schaaren von Bettlern,
welche auf dieses Almosen speculiren. 'ni ü^l. os .ji'.kein 5,.in-5
„Diese Bettler", sagt Edwards, „sind sehr freigebig mit ihren Anerbie¬
tungen aus Jntercession bei unserm Herrgott, und einige erboten sich, für ein
paar Kopeken das ganze Jahr für uns zu beten. Die alten Meister der Pro¬
fession jedoch waren weniger gemäßigt in ihren Ansprüchen, und einer derselben,
ein gut- und warmgekleideter, behäbig aussehender Almosenempfänger, dem wir
eine Verehrung von fünf Kopeken gemacht — weniger aus Mittleid. als in
Anerkennung seiner für einen Bettelmann höchst originellen Herablassung —
bemerkte für die Summe, daß er sich dafür nicht einmal ein Paar Handschuhe
kaufen könne. Er trug, als er dies äußerte, ein Paar derbe Pelzhandschuhe,
aber vermuthlich wünschte er auf einen Ball zu gehen."
Eine gewisse Heiligenatmosphäre durchzieht nicht blos das Kloster, sondern
auch das Dorf, welches sich an dasselbe angesetzt hat. Die Karawanserais, die
sich hier befinden, sind so schmutzig, so unbehaglich leer, so ohne alle Bequem¬
lichkeit wie Büßerzellen. Sie haben nur Sophas, keine Betten, keinen Wasch¬
apparat außer Krug und Becken, dafür aber zahlreiche Abbildungen des Troiza-
Klosters und seiner Kirchen und Kapellen, Porträts des heiligen Sergius, des
heiligen nitor, seines Jüngers, Plato's des letzten Archimandriten des Klosters,
Darstellungen des jüngsten Gerichts und groteske Schreckbilder von den Qua¬
len, mit denen „Gospodin Tschort" (der Herr Teufel) die Gottlosen bedroht.
Besser als diese Privatunternehmungen ist die Herberge, die das Kloster unter¬
hält. Betten zwar gibt's auch hier nicht. „Die Küche aber", erzählt unser Verfasser,
„war bewundernswerth, sie schien zu zeigen, daß man außer dem Hunger von
Fasttagen in der Laura der Dreieinigkeit auch die Schmausereien von Festtagen
kenne. Die Zimmer waren zwar durchaus nicht gut möblirt, aber bequem und
vor Allem wohlfeil; denn es war nichts dafür zu zahlen, wogegen für Essen
und Trinken den Reisenden, die mehr als die für alle armen Pilger offne Ta¬
fel der Mönche wünschen, allerdings eine Rechnung gemacht wird.
Alle Inschriften in und an dem Kloster sind in altslavonischer Sprache ab¬
gefaßt, die. wie bemerkt, immer noch die Sprache der Kirche ist, und die bei¬
läufig auch als die Sprache der Flotte gelten mag, sofern sich's um die Be¬
nennung der Schiffe handelt; denn ohne Zweifel commandiren die Seecapitäne
in modernem Russisch, ganz wie die Prediger in diesem Idiom predigen. Der
Name über dem kleinen Schuppen, in welchem man Heiligenbilder verkauft, der
Bibelspruch über der Armenbüchse in der Kapelle des Hospitals, kurz Alles mit
Ausnahme der Wirthsrechnung in der Klosterherberge, die in gutem Russisch ab¬
gefaßt wird, ist altslavomsch.
..Die goldköpfigen Thürme, die goldnen Kreuze, die bemalten und bestern¬
ten Kuppeln, welche dem auf das Kloster zusteuernden Wanderer ein so präch¬
tiges Bild gewähren, gruppiren sich alle um die Himmelfahrtskirche, welche nach
der im Kreml erbaut ist. Hier ist das Grab von Boris Godunoff zu sehen
den Karamsin als den Cromwell Rußlands betrachtet, und hier befindet sich
ein Altar, den Peter der Große gestiftet hat zu dankbarer Erinnerung an die
Zeit, wo er im Drcieinigkeitskloster Schutz vor den meuterischen Rotten der
Streichen fand.
Zwischen dieser Kirche und dem Schatzhaus des Klosters steht ein Obelisk,
auf dem die Hauptverdienste der Anstalt um Nußland verzeichnet sind. Im
Schatze finden sich die reichen Meßgewänder und die prachtvollen Gold- und
Silbergeräthe, welche die Mönche im Jahr 1612 den aufrührerischen Kosaken,
welche Fürst Trubetzkoi nicht bezahlen konnte, entgegentrugen, ein Anblick, der
die mißvergnügten Truppen sofort zu ihrer Pflicht zurückführte. Unter andern
Kostbarsten des Orts nennen wir noch die (beiläufig an den Absätzen stark
schiefgelaufenen) Schuhe des heiligen Sergius, einen blauen Kaftan, den Iwan
der Schreckliche getragen, den Zügel des Pferdes, welches Fürst Pojarski in
einer siegreichen Schlacht gegen die Polen geritten, einen Brief von Kaiser Paul,
in welchem er den Archimandriten Plato von der Geburt des Großfürsten Ni-
colaus benachrichtigt, und vor Allem die „natürliche" (nach dem Glauben der
Andächtigen durch ein Wunder gebildete, also eigentlich unnatürliche) Panagia."
Letztere ist, wenn auch kein Wunder, doch auf alle Fälle ein sehr wunderliches
Naturspiel. Es ist das außerordentlich deutlich ausgeprägte Bild eines Mönchs,
der vor einem Crucifix t'niet, gebildet von den Adern eines halbdurchsichtigen
Agats, der im Uralgebirg gefunden worden sein soll. Der Stein, von eirunder
Gestalt Und etwa vier Zoll doch, ist wie eine Broche mit einer Einfassung von
Perlen und Diamanten umgeben, die eine Glorie bildet, und von einer Krone
umschlossen, die mit sechs Perlen, jede so groß wie eine Pistvlentugel. geschmückt
ist. Das Bild befindet sich augenscheinlich im Herzen des Steins. Es sieht
auf der einen Seite matt Und dunkel aus, auf der andern dagegen ist es hell
und klar, und Man kann selbst die Augen des knieenden Mönchs deutlich er¬
kennen.
Was die Mönche betrifft, so tragen sie schwarze Kaftane und die Pvpen-
mütze, die wie ein modischer Cylinderhut ohne Krämpe aussieht. Hin¬
ten hängt ein langer schwarzer Schleier herab, meist auch langes schwarzes
Haar. „Sie waren," sagt Edwards, „gerade beim Essen im Alltagsrcfectorium
(es gibt ein hübscheres für die Sonntage), aßen, tranken, plauderten und ver¬
gnügten sich augenscheinlich unter einander, mit Ausnahme eines, der ihnen
Mit großer Zungenfertigkeit und offenbar" mit dem Bewußtsein vorlas, daß
Niemand auf ihn hörte. Es waren da Mönche in der Kirche, die in zwei
langen Reihen die Litanei abhangen, ein prächtiger Chor. Dann waren da
Mönche in ihren Zellen und Mönche in einer der Kapellen, welche das Wetsch-
noiu Pamyat" (ewiges Gedächtniß) für eine abgeschiedene Seele anstimmten,
und Mönche in der Kirche der heiligen Dreieinigkeit vor dem Altar des heiligen
Sergius, die einen Dankgottesdienst für einen genesenen Pilger abhielten. Es
war jetzt nicht die Wallfahrtssaison, dennoch waren die Kirchen voll Pilger und
winselnder Bettler, die sich anboten für sie zu beten. Der Altar des Heiligen,
welcher den „uuverwesten Leichnam" desselben,, das eigentliche Ziel dieser Pitg-er-
fahrten enthält, hat die Form einer ungeheuren Bettstelle (von etwa 20 Fuß
Höhe) und ist von gediegenem Silber. Die Wallfahrer, denen der „unverweste
Leichnam" gezeigt wurde, warfen sich beim Anblick desselben zu Boden,
schluchzten Und schlugen sich an ti,e Brust. Für sie war es der wirkliche Hei¬
lige, der die Tartaren geschlagen und über dem Kloster schwebend die PoKn
und später mit seiner Armee schwarzer Mönche die Franzosen zurückgeschreckt
hatte*), und welcher noch heute alle Arten von Leibesgebrechen der Gläubigen
heilt." —
„Ich besuchte dann die Malerschule des Klosters, wo zwanzig Künstler und
dreißig Kunstschüler bei der Arbeit waren und nicht nach byzantinischen „Ikons"
oder andern präraphaelischen Gemälden, sondern nach Copien von Raphael selbst,
von Leonardo da Vinci und sogar von Horace Bernet malten. Mit Freude
sah ich. daß Rußland seine Sclaven emancipirt und daß sich selbst im alten
Troiza-Kloster eine raphaelische und eine nachraphaelische Schule bildete, In
einer kleinen Bildergallerie neben dem Atelier befand sich zwischen einem Por¬
trait des Kaisers und eines Metropoliten von Moskau eine recht lebensvolle
Darstellung des Angriffs der polnischen Belagerer auf das Dreieinigkeits¬
kloster." —
„Ich besuchte nun noch die Wälle und die Höhe des goldköpfigen Glocken¬
thurms, der sich hoch ni'er die roth und grünen Dächer des Klosters und die
wie Gold und Silber glänzenden Kuppeln und Kreuze seiner zahlreichen Kirchen
und Kapellen erhebt. Wie sie inmitten der klaren, trockenen Luft über dem un¬
ermeßlichen Schneefeld glänzten, welches die Laura von allen Seiten umgab!
Der blaue Himmel war ohne Wolken, wie im Juli, die Stäbe und Ketten an
den Kreuzen der Kirchen schienen von den Strahlen der Mittagssonne zu glühen.
Dabei war es bitterkalt, und das Wasser der heiligen Quelle verwandelte sich
beinahe aus dem Wege vom Brunnen zu den Lippen in Eis. Man gab mir
zu verstehen, daß der Trunk mich, wenn ich krank gewesen wäre, geheilt haben
würde. Es fehlte mir nichts, aber ich kann bezeugen, daß es mir wenigstens
keinen Schaden that."
Ist vorzugsweise für Katholiken bestimmt. „Die Philosophie als freie selbstän¬
dige, nur ihren eignen Gesetzen folgende Wissenschaft", sagt der Herausgeber, „ist
natürlich weder katholisch, noch protestantisch", und „insofern hat jede wahrhaft
Philosophische Untersuchung, wie wir sie zu bringe» uns bemühen werden, gleiche
Geltung und Wichtigkeit für jeden des Verständnisses derselben fähigen Menschen,
mag er welcher Confession immer angehören ; aber in der Wahl und nähern Aus«
führung der Themata, in Per Berücksichtigung gangbarer Ansichten, früherer Lei¬
stungen und herrschender geistiger Bedürfnisse läßt sich allerdings einigermaßen Rück¬
sicht nehmen auf die dem Glauben nach der katholischen Kirche Angehörigen". Der
'Herausgeber will diese Rücksicht aber nur eintreten lassen, „soweit als der wissen¬
schaftliche Charakter, der Stand und die Forderungen der philosophischen Forschung
der Gegenwart es gestatten". Er glaubt, daß „viel Versäumnis, gut zu machen,
damit das philosophische Interesse und der philosophische Trieb endlich auch bei den
Katholiken Deutschlands mehr als bisher geweckt werde und auch sie Theil nehmen an
der großen geistigen Arbeit, die in dieser Beziehung dem deutschen Volke beschieden
zu sein scheint". Konfessionelle Erörterungen sollen ausgeschlossen sein oder jeden¬
falls nur iranische Tendenzen haben. „Die Philosophie ist hiezu ohnehin besonders
geeignet, da sie sich, ihrer Natur gemäß absehend von allen Glaubensgegcnsätzen, auf
den Standpunkt des allgemeine» Menschenbewußtseins und der Vernunft stellt,
während die positive Theologie stets sogleich von schwersten Gegensatz der confessio-
nellen Glaubensüberzeugunge» ausgeht und von vornherein nicht so sehr das Ge¬
meinschaftliche, als vielmehr das Unterscheidende hervorhebt". Hauptzweck des neuge¬
gründeten Organs ist, „sowohl den, pantheistilchen leeren Formalismus als auch der
romanisch-scholastischen Richtung gegenüber einen Vereinigungspunkt zu gewinnen für
diejenigen Philosophen Deutschlands, die einerseits nicht von vornherein und principiell
sich feindselig und negirend verhalten gegen den christliche» Glauben, andrerseits aber
auch in der Wissenschaft nicht einen christliche» oder katholischen Glaubensstandpunkt
einnehmen zu müssen glaube», sondern in der Wissenschaft freie selbständige For¬
schung als Bedingung wahren Wissens anerkennen und i» Deutschland eine Philo¬
sophie ausbilden wollen, die in Bezug auf Stundpunkt, Princip und Methode unsrer
Art und Eigenthümlichkeit, unserm Bildungsstand, unsern Verhältnissen und Bedürf¬
nissen angemessen und gewachsen sei". -- Das sind vortreffliche Vorsätze, denen die
Zeitschrift in de» beiden Abhandlungen der ersten Hefte, die von der Freiheit der
Wissenschaft handeln, sowie in verschiedenen Recensionen »achzukommen sucht. Nur
zweifeln wir, ob der Herausgeber sich über die Grenzen feines Unternehmens voll¬
kommen klar ist, und so sehr wir dem Unternehmen guten Fortgang wünschen, noch
den wir doch kaum hoffen, daß die Herren von der Censur in Rom diesen gestatten
werden. Wohin ist es mit Hermes und seiner Schule, wohin mit Günther gekom¬
men, die doch, wenn wir Hrn. Frohschammcr recht verstehe», noch lange nicht so
viel Freiheit b«anspruchte», als unser Athenäum?
Ein neues musikalisches System, welches von allen früheren Theorien abweicht,
indem es mit der Anschauungsweise des Generalbasses bricht. Es werden drei Mo¬
mente aufgestellt: Einheit, Solidarität und absolutes Intervall. Alle Regeln sind
nur Folgerunge» dieser Dreiheit. „Es gibt l2 Töne. Betrachten wir C als I
(Haupttor), so sind alle andern absolute Intervalle" von der „Einheit" C. Auf
Grund der „Solidarität" ist diese Gruppirung zwölfmal möglich, d. h. es entstehen
mit jeder neuen Einheit zwölfmal absolute Intervalle, und so sehen wir denn unsre
zwölf Einheiten als solidarische sich um das Urgesetz der Einheit nach dem Gesetz
der Nothwendigkeit bewegen, alle den, einen Selbstzweck der Tonkunst dienend. Wir
müssen die Prüfung dieser Ansicht mit dem, was der Verfasser zur Erleichterung des
Studiums der Harmonie vorschlägt und verschiedenem Andern den eigentlichen Musik¬
gelehrten überlassen und begnügen uns, dieselben auf das Buch aufmerksam zu
machen.
Enthält eine Anzahl werthvoller Abhandlungen, von denen wir namentlich die
von Steinthal gelieferten- „Ueber die ursprüngliche Form der Sage von Prome¬
theus" — „Die Sage von Simson" — und „Ueber den Aberglauben", die von
Lazarus: „die Verdichtung des Denkens in der Geschichte" und „Ueber das Verhält¬
niß des Einzelnen zur Gesammtheit", ferner die von Lübke: „Ueber den gothischen
Styl und die Nationalitäten", die von H. v. Blomberg: „Ueber das Theatralische
in Art und Kunst der Franzosen" und die von L. Tobler „Ueber die dichterische
Behandlung der Thiere" als reich an feinen Gedanken der Beachtung empfehlen.
Besonders gelungen scheint uns unter den mythologischen Beiträgen Steinthals mit
Ausnahme der gezwungnen Deutung des Räthsels und der Entführung der Thore
von Gaza, der Aufsatz über Simson, in welchem uns der Verfasser sehr interessante
Blicke in das Heidnische thun läßt, welches noch in später Zeit neben dem Mono¬
theismus des hebräischen Volkes herging.") Simson ist, wie schon sein Name an¬
deutet (Schimschon von Schcmesch, die Sonne, wie der Philistergott Dagon von
Dag, der Fisch) und wie hier an den von ihm erzählten Thaten überzeugend nach¬
gewiesen wird, die Erinnerung um einen altsemitischen Sonnengott, den Gott einer¬
seits der zeugenden Wärme (vgl. seine vielen Liebschaften), andrerseits der versengen¬
den Gluth (vgl. die Verbrennung der Saaten der Philister), der in eigenthümlicher
Weise hebräisch modificirt ist, und dessen Leben später von dem vragmatisirenden
Schriftsteller, der das Buch der Richter zusammenstellte, den Grundsätzen der Jahve-
Neligion angepaßt wurde, .ihne daß dadurch sein ursprünglich heidnisches Wesen völ¬
lig verwischt worden wäre. Simson handelt mit übernatürlicher Kraft, er ist ganz
und gar ein Wunder. Trotzdem ist sein Auftreten nicht blos ohne eigentlichen Er¬
folg, sondern, was viel bedeutungsvoller und zwar übler ist, ohne Bewußtsein eines
Zweckes, ohne Plan und Gedanke. Er sucht sich Frauen und Dirnen — Simson,
der Jahve geweihte Nasir — unter seinen und seines Volkes Feinden, neckt l'etztcre,
reizt sie, schadet ihnen, tobtet ihrer viele; aber nirgends zeigt sich in ihm das Be¬
wußtsein einer Aufgabe, die er zum Besten seines Vaterlandes, dessen Feinden gegenüber,
zu erfüllen habe. Ihn beseelt nicht die Idee Jahve's, ihn treibt nicht Drang nach
Befreiung vom schmählichsten Joche; ihn bewegt uur Sinnenlust und launenhafter
Uebermuth. Simson ist durchaus unsittlich. Er ist eben ein alter heidnischer Gott,
und also unsittlich wie alle Götzen. Denn diese sind nichts als personificirte Kräfte
und Ereignisse in der Natur. Nun ist diese als solche gleichgiltig gegen das Wesen
der Sittlichkeit und also zwar nicht sittlich, aber doch auch nicht unsittlich. Die
mechanische Naturkraft aber als Person gedacht, in die Beziehungen des sittlichen
Lebens versetzt, kann nur als absolut unsittlich erscheinen. — Bei der ganzen Ent¬
wickelung dieses Mythcngebildcs scheint uns nur eines nicht genügend erklärt, der
schalkhafte Ton der Erzählung, durch den Simson fast wie ein hebräischer Eulen-
spiegel erscheint, und den wir uns mit Analogien ans andern Mythologien, dem
Verhalten Thors gegen die Niesen, den Reden Lote's beim Gastmahl der Götter, den
Liebschaften des Zeus, der Freßbegier des Herakles, der Gefangenschaft des Ares und
der Aphrodite unter dem Netz des Hephästos u, a., besonders aber mit der Gestalt,
in welcher alte Götter noch setzt im Bewußtsein des Volkes bisweilen auftreten, ver¬
ständlich machen möchten. Wie sich das Volk bei historischen Helden gern an ko¬
mische Eigcnthümlickkeitcn, bei dem „alten Fritz" an seinen zum Prügeln geschwun¬
genen Krückstock und sein Schnupfen aus der Westentasche, bei „Doctor Luther" an
das dem Teufel an den Kopf geworfene Tintenfaß, erinnert, so werden ihm seine
Götter bei der Herausbildung einer neuen Religion, wo sie sich nicht in Heilige (w>«
Holda in Maria, Wuotan in den Ritter Georg) verwandeln lassen, allmälig zu
„dummen Teufeln" oder andern komischen Figuren, wie solche in Menge in den
Gebräuchen der WeihnachtS- und Osterzeit und in der Volkssage umgehen. Ein
ähnlicher Proceß hat aller Wahrscheinlichkeit nach mit dem alten Sonnengott der
Israeliten stattgefunden. Der Mythus von ihm wurde, als der Monotheismus
durchdrang, zur nationalen Hcrocnsage, und der Heros nahm dann noch später eine
burleske Farbe an. Er, der ursprünglich beim Eselskinnbacken, einem seltsam ge¬
stalteten Felsen, mit Blitzen siegreich gekämpft, hatte dies nun mit einem Eselstinn-
backcn gethan.
Enthält ein Gedicht „Mein Vaterland" von Tintschew. Abhandlungen über die
russischen Zeitblätter, die Stndentcnbewegung, die Reform des Unterrichtswesens, fer¬
ner eine Novelle „Faust" von I. Turgcnew, dann Schilderungen der Städte Astrachan
und Odessa, endlich vermischte kürzere Berichte und Notizen. Dem Kapitel über die
russischen Zeitblätter entnehmen wir einige Mittheilungen über die politischen Tage¬
blätter Petersburgs, welche die neulich vou uns gebrachten Notizen über den Journa¬
lismus in Nußland ergänzen mögen. In Petersburg erscheinen gegenwärtig folgende
politische Zeitungen!
Die „Sanct Petersburger Nachrichten" (Sanktpctcrsburgskija Wädo-
mosti) ein Blatt, das, schon unter Peter dem Großen gegründet, seit 183 l täglich
erscheint und jetzt von Otschkin und Krajcwsky redigirt wird. Der Akademie der
Wissenschaften gehörig, zeigt es eine unparteiische Haltung, die es schon darin be¬
währt, daß es Männer der freisinnigsten Richtung zu Mitarbeitern zählt und in den
Hauptfragen einer Discussion aus verschiedenen Gesichtspunkten Raum gibt. Nicht
blos im Feuilleton, sondern auch im Hauptblatt finden auch nicht politische, nament¬
lich belletristische Artikel Platz. — Der „Russische Invalide" (Rußki Jnwalid).
1813 gegründet und Anfangs ein kleines Wochenblatt, das, auf Kosten der Negie¬
rung erscheinend, fast nur militärische Nachrichten brachte, jetzt aber eine große poli¬
tische Zeitung, die in Privatbauten ist, vom Obersten Pissarcwsky redigirt wird und
nur in den das Militärwesen betreffenden Artikeln Organ der Regierung ist. — Die
„Nordische Biene" (Säwernaja Ptschela) 1825 zuerst erschienen und lange Zeit,
von Gratsch und dem allgemein verachteten Bulgarin redigirt, ein Organ nieder¬
trächtigster absolutistischer Tendenzen, seit 1860 aber durchaus umgestaltet und jetzt
ein geachtetes Blatt, wozu der gegenwärtige Redacteur Paul Ussow wesentlich bei¬
getragen. Das Programm des Blattes umfaßt außer politischen Nachrichten in kein-
graphischen Depeschen und Privatcorrcspondenzen auch literarische Kritiken, Novellen,
Reisebeschreibungen, Theater-, Musik-, Mode- und Börsenberichte. Mit demselben ist
„der Vermittler für Handel und Gewerbe" verbunden, ein Blatt, welches die Preise
auf den russischen und ausländischen Hauptmärkten zur Kenntnis; des Publicums zu
bringen bestimmt ist. — „Die „Nordische Post" (Säwcrnaja Pvschta) 1804 vom
Ministerium des Innern gegründet, um dem Publicum über verschiedene Gegen-
stüttbe in dem Bereich der Verwaltung dieses Ministeriums sowohl theoretische als
factische Mittheilungen zu machen. Von 1804 bis 1809 in Monatsheften, dann
bis 1820 in Form einer Zeitung erscheinend, dann wieder eine Monatsschrift, kommt
es seit dem 1. Januar 1862 täglich heraus. Die Leitung ist dem Professor Niki-
tenko anvertraut, der sich als Literarhistoriker Ruf erworben hat. Der Inhalt zer¬
fällt in eine» amtlichen Theil, eine Chronik der gegenwältigen innern Zustande
Rußlands, Berichte über die auswärtige Politik, Kritik und Unterhaltungöleclüre,
und vermischte kleinere Artikel. — Der „Sohn des Vaterlands" (Ssüu Otet-
schestwa), nicht zu verwechseln mit dem Wochenblatt gleiches Namens, welches, von
Gretsch und Bulgarin redigirt, der belletristische Bcilüufer der Nordischen Biene war
und wie diese sich den Ruf skandalöser Gemeinheit erwarb, bis es 1852 einging.
Der gegenwärtige Sohn des Vaterlandes erschien zuerst 1856 und zwar als Wochen¬
schrift. Zum Tageblatt wurde es erst im Jahre 18"62. Es soll nach dem Pro¬
gramm seines jetzigen Herausgebers StartschewSty „deu moralischen Nutzen der Ge¬
sellschaft" fördern und „der sittlichen Erweckung insbesondre des Mittelstandes ge¬
widmet sein." Beispiellos wohlfeil (obwohl es zu den umfänglichsten Journalen
Rußlands gehört, kostet es jährlich nur 6 Rubel, während die andern Tageblätter mit
Ansnahme der Post 16 Rubel kosten) gibt es in seinen vrai Bogen starken SonntagSnum-
meru eine umfassende politische Uebersicht, die einen vollen Bogen einnimmt, Materialien
zur russischen Geschichte, politische und sonstige Nachrichten aus alleu Ländern, Lebens¬
beschreibungen berühmter Russen, Gedichte, Aufsätze über Literatur, Wissenschaft
Kunst und Gewerbe u. s. w. Die andern Nummern bieten den gewöhnlichen In¬
halt localer Tageblätter, namentlich aber auch Berichte über die Bauernbefreiung,
den Zustand der Sonntagsschulen und der Volksbildung überhaupt. Außerdem
bringt das Blatt vielfache artistische Beilagen: Porträts berühmter Zeitgenossen,
Copien von Gemälden, Modebiidcr und Carrikctturen, welche letztere die Redaction
für so wichtig hält, „daß sie von ihnen die edelste Wirkung der Satire, eine Ver¬
besserung der Sitten erwartet."
Nichtrussische Petersburger Tageblätter sind die „Se. Petersburger Zeitung"
und das „^cnirng,1 as Lg,int ?6tersbov.rs", welche beide 1825 entstanden und
Eigenthum der Akademie der Wissenschaften sind. Jene wird seit einigen Jahren
von I)r. Friedrich Meyer, einem Schüler Grimms und Landmanns, redigirt, der aus
Arolsen gebürtig ist. Wie Herr Wolfssohn behauptet, leitet derselbe das Blatt „bei
aller patriotischen Haltung in deutschem Geiste", wobei ihn der frühere Redacteur
der Königsberger Hartungschen Zeitung, Herr Burow, als Hauptmitarbeiter unter¬
stützt. Das „Journal as Samt ?stsrLbours", durch seine Stellung zur Regierung
von europäischer Bedeutung, ist im Ausland zur Genüge bekannt.
In Nro. 21 des in Leipzig erscheinenden Blattes Magazin für die Literatur
des Auslandes befindet sich die Recension eines kürzlich bei Bruckmann in Stuttgart
erschienenen Reisehandbuchs nach London, in weicher folgender Passus vorkommt-
„Als im Jahre 1851 die erste Welt-Jndustnc-AussteUung in London eröffnet war
und Tausende von Kontinental-Reisenden die Weltstadt aufsuchten, griff Alles nach
Bädeker's Wegweiser durch dieses Labyrinth von Straßen und Wohnhäusern für
Millionen von Menschen. In der That hatte der wackere Buchhändler von Koblenz
das Mögliche geleistet, um seinen deutschen Landsleuten das Fortkommen in der
Riesen-Hauptstadt zu erleichtern. Seitdem sind jedoch die Weltwunder derselben um
viele neue vermehrt worden. Was kann in unsrer Zeit nicht Alles in elf Jahren
mit Dampfmaschinen zu Stande kommen? Die Welt-Industrie-Ausstellung von 1862
liefert den Beweis, daß man zur Zeit der Ausstellung von 1851 noch weit, sehr
weit zurück in der Kultur war. Wir bedürfen natürlich eines neuen verbesserten
Bädeker, und diesen erhalten wir soeben in Bruckmann's Reisebibliothek."
Den Gebrauch meines Namens als Aushängeschild für jenes Buch hat man
sich hier, unter Angabe vollständig unwahrer Thatsachen, in einer Weise erlaubt,
welche mich nöthigt, um Irrthümern von Seiten des reisenden Publikum's vorzu¬
beugen, folgende Berichtigung der Oeffentlichkeit zu übergeben.
'
Ein Bädekersah-s Reisehandbuch nach London ist zur Zeit der Industrie-Aus¬
stellung von 1851 nicht erschienen und hat überhaupt bisher noch nichteri-
stirt; es wird vielmehr ein solches erst in den nächsten vier Wochen in erster
Auflage erscheinen. Zur Zeit der Publikation des Bruckmann'sehen Buches und der
betreffenden sogenannten Recension befand ich mich noch in London, um die letzten
Notizen zu meinem erst in den beiden jüngst verflossenen Jahren vorbereiteten Lon¬
don-Führer zu sammeln.
Eine neue Auflage von „Bädekers London" ist daher weder nothwendig, wie
man es in dem Bruckmann'sehen Artikel dem Publikum glauben zu machen versucht,
da eine frühere Auflage nicht besteht, noch bildet das Bruckmann'sche Buch einen
dem Fortschritte der Industrie entsprechenden „Bädeker", da ein solcher vielmehr erst
in dem von mir demnächst zu publicirendeu „London und seine Umgebung" erschei¬
nen wird.
Mit Ur. TV beginnt diese Zeitschrift ein neues Kuartal,
welches durch alle Buchhandlungen und Postämter zu be¬
ziehen ist.
Leipzig, im Juni 18L2.Die Verlagshandlung.
Seit wann leben Menschen aus der Erde? Die beglaubigte Ueberlieferung
hat keine Antwort auf diese naheliegende Frage. Auch die Archäologie be¬
sitzt keinen Maßstab zur Bestimmung des Alters der Ueberbleibsel mensch¬
licher Thätigkeit aus vorgeschichtlicher Zeit. Wohl aber kann die Geologie
einigen Aufschluß über die Länge der Zeit geben, seit welcher Menschen die
Erde bewohnen. Wenn sie auch diesen Zeitraum nicht in Zahlen mit nur an¬
nähernder Sicherheit auszudrücken weiß, so vermag sie doch zu sagen, in wel¬
chem Verhältniß der Zeitpunkt des ersten nachweisbaren Vorhandenseins von
Menschen auf der Erdoberfläche zu anderen geologischen Daten steht. Diese
Seite des Gegenstands aber hat durch Entdeckungen der jüngsten Vergangenheit
eine völlig neue Gestalt gewonnen.
Noch vor einem Menschenalter beantwortete die Geologie, durch Cuvier
vertreten, jene Frage kurz abweisend. Es gebe keine fossilen Menschenknochen.
„In Schichten, welche wirkliche Fossilresle enthalten, unter den Paläolherien-
selbst unter den Rhinoceroten und Elephanten, hat man niemals Menschen,
krochen gefunden. . . . Die Niederlassung der Menschen ist in allen Ländern,
wo fossile Knochen von Landsäugethieren sich finden, zuverlässig nicht blos neuer
als die Umwälzungen, welche jene Knochen verschütteten, sondern selbst neuer als
diejenigen, welche knochenführende Schichten theilweise entblößten. Daraus geht
hervor, daß weder aus jenen Thierknvchen an und für sich, noch aus den mehr
oder minder mächtigen Gcsteinschichtc», welche sie bedecken, irgend ein Schluß
zu Gunsten des Alterthums des Menschengeschlechts in diesen verschiedenen Län¬
dern gezogen werden kann. ... Die nach der Tertiärzeit erfolgten lockeren
Ablagerungen aus Gerölle, Kies. Sand. Lehm, Thon, welche ohne Unterschied
alle älteren Schichten überlagern, nannte man D.iluvialgebilde. weil man früher
die Ueberfluthung. der sie ihr Dasein verdanken, mit der biblischen Sündfluth
identificirte und Diluvium nannte. Die Thatsache einer letzten allgemeinen
Fluth steht fest; den einmal gegebenen Namen hat man beivebalten, aber die
Deutung mußte eine andere werden. Denn die Sündfluth sollte das Menschen-
geschleckt vertilgen, welches bei Eindruck jener Diluvicilfluth noch nicht aus
der Hand des Schöpfers hervorgegangen war."
So Cuvier. Es wurde seinem Scharfsinn nicht schwer, das Irrthümliche
früherer, der seinigen entgegenstehender Auffassungen aufzudecken: Auffassungen,
die nur zu oft den Spott herausforderten. Von vielen Beispielen eins: Ein
von der berühmten Fundstätte von Versteinerungen Oeningen herrührendes
Skelet war von einem Züricher Forscher, Scheuchzer, für das eines Menschen,
„eines Zeugen der Sündfluth" erklärt worden. Scheuchzer fühlte sich durch
seinen-Fund zu einen fromm ermahnenden Gedickte angeregt, welches anhebt-. „Be¬
trübtes Beingerüst von einem alten Sünder". Cuvier zeigte, daß dieses Bein¬
gerüst keinem Menschen, sondern einem großen Erdsalamander angehört habe.
Seine Anschauung weiter entwickelnd, suchte Cuvier aus Beobachtungen
über das Wachsen der Anschwemmungen an Flußmündungen, das Vorrücken
der Dünen ins Innere des Landes und über ähnliche seit dem Eintritt der
jetzigen Vertheilung des Festen und Flüssigen auf der Erdoberfläche stetig wir¬
kende Vorgänge den Nachweis zu führen, daß die gegenwärtige Gestaltung der
Continente überhaupt kein hohes Alter haben könne. Er setzt die Zeit der
letzten, großartigen und plötzlichen Umwälzung der Erdrinde nicht weiter zurück,
als etwa fünf- bis sechstausend Jahre.
Das Vorgehen zweier englischer Forscher. Lyell und Edo. Forbes, hat der
neueren Geologie das Streben aufgeprägt, die Veränderungen, welche die Erd¬
rinde in der Vorzeit erlitt, soweit irgend thunlich aus Ursachen zu erklären,
welche noch in der Gegenwart thätig sind. Die oft mißbrauchte Annahme ge¬
waltsamer ungeheurer Katastrophen, des plötzlichen Vcrsinkens ganzer Konti¬
nente, des reißend schnellen Hervorquellens feurig-flüssiger Alpengebirge aus wei¬
ten Klüften der Erdrinde wird gern ersetzt durch die Annahme der langsamen,
in kurzen Zeitabschnitten kaum merkbaren, aber sehr lange Zeiträume hindurch
thätigen Senkungen und Hebungen, Auswaschungen und Anschwemmungen,
wie sie noch heute häusig beobachtet werden. Die langsame Hebung z. B. im
allmäligen Steigen Norwegens, die langsame Senkung an den Koralleninseln
der Südsee. Diese Ringe steiler, in mehreren Tausenden von Fußen erst älte¬
rem Gestein aufsitzender Felsen mit fast senkrechten Außenwänden bestehen in
der ganzen Masse aus den Gehäusen von Korallenthiercn. welche noch heute in
der Nähe der Meeresoberfläche thätig sind, aber nur bis zu wenigen Faden
Tiefe. In größeren Tiefen kann der felsbildende Korallenpolyp nicht leben.
Es ist einleuchtend, daß die Entstehung solcher Koralleninseln nur in der Weise
denkbar ist, daß die Ringe aus kaum über die Meeresoberfläche ragenden In¬
seln einst Riffe waren, welche mäßig große Inseln, Gebirgsgipfel eines längst
versunkenen Festlandes, umsäumten, und daß diese Ningriffe in demselben Maße
höher wuchsen, als die sie tragenden Inseln langsam immer tiefer sanken, end-
lieb untertauchend. — Anstatt der Hypothese einer Reihe üampfhafter Um¬
wälzungen, die mit-langen Pausen der Ruhe wechselten, ist die während un¬
endlich langer Zeiten wirkender kleiner Ursachen in Gunst. An Stelle der An¬
nahme über alles bekannte Maß hinaus gehender Kraftäußerungen der berge¬
bildenden Thätigkeit der Erdrinde ist die einer alle Vorstellung übersteigenden
Zeitdauer getreten, innerhalb deren die Erdoberfläche allmälig ihre jetzige Ge¬
stalt erhielt.
Aehnliche Vorstellungen fanden Anwendung auf die Auffassung des Herganges
der im Laufe der geologischen Perioden erfolgten Wandelungen der Bevölkerung
der Erde durch Pflanzen und Thiere. Man überzeugt sich in immer zahlreichern
Fällen davon, daß die innerhalb einer bestimmten Formation von Flötzgebirgen
vorhandenen Reste von Organismen in der nächstjüngeren Schicht nicht voll¬
ständig fehlen. Eine beträchtliche Zahl von Pflanzen und Konchylien gehen
durch ganze Reihen von Schichten hindurch. Derartige Fälle mehren sich, je
jüngere, der Gegenwart nähere Schichten untersucht werden. Gewisse Nadel¬
hölzer, Kampherbäume, Lvrbeerarten finden sich in den ältesten wie in den jüng¬
sten Schichten der Braunkohlcnformativn, und die wohl erhaltenen Reste dieser
Arten sind jetzt noch — wenn auch weit von den Fundstätten jener — lebenden
so ähnlich, daß der Zweifel an der völligen Gleichartigkeit beider kaum ge¬
rechtfertigt erscheint. Zwischen Moosen und Pilzen der Vrauntohlenzeit und
solchen der Gegenwart sind geradezu keine Unterschiede aufzufinden. Unter den
Süßwasserkonchylien der Braunkohlensormation ist das Verhältniß der heut noch
lebenden Arten zu den ausgestorbenen in den untersten Schichten wie i zu 30,
in den mittleren wie 1 zu 5, in den obersten wie l zu 3, selbst 1 zu 2 und
9 zu 10. Es war nur consequente Verfolgung des von Lyell eingeschlagenen
Gedankenganges, daß Darwin neuerdings die Durchführung der Hypothese
der Entstehung alter Arten von Pflanzen und Thieren aus schrittweiser Ab¬
änderung weniger verloren gegangener Urformen versuchte.
Schon seit lange war die Identität eines sehr großen Theiles der Organismen
der D'luvialperiode mit solchen der Jetztzeit bekannt. Unter den uns erhaltenen
Pflanzenresten jener Epoche finden sich kaum irgend welche von heute lebenden
verschiedene Arten. Die Süßwassertuffe, welchen der größte Theil der gewal¬
tigen Masse des Aetna aufgelagert ist, enthalten keine andren Pflanzen und
Konchylien, als noch jetzt in der Nachbarschaft lebende. So auch die Tuffe
von Canstadt u. v. A. Zwar die Säugethierknochen > des Diluvium sind
großenteils von auffallender Eigenthümlichkeit. Die Skelette des Mammuths,
des zweihörnigen Rhinoceros in Europa und Nordasien, des den Mammuth an
Körpermasse noch übertreffenden Mastodon Nordamerika's, der Riesenfaulthiere
Südamerika'« stehen fremdartig genug neben jetztlebenden Thieren dieser Länder.
Aber nut jenen Ungeheuern gleichzeitig lebten bereits andere Säugethiere, die in
den nämlichen WelttKcilen heute noch in großer Zahl lebend angetroffen werden,
wenn auch in beschränkterer Verbreitung als zur Diluvialzeit. Ungemein weit
verbreitet sind in diluvialen Bildungen z. B. Knochen des Auerochsen. Ge¬
weihe und Knochen des Rennlbiers. sie finden sich in den meisten Knochen-
Höhlen Mitteleuropa's; hier und u> Torfmooren Südscbwedens gemeinsam mit Knochen
des Höhlenbären, jener riesigen Bärenart. die bald nach dem Zeitpunkte ausgestorben
zu sein scheint, zu welchem der Mammuth in Europa erschien. Schädel des
gemeinen schwarzen Bären Nordamerika's sind öfters mit Kieferstücken und Zähnen
des Mastodon zusammen gesunden worden. Aus diesen und vielen ähnlichen
Thatsachen haben mehrere Geologen schon vor geraumer Zeit den Schluß ge¬
zogen, daß die Diluvialzeit nicht eine von der modernen weit verschiedene geolo¬
gische Epoche, sondern eben »ur der Anfang der gegenwärtigen Periode gewesen
sei. Das Verschwinden der jetzt erloschenen Arten großer Säugethiere ist nicht
gleichzeitig erfolgt. Sie haben in Europa verschieden lange Zeit gelebt. Es
liegt kein Grund vor, zu bezweifeln, daß ihr Aussterben ein allmäliges gewesen
sei. Die großen Fleischfresser, die Höhlentiger. Höhlenbären, Höhlcnhyänen sind
zeitiger verschwunden als der Mammuth, das doppelhörnige Nashorn. Noch
länger als diese, bis in die historische Zeit, haben sich erhalten der Ur, der
Hirsch mit dem Riesengcweih (auf den bekanntlich der Schelk das Nibelungen¬
lieds gedeutet wird). In der Gegenwart noch sind das Elenn und der Wisent
(Auerochs Lithauens) im Aussterben begriffen, wie vor Kurzem noch die letzten
flügellosen Vögel der Südsee-Inseln, gleich ihren riesigen Vorfahren, von
denen etliche den Strauß an Größe weit übertrafen, durch den Menschen ausge¬
rottet wurden.
Durch die Feststellung der Thatsache, daß Knochen vieler jetzt noch leben¬
der großer Säugethiere in beträchtlicher Zahl bereits, in den ältesten diluvialen
Ablagerungen sich fanden, war die Wahrscheinlichkeit der Aufsindung mensch¬
licher Ueberreste im Diluvium nahe gerückt. Derartige Funde waren in der
That bereits vorlängst erfolgt, in Knochenhöhlen Südfrankreichs und Eng¬
lands, freilich unter Umständen, welche die Möglichkeit eines spätern Gelangens
der Menschenknochen an die Fundorte nicht ausschlossen. ' Der mächtige Ein¬
fluß der gewaltigen Persönlichkeit Cuvier's tritt schlagend in der Erscheinung
hervor, daß jeder derartige Fund — deren keiner von einer Autorität ersten
Ranges geschehen war — allgemein angezweifelt und hinweg erklärt wurde.
Die Lehre des großen Meisters sollte über jedem Angriffe stehen. Spät erst
kam die Entscheidung, und langjährige Anstrengung kostete ihre Durchführung
dem, der sie brachte.
Er war kein Geolog vom Fach. Boucher des Perthes zu Abbeville, ein
durch seine Forschungen über die ältesten Werke menschlichen Kunstfleißes wohl
bekannter Archäolog, berichtete bereits 1846 der französischen Akademie, daß im
Thale der Somme bei Abbeville in jungfräulichen, nie zuvor umgewühlten Schich¬
ten diluvialer Kies- und Gerölllager menschliche Werkzeuge, namentlich Aexte
aus Feuerstein, in Gemeinschaft mit Mammuthknochen sich fänden. Seine.
Mittheilungen, oft wiederholt, erregten lange Zeit nicht die verdiente Aufmerk¬
samkeit, bis zwei englische Geologen ersten Ranges, Lyell unt> Prestwich. nach
einer Reise an die Fundorte bei Abbeville die Richtigkeit der Angaben Bouchers
im vollsten Umfange bestätigten und verbürgten. Prestwich lies! uiiter seinen
Augen Nachgrabungen anstellen. In 16 Fuß Tiefe in jungfräulichen Boden,
einem weihen Sande mit zahlreichen Kieseln, wurde ein zum Theil zur Axt be¬
arbeitetes Stück Feuerstein aufgefunden und von Prestwich mit eigener Hand
losgemacht. In derselben Schicht mit den Knochen kommen Zähne und Knochen
vom Mammuth, vom Flußpferd, vom Ur, auch vom Pferde vor. Die in ihr
gefundenen Konchylien gehören sämmtlich jetzt noch lebenden Arten an. Sie
ist nicht die oberste der diluvialen Schichten des Sommethaies. Die sie decken¬
den Schichten enthalten keine Neste menschlicher Tätigkeit. Die Aerte. aus
dem in der kreidereichen Rabe des Fundorts sehr häusigen Feuerstein gefertigt,
sind bis zu IN Zollen lange, in der Form gemeinen Beilen ähnliche Bruch¬
stücke großer Feuersteinknollen. Die Schneide ist durch Reiben auf anderen
Steinen geschliffen. Ein Loch zum Einstecken eines Stiles fehlt. Kanten und
Schneiden sind kaum abgestumpft; die Aerte können nicht auf weite Strecken
vom Wasser fortgeführt worden sein. Viele sind mit der Kruste aus Kalk über¬
zogen, welche die im Diluvium häufigen Fcucrstcinstücke zu bedecken pflegt.
Ueberraschend groß ist die Zahl dieser Feuersteingeräthe: man hat während der
letzten 15-Jahre deren mehr als 1000 im Bassin der Somme gefunden.
Die Erklärungen Prestwichs erschienen 1859. Zahlreiche weitere Funde folg¬
ten bald. Prestwich selbst bestätigte die schon 1797 von Fröre gemachte, damals
als unentscheidend betrachtete Angabe des Vorkommens von Feuersteinwerk-
zcugen (Messern und Pfeilspitzen) zusammen mit Mammuthsknochen in der Höhle
von Hoxne in Suffolk. Er fand deren ferner in der Höhle von Brixham;
eins in einer dünnen Stalagmitenschicht, welche den Boden der Höhle überzog,
unter dem Geweihe eines Ncnnthiers und einem Höhlenbärknochcn liegen.
Messer, Pfeil- und Wurfspießspitzen fanden sich in ungestörten diluvialen
Schichten bei Chattilon für Seine. Grenelle. Clichy. in einer Knochenhöhlc
des Code d'Or, und anderwärts; bearbeitete Knochen (vom Pferd und anderen
Grasfressern) in Gemeinschaft mit Resten des Höhlentigcrs. der Höhlenhyäne,
des Rhinoceros bei Per (Seine-et-Oise) u. s. w.
Das häufige Vorkommen von unzweifelhaft durch Menschenhand bearbei¬
teten Geräthen aus Stein und Knochen in alten diluvialen Schichten, welche
über weite Länderstrecken verbreitet sind, ist ein unwidersprcchlichcr Beweis da¬
für, daß Menschen vor der Ablagerung dieser Schichten existirt haben. Die
große räumliche Ausdehnung dieser Schichten, die Allgemeinheit des Vorkom¬
mens der Kunstproducte ur ihnen auf beiden Seiten des britischen Kanals
schließt die Annahme örtlicher gleichzeitiger Auswüblung älterer und neuerer
Schichten, der Wiederablagerung des aufgewühlten Materials mit Untermischung
der aus älteren und jüngeren Lagen, aus verschiedenen Zeiten stammenden Reste
aus. Unzweifelhaft haben Mensch en gleichz eilig mit dem Mammuth
und mit dem Rhinoceros mit knöcherner Nasenscheidewand, mit den großen Raub-
thieren der Knochenhöhlen, also vor dem Diluvium gelebt. Die Abwesenheit
menschlicher Gebeine, besonders der schier unzerstörbaren Zähne, an den Fund¬
orten der Feucrsteinwerkzeugc führenden Ablagerungen läßt freilich schließen, daß
in diesen Ländern die Fluth, welche die diluvialen Schichten ablagerte, eine
leidlich milde Strafe der Sünden der menschlichen Bewohner war. Sie schei¬
nen Zeit gehabt zu haben, sich selbst zu retten, vor dem hereinbrechenden Un¬
glück mit Hinterlassung von Waffen und Gepäck abzuziehen.
Auf einen, zweiten Wege hat Lartet das gleichzeitige Dasein von Menschen
mit den im Diluvium begrabenen, jetzt erloschenen Säugethierarten nachgewie¬
sen. Er zeigte, daß Knochen solcher Thiere bisweilen deutliche Spuren der Be¬
arbeitung durch Menschenhand tragen. Geweihe ausgestorbener Hirscharten,
bei Abbeville und anderwärts aufgesunden, zeigen Einschnitte, die mit Feuer¬
steinmessern gemacht zu sein scheinen. Einzelne Zinken der Geweihe sind halb
abgetrennt, andere ganz. Pfeilspitzen, Pfriemen, Nadeln aus Renntbierhorn
gefertigt sind an mehreren Stellen Südfrankreichs und in beträchtlicher Anzahl
gefunden worden. Man wird nicht einwerfen, daß nach dem Aussterben des Ncnn-
thiers in diesen Gegenden lebende Menschen fossile Geweihe benutzt haben können.
Geweihe und Knochen werden schon nach verhältnißmäßig kurzem Liegen in der
Erde oder an der Lust brüchig, mürbe und zur Bearbeitung untauglich —
— Ein Röhrenknochen eines Auerochsen, in den Beile führenden Schichten von
Abbeville gefunden, ist durchhackt, durch den mit Kraft geführten Schlag eines
axtartigen Werkzeugs in zwei Stücke gehauen. Die Hiebflächen sind gestreift wie
als hätte die Schneide des Beiles Scharten gehabt. Einschnitte, die von einem
Instrumente mit gerader und scharfer Schneide herrühren, wie sie beim Abschnei¬
den des Fleisches vom Knochen entstehen würden, ließen an vielen Knochen
von Auerochs, Ricscnhirsch. Rennthier sich nachweise»; auch an einem Röhren¬
knochen eines jungen zweihörnigen Rhinoceros.
Neuerdings sind auch Ueberreste menschlicher Körper unter Verhältnissen
gesunden worden, welche keinen Zweifel an dem in die Diluvialzeit hinauf¬
reichenden Alter derselben lassen. Zuerst vom Marquis de Bibrave in einer
Grotte bei Arvy in Burgund. Der Boden dieser Grotte (welcher Spuren
einstiger Bewohnung durch Menschen bis in die historische Zeit hinein trägt)
besteht aus drei deutlich verschiedenen Schichten. Die oberste, welche Knochen
von Füchsen, Wieseln und ähnlichen unterirdisch wohnenden Thieren enthält,
ist augenscheinlich neuer Entstehung. In der zweiten, einem Konglomerat mit
rothem Bindemittel, in paläoniologischer Beziehung den Knochenhreccien ent¬
sprechend, welche häufig Felsenspalten der Mittelmeerküste erfüllen, fanden sich
Gercithe aus Kieselstein, unter anderen ein zerbrochener Ring. Die unterste
Schicht enthält Knochen des Höhlenhären, der Höhlenhyäne, des zweihörnigen
Rhinoceros. In ihr fand sich der Unterkiefer eines Menschen. Die Beschaffen¬
heit dieses Knochens — vorgeschrittene Verwitterung der lcimgebenden Substanz
— glich vollkommen derjenige» der ihm beigesellten fossilen Säugethierknochen.
Die nämlichen Merkmale höchsten Alters trägt ein in einer Grotte des Nean-
derthales bei Elberfeld aufgefundenes menschliches Skelet, dessen geologisches
Alter indeß nicht bestimmt werde» konnte, da in dem Lehm, in welchem es
eingebettet war. keinerlei andere organische Reste gefunden wurden.
Der merkwürdigste Fund nach dieser Richtung hin geschah durch Lartet.
Vor 12 Jahren verfolgte unweit Äurignac (südwestlich von Toulouse) ein
Straßenarbeiter ein Kaninchen, welches in e>n Loch am AbHange eines das
Thal eines kleinen Baches begrenzenden Hügels flüchtete. Der Mann griff
nach und erfaßte zwar nicht das verfolgte Wild, aber einen Knochen eines
großen Thieres; sehr zu seinem Erstaunen. Neugierig geworden grub er nach.
Nach Wegräumung eines Haufens von Gerölle fand er eine dünne senkrecht
ausgestellte Steinplatte, welche den Eingang einer flachen Grotte von etwa
L Fuß Weite. 7 Fuß Tiefe und Höhe verschloß. Der Boden der Höhle war
bedeckt mit menschlichen Gebeinen, verschiedenen Individuen, zum Theil uncr-
"wachsenen angehörig. Diese Aufsindung machte großes Aufsehen. Viele Jahre
vorher hatte die Polizei in einem einsamen Hause unfern der neu entdeckten
Grotte eine Falschmünzerbande aufgehoben. Schreckliche geheime Mordthaten,
deren Opfer hier versteckt worden seien, wurden den armen Schelmen nachträg¬
lich Schuld gegeben. Um dem Gerede ein Ende zumachen, ließ der Maire von
Aurignac n> geweihter Erde beisetzen, was von Knochen oberflächlich herumlag.
Es zeigte sich, daß diese von 17 verschiedenen Personen herrührten. Unter den
menschlichen Gebeinen hatten sich einige Zähne großer Säugethiere gefunden.
Sie gelangten an Lartet und veranlaßten diesen lo Jahre später zu einer Un¬
tersuchung der Grotte. Aus derselben ergab sich, daß sehr alten Heiden, Vor¬
gängern der Sündfluth, die Ehre christlichen Begräbnisses erwiesen worden war.
Der Boden der Grotte bestand aus einer Schicht loser Erde mit Stein¬
brocken. In ihr fand Lartet noch Gebeine zweier Menschen niedrigen Wuchses.
Werkzeuge aus Feuerstein und Rcnnthierhorn und viele wohlerhaltene Säuge¬
thierknochen. vorzugsweise Fleischfressern angehörig, darunter das vollständige
Skelet eines Höhlenbären, dessen Knochen nahe bei einander lagen, so daß zu
schließen ist, der Körper des Thieres sei im Ganzen an diesen Ort gelangt.
Dieser Schicht schloß sick außerhalb der Stelle, an welcher die Steinplatte auf¬
gerichtet gewesen war. die den Eingang der Grotte bei deren Entdeckung fest
verschloß, eine Schicht ähnlicher Zusammensetzung an. In ihr fehlten aber die
Menschenknochen durchaus. Die Säugethierknochen rührten vorwiegend von
grasfressenden Thieren her. Sie waren sämmtlich zerbrochen, viele zermalmt,
angenagt, einige am Feuer geröstet. Die Zahneindrücke an den benagten
Knochen ließen darauf schließen, daß hier Hyänen ihr Wesen getrieben haben
mochten. Diese Vermuthung wurde zur Gewißheit durch die Aufsindung Von
Koprolilhen — versteinertem Koth — der Hyäne zwischen den Knochen. Unter
der Knochen führenden Erdschicht außerhalb der Grotte lagerte eine 6—8 Zoll
dicke Schicht aus Asche und Holzkohlen, etwa 9 Quadratellen groß. Hier war
einst eine Feuerstätte. Sie ruhte auf dem Heerde, einer großen Platte des
Nummulitentaltsteins. welcher die Wand der Höhle bildet. Oertliche Uneben¬
heiten der Platte waren durch Bruchstücke desselben Steines ausgeglichen, oder
durch Tafeln eines schiefrigen Sandsteines, dessen nächster Fundort in einigen
hundert Schritt Entfernung auf der andern Thalseite sich befindet. Diese Sand¬
steine waren zum Theil vom Feuer roth gebrannt. Der Schicht aus Kohlen
und Asche sind viele Zähne euigcmengt, fast ausschließlich von grasfressenden
Thieren, darunter ein Manunulhbackcnzahn; und viele Hunderte von Bruchstücken
der Knochen derselben. Etliche davon sind zu Kohle gevrannt, andere geröstet-,
die Mehrzahl indeß scheint der Wirkung des Feuers nicht ausgesetzt gewesen
zu sein. Es sind meist Röhrenknochen, sämmtlich zerschlagen. Viele tragen
Schrammen und seichte Einschnitte, als sei mit Messern das Fleisch von ihnen
abgeschabt worden. Unter den zerhackten und angeschabtcn Knochen sind die eines
jungen Rhinoceros. Auch an Knochen dieser Schicht sind die Eindrücke von
Hyäncnzähnen sichtbar, so namentlich an denen des Rhinoceros.
Alle Knochen von Aurignac, die menschlichen wie die thierischen, haben die
Kennzeichen hohen Alters. Sie sind mürbe, porös, haften bei Befeuchten an
der Zungenspitze. Die chemische Analyse ergab in beiderlei Knochen gleich ge¬
ringen Stickstoffgchalt.
In der Grotte und >n der Aschenschichl fand sich eine beträchtliche Zahl
menschlicher Kunstproducte; in der Aschenschicht über hundert bearbeitete Feuer-
steinstückcn. Meist Messer, ferner Schleudersteine mit vorspringenden sehr schar-
fen Ecken und Kanten, auch ganze Blöcke des Rohstoffes, an denen man die
Spur der abgesprengten Splitter deutlich bemerkt. Die Verfertigung solcher Ge-
räthe hat offenbar an Ort und Stelle stattgefunden. Ferner fanden sich hier
Pfeilspitzen aus Nennthierhorn, eine Pfrieme aus Rehhorn, falzbeinähnlich
bearbeitete Stücke von Rennthiergeweih. Glättmesser ähnlicher Form und aus
demselben Stoffe sind bei den Lappen noch heute zum Abschaben der Haare
von den Fellen in Gebrauch. Die in der Asche vorkommenden Werkzeuge sind
aber ungleich minder sorgfältig gearbeitet als die in der Grotte selbst gefundenen.
Jene scheinen die bei der Herstellung verunglückten, der weggeworfene Ausschuß
zu sein; viele sind unfertig. Mit den bestbeschaffenen Werkzeugen wurden in
der Grotte auch einige Gegenstände gefunden, die nur zum Schmuck gedient haben
können. An diese knüpft sich ihres Stoffes halber ein besonderes Interesse. Eine
Anzahl kleiner kreisförmiger, in der Mitte durchbohrter Platten einer perlmut¬
terähnlichen Substanz scheint an einen Faden gereiht als Halsband getragen
worden zu sein. Die mikroskopische Untersuchung zeigte in ihnen das wohige-
kennzeichnete Gefüge der Schalen einer Meercsmuschel. eines Cardium. Das
Mittelmeer ist 20 Meilen, der biscayische Golf 30 Meilen von Aurignac
entfernt. Der Eckzahn eines jungen Höhlenbären, der ganzen Länge nach
durchbohrt, so daß er angehängt werden konnte, war in der Weise angeschliffen
und bearbeitet, daß er eine, wenn auch rohe, doch deutliche Nachahmung des
Kopfes und Schnabels eines Vogels darstellte. Es ist dies nicht das einzige
uns erhaltene Werk der bildenden Kunst aus so alter Zeit. Im Museum von
Cluny zu Paris wird ein ebenfalls aus einer Knochengrotte Südfrankreichs
herstammender Mittelfußknochen eines Hirsches aufbewahrt, auf welchen die Ab¬
bildungen einiger Hirschkühe mit der Spitze eines Feuersteins eingeritzt sind.
Auf einem Stück Rennthiergeweih aus einer andern Grotte, der von Muffat,
ist der Kops eines Bären gar nicht übel eingeschnitten. Die Kopfbildung hat
mehr Ähnlichkeit mit der des braunen, noch jetzt in den Pyrenäen heimischen
Bären als mit der des Höhlenbären.
Die Gesammtheit der durch Lartet festgestellten Thatsachen läßt nur Eine
Deutung zu. Die Grotte von Aurignac ist von Einwohnern Aquitaniens in
uralter Zeit als Begräbnisstätte benutzt worden. Bei der Beisetzung eines Leich¬
nams wurden Schmucksachen, Waffen, Trophäen mit ins Grab gegeben. Die
Höhlenbärskelettc mögen in der Art in die Grotte gelangt sein, daß beim Be-
gräbniß eines Mannes das erlegte Raubthier mit beigesetzt wurde, wie ja Ähn¬
liche Gebräuche noch heute bei halbwilden Völkern der verschiedensten Theile der Erde
herrschen. Nach jedem Begräbniß wurde die verschließende Steinplatte vor den Ein¬
gang der Grotte gefügt und so den lcichenverzchrenden Raubthieren, den Hyänen,
der Zugang versperrt. Bei jeder Grablegung mögen Leichenschmäuse vor der
Grotte stattgefunden haben. Daher der Feuerheerd; daher die gewaltige An¬
sammlung von Knochen vor der Grotte. Daß die verschiedenen Theile der
Skelette der verzehrten Thiere nicht vollständiger hier gefunden worden sind,
mag daher rühren, daß die Schmausenden während des Mahles viele der Kno¬
chen von der Plattform vor der Höhle ins Thal des Baches hinabgeworfen
haben. Die Röhrenknochen wurden zerhackt, um das Mark aus ihnen zu nehmen.
Solche Knochen sind es hauptsächlich, die auf und über dem Heerde sich fanden.
Zu anderer Zeit wurde die Grotte und ihre Umgebung nur selten von Men-
schen besucht, so daß die Hyänen dann ungestört über die Reste des menschlichen
Mahles sich hermachen konnten. Die gute Erhaltung der Grotte und des Heer-
des ist dem Umstand zu> verdanken, daß das Hügelland von Aurignac von den
Ueberfluthungen verschont geblieben ist, welche die dem nvrdeuropcuschen Dilu¬
vium gleichalten Geröllmassen der Pyrenäen ablagerten.
Die Grotte von Aurignac ist nicht vereinzelt. In andern Höhlen Süd¬
frankreichs haben Lartet, Atys und Milne-Edwards deutliche Spuren ur¬
alter Belohnung gefunden: Feuerheerde, zerhackte Markknochen vom Auerochs,
Rermthiere. Pferde, Werkzeuge aus Ncnnthicrhorn und Steinen. Die Kiesel-
steingeräthe sind mehrfach an Orten gefunden, in deren viele Meilen weilen Um¬
kreisen kein solcher Stein in der Natur sich findet. Aber keine dieser Höhlen
gab eine so reiche Ausbeute wie die von Aurignac. Diese ist die einzige bis
jetzt gefundene Grabstätte der vorgeschichtlichen Bewohner jener Länder. Die
in den bewohnt gewesenen Höhlen gefundenen Thierreste weisen durchgehends
auf ein etwas jüngeres geologisches Alter hin als die von Aurignac.
Auch in andern Theilen Europa's haben Menschen der vorgeschichtlichen
Zeit in den Resten ihrer Mahlzeiten Spuren 'ihres Daseins hinterlassen. In
Dänemark finden sich umfangreiche Haufen der Knochen von Thieren, welche sol¬
chen Menschen zur Nahrung gedient haben. In mehr als einem Falle ist bei den
Knvchcnhaufen noch der Heerd sichtbar, auf welchem das Fleisch gebraten wurde.
Die Knochen sind beschabt, zum Theil geröstet, alle Markknochen zerspalten.
Viele Sieingerätbc sind den Knochen beigemengt. Das Alter dieser Knochenhau¬
sen ist geringer als das der pyrenäischen Spuren menschlicher Thätigkeit. Die
Reste völlig ausgestorbener Thiere kommen in ihnen nicht vor; wohl aber vieler
Thiere, die aus Dänemark längst verschwunden sind: Auerochs, Biber, Auerhahn,
der flügellose Alt, die Schildkröte. Ihnen und den Pyrenäengrottcn ist die
völlige Abwesenheit der Knochen gezähmter Thiere gemeinsam. In den däni¬
schen Knochenhausen finden sich Hundetnochcn, wiewohl nur sehr sparsam. In
den Grotten der Pyrenäen fehlen selbst diese, auffallend genug für eine Bevöl¬
kerung, die mit ihrem Lebensunterhalt vor Allem auf die Jagd angewiesen war.
Es ist kein geringes Zeichen für den Muth und die Entschlossenheit jener
alten Bewohner Europa's, daß sie mit ihren höchst unvollkommenen Waffen aus
Stein und Knochen so riesige Thiere zu bewältigen vermochten, wie den Auerochs,
den Bären, das Rhinoceros. Vielleicht haben auch sie schon die Kunst verstan¬
den große Thiere in Gruben zu fangen.
Der Beweis des Daseins des Menschen auf der Erde gleichzeitig mit
Thieren, deren jüngste Neste wir im Diluvium finden, ist vollständig geführt.
Wie weit die Zeit dieses Daseins zurückliegt, läßt sich in Zahlen auch nicht
mit dem geringsten Grabe von Sicherheit ausdrücken. Die Schätzungen der
Sachverständigsten, begründet auf die Berechnung des Anwachsens heute noch
fortdauernder Ablagerungen an Flußmündungen u. tgi., differiren nicht selten
um Dreißigtausende von Jahren. Es ist nicht ganz unmöglich, daß von den
alten Mittelpunkten der Cultur entfernt liegende Striche Europa's zu einer Zeit,
noch jetzt ausgestorbene Thierarten lebend enthielten, aus der wenigstens sagen¬
hafte Ueberlieferungen auf uns gekommen sind. Das Eine aber ist sicher: das
Alter des Menschengeschlechts ist ein weit höheres, als man bis auf die jüngste
Vergangenheit anzunehmen geneigt war. Auch die mäßigste Schätzung muß
zugeben, daß der Zeitraum, durch welchen die beglaubigte Geschichte .zurückreicht,
nur ein kleiner, ein sehr kleiner Theil desjenigen sein kann, der seit der Dilu-
Die wohlhabenden und vornehmen Russen haben im Wesentlichen die fran¬
zösische Küche adoptirt, indeß werden damit gewisse Gerichte der nationalen
verbunden, die bei den Mitteln und untern Klassen natürlich den Tisch allein
beherrschen. Gleich den Engländern genießen die Russen fast bei jeder Mahl¬
zeit Kartoffeln, entweder einfach gekocht oder gebraten oder mit Petersilie und
Butter. Der britische Plumpudding ist nicht unbekannt, ebensowenig der tür¬
kische Pillas. Wie in Frankreich beginnt jede Mahlzeit mit einer Suppe, doch
ist diese Sitte nicht von den Franzosen entlehnt, sondern auf heimischem Bo¬
den gewachsen; denn der russische Bauer, der fest am Herkommen hält, hat je¬
den Tag seine Suppe auf dem Tisch. Sehr geschickt ist man in der Bereitung
von Salaten, die gewöhnlich hübsch geordnet und angeputzt auf die Tafel kom¬
men. Ferner liebt man hier ein reichliches Dessert von allerlei Früchten.
Endlich sind die Russen große Freunde von Blumenschmuck bei der Mahlzeit,
und namentlich ziert man den Tisch häusig mit kleinen Kirschbäumen in Vasen,
deren Früchte von den Gästen zum Schluß gepflückt werden.
Edwards gibt aus einem russischen Kochbuch, das für Vie wohlhabende
Mittelklasse bestimmt scheint, verschiedene Auszüge, die einen Blick in die Art
und Weise thun lassen, wie-diese Klasse ihr Mittagsessen zusammenzusetzen Pflegt.
Von den vier Speiseprogrcimmen. die er mittheilt, und über die er sich ausführ¬
lich verbreitet, geben wir die Namen der Gerichte und einige Andeutungen über .
die, welche rein russische Erfindung sind.
Das erste beginnt mit „Borstsch". einem Gericht von Rindfleisch mit fein¬
gewiegtem Spinat oder einem andern grünen Gemüse, womit hart gesottne und
in Stücke geschnittne Eier gemischt sind. Dann .folgen Pöckelrindfleiscb mit
saurer Sahne und Meerrettich, hierauf Cotelets mit Pickles. zuletzt Mandel-
bretzeln.
Das zweite wird mit „Schtschi" eröffnet, worauf Fleischklöße mit Runkel¬
rüben-Brei. Rindfleisch aus Husarenmanicr mit Salat von rothen Rüben und
zuletzt Biscuits von Weizenmehl, Zucker. Eiweiß und Rahm folgen. Schtschi,
die russische Nationalsuppe, wird aus kleingeschnittnem Rindfleisch, Kohl. Peter¬
silie, Möhren, Salz und ungarischen Pfeffer bereitet und vom Bauer bis zum
Edelmann hinauf gegessen, nur daß bei ersterem das wichtigste Zubehör, das
Fleisch, in der Regel mangelt. Man pflegt dazu Schwarzbrot zu essen, welches
auch in den besten Häusern nicht auf dem Tische fehlen darf. Das „Rind¬
fleisch auf Husarenmanicr" wird mit Zwiebeln in Butter und Essig ge¬
braten.
Der dritte Speisezettel lautet- Batwinia. mit Fleisch gefüllte Mohren mit
Sauce, Schvpsenvraten mit Pilzen und Mandelcompot. Die Batwinia wird
aus kleingeschnittenem gebratenen Rindfleisch, gekochten Runkelrüben, Zwiebeln.
Kümmel, Spinat mit Eiern und Kwas gemacht, im Sommer aus Fischen, jun¬
gen Gemüsen, Kwas und Eis. Kwas ist das Hauptgetränk, wie Roggenbrod
die Hauptspeise der niedern Klasse in Nußland. Man bereitet es aus geschrot-
nen Roggenkörnern und etwas Malz. Es schmeckt leicht säuerlich, effervescirt
und wird von denen, welchen es nicht widersteht, sehr erfrischend gefunden.
Obschon ein gegohrnes Getränk enthält es doch sehr wenig Alkohol. Schwä¬
cher als Dünnbier, hält es sich nur wenige Tage, wenn es nicht in Eis ver¬
wahrt wird, und so besitzt fast jedes russische Haus einen Eiskeller.
Das vierte Programm gibt ein Mittagsessen für die Fastenzeit, während
welcher nicht nur kein Fleisch, sondern auch weder Butter noch Rahm auf den
Tisch kommt, weshalb man die Speisen in dieser Periode mit Oel anmacht,
und enthält Folgendes: Alba von Sterlet. Fischcotclets mit Sauce von der
Fischbrühe. Weizenmehl, Essig und Oel. gebratner Barsch und „Kissel". eine
Art b1g>r>e-inang'«zr aus feinem Weizenmehl und Mandelmilch. Alba ist die be¬
rühmteste russische Fischsuppe. Die beste Art derselben wird von Sterlet, einem
fetten, öligen, außerordentlich zarten Fisch bereitet, der nur in der Wolga vor¬
kommt, im Winter aber gefroren nach allen Theilen des Reichs versandt wird.
Im Sommer, wo man ihn in Bütten mit Wolga-Wasser transportirt, ist er
nur sehr wohlhabenden Leuten zugänglich; denn ein ganz kleiner Sterlet kostet
dann in Petersburg wenigstens zehn Rubel. Um aus ihm eine Alba zu be¬
reiten, schneidet man ihn in Stücke, gießt Wasser darauf, wirft Salz, Gewürz
und Citronenscheiben dazu und läßt es sieden.
Die ältesten nationalen Getränke Rußlands sind Meth, Bier und das
obenerwähnte Kwas. Meth, das schöne altskandinavische Hvnigbier, wird schon
im zehnten Jahrhundert genannt. In einer nowgoroder Chronik vom Jahr
989 heißt es, daß ein großes Fest stattfand, bei welchem hundertzwanzigtausend
Pfund Honig verbraucht wurden. Man Pflegt den Meth mit verschiedenen Ge¬
würzen zu versetzen, ihm auch bei der Gährung Hopfen beizumischen. Bier
wird nach Gerebzoff unter den Namen Oiul — das gegenwärtige Wort ist
Piwo — bereits im „Buch der Rangordnungen" erwähnt, welches im zwölften
Jahrhundert verfaßt ist. Aber kein russisches Getränk ist so alt als das Kwas;
denn es war nach Nestors Chronik unter den Slaven schon im ersten Säcu-
lum unsrer Zeitrechnung im Gebrauch. Unter den Gesetzen von Jaroslaff be¬
findet sich ein altes Edict, welches den beim Bau einer Stadt beschäftigten
Arveitsleuten eine bestimmte Quantität Malz oder Schrot zur Bereitung ihres
Kwas zuspricht.
Das Weintrinken lernten die Russen von den Griechen, während ihres leb¬
haften Verkehrs mit dem Reich von Byzanz, lange vor dem Einbruch der Mon¬
golen. Während der Tartarenherrschaft war dieser Verkehr geringer, und infolge
dessen nahm auch der Weinverbranch ab. Unter den Czaren nahm er zwar
wieder zu, indeß zogen noch im siebzehnten Jahrhundert die meisten Russen ihre
einheimischen Getränke vor. 1613 wurde der Bau der Rehe in Astrachan ein¬
geführt, und ein deutscher Reisender, Namens Strauß, der diese Stadt 1625
besuchte, fand, daß man damit beträchtliche Erfolge erzielte; denn abgesehen
von dem, was in den Handel kam, versorgte diese Provinz den Czar allein
mit 200 Tonnen Wein und 50 Tonnen Traubenbranntwcin jährlich. Um
dieselbe Zeit vertauschte man den griechischen Wein mit ungarischen, der viel
begehrt war, als Peter der Große kam und die französischen Sorten ein¬
führte — eine Reform, welche von Vielen nicht für seine kleinste betrachtet
wird.
Die Kunst, aus Körnern Branntwein abzuziehen, gelangte von den in der
Krim angesiedelten Genuesen zu den Russen, und es scheint, daß letztere in der
Benutzung dieser Wissenschaft keine Zeit verloren. Namentlich erfanden sie
bald Aufgüsse von Obst und Beeren, die unter dem Namen „Naliwka" noch
setzt im Handel vorkommen und von unserm Reisenden vortrefflich befunden
wurden. Der russische Kornbranntwein gleicht unvermischt mit Wasser dem
besten irischen Whisky. Es gibt indeß sehr verschiedene Sorten, süße und bit¬
tere, starke und schwache.' Was das gemeine Volt trinkt, ist sehr schlecht.
Eine eigne Sitte ist, daß die Russen stets vor dem Essen und fast nie
ohne zu essen trinken, sehr selten aber nach einer Mahlzeit, während in Eng¬
land und Deutschland das eigentliche Trinken den Schluß zu bilden pflegt.
Interessant ist, was Edwards von dem Champagnertrinken in Rußland
bemerkt. Er sagt: „Man spricht von der ungeheuren Masse Champagner, die
in Nußland vertilgt werden soll. Indeß kostet die Flasche Champagner hier
fünf Rubel (die Steuer allein beträgt für die Bouteille einen Rubel) und so
wird er nur von sehr bemittelten Personen regelmäßig getrunken. Nichtsdesto¬
weniger geht die Champagnerflasche bei russischen Diners häusiger herum als
bei englischen. Sie erscheint gewöhnlich mit dem Dessert, und es folgt nach
ihr kein andrer Wein. Die reichen Kaufleute sollen bei ihren Abendgesellschaf¬
ten sehr tapfer Champagner zechen, aber der einzige Kaufmann, in dessen Haus
ich speiste, hatte unglücklicher Weise westliche Sitten angenommen, und so, gab
es den Abend über nichts als Thee." Sicher ist. daß nach den Begriffen aller
wohlhabenden Russen zu jeder Festlichkeit des Hauses Champagner gehört.
Man gibt ihn bei Diners und Bällen, bei Taufen, Verlobungen und Hoch¬
zeiten, beim Abschied und bei der Rückkehr von Freunden. Denen, die keinen
echten beschaffen können, liefert der russische Weinbau ein vortreffliches Surro¬
gat in Gestalt des „Donskvi" und des „Krimst'ol", Weinen vom Don und aus
der Krim. Da diese nur den fünften Theil des Preises für echten Sect kosten,
fo versteht sich von selbst, daß sie von betrügerischen Händlern oder sparsamen
Wirthen nicht selten für jenen substituirt werden.
Man hat oft gesagt, und wir möchten diese Ansicht theilen, daß die Rus¬
sen den Champagner besonders deshalb gern trinken, weil er theuer ist. Un¬
ser Berichterstatter ist andrer Meinung. Er sagt, die Russen lieben schäumende
Getränke und deshalb natürlich auch, und vor allen andern, den Champagner,
das beste darunter. Unter den schäumenden Getränken, weiche Rußland eigen¬
thümlich sind, mag noch Kislya Schtschi, Aepfel-Kwas und Waditza erwähnt
werden. Kislya Schtschi wird ans drei Sorten Schrot, zwei Arten Malz und
gedörrten Aepfeln, Aepfel-Kwas aus Malz, Schrot und vielen Aepfeln, Wa¬
ditza (wörtlich: Wässerchen) aus Syrup, Wasser und etwas Branntwein be¬
reitet. Alle diese Sommergetränke werden auf Flaschen im Eiskeller aufbewahrt.
„Thee," sagt Gerebzvff, „ist für jedermann bei uns ein gewöhnlicher Ver-
brauchsartikcl geworden und ersetzt, vorteilhaft für die Moralität, Branntwein
und Bier; denn bei allen Gelegenheiten, wenn ein Geschäft abzuschließen, ein
Bekannter zu bewirthen ist, wenn ein Freund Besuch macht oder Abschied
nimmt, wird jetzt Thee statt Bier oder Branntwein gegeben." Edwards be¬
stätigt dies und bemerkt ferner: „Die mittlern und obern Klassen trinken zwci-
vder dreimal des Tages Thee. Einmal des Morgens und oft zweimal des
Abends. Der Jswostschik. der früher im Ruf stand, ein Trunkenbold zu sein,
eine Eigenschaft, die heutige Reisende ihm noch immer beilegen, scheint den
Thee allem andern Naß vorzuziehen. Dies ist wenigstens meine Erfahrung,
Bor einigen Jahren verlangte der Iswostschik nach Beendigung einer Spazier¬
fahrt fein Trinkgeld mit den Worten: „„Na wolln«". zu einem SchuSpschen,
jetzt bittet er ohne Ausnahme um Gelb zu einer Tasse Thee — „„na tschai"".
Selbst in scheuten an der Heerstraße, wo ich zwölf bis zwanzig Postillone
und Kutscher beisammensitzen sah, wurde nichts als Thee getrunken. Ein wohl¬
bekannter Tourist hat uns erzählt, daß jeder russische Bauer seinen Samowar
oder seine Theeurne besitze; aber dies ist nicht der Fall. Die meisten Bauern
sind zu arm, um solch ein Luxusgetränk wie Thee zu genießen, ausgenommen
gelegentlich; aber allerdings ist ein solches Geräth der erste Gegenstand, den
ein Landmann, der etwas Geld gespart hat, sich anzuschaffen pflegt, und es ist
wahr, daß in dem einen und dem andern wohlhabenden Dorfe fast jede Hütte
ihren Samowar besitzt, und daß in allen Pvsthäuscrn und Gasthöfen jeder Gast
mit einem eignen Theekessel versehen wird.
Der Samowar ist von Messing und inwendig mit Blech ausgefüttert.
Durch die Mitte geht eine Nöhre von cylindrischer Form, in die man glühende
Holzkohlen wirft. So laß< er sich leicht unter freiem Himmel erhitzen, da es
hierzu nichts als einer Handvoll Kohlen, einiger Stücke Holz oder Kien und
eines Streichhölzchens bedarf. Daher sein Werth für Picknicks, wo er geradezu
als unvermeidlicher Gast erscheint. In den Wäldern von Sakolniki, den Gär¬
ten von Maria Roschia und in der Umgebung des Petrowskipalasts, alle hart
bei Moskau, werden in den Theehäuscrn Massen von Theeurncn (wie in den
Kaffeehäusern von Konstantinopel Massen von Wasserpfeifen) für die Gäste be¬
reit gehalten, und jede Gesellschaft bekommt einen davon zu ihrem speciellen
Gebrauch. In der That, die Quantität von Thee, die in diesen Borstadt-
Wirthschaften im Frühling und Sommer consumirt wird, ist erstaunlich groß.
In Rußland gibt es kaum einen Uebergang zwischen Winter und Urühling:
sobald das Eis thaut, sproßt schon das Gras, blühen die Bäume und ist
die ganze Natur lebendig. In diesem Land der Extreme ist bisweilen zwischen
April und Mai derselbe Unterschied wie in England zwischen Januar und Juni.
Im Sommer gibt's in Moskau verschiedene allgemeine Landpartien, welche zu -
Ostern, am ersten Mai, am Himmelfahrtstag, am Trinitatissonntag u. a. statt¬
finden. Die meisten dieser Ausflüge sind festlicher Natur, einige dagegen, wie
der am ig. Mai, welcher durch eine Wallfahrt nach einem Kloster und Be-
gräbnißplatz am Don begangen wird, ernsten Charakters. Der Samowar darf
bei keinem fehlen und selbst auf dem Friedhof nicht. Auf den Friedhöfen von
Moskau und Petersburg bemerkte ich wenigstens, daß die Thorwärter derselben
für die Besucher dieser Stätten einen Borrath von Samowars bereit hielten.
Und näher besehen, was kann sich besser für einen Begräbnißplatz passen, als
eine Urne!"
Zwischen Petersburg und Kowno oder Tauroggen befinden sich mehr als
fünfzig „Stationen", wo man Thee bekommen kann. Reisende, deren Weg
nicht über die Poststraßen der Regierung führt, nehmen Samowars in ihren
Wagen mit. Ebenso macht man kleine Samowars für Offiziere, die ins Feld
rücke», und andere Personen, die in den Fall kommen können, sich an Orten
aufhalten zu müssen, wo es scbwieng ist. sich heißes Wasser zu verschaffen. Zu
demselben Zweck bat man kleine Theckästchcnvon denen jedes ein oder mehre
Gläser enthält; denn Männer unter sich trinken ihren Thee gewöhnlich aus
Gläsern. Bei Gesellschaften im Hause war es früher üblich, den Damen Tas¬
sen und nur den Männern Gläser zu geben; indeß ist dies jetzt so ziemlich außer
Gebrauch gekommen.
Die Russen gießen niemals Milch, selten Rahm in ihren Thee, häufiger
nehmen sie ein Scheibchen Citrone oder etwas eingemachtes Obst dazu, bisweilen
Rum, in der Regel aber nur Zucker, und darin haben sie vollkommen recht.
Die Vorzüge des russischen Karawanenthees vor dem, der von Kanton über
See nach dem westlichen Europa geht, sind oft gepriesen und bisweilen geleug¬
net worden. Tengoborsli, der verstorbene russische Senator, stellte beharrlich
in Abrede, daß der Kiächta-Thee irgendwie besser als der Kanton-Thee sei.
Edwards meint, entweder müsse Tengobvrsti's Geschmack seinem schriftstellerischen
Talent nachgestanden haben oder man müsse nach seinem Kapitel über Thee (wo
er zu beweisen sucht, daß es eine große Wohlthat für Nußland sein würde,
wenn man seine Häfen den Schiffen von Kanton öffne) schließen, daß sein Ge¬
schmackssinn von seinen Wünschen beeinflußt worden. „Ich meinestheils," fährt
unser Berichterstatter fort, „stehe nicht an zu behaupten, daß in London kein
solcher Thee zu finden ist, als der, welcher in Moskau und durch ganz Nußland
verkauft wird, ausgenommen in einigen Strichen am baltischen Gestade und an
der preußischen Grenze, wo man geschmuggelten Kanton-Thee feil hat."
Wir meinen, daß damit das Rechte gesagt ist. Es scheint geradezu sinn¬
los, zu behaupten, daß die lange Seereise, bei weicher der Aequator zweimal durch¬
schnitten und das Wasser, in welchem das Schiff geht, oft bis zu 80 Grad
Fahrenheit erhitzt wird, den Theeladungcn nicht schaden müsse. Wäre es in
den Schiffsräumen nicht feucht, so würde die Hitze allerdings wenig oder gar
nicht schaden können, aber jedermann, der einmal zur See gewesen, weiß, daß
die Feuchtigkeit sich selbst von den Kajüten nicht fernhalten läßt und daß die
Schiffsräume eine Atmosphäre wie Keller haben. Am wenigsten verliert durch
die Fahrt der schwarze Thee, der beim Trocknen einer stärkern Erhitzung aus¬
gesetzt wird und überdies weniger Arom einzubüßen hat als der grüne. Wenn
letzterer in Nußland unvergleichlich besser ist, als anderwärts, so kommt dies
daber, daß er von Kiächta fast nur trockne und lediglich kalte Gegenden passirt,
wo nichts von seinem eigenthümlichen Duft verdunstet.
Die zarteste Sorte des Karawanenthce's ist „Tzwetotschny" oder Blumen¬
thee, dem in Westeuropa der „blumige Pekoe" einigermaßen entspricht; allein
ti.e besten Proben des letztern sind mit den feinern Gattungen des erstem nicht
zu vergleichen. Vielleicht haben auch die ungeheuern Preise, welche die Russen
für ihren Thee zahlen, etwas mit der Frage zu schaffen. In England ist nach
den besten Arten, die jetzt eingeführt werden, nur geringe Nachfrage, und es
ist fraglich, ob China jemals etwas von seinem ausgesuchtesten Produkt geschickt
hat. Bekannt ist, daß die Sträucher im Lauf der Erntezeit mehrmals gepflückt
werden. Die erste Lese gibt die seltenste Qualität des Tzwetotschny, die zweite
den gewöhnlichen Tzwetotschny, die dritte lar den gemeinen Thee. Die erste Ernte
geht nach Rußland."
Die Russen zahlen nach dem jetzigen Schutzzoll-Tarif über zwei Thaler für
das Pfund ordinären Korgon (Kanton-Thee), während derselbe bei einem mäßi¬
gen Zoll für etwa die Hälfte dieses Preises zu haben sein konnte'*). Der Staat
würde bei einer Zollermäßigung keinenfalls Schaden haben; denn während bei
dem jetzigen Tarif der jährliche Verbrauch auf ungefähr neun Millionen Pfund
beschränkt bleiben wird, würde bei der Vorliebe des Volks für das Getränk des
himmlischen Reichs eine beträchtliche Verminderung des Preises eine fast unendliche
Steigerung des Consums zur Folge haben.
Die, welche die Zulassung von Theezufuhrcn zur See befürworten, be¬
haupten, daß der Vorzug des Karawanenthce's vor «Jen Sorten, die zu Schiffe
eingeführt werden könnten, so stark markirt sei, daß jener stets reiche Liebhaber
finden würde, die, wie jetzt bisweilen geschieht, das Pfund besonders guten Ge¬
wächses Mit 10 bis 11 Thalern bezahlen. Gegenwärtig wird eine vortreffliche
Mischung von schwarzem und Blumen-Thee zu Moskau für 3'/z Thaler verkauft,
und es ist vollkommen wahr, daß man sich solchen Thee in keinem andern Lande,
ausgenommen China selbst, verschaffen kann. Indeß ist sehr wahrscheinlich, daß
wie große Anzahl von Familien sich mit einer geringeren Mischung zum hal¬
ben Preise begnügen würde, und in diesem Fall würde der sibirische Handel,
welchen zu schützen die Regierung sich so angelegen sein läßt, in der That beein¬
trächtigt werden. Die Aufrechthaltung des Karawanenhandels durch Sibirien
zum Schaden der theetrinkenden Bevölkerung des Landes aber muß, wenn sie
richtig beurtheilt werden soll, wieder in Verbindung mit der projectirten Eisen¬
bahn zwischen Nischnei-Nowgorod und Jrkutsk betrachtet werden. Denn so lange
man die Absicht festhält, einen so wichtigen Schienenweg auszuführen, erfordert
die Klugheit, daß man den Ueberlandhandel zwischen Rußland und China so
viel wie möglich ermuthigt.
Unser Reisender hat sich, um sein Kapitel über den Thee in Rußland zu
vervollständigen, Mühe gegeben, das Datum seiner ersten Einführung in das
Czarenrcich zu erkunden, aber ohne Erfolg, „Es ist indeß sicher," bemerkt er,
„daß die Russen schon vor dem Einfall der Mongolen beträchtlichen Handel
mit dem Osten trieben, und wahrscheinlich waren die Mongolen, welche von
den Grenzen China's kamen, selbst mit dem Theegenuß bekannt. Erwiesen ist,
daß Rußland nach seiner Unterwerfung in regelmäßigem Handelsverkehr mit
dem Norden Europa's einerseits, und mit Persien, Indien und China andrerseits
stand — ein Verkehr, welcher großentheils durch Nowgorod vermittelt wurde.
Nach der Austreibung der Tartaren ferner und der Eroberung Sibiriens ver¬
suchten die Russen Handelsverbindungen mit dem himmlischen Reich anzuknüpfen.
1606 schon ging ihr erster Gesandter in dieser Angelegenheit nach Peking, doch
langte er, da in der Mongolei eine Revolution aufgebrochen, niemals dort an.
Verschiedene andere Gesandtschaften machten ebenso fruchtlose Versuche, Einlaß
in China zu erhalten, und erst im Jahre l654 glückte es Baikoff mit einem
Gefolge von Attaches nach einer Reise von zwei vollen Jahren, Peking zu
erreichen. Baikoff, verdrießlich darüber, daß der Kaiser sich weigerte, ihn zu
empfangen, kehrte 1657 nach Moskau zurück. Es war kein Handelsvertrag
zu Stande gekommen, aber der Gesandte war zugleich ein geschickter Kundschaf¬
ter gewesen. Er hatte verschiedene practikable Straßen zwischen Sibirien und
dem Innern China's entdeckt!, und seit dieser Zeit sind fortwährend Kara¬
wanen zwischen Rußland und dem Lande des Thee's hin und hergezogen. Die
Engländer trieben um diese Zeit bedeutenden Handel mit Archangel, und es
scheint, daß schon die erste russische Karawane von China Thee mitbrachte, und
daß ein Theil davon nach England ausgeführt wurde; denn wir lesen in Pepy's
„Tagebuch" die Stelle: „Schickte nach einer Tasse Thee, einem chinesischen Ge¬
tränk, von dem ich noch nie getrunken habe." Das Datum dieser Notiz fällt
in das Jahr l66i. —
Wir kommen jetzt zu einigen Mittheilungen aus dem, was Edwards über
öffentliche Wirthschaften (Traktirs) und geschlossene Gesellschaften, Clubs u. drgl.
sagt. Ein echter russischer Trattir (vom französischen et-lritönr) ist in Peters¬
burg nicht zu finden. Es gibt hier nur Cafe's und Restaurants in franzö¬
sischem oder Wirthshäuser in deutschem Styl. In Moskau verhält sich
das so ziemlich umgekehrt. Eins von den großen dortigen Theehäusern
ist mindestens zwölfmal so geräumig als ein gewöhnliches französisches
Kaffeehaus. Zu den besten gehört das Troizkoi Traktir, wo die Kaufleute
sich treffen, um die Geschäfte, die sie auf der Börse — d. h. auf der Straße
unten — eingeleitet haben, abzuschließen. Petersburg ist in dieser Hinsicht
besser daran, es hat eine regelmäßige Börse und sogar eine Kapelle daran, in
welcher die Kaufleute vor ihrer gewöhnlichen Nachmittagsarbeit (die Börscnzeit
beginnt um 4 Uhr) beten und gelegentlich der Jungfrau oder ihrem Lieblings¬
heiligen eine Kerze opfern. „Dann und wann," meint unser Reisender, „muß
sich da begeben, daß ein Speculant, der auf die Hauffe, und ein anderer, der
auf die Baisse rechnet, zu gleicher Zeit in die Kapelle treten und ihr Gebet be¬
ginnen. Aber wahrscheinlich bitten sie in solchem Fall, daß sie nicht in Ver¬
such geführt werden, einander zu betrügen."
Für die Moskaner Kaufleute gibt's keine specielle Kirche oder Kapelle;
auch mit jenem Troi'zkoi Traktir, welches die eigentliche moskauer Börse genannt
werden muß, ist kein solches Institut verbunden. Aber in jedem der Zimmer
dieses großen Theehauses, deren Eingänge gewöhnlich gewölbt sind, und welche
in langer Reihe aufeinander folgen, ist das unvermeidliche Heiligenbild zu sehen,
und kein echter Russe geht ein oder aus, ohne das Zeichen des Kreuzes zu
machen. Kein Russe, gleichviel, welcher Klasse er angehöre, behält in einem
Trattir Hüt oder Mütze auf dem Kopfe; denn das our'de unartig gegen die
Menschen und unehrerbietig gegen die heiligen Bilder sein. Die Kellner, von
denen däs Troizkoi Traktir nicht weniger als hundertundfunfzig beschäftigt, sind
alle in Weiß gekleidet, und man sagt scherzhaft, daß ihnen verboten ist, sich
den Tag über zu setzen, weil sie dadurch die Harmonie und Reinheit ihres
fleckenlosen Leinenzeugs beeinträchtigen könnten. Die Bedienung ist ckusterhaft.
Sie sieht dem Gast seine Wünsche an den Augen ab, schneidet ihm sein „Pirog"
lFleisch- oder Fischpastetchen) vor, so daß er es wie der Gabel essen kann, schenkt
rhin den Thee ein. füllt ihm den Tschibbuk und bringt ihm denselben sogar
brennend. Es steckt ein' gutes Theil Orient in diesen russischen Wirthschaften.
Der Hauptconsumtionsartikel in' denselben ist Thee, jeder bestellt sich dieses
Getränk entweder allein oder nach dem Essen, und die Mehrzahl der Gäste ge¬
nießt hier nichts Anderes. Man kann ein Glas oder einen ganzen Samowar
haben, aber beim Bestellen verlangt man nicht Thee, sondern nur so und so
viel Portionen Zucker — eine Sitte, die vermuthlich aus der Zeit des letzten
europäischen Krieges stammt, wo der Preis für ein Pfund Zucker in Nußland
auf 1'/- Thaler preußisch' stieg. Die Massen' von Thee, welche die russischen
Kaufleute zu sich nehmen, sind ungeheuer. Edwards erzählt'. „Ich habe zwei
Kaufleute in ein Traktir treten, so und so viele Portionen Zucker bestellen und
Tasse^ aus Tasse hinunterschlürfen sehen, bis die Thccurne vor ihnen leer war,
und die gewöhnliche Theeurne eines Trakti'rs hält mindestens anderthalb Gal¬
lonen" (ein Gallon ist ein Maß, welches dem achten' Theil eines berliner
Scheffels gleichkömmt und zehn Pfund Wasser faßt).
Ein anderes interessantes' Traktir ist' das der Starowerzen. wo man Nur
Kaftane und lange Bärte seel/t. Dib' Kellner trägen hier lange schwarze Kaftane.
Das Rauchen ist, da die Altgläubigen nach dem Bibelspruch „Nicht was in den
Mund eingehet verunreinigt' den' Menschen, sondern was aus dem Münde aus-
gebet", die Pfeife verschmähen, verboten. Die Küche ist sehr gut, ebenso der
Thee-, ein sehr beliebtes Produkt der ersten sind die „Blinni", eine Art Pfan¬
nenkuchen, die Verwandte der sächsischen Plinzen zu sein scheinen und während
der Fastenzeit mit Eaviar verspeist werden.
In manchen Traktirs gibt's Billards, in andern riesige, sich selbst spielende
Orgeln, von denen einige 25.000 Rubel gekostet haben sollen. Im Puschkin-
Traktir kann man nach der Meinung unsres Berichterstatters am wohlfeilster,
in der ganzen Welt zu Mittag speisen. Der Wirth rechnet, wie seine Gäste,
die meist Bauern sind, nur nach Kupfergeld und liefert einem Gast, der sich
etwas zu Gute thun und ein komplettes Diner genießen will, für 2 Kopeken
Suppe, für I Kopeke Brot, für 4 Kopeken Fleisch, für 2 Kopeken Kascba (Buch-
weizenbrei) und für 2 Kopeken Kwas - macht Summa Summarum 10 Kope¬
ken oder 3V» Silbygroschen. In der Dschiwvdjorskaja Ulitza (Schinderstraße)
finden sich Traktirs für Zigeuner, über die Edwards ein eignes Kapitel hat, in
der Tatarskaja Ulitza ist ein Traktir für Tartaren, deren es in Moskau eine
ziemliche Anzahl gibt. Von außen gesehen ist dieses letztere sehr unscheinbar, nie¬
drig und schmutzig, Das Innere dagegen ist merkwürdig sauber gehalten, und
die Gäste, bärtige Mohamedaner mit hellfarbigen Schlafröcken, glänzend geripp¬
ten Mützen und langen Tabakspfeifen, sehen ebenso würdevoll als reinlich aus.
Diese Tartaren leben in der Stadt wie auf den Dörfern stets beisammen
und abgesondert von den Russen, aber stets auf gutem Fuß mit diesen, die
sie vertraulich mit dem Titel „Fürst" anreden. „Ob dieser Titel ihnen ironisch
ertheilt wird, kann ich," bemerkt unser Reisender, „nicht sagen, aber die Tar¬
taren nehmen ihn sehr ernsthaft, und es heißt, daß sie sammt und sonders
Anspruch darauf machen, von möglichst bester Herkunft zu sein. Diese Tartaren
gehören zu derselben Race wie die Türken und haben nichts von den hohen
Backenknochen, der platten Nase und den schiefstehenden Augen an, sich, welche
die oft mit demselben Namen bezeichneten mongolischen Eroberer Rußlands
charakterisiren."
Die moskauer Tartaren handeln mit den Waaren, die von ihren Lands-
leuten aus Kasan und Astrachan, der Bucharei und China hierhergesandt wer¬
den, und haben keinen Verkehr mit den Persern, welche Shawls importiren,
oder den Armeniern, welche sich mit allerlei Handelsgeschäften befassen. „Sie
essen." sagt ein russischer Schriftsteller, „Pferdefleisch, vollziehen ihre Abwaschun¬
gen, gehen in die Moschee und schließen ihre Weiber vor jedermann ein. Sie
tragen Schlafrocke und gehen in Telegas oder zu Fuß einher mit Packeten von
Waaren, die sie in jedem Hause aufbieten, in welches sie einzutreten passend
finden. Sie müssen sehr nüchtern leben; denn nie hat man einen betrunken ge¬
sehen, und wenn sie sich einmal dem Genuß von starken Getränken hingeben,
so müssen sie sich dazu Erlaubniß verschaffen und jede Flasche mit der Etiquette
„„Balsam"" versehen lassen. Sie leben sehr zurückgezogen von der übrigen Be¬
völkerung^ wenigstens habe ich dreißig Jahre in Moskau verweilt, ohne daß
ich oder einer meiner Bekannten mit einem von ihnen in regelmäßigen Ver¬
kehr gekommen wäre. Ihre Geschäfte besorgen sie in ziemlich ehrlicher Art:
zuerst allerdings versuchen sie den Kunden zu prellen, zuletzt aber schlagen sie
für mäßige Preise los. Sie sind von sanfter Gemüthsart, mindestens sieht
man nie, daß sie sich zankten oder prügelten. Ihr Friedhof ist hinter dem des
Klosters am Don. Jeden Sommer begeben sie sich nach dem vier Werst von
Moskau entfernten Ostankina-See, um ihre Abwaschungen zu verrichten."
„Ich darf hinzufügen," sagt Edwards, „daß die moskauer Tartaren an¬
zunehmen schienen, jedermann, namentlich jeder Fremde, empfinde das dringende
Bedürfniß nach dem Besitz eines Schlafrocks, und wie ich einst das Traktic in
der Tartarenstraße besuchte, hatte ich kaum meine Mahlzeit beendigt, als ich
sofort ein Anerbieten nach dieser Richtung des Waarengeschäfts erhielt. Die
Schlafrocke befanden sich im Hause des Tartaren dem Traktir gegenüber, und
ich empfing eine Einladung, ihn dahin zu begleiten, „um sie wenigstens anzu¬
sehen und ihre Schönheit zu bewundern". Die Häuser sind von einer hohen
Mauer eingefaßt, welche die ganze Straße entlang läuft, und dann ist jedes
einzelne wieder in zwei Hälften, eine für die männliche, die andere für die
weibliche Bewohnerschaft, geschieden. Die kleinen Mädchen dürfen frei im
Hause umherlaufen, aber vom zwölften oder dreizehnten Jahr an werden sie
auf. die Frauengemächer beschränkt. Die Tartarenfrauen gehen nie auf die
Straße, ohne ihre Gesichter zu verhüllen und werden in der Regel nie an
öffentliche Orte mitgenommen. Mein Schlafrocks-Tartar indeß erzählte mir.
daß er gelegentlich seine Ehehälfte in öffentliche Gesellschaften geführt, wo sie
niemand gekannt habe. Nie aber nahm er sie mit zu seinen Freunden oder
gestattete diesen bei sich sie zu sehen. Kaltblütig behauptete er. daß Männer
sich ganz wohl ohne Weiber unterhalten und überhaupt ohne sie verkommen
könnten."
Den Persern ist die Ausübung ihrer Religion ebenfalls gestattet, und die
Armenier haben als Glieder einer christlichen Kirche dieselben Rechte wie die
Römischkatholischen. Juden dagegen wurden bis vor wenigen Jahren in Mos¬
kau nur geduldet, wenn sie sich europäisch kleideten, und noch jetzt sieht man
hier selten einen Nachkommen Abrahams in der Tracht, die seine Landsleute
in Polen tragen. Früher durften so gekleidete zwar, wenn ihre Geschäfte es
verlangten, die Stadt betreten, waren aber genöthigt, in einem eigens für
Jsraeliten bestimmten Hause im Kitai Gorod iber Chinesenstadt) zu wohnen,
auch war die Zeit ihres Aufenthalts auf einige Tage beschränkt.
Der beste Club in Moskau ist der englische, der aber nur von Englän¬
dern gegründet worden ist und jetzt fast nrir Russen zu Mitgliedern hat. Der
selbe zahlt 600 Mitglieder und ist sehr exclusiv. Damen haben keinen Zutritt,
und so finden hier weder Bälle noch Concerte statt wie in den andern In¬
stituten der Art. Das Clubhaus, auf der Twerskoi-Straße, der vornehmsten in
Moskau, gelegen, ist groß und elegant, enthalt Spiel- und Billardzimmer, ein
Lesekabinet, in welchem alle bedeutenderen Blätter des In- und Auslandes ge¬
halten werden, und wird jede Nacht um 12 Uhr geschlossen, nach welchem Termin
alle, die länger verweilen, eine Geldstrafe zu erlegen haben.
Der Kaufmannsclub nimmt nicht blos Mitglieder des Handelsstandes,
sondern auch Professoren, Doctoren und solche Künstler auf, welche ein Diplom
von der Akademie der Künste haben. Er gibt im Winter Bälle und Maskera¬
den. Schlußzeit ist die zweite Stunde nach Mitternacht. Wer länger bleibt
zahlt eine Geldbuße, die sich mit jeder halben Stunde verdoppelt. Man hat
zum Scherz ausgerechnet, daß ein unglückliches Mitglied mit allzuviel Sitzfleisch
um sieben Uhr Morgens die erschreckende Entdeckung machen würde, dem Comitö
die Summe von 16,364 Rubeln zu schulden.
Außerdem gibt es noch einen deutschen und einen Adelsclub. Aber der
merkwürdigste Vereinigungspunkt Moskau's ist die Adelsversammlung, wo der
erbliche und begüterte Adel des Gouvernements seine gemeinschaftlichen Ange¬
legenheiten beräth, deren Berühmtheit sich aber hauptsächlich von ihren Bällen
herschreibt. Der große Saal derselben ist jedenfalls der größte und vielleicht
auch der schönste Tanzsaal der Welt. Wie in der Se. Georgshalle im Palast
des Kreml sind die Wände desselben, sowie die Pfeiler, welche die Decke stützen,
durchaus von Alabaster und nur mit zarten Vergoldungen geschmückt. Alle
Draperie ist ausgeschlossen, und der Lichtreflex so großer Massen von Weiß
macht einen höchst eigenthümlichen Eindruck. Das ganze Gebäude faßt gegen
fünftausend Personen, und seine Geräumigkeit wurde bei Gelegenheit des dem
Kaiser nach seiner Krönung gegebenen Balles genügend erprobt. Um den
Ballsaal läuft einige Stufen über dem Parquet eine Galerie für die, welche
am Tanz nicht theilnehmen, und weiter oben eine zweite für Zuschauer. Nebenan
befinden sich Spielzimmer und Salons, wo Erfrischungen zu haben sind, sowie
eine ganze Reihe von ApartementS für den Kaiser, welchen die Adelsversamm¬
lung zu ihren Mitgliedern zu zählen die Ehre' hat. Alle Vorzimmer, Speise¬
säle und Nebengemächer sind aus das prächtigste möblirt.
In diesem Saale war es, wo Alexander der Zweite dem moskauer Adel
die bekannte Strafrede hielt, in welcher er die Herren wegen ihrer Widerhaarig-
keit bei Ausführung seiner Reformpläne tadelte und es ablehnte bei dem Fest,
das ihm angeboten wurde, zugegen zu sein. Zwei Jahre vorher, bei dem Krö¬
nungsball, war der Adel, der damals noch nicht an die ernstliche Absicht des
Herrschers, die Bauern zu befreien, glauben mochte, höchst eifrig mit Kundge¬
bungen ehrerbietiger Zuneigung gewesen.
Die Adelsversammlungcn des Gouvernements haben in der Theorie nur
geringe politische Bedeutung. Sie wählen einen Präsidenten, der den Titel
„Marschall" führt. Die Wahl desselben bedarf aber der kaiserlichen Bestätigung,
und von irgend welchen wichtigen Reckten der Charge ist nicht die Rede. Nur
der grundbesitzende Adel nimmt Theil an den Berathungen der Versammlung,
doch haben solche, die nur den persönlicken Adel besitzen, das werthvolle Recke,
sich bei den Bällen zu betheiligen, welche im Winter jede Woche einmal statt¬
finden. Getanzt wird in Rußland wie anderwärts, nur daß jeder Ball mit
einer Mazurka schließt. Der Takt und Rythmus dieses Tanzes ist bekannt, da¬
gegen sind die Figuren und manches andere vom Charakter desselben in Rußland
eigenthümlicher Art. So z. B. ahmen alle Paare die Evolutionen nach, welche
das erste angibt. Eine andre Eigenthümlichkeit ist. daß die Damen hierbei sich
die Tänzer wählen, ein Prozeß, der sich auf sehr verschiedenen, immer ziemlich
sinnreichen, aber nicht immer für die erwählten Herren besonders schmeichel¬
haften Wegen vollzieht. Bisweilen Passiren die Herren in einer Art Gänse¬
marsch an den Damen vorüber, und die Dame, welche einen von ihnen zu
ihrem Ritter zu machen wünscht, klatscht, wenn er an ihr vorübergeht, mit
den Händen, ein Verfahren, mit dem man in der Türkei die Sklaven- oder Kell¬
ner zu Dienstleistungen herbeiruft. Bisweilen auch hält jede Dame einen klei¬
nen Spiegel in der Hand. Die Tänzer in so<Z wandeln hinter ihnen hin und
blicken in den Spiegel. Gefällt der Besitzerin desselben das eine oder das an¬
dere Gesicht, so macht sie zum Zeichen, daß dessen Dienste annehmbar befun¬
den worden, einen Knix, mißfällt es ihr, so wischt sie mit dem Taschentuch über
das Glas, und der Verschmähte geht weiter, um sein Glück bei einem andern
Spiegel zu versuchen, von dem er hofft, er werde günstiger für ihn sprechen.
Die Quelle, der wir die folgenden Mittheilungen entnehmen, ist das von
uns bereits angezeigte Buch: „Erinnerungen eines ehemaligen Je-
suitenzöglings"^), die Zeit, in der sie spielen, die Mitte der vierziger Jahre.,
der Ort das Kollegium Germanicum in Rom. Der Erzähler, der jetzt in einer
Gemeinde Westphalens, seiner Heimath, als evangelischer Prediger wirkt,
macht durchweg den Eindruck eines gebildeten, feinbeobachtenden, wahrheits¬
liebenden und darum unparteiischen Mannes. Wir übergehen die ebenso lehr¬
reichen als anziehenden Schilderungen, die er uns in den ersten Kapiteln seiner
Erinnerungen von seiner Kinderzeit, dem Einwirken des ultramontanen Klerus
auf die Familien in seinem Geburtslande, von seiner Erziehung >in Hause
eines den Jesuiten angehörenden Geistlichen, der Wallfahrt zum heiligen Rock
von Trier und seinem Aufenthalt >n dem großen Pensionat des Ordens Loyola's
zu Freiburg gibt, um ihm zu seinen Erlebnissen und Beobachtungen in. Rom
zu folgen, wo er sich aus den Wunsch seines älteren Bruders, der dem Jesuiten¬
orden bereits beigetreten war, im Evllegium Germanicum zur Priester aus¬
bilden zu lassen gedachte.
Die ersten Eindrücke, die er hier empfing, waren nicht günstig. Der Bru¬
der trat ihm zwar freundlich, aber gemessen entgegen. Bcrschiedenes Andere
stieß ihn ab. und schon regten sich Gedanken der Heimkehr, als seine Theil¬
nahme an den Vergnügungen einer Ferienreise, welche die Zöglinge deo Hau¬
ses damals gerade nur iyren Erziehern machten, und wobei es sehr heiter zu¬
ging, vortrefflich gegessen und getrunken, fleißig Ball geschlagen, gesungen und
gesprungen, wiederholt die schöne Gegend durchstreift und bisweilen sogar ein
kleines Lustspiel aufgeführt wurde (unter anoerm „Rande Strumpf im Verhör")
ihn in andere Stimmung versetzte und in die Einkleidung willigen ließen,
die sofort nach seiner Rückkehr von jener Billeggiatur stattfand.
Das Kollegium, jetzt im Palast Bvrromev. war damals in dem dritten
Stock des am Fuße des Kapitels gelegnen Stammklosters g.1 (^su, des Sitzes
des Jesuitengenerals. Der erste Gang in diesem weitläufigen Gebäude führte
unsern angehenden Jesuitenschüler zum Bruder Schneider, von dem er seine
neue Tracht: einen langen rothen Talar (woher der Spottname Miudöi'i coeli,
gekochte Krebse, den. die Römer den Zöglingen der Anstalt beilegen), das Ein-
gulum, ein Paar schwarze Kniehosen, eine Domestica, eine scholastica und
-den bekannten Dreimaster empfing. Dazu fand er später in seiner Zelle noch
ein Paar rothe Strümpfe, zwei Hemden, Hand- und Taschentücher. Die Zelle ^
war einfach weiß getüncht und enthielt einen Tisch, einen .Sessel, einen Stuhl,
ein Pult, einen Wandschrank für die Kleider, ein sehr einfaches Bett und einen
Betschemel. Reben der Thür war ein WeihwassernSpfchen befestigt, dahinter ein
geweihter Palmzweig. Ein Spiegel fehlte. Die Aussicht aus dem Fenster
war, wie in Gefängnissen, durch einen großen hölzernen Kasten versperrt.
Nachdem der Erzähler die beschriebene Tracht angelegt, begab er sich in
die eÄMöiÄ cormmiiiis, einen der beiden Säle, in welchem die beiden Abthei¬
lungen des Kollegiums, die eg,inspe>, Mi1o«0plroi'um oder Novizenklasse, und
die LÄiru;ri>. tlrsologoruw oder Oberklasse, sich bei besonderen Gelegenheiten
zusammenfinden, und wo den Neueingetretenen jetzt vom Pater Spiritualis
auseinandergesetzt wurde, was ihre Obern von ihnen erwarteten. Als Haupt¬
pflichten wurden Offenheit und Gehorsam gegen die Vorgesetzten, zunächst ge¬
gen den vom Rector aus den ältern Zöglingen gewählten Präfecten der
Kammer und dessen Beigeordneten, den Bidellus derselben, empfohlen, welche
beide über Aufrechthaltung der Disciplin und Beobachtung der Hausordnung
zu wachen haben. Die Rede schloß mit der Ankündigung, daß die Kammer zur
Verbannung aller von Hause oder aus den Ferien mitgebrachten weltlichen Ge¬
danken die achttägigen Exercitien des heiligen Ignatius durchmachen solle.
Dann hielt der Präfect eine salbungsvolle Ansprache, nach welcher er für jede»
Novizen einen älteren Zögling bezeichnete, der ihn über die Hausordnung be¬
lehren sollte. Hierauf gingen alle paarweise in ihre Zellen zurück, wo jeder
die soeben erwähnte Belehrung empfing, über die Art. wie man sein Bett zu
machen, sich die Stube auszukehren, sich die Schuhe zu putzen habe, Anweisung
erhielt und mit den Lokalitäten deS Hauses bekannt gemacht wurde. Von dieser
Wanderung durch das Kloster in seine Zelle zurückgekehrt, fand unser Bericht¬
erstatter von Büchern nichts vor, als ein neues Testament, einen Thomas a
Kempis und ein anderes Buch mit Betrachtungen, alles in lateinischer Sprache.
Er erfuhr, daß zunächst nicht studirt werden sollte, da Bücher zerstreuen könnten.
Nach dem Abendessen wurden in der cAmsi'g, ommnum» durch Angabe der
Tagesordnung während der gedachten Exercitien und der Betrachtungspunkte
für den nächsten Morgen durch den Pater Spiritualis die heiligen Uebungen
eingeleitet, und am folgenden Tage begannen diese selbst.
Diese Exercitien bestehen, nach der Vorschrift des heiligen Ignatius eigentlich
vier Wochen umfassend, in der Regel aber auf acht Tage eingeschränkt, in so¬
genannten Betrachtungen, besonderer und allgemeiner.Gewissenserforschung,
wiederholten Beichten und dem Genuß der Communion. Beim Beginn derselben
soll man seinen ganzen Willen und seine Freiheit Gott darbringen, damit der¬
selbe über den Hebenden selbst sowie über alles, was er bat. nach seinem Wohl¬
gefallen verfüge, doch hat man, wenn ein Zustand reichlicher Tröstung und be¬
sonderen Eifers sich einfindet, zu vermeiden, daß man sich durch ein Gelübde
kopfüber binde, und zwar um so mehr. wenn.man unbeständigen Charakters ist.
Die Betrachtung ist ein stilles Nachdenken über religiöse Gegenstände,
welche der Exercitienmeister angibt, und deren Gang den heilige Ignatius in
einem besondern Buch vorgezeichnet hat. Ueber das Ergebniß, namentlich
über die „lumirra,", d. h. die Dinge, welche dabei besonders anschaulich gewor-
den sind, ist dem Leiter der Uebungen Rede zu stehen, auch in einem eignen
Heft Buch zu fuhren. „Einige mit mir zugleich angekommene Bayern,"
erzählt unser Jesuitcnzögling, „denen die figürliche Bedeutung des Wor¬
tes unbekannt war, gingen anfänglich, so oft mir an die Lumina kamen,
hinaus und kehrten mit angezündeten Kerzen zurück, bis sie eines Besseren be¬
lehrt waren."
Der Betrachtungsstoff zerfallt in vier Abschnitte, von denen der erste die
Bestimmung des Menschen, die Sünde und die Hölle, der zweite das Leben
Christi von seiner Geburt bis zum Beginn seines Leidens, der dritte die Passion
von der Einsetzung des Abendmahls bis zur Grablegung, der vierte die Auf¬
erstehung, die Himmelfahrt und die paradiesischen Freuden umfaßt, welche allen
guten Christen verheißen sind.
'
Die Betrachtungen sind durch ein bestimmtes äußeres Verhalten und durch
eine ebenfalls bestimmte Lectüre zu unterstützen. Bor dem Einschlafen soll
man eine Zeit lang, die hinreichen würde, um den englischen Gruß auszusagen,
an die Stunde denken, zu welcher man aufstehen muß. Erwacht man, so hat
man seinen Geist lediglich darauf zu richten, was man im ersten Exercitium
der Mitternacht betrachten werde. Um der größeren Ehrfurcht und Zerknirschung
willen soll man sich vorstellen, „wie ein Soldat vor seinem König steht in der
Versammlung des Hofes, erröthend, ängstlich und bestürzt, indem er schwerer
Verbrechen gegen seinen Herrn überführt ist, von dem er zuvor Wohlthaten,
viele und große Geschenke empfangen hat." Oder man soll bedenken, wie
schwer man gesündigt hat, und sich vorstellen, man „stände in Ketten vor dem
höchsten Richter, gleichwie ein des Todes Schuldiger in eiserne Fesseln ge¬
schmiedet zum Tribunal geführt wird." In solche Betrachtungen versunken soll
man sich ankleiden. Von dem Orte, wo man die BetrcMung halten wird, bleibt
man zunächst einen oder zwei Schritt entfernt stehen und schaut ein Vaterunser
lang zu seinem Herrn Jesus empor, als ob er gegenwärtig wäre, bezeigt ihm
auch durch eine demüthige Geberde seine Ehrfurcht. Zur Betrachtung selbst
schreitet man, indem man sich die-Haltung gibt, in der man das, was man
zu erreichen strebt, am leichtesten zu gewinnen hofft, sich also entweder auf den
Rücken oder auf das Angesicht wirft, niederkniee, sitzt oder auch steht.
Man soll serner sein Fleisch züchtigen, Cilicien, d. h. Drahtgürtel mit nach
innen gekehrten Spitzen oder Stricke auf dem bloßen Leibe tragen, sich geißeln
oder verwunden u. s. w. Das Gefühl des Schmerzes darf jedoch nur im Fleisch
sein, nicht mit «Gefahr von Krankheit die Knochen durchdringen. Als Lectüre
während der Zeit der Exercitien sind die Nachfolge Christi von Thomas a Kempis,
die Evangelien, aber nur die zu den einzelnen Betrachtungen gehörigen Stellen,
und die Lebensgeschichten der Heiligen zu gebrauchen.
Wir theilen nun einige Originalbetrachtungm des heiligen Ignatius mit,
welche den Zöglingen der Jesuitenschule in Rom als Anweisung für die geist¬
lichen Uebungen dienen, und zwar zuerst die Betrachtung über die Hölle, die
zwei „Vorspiele" (plALluäm), fünf „Punkte" und ein „Zwiegespräch" enthält.
Erstes Vorspiel: Man stelle sich vor, als ob man mit seinen Augen die Länge,
Breite und Tiefe der Hölle ermesse. Zweites Vorspiel: Lebendige Vorstellung
der schrecklichen Strafen der Verdammten, „damit, wenn jemals die Liebe zu
Gott vergessen würde, die Furcht der Strafe vor der Sünde bewahre." Erster
Punkt: Schaue mittelst der Einbildungskraft jenen furchtbaren Feuerbrand und
die in glühenden Leibern wie in Gefängnissen eingeschlossnen Seelen. Zweiter
Punkt: Höre mit Deinen Ohren das Klagen, Heulen und Wimmern der Ver¬
dammten und ihre Verwünschungen Christi und aller seiner Heiligen. Dritter
Punkt: Stelle Dir vor, als röchest Du aufsteigenden Qualm von Pech, Schwefel
und anderm Gestank. Vierter Punkt: Es sei Dir, als schmeckest Du in Deiner
Kehle allerlei Bitterkeiten, wie Thränen, Trübsal und Gewissensbisse sie erzeu¬
gen. Fünfter Punkt: Berühre gewissermaßen jenes Feuer, welches sogar die
Seelen verbrennt. Nun beginne ein Zwiegespräch mit Christo, währenddes)
Du Dir die Seelen Jener vergegenwärtigst, welche, weil sie an die Ankunft
Christi nicht glaubten oder trotz ihres Glaubens nicht nach seinen Geboten
lebten, zur Hölle verdammt sind. Alsdann danke von Herzen jenem Christus,
daß er Dich vor solchem Verderben bewahrt und bis heute mit so viel Liebe
und Barmherzigkeit aufgesucht hat. Zum Schluß der Betrachtung wird ein
Vaterunser gebetet, worauf man sich noch prüft, ob man Zerstreuungen wäh¬
rend der Kontemplation möglichst vermieden, was den größten Eindruck ge¬
macht, welche Frucht man gewonnen u. f. w.
Eine andere Betrachtung ist die über die „beiden Banner", welche in drei
Vorspiele, sechs Punkte und drei Zwiegespräche zerfällt. Erstes Vorspiel: Be¬
trachtung Christi einerseits und Lucifers andrerseits, wie jeder von beiden die
Menschen unter seinem Banner zu sammeln versucht. Zweites Vorspiel: Ver-
gegenwärtigung des Ortes. Das weite Gefilde um Jerusalem stellt sich dar,
wo Christus, der Oberseldhauptmann aller guten Menschen. Posto faßt. Dann
um anderes Gefilde in Babylonien, wo Lucifer, der Feldherr aller Uebelthäter.
sich zeigt. Drittes Vorspiel: Bitte um Erkenntniß der Truglist des Satans,
um ihr entgehen, und des edlen Wesens Christi, um ihm nachfolgen zu können.
Erster Punkt: Stelle Dir vor, als sähest Du in dem babylonischen Lande den
Heerführer der Gottlosen sitzen auf flammendem, rauchendem Thron, schaudervoll
von Gestalt, fürchterlich von Geberde. Zweiter Punkt: Höre, wie er zahllose
Teufel zusammenruft und sie über den ganzen Erdkreis aussendet, um Schaden
zu stiften. Dritter Punkt: Merke auf, wie er seine Diener anstachelt. Stricke
und Ketten zu ergreifen, sie über die Menschen zu werfen und diese zur Be¬
gierde nach Reichthümern zu verleiten, damit sie um so leichter in weltliche Ehr-
sucht und endlich in den Abgrund dos Hochmuths gestürzt werden können.
Vierter Punkt: Betrachte, wie Christus in einem anmuthigen Gefilde bei Jeru¬
salem sich niederläßt, zwar auf bescheidenem Sitze, aber sehr schön von Ge¬
stalt und lieblich von Geberde. Fünfter Punkt: Siebe, wie der Herr des
Weltalls die auserwählten Apostel, Jünger und Diener über den Erdkreis aus¬
sendet, um allen Menschen die heilbringende Lehre zu spenden. Dritter Punkt:
Höre die ernährende Anrede Christi an diese Auserwählten. Sie sollen einem
Jeden helfen und ihn zunächst zur geistlichen und, wenn es Gott gefallen sollte,
auch zur wirtlichen Armuth, dann aber zu Schmach und Verachtung führen,
damit die Tugend der Demuth entsteht. Nun beginne ein Zwiegespräch mit
der heiligen Jungfrau, in welchem Du sie bittest, bei ihrem Sohn zu vermitteln,
daß Du unter sein Banner aufgenommen werdest, erst in geistlicher, dann in
wirklicher Armuth. dann im Ertragen von Verachtung und Beleidigung. Hier¬
auf folgt ein Ave-Mama. wonach man sich in einem zweiten Zwiegespräch
mit derselben Bitte an Christus wendet und ihn ansieht, die Genehmigung
derselben bei Gott dem Vater auszuwirken. Dann spricht man das Jcsuiten-
gebet: Anima Christi, in welchem die Seele, der Körper, das Blut, das Was¬
ser der Seitenwunde Christi u. s. w. angerufen werden, den Betenden zu hei¬
ligen, zu erlösen, zu trösten und vor dem bösen Feinde zu bewahren. Im
dritten Zwiegespräch richtet man seine Bitte direct an Gott den Bater und
schließt mit einem Paternoster.
Wir sehen aus dem Mitgetheilten, daß der heilige Ignatius eine starke
und etwas militärisch gefärbte Phantasie hat, was nicht zu verwundern, da
er eine Zeit lang Soldat war. Uebrigens bemerkt man, daß dieser Theil der
Exercitien weniger eine Uebung der Denkkraft, als der Einbildungskraft im
Auge hat. Dieselbe erhält mit jedem Vorspiel, jedem Punkt eine Art von
geistlichem Haschisch, und das <«anze läuft auf die Herbeiführung von Träumen
und Gesichten hinaus, die mit dem Gewissen nichts zu schaffen haben. Indeß
hat der Oberexercitienmeistcr der Jesuiten auch für letzteres gesorgt, freilich
auf höchst eigenthümliche Weise, die einem Menschen mit protestantischen Ge¬
wissen in doppeltem Sinn des Wortes spanisch vorkommen muß.
Wie bemerkt, gehört zu den Exercitien die besondere und die allgemeine
Gewissenserforschung. Jene wurde im Jesuitcübause zu Rom täglich zweimal,
vor dem Mittagsmahl und nach dem Abendessen, vorgenommen und zwar in
folgender Weise. Beim Aufstehen am Morgen vergegenwärtigten sich die
Theilnehmer an den Uebungen eine besondere Sünde, die man meiden wollte.
Vor Tische beteten sie dann zu Gott, er wolle behülflich sein, daß man sich
entsinne, wie oft man in jene Sünde verfallen sei, worauf die Selbstprüfung
begann. „Man fordert dabei von seiner Seele Rechenschaft über die genannte
Sünde, geht die einzelnen Tageszeiten vom Erwachen bis jetzt genau durch
und macht so viele Punkte in die erste Linie der folgenden Figur, als man
die Sünde begangen hat. Der erste Tag der Uebung sei ein Sonntag-
'"
Wenn man dieß gethan hat. so faßt man den Vorsatz, die übrige Zeit
des Tages sich mehr zusammen zu nehmen. Abends nach dem Essen geschieht
die zweite Selbstprüfung. und die Verzeichnung der Punkte erfolgt aus der
zweiten Linie. So geschieht das Aufzeichnen der Punkte für jeden folgenden
Tag auf den beiden zugehörigen Linien. Mittags und Abends." Um einen be¬
sondern Fehler recht rasch loszuwerden, wendet man vier Mittel an: 1) Man
schlägt sich, so oft man ihn begeht, auf die Brust, 2) man Vergleicht jeden
Abend die Linien für die erste und zweite Erforschung dieses Tages und sieht
an der Zahl der Punkte, ob man sich gebessert hat, 3) man hält das Ergeb¬
niß des vorhergehenden Tages mit dem soeben verlebten zusammen, 4) man
macht jede Woche einen Rechnungsabschluß, um an der größern oder geringern
Summe von Sündcnpunlten seine Verschlimmerung oder Besserung zu er¬
messen.
Die allgemeine Gewissenserforschung erstreckt sich über alle Vergehungen
des täglichen Lebens in Gedanken. Worten und Werken. Während der Exer¬
citien wird dem Pater Spiritualis in wiederholten Unterredungen und Beich¬
ten der ganze innere Seelenzustand mitgetheilt. So lange die Uebungen
dauern, soll man nur mit dem geistlichen Vater sprechen, stets die Augen
niedergeschlagen halten und in sich gekehrt nur an heilige Dinge denken.
Wir glauben unserm Berichterstatter, daß er tief aufathmete, als am Morgen
des achten Tages der Beschluß dieser Quälerei gemacht wurde, daß ihm trotz
aller frommen Vorsätze der Kopf wirr, die Denk- und Einbildungskrast abge¬
spannt war, und daß er nur mit Anstrengung noch feine Gedanken zusammen¬
halten und auf einen bestimmten Gegenstand richten konnte. In solchem Zu¬
stande legte er dem Pater Spiritualis seine Generalbeichte ab. Dann ging's
mit den Uebrigen zur Communion, worauf zur Danksagung für die glücklich
vollendeten Exercitien mehre Gebete gesprochen und schließlich der Ambrosia¬
nische Lobgesang angestimmt wurde.
Unser Verfasser schildert nun näher das Innere des Jesuitenklosters. Es
war ein großes, dreistöckiges, im Quadrat erbautes Haus, an das im Norden
die Kirche stieß, mit welcher es im Erdgeschoß wie im ersten Stock durch Zu-
gange verbunden war. Ein besonderer Gang führte zu weiten Galerien, die
vom Schiff der Kirche aus unzugänglich und mit hohem Gitterwerk umgeben
waren, welches das Volk unten hinderte, die hier dem Gottesdienst beiwohnen¬
den Jesuiten und deren Zöglinge wahrzunehmen. Am äußersten Ende dieser
Galerie befand sich die Capelle, wo letztere jeden Morgen die gewöhnliche
Messe hörten. Der von den Klostermauern eingeschlossne viereckige Raum war
in einen sorgfältig gepflegten Garten umgeschaffen. An der Südseite war ein
zum Hause gehöriger verdeckter Säulengang. Nach der Straße hinaus sah
das Kloster wie ein Gefängniß aus, indem die Fenster des Erdgeschosses mit
Draht und Eisenstangen vergittert, die der obern Etagen mit den bereits
erwähnten hölzernen Kasten versehen waren. Im Parterre befanden sich meist
größere Räume, Sprechzimmer, Küche und Speisesäle für die Jesuiten und
die Germaniker, sowie Locale für die Handwerker des Klosters. Das zweite
Stockwerk enthielt lauter große Zellen für die Jesuiten, die Krankenzimmer,
eine besondere Kirche und einen Speisesaal für die Genesenden, die Aula
maxima, die Bibliothek und die in eine Capelle umgewandelten Räumlichkeiten,
welche der heilige Ignatius (Loyola) bewohnt hat.
Allenthalben, auf den Treppen und Gängen sah man Fresken, und Oel-
bilder, welche Madonnen, Scenen aus dem Leben von Jesuitenheiligen und
das Leiden der armen Seelen im Fegfeuer darstellten. Besonders interessant
waren die Gemälde in jener Capelle. „Dort sehen wir den heiligen Ignatius
zur Abkühlung seiner entflammten.Sinnlichkeit in winterlicher Umgebung zit¬
ternd vor Frost mitten in einem Wasser stehen. Hier ist er im Begriff, mit
einem florentinischen Edelmann eine Partie Billard zu Ende zu spielen. Man
sagte uns, als Preis für den Gewinn habe Ignatius von diesem gottlosen
Kavalier verlangt, er solle die Exercitien acht Tage lang machen, worauf sich
dieser bekehrt habe. Da wieder liegt Ignaz im Bette, aber greuliche Gestal¬
ten von Dämonen umstehen ihn und zerschlagen ihn jämmerlich mit Geißeln
und Stricken, weil sie ihm zürnen, daß er ihnen so viele Seelen entzogen.
Nun treten wir durch die alte kleine hölzerne Thür hinein in die von dem
heiligen Ignatius weiland selbst bewohnten Zellen. Die Thürme und Zim¬
merdecken haben noch die alte Gestalt und sind nur neuerdings mit vielen
Vergoldungen geziert. Da hängt das älteste Jesuitendocument an der Wand
eingerahmt- Ignaz und seine ersten Gefährten verbinden sich gegenseitig zur
Gesellschaft Jesu und unterschreiben den Pakt mit ihrem Blute." An der
Stelle, wo er gestorben ist, steht jetzt ein kleiner Altar, vor welchem am
Tage dieses großen Heiligen (3l. Juli) eine Messe lesen zu dürfen als hohe
Ehre gilt. Nicht weit davon ist die Höhlung des ehemaligen Kamins, in wel¬
chen Ignaz, als er sich von der Liebe zur Welt gänzlich losgesagt hatte, die
von seiner Familie für ihn anlangenden Briefe ungelesen zu werfen Pflegte.
Oeffnen wir einen benachbarten Schrank, so erblicken wir hinter einem eisernen
Gitter die angeblich treffend ähnliche Wachsfigur des heiligen Ignaz, bekleidet
mit Gewändern, die er selbst getragen. Der rechte Fuß steht ein wenig aus dem
Gitter hervor und wird von den frommen Besuchern des Ortes inbrünstig geküßt.
Das dritte Stockwerk des Klosters ist den Germanikern eingeräumt. Die
Corridore sind hier enger, die Zimmer kleiner, auf steinernen Stufen steigt
man innerhalb dieser Stübchen zu den Fenstern empor. Eine Galerie dient
als Recrcationssaal für die Philosophen, die Theologen bewohnen den bessern
Theil und finden zur Erholung Raum genug in ihrem größern Corridor. Hier,
gegenüber der gemeinschaftlichen Capelle zum heiligen Sakrament befindet sich
auch die Wohnung des Ministers des Kollegiums und die Bibliothek, eine
Werthlose Sammlung alter theologischer und philosophischer Werke. Ein ver-
schlossner Schrank. I'Irckrnv (Hölle) genannt, birgt einige ketzerische Bücher,
unter denen sich auch einige unserer deutschen Philosophen und Theologen fin¬
den. Die Jnnenwände des dritten Stocks sind ebenfalls mit allerlei Bildern
von Heiligen, aber zugleich mit Porträts einzelner deutscher Kaiser, Fürsten
und Bischöfe geziert. Wen die Neugier bis auf den Bodenraum locken sollte,
der trifft hier zwischen altem Gerümpel das Bild Josephs des Zweiten in Le>
bensgröße. Die frommen Väter, die es anfertigen ließen, erkannten bald, daß
dieser Monarch nicht in ihr Haus gehörte, so verbannten sie ihn hier herauf
zwischen Kisten und Kasten.
Die Tagesordnung war für die beiden Abtheilungen der Zöglinge des
Germanicums: die Kammer der Philosophen oder des heiligen Stanislaus und die
Kammer der Theologen oder des heiligen Petrus und Paulus, dieselbe. Man
stand früh fünf Uhr auf, kleidete sich an, ging in die Kapelle zur Anbetung
des Sakraments, ordnete dann sein Zimmer und begann hierauf die Betrach¬
tung. Dann gab es in der Marienkapelle eine Messe, worauf das aus Kaffee
und Weißbrot bestehende Frühstück eingenommen wurde. Dann wurde im
Gange von den Philosophen vor einem Muttergotteobild knieend der Schutz
Maria's und des heiligen Stanislaus ersieht, während die Theologen in der
Sakramentskapelle ähnliche Gebete an die Apostel Petrus und Paulus richteten.
Nachdem man hierauf sein Bett gemacht und sich die Schuhe gewichst, zog
die ganze Schaar der Zöglinge paarweise und unterwegs den Rosenkranz
betend über die Straße, nach dem etwa zehn Minuten Wegs entfernten
Collegium Romanum, wo bis zehn Uhr Vorlesungen in lateinischer Sprache gehört
wurden. Die Zuhörer waren in verschiedene Gruppen oder circuli getheilt; jedem
eiieuws stand einer der tüchtigeren Schüler vor, unter dessen Leitung wiederholt
werden mußte, was der Professor vorgetragen hatte. Bei der Rückkehr aus dem
Collegium war wieder Anbetung des Sakraments, dann studirte jeder für sich.
Eine Viertelstunde vor zwölf Uhr wurde das Zeichen zur besondern Ge-
wisscnserforschung gegeben, um zwölf läuteten die Glocken zum Angelus Domini
-und zugleich zum Mittagsessen, welches jede Kammer in einem besondern Refec-
torium einnahm. Bei Tische wurden die Speisen von zwei Gcrmanikern herum¬
gereicht, und ein Lector las aus lateinischen und italienischen Autoren, biswei¬
len auch aus Stvilbergs Religionsgeschichte, Voigts Gregor der Siebente
und Hurters Geburt und Wiedergeburt vor. DaS Essen war stets gut und
reichlich, und alle Mittage und Abende wurde für jeden eine große Flasche
wohlschmeckenden Weines aufgesetzt, von dem die meisten nur ein Viertel zu
trinken vermochten. Bei besondern Gelegenheiten, wie hohen kirchlichen Fest¬
tagen, gab es mehre Fleischgerichte, auch wurde dann nach Tische Kaffee und
Eis herumgegeben, und nach Vorlesung des Martyrvlogiums war „Deo gra-
tias", d. h. es war freie Unterhaltung gestattet.
Nach Tische begaben sich die Zöglinge zu einer dritten Anbetung des Sa¬
kraments auf fünf Minuten in die Kapelle, worauf sich die Philosophen in
ihre Gallerie. die Theologen, in ihren Korridor zur Recreation verfügten. Jeder
hatte sich hierzu den ihm aus der Kapelle zunächst Folgenden zum' „Socius"
zu nehmen, mit dem er sich im Auf- und Abwandeln unterhalten konnte. Sich
den Socius fre> zu wählen war nicht gestattet, wie denn überhaupt Partitular-
freundschasten verpönt waren. Die vorschriftsmäßige Anrede der Zöglinge
unter einander lautete Domine, LiMore oder Herr, sich Du zu nennen war
verboten, die Unterhaltung mußte Mittags in lateinischer, Abends in italienischer
Sprache geführt werden.
Nach der Recreation schlief man ein Weilchen. Dann war mit Ausnahme
der beiden letzten Monate des Svmmersemesters im Collegium Romanum wie¬
der eine Stunde Vorlesung nebst darauf folgendem Repctitionscirlel, und hieran
schloß sich ein Spaziergang, der sich im Winter bis fünf, im Sommer M
gegen acht Uhr ausdehnte. Nach dem Abendessen war Recreation. dieser folgte
ein gemeinschaftliches Gebet und.die Vorbereitung zur Betrachtung des nächsten
Morgens, weiche die Novizen gemeinsam unter Leitung des Pater Spiritualis,
die übrigen für sich auf ihrer Stube mit Hülfe eines Bctrachtungsbuchs hielten.
Danach wurde allgemeine Gewissenserforschung angestellt, und nachdem noch
eine kurze aäora.t.lo hö-nati SÄCiÄmouti stattgefunden, fand man endlich auf dem
Plane der Tagesordnung das erquickende Wort cubitus.
Außer der Recreationszeit durften die Zöglinge nicht mit einander sprechen,
ja sich nicht einmal laut begrüßen. Keinem war erlaubt, den andern ohne
dringende Veranlassung auf seiner Zelle zu besuchen. War dies unvermeidlich,
so mußte der Zweck des Besuchs bei offner Thür und so rasch als möglich er¬
ledigt werden. Setzen durfte man sich dabei nicht, auch der Bewohner des
Zimmers hatre sich sofort nach Eintritt des Besuchers zu erheben und stehen
zu bleiben, bis jener sich wieder entfernt.
Des Donnerstags sielen die Vorlesungen und sonstigen Studien gänzlich
aus. Man zog dann gleich nach dem Frühstück entweder nach der Villa Macao
oder nach der aus dem aventinischen Hügel gelegenen Villa San Saba, die
beide dem Collegium germanicum gehören, und kehrte erst gegen Abend wieder
nach Hause. Die Zöglinge sahen bei diesen Ausflügen manches Stück des nie¬
dern Volkslebens, von dem sie sonst, wie überhaupt von'jedem Verkehr mit
den Italienern streng geschieden waren, auch gestattete man ihnen in diesen
Tagen bei ihrer Unterhaltung den Gebrauch der deutschen Sprache. Ohne besondere
Erlaubniß, die aber nur selten ertheilt wurde, durfte bei solchen Gelegenheiten
nicht studirt werden, der ganze Tag sollte der körperlichen Erholung gewidmet sein.
Nachdem man auf der Villa angelangt war, begaben sich die Theologen in
den linken, die Philosophen in den rechten Flügel des Hauses, um zunächst auf
und abwandelnd das Officium dog.eg.6 Nirrmö viiginis. eine Reihe von Psalmen
und Hymnen auf die Gottesmutter abzubeten, dann aber sofort sich in Grup¬
pen zu theilen und allerlei Spiele zu beginnen, wozu der große Garten mit seinen
Grasplätzen, seinen Blumenbeeten, Rosenhecken, Feigen- und Mandelbäumen
schöne Gelegenheit bot. Man schob Kegel, beschäftigte sich am Billard, trieb
das bekannte italienische Spiel Boccia mit kleinen Kugeln und Eisenplatten,
oder ein anderes, das Truciv hieß. Die Einen setzten sich zu einer Partie
Schach nieder, Andere schlugen Ball, wieder Andere bildeten ein Sängerchor,
das allerhand muntere Weisen erschallen ließ.
"
„Das Schachspiel, erzählt unser Iesuitcnzögling, „durfte nie über eine
Stunde dauern; war es bis dahin nicht vollendet, so wurde es unterbrochen
und dürfte erst nach einer halben Stunde fortgesetzt werden. Diese Recreation
dauerte bis halb zwölf Uhr. Dann gab die Glocke das Zeichen zur geistlichen
Lectüre; nachdem wir uns -im kleinen Saale versammelt hatten, wurde aus
einem frommen Buche, gewöhnlich einer Hciligengeschichte, vorgelesen. Um zwölf
Uhr nacb dem Avemar'la-Läuten, ging es 'zu'Tische. Während des Essens
wurde ebenfalls vorgelesen. Nach Tische begaben wir uns in die Kirche zu
einem stillen, etwa fünf Minuten anhaltenden Gebet. Darauf lustwandelten
wir im Garten, bis gegen drei Uhr das Zeichen zur Vesper ertönte. Diese
wurde chormäßig in der Kirche abgesungen und dauerte etwa eine halbe Stunde.
Dann trieben wir wieder die üblichen Spiele bis halb fünf Uhr. wo w>r in
den Speisesaal zur Maranta gingen, welche aus Brot, Käse. Früchten und Wein
bestand. Nach der Mcrenda blieben wir noch eine Viertelstunde auf der Villa
und gingen dann, wie wir gekommen, in Kammern getrennt, je zwei und zwei
nach zurück. Zum'Abschied verrichteten wir in der Vorhalle auf den
^men noch ein kurzes stilles Gebet. Beim Ausgang aus der Villa ergriffen
wir den Rosenkranz, der halblaut abgebetet wurde. Erst nach Erfüllung dieser
vorgeschriebenen Pflicht fand wieder Colloquium statt."
Die Novizen wurden erst nach einer halbjährigen Probezeit als Alumnen
aufgenommen, wofern sie die Erwartungen der.Jesuiten in allem Nöthigen
gerechtfertigt hatten. Man unterwarf sie, wohl nur der Form wegen, einem
kurzen Examen, dann erfolgte vor versammeltem Collegium in der Satraments-
wurde ^ ^'"'^'e Aufnahme, wobei alles in lateinischer Sprache verhandelt
Den großen Akt eröffnete ein Dankgebet, welches nach unsrer Quelle
folgendermaßen lautete:
„Allmächtiger., ewiger Gott, wir unwürdigen Knechte sind im Begriff, heute
d>e Uebungen des Noviziats zu beschließen. Vor Deiner göttlichen Majestät
werfen wer uns nieder und sagen Dir Dank für die empfangenen Wohlthaten. -
Deine Vorsehung hat uns ja aus der Welt heraus in diese'Zufluchtsstätte'der
Wissenschaft und Frömmigkeit geführt, und Du hast uns vor so vielen Fcihr-
lichkeiten des Leibes und der Seele bewahrt. Du hast uns verliehen, daß wir
in diesem päpstlichen Kollegium unter den Augen und dem Schutze des Stell¬
vertreters Christi selbst wahre Frömmigkeit und katholische Lehre aus lauteren
Quellen schöpfen und reichlich unterrichtet werden, wie wir ein wahrhaft prie¬
sterliches Leben führen sollen. Was sollen wir Dir nun wiedergeben, gnädig¬
ster Vater, für alles, was Du an uns gethan hast? Wir bekennen zwar mit
Schmerzgefühl, daß wir-so großen Gnadenerweisungen nicht immer nach Er¬
fordernis) entsprochen haben. Aber verzeihe, guter Vater, verzeihe Deinen Söhnen,
die ihre Schuld und Undankbarkeit verabscheuen. Was wir gesündigt haben,
wollen wir mit Deiner Hilfe wieder gut machen, und wir versprechen Dir, in
Zukunft nach der Vorschrift dieses Instituts unsre Lebensweise genaue einzu¬
richten, sodaß wir in Wissenschaft und Tugend fortschreitend, würdige Diener
für den Bau Deines Weinbergs werden. Du aber, o süßeste Jungfrau Maria,
indem wir für die mütterliche Liebe, die du uns erzeigt hast, Dank sagen, stehe
uns Bittenden bei und flehe für uns bei deinem geliebten Sohn, daß er, der
das Wollen gab, auch das Vollbringen gebe; würdige uns Unwürdige auch
in Zukunft deiner Liebe und Fürsprache. Auch dir, o werthester Schutzpatron,
heiliger Stanislaus, statten wir unsern pflichtschuldigen Dank ab für die em-
pfangner Wohlthaten. Wir flehen dich an um deine Fürbitte bei unserm
Herrn, und daß wir in gleicher Liebe wie du entzündet werden, auf daß wir
alle unsre Handlungen und Gedanken zur größern Ehre Gottes, zu unserm
und des Nächsten Heil einrichten und einst im himmlischen Vaterland die gött¬
liche Majestät mit dir und allen Heiligen ewig lieben und loben. Amen."
Nach diesem Gebet traten die einzelnen Novizen vor, knieten am Altar
nieder und legte folgenden Eid in die Hände des Vorstehers der An¬
stalt abi
„Ich N. N., Sohn des N. N.. von Nation ein Deutscher (Ungar u. s. w.)
aus der Diöcese N., habe nunmehr eine vollständige Kenntniß dieses Collegiums,
unterwerfe mich den Gesetzen und Einrichtungen desselben, welche ich nach Aus»
legung der Obern annehme, freiwillig und verspreche vor Gott und vor euch,
dieselben nach Kräften zu beobachten. Ich schwöre, daß ich den kirchlichen
Stand errichten und alle Weihen, auch die des Presbyterats, wenn es den
Obern gut scheinen wird, empfangen will. Ich schwöre, wenn es meine Obern
befehlen werden, sofort in mein Vaterland zurückzukehren, mich den Studien
des bürgerlichen Rechts und der Arzneiwissenschaft nicht zu widmen und keinen
andern Lebenslauf, insbesondere nicht den eines Hofmanns (!) zu ergreifen,
sondern sobald ich aus dem Kollegium entlassen sein werde. inS Vaterland zur
Wahrnehmung der Seelsorge zurückzureisen, auch vor Ablauf der gewöhnlich
für die Studien festgesetzten Zeit, falls meine Obern solches für mein Seelen¬
heil oder für den'Vollheit des Collegiums ersprießlich achten sollten. Die
Vorschriften des Collegiums will ich nach der Auslegung der Obern be¬
folgen und von der in demselben üblichen Lebensweise nicht abweichen.
Ich schwöre, daß ich nach dem Abschied aus dem Kollegium mindestens
drei Jahre hindurch vom Tage der Rückkehr in mein Vaterland an
gerechnet unter keinem Vorwand nach Italien und noch viel weniger nach
Rom kommen will, wofern nicht die spätern Obern den dringenden Grund zu
einer solchen Reise schriftlich angegeben haben und ihr eine ausdrücklich er¬
theilte Erlaubniß zu derselben von dem derzeitigen ehrwürdigen Jesuitengeneral
approbirt ist. Ich verspreche und schwöre endlich, daß ich'während meines
Verweilens im Kollegium und, nachdem ich aus demselben vor oder nach Voll¬
endung der Studien geschieden sein werde, vor Ablauf dreier Jahre ohne Er-
laubniß des heiligen apostolischen Stuhles oder nach Ablauf dieses Termins
ohne Erlaubnis; des hochwürdigen Jesuitengenerals in keine religiöse Genossen¬
schaft oder regelmäßige Kongregation eintreten, noch auch in einer derselben
Profeß ablegen will. Wenn ich aber mit vorbemerkter Erlaubniß in einen
Orden eingetreten sein werde, will ich sofort in mein Vaterland zurückkehren,
um mich der Seelsorge zu widmen. So wahr mir Gott helfe und diese hei¬
ligen Evangelien Gottes!"
Selten mag einem repräsentativen Körpe^ das Glück begegnen, Gegenstand sol¬
cher Aufmerksamkeit, solcher gespannter Erwartungen zu sein, als dies bei dem auf
den 19. Mai zusammenberufenen preußischen Abgeordnetenhause der Fall war. Frei¬
lich waren die Gefühle, Hoffnungen und Befürchtungen, mit denen man auf dasselbe
blickte, nicht nur nach den politischen Standpunkten sehr verschiedene, sondern sogar selbst
innerhalb derselben Partei, ja innerhalb desselben Individuums sehr gemischt. Wohl hatte
das Resultat der Wahlen etwas freudig Erhebendes, wohl mochte es unwiberleglichcs Zeug¬
niß davon ablegen, daß Preußen sich aus der Periode büreaukratischer Bevormundung
erhoben habe, und, was fast gleich schwer wog, daß in Preuße» im Großen und Ganzen ein
Beamlcnstcnid lebe, der, wie er früher das Entbehren einer Verfassung erträglicher machte,
in Zukunft eines der stärksten Bollwerke der Verfassung sein wird; allein wer andrer¬
seits die Einseitigkeit der bei den Wahlen geltend gemachten politischen Gesichts¬
punkte betrachtete, den Uebermuth, mit dem man bewährte politische und patrio¬
tische Vorkämpfer von den Wahlen ausschloß, als wären sie in Preußen so billig
wie die Brombeeren, die Unklarheit der Parteibildungen, der konnte es zu einer
reinen Freude über den Sieg der liberalen Sache nicht recht bringen, der wurde
sich der Schwierigkeiten, die nun erst beginnen sollten, mit voller Umsicht bewußt.
Aber in dem einen Gefühle freilich waren Alle einig, daß hier vor ihren Augen
ein wichtiges Stück Geschichte sich entwickelte; und dieses Gefühl war vornehmlich
auch in dem außerprcußischen Deutschland mächtig. Dessen konnte man zumal
in Sachsen sich so recht bewußt werden. Durch einen eigenthümlichen Zufall waren
auch die sächsischen Kammer» auf den l9. Mai zusammenberufen worden, und nicht
häufig i» der Geschichte dieser Versammlung war eine solche wichtige, in das materielle
Leben des Volkes so tief eingreifende Vorlage zu registriren gewesen, wie die dies¬
malige: der Handelsvertrag mit Frankreich. Und dennoch, trotz der gedeihlichen
dreißigjährigen constitutionelle» Entwickelung, aus welche sich viele Leute in Sachsen
so viel zu Gute thun, können wir zuversichtlich behaupten, daß von Herrn von
Beust angefangen bis zu den letzten Kreisen herab, wo noch politisches Bewußtsein
vorhanden ist, ja. wir hoffen, selbst wenige Landtagsabgeordnete ausgenommen,
alles in Sachsen fein vorwiegendes Interesse dem preußischen Landtage zuwendete.
Die Einen hatten bezüglich des sächsischen Landtags wohl ihre Freude daran, wie
geschickt auch hier wieder ihr geliebter Herr von Beust operirt hatte, die Anderen
konnten sich eines ironische» Behagens nicht erwehren, von der Stärke der realen
Verhältnisse die kleinen politischen Velleitäten so hinweggefegt zu sehen, und ließen
mit zufriedenen Lächeln gewähren, die politische Seite des Vertrags geschäftig abzu¬
leugnen; aber im Ganzen hatte ja Jeder das Bewußtsein, daß die Sache durch den
Willen Preußens und die Macht der Verhältnisse entschieden sei und dies gewährte
die einzige Beruhigung gegenüber einer Zusammensetzung der Kammern, welche nur
äußerst wenige Leute zu sachgemäßer Bearbeitung der Vorlage darbot. Rücksicht¬
lich der preußischen Kammern aber hatte fast Alles den unmittelbaren Eindruck
„nostra, res agiwr", in solchem Grade haben alle Mittel- und Kleinstaaten bereits
ihr geistiges Centrum in Preußen gefunden.
Je bedeutender aber nun das Gefühl von der Wichtigkeit des nunmehr zusam¬
mentretender preußischen Abgeordnetenhauses in und außer Preußen war, je unklarer
und gespannter die auf dasselbe gesetzten Hoffnungen waren, desto mehr war Gefahr
vorhanden, daß sich dem Hause unter dem Bewußtsein der Verantwortlichkeit das Bewußt¬
sein der nächsten Anfaaben verwirren würde, um so mehr, als die Consequenzen der
Stimmungen und Gesichtspunkte, unter denen man die Wahlen vorgenommen hatte,
ihren Einfluß auf die Thätigkeit des Hanfes nothwendig äußern mußten. Wir
haben über die letzteren früher in diesen Blättern gesagt, daß von Seiten der Fort¬
schrittspartei die Wahlen lediglich unter dem Gesichtspunkte eines Vertrauensvotums
für die Majorität des aufgelösten Hauses betrachtet würden, und dazu bemerkt, daß
die Frage nur dann so einfach liegen würde, wenn Aussicht vorhanden wäre, daß
' dem Theile, welchem das Volk in seinen Wahlen Recht gäbe,, auch die Krone Neckt
geben werde. Wir haben uns nicht getäuscht, wen» wir an diese Aussicht nicht
glaubten, wir haben uns aber auch nicht getäuscht, wenn wir der Einseitigkeit dieses
Gesichtspunktes eine nothwendige üble Einwirkung auf den Ausgang der Sache
zuschrieben. Zuerst bei den Wahlen führte dieser Gesichtspunkt, und dessen innige
Verknüpfung mit dem Hagen'sehen Antrage zu jenem blödsinnigen Bannspruche über
alte Parteiführer, und indem man dem Könige so jede Möglichkeit abschnitt, eine
starke Negierung zu bilden, schien man einerseits zu erklären, daß man auf eine
ungewisse Zukunft spetulire, wobei man dem Könige Erinnerungen der trübsten Art
wachrufen mußte, andrerseits gefährdete man den moralischen Einfluß der Wahlen
auf das Aeußerste, indem man ihre reelle Wirkung und dadurch den Glauben an
ihre Macht von vornherein in Zweifel stellte. Darauf aber, den Glauben an diese
Macht zu stärken, kam es jetzt in Preußen vor allen Dingen an und dieser Nimbus
wird durch das Sleuerbcwilligungsrccht nicht ersetzt. Denn das ist jetzt die große
Frage, ob das Abgeordnetenhaus zu einem bloßen Bewillignngsfactor herabgedrückt
werden kann, der sich schließlich doch der Macht der realen Bedürfnisse fügen muß,
oder ob es sich zu einem gewaltigen Factor erheben kann, der, innerhalb seiner
verfassungsmäßigen Competenz, doch einen bedeutenden Bruchthei! der Entscheidung
über die ^Geschicke des Staates in Händen hält. Dieser falsche Gesichtspunkt für
die Wahlen Machte deren Gewinn daher mit jeder Woche illusorischer, welche sich
das Ministerium im Amte erhielt, trotz ihrer Niederlage bei den Wahlen, die Situa¬
tion wurde um so bedenklicher, je mehr es sich zeigte, daß die Regierung bemüht
fein werde, durch materielle Concessionen, durch versöhnliche Leitung der Regierungs-
geschäfte, ja sogar durch ein energischeres Auftreten in der äußern Politik eigentliche
Beschwerdepunkte aus dem Wege zu räumen. Denn dadurch wurden ihre Gegner
immer mehr in die Nothwendigkeit versetzt, entweder mit ihr in geschäftliche Verbin¬
dung zu treten, und dadurch die ganze Taktik mit einemmale umzuändern, welche
man bei den Wahlen eingeschlagen hatte, d. h. den Anschein der Besiegung auf sich
zu laden, oder aber durch mürrisches Ablehnen jedes Entgegenkommens in den Ge¬
ruch demokratischer Verbissenheit zu kommen und das fruchtlose Ausspielen eines
moralischen Trumpfes nochmals zu riskiren.
Wir glauben nicht, daß diese Fehler, gewissermaßen die tragische Schuld bei der
erhebenden That der Wahlen, durch ein rechtzeitiges Erkennen und kluges Einlenken
hätten ungeschehen gemacht werden können, allein wir hätten doch gewünscht und
gehofft, daß das Verfahrensein der Situation sich etwas weniger schlagend documen-
tirt hätte, als dies nach dem Urtheil, welches man nach den bisherigen unzu-
reichenden Berichten im Auslande sich hat bilden können, der Wii gewesen zu
sein scheint, und glauben, daß es möglich gewesen wäre, auch jetzt noch rich¬
tigere Gesichtspunkte zu finden und wirken zu lassen. Schon die Auflösung der
Grabow'schen Partei am Beginne des Landtages schien uns kein glückliches
Ereignis; zu sein. Wir selbst haben die Vereinigung der Parteien vor dem Beginne
der Wahlen aus tiefster Ueberzeugung gerathen, und wir wünschen noch heute, daß
die Ausführung dieser Vereinigung möglich gewesen wäre, aber nachdem nun die
Wahlen ohne diese Einigung stattgefunden hatten, war nach unserm Ermessen die
Auflösung der Grabow'schen Partei, bevor sich die Parteistandpunkte überhaupt ge¬
klärt hatten, ein großer politischer Fehler, welcher die genannte Partei nachträglich
in die Unfruchtbarkeit und Schiefheit der Lage der Fortschrittspartei hineinzwängte,
ihr den ungeheuren Vortheil aus der Hand nahm, uneingeengt durch die Konse¬
quenzen der Wahlen dem Ministerium oppositionell gegenübertreten und dennoch
über Politik und manches Andere, was zu einem Landtage gehört, mit ihm reden
zu könne», und endlich die alten parlamentarischen Größen noch mehr isolirte. Zu
einer solchen Lösung war erst dann der Zeitpunkt gekommen, wenn die Unbestimmt¬
heit der Tendenzen der Fortschrittspartei diese selbst zu der, wie es uns scheint,
nöthigen und wohl auch nicht allzufernen Scheidung der Elemente geführt hatte.
Die Nemesis für diesen Fehler sollte bald auf dem Fuße folgen, indem der verlassene
Führer, trotz alle!», was wir gegen manches seiner Reden einzuwenden haben, doch
unleugbar den gewaltigsten Eindruck in der ganzen Debatte gemacht hat.
Die Frage nnn, welche sich das Abgeordnetenhaus zuerst zu stellen hatte, war
die, ob eine Adresse erlassen werden sollte oder nicht? Wir brauchen wohl nicht erst her¬
vorzuheben, daß wir der Bejahung der Frage vollständig beistimmen; nach dem, was
geschehen war, war ein gewöhnliches Eintreten in die Geschäfte nnr für den mög¬
lich, der das Geschehene billigte, oder der sich ans jeder Gemeinschaft mit der Re¬
gierung losgelöst fühlte. Aber freilich wie wenig mit der Beantwortung dieser Frage
gewonnen war, sollte sich nur zu deutlich zeigen; die vielen Entwürfe zu einer
solchen Adresse sind ein klarer Beweis für die Unsicherheit, in welcher man sich be¬
fand. Es kann uns nicht in den Sinn kommen, dieselben einer eingehenden Be¬
sprechung zu unterwerfen, es scheint uns eben keiner den ganz richtigen Ton und
den ganz richtigen Gedankengang gefunden oder zum Ausdrucke gebracht zu haben.
Zuvörderst zeigten sich in dem ersten von der Fortschrittspartei ausgegangneu Ent¬
würfe schon die vollen Consequenzen der von der Partei bei den Mahlen .einge¬
schlagenen Taktik. Auf die versöhnliche Eröffnungsrede hatte man kein Wort des
Eingehens als die Aeceptation der Specialisirung des Etats und der zeitigen Vor¬
lagen des Budgets von 1863, und d.je Zusicherung, daß man die Vorlagen der
königlichen Stnatsrcgiernng nnter allen Umstünden mit Ehrerbietung aufnehmen
und der gewissenhaftesten Bearbeitung unterziehen werde, eine Zusicherung. deren
es „unter allen Umständen" nicht erst bedarf. Im Uebrigen aber manifestirte
man in der auffälligsten Weise, daß man mit diesem Ministerium gar nichts
zu thun haben wolle, daß man alles, was dasselbe leisten werde, ignoriren,
daß man überhaupt von demselben gar nichts erwarten, gar nichts bean¬
spruchen wolle, nur so kam das vornehme Stillschweigen über die wichtigen
Dinge, die eben ringsum vorgingen, über die inhaltsschweren Wünsche, die das
preußische Abgeordnetenhaus sonst an seine Minister zu richten hatte. Diese nega¬
tive Enthaltsamkeit mußte nothwendig ihren schlimmen Einfluß auf die positive
Seite der Adresse üben; man war genöthigt, die Opposition in einer Weise bereits
auf positive Vorgänge zu begründen, die an und für sich, und zumal bei dem.
Ignoriren der günstigen Thatsachen, keinen genauen Ausdruck der Wahrheit bot,
und in einer Sprache, welche bei dem wesentlichen Antheil, den des Königs eigenste
Entschließung in der ganzen Angelegenheit gehabt hatte, auf diesen trotz aller Loya-
litätsvcrsicherungen verletzend wirken mußte. Man ließ sich ferner veileiten, die von
dem Ministerium in das Laud geworfene Formel: königliches oder parlamentari¬
sches Regiment, zu einer Erörterung über das Königthum zu benutzen, die abstract
und langweilig war, durch ihre Erwähnung des Absolutismus wie eine Beschul¬
digung solcher Tendenzen klingen konnte, auf jeden Fall aber nicht dazu geeignet
war, den Träger der Krone der parlamentarischen Regierung geneigter zu machen.
'
Der v. Sybelsche Entwurf vermied diesen Grundfehler, aber dafür entbehrte
er auch der eigentlichen Spitze, die unter allen Umständen nur in dem Ausdrucke
l»r Kluft, welche man zwischen sich und dem Ministerium fühlte, bestehen konnte.
Denn die B> !>auptung'. „Die Ursache der jetzigen Bewegung ist keine andere, als
die Befürchtung, daß irgend ein dem Gescnnmtwohl widerstrebendes Sonderinteresse
jenes feste Band des Vertrauens zwischen Thron und Volk auflockern konnte" er¬
schöpfte die Lage in keiner Weise, und ließ namentlich das Ministerium unbe¬
rührt, weil der Nachweis, daß das Ministerium diesem Sonderinteresse dienen werde,
in keiner Weise geführt wurde. So erschienen denn die Berührung des Militär¬
budgets, des Handelsvertrags, der kurhessischen Sache ?c. wie Abirrungen vom eigent¬
lichen Zwecke der Adresse, den auch die Schlußworte derselben allein nicht erfüllen
konnten.
Noch mehr ließ die Stellung zum Ministerium der Vincke'sehe Entwurf im Un¬
klaren. Statt den Gegensatz zu der Negierung scharf auszuprägen, begann derselbe
mit einem unpassenden Proteste gegen das parlamentarische Regierungssystem und
begnügte sich im Uebrigen ein, im Einzelnen freudigst zu acccptircndcs, aber hier
nicht am Platze befindliches allumfassendes Programm zu geben, so daß sich wol
fragen läßt, ob der Verfasser bewußt nicht mehr das letztere, als die Adresse im
Auge gehabt habe.
Vergegenwärtigen wir uns nun diesen Entwürfen gegenüber noch einmal, wor¬
auf es bei der Adresse wohl ankam:
Ein in dem Leben repräsentativer Versammlungen und namentlich nach deut-
schen Anschauungen auffälliges und bedeutendes Ereigniß, die Auflösung des Hauses,
hatte die vorige Sitzungsperiode plötzlich geendet. Ja noch mehr, es hatte dieses
Ereigniß sogar zur Entlassung der liberalen Minister und zu deren Ersetzung durch
Männer geführt, deren Antecedentien oder Mangel an Antecedentien das Vertrauen
des Volkes in keiner Weise zu gewinnen geeignet waren. Wenn Zweifel in die
Tendenzen der Minister überhaupt noch hätten vorhanden sein können, so wären
sie gehoben worden durch die Erlasse derselben, in welchen liberale Parteien als
Feinde des Königthums proclamirt wurden, und der Versuch zu unsittlicher Prejsion
gemacht wurde.
Nach diesen Vorgängen war das Abgeordnetenhaus nicht nur berechtigt, son¬
dern sogar verpflichtet, seine Stimme vor dem Könige zu erheben. Aber dabei
mußte es viele Abwege vermeiden. Einmal mußte es nicht die frühere Auflösung
mißbilligen wollen, durfte also den Hagenschen Antrag nicht wieder vorreiten, denn
diese Kritik als bloße Kritik stand ihm nicht zu. Sodann mußte es nicht Auf¬
klärung über das Geschehene haben wollen, das kam ihm ebensalls nicht zu.
Wenn mau aber sich gegen das Ministerium wendete, so genügte einestheils das
Geschehene nicht, um daraufhin eine Verurtheilung auszusprechen, und eine Ent¬
lassung desselben zu wünschen, und anderntheils konnte die Ignorirung des Ver¬
sprochenen und Geleisteten dem Vorwurf der Parteivcrbissenheit nicht entgehen. Der
Kernpunkt der Situation ist ja auch nicht die bloße Verurtheiluno, des Geschehenen,
sondern die trübe Aussicht in die Zukunft. Bei den unendlichen Schwierigkeiten,
welchen der preußische Staat nach allen Seiten zu begegnen hat, braucht die preu¬
ßische Negierung vor allen Dingen Männer, die mit unerschütterlicher Charakter¬
stärke, mit tiefster und innigster Ueberzeugung sich der großen Aufgabe widmen,
die ihren Verlaß nicht finden in diplomatischen Schachzügcn, sondern in dem festen
Vertrauen des ganzen Volkes, in dem ungestörten Frieden zwischen Negierung und
Land, in der innigen Verbindung mit allen liberalen Elementen des gesummten
deutschen Vaterlands. Nach dieser Seite hin aber kann und muß das preußische
Volk und sein Organ, das Abgeordnetenhaus, dem preußischen Ministerium alles
Vertrauen versagen, und dieses war unseres Ermessens die Seite, welche die Adresse
anzuschlagen hatte, diesen Mangel an Hoffnungen hatte man auszusprechen, nicht
auszuschweigcn. Hiermit wurde vieles umgangen, was zu vermeiden war, und vie¬
les hereingezogen, was nicht umgangen werden durfte, und grade nur soweit und
so speciell, als es nöthig war, und ohne daß es den Eindruck des Willkürlichen
oder des Programmes machte. Mit freiem, großem Blicke hatte das Haus die Ge¬
fahren der Lage vor den Augen des Königs zu entrollen; hier hatte man Ge¬
legenheit, die Verkehrtheit der eingeschlagenen Taktik noch aus einem anderen
Gesichtspunkte zu erkennen: man meint die deutsche Frage, welche doch immer
die Cardinalfrage bleiben wird, durch die innere Entwickelung Preußens lösen zu
können, aber wir glauben, die deutsche Frage wird die innere Frage Preußens müs¬
sen lösen helfen; denkt man sich Preußen rsolirt, so ist der Liberalismus gegenüber
der Krone noch viel zu schwach, die innere Verwickelung zu einem gedeihlichen Aus¬
gange zu führen, erst wenn man Preußen in seine wirkliche gegenwärtige äußere
Lage hineinseht, wird die innere Frage brennend und gefahrdrohend, und erlangt
der Liberalismus die Berechtigung, eine sofortige Lösung des innern Zwistes zu for¬
dern. — Von diesem Standpunkte ans gelangte man. aber zu einer natürlichen un¬
gezwungenen Berührung aller brennenden Fragen, und man erhielt andrerseits die
Füglichkcit, das von dem Ministerium Geleistete zwar anzuerkennen, aber andrerseits
die Bedenken kund zu geben, welche man trotz alledem dagegen hatte, die Angelegen¬
heit in diesen Händen zu wissen. Gerade die Art, wie die kurhcssischc Sache be¬
handelt worden war, das Bedenken, welche die Militärcvnventionen in den betreffen¬
den Staaten finden, bot hierzu eine natürliche Veranlassung, und selbst der Handels¬
vertrag konnte wohl dazu dienen, die Mahnung auszusprechen, daß an» diese Sache
nicht als diplomatischen Schachzug behandeln möge, und daß man sich davor hüten
möge, Schutz vor der eigenen Willensschwäche in einer unvorsichtigen Hingebung an
Frankreich zu suchen, eine Mahnung, die in Süddeutschland gute Wirkung gethan
hätte, und die gegenüber der Sendung des Herrn von Bismark-Schönhausen viel¬
leicht doppelt am Platze war. Hier war dann der Ort, energisch gegen das Anver-
langcn der Minister zu protestiren, daß man sie nur nach ihren zukünftigen Hand¬
lungen beurtheilen solle. Wir halten es namentlich für höchst bedauernswerth, wenn
Vincke die Minister dagegen verwahrte, daß sie nach ihren Antecedentien beurtheilt
würden, Der preußische Staat ist nicht in der Lage, Minister auf Probe vertragen
zu können, preußische Minister müssen reiche Antecedentien haben, welche in jeder
Beziehung nach Charakter und Intelligenz dafür Gewähr bieten, daß der Staat nicht
in Gefahr kommt. Wie soll man aber eine solche Garantie darin finden, daß Män¬
ner, welche theils nach ihrer ganzen Vergangenheit als Gegner des Liberalismus
bekannt sind, oder überhaupt keine Vergangenheit haben, oder aber hinlängliche Zwei¬
fel in die Festigkeit ihres Charakters dargeboten haben, sich als willige Ausführer
des königlichen Programms vom 8. November 1858 proclamiren. Hiel konnte dann
ferner in warmen Worten an die unzweifelhaft großen Opfer erinnert werden, welche
die Lage Preußens dem Volke auferlege, und der König in herzlicher aber männlicher
Weise gebeten werden, die Grundlage zu schaffen, auf welcher allein der preußische
Staat seinen Aufgaben genügen könne, die Basis des unbedingten Vertrauens zu
den Rathgebern der Krone, des innersten Friedens, der unmöglich sei zwischen einem
Ministerium und einem Abgeordnetenhause, deren letzteres in seiner Mehrheit von
dem erstere» als königsfeindlich vor dem Lande befeindet worden. Freilich war dies
auch ein Mißtrauensvotum in <zr>ein», torus,, aber wir finden, die Lage Preußens
ist jetzt ebenso kritisch, wie nach Olmütz. darüber können auch die Erfolge Preußens
nicht täuschen, und es läßt sich ein solches Votum nicht nur durch etwas, was in
der Vergangenheit liegt, rechtfertigen, sondern ebenso durch den Mangel ein Hoff¬
nungen in die Zukunft, — Wir sind nicht so kühn, zu glauben, daß die Adresse
dann ihre Wirkung gethan Hütte, aber das preußische Abgeordnetenhaus hatte dann
doch vom erhabenen Standpunkte die Schwierigkeiten der Lage frei und groß geschil¬
dert, wußte sich frei von allen Uebertreibungen, hatte die Leistungen der Regierung
willig und ohne Verbissenheit anerkannt, der Stimmung des Landes einmüthigcn
Ausdruck verschafft, und eine Antwort unmöglich gemacht, wie sie inzwischen ihm ge¬
geben worden ist. Einer solchen Adresse gegenüber konnte man sich nur auf die
Pracrogntive der Krone berufen, und die Geschichte hatte dann zu richten, ob wohl
das preußische Abgeordnetenhaus das Recht habe, dem Könige zu sagen: „das Vater¬
land ist in Gefahr".
Wir brauchen nach dem Gesagten nicht noch zu bemerken, was wir von der
compromissarisch schließM festgestellten Adresse halten. Die Debatte selbst war
in ihrer Beschaffenheit die nothwendige Folge der Adresse, Durch die lediglich der
Vergangenheit entnommene Begründung des Mißtrauensvotums war man genöthigt,
etwas beweisen zu wollen, was in solcher Schroffheit nicht zu beweisen war, und
eine Masse Wahlflcgelcien zusammenzutragen, deren Verantwortung die Minister
füglich ablehnten. Durch das dadurch nothwendige Eingehen auf die Wahlerlasse
rief man die unerquicklichen, meist schiefen und falschen Aeußerungen über königliches
und parlamentarisches Regiment hervor, die jedenfalls' verhindern werden, daß die Staats-
praxis des Parlamentarismus — denn eine solche ist es nur, kein Staatsrecht
— bald in Preußen Platz greifen werde. Durch den Verzicht endlich auf die Motivi-
rung des Mangels an Vertrauen durch die äußeren Verhältnisse nahm man der De¬
batte jeden Schwung und jedes staatsmünnischc Gepräge, Man hat auch in Preu¬
ßen wohl allgemein diesen Eindruck von der Debatte gehabt, und je sruchtloscr die¬
selbe mit der Zeit sich herausstellen wird, desto stärker wird dieser Eindruck werden.
Wir finde» nur eine Beruhigung für das Haus, das Verhalten der Minister
selbst, die sich dem Hause in keiner Weise überlegen zeigten, wenn es eine Beruhigung
sein kann, solche Minister an der Spitze des preußischen Staates zu wissen, — Hof¬
fen wir, um doch mit einer Hoffnung zu schließen, daß die preußischen Abgeordne¬
ten sich des Grundfehlers vor allem bewußt werden: mit d ein Nihilis mu s, mit
der Parole: „kein Gut kein Blut" muß gründlich gebrochen werden,
namentlich die Fortschrittspartei möge einsehen, daß ihr rein negativer Ursprung aus
der Opposition gegen das Ministerium Schwerin sehr bald zur Unfruchtbarkeit und
zu den vollen Schroffheiten des Dualismus der Gewalten führen muß, welche jede
Action der Regierung unmöglich machen. Möge sie das positive Element, welches
sie in ihrem Zusammenhange mit dem Nationalvereine hat, stärker betonen, und sie
wird dadurch die nöthige Aoklärung und Scheidung ihrer eigenen Elemente und die
Verständigung mit der liberale» Partei gewinnen.
Mit Ur. ZV beginnt diese Zeitschrift ein neues -Quartal,
welches durch alle Buchhandlungen und Postämter zu be¬
ziehen ist.
Leipzig, im Juni '1802.Die Verlagshandlung.
Frankreichs Politik im Jahre 1839 war von der ganz richtigen Erkennt¬
niß ausgegangen, daß in dem Conflicte zwischen dem Sultan und dem Vice-
könig von Aegypten die europäischen Mächte sich nur von realen Interessen,
nicht von tendenziösen Sympathien in der Wahl ihrer Bundesgenossen würden
bestimmen lassen. Dabei hatte aber Frankreich den Fehler begangen, daß es
durch seine keineswegs uneigennützige Begehrlichkeit Rußland von der Rolle,
der Gegner der gemeinsamen europäischen Politik zu sein, befreite, und in
Folge dessen sich selbst in die isolirte und demüthigende Lage versetzte, die es
der nordischen Macht zugedacht hatte. Zu diesem Fehler war die französische
Regierung zum Theil durch eine der oben angegebenen Anschauung gewisser¬
maßen entgegengesetzte Erwägung verleitet worden: Frankreich glaubte sich des
englischen Bündnisses sicher, nicht blos wegen des Gegensatzes, der zwischen der
englischen und russischen Politik in der orientalischen Frage bestand, sondern
auch, weil es der Solidarität der constitutionellen Principien gegenüber den
absolutistischen Bestrebungen der nordischen Mächte eine zu große Bedeutung
beimaß. Der Fehler war um so unverzeihlicher, da man bereits erfahren hatte,
daß die Sympathien der englischen Nation nicht zu hoch in Rechnung zu brin¬
gen seien. In einer Angelegenheit, in der scheinbar das liberale Europa noch-
einmal dem absolutistischen gegenübergetrcten war, hatte Lord Palmerston sich
offenkundig nicht von politischen Sympathien, sondern ausschließlich von dem
englischen Interesse leiten lassen. Wir meinen die spanische Frage, deren Ver¬
lauf ganz geeignet wär, den französischen Staatsmännern die sorgsamste und
aufmerksamste Erwägung ihres Verhältnisses zu England dringend anzuempfeh¬
len. Grade die spanische Frage bewies, daß die Spaltung Europa's in ein
liberales und ein absolutistisches Heerlager ihre praktische Bedeutung verloren
hatte, da die Koalition der conservativen Mächte wohl schwerlich einen Augen¬
blick an ein aggressives Vorgehen gedacht hat. und England und Frankreich
viel weniger durch ihren Gegensatz gegen jene, als durch gegenseitige Eifersucht
zu gemeinsamem Handeln bestimmt wurden. Der Hauptgesichtspunkt, unter
dem England die spanische Frage auffaßte, war der, die Halbinsel völlig seinem
Einflüsse zu unterwerfen. Auf dies Ziel steuerte Lord Palmerston rücksichtslos
hin, und brachte durch die Entschiedenheit seines Handelns. Frankreich in die
ungünstige Lage, den Antrieben der englischen Politik folgen zu müssen, um der
Gefahr der Jsolirung zu entgehen. Grade das Hervortreten des Gegensatzes
zwischen England und Frankreich ist die historisch wichtigste Seite der spanischen
Ereignisse, weshalb wir im Folgenden auf diesen Punkt vorzugsweise unsere
Aufmerksamkeit richten wollen.
Wir werfen zuerst einen Blick auf die von Guizot ausführlich entwickelte
Rechtsfrage, um die es sich bei dem Bürgerkriege in Spanien handelte. Nach
dem alten spanischen Gesetze konnten in Ermangelung d.irecter männlicher Erben
auch Frauen den spanischen Thron besteigen. Im Jahre 1714 führte Philipp
der Fünfte zwar nicht das salische Gesetz, wohl aber eine Erbfolgevrdnung ein,
nach der die weibliche Thronfolge auf den Fall beschränkt wurde, daß weder
directe noch cvllaterale männliche Erben vorhanden wären. Im Jahre 1789
erneuerte Karl der Vierte wieder das alte spanische Gesetz und ließ dasselbe
durch die Cortes sanctioniren, aber nicht publiciren. Auch die Cortes von
1812 behielten in der Konstitution von 1812 die weibliche Thronfolge bei.
Nach der Restauration und der Abschaffung der Verfassung von 1312 galt es
als selbstverständlich, daß das Gesetz von 1714 zu Recht bestehe. Da ließ am
3. April 1830, während der ersten Schwangerschaft der Königin Christine,
Ferdinand der Siebente, nach Anhörung des Rathes von Castilien, plötzlich
das Gesetz von 1789 feierlich als Gesetz des Königreichs publiciren, ohne auf die
Proteste Frankreichs und Neapels Rücksicht zu nehmen. Im Jahre 1832 gelang
es der apostolischen Partei, die dem ihr eng verbundenen Infanten Don Carlos
die Krone zuwenden wollte, den König während einer schweren Krankheit zu einem
Widerrufe des Gesetzes zu bewegen und die Pragmatik Philipps des Fünften
wieder herzustellen. Doch wurde dieser neue Staatsstreich geheim gehalten; die
darauf bezügliche Acte wurde, wie es heißt, versiegelt in der Kanzlei der Gnaden
und Gerechtigkeit niedergelegt, mit der Aufschrift: Zu öffnen im Falle des Todes
des Königs, oder wann er es befehlen wird. Kaum trat Ferdinand der Siebente
wieder in die Genesung ein. so bot Christine, unterstützt von den Liberalen,
alles auf, um den Widerruf rückgängig zu machen. In der That erklärte
der König, als er nach seiner völligen Genesung die Regierung übernommen
hatte, den Widerruf, als ihm während seiner Krankheit abgedrungen, für
nichtig und stellte das Gesetz von l830 wieder her.
Diese kurze Uebersicht wird genügen, um auch die anarchischesten Erschei¬
nungen in Spanien erklärlich zu machen. Indem der Absolutismus, jedem
Gelüste folgend, im Laufe eines Jahrhunderts viermal das Grundgesetz der
Monarchie willkürlich änderte, hat er selbst der Idee der Legitimität einen
tödtlichen Stoß versetzt und das Rechtsbewußtsein im Volke völlig untergraben.
Uns ist kein Beispiel despotischer oder revolutionärer Willkür bekannt,
welches in gleichem Maße der politischen Moral Hohn spräche, wie die Ge¬
schichte des spanischen Erbsolgegesetzes. Wenigstens darf man Beispiele zur
Begleichung in keinem andern Lande, als in Spanien selbst suchen, dem ein¬
zigen modernen Staate, in dem, wenn wir von der ruhmvollen Regierung
Karls des Dritten absehen, die Monarchie nicht ein Werkzeug des Fortschritts
der Civilisation, sondern eine sast ununterbrochene Quelle des Leidens, der
Erniedrigung und Verderbnis? gewesen ist.
Dem dynastischen Familieninteresse Ludwig Philipps mußte die Sanctioni-
rung der weiblichen Erbfolge in hohem Grade unerwünscht sein. Es war da¬
her natürlich, daß er in Gemeinschaft mit Neapel anfangs die Versuche der
älteren bourbonischen Linie, dem neuen Erbfolgegesctze Hindernisse in den Weg
zu legen, fortsetzte. Nachdem jedoch die weibliche Erbfolge einmal vollendete
Thatsache geworden war, sprachen gewichtige Gründe dafür, dieselbe ohne-
Hintergedanken anzuerkennen. Es war nämlich unzweifelhaft, daß die öffent¬
liche Meinung in Frankreich durch eine Parteinahme für Don Carlos, den
fanatischen Vertreter des starrsten Absolutismus in bedenklichem Grade würde
aufgeregt werden; und auf einen Conflict mit dem französischen Liberalismus
konnte der König es nicht ankommen lassen. Von gleichem Gewicht war die
Rücksicht, die man auf England zu nehmen hatte. England wurde aber, von
allen andern Verhältnissen abgesehen, schon dadurch zur Parteinahme gegen Don
Carlos bestimmt, daß dieser der Verbündete des Don Miguel war. Ein Sieg
des durch klerikale Tendenzen gesteigerten Absolutismus in Spanien und Por¬
tugal würde aber für Englands Einfluß auf der Halbinsel der Todesstoß ge¬
wesen sein. Da nun Frankreich einen Bruch mit England um jeden Preis
zu vermeiden wünschte, so blieb ihm nichts übrig, als der Versuch, durch engen
Anschluß an die englische Politik auch an dem englischen Einfluß Antheil zu
gewinnen. Das englische Cabinet nahm natürlich die Mitwirkung Frankreichs
sehr gern an. jedoch mit dem stillen Vorbehalt, keine Gelegenheit unbenutzt
vorübergehen zu lassen, um dem unbequemen Rivalen den Vorsprung abzu¬
gewinnen.
Als Frankreich für die Sache der Königin eintrat, war man schwerlich dar¬
auf gefaßt, daß das neue Regime in Spanien Jahre lang um seine Existenz
würde zu kämpfen haben. Aber schon im Herbste 1833 begannen die karlisti-
schen Bewegungen und nahmen bald einen erhöhten Aufschwung. Ehe sich noch
die Größe der drohenden Gefahr berechnen ließ, hatte der Herzog von Broglie
der Königin Regentin und ihrem Minister Bermudez förmlich seine Hülfe,
so weit sie dieselbe für nützlich hielte, anbieten lassen (Broglie an Rayne-
Val, den französischen Gesandten in Madrid: Vous loren cormaütrö a la
reine ainsi <in'!i ses alni^trss roer« disxokiticm kormsllcz, a lui ^eevrävr
notre axxui 6e maniers vt cians mvsui-e, <zu'Ü8 sugsrovt 1s pIns utilss
an gouvernemönt vouvsau). Der spanische Nationalstolz war über dies
Anerbieten so wenig empört, daß die offizielle Madrider Zeitung vom
12. Oktober 1833 zur Beruhigung des Publicums die Ankündigung enthielt,
der König der Franzosen habe der Regentin unter allen Umständen jede Unter¬
stützung angeboten, die sie für angemessen halten würde zu fordern. Diese
Note, die doch augenscheinlich nicht über Broglie's Versprechen hinausging, er¬
regte im französischen Cabinet die lebhafteste Unzufriedenheit. Entweder hatte
Broglie in seiner Depesche etwas Anderes gesagt, als er hatte sagen wollen,
oder die „Disposition" der französischen Regierung hatte sich merkwürdig schnell
verändert; genug Broglie erklärt die oben angeführte Phrase plötzlich ganz
anders, als sie die spanische Regierung, als sie selbst Nayneval verstanden hatte.
Damit dem Eifer, die Sache der Königin zu unterstützen, nicht die Absicht unter¬
gelegt werde, als ob Frankreich einen ungebührlichen Einfluß auf die spanische
Regierung auszuüben beabsichtige, habe man derselben gewissermaßen zur Be¬
ruhigung erklären wollen, daß man jedenfalls nur auf ihr ausdrückliches Er¬
suchen handeln und nichts unternehmen werde, als was sie für angemessen
erachten würde (et as us rien entrsxi-suäriz, ü^tmitivs, yue Ah 1a. eng.-
uiers se clans Is, mesurs, qu'it (Is Aouvorneiliönt) .juMrait eouvenadlö).
Daß diese authentische Interpretation dem Wortlaut der ersten Depesche völlig
widerspricht, liegt klar zu Tage. Eine absichtliche Zweideutigkeit in der De¬
pesche anzunehmen, verbietet sowohl der Charakter Broglie's, wie die Lage der
Dinge, da kein Grund vorlag, Hoffnungen in den Spaniern zu erwecken, die
man entschlossen war nicht zu erfüllen. Daher läßt sich kaum zweifeln, daß
das Versprechen von Broglie üverejlt, in der ersten Aufwallung und ohne Be¬
rechnung der möglichen Folgen eines bewaffneten Einschreitens gegeben ist.
Auch mögen wohl die französischen Staatsmänner kaum vermuthet haben, daß
die spanische Regierung sie so rasch beim Wort halten, und daß der spanische
Unabhängigkeitssinn so willig die dargebotene Hülfe des fremden Retters an¬
nehmen würde. Sobald man die Uebereilung erkannt hatte, suchte man sie
durch eine gezwungene und ungeschickte Wortklauberei wieder gut zu machen,
da man sich weder zu einem einfachen Widerrufe des Versprechens verstehen
wollte, noch auch den Konsequenzen desselben sich unterziehen mochte.
Die Ursachen dieser Wendung sind aber gewiß weniger in einer zarten
Rücksicht auf die Selbständigkeit der spanischen Nation und Monarchie zu
suchen, als in der Besorgniß, daß durch ein einseitiges Einschreiten Verwicke¬
lungen mit fremden Mächten herbeigeführt werden könnten. Wenn Broglie
den spanischen Gesandten darauf hinweist, daß eine Intervention Frankreichs
zu Gunsten der Königin die nordischen Mächte dahin bringen könnte, ihre bis¬
herige passive Haltung mit einer thätigen Parteinahme für den Prätendenten
zu vertauschen, so war dies wohl nicht ernst gemeint. Der wahre Grund für
Frankreichs Zurückhaltung war vielmehr, wie Broglie auch andeutet, der
Wunsch, alles zu vermeiden, was Englands argwöhnische Eifersucht beunruhigen
könnte. Man fühlte sich des Verbündeten nicht recht sicher, und hatte auch
in der That alle Ursache, vor ihm auf der Hut zu sein, wie sich bald an einer
sehr empfindlichen Demüthigung zeigen sollte, die der französischen Politik durch
das Uebelwollen Lord Palmerstons bereitet wurde.
Martinez de la Rosa, welcher als Haupt der gemäßigt liberalen Partei
in Spanien nach Bermudez Rücktritt ans Ruder gekommen war, wurde in
gleichem Maße von dem Carlistischen Aufstande der baskischen Provinzen,
wie von den extremen Forderungen der Radicalen, welche die Consiitution von
1812 zu ihrem Feldgeschrei gemacht hatten, bedrängt. Die Carlistischen Be¬
wegungen glaubte man mit einem entscheidenden Schlage treffen zu können,
wenn es gelänge, dem in Portugal von Don Miguel angefachten Bürgerkriege
ein Ende zu machen; denn von dem Hauptquartier des portugiesischen Präten¬
denten aus unterhielt Don Carlos lebhafte Verbindungen mit seinen Anhängern
in Spanien; seine Entfernung aus Portugal, so hoffte man, würde auch dem
Aufstande in Spanien die Wurzeln abschneiden. Um dies Ziel zu erreichen, schickte
die spanische Negierung der Königin Donna Maria nickt nur ein Truppencvrps
unter dem General Rodil zu Hülfe, sondern es wurde auch ein Vertrag zwi¬
schen England, Spanien und Portugal geschlossen (15. April 1834) des In¬
halts, daß die beiden Königinnen ihre Streitkräfte vereinigen würden, um die
beiden Infanten aus der Halbinsel zu vertreiben, wahrend England sich ver¬
pflichtete, durch Sendung einer Flotte die Unternehmungen der spanisch-portu¬
giesischen Truppen zu unterstützen. Erst nach Abschluß der Verhandlungen er¬
hielt Talleyrand, damals französischer Gesandter in London, entweder von
Florida Blanca, dem Vertreter der spanischen Regierung, oder von Lord Pal-
merston selbst Kunde von dem Vertrage, mit der Aufforderung, ihm beizutreten.
In Paris war man über diese Mittheilung aufs peinlichste überrascht, um so
mehr, da Martinez de la Rosa noch am 27. Januar ausdrücklich um die
Mitwirkung Frankreichs zur Vertreibung des Infanten aus Portugal gebeten
hatte. Die halben und verlegenen Entschuldigungen des spanischen Ministers,
Florida Bianca habe ohne Jnstructionen gehandelt, er selbst sei von der Bereit¬
willigkeit des englischen Cabinets überrascht gewesen, waren nicht geeignet die
Empfindlichkeit Frankreichs zu vermindern; sie gaben aber verständliche Andeu¬
tungen über die Art und Weise, wie der Vertrag zu Stande gekommen ist.
Offenbar ist die Initiative zu den Verhandlungen nicht von Martinez de la
Rosa, der mehr zu Frankreich als zu England hinneigte, sondern von Lord
Palmerston ausgegangen, der ohne Zweifel durch Florida Bianca die zu dem
Zwecke nöthige Pression auf das spanische Cabinet ausübte. Im Sinne
Palmcrstons war aber die Spitze des Vertrages vielmehr gegen Frankreich,
als gegen die Infanten gerichtet. Sein Uebelwollen gegen Frankreich ging so
weit, daß er sich anfangs sogar gegen die von Talleyrand vorgeschlagenen
Modificationen in der Form der an das französische Cabinet zu richtenden
Einladung, die nur schwach die diplomatische Niederlage und Demüthigung
Frankreichs verhüllten, sträubte; er hätte am liebsten Frankreich von jeder
Mitwirkung ausgeschlossen gesehen. Nur dem Einflüsse Lord Gray's war
es, nach Guizot, zuzuschreiben, daß schließlich durch Annahme von Talley-
rands Vorschlägen die Tripelalliance zur Quadrupelalliance erweitert wurde.
Aus der Entstehung derselben sehen wir übrigens, wie wenig sie darauf
berechnet und dazu geeignet war, eine Solidarität der constitutionellen
Mächte gegenüber den zu MünchcNgrätz Verbündeten absolutistischen Mächten zu
constatiren. Den absolutistischen Cabineten hatte man gar nicht nöthig eine
Koalition entgegenzustellen.
Das nächste Ziel der Alliance, die Entfernung Don Miguels aus Portu¬
gal, war bald erreicht. Durch die Kapitulation von Evora (26. Mai 1834)
verpflichtete der Infant sich, niemals nach Portugal zurückzukehren. Sehr auf¬
fallend und schwerlich blos aus einer ritterlichen Aufwallung des englischen
Geschäftsträgers Grant zu erklären ist es, daß dem Don Carlos nicht dieselbe
Bedingung in Bezug auf Spanien auferlegt wurde. Hatte Palmerston den ge¬
heimen Wunsch, die Verlegenheiten des gemäßigten und mehr nach Frankreich
als nach England hinneigenden Cabinets des Martinez de la Rosa zu ver¬
mehren, um den Anhängern der Constitution von 1812 Vorschub zu leisten?
Ohne diese Frage beantworten zu können, müssen wir doch bier schon darauf
hinweisen, daß später, wenigstens von englischer Seite unzweifelhaft, auf den
Sturz der gemäßigten Negierung hingearbeitet worden ist.
Don Carlos verließ England, wohin er zunächst gebracht war, nach kur¬
zem Aufenthalte und begab sich, ohne erkannt zu werden, durch Frankreich in
die baskischen Provinzen. Sein Erscheinen verdoppelte zunächst die Kraft des
Aufstandes, der in Zumalacarreguy einen Führer von seltener militärischer Be¬
gabung gefunden hatte. Zugleich in Madrid von den Forderungen der immer
stürmischer und drohender auftretenden radikalen Opposition bedrängt, entschließt
sich Martinez endlich nach langem Widerstreben (17. Mai 1835), die Kooperation
der verbündeten Mächte und besonders Frankreichs zur Unterdrückung des Car¬
listischen Aufstandes anzurufen. England lehnte die Intervention ab, gestattete
sie Frankreich zwar, erklärte aber, in keiner Weise solidarisch für eine Ma߬
regel eintreten zu wollen, die den Frieden Europa's compromittiren könne.
Offenbar in Folge dieser drohenden Erklärung Englands und nicht aus Rück¬
sicht auf das wahre Wohl Spaniens entschied sich auch Frankreich, gegen Thiers
Ansicht, für Ablehnung des Jnterventionsgesucbcs. Daß übrigens Englands
Haltung keineswegs aus der Sorge um den europäischen Frieden hervorge¬
gangen war, sollte sich bald zeigen,
Martinez, unfähig sich zu behaupten, war endlich zurückgetreten aus einer
Stellung, in der er Gewissenhaftigkeit und patriotische Hingabe, nicht aber die
eiserne Kraft und Fähigkeit zu entschlossenem Handeln bewährt hatte, durch die
allein eine Mittclpartei zum Siege gefüllt und vor Zerbröckelung oder Erstickung
durch die Extreme gerettet werden kann. Ebenso erfolglos waren die Bemühungen
seines Nachfolgers, des Grafen Toreno. Nicht lange nachdem in Frankreich das
Cavinet vom 11. Oktober 1832 zerfallen war, machte er (Anfangs 1836)
Mendizabal, dem Führer der Radikalen Platz: ein verhängnißvoller Moment, der
die Consolidirung des constitutionellen Princips in unabsehbare Ferne schob,
und Spanien zu einer Zukunft von revolutionären Erschütterungen verurtheilte,
die gegenwärtig nur einen scheinbaren Abschluß gefunden haben. Es ist nicht
schwer, den Spanier für abenteuerliche Unternehmungen zu begeistern, die
indessen nur eben durch ihre Abenteuerlichkeit an die Cvnquistadorcnperiode
erinnern. Es verräth einen großen Mangel an staatsmännischer Einsicht, die
inneren Zerwürfnisse einer Nation, deren Kräfte von Rohheit gebunden und
von Verwilderung überwuchert sind, dadurch heilen zu wollen, daß man ihre
Thätigkeit nach Außen lenkt. Spanien bedarf einer guten und gediegenen Ver¬
waltung, die an die schnöde unterbrochene Refvrmperivde des 18. Jahrhunderts,
an die Traditionen der Feijä, Macanaz, Campanams anzuknüpfen hat. Wohl
Niemand, den Einen ausgenommen, der die Kräfte der edlen Nation zu seinen
Zwecken zu mißbrauchen wünscht, blickt mit einem anderen Gefühl, als dem des
Bedauerns und Mitleidens auf die gegenwärtig in Spanien beliebten Experi¬
mente, die nimmermehr dem halb erstarrten, halb ficberglühenden Körper neues
Leben einflößen werden. Es wäre ein unberechenbarer Gewinn für Spanien,
wenn die neuesten Erfahrungen etwas ernüchternd auf die hochfliegende Phan¬
tasie seiner Staatslenker einwirkte und ihre Blicke von Marokko und Mexiko
auf Schulen, Gewissensfreiheit, Eisenbahnen zurücklenkten.
Der Sieg der radikalen Partei brachte einen völligen Umschwung in den
Beziehungen Spaniens zu den Schutzmächten hervor. Martinez hatte sich nur
mit Widerstreben dem Einfluß Englands unterworfen und gegen dessen Ueber¬
wiegen ein Gegengewicht in der Freundschaft Frankreichs gesucht. Wohl nicht
ohne Grund behauptet Rahneval in einer Depesche, daß die Machinationen des
englischen Gesandten Villiers viel zum Sturze der Moderados und dem Triumphe
Mendizabals beigetragen haben. Dieser, in seiner abenteuerlichen und unbe¬
sonnenen Weise, beeilte sich, seine Abneigung gegen Frankreich aufs Geräusch-
vollste zur Schau zu stellen. Er verwirft den Gedanken an eine französische
Intervention; einige Personen, die Pässe nach Frankreich verlangen, fordert er
auf, lieber überall anderswo hinzugehen, als nach Frankreich, da es möglich
sei, daß die Beziehungen Spaniens zu diesem Lande bald völlig ihren Charak¬
ter verändern würden. Daß er in vollem Gegensatze zu dieser Sprache bald
darauf versicherte, er erwarte nur von Frankreich die Befestigung des Thrones
der Königin, erklärt Guizot mit Recht für einen bloßen Versuch, die französische
Regierung zu begütigen. Dem beabsichtigten Abschluß eines Handelsvertrages
all England beugte Frankreich durch die Erklärung vor, daß es die Rechte der
meist begünstigten Raton ur Anspruch nehme und einen Vertrag, von dem
Frankreich ausgeschlossen würde, als einen Angriff auf die Quadrupelallicmce
ansehe. Natürlich aber mußte dieser Zwischenfall dazu beitragen, das Verhält¬
niß Spaniens zu England noch inniger zu gestalten.
Während Palmersion. so lange Martinez de la Rosa am Ruder war, jeder
Intervention widerstrebt hatte, änderte er jetzt sein System vollständig. Am
14. März 1836 theilt er dem französischen Gesandten in London, General Seba-
stiani, mit, daß den englischen Kriegsschiffen der Befehl werde ertheilt werden,
eine gewisse Anzahl Marinesoldaten und Matrosen ans Land zu setzen, um die
von den Carlisten bedrohten Plätze zu schützen und die von ihnen besetzten
wiederzunehmen. Zugleich lud er Frankreich ein. das Bastanthal und den Hafen
von Funke-Rabia zu besetzen, ohne übrigens der Mitwirkung Frankreichs bestimmte
Grenzen setzen zu wollen.
So sah sich das Ministerium Thiers zu Anfang seiner Laufbahn in die
Nothwendigkeit einer wichtigen und folgenschweren Entscheidung versetzt; kaum
im Besitze der Macht trat es in eine Krisis ein, die während seiner ganzen
Existenz fortdauerte und'endlich seinen Sturz herbeiführte. Thiers kriegerischen
Neigungen kam die Aufforderung nicht unerwünscht. Auch konnte er für seine
Ansicht anführen, daß ohne fremde Hülfe die Befestigung des Thrones der
Königin sich kaum noch hoffen lasse. Die Rufe nach der Constitution von
1812 wiederholten sich und führten bereits zu blutigen Excessen. Mendizabal,
schnell abgenutzt, machte dem besonnenen Jsturiz Platz, der aber viel zu schwach
war, um die brausende Bewegung in Schranken zu halten. Aufstände in
Madrid, bei denen auch die Nationalgarde betheiligt war, wurden nur durch
die eiserne Willenskraft des von Guizot nach Gesandtschastsberichten trefflich
geschilderten Generals Quesada unterdrückt. Unter diesen Umständen gab der
König so viel nach, daß er Lieferungen von Waffen und Munition gestattete
und es genehmigte, daß die schon früher der spanischen Regierung zur Dispo¬
sition geflekte algierische Fremdenlegion durch eine im Namen Spaniens von
spanischen Agenten in Frankreich zu veranstaltende Rekrutirung von 2500 auf
6000 Mann verstärkt würde. Bald aber gab es neue Streitigkeiten, indem der
König sich beklagte, daß in der Ausführung dieser Maßregeln die von ihm
gesetzten Schranken überschritten würden. Uebrigens war diese ganze Unter¬
stützung durch indirecte Mittel ein großer politischer Fehler. Sie verrieth die
geheimen Wünsche der französischen Regierung und machte Englands Argwohn
rege, ohne ihm zu imponiren. Spanien leistete man einen ziemlich werthlosen
Dienst, und erweckte doch in den Spaniern Hoffnungen, deren Nichterfüllung
Frankreichs Ansehen verminderte und in gleichem Maße das Englands erhöhte.
Indessen gingen die Dinge in Spanien ihren verhängnißvollen Gang
weiter. Als endlich, der Militarausstand von Ildefonso und die blutigen Aus¬
tritte von Madrid, als deren Opfer der tapfere Quesada siel, die Regentin zur
Anerkennung der Constitution von 1812 gezwungen hatten, war einerseits die
Dringlichkeit eines Einschreitens immer augenscheinlicher geworden, andererseits
mußten sich aber auch die Bedenken gegen ein solches steigern. Wem sollte
man zu Hülfe kommen? Einer Partei, die ihre Abneigung und ihren Trotz gegen
Frankreich offen zur Schau trug, die nach allen Berichten ganz besonders durch
die Machinationen Mendizabals, des ergebenen Clienten Englands, emporge¬
kommen war? Konnte man selbst nur darauf rechnen, daß Christine sich als
Regentin halten würde? Diese Erwägungen bestimmten den König, Frankreich
in keiner Weise in die spanischen Wirren zu verwickeln. Er befahl, die in der
Nähe der Pyrenäen aufgestellten Observationscorps aufzulösen. In Folge dieses
Beschlusses gab das Ministerium Thiers seine Entlassung. Frankreich aber gab
die unmittelbare Betheiligung an den spanischen Angelegenheiten auf, um spä¬
ter auf dem Wege einer höchst zweideutigen dynastischen Familienintrigue
darauf zurückzukommen und um eines sehr zweifelhaften Vortheils willen die
lange Zeit, trotz aller Spannung, ängstlich gepflegten Beziehungen zu England
Im vorhergehenden Abschnitt ist erwähnt, daß die Zöglinge des Germa-
nicums im Collegium Romanum Vorlesungen hörten. Dieses großartige Ge.
baute enthält die Wohnungen von mehreren hundert Jesuiten, eine große
Bibliothek, chemische und physikalische Laboratorien, eine Sternwarte, eine gute
Apotheke, Räumlichkeiten für ein. von einigen hundert Schülern besuchtes
Gymnasium, Hörsäle für Philosophie und Theologie, die Aula maxima, Ka¬
pellen und ist mit einer großen, im Rokokostyl aufgeschmückten Kirche verbun¬
den, unter deren Altar der heilige Aloysius von Gonzaga, der Schutzpatron
der Studirenden. ruht. Das Lehrerpersonal besteht nur aus Jesuiten. Die
philosophischen und theologischen Vorlesungen werden von den „Scholastikern",
d, h. den studirenden Jesuiten, und den Zöglingen verschiedener Collegien, z. B.
des Collegiums der Adeligen, des englischen, schottischen und irischen Collegiums
besucht.
Mit halb niedergeschlagenen Augen zogen die Germaniker schweigend in
die Säle und nahmen die Ehrenplätze ein. Links und rechts an den Wänden
liefen Subsellien hin, deren Bänke in gleicher Höhe mit dem Katheder standen.
Die Adeligen und die Germaniker setzten sich zur Rechten, die Jcsuitenschvlastikev
zur Linken des Professors auf diese Bänke, die Uebrigen suchten sich Hunt durch¬
einander im Parterre Platz.
Die Philosophie wurde als piaeaindulum KM, als Bvrbercitungs-
wissenschaft für die Theologie betrachtet und behandelt, und das Studium der¬
selben sollte zwei Jahre füllen. Im ersten Jahre las früh und Nachmittags
ein und derselbe Professor nach einem in den Händen der Zuhörer befindlichen
gedruckten, von dem Jesuiten Dmowsty verfaßten Leitfaden in lateinischer
Sprache über formale Logik und Metaphysik. Die ersten Wochen gingen mit
der Lehre von den Begriffen, Urtheilen und Schlüssen hin, und man lernte die
bekannten Hexameter über die verschiedenen Schlußformen auswendig. Das
Latein, welches gesprochen wurde, war in der Regel Küchenlatein, eingezwängt
in die syllogistische Form und überladen mit Kunstausdrücken, die Art des Vor-
trags die dogmatische oder synthetische. Es wurden Thesen aufgestellt und,
so gut es ging, durch Syllogismen erwiese», dann wurden die etwaigen Ein¬
würfe vorgebracht und zu widerlegen versucht. Daß es der Professor nicht
an Jnvcctivcn > „eontrsr (?<zrmg,nig,ö Mwsopdos, mxrimis liantium", sowie
gegen Lamennais, Malebranche, Hume, Rousseau u. a. fehlen ließ, wird nicht
Wunder nehmen.
Zum ersten Theil der Philosophie gehörten auch noch Psychologie und Kos¬
mologie, doch nahmen die formale Logik und Metaphysik den Professor dermaßen
in Anspruch, daß er für jene Disciplinen leine Zeit übrig behielt und es den
Schülern überlassen mußte, sich im Leitfaden darüber zu belehren. Dagegen
trug im ersten Jahre ein anderer Professor die Elementarmathematik nach einem
vom Pater Caraffa herausgegebenen Compendium vor.
Im zweiten Jahre des philosophischen Kursus hörte man Ethik und außer- °
dem Chemie und Physik. Im chemischen Laboratorium, wo die Unterrichts¬
sprache italienisch war, wurden viele Experimente und praktische Uebungen an¬
gestellt. Eine Anzahl von Auserwählten mußte noch einen dritten Cursus der
Philosophie durchmachen, in welchem alles bisher Erwähnte repetirt und zu¬
gleich etwas Astronomie getrieben wurde. Die Mitglieder dieses Cursus, un¬
ter die man nur solche aufnahm, die bei den Prüfungen der vorhergehenden
beiden Jahre mindestens die zweite Censur erhalten hatten, waren für die
Doctorwürde bestimmt.
Der vollständige Cursus in der Theologie umfaßte einen Zeitraum von
vier Jahren. Im ersten Jahre hörte man Dogmatik und Moral, von denen
erstere für alle Theologen ZmaugScollegium war und täglich zwei Stunden vor¬
getragen wurde. Früh las sie der in der römischen Welt vielgenannte Pater
Perrone, Verfasser einer mehrbändigen Dogmatik, Nachmittags trug sie Pater
Passaglia vor, der zu den Vertrauten des heiligen Vaters gekörte, jeht aber
bekanntlich aus dem Lager der Jesuiten und der Päpstlichgesinnten überhaupt
in das der italienischen Patrioten übergegangen und einer der heftigsten Gegner
der weltlichen Macht des Papstes geworden ist. Der erste Theil der Dogma-
tik, welche den Kern der gesammten jesuitischen Theologie umfaßte, enthielt
nach einer einleitenden Abhandlung über die wahre Religion die Tractate:
über Gott und seine Eigenschaften, über die allerheiligste Dreieinigkeit, über
Gott den Schöpfer, über die Fleischwerdung, die Verehrung der Heiligen und
die Gnade. Der zweite behandelte in verschiedenen Capiteln die Sacramente.
Dann folgte ein tractatus cle locis tlieologieis, der sich mit der Kirche Christi,
dem römischen Papst, der heiligen Schrift und der Tradition beschäftigte. Den
Schluß bildete eine Abhandlung as an^IoZiÄ lÄtionis se napi.
Der Vortrag bewegte sich durchweg in synthetischen und syllogistischen
Formen. Nach einigen einleitenden Worten folgte das Thema in verschiedenen
Propositionen, welche aus der Schrift, der Tradition, den Werken der Kirchen¬
väter, den Beschlüssen der Kirchenversammlungen u. a. bewiesen wurden.
Nach der Begründung brachte der Professor die Einwände und cui'tieultatss vor,
die in der Form von Syllogismen aufgestellt und in gleicher Weise widerlegt
wurden.
Pater Perrone war ein grimmer Gegner der protestantischen, besonders
der deutschen. Theologie, als welcher er mit gleicher Heftigkeit die rationalistische
wie die orthodoxe Richtung in der evangelischen Kirche zu geißeln Pflegte.
Nicht selten verfiel er dabei ins Komische. Kam er auf De Wette," die Tübin¬
ger Schule oder gar auf Strauß und dessen Anhänger zu sprechen, so rieb er
die eine Hand auf der andern, wie wenn er harte Stoffe in einem Mörser zer¬
kleinern wollte, und schlug dann beim Schluß der Argumentation so heftig auf
die geballte Linke, daß es laut durch den Saal schallte. „Le, gu sie vobis!
Huvs <ZM!« Die Orthodoxen, die er Pietisten nannte, verspottete er noch mehr
als die Rationalisten- „mit ihnen sei gar nichts anzufangen; kaum habe man
ihnen den unumstößlichsten Beweis von der Wahrheit der römisch-katholischen
Kirche beigebracht, flugs krochen sie in verstellter Demuth in sich selbst zusam¬
men und faselten vom heiligen Geiste."
Einst war ihm ein englisches BlKtt zu Gesicht gekommen, in welchem sich ein
Missionär über die Verfolgungen beklagte, die er von Seiten seiner römischen
College» zu erdulden gehabt. Perrone theilte, je nach Erforderniß die kläg-
liebste Stimme annehmend, seinen Schülern das Schreiben mit, natürlich la¬
teinisch: „vodsmus tot erueos, tot vsxÄtionok; g.d i^tin .-ZÄesräotidus."
— „<Zniä!" schrie er dazwischen. „Vos vt eruev»? Vos qui g-ddorretis s.
erues ins-Zi« tuam äiadolus ixsv? — Le in natos Gitters, um soripsit i«te
erucikör: et Köuuit nun' uxor g.1toi um ullum. ^.irZc^neur re;Anus! De su
umous truetus omnium ladoium, omnium vex^tionum timtÄSMiz cruel8:
novus ists ullus!"
Die Grundprincipien der Ethik waren schon im philosophischen Kursus vor¬
getragen; jetzt galt es hauptsächlich >der Anwendung derselben auf die verschie¬
denen in der Praxis vorkommenden Fälle, wie sie dem Priester später zur
Entscheidung (in der Beichte) vorgelegt werden konnten. Nach kurzer Auf¬
stellung der Thesen, etwa in der Reihenfolge der zehn Gebote, kamen dann die
Entscheidungen über die Fälle L u. s. w., wobei die Lehre vom Probabilis-
mus eine wichtige Rolle spielte. Nach dieser Lehre ist es dem Priester erlaubt,
seine Entscheidung nach einer von approbirten .Kirchenlehrern vorgetragnen
Sentenz zu treffen, wenn ihm dies nur prodadilis dünkt, obgleich eine andere
Entscheidung aus sittlichen Gründen vrolzMIior sein konnte.
Zwei Beispiele werden diese eigenthümliche Sorte von Moral verdeut¬
lichen.
^ schmuggelt für seinen Bedarf ein unerhebliches Quantum Waare über
die Grenze. Frage: ist er vom Beichtvater anzuhalten, den der Steuerkasse
zugefügten Schaden zu ersetzen? Antwort: LöiitentiÄ probabilioiJa, denn
sein Gewissen verlangt, daß er sich den Landesgesetzen füge, und die Schrift
sagt: Gebet Schoß dem Schoß gebührt. L«ut<mein> probadilis (für welche der
Beichtvater sich also auch entscheiden kann): Nein, denn obschon sündigte,
komm er die Steuerbeamten betrügen oder etwa gar bestechen sollte, so ist doch
ein solches Einschmuggeln selbst nicht als ein zum Ersatz verpflichtender Betrug
der Steuerkasse anzusehen; denn es läßt sich nicht denken, jemand, der ohne er¬
tappt zu werden, eine Kleinigkeit einschmuggelt, sei hinterher gesetzlich verpflichtet,
den der Zollkasse verursachten Schaden zu ersetzen. Ludizuaeiitui: Aber wenn
aus dem schmuggeln ein Geschäft macht? Antwort: Lcmtentig, xiodÄbilis-
Kimir et prods-dilior: Er ist von dem Beichtvater, soweit er sich dadurch be¬
reichert bat, zum Ersatz zu verpflichten, aber nicht etwa noch zu der besondern
Geldstrafe, die das Gesetz meist außer dem Schadenersatz noch fordert. Lententjg,
xrodadilis: er muß von seinem Beichtvater auf das Ordnungswidrige seiner
Handlungsweise aufmerksam gemacht werden, die schon darum sündhaft ist,
weil er eines Gewinnes halber sich und die Seinigen großer Gefahr aussetzt.
Zum Ersatz ist er mit richten anzuhalten, weil derartige Gesetze bloße Straf¬
gesetze sind, die nur in Kraft treten, wenn die zuständige Behörde selbst ein¬
schreitet.
Das andere Beispiel wurde unserm Berichterstatter selbst vorgelegt. Man
setzte ihm den Fall:
gelangt hören M<z, durch einen ihm unbekannten Irrthum in den Be¬
sitz Von hundert Thalern Papiergeld, welche rechtmäßig dem K zukommen, und
verausgabt diese Summe in seinem Geschäfte. IZ entdeckt das- Versehen und
fordert sein Geld zurück. Wozu ist ^ verpflichtet?" Unser Jcsuitcnzögling ant¬
wortete ohne Verzug: „Dem K die hundert Thaler, sobald der Irrthum er¬
wiesen, zurückzuerstatten." „Aber," entgegnete der Professor, „er bat die hun¬
dert Thaler Papiergeld ausgegeben und ist also nicht mehr im Besitz des dem
L gehörenden Gutes. Der Grundsatz: rss ela,eng,t äominum kann also hier
keine Anwendung finden, wie es der Fall sein würde, wenn ^. dieselben Geld¬
scheine noch in seinem Besitz hätte." Unser junger Mann erwiderte: „Bei Geld
ist es nicht das Werthzeichen, sondern der Werth, der in Betracht kommt. Hat
^. nicht mehr dasselbe Papiergeld, so hat er dafür andere Deckung erlangt, und
diese ist bis zum Werthe von hundert Thalern Eigenthum des L, mithin der
Grundsatz: rs» e.ig.und elomimiru allerdings anwendbar und ^ ersatzpflichtig."
„Ninims, nimme!" rief der Professor zu aller Erstaunen. ist darum
nicht zu verpflichten. Wundern Sie sich nicht, meine Herren,", fuhr er dann
weise lächelnd fort, „wir müssen die Entscheidung nach feststehenden Grundsätzen
treffen. ^. ist zur Restitution nicht verpflichtet, weil die hundert Thaler nicht
mehr in seinem Besitz sind. Aber wir haben ja noch einen andern maßgeben¬
den Grundsatz: ächte i'L<l<l<zi'C IZ, in <zus.ut.um ks.et,u8 sse elitior, qua, cum
coMito srrors eos^ki-t bona, tulös; s,t<mi ks.et.uiz «se ckitior procul cludio 100
tlisleris, <zrM äsdet i-cMsrö 100 tlmlei'OK in <ma,Iibet moneta vel ej»^
valor-e L/'
Solche Spitzfindigkeiten machten vielen von den Zöglingen großes Ver¬
gnügen. Wie viel sie mit einer gesunden Moral zu thun haben, welchen Werth
sie einem rechtschaffnen Gewissen gegenüber beanspruchen, brauchen wir nicht
auseinanderzusetzen.
Von Exegese, Hermeneutik, biblischer Linguistik u. tgi. war unter diesen
mpdernen ^Scholastikern nicht viel mehr die Rede als unter den mittelalterlichen,
und Kirchengeschichte bekamen die Theologen des Eollegium Romanum nur ein¬
mal wöchentlich zu hören. Allerdings hatten alle ein lateinisches Neues Testa¬
ment, auch befand sich in der Bibliothek eine lateinische, eine griechische und
eine hebräische, ja selbst eine deutsche Bibel (Uebersetzung Alliolis); allein ein¬
mal war die Zeit mit andern Studien zu sehr ausgefüllt, und dann mußten
junge Leute, die von Kind auf der Bibel ferne gestanden, zu gering von der
Nothwendigkeit der Bibelkenntniß denken, als daß sie ohne starken Antrieb von
außen sich viel mit ihr beschäftigt hätten. Die Exegese einzelner Abschnitte
der heiligen Schrift und die hebräische Sprache wurden erst im dritten Jahr
des theologischen Cursus in wöchentlich zwei Stunden vorgenommen, und zwar
nur während dieses einen Jahres.
In der Philosophie und Theologie fanden jede Woche — meist Sonnabends
— öffentliche Uebungen der Zöglinge statt. Ein dazu gewählter Schüler wie¬
derholte dabei von einem der Lehrkanzel gegenüber angebrachten Sitze aus die'
Grundzüge des Vertrags, den der Professor im Lauf der Woche gehalten, und
letzterer griff, wo es nöthig, ergänzend und verbessernd ein. Dem Vortragen¬
den oder Defensor waren zwei Opponenten gegenübergestellt, welche am Schluß
ihre Argumente vorbrachten.
Ernsterer Natur war die monatliche Disputation, mer^ti'ug, genannt, an
welcher der Rector und die Professoren des Kollegiums sowie bisweilen fremde
Geistliche teilnahmen. Nur die tüchtigsten Schüler wurden dazu auserlesen,
und nicht selten geschah es, daß einer der zuhörenden Professoren die Partei
der Opponenten ergriff und in scharfen Streit mit dem College» gerieth, welcher
dem Defensor zur Seite stand. Bisweilen begab sichs sogar, daß die Heftig¬
keit der Parteien den Rector zum Einschreiten nöthigte. „Ich entsinne mich,"
erzählt unser Berichterstatter, „daß einmal ein älterer Professor (es war der
Pater Van Evernvroek) dem genialen und in kühnen Behauptungen extravagi-
renden Passaglia entgegen, über dessen roof.e, ot MÄuclitg.« söntentias ereifert,
erstlich seine rothe Perrücke lüftete, und als Passaglia ihm nicht weichen wollte,
sein Baret ergriff und in großer Aufregung den Hörsaal verließ." An einer
andern Stelle berichtet unsere Schrift, daß Passaglia über den Zorn des Herrn
Kollegen gelacht und daß dies ihm übel bekommen. Es wurde ihm nämlich
„vom Rector zur Uebung in der Demuth aufgegeben, sich quer vor den Ein¬
gang des Refectoriums auf den Boden zu legen, so daß alle, die zum Mittags-
essen kamen, über ihn hinwegschreiten mußten." — „Wörtlich wahr!" bemerkt
unser Erzähler. Und ein anmuthiges Seitenstück zu der Strafe Uriel Acosta's
in der Judcnschule, erlauben wir uns hinzuzufügen.
Halbjährlich wurden von den Professoren Examina, die mehrere Wochen
dauerten und bei denen sehr streng verfahren wurde. angestellt, und am Ende
des Schuljahres veranstalteten die Studirenden der Philosophie in der Aula
maxima einen Actus publicus, bei welchem zunächst ein oder zwei Jesuitcnscho-
lastiker schön stylisirte lateinische Reden hielten und dann andere Zöglinge folg¬
ten, die durch Vertheidigung von Thesen gegen Angriffe, welche man ihnen
vorher notificirt hatte, sich um den philosophischen Doctorgrad bewarben. In
ungleich höherem Ansehen stand die theologische Doctorpromotion. zu welcher
nur solche Schüler der Jesuiten gelassen wurden, welche sich durch außerordent'
liebes Talent auszeichneten, und von denen man überzeugt war, daß sie sich in
jeder Beziehung bewähren würden.
Die Jesuiten lieben es, daß die Anfänger ihre Studien unter steter An-
teilung und nach sokratischer Methode im Zwiegespräch betreiben, weshalb sie unter
ihren Schülern allerlei Akademien, Repctitoricn und Disputatorien errichteten, in
welchen täglich wiederholt, was man in den Schulen gehört,,und jeder Zweifel, den
man hegte, besprochen und gelöst wurde. Vielerlei Lücher zu studiren galt für
nicht rathsam; am liebsten sahen es die Leiter der Anstalt, wenn die Zöglinge
sich mit ihrem Handbuch und den in den Vorlesungen gemachten Notizen begnüg¬
ten. Dies galt namentlich von den Philosophen, die übrigens bei der kärg¬
lichen Ausstattung der für ihre Kammer oder Classe bestimmten Bibliothek,
welche außer einigen Werken von de Maistre und Thomas von Aquino nur
noch ein Dutzend alter Scholastiker enthielt, keine Gelegenheit hatten, viel Bücher
zu lesen. Weder deutsche noch italienische Classiker waren vorhand.en, die Werke
der vaterländischen Dichter blieben den jungen Leuten verschlossen, von Zei¬
tungen wurden die Augsburger Postzeitung, die historisch-politischen Blätter und
das Münstersche Sonntagsblatt während der Recrcationszeit bisweilen in einem
Exemplar herumgegeben. Wer lesen wollte, mußte warten, bis es ihm gelang,
sich der Zeitung zu bemächtigen. Die in den Akademien vorkommende Lectüre
hatte stets .eine religiöse Färbung und enthielt oft erstaunliche Abgeschmackt¬
heiten. In erster Reibe standen die Lebensgeschichten jesuitischer Heiligen. Be¬
sonders viel Wunderliches gab es in der des heiligen Franz von Borgia, des
dritten Generals des Ordens.
Der fromme Mann hatte stark von Teufeln zu leiden, die es verdroß, daß
er, der früher ein arges Weltkind gewesen, sich jetzt so eifrig der Gottseligkeit
befleißigte. Bis zu seiner Bekehrung, welche erfolgte, als er den Leichnam einer
schönen Dame beim Uebergang über die spanische Grenze recognosciren mußte
und im Greuel der Verwesung erblickte, hatte Franz ein schwelgerisches Leben geführt.
Jetzt aber fastete er so stark, daß die Haut über seinem Leibe dreimal zusammen¬
fallen mußte, was äußerst schmerzhaft war. Eines Abends nun, als der Got¬
tesmann, abgemattet von den Anstrengungen und Peinigungen, die er sich den
Tag über auferlegt, zur iliuhe gehen wollte, sah er einen Teufel in seinem Bette
liegen. „Du verdienst," sprach der Heilige zum Teufel, der ihn angrinste,
„mehr wie ich im Bette zu liegen; denn du hast Gott beleidigt, ehe er für
dich gestorben war, ich aber habe ihn verleugnet, lange nachdem er für mich
gekreuzigt worden." " Damit schickte sich Franz an, unter die Bettstelle zu krie¬
chen und hier seine Nachtruhe zu halten. Der Teufel aber, der gehofft hatte,
den Heiligen zum Zorn zu reizen, ärgerte sich über das Mißlingen seines Vor¬
habens um so mehr, als er selbst die Veranlassung zu diesem großen Act der
Demuth bei jenem gegeben hatte. Wüthend sprang er auf, der bekannte Kraft
erschallte durchs Zimmer, und Satanas verschwand mit Hinterlassung des obli¬
gaten üblen Geruchs. Der Heilige aber nahm jetzt ruhig in seinem Bette
Platz und schlief sanft ein.
Diese Geschichte flößte unserm Verfasser die ernste Furcht ein, der Teufel
möchte auch ihm einmal einen solchen Streich spielen. „Mit ängstlicher Sorg¬
falt," so erzählt er, „hol? ich wochenlang beim Schlafengehen die Bettdecke auf,
aus Furcht der Teufel möchte darunter liegen, und nicht eher stieg ich ins Bett,
als bis ich mich gründlich überzeugt hatte, daß der Böse auch nicht unter der
Bettstelle stecke. Bei dieser Untersuchung bewaffnete ich mich für den Fall der
Noth mit dem geweihten Palmzweig, den ich zuvor ins Weihwasser tauchte.
Ich besprengte schließlich das Bett kreuzweis und wagte erst dann zur Ruhe
zu gehen."
Durchschnittlich blieben den Zöglingen des Germanicums zum Privatstu¬
dium auf ihren Zellen täglich zwei Stunden, die übrige Zeit war mit RePeti¬
tionen und dem Besuch der Akademie der italienischen, französischen oder grie¬
chischen Sprache besetzt. Die gemeinschaftlichen Gesangsübungen, die unter Lei¬
tung eines musikalisch gebildeten Zöglings angestellt wurden, erstreckten sich nur
auf kirchliche Lieder. Doch bestand auch ein Singkränzchen, welches sich in allerlei
Gesängen versuchte, aber mit seinen Eiuübungen und Vorträgen fast nur auf
die Donnerstage beschränkt war, wo die Zöglinge die Villa San Saba besuch¬
ten. In der Liturgik wurden die jungen Leute von dein waULtvr cer«mouia-
rum eingeschult. Erst nach langen Uebungen und nach Empfang der Tonsur
und der vier niedern Weihen gestattete man denselben, die Dienste in der Kirche
bei der öffentlichen Meßfeier und Vesper zu verrichten. Der Ceremonienmeister
paßte dabei scharf auf, ob die Verbeugungen, das Riedertnicn und so weiter
nach Vorschrift executire wurden, und rügte Verstöße durch Verhängung von
Zrrafexercitien. So kam es. daß diese Dinge von den Germanikern schließlich
mit einer Accuratesse ausgeführt wurden, welche selbst bei den Ceremvnienmeistern
von Cardinälen, die gelcgentUch erschtenen, Bewunderung erregte. /
Endlich wurde auch das Predigen geübt. Alle Sonn- und Festtage mußte einer
der Theologen in der Aula des Hauses vom Katheder herab vor dem versam¬
melten Collegium eine selbstverfertigte deutsche Predigt halten, die nachher vom
Rector oder einem der Studirenden kritisirt wurde. Die Philosophen trugen
darauf ein auswendig gelerntes Stück irgend einer gedruckten Predigt vor, da
es bei thnen zunächst darauf ankam, sich den äußern Anstand eines Kanzelredners
anzueignen. Alle Sonntage erhielt .einer der Theologen eure halbe Stunde vor
dem Mittagsessen einen vom Pater Rector ausgewählten Bibeltext, über den
er im Speisesaal extemporiren mußte, während die Uebrigen aßen.
Das Leben im Collegium Gcrmanicum war ein sehr ernstes. Mit Aus¬
nahme der Recreationsstunden nach Tische, in denen es auch noch sehr gemessen
herging, herrschte im Hause selbst tiefes Schweigen. Die Obern hatten eine
eigenthümliche Einrichtung getroffen, um sich fortwährend in genauer Kenntniß ,
der Stimmung jedes Einzelnen zu erhalten. Jeder Zögling des Hauses nämlich
mußte sich während der Zeit des Noviziats alle vierzehn Tage und später alle
Monate bei dem Pater Spiritualis einfinden. um^sich mit demselben über sein
geistiges Befinden, seine verschiedenen Herzensregungen, Wünsche und innern
Erfahrungen zu unterhalten. Dieser Besuch war streng obligatorisch, und man
mußte selbst dann zu dem Pater gehen, wenn man nichts zu sagen wußte. Nur
die Theologen des letzten Studienjahres waren der oft peinlichen Verpflichtung
entledigt. Unserm Berichterstatter war dieselbe schon wegen der unholden Per¬
sönlichkeit des Pater Spiritualis sehr zuwider.
„Dieser war," so erzählt das Buch, „ehedem baierischer Landpfarrer ge¬
wesen. Seine äußere Erscheinung war nicht angenehm, sondern unbeholfen,
ernst und finster. Da ich übrigens geneigt war, mich in alles mit möglichst
gutem Humor zu schicken, so suchte ich in jugendlichem Leichtsinn und Ueber¬
muth jene Besuche mir selbst so gut es ging erträglich, dem mürrischen Pater
aber, der auch mich umgekehrt nicht recht leiden mochte, möglichst beschwerlich zu
machen. Ich trat bei ihm ein und lüftete mein Baret mit dem Gruße: „I^au-
äötur ^<zsus Lo'istus!" worauf er das gebräuchliche: „uuirc se «empor, ^mon!"
erwiderte und mich einlud, Platz zu nehmen. Nun saßen wir einander gegenüber
und sahen uns an, ohne ein Wort zu sagen. Er litt sehr an Engbrüstigkeit
und unterbrach die wohl eine Minute anhaltende Stille nur durch das Geräusch
seines Athems. Endlich entschloß er sich, zuerst das Wort zu ergreifen. Seine
Anreden waren anfangs noch ziemlich gelassen; indessen verlor er, als er meine
Hartnäckigkeit wahrnahm, in spätern Monaten oft die Geduld. „Nun, wie
geht es denn?" — „Ich danke, recht gut, hochwürdiger Vater; erlauben Sie
mir zu fragen, wie Sie sich befinden?" — „Liebster, Sie sind hier, um sich
mit mir über Ihren innern Zustand zu berathen. Mein Befinden kommt jetzt
nicht in Betracht." — „Entschuldigen Sie gütigst. Ich bitte." — „Nun denn,
haben Sie mir nichts zu sagen?" — „Nein, hochwürdiger Vater." — „Sind
Sie zufrieden?" — „Ja wohl, vollkommen." — „Mit allen unsern Einrich¬
tungen, mit Ihren Mitschülern, Ihren Lehrern?" — „Es ist alles zu meiner
völligen Zufriedenheit." — „Sind Sie denn auch mit sich selbst zufrieden?" —
„Ich leide nur zu oft an Kopfweh,,und das macht mich wohl zuweilen unzu¬
frieden; ich glaube aber, daß der Wein zu Mittag schuld ist, und werde fortan
viel Wasser zugießen." — „Das ist sehr zu rathen, Liebster. Ihr Gesundheits¬
zustand flößt indessen, wie mir scheint, keine Besorgniß ein; aver wie ist es
mit Ihrem Innern bestellt? Sind Sie in dieser Beziehung, um deren willen
ich frage, mit sich zufrieden?" — „Ich sprach darüber mit Pater De Villefort,
dem ich zu beichten Pflege." — „Wie steht es denn mit der geistlichen Lectüre?"
— „Ich lese den Alfons Rodriquez." — „Befolgen Sie auch die Hausordnung
pünktlich? Ich habe einzelne Klagen von dem Präfecten gehört." — „Die
Ordnung ist mir heilig, leider verschlafe ich dann und wann die Zeit" u. f. w.
— „Nun können Sie gehen, Liebster.« — „Ich bin Ihnen dankbar, hochwür¬
diger Vater und empfehle mich in Ihr Gebet. I^uäkUir ^ösus Llirisws!" —
„^fumo et semper. ^men!"
Die Uebungen in der Demuth, von denen wir oben den berühmten Pa¬
ter Passaglia ein Beispiel geben sahen, waren auch in dem Kollegium Germa-
nicum nicht ungewöhnlich, ja sie wurden selbst von solchen stillschweigend
gefordert, die sich durch nichts den Lorwurf des Hochmuths zugezogen
hatten,
„Wir saßen einst ruhig bei Tisch," berichtet unser Erzähler, „als sich einer
der Zöglinge erhob, in der Mitte des Speisesaals niederkniete, mit gefalteten
Händen das allgemeine Sündcnbekenntniß sprach und dann auf allen Bieren
unter die Tische kroch, um seinen Commilitonen und dein Pater die Füße zu
küssen. Die Sache war um so auffallender, als dieser Büßer ein Zögling war.
der fromm und harmlos, aber kränklich und mit sich unzufrieden, nie genug
thun zu können glaubte, während wir ihm das Zeugniß geben mußten, daß
er an Gefälligkeit und Aufopferung uns alle übertraf. Diese Bußübung kehrte
von Zeit zu Zeit wieder. Bald nahm dieser, bald jener sie vor, einmal alle
Jahre auch unsre Obern selbst. Ich hatte mich aus mancherlei Gründen —
unter andern auch, weil viele von uns auf reinliche Schuhe zu wenig gaben,
von dieser Handlung lange Zeit fern gehalten." „Alle mit mir angelangten
Novizen hatten bereits den Fußkuß vollzogen, selbst der sonst recht nüchtern
denkende lange Georg, welcher sich zur allgemeinen Heiterkeit dabei oft an den
Kopf stieß. Endlich sollte auch mir die verhängnißvolle Stunde schlagen. Der
Pater Spiritualis ließ nicht nach, bei jenen Unterredungen, deren ich vorhin ge¬
dacht, jedesmal zu fragen, warum ich allein mich noch der Bußübung enthalte.
Allen meinen Gründen stellte er das Bedenken entgegen, ob nicht Hochmuth
und Eitelkeit in mir wären." „Sie behaupten, es sei gar keine schwierige Sache;
ich behaupte, für Sie ist dieselbe noch sehr schwer" u. s. w. Da ich mich von
Hochmuth und Stolz nicht frei wußte, ängstigte ich mich doch dann und wann
über meine Unterlassungssünde. Endlich berieth ich mich wiederholt mit mei¬
nem Beichtvater, bis dieser endlich meinte: „um bisn, mon elrer, lÄitös eslN,,
romx>L2 los ekainss 6t la, vno8ö est uns," Ich holte mir nun vom Pater
Spiritualis Erlaubniß zu der Bußübung, was immer nöthig war. Des Pa¬
ters Angesicht bellte sich etwas auf, er ertheilte die Erlaubniß sehr willig.
Das Herz klopfte mir doch etwas. Ich wußte, daß alle erstaunen würden,
mich noch um die elfte Stunde ankommen zu sehen, und ärgerte mich im Stil¬
len, meinem ursprünglichen Vorsatz ungetreu geworden zu sein. Bei Tische
sprang ich mit Hast von meinem Platze auf; obschon ich die Augen meist nieder¬
schlug, musterte ich mir die Gesichter der übrigen doch etwas von der Seite.
Die meisten lächelten, ich that es auch. Die Handlung ging glücklich von
Statten: in meinem rothen Rock kroch ich unter den Tischen umher, küßte die
unreinlichen Schuhe und war des Lorwurfs von Hochmuth überhoben/'
Alle Zöglinge hielten die kirchlich vorgeschriebenen Fasten mit peinlichster
Genauigkeit, viele auch legten sich allerhand Privattasteiungen auf. bearbeiteten
sich mit Geißeln, trugen Cilicien u. d. in. Geißeln gab es verschiedenartige:
die einfachsten bestanden aus Stricken mit kleinen Knoten an den Enden, an¬
dere waren mit Bleikugeln, spitzen Zacken oder Rädchen versehen.^ Einen Bu߬
psalm hersagend, lag man in seiner Zelle auf den Knien und.ljeß sich die
Streiche auf den entblößten Rücken fallen, wobei einige so ernst verfuhren, daß
rothe Striemen sichtbar blieben, häusig auch Blut floß. Die Cilicien sind Ket¬
ten aus hufeisenförmigen, etwa einen Zoll langen Drahtglicdern, deren stumpfe
Zacken nach innen gekehrt sind. Man gürtet sie um den bloßen Leib, und die
Zacken lassen oft blutige Spuren zurück, selbst dann, wenn die Kette nur schlaff
am Leibe hängt. Einige Zöglinge, welche mit diesem Instrument die böse
Lust dämpfen zu können glaubten, peinigten sich entsetzlich und legten die Kette
auch zur Nachtzeit an, wodurch der Schlaf häusig unterbrochen wurde. Ein
Gegenstück zu diesen Eifervollen erzählt unser Jesuitenzögling im Nach¬
stehenden:
„Ein Baier, der erst kurze Zeit im Collegium war und auf mich immer
den Eindruck eines Duckmäusers machte, trug zur Bekämpfung seines Fleisches
das Cilicium. Wiewohl er sich im Ganzen sehr verschlossen zeigte, erhielt ich
doch einmal von ihm Mittheilung darüber. Er behauptete, wenig oder gar
keinen Schmerz zu empfinden, obschon er die Kette so scharf angezogen habe,
daß sie bei mir im gleichen Fall tief ins Fleisch gedrungen sein würde, und er
war nicht magerer als ich, Er wollte nur dünne röthliche Streifen davon ge¬
tragen haben, so daß ich glaubte, die Haut dieses jungen Mannes müßte wie
die des hörnernen Siegfried beschaffen sein. Einige Wochen daraus beklagte sich
der Vorsteher der Wäschkammer, daß die Hemden desselben Zöglings in der
Hüftcngegend immer eine Menge kleiner Löcher zeigten. Das Räthsel wurde
bald gelöst: der schlaue Baier hatte bei seiner Bußübung die Stacheln des
Ciliciums in gutem Glauben nach außen gekehrt."
Der Maimonat war im Collegium besonders der Verehrung Mariens ge¬
widmet, und es gab dann allerlei Andachten zu Ehren der Mutter Gottes, die
nach einem von dem Jesuiten Muzzarelli verfaßten Handbüchlein vorgenommen
wurden, aus dem unser Berichterstatter sehr ergötzliche Proben mittheilt. Fer¬
ner bemühten sich die Obern des Kollegiums sehr, eine Fastenandacht einzu¬
führen.
Von den kirchlichen Festen wurde von den Jesuiten natürlich der Tag des
Stifters ihres Ordens, der 31. Juli, besonders feierlich begangen. Dann wurde die
Kirche des Klosters al (?esu mil Gobelins geschmückt, welche Scenen aus dem
Leben des heiligen Ignatius vorstellten. Von dem Gewölbe herab, welches mit
Abbildungen des Himmels, des Fegfeuers und der Hölle bemalt war, bis auf
die Stufen der Altäre waren Kerzen in Figuren von Sonnen, Sternen, Namens¬
zügen und Guirlanden angebracht.
Am Neujahrstag kam der Papst zur Nachmittagsfeier und stimmte das
Tedeum an, dann wurden die Zöglinge mit ihren Lehrern in der Sakristei zum
Fußkuh gelassen. Am Dreikönigsfest feierten die Schüler der Propaganda unter
Vorsitz ihres Protectors, des sprachenkundigen Mezzofanti, die Heiligen des
Tages in einem großen Actus durch Vortrage in allen möglichen Zungen, ein¬
mal in nicht weniger als 52 verschiedenen Idiomen, unter denen sogar das
Chinesische nicht fehlte.
Das höchste Fest der gesammten studirenden Jugend war das ihres Schuh-
heiligen Aloysius von Gonzaga, welches in der Kirche des Collegium Romanum
gefeiert wurde, wo unter einem der Altäre der Leichnam jenes Kirchenliedes
ruht. Mit den Gymnasiasten hielten die Jesuiten vor dem Feste eine vorbe¬
reitende Andacht, die acht volle Tage in Anspruch nahm und bei welcher die
jungen Leute schließlich ihre Anliegen an den Patron ihrer Studien, etwa die
Bitte, ihnen eine Leidenschaft überwinden oder eine Tugend erlangen zu helfen,
schriftlich aufsetzten. Diese Briefe wurden einzeln in gestickte seidene Beutel ein¬
genäht und auf das Grab des heiligen Aloysius gelegt, wo sie bis zum Mor¬
gen des demselben geweihten Tages verblieben. Bis dahin mußte dieser Kennt¬
niß von dem Inhalt genommen hoben, und die Jesuiten entfernten dann die
Beutel, nahmen die Briefe heraus, warfen letztere, wie sie sagten ungelesen,
ins Feuer und gaben die Beutel denen, die sie abforderten, zurück.
Mit einer Kritik der pädagogischen Grundsätze, nach denen wir hier die
Jesuiten Verfahren sehen, brauchen wir uns wohl ebenso wenig zu echauffiren
wie mit einer Prüfung des Werthes dessen, was sie Wissenschaft nennen. Da¬
gegen sei es erlaubt, unserm Berichterstatter noch eine lustige Geschichte nachzu¬
erzählen, die sich unter dem vorigen Papst auf der im ersten Artikel erwähn¬
ten Jesuiten-Villa Macao mit dem General des Ordens und einem andern
Mitglied desselben begab.
„Pater Rillo, ein Pole von Geburt, war von den letzten aus Rußland
vertriebenen Jesuiten als Jüngling mit nach Italien genommen und später
selbst Jesuit geworden. Sein Eifer für die Interessen des Ordens und der
römischen Kirche, seine Rednergabe und seine Sprachkenntnisse bestimmten die
Obern, ihn zum Missionär für den Orient auszubilden. In Malta, am Liba¬
non, in Bulgarien u. s. w. war sein Wirkungskreis, in welchem er Außeror¬
dentliches leistete. Neben einem sehr abgehärteten Körper besaß er einen festen
Charakter. Ost reiste er wichtiger Berathung halber von seinen Missionsstellen
aus nach Rom zurück; denn er besaß die Gunst Gregors des sechszehnten in
hohem Grade. Einst kam er in der Tracht eines Emirs an. Sein voller
Bart hing tief auf die Brust herab, er hatte lebhafte Augen, feine, von der
orientalischen Sonne gebräunte Gesichtszüge und einen schönen Kopf. Der
kostbare Säbel, welchen er trug, war das Geschenk eines Emirs, dessen Tochter
er von einer gefährlichen Krankheit geheilt hatte. In diesem Aufzug erschien
er vor dem Jesuitengeneral Noothaan. Aller Einreden ungeachtet befahl ihm
dieser, sofort den Bari abzuschneiden und sich in gewöhnliche Iesuitentracht zu
kleiden, da er ihn zum Rector der Propaganda in Rom bestimmt habe. Der
Pater mußte gehorchen, meinte aber, eine unpassendere Persönlichkeit habe der
General für diese Stelle nicht ersehen können. Also umgewandelt begab er
sich mit vielem Leidwesen auf seinen neuen Posten. Die Gewohnheiten seines
unregelmäßigen Lebens konnte er nicht aufgeben: rauchen, auf den Dielen
schlafen, spät zu nett gehen und andere derartige Besetzungen der Hausord¬
nung erlaubte er sich nach wie vor, und viele seiner wilden Zöglinge wurden
noch wilder. Der Pater General aber blieb sest.
Einst war die ganze Professvrcnschaft, auch der General und der Rector
der Propaganda, auf der Villa Macao, als Gregor der Sechzehnte ihnen un¬
erwartet einen Besuch abstattete. Der Papst vergnügte sich an Rillo's Erzählungen;
da bat dieser ihn plötzlich, ihm doch für eine Bitttelstunde seine päpstliche Ge¬
walt über den anwesenden Jesuiteugeneral abzutreten. Gregor willigte in den
Scherz. Mit. ernster Miene citirte nun Rillo den Iesuitengeneral vor sich,
hieß ihn niederknieen und hielt ihn, in starken Ausdrücken das unkluge Ber»
fahren vor, einen Mann wie ihn zum Rector bestellt zu haben. Er sei zum
Missionär unter wilden Völkern geschaffen, dagegen zum Amt eines Rectors
infolge seines Temperaments untauglich. Er könne predigen, Strapatzen aus¬
halten, rauchen, reiten, schwimmen, und der Ausübung dessen, sowie seines mit
Sorgfalt gepflegten und unter den Mohammedanern nöthigen Bartes habe
ihn der General beraubt. Dieser möge sein Unrecht wieder gut machen und
Rillo nach dem Libanon zurückschicken. Was einer nicht verstünde, davon müsse
er fern bleiben.
Um dem General letztere Maxime praktisch beizubringen, ließ Rillo ein
Maulthier heranführen und befahl dem General, dasselbe zu besteigen und tüch¬
tig herumzutummeln. Wohl oder übel mußte letzterer gehorchen. Alles lachte,
indem er aufstieg. Als nun aber die dürre, schlottrige Gestalt des Generals auf
dem Maulthier saß, und Rillo dieses mit derben Schlägen zum Laufen antrieb,
so daß der arme Reiter sich vorn und hinten anklammerte und zaghaft um Ein¬
halt rief, bedeutete Gregor den unbarmherzigen Rillo, sein Regiment sei zu
Ende. Der abgestiegene 'General ernannte Rillo gutmüthig wieder zum Missio¬
när. Dieser ließ sich den Bart wachsen, ging in orientalischer Tracht wieder
nach seinem frühern Bestimmungsort und hat, wie bekannt, daselbst nicht wenig
zur Ausbreitung römischen Christenthums beigetragen, sowie er auch, durch
französischen Einfluß unterstützt, die jetzige Bewegung in Bulgarien vorbe¬
reiten half."
In einigen Monaten wird die Gustav-Adolf-Stiftung ihren dreißig¬
sten Geburtstag feiern tonnen. Als kleines Senfkorn gesäet, ist sie auf guten
Boden gefallen und zum stattlichen Baum erwachsen, der jetzt weit über die
deutschen Grenzen hinaus seinen schützenden Schatten wirft und durch seine
Früchte protestantisches Leben nährt.
Schon vor ihrer Begründung im Jahre 1832 wußte man in den Ländern,
wo die evangelische Kirche in compacter Verfassung dasteht und der Befriedigung
ihrer Bedürfnisse gesetzlich versichert ist, daß es zahlreiche Gemeinden von Glau¬
bensgenossen gab, sogar mitten in Deutschland gab. die sich solcher Sicherheit
nicht erfreuten, und die vereinsamt unter Andersgläubigen lebend, Gefahr liefen,
zu verkümmern. Hilfcgesuche derartiger Gemeinden liefen von Zeit zu Zeit bei
den einzelnen protestantischen Fürsten und Kirchenbchörden ein. Reisende Prediger
derselben zogen gelegentlich von Ort zu Ort, um Unterstützung zu erbitten. Man
veranstaltete gelegentlich Collecten für sie. Es gab einige Kassen, aus welchen den
Bedrängten Subventionen zuflössen. Bisweilen auch riefen die Exulantenzüge
einer großen Verfolgung, die von zelotischer Bischöfen oder bigotten weltlichen
Herrschern über einen oder den andern Theil dieser Protestanten in der Diaspora
verhängt worden, das allgemeine Mitleid wach.
Aber erst durch die Stiftung Grvßmanns und Zimmermanns wurde ein
Mittelpunkt für die auf Abhilfe solcher Nothstände gerichteten Bestrebungen
geschaffen und damit ein Organismus gebildet, der dem Bedürfniß ausreichend
gerecht zu werden versprach. Erst durch den Gustav-Adolf-Verein wurde die
Lage der vereinzelten Protestanten allenthalben gründlich bekannt, das Interesse
eines sehr großen Theils der übrigen ernstlich und dauernd geweckt und geregelt
und so den vielfach dem Verzagen nahen Gemüthern draußen, unter den Nicht-
evangelischen, ein Trost und Hort aufgerichtet, auf den sie in ihrem Ringen
um Erhaltung des Glaubens der Väter hoffen konnten, und zu dem sie als zu
einem Panier der Gemeinsamkeit der protestantischen Interessen
aufblickten.
Mancherlei Hindernisse stellten sich der Entwickelung des Vereins entgegen:
laute Anklagen und versteckte Verdächtigungen, ultramontane Feindschaft und
lutherische Engherzigkeit. Stimmen aus dein römischen Lager bezüchtigten ihn
aggressiver Tendenzen gegen die katholische Kirche, während zu heißblutige Pro¬
testanten ihn zu vorsichtig und ängstlich finden wollten. Die Zionswächter-
schaft des bornirten Stockluthcrthums (das beiläufig auch am Ort der Entstehung
des Vereins in bekannter widerlicher Weise die längst erstorbenen und begra¬
benen confessionellen Unterschiede in der evangelischen Weit auszuscharren und
wieder zu beleben bemüht ist) verdrehte die Augen, und rief Anathema, daß die
Stiftung Beiträge aller Protestanten, gleichviel ob lutherisch, reformirt oder
unirt, annehmen, von allen verwaltet werden, allen gleichmäßig zu Gute kommen
sollte. Nicht selten kann man noch jetzt Aeußerungen hören, die dem aus be¬
rühmtem Munde erflossenen Blödsinn verwandt sind, daß das Geld Reformirter
lutherischen, das Geld Lutherischer reformirten Gemeinden nur zum Unsegen
gereichen könne.
Andere Heilige dieser Gattung meinen sich von dem Vereine fernhalten zu
müssen, weil er „in die Gefahr bringe, die eigne Gerechtigkeit zu nähren", was
nur denen verständlich sein wird, die in die Phraseologie der Herren vom weißen
Halstuch eingeweiht sind und wissen, welche Verschrobenheit und was für eine
kleine Seele sich hinter ihr birgt. Endlich ist selbst die Ansicht zu bekämpfen
gewesen, daß es besser sei, die in der Zerstreuung lebenden Evangelischen nicht
zu unterstützen und sie ruhig in die herrschende Kirche aufgehen zu lassen.
Das protestantische Volk im Großen und Ganzen hat sich durch solche
Spitzfindigkeiten, Beschränktheiten und Verkehrtheiten des modernen Pfaffenthums
nicht beirren lassen. Der Verein ebenso wenig. Unbekümmert um alle An¬
feindungen, höchstens schmerzlich berührt von besonders starker und lauter Ver¬
blendung, ist er rüstig auf der durch das ursprüngliche Programm vorgezeich¬
neten Bahn fortgeschritten und. wie die letzten Berichte darthun, von Jahr zu
Jahr besser gediehen. Während er anfangs nur im Königreich Sachsen und
in Schweden wirksamen Anklang bei Volk und Regierung fand, hat er jetzt
beinahe in sämmtlichen zum deutschen Bunde gehörenden Ländern seine Zweig¬
vereine, zählt er mehre deutsche Fürsten zu Gönnern, ist ihm seit dem Um¬
schwung des Jahres 1860 sogar Oestreich bis auf Weiteres geöffnet, wirkt er
gegenwärtig >n ungefähr tausend Zweigvereine gegliedert bis in die Gebiete
an der untern Donau, bis nach Syrien und Algerien, bis in die transatlan¬
tische Welt hinein. Während er früher nur über sehr mäßige Mittel verfügte,
sein Budget noch vor einem Decennium weniger als fünfzigtausend Thaler
umfaßte, unterstützte er in den beiden letzten Verwaltungsjahren die nothleiden¬
den Gemeinden der protestantischen Diaspora mit mehr als dreimalhunderttau-
send Thalern. Viele Hunderte von alten Gemeinden dieser Art, die aus Mangel
an äußern Mitteln am Absterben waren, segnen ihn als Wohlthäter und Ret¬
ter, andere neu entstandene als kräftigen Förderer ihres Gedeihens. Tausende
von Kindern evangelischer Eltern wurden durch ihn der katholischen Schule, in
die sie nothgedrungen gehen mußten, entnommen und so vor den Nachstellungen
der ultramontanen Propaganda bewahrt. Zahlreiche Kirchen und Schulen hat
er hauen helfen, zahlreichen kärglich besoldeten Predigern und Lehrern das Leben
erhellt. Allen von seiner Existenz unterrichteten und gegen ihr Bekenntniß nicht
völlig gleichgültigen Protestanten aber, mit alleiniger Ausnahme der erwähnten
confessionellen Scheidekünstler, war er als eine der besten Schöpfungen des pro¬
testantischen Geistes in diesem Jahrhundert, als eine Schöpfung, der nur die
Union an Bedeutung gleichzustellen ist, schon durch sein stetiges lebensfrisches
Aufblühen eine hohe Freude und ein werther Besitz.
Im Folgenden geben wir nach den Berichten über die beiden letzten Haupt¬
versammlungen des Vereins*) ein Bild des Lebens und der Leistungen desselben
in den letztverflossenen Jahren.
Dann werden wir auf Grund der vier letzten „Fliegenden Blätter", welche
die Stiftung veröffentlichte, sowie nach andern Quellen die Enclaven des Pro¬
testantismus in nichtevangelischen Strichen betrachten und dabei die Aufgaben
des Vereins für die Gegenwart und die nächste Zukunft andeuten.
Die Zeitverhältnisse während des Verwaltungsjahres 1859 bis 1860 hatten
Störungen in der Entwickelung des Vereins befürchten lassen. Der drohende
Krieg, die vielfach beeinträchtigten wirthschaftlichen Interessen schienen ungün¬
stig wirken zu müssen. Dennoch hatte der Berichterstatter der Hauptversamm¬
lung am Schluß jenes Jahres über das Vereinsleben fast nur Günstiges
zu melden.
Allerdings hatte sich einer der Zweigvereine aufgelöst und einer und der
andere in seiner Thätigkeit nachgelassen. Aber dieser geringe Ausfall wurde
durch den Hinzutritt von nicht weniger als 23 neuen Zweigvereinen reichlich
aufgewogen. Hatte man ferner zu beklagen, daß die Beschränktheit der kirch¬
lichen Behörden in Mecklenburg-Schwerin die Thätigkeit des dort bestehenden
Hauptvereins lahm gelegt, so fand sich in dem Umstand, daß im Lause dieses
Jahres zu den frühern 6» Frauenvereinen 13 neue hinzugekommen waren, auch
dafür eine erfreuliche Ausgleichung. Nicht weniger befriedigend endlich mußte
die Beobachtung sein, daß die Bildung von Gustav-Adolf-Vereinen in den
Ländern der Diaspora, die bisher nur durch Empfang von Unterstützungen zum
Ganzen in Beziehung gestanden, immer eifriger und erfolgreicher betrieben wurde
und so den Beweis lieferte, daß derselbe Trieb, aus dem jene Hilfe erwachsen,
auch dort erwacht sei.
Nicht minder wichtig als die fortdauernde Entstehung neuer Zweigvereine,
ja bei näherer Untersuchung bedeutsamer noch als diese und die dadurch bewirkte
Mehrung der Vereinsmittel waren andere Zeugnisse für die lebenweckende Kraft
der Stiftung. Dahin gehörte zunächst die wachsende Nachfrage nach den vom
Centralvorstand ausgesandten „Fliegenden Plättern" sowie nach den Zeitschrif¬
ten, die zur Förderung der Zwecke des Vereins gegründet worden, und von
denen wir nur den „Märkischen Boten" und die „Rheinisch-Westphälischen Blät¬
ter" nennen, welche letzteren damals in mehr als 8000 Exemplaren umliefen
und einen nicht unbeträchtlichen Reinertrag abwarfen. Dahin gehörten sodann
die reichlich beim Centralvorstand eingehenden Berichte über die fast in allen
Vereinen herrschende rüstige Thätigkeit, über die regelmäßigen, eifrig besuchten
Geschäftsversammlungen, die fortgesetzten Versuche, eine immer größere Bekannt¬
schaft mit dem Verein zu vermitteln, eine immer allgemeinere Betheiligung an
demselben hervorzurufen und die von den Gegnern genährten Vorurtheile zu
überwinden. Ferner zählten hierher die stets häufiger werdenden, oft sehr be¬
deutenden außerordentlichen Beiträge. Auf dieselbe Rechnung war es endlich zu
schreiben, wenn bemerkt wurde, wie in früher nur selten beobachtetem Eifer
Einzelne, das Vorbild des Vereins nachahmend, auf eigne Kosten Kirchen und
Schulen erbauten, namhafte Kapitalien zu solchen Zwecken schenkten oder zins¬
frei vorstreckten, Bauplätze oder Baumaterial hergaben oder durch Uebersendung
von Glocken, Altarbildern und Kirchengeräthen arme Gemeinden erfreuten —
Liebesthaten, die bisweilen selbst von Katholiken, j,a von Jsrgeliten ausgingen.
Die bedeutendste Schenkung, die der Stiftung in diesem Jahre zufloß, war
die eines Herren Gustav Hermann im sächsischen Voigtland, welcher dem Cen¬
tralvorstand fünfzig Actien der Leipzig-Magdeburger Eisenbahn, damals ein Ka¬
pital von 1,0.000 Thalern darstellend, übergab.
Schöne Beispiele der immer weiter und tiefer dringenden Erwärmung des
protestantischen Volkes für das Werk des Vereins waren endlich die Schenkungen
durch Vermächtniß. welche das in Rede stehende Verwaltungsjahr.zu verzeichnen
hatte. Wir finden darunter nicht weniger als fünf von je 1000, eins von 600,
eins von 300, zwei von je 200, fünf von je 100 Thaler, und es scheint, daß
namentlich der Mittelstand in dieser Weise seine Billigung der Vereinsthätig-
keit an den Tag legte.
Im Ganzen wurden der Stiftung in dem genannten Verwaltungsjahr
161,000 Thaler. 26,000 mehr als im vorhergehenden, zur Verfügung gestellt, und
dieselbe unterstützte mit dieser Summe 533 bedürftige Gemeinden. Die bedeu¬
tendsten Geldsendungen gingen nach verschiedenen Gegenden Deutschlands, wo
334 Gemeinden zusammen 109.21? Thaler erhielten. Die Protestanten in den
östreichischen Staaten, in Böhmen, Mähren, Schlesien, Ober- und Niederöstreich,
Steiermark, Kärnthen und Kram sowie in Galizien. Ungarn, Siebenbürgen und
Kroatien bekamen für 109 Gemeinden die Summe von 31.854 Thalern. Nach
Preußisch-Polen wurden für 34 Gemeinden 4,053 Thaler geschickt, nach Frank-
reich sandte man an 16 Gemeinden zusammen 7,273, nach Belgien 87 1, nach
Holland 372 , nach Italien 73«, nach Portugal 700. nach der Schweiz 509.
nach der Türkei und der Levante überhaupt 3000, nach Algerien 1,053, nach
Amerika 923 Thaler. 451 Thaler wurden auf Stipendien und persönliche Unter¬
stützungen verwendet.
Ferner meldet der Bericht die Einweihung einer beträchtlichen Anzahl von
Kirchen. Bcthäusern und Schulen, zu deren Erbauung der Gustav-Adolf-Verein
mehr oder weniger beigetragen hatte. Von Kirchen waren in den Jahren 1859
und 1860 nicht weniger als 11, von Bethäusern 4, von Schulen 7 eingeweiht
worden, und in Betreff mehrer andern war baldige Vollendung in Aussicht ge¬
stellt. Die Grundsteinlegung zu Kirchenbauten war in 6 Gemeinden der Dias¬
pora vollzogen worden.
Nicht weniger befriedigend als die Daten und Zahlen des hier aufge-
zognen Jahresberichts war der Inhalt desjenigen, welcher im nächstfolgenden
Jahre der 18. Hauptversammlung erstattet wurde, und den wir im Nachstehen¬
den als die neueste uns zugängliche Mittheilung von dem Leben und der Ge¬
stalt der Gustav-Adolf-Stiftung in einem ausführlicheren Auszug folgen lassen.
In Betreff des Zuwachses neuer Aeste am großen Baum war am Schluß
des letzten Verwaltungsjahres (August 1861) noch Erfreulicheres als im Vor¬
jahr zu melden. Zwar hatte sich die Lahmlegung des schwerinschen Haupt-
Vereins in völlige Auflösung verwandelt, und einige wenige Zweigvereine in
andern Orten schienen absterben zu wollen. Aber diese Verluste wurden durch
das Entstehen einer beträchtlichen Anzahl neuer Zweigvereine mehr als aufgewogen.
In den Hauplvcrcincn Stettin, Königsberg, Breslau, Halle, Dresden. Frankfurt,
Ansbach und Bremen hatten sich im Lauf des Jahres nicht weniger als 34 solche
neue Vereine gebildet, und an 15 Orten waren deren in Vorbereitung. Fer¬
ner harten sich im Bereich der Hauptvereine Stettin, Königsberg. Düsseldorf,
Dresden, Leipzig, Baden, Darmstadt, Hannover, Holstein, Braunschweig, Osna¬
brück, Lübeck, Ansbach, Halle und Nassau 27 neue Frauenvereine constituirt und
15 andere waren in der Bildung begriffen.
Konnte der Bericht dann andeuten, daß ein starker Zuwachs an Vereinen
von einer Seite her bevorstehe, nach welcher hin ursprünglich die Hauptthätig¬
keit der Gustav-Adolf-Stiftung gerichtet gewesen und nach welcher hin noch
jetzt in bedeutendem Maß gewirkt werden müsse, von Oestreich nämlich, so er¬
füllte sich das in gewissem Grad noch bei dieser Hauptversammlung. Das
neue Prvtcstantengesetz hatte den östreichischen Evangelischen gestattet, Gustav-
Adolf-Vereine zu bilden und sich den in Deutschland bestehenden Vereinen an¬
zuschließen. Es waren in Folge dessen ein östreichischer und ein siebenbürgischer
Hauptverein, jeder mit einer Anzahl von Ncbenvereinen entstanden. Die Ab-
geordneten derselben baten bei der Hauptversammlung um satzungsgcmäße An¬
erkennung und Aufnahme in den Gesainmtvcrein, und diese wurde bereitwillig
gewährt, was beiläufig auel in Betreff eines Frauenvereins stattfand, welcher
in dem fernen walaclnschrn Städtchen Plvjescbti, einer Gemeinde,, die bisher
Unterstützung nur empfangen, nicht gespendet, zusammengetreten war.
Aus den' verschiedenen Hauptvereinen waren mannigfaltige Mittheilungen
erfreulicher Art eingelaufen. Der eine hatte von gleichmäßiger lebendiger Theil¬
nahme sämmtlicher Zweigvereine zu berichten, wie z. B. der rheinische und der
holsteinische. Ein anderer von zunehmender Theilnahme an der Thätigkeit für
die Zwecke der Stiftung trotz der noch immer nicht ruhenden Anfeindung
und Verdächtigung derselben. Wieder ein anderer von wachsenden oder sich
doch gleichbleibenden Einnahmen in vielen Zweigvereinen, selbst in Gegenden,
welche unter ungünstigen Zeitverhältnissen, Gewerblvsigkeit. kargen Ernten u. a.
litten, wie z. B. in Rudolstadt, Nassau und Braunschweig. Noch andere von
dem Wachsthum der Mitgliederzahl in den einzelnen Vereinen, was unter an¬
dern, von Schweden galt. Dann wieder liefen Berichte solcher Hauptvereine
ein, welche auf die an immer mehr Orten sich bemerklich machende Betheiligung
der Schuljugend hinwiesen, wie unter andern Wolfenvüttel, Coburg-Gotha,
Helmstädt, Osnabrück und Detmold, während andere von dem erwachenden
Interesse der Landgemeinden (so im Vraunschweigischen und Bremcnschen)
meldeten. Endlich schilderten mehre Berichte mit hoher Befriedigung die außer¬
ordentlich erfolgreiche Thätigkeit sehr vieler FrNuenvereine.
Andere Zeugnisse für die wachsende Theilnahme an der Stiftung lagen
in der noch immer zunehmenden Zahl von Vereinsblättcrn, die zum Theil in
vielen Tausenden Von Exemplaren abgesetzt wurden und von denen mehre einen
namhaften Reinertrag für die Vereinskasse lieferten. Die ersten Vercinsblcitter
hatten ihren Zweck, das öffentliche Interesse für die Gustav-Adolf-Stiftung zu
wecken und zu mehren, vortrefflich erfüllt. Dieses Interesse bekundete sich in
einem vermehrten Verlangen nach Nachrichten, und dieses veranlaßte rückwirkend
die Vermehrung der Vereinsblätter, so daß sich beides in einer gegenseitigen
Steigerung befand. Außer den schon seit Jabren regelmäßig erscheinenden
Blättern — dem Darmstädter, dem Märkischen, dem Thüringer, dem Königs¬
berger und dem Stettiner Gustav-Adolf-Boten, den Rheinisch-Westphälischen
Gustav-Adolfs-Blättern*), den schlesischen Mittheilungen, den Oldenburger
Monatsberichten, den Darmstädter und Groß-Umstädter Gustav-Adolfs-Kalender
— waren in dem in Rede stehenden Jahre noch verschiedene Versuche Ein¬
zelner, den Eifer für den Verein zu wecken, respective wiederzubeleben, gemacht
worden. So die gedruckten Mittheilungen an die Brüder und Schwestern im
Livpcschen. die Berichte aus Leiden, die zwölf Fragen des Weimar-Jena-
Eisenachschen Vereinsvorstandes, die Ansprache Assessor Scbönnigcrs an die
Frauenvereine. Auch war zu den frühern Darstellungen der westphälischen und
schlesischen Diaspora ein Jahrbuch für Posen mit ähnlichem Inhalt ge¬
kommen.
Als ein sehr äußerlicher, aber immerhin bedeutsamer Beweis von der zu¬
nehmenden Thätigkeit innerhalb des Gesammtvercins ist sodann auch der
wachsende Umfang der Geschäfte des Centralvorstandes zu erwähnen, und es
sei in dieser Beziehung nur bemerkt, daß die Eingangsregistrande in dem
Jahre, welches der letzte Bericht schildert, 2200 Nummern, 483 mehr als im
Vorjahr, die Auögangöregistrande 1.826 Nummern, l25 mehr als in jenem,
enthielt.
Was nun den Punkt betrifft, den die öffentliche Meinung als zuverlässig¬
sten Maßstab der Vereinsthätigkeit zu betrachten Pflegt, nämlich die Gesammt-
einnahme und die Gesammtsumme der ausgeführten Unterstützungen (was
beides, da nur sehr geringe Beiträge kapitalisirt werden, ungefähr in
derselben Ziffer sich ausdrückt), so stellt dieser sich folgendermaßen! Die
Gesammtsumme der Unterstützung des Rechnungsjahres 1860 bis 1861 be¬
trägt 157,628 Thaler. Hier scheint nun allerdings keine Steigerung, son¬
dern eine Verminderung gegen das Vorjahr zu bemerken. Indeß ist dem,
genauer besehen, nicht so. Denn einmal beruhte die Größe der Summe des
vorhergehenden Jahres zum Theil darauf, daß ein früheres Vermächtnis;
theilweise mit verwendet wurde, und dann wurde sie dadurch erhöht, daß
Rückstände aus andern Jahren dabei mit in Rechnung gebracht worden
waren, was sich nicht vermeiden läßt. Unterstützt aber wurden mit der
soeben genannten Summe diesmal 559 Gemeinden, also 26 mehr als
im vorhergehenden Jahr, und zwar (wir lassen die Groschen und Pfennige
weg): in
Die Verwilligungen der Frauenvereine, soweit sie dem Centralvorstand an¬
gezeigt worden, was von vielen bei Abschluß der Rechnung noch nicht geschehen,
betrugen, ohne Hinzurechnung der Geschenke an Kirchengeräthen. Kleidungsstücken
für Konfirmanden u, d. in,, in Geld die beträchtliche Summe von 15.627
Thalern.
Eingeweide wurden im Jahre 1860 Kirchen. Kapellen und Bethäuser zu
Lissabon, zu Abenau. zu Bictenhausen, zu Geisa. zu Dwacacowic. zu Vreden,
zu Hausen, zu Loxten, zu Ratiborz, zu Bojanowo. ;n Wiedenbrück und zu
Montreal, sowie zu Neustadt in Kurhessen, Im Jahre 1861 hoffte man die
Kirchen zu Nicolai. zu Ärvnach. zu Wolfsberg, zu Bukowka. zu Waldsassen,
zu Deutz und zu Widekind-Daun zu vollenden, so daß mit Beihilfe der Gustav-
Adolf-Stiftung in den beiden genannten Jahren nicht weniger als 20 Stat-'
ten deS Gottesdienstes in der Diaspora der Protestanten errichtet worden
wären.
Schulen wurden eröffnet zu Suderwick. zu Pillen, zu Kätscher, zu Gutten-
tag, zu Achern. zu Klcinbreslau, zu Molina und zu Oberglogau, zusammen
8. Vollendet waren die Pfarrhäuser zu Zippnv und Waldbreitbach, sowie die
Schule am letztgenannten Orte, Endlich ist noch erwähnen, daß in den be¬
treffenden beiden Jahren der Grundstein zu den .Kirchen in Luisendvrf, in Uer-
dingen, in Ferdinandsberg, in Rojewo-Kaczkowerdorf, in Altzippnow, in Seck-
mauern. in Görkau-RotenhauS und zu der Schule und Pfarre in Belgrad ge¬
legt wurde.
Setzen wir nun noch hinzu, daß man bei der letzten Generalversammlung
des Vereins von 15 weiteren Kirchen und 8 Schulen wußte, weiche im Bau
begriffen waren, so haben wir hier das dürre Register 'von Thatsachen be¬
schlossen, auf welches unser Bericht sich beschränken muß. Das Leben, von
welchem diese letzten Ergebnisse der Vereinsthätigkeit umgeben sind, die Freude
des Gebens für den Zweck, die protestantische Kirche zu stützen, zu bauen und
zu schmücken, welche ihnen vorausging, die Freude der Empfangenden über
endlich erfüllte sehnliche Hoffnungen, die Empfindungen des Dankes und der
Erhebung, welche bei jenen Feierlichkeiten der Grundsteinlegung oder Ein¬
weihung sich aussprachen, die mächtige Neubelebung der evangelischen Gemein¬
den durch das Alles muß man sich vorstellen oder in den speciellen Nachrich¬
ten der Vereinsblätter suchen.
„Doch von dem', was'ausgerichtet worden ist," so fährt der Berichterstatter
der Hauptversammlung vom August 1861 fort, „haben wir nun auch noch
einen Blick zu werfen auf das, was noch ausgerichtet werden soll, d, h. so¬
weit uns dies bis jetzt schon deutlich vor Augen siebt. Denn das wissen wir
außerdem, daß unsre Aufgabe noch immer im Wachsen ist, wie schon aus der
gegen das vorige Jahr wieder um 72 Nummern gestiegenen Zahl der Auszüge
aus den vorliegenden Unterstützungsgesuchen, sowie daraus hervorgeht, daß
seit dem Schluß der diesjährigen Zusammenstellung dieser Gesuche im April
wieder litt theils neue, theils erneuerte eingegangen sind.
Aus dieser Kei Nummern enthaltenden Zusammenstellung der Bedürfnisse
der Hilfe suchenden Gemeinden ergibt sich, daß vorerst noch 123 Kirchen. 97
Schulen und 61 Pfarrhäuser zu bauen sind. Und wenn die ZM der zu er¬
bauenden Schulen und Pfarren mit der Zahl der zu erbauenden Kirchen in
keinem Verhältniß zu sieben scheint, so ist einfach zu bedenken, daß an vielen
Orten mit dem Bau der Kirche angefangen werden und das Bedürfniß von
Pfarren und Schulen erst später, aber unausbleiblich, zur Sprache kommen
muß.
Hierzu kommt, daß 137 Gemeinden zusammen eine Schuldenlast von un-
gefähr 200,000 Thälern haben, und daß dann, wenn diese getilgt sein werden,
noch viele nothwendige Dotationen von Pfarrer- und Lehrerstellen zu gründen sind.
Gerade aus diesen nackten Z«hier aber leuchtet das Wachsen unsrer Aufgabe
am klarsten ein. Denn obwohl seit einigen Jahren an 40 Kirchen und eine ent¬
sprechende Anzahl von Schulen erbaut worden sind, so sind doch die Zahlen
der noch zu erbauenden, wie wir sie vor einigen Jahren angegeben haben, un¬
gefähr dieselben geblieben. Und dabei haben wir unser Augenmerk größten-
theils erst auf evangelische Gemeinden richten können, welche unsre Sprache
reden. Denn zwar ist für magyarische und slavische Gemeinden schon Nam¬
haftes geschehen, mit französischen Gemeinden ein Anfang gemacht, an einige
Punkte Amerika's und des Orients Hilfeleistung gelangt. Allein was will das
sagen, wenn wir bedenken, wie viel dazu gehören wird, um hier erst das
Nöthige zu thun, wenn wir bedenken, daß wir auf lange hin des Gedankens
auf durchgreifende Unterstützung unsrer ferner wohnenden Glaubensgenossen
uns noch werden entschlagen müssen. Und das werden wir müssen, wenn wir
sehen, wie in dem bisherigen Bereich unsrer Wirksamkeit nicht nur bisher ver-
borgene Nothstände der Evangelischen von Jahr zu Jahr mehr an das Licht kom¬
men, sondern mit der Entstehung vieler neuen Gemeinden bisher noch gar nicht
vorhandene Bedürfnisse mit entstehen; wenn wir,, um in Beziehung aus das
Erstere nur ein Beispiel zu nennen, die Consirmandenanstalten, diese so wich¬
tige Institution zur Erhaltung der bis jetzt noch in der Zerstreuung lebenden
Evangelischen seit wenigen Jahren haben auf 14 steigen sehen, und wenn wir,
was die neu entstehenden Gemeinden betrifft, uns leicht überzeugen kön¬
nen, daß diese, weil meist aus verhältnismäßig wenigen und dazu größten¬
teils armen Gliedern bestehend, verhältnißmäßig größere Mittel in Anspruch
nehmen, wenn sie Bestand gewinnen sollt'n, als ältere mit allen ihren Be¬
dürfnissen und Schulden."
In der That, im Hinblick auf das von Jahr zu Jahr sich weiter aus¬
dehnende Arbeitsfeld des Gustav-Adolf-Vereins könnte den hochverdienten Män¬
nern, deren Eiser und Umsicht die oberste Leitung des Ganzen mir so schönem
Erfolg besorgt hat, bange werden vor der Zukunft, wenn ihre Erfahrung ihnen
nicht davon zeugte, daß auch bei diesem Werke, are bei jedem von großen Di-,
mcnsioncn, mit der Vergrößerung der Aufgabe die zur Bollendung nöthigen
Kräfte gewachsen sind, und wenn sie nicht den Trost hätten, wie, durch die
Wirksamkeit der Gustav-Adolf-Stiftung angeregt, wenigstens mit hervorgerufen, -
auch außerhalb des Vereins eine Menge von Kräften sich regen, gleiche Ziele
mit demselben verfolgen und so dessen Mühe und Sorge wesentlich vermindern.
Schon >in Obigen ist verschiedenes Hierhergehörige angeführt worden. Im
Folgenden theilen wir noch Einiges davon mit. In Holstein fließen außer den
Sammlungen des Gustav-Adolf-Vereins jährlich noch große Summen (1860
über 2000 Thaler) für die Gemeinden der Diaspora zusammen. Aehnliches
geschieht, so weit der Berein von sich reden macht, an einzelnen Punkten durch
Schenkungen an Geld und Grundstücken, wie denn vor Kurzem erst dem frank¬
furter Hauptverein zu sofortiger Bcrwcndung 10,500 Gulden zukamen, eine
Summe, welcher noch viele andere, wenn auch nicht so große, an die Seite zu
setzen wären. Ferner wurden auch im letzten Verwaltungsjahr aus bis dahin
unterstützten Gegenden nicht unbeträchtliche Beiträge an den Centralvorstanb
eingeschickt, z. B. aus Oestreich mit Ungarn 624 Thaler. Ebenso sind auch
diesmal wiederholt Fälle vorgekommen, in welchen Einzelne auf eigne Kosten
Kirchen und Schulen bauten, und zwar mit ausdrücklicher Beziehung auf die
Wirksamkeit des Vereins. In Preußen wird schon seit mehrern Jahren alljähr¬
lich eine besondere Collecte für die Bedürfnisse der evangelischen Kirche veran¬
staltet, und die 80,000 Thaler, welche dieselbe 1861 einbrachte, wirkten gleich
den früher erzielten Summen in derselben Richtung wie die Sammlungen des
Vereins. Die Cvllectcn andrer deutscher Länder flössen meist den Kassen der
Gustav-Adolf-Stiftung selbst zu. Auf Anregung der Wittwe de Wette's
wurde, vorzüglich in Holland und Frankreich, eine Sammlung vorgenommen,
die eine Summe von 30,000 Francs ergab, und durch welche von einem Comits
in Basel im Einvernehmen mit dem - Centralvorstand des Gustav-Adolf-Vereins
ein Fonds zu ausreichender und dauernder Unterstützung der Wittwen armer
mährischer Pfarrer und Lehrer gegründet wurde.
Sehr charakteristisch für die Bedeutung des Vereins ist sodann, daß der¬
selbe, auch wo er mit seinen Mitteln noch nicht nachdrücklich zu helfen im Stande
ist, darum angegangen wird, nur mit einer geringen Summe und seinem Na¬
men einzutreten, indem sich dann die nöthigen Gelder schon auf anderm Wege
beschaffen lassen würden. Ein Beispiel davon war die Bitte des englischen
Geistlichen Pendleton sür die Waldensertolonie Rohano in Südamerika, der die
für dieselbe nöthigen Geldmittel in England aufbrachte und von dem Lerem
,nur wünschte, daß er seine Theilnahme an diesem Unternehmen bezeuge, weil
dies dessen Gedeihen fördern werde.
Endlich gehören hierher die Vermächtnisse an die Gustav-Adolf-Stiftung,
deren in dem letzten Verwaltungsjahre wieder 19, im Gesammtbetrage von
7400 Thalern (240 Thlr. mehr als im Vorjahr) gestiftet worden' sind.
„Wie viel Grund," bemerkt der Berichterstatter, „liegt in dem Allen zu
der Zuversicht, daß die große Bewegung, welche auf die Erhaltung der äußer¬
lich und damit so ost auch innerlich gefährdeten Theile der evangelischen Kirche
(in nicht evangelischen Gegenden) gerichtet ist, und welche jedenfalls durch die
Wirksamkeit des Gustav-Adolf-Vereins zuerst hervorgerufen worden ist, ihren
gesegneten Fortgang haben wird, wie sie ihn bisher gehabt hat, immer mehr
anwachsend und sich verbreitend in dem Maß, als die vorhandene Noth immer
mehr erkannt und die Nothwendigkeit sowie das Bewußtsein der Verpflichtung,
ihr abzuhelfen, immer einleuchtender wird."
Wir haben zu zeigen versucht, daß der Gustav-Adolf-Verein zu einer wirt¬
lichen Macht erwachsen ist, daß er unmittelbar wie mittelbar sehr Bedeuten¬
des geleistet hat, daß er seine helfende, stützende und bauende Hand weit über
die Länder der protestantischen Diaspora ausstreckt, daß. von Jahr zu Jahr der
Wipfel des mit seiner Gründung gepflanzten Baumes neue Zweige treibt, seine
Zweige reichere Früchte bringen.
Wir haben aber zugleich erkennen lassen, daß er noch nicht die Großmacht
ist, die er sein sollte, daß seine jährlichen Leistungen noch weit bedeutender
werden müssen, wenn der Noth der Glaubensgenossen in der Zerstreuung rasch
und dauernd abgeholfen werden soll. Noch sind zahlreiche Protestanten, welche
seine helfende Hand füllen, ihm Material zu seinem Bau zutragen könnten und
dies nicht thun. ' Noch ist viel Raum zu neuen Zweigen, noch strecken Viele
bittend die Hände empor nach seinen Früchten.
Vielfältig noch sind die Bemühungen, allgemeinere Betheiligung an der
Vereinsthätigkeit zu erwecken, vergeblich oder von nur geringem Erfolg gewesen.,
Namentlich wird über die großen Städte, vor allem über Berlin und Ham¬
burg, geklagt. Ebenso hatte der letzte Jahresbericht die Unempfänglichkeit oder
Lauheit zu bedauern, die in den vornehmsten und wohlhabendsten Ständen in
Bezug aus den Verein herrscht, und die man durch vielfache Zerstreuung der
Interessen und durch zu große Entferntheit der Gedanken von der Noth der
Geringen und Armen wohl erklären, aber nicht entschuldigen kann. Unzweifel¬
haft endlich werden die mannigfachsten Mittheilungen aus dem Verein noch
von Tausenden, in deren Hände sie gelangen, nicht einmal gelesen, geschweige
denn als fruchtbringende Anregung aufgenommen.
Aber alles dies reicht noch nicht hin, zu erklären, daß die Stiftung, mit
großem Sinn aufgefaßt und mit ihrer Ausgabe verglichen, noch^immer nur als
ein schöner Anfang zu dem erscheint, was sie leisten sollte und könnte. Kein
Zweifel, daß sie, wofern sie alle Protestanten vereinigte, wofern sie auch nur
alle die Evangelischen zu steuernden Freunden hätte, welche nicht in dem neu¬
modischen confessionellen Gezänk Partei nehmen, jährlich das Dreifache und
mehr von dem einnehmen würde, was jetzt in ihre Kassen fließt. Einige
von den Gründen, weshalb dies noch nicht der Fall ist, haben wir angegeben.
Andere 'mögen in ähnlichen UnVollkommenheiten der Menschennatur liegen. Als
Haupterklärungsgrund erscheint uns eine Beobachtung, welche auch bei andern
öffentlichen Unternehmungen, die nur durch allgemeine Betheiligung zur Größe
gedeihen, z. B. bei Parlamentswahlen, gemacht wird, die Beobachtung näm¬
lich, wie sehr viele sonst Gutgesinnte sich trösten, daß ja Andere sich rüstig
regen, schaffen und geben, und daß der Einzelne nicht zählt und dar»in beim
Resultat und Facit nicht vermißt wird.
Der Unverstand dieser Meinung liegt so auf der Hand, daß er keiner
Widerlegung bedarf, ja daß er sich bei den Meisten, die ihm huldigen, nicht
einmal laut zu werden getraut., sondern nur als stilles Hausmittel gebraucht
wird, wenn das Gewissen einmal geweckt wird und ein Anflug von guten
Vorsätzen sich zeigt.
'
Auch wir halten es hier für überflüssig, die mathematische Unrichtigkeit
und die moralische Schimpflichkeit solcher Art zu rechnen mit Gründen nach¬
zuweisen, und überlassen dies der Predigt, in der es ganz am Orte sein
würde. Dagegen sei es gestattet, eine Geschichte zu erzählen, welche zwar komi¬
scher Natur ist, der wir aber, der ernsten Moral wegen, die ihren Kern bildet,
das Bürgerrecht im Zusammenhang ernstgemeinter Erörterung nicht versagen
zu dürfen meinten.
In einer kleinen polnischen Judenstadt predigt ein warschauer Oberrab¬
biner, der auf der Durchreise ist. Seine Ansprache gewinnt den Beifall der
Glaubensgenossen in ungewöhnlichem Grade, und von Dankbarkeit erfüllt,
findet sich nach Schluß des Gottesdienstes in der Schule die ganze Gemeinde
zusammen, um zu berathen, wie diesem Gefühl thatsächlicher Ausdruck zu geben.
„Wollen ihm eine Artigkeit erweisen," beginnt der Eine. „Wollen ihm hun¬
dert Gulden verehren." — „Werden wir ihm doch kein Geld geben, dem gro¬
ßen Herrn aus Warschau," erwidert ein Anderer. „Sallate sich das doch nicht
für eine Predigt." -— „Ich weiß was," ruft ein Dritter sogleich, „werden dem
Herrn Rabbiner ein Faß Wein schicken." Dieser Einfall wird von der gcsaMMten
Judenschaft gebilligt und darnach zu verfahren beschlossen. Aber wo das Faß
Wein herbekommen? Im ganzen Städtchen existirt kein solcher Schatz, obwohl alle
Einzelne einige Flaschen im Hause haben. Da weiß der kluge Kopf, der den
ersten Rath ertheilt, auch Mit einem zweiten zu dienen, der alle Bedenken be¬
schwichtigt. „Werden wir's so machen, daß wir ein leeres Faß nehmen. Jeder
von unsern Leuten geht nach Hause, holt eine Flasche Wein und gießt sie in
das Faß, bis es voll ist. Dann schicken wir's dem Herrn Prediger, und er
wird sich freuen."
Auch dieser Vorschlag fand Wohlgefallen bei den Hörern, und sofort wird
Hand ein's Werk gelegt. Nun ist da aber einer unter den guten Leuten, der
denkt, als er seinen Weinbeitrag zu holen geht, bei sich: „Was sollst du Wein
geben? Die Predigt war gut. und dankbar sein ist auch gut. aber Selbcrtrinken
ist besser. Wirst deine Flasche mit Wasser füllen. Wer wird's sehen, und
eine Flasche Wasser unter neunundneunzig Flaschen Wein kann nichts ver¬
derben."
Gesagt, gethan. Das Faß füllt sich, wird verspundet, auf die Post ge¬
geben und von dieser richtig an seine Adresse befördert.
Und was bekam der Rabbiner, als er daran ging, sein Faß abzuziehen?
Er kostete, prüfte das Glas gegen das Licht, und siehe da — es war reines
unvermischtcs Brunnenwasser. Die ganze Gemeinde hatte ebenso gedacht, wie
jener Schmuck oder Jtzig, dessen Geiz sich auf die Ehrlichkeit und Freigebigkeit
der Andern verlassen, und ebenso gehandelt.'
Nun wird man nach der obigen Ausführung einwerfen, daß diese Geschichte
auf unsern Fall nicht recht passe, da hier Tausende ihre Pflicht gethan. Sehr
recht, wir erzählen sie aber auch nur den andern Tausenden, die sie nicht gethan, die
sich im Verlaß auf die opferbereite Gesinnung jener von ihr dispensiren zu
dürfen wähnten. Nicht der Gustav-Adolf-Verein, sondern die gesammte prote¬
stantische Christenheit steht uns bei unserm Vergleich vor Augen. Derselbe
würde ganz zutreffen, wenn etwa ein Drittel oder die Hälfte jener Judenge-
meinde, ohne auf die Pflichterfüllung der Andern zu rechnen, ihre Schuldigkeit
gethan hätte. Aber wohl zu bemerken: — auch dann hätte der Rabbiner nur
gewässerten Wein bekommen.
Möge darum jeder, der im Stande ist, zu wirken, sein Theil dazu bei-
tragen, daß die Zahlen und die Kräfte des Gustav-Adolf-Vereins mit denen
der evangelischen Kirche',, wenigstens mit denen der dcutschredenden, mehr und
mehr zusammenfallen. Die Pvesse kann hier sehr viel thun. Daß es nöthig
ist. werden einige andere Artikel zu zeigen versuchen, welche die Protestanten in
der Diaspora und deren Bedürfnisse eingehender als im bisherigen Verlauf
geschehen, zu schildern bestimmt sind.
Die Actionäre der beiden süddeutschen Zeitungen, welche das Interesse der
Unionspartei vertreten, hatten den Entschluß gefaßt, die beiden Blätter „Süd¬
deutsche Zeitung" zu München, Redacteur Herr Brater, und die „Zeit" zu Frank¬
furt, Redacteur Herr Lammers, in eine Zeitung zu verschmelzen urbs unter der
bewährten Leitung der beiden Herren vom nächsten Quartale als „Süddeutsche
Zeitung" in Frankfurt erscheinen zu lassen. Zu diesem Zweck hatte der ge¬
schäftsführende Ausschuß der beiden Blätter auswärtige Freunde und Actionäre
der Zeitungen zu einer Besprechung nach Frankfurt geladen. Er hatte die
Einladung auch ,auf andere Parteigenossen, meist Mitglieder deutscher Kammern,
ausgedehnt, in der Absicht, eine vertrauliche Besprechung über schwebende deutsche .
Fragen zu veranlassen, womöglich wiederkehrende Zusammenkünfte deutscher
Patrioten vorzubereiten, deren Zweckmäßigkeit leichter zu übersehen war, als
ihre Tragweite.
Ueber diese Versammlung ist Weniges und Ungenügendes in der Presse
berichtet worden. Allerdings hatte die Verhandlung den Charakter einer ge¬
selligen Besprechung, und ihr Detail gehört nicht vor die Oeffentlichkeit. Doch
wird es um so weniger eine Indiscretion sein, wenn ein Korrespondent d. Bl.
Einzelnes über den Verlauf berichtet, da die Versammlung in Rcgierungskreisen
ein größeres Aufsehen gemacht zu haben scheint als im Volke und da die Be¬
schlüsse derselben mehrfache Befürchtungen auch unserer Freunde wach gerufen
haben.
Zunächst wurde in einer Versammlung von etwa dreißig Interessenten aus
verschiedenen Gegenden Deutschlands die Vereinigung der beiden Blätter be¬
sprochen. Sie erwies sich als Nothwendigkeit. weil die sehr erschütterte Ge-
sundheit Herrn Braters diesem unmöglich machte, die ganze Last und Sorge
einer Redaction unter besonders schwierigen Verhältnissen ferner allein zu tra¬
gen und die ungünstige Lage Münchens für das Verbreiter politischer Neuig¬
keiten einem dort erscheinenden Blatt regelmäßige Einwirkung auf den Süd¬
westen Deutschlands sehr erschwerte. Man einte sich am Sonnabend vor Pfingsten
über die Organisation des combinirten Blattes, über Verleger, Einrichtung u.s.w.,
Mit gutem Vertrauen auf die bewährte Tüchtigkeit der redigirenden Herren und
auf das warme Interesse der süddeutschen Freunde darf man diese große Zei¬
tung unserer Partei in Süddeutschland dem Publicum dringend empfehlen.
Der folgende Tag führte eine größere Anzahl von Liberalen zu politischer
Unterredung zusammen. Männer der Paulskirche, die Führer des National¬
vereins, Baiern, Schwaben, Badenser, einzelne Mitglieder von Ständeversamm¬
lungen der kleineren Staaten. Die Ankunft eines namhaften Mitgliedes aus
dem Abgeordnetenhause in Berlin erregte angenehme Befriedigung, und schon
bei seinem Eintritt in der versammelten Gesellschaft war zu sehen, wie vor¬
theilhaft sich seit dem Jahre 1848 die politische Stellung der Preußen zu ihren
deutschen Landsleuten geändert hat. Die Anwesenden waren fast alle entweder
gegenwärtig oder in vergangenen Jahren Mitglieder deutscher Kammern, sie
gehörten sämmtlich der liberalen, nur in der großen Mehrzahl der Unionspartei an.
Schon vor dem Beginn der Besprechung äußerte sich der allgemeine Wunsch,
daß eine von Zeit zu Zeit wiederkehrende Vereinigung einflußreicher politischer
Persönlichkeiten aus den verschiedenen Landschaften Deutschlands zu erstreben
sei, sie erleichtere eine consequente und planmäßige Behandlung brennender
Fragen in einzelnen Kammern, sie könne nützlich werden für Ausgleichung
von Gegensätzen, für Ueberwindung provinzieller Kurzsichtigkeit, sie werde bis
zu einem gewissen Grade den Mangel einer gemeinsamen Volksvertretung für
Deutschland ersetzen, sie sei vielleicht das beste Mittel, widerstrebenden Regierungen
die Nothwendigkeit einer solchen nahe zu legen. Vor allem aber könne sie
den politischen Gegensatz zwischen Preußen und Süddeutschen aufheben, den
Süddeutschen eine warme Empfindung von dem Patriotismus und der Tüchtig¬
keit ihrer norddeutschen Landsleute beibringen. Und es scheint, daß die wohl¬
wollenden Männer, welche die Versammlung veranlaßt haben, sowie die Führer
des Nationalvereins zunächst diesen letzten Gesichtspunkt im Auge hatten, im
stillen Gemüth aber die Erinnerung an ein ähnlich zusammengepflogenes Vor¬
parlament umhertrugen. Es war keine große Versammlung, etwa 40 — 50
Männer, welche am Psingstsonntag in den Räumen eines gastfreien Privathauses
zusammentrafen, gute Namen darunter, junge und alte Kraft, Nord- und Süd¬
deutsche, letzterem der Mehrzahl. Man war schnell darüber einig/daß wieder¬
kehrende Zusammenkünfte deutscher Patrioten durch diese Versammlung vorbe¬
reitet werden sollten, und daß diese Zusammenkunft nur als vorbereitende zu
betrachten sei. Schwieriger war zu entscheiden, wer für die nächste Versamm¬
lung zur Theilnahme aufzufordern sei. Die Majorität entschied sich dahin,
das Recht der Theilnahme für künftige Versammlungen auf Mitglieder deut¬
scher Ständekammern. so wie auf Mitglieder der deutschen Neichsverscnnmlung
von 1848 zu beschränken. Wenn sich auch Einzelne der Anwesenden, welche
nicht Volksvertreter sind oder waren, durch diesen Beschluß verhindert fühlten,
an den folgenden Verhandlungen thätigen Theil zu nehmen, so war der Be¬
schluß doch ohne Zweifel schon deshalb verständig, weil er eine bestimmte Klasse
von praktischen Politikern umgrenzte. Welcher andere Beschränkungsgrund
sollte gefunden werden, um die Zusammenkunft von einer Volksversammlung
zu unterscheiden? Und da es nothwendig war, daß die Mehrzahl der Anwe¬
senden aus Volksvertretern bestand, wie wollte man andere Kategorien ein¬
schließen? Es wäre allerdings wünschenswerth gewesen, die politischen Intelli¬
genzen der deutschen Presse herbeizuziehen. Aber der Vorschlag, einzelne der¬
selben zur Mitgliedschaft einzuladen, hätte in der Ausführung große Jncon-
venienzen gehabt. Die nicht eingeladene Presse hätte ein Recht gekränkt zu
sein und den Eingeladenen hätte wieder ihr Selbstgefühl verwehrt zu erscheinen;
denn sie hätten als Geladene nicht auf gleichem Boden mit denen gestanden,
welche durch ihr Mandat als Volksvertreter das Recht der Theilnahme hatten.
Eine Versammlung deutscher Redacteure, patriotischer Minister oder auch einflu߬
reicher Privatmänner kann jede in der gegenwärtigen Lage Deutschlands ^um
Heil des Vaterlandes gemeinsames Handeln beschließen, aber jede solche Gesell¬
schaft würde, sich so viel als möglich auf Männer ihres Geschäftskreises zu be¬
schränken suchen. Es ist auch dies ein Fortschritt seit 1848.
Aber auch von deutschen Kammermitgliedern und solchen, welche man als
dazu gehörig betrachtete, wer sollte zugezogen werden? Die Debatte darüber
war lebhaft und nickt ohne Interesse. Das Prädicat „liberal" erwies sich als
zu unbestimmt, zweckdienlicher schien die Bezeichnung, alle solche, welche eine
festere staatliche Concentration der deutschen Volkskraft erstreben. — Aber, wenn
man nicht auf die rege Betheiligung der süddeutschen Deputaten verzichten
wollte, durfte die großdeutsche Partei nicht ausgeschlossen werden. Auch die
preußische Partei, welche die starke Majorität der Versammlung darstellte,
wünschte das nicht, weil gerade ihr daran gelegen war, den Süden sich allmälig
zu befreunden. Vor andern durfte den Führern des Nationalvereins von Werth
sein, gerade in diesen Zusammenkünften einen neuen Boden zu finden, wo sie
mit ihren politischen Gegnern zusammentreffen und dieselben widerlegen konnten.
In der That erschienen für die kleindeutsche Partei allein solche Zusammenkünfte
kaum nöthig. Für sie sei der Nationalvercin eine ausreichende Organisation,
auch wer die preußische Politik vertritt und nicht Mitglied des Vereins sei, ver¬
möge sich in seiner Landschaft, wenn es gerade gelte, mit dem Verein leicht in
Verbindung zu setzen und ohne Weitläufigkeiten die zweckmäßigen Schritte zu be¬
sprechen. In Süddeutschland, oder genauer in den 'Mittelstädten bildet die
preußische Partei der Kammern freilich nnr eine kleine Minorität. Aber diese
kleine Partei der Nationalmänner ist muthigt, ^unternehmend, voll Selbstgefühl
und trägt das Bewußtsein einer höhern Berechtigung und des künftigen Sieges
fest in der eigenen Brust. So waren die Führer des Nativnalvereins erobe¬
rungslustig, ihrer Sache sicher und bereit ihren Gegnern jede Concession
zu machen.
Von solchem Standpunkte wurde der Beschluß gefaßt, die Zusammenkünfte
nicht auf die Mitglieder der preußischen Partei zu beschränken. Nicht wenig
trug dazu bei, daß ein kluger Redner aus Süddeutschland seinen und seiner
Freunde Standpunkt so darstellte, man sei im Süden so weit gekommen, sich
der preußischen Partei anzuschließen und lieber Etwas als Nichts durchzusetzen,
wenn dem Volk die Ueberzeugung eindringlich würde, daß man vereinigt mit
den Oestreichern jetzt nicht vorwärts kommen könne. Die Zeit sei gekommen,
wollten die Oestreicher nicht, oder könnten sie nicht, gut, so werde man sich
trotz aller Sympathien von ihnen lösen.
Die Herbeiziehung der Großdcutschen war beschlossen, die Großdeutschen
waren aber ohne Herbeiziehung der deutschen Oestreicher —, gewissermaßen zu
einem letzten Versuch, — nicht zu haben.
Und damit erhob sich die Klippe für einen erfolgreichen Verlauf der pro-
jectirten Versammlung. Bis dahin war alles gut gegangen, es war eine Ver¬
sammlung wohlmeinender, in der großen Majorität politisch gleichgesinnter Män¬
ner; sie hatten zuweilen ein wenig ausführlich, fast immer gescheidt und geschickt,
einige Mal vortrefflich gesprochen. Aber die Versammlung unterlag der Gefahr,
zwei verschiedene politische Thätigkeiten zu verwechseln. Sollten die projectirten
Versammlungen solche werden, in denen kräftige Beschlüsse gefaßt, ein kluges
gemeinsames Handeln in den einzelnen Ständekammern vorbereitet würden, so
mußten die Nachschlagenden d,en Kreis der Mitglieder doch enger ziehen, nur
auf den Kreis der kleindcutschen Parteigenossen'beschränken. es war ihnen in die¬
sem Falle unverwehrt auch NichtMitglieder von Kammern, Staatsmänner, Jour¬
nalisten, Privatpersonen herbeizuziehen, dann hätten ihre Versammlungen den
Charakter vertraulicher Besprechungen behalten, aus Süddeutschland hätte vor¬
läufig nur eine Minderzahl Theil genommen, sie hätten weniger Aufsehen ge¬
macht, selten lange Debatten verursacht, aber sie hätten praktisch sehr nützlich
werden können.
Es war charakteristisch, daß die Versammlung den andern Weg einschlug,
welcher dem Unternehmen größere Ausdehnung, schärfere Gegensätze, heftigere
Debatten, aber wahrscheinlich langsamere Resultate in Aussicht stellte. Die
Debatte über die Zulassung der Deutsch-Oestreicher wurde eifrig geführt, vor-
trefflich sprachen nächst den Führern des Nationalvereins einige Herren aus
Frankfurt, denen noch vom Jahre 49 her der Zorn über die Ränke der östrei¬
chischen Partei auf dem Herzen lag. Vielleicht neun Zehntheile der Versamm¬
lung waren sich klar, daß die Theilnahme der Oestreichs an diesem Organisa-
tionsvcrsuche Deutschlands nicht nur unnütz, sondern schädlich sei. Und doch
wurde bei der Abstimmung, man muß sagen aus Courtoisie und zu großem
Gefühl der Sicherheit, von der Majorität der Minorität aus Schwaben und
Baiern die Concession gemacht, den Deutschöstreicbern eine Betheiligung an den
künftigen Versammlungen zu gestatten.
Allerdings wäre dieser Beschluß vierzehn Jahre nach 1848 unmöglich ge¬
wesen, wenn nicht das Gefühl der Ueberlegenheit in der kleindeutschen Partei
so lebhaft gewesen wäre. Man hatte in der Stille die Ueberzeugung, die
Oestreicher würden doch nicht kommen, und wenn Einzelne kämen, würde sich die
Unmöglichkeit des Zusammengehens sehr bald herausstellen, und gerade durch die
erwiesene Unmöglichkeit würde die ganze Frage in der Meinung des süd¬
deutschen Volkes endlich gründlich abgemacht werden. Aber diese Annahme ist
ist leider nicht begründet. Denn die politische Moral und die diplomatischen
Manöver sind im Kaiserstaat anders uüancirt, als unter den Vertretern des
deutschen Volkes. Wenn es dem Minister Herrn v. Schmerling nützlich er¬
scheint, so wird er eine ganze Wagenladung von östreichischen Deputirten zu
der nächsten projectirten Zusammenkunft der deutschen Kammermitglieder ah-
mten. Dieselben werden, gerade wie sie vor vierzehn Jahren unter seinem
Kommando gethan, in brüderlicher Wärme erglühen gegen die Deutschen, stark¬
patriotische Reden halten, und welcher Partei sie auch in Wien angehören
mögen, doch in Nürnberg oder Frankfurt gänzlich stimmen, wie ihr Minister
wünscht. Nicht nur weil sie im Auslande treue Oestreicker sind, sondern auch
deswegen, weil die Klügeren unter ihnen die stille Ueberzeugung haben, daß
in inneren östreichischen Angelegenheiten eine gewisse Rücksichtsnahme auf den
deutschen Liberalismus bei ihrer Regierung nur so lange dauern werde, als
Oestreich Ansprüche auf die Herrschaft in Deutschland erheben könne, und daß
es für die liberalen Oestreicher schädlich sei, wenn Deutschland zu Einigung und
Stärke komme, bevor der Kaiserstaat sich verjüngt habe. Wir werden also,
wenn es Herrn v. Schmerling wünschenswert!) erscheint, in die Lage kommen,
mit den „deutschen Brüdern" aus Oestreich noch einmal den ungenießbaren Teig
zu kneten, über dem vor vierzehn Jahren die Kraft der Deutschen erlahmte.
Aus solchem Grunde ist der Beschluß der Versammlung immerhin zu be¬
dauern; denn er setzt sie in Gefahr, mit unfruchtbaren Debatten Zeit zu ver¬
lieren und bei der großen Mehrzahl der Deutschen etwas von dem Ansehen
und der Bedeutung einzubüßen, welche wir so gern auf eine Vereinigung deut¬
scher Abgeordneten übertragen sehen. Alles was uns Deutschen noch mit den
Oestreichern kommen kann, das vermag der Bundestag allein zu besorgen, es
ist nicht nöthig, daß-dazu noch deutsche Abgeordnete eine Stunde ihrer Reise¬
zeit verwenden. Aus der andern Seite aber ist kein Grund zu der Annahme,
daß der Beschluß von ernstem Nachtheil für die deutsche Frage sein werde, er
verringert nur ein wenig Werth und Bedeutung der projectirten Zusammen¬
kunft. Aber er vermag diese Bedeutung nicht aufzuheben. Denn die po¬
litische Bildung seit dem Jahre 1848 hat doch große Fortschritte gemacht.
Wir haben jetzt ein preußisches Abgeordnetenhaus, dessen Mitglieder, wie
sie auch innere Fragen des Staates ansehen mögen, fast alle ein sehr leben¬
diges Gefühl für die Ehre und Größe ihres Staates, für Heil und Ehre Deutsch¬
lands bewahren, wir erfreuen uns in Deutschland einer starken, gut organi-
sirten kleindeutschen Partei, welche bei allen Zusammenkünften deutscher
Abgeordneten eine thätige Rolle spielen und auf dem Kampfplatz, den sie sich
hier einmal ungünstiger gewählt hat, als nöthig war, gegen die alte falsche
Gemüthlichkeit im Volke, wie gegen die Heuchelei fremder Regierungen kämpfen
wird, wahrscheinlich gerade hier um so eifriger, da ihr selbst einmal begegnet ist,
zu viel Gemüth gezeigt zu haben.
Und deshalb sei an alle Leser d. Bl., welche der Versammlung deutscher
Abgeordneter beizuwohnen im Stande sind, die angelegentliche Mahnung ge¬
richtet, daß sie sich durch den Beschluß der vorbereitenden Versammlung nicht
abhalten lassen, den nächsten Convent, welcher für diesen Sommer ausgeschrieben
wird, zu besuchen. Zwar ist nicht mehr die Zeit, wo Vorparlamente sich
schnell zusammenballen, aber wie bescheiden man auch die nächste Einwirkung
dieser Zusammenkünfte auf die deutsche Sache schätzen möge, sie Wirten fördernd
und anregend auf jeden Einzelnen, nicht zuletzt, weil sie ihn mit einer Anzahl
tüchtiger und talentvoller Männer unter dem Banner der höchsten Interessen
Mit Ur. 27 beginnt diese Zeitschrift ein neues Quartal,
welches durch alle Buchhandlungen und Postämter zu be-
ziehen ist.
Leipzig, im Juni 1862.Die Nerlagshandlung.